Skip to main content

Full text of "Kisch GW 07"

See other formats


EGON ERWIN KISCH 
Gesammelte Werke in Einzelausgaben 

Herausgegeben von Bodo Ubse und Gisela Kisch 


VII 



EGON ERWIN KISCH 


Marktplatz der Sensationen 
Entdeckungen in Mexiko 



Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 
1974 




Copyright 1967 by Aufbau-Verlag Berlin und Weimar 
3. Auflage 

Alle Rechte Vorbehalten * Printed in the German Democratic Republic 
Lizenz-Nr. 301. 120/87/74 
Einband und Schutzumschlag: Erich Rohde 
Karl-Maxx-Werk Pößneck V 15/30 
Best.-Nr. 611 367 6 


EVP 12,- 



MARKTPLATZ DER SENSATIONEN 




VON DEN BALLADEN 
DES BLINDEN METHODIUS 


Mag es auch klingen wie eine Geschichte aus der Zeit 
der Romantiker, so muß doch damit begonnen werden, 
daß der blinde Methodius in unserem Hof eine Art von 
Balladen singt. Der Flur, der in diesen Hof mündet, ist 
breit und gewölbt und dennoch voller Dunkelheiten, Eisen¬ 
türen rechts und links verschließen vier nie betretene Ver¬ 
liese. Am Kellereingang baumelt ein Eisenring mit dem 
Rest einer geheimnisvollen Kette, und im Keller selbst 
wissen wir einen Rittersaal mit Nebenräumen, aus denen 
einstmals zwei Gänge zum Rathaus führten und zur Tein¬ 
kirche. Wenn wir erwachsen sind, werden wir diese längst 
verschütteten Gange wieder freilegen, sie bewaffnet durch¬ 
schleichen und etwas Großes vollführen, das ist sicher. 

Unser Hof ist in der Höhe des ersten Stockwerks von 
einem Spalier edler Säulen aus dem sechzehnten Jahrhun¬ 
dert umgeben. Über die Balustrade gelehnt, lauschen 
Frauen und Jungfrauen dem Sang des blinden Methodius, 
und zwischen den Säulen hängen Lambrequins. 

Aber diese Teppiche sind keineswegs zum Schmuck 
der Fassade ausgelegt, sondern zwecks Entstaubung eben 
aus den Wohnungen gebracht worden, und die lauschen¬ 
den Frauen sollten Rechtens die Teppiche klopfen, die 
Bettpolster und Bettdecken lüften oder Wäsche zum Trock¬ 
nen aufhängen, statt zu lauschen. 

Allerdings singt der blinde Methodius wunderschön, 
sein Tremolo flattert das Flurgewölbe entlang, dringt si¬ 
cherlich, der Eisentüren spottend, in die nie betretenen 
Verliese, in den unterirdischen Rittersaal hinab und in die 
verschütteten Gänge der böhmischen Vergangenheit und 
unserer Zukunft. Gleichzeitig erreicht sein Singen die hö¬ 
heren Regionen, denn wie aus den Arkaden des ersten 
Stockwerks lehnen sich auch aus den Fenstern des zweiten 
und dritten die Hausfrauen und Dienstmädchen. 


7 



Wenn ich von mir auf andere schließen darf, so ist es 
nicht allein die schöne Stimme des blinden Methodius, die 
ihm Auditorium verschafft und ebensowenig die Melodie 
seiner Lieder. Nein, der Text siegt über den Ton, die Lite¬ 
ratur über die Musik. 

Wie schon im ersten Satz gesagt wurde, ist es eine Art 
von Balladen, was der blinde Methodius singt. Worte, die 
zu Beginn eines Buches stehen, sind gewöhnlich dazu da, 
den künftigen Leser festzuhalten, und man soll solche 
Worte nicht allzu wörtlich nehmen. In unserem Fall aber 
stimmt die Aussage, daß der blinde Methodius eine Art 
von Balladen singt, eben nur dann, wenn man sie wörtlich 
nimmt, das heißt die Ballade gleichsetzt einer Begebenheit 
in Gedichtform. In diesem Sinne ist der blinde Methodius 
so ausschließlich Balladensänger, daß er es verschmäht, 
etwas anderes zu singen, etwa eine Arie, ein Liebeslied, 
ein Couplet oder gar einen von den Schmachtfetzen des 
Tages, obwohl er deren Melodien verwendet. Niemals 
richtet er an Daisy die Frage: „Wann wird die Hochzeit 
sein?", niemals fordert er vom Glühwürmchen, Glüh¬ 
würmchen, daß es flimmre, niemals beteuert er, er „hätt 
geküßt die Spur von deinem Tritt, hätt gerne alles für 
dich hingegeben". Sein Repertoire besteht durchweg aus 
Begebenheiten, die mehr oder minder Geschichte waren, 
Geschichte sind oder Geschichte sein werden, also aus 
Balladen. 

Nun könnte jemand ein wenden, daß die Ballade neben 
der Inhaltsforderung auch bestimmten Formgesetzen ge¬ 
recht werden müsse und die Gesänge des blinden Men- 
thodius demnach nur Bänkel seien. 

Ein solcher Versuch, den blinden Methodius und seine 
Texte auf ein tieferes Niveau zu verweisen, begegnet unse¬ 
rem Veto. Warum macht man ihm und seinesgleichen die 
Primitivität, die Naivität, den Mangel an Form zum Vor¬ 
wurf, wenn all das dem Volkslied, soweit es nur Gefühle 
ausdrückt, als Vorzug angerechnet wird? Warum gelten 
jene Balladen von Gottfried August Bürger und Edgar 
Allan Poe am höchsten, die weder ein geschehenes Gesche¬ 
hen noch ein mögliches Geschehen behandeln, sondern G’e- 
spensterspuk? Warum predigt der Balladendichter Fried- 


8 



rieh Schiller die Irrealität? Die Antwort lautet: Selbst in 
der Literatur ist eine konkrete Aussage gefährlich, denn 
jede Wahrheit enthält potentielle Kritik und Auflehnung. 

Wir aber setzen dem Wort: «Was sich nie und nim¬ 
mer hat begeben, das allein veraltet nie" entgegen: „Was 
sich stets und immer wird begeben, das allein veraltet 
nie." 

Selbstverständlich wird diese Abschweifung hier nicht 
um des blinden Methodius willen unternommen, der die 
Worte «Ballade" und „Bänkel" wohl nie gehört hat und 
dem es egal sein mag, ob man sein Repertoire der Litera¬ 
tur zurechnet. 

Dennoch hat er seine Sängereitelkeit. Da er sein Publi¬ 
kum nicht sehen kann, muß er sich auf andere Weise ver¬ 
gewissern, daß ein solches versammelt ist. „Die Strophe 
ist schön, nicht wahr?" fragt er nach jeder Strophe, und 
die Damen vom hohen Balkon bestätigen ihm durch Zu¬ 
ruf, daß die Strophe schön ist, sogar sehr schön. 

Mich muß der blinde Methodius nicht fragen, ob ich 
anwesend bin. Ich stehe den ganzen Tag über neben sei¬ 
nem Schleifrad. Wiederholt ruft meine Mutter mir die 
Mahnung herunter, nicht so nah heranzugehen, sie be¬ 
fürchtet, Funken könnten mir ins Auge fliegen. 

Sein Name flößt mir Bewunderung ein, obwohl in Prag 
genug Knaben nach einem der Slawenapostel Cyrill oder 
Methodius heißen. Auch sein Alter imponiert mir, er ist - 
vor allem am Anfang unserer Bekanntschaft - sehr, sehr 
alt, wenn auch nicht so alt wie die Erwachsenen, deren 
Alter überhaupt nicht meßbar ist. Der Haarwuschel auf 
seinem Kopf ist von dem gleichen Gelb wie die Uniform¬ 
kragen der Sechser-Dragoner, die in meines Vaters Ge¬ 
schäft einkaufen. Der blinde Methodius -ist Lehrling beim 
Messerschmied Kokoschka in unserem Haus, aber er 
wohnt im Blindeninstitut und trägt die dicke, dunkelgraue 
Anstaltskleidung mit den riesigen Hirschhornknöpfen. 
Wenn er abends nach Hause geht, tappt er mit einem arm¬ 
starken, zwei Meter langen Bambusstab vor sich her, an 
dem eine Glocke hängt. Die Droschken halten an, wäh¬ 
rend er die Fahrbahn überschreitet, und die Fußgänger 
sehen ihm nach wie einem Schwimmer in gefährlichem 


9 



Wasser, jedoch der blinde Methodius merkt nichts von 
der Beachtung, die er erregt. 

Frühmorgens fegt er den Laden des Herrn Kokoschka, 
putzt das Schaufenster und stellt sich dann an sein „Ve- 
lociped", um die vielen breiten Scheren der Tuchhändler 
aus dem Ledergägchen zu schärfen, manchmal auch Ra¬ 
siermesser, Taschenmesser und Fleischermess er oder gar, 
wie schön, Sicheln und Sensen aus dem Eisenwarenladen 
des Herrn Lüftner. Es knirscht das Eisen, es sprüht der 
Stein, es singt der blinde Methodius, und es hören viele 
begeistert zu, darunter der künftige Schreiber dieses Bu¬ 
ches. 

Noch heute weiß ich die Methodeischen Lieder auswen¬ 
dig und würde sie gern im Wortlaut hierhersetzen, wä¬ 
ren sie nicht zu sehr aus dem Geist der tschechischen 
Sprache geboren, so dag sie in der Übersetzung sowohl 
Reim wie Sinn verlören. Das erste, das ich hörte, beginnt 
so: „Schubsen wir verwegen, Windischgrätz, dieses Kalb, 
wirft uns von der Kleinseite her Kugeln in den Hinte¬ 
ren." 

Wir Kinder glauben, es seien Murmeln, die Windisch¬ 
grätz, dieses Kalb, uns in den Hintern wirft, und schubsen 
verwegen. Nach jeder Silbe des Wortes „Hin-te-ren" macht 
der blinde Methodius eine Kunstpause, in welche die Zu¬ 
hörerinnen hineinkreischen und die Funken zwischen 
Schleifstein und Klinge aufprasseln wie die Raketen am 
Sankt-Nepomuks-Tag. 

Die Aktualität dieses Liedes ist längst verblagt, es ent¬ 
stammt der Prager Revolution von 1848, ihrem letzten 
Tag, an dem vom Stadtteil Kleinseite aus der österreichi¬ 
sche General Fürst Windischgrätz das Bombardement auf 
die Bürgerschaft eröffnete. 

Darüber hat mich - es war in meinem ersten Schuljahr 
— mein Vater aufgeklärt, als er merkte, dag ich etwas 
singe, ohne es zu verstehen. Der Windischgrätz, so er¬ 
zählte mir mein Vater, hat in Prag übel gehaust, und da¬ 
für hat ihn Gott bestraft Mitten im Zimmer wurde seine 
Frau von einer Kugel getötet, obwohl die Strage vor dem 
Palais menschenleer war und niemand einen Schug gehört 
hat. 


10 



„Die Straße war leer?" fragte ich atemlos, „und niemand 
hat den Schuß gehört?" 

„Nicht einmal der Wachtposten vor dem Haus", antwor¬ 
tete mein Vater. 

„Wer hat sie also erschossen?" 

Mein Vater legte den Finger an die Lippen. „Das ist 
ein Geheimnis, ein sehr großes Geheimnis." 

Aber da ich nicht zu drängen aufhörte, erzählte er: „Da¬ 
mals war ich ein kleiner Junge, nur vier Jahre älter, als 
du heute bist. Mein Mitschüler Kreibich, Eduard, wohnte 
in der Zeltnergasse; sein Vater hatte dort ein Modewaren¬ 
geschäft, dem Militärkommando gegenüber. Der Edi 
konnte alles mögliche zusammenbasteln, er war sehr ge¬ 
schickt, nicht so ein Schlemihl wie du. Wir spielten oft 
miteinander, auch damals im Juni 48, als wir alle sehr auf¬ 
geregt waren wegen der Soldaten, die Wien gegen Prag 
schickte. Der Edi hatte gerade etwas Wunderbares her¬ 
gestellt: eine Kanone." 

„Eine wirkliche Kanone?" 

„Natürlich keine wirkliche, sondern ein Spielzeug. Ihr 
Lauf war aus unserem Hausschlüssel gemacht und..." 

Heiß und mit aufgesperrtem Munde horte ich zu. Eine 
erschossene Fürstin - ein Geheimnis, das mir enthüllt 
wurde - eine Geschichte von Buben - eine Kanone aus 
Kinderhand - und nun gar unser Hausschlüssel! Unser 
Tor hat solch riesige Schlüssel. 

„Aus unserem Hausschlüssel?" unterbrach ich, „wieso 
hatte er denn unseren Hausschlüssel?" 

„Frag nicht soviel", brummte mein Vater ärgerlich. Hatte 
er mehr gesagt, als er sagen wollte? „Es war eben ein 
Hausschlüssel. Aus dem hat der Edi die Kanone gemacht 
und sie auf einer Lafette befestigt, weißt du, auf einem 
Gestell mit Rädern, damit sie fahren kann. Und aus einem 
kleineren Schlüssel haben wir Munition gegossen, das sind 
Kugeln, und haben im Zimmer geschossen. Als es in Prag 
losging, hat mir der Edi gesagt: ,Ich bleib den ganzen Tag 
am Fenster, und wenn drüben der Obergeneral ins Zim¬ 
mer kommt, schieß ich ihn tot/" 

„Also hat der Edi die Frau Windischgrätz erschossen?" 

„Das weiß ich nicht, ich war nicht dabei. Aber als man 


11 



am Pfingstmontag vom Tode der Fürstin erzählte, haben 
viele Leute gesagt, das sei sicherlich leeres Gerede, nur ich 
hab's gleich geglaubt/ 

„Papa, kann man denn mit einer Kinderkanone einen 
Menschen totschießen?" 

„Wenn Gott will, schießt ein Besen/ 

So schloß mein Vater. Erst lange Jahre hinterher kam 
ich zur Überzeugung, daß ein Besen nicht schießt, auch 
wenn Gott will. Ich dachte nach, warum mein Vater die 
Geschichte erfunden habe, und erklärte es mir so: Er hatte 
von einem Geheimnis gesprochen, und hernach konnte er 
ohne Einbuße seiner väterlichen Autorität nicht eingeste¬ 
hen, daß er das Geheimnis selber nicht kenne. 

Jedenfalls ist der Täter nie entdeckt worden, und die 
Nachforschungen wurden derart geheimgehalten, daß sie 
nicht einmal der Polizei anvertraut, sondern immediat 
dem Geheimarchiv der k. k. Statthalterei überwiesen wur¬ 
den. Dieses Archiv hörte erst auf, geheim zu sein, als 1918 
die k. k. Statthalterei stattzuhalten aufhörte, weil die öster¬ 
reichische Monarchie zu sein aufgehört hatte. Die alten 
Schriftstücke übersiedelten in das Archiv des tschechoslo¬ 
wakischen Innenministeriums und waren nicht mehr ge¬ 
heim. Bei einem Besuch in diesem Archiv erinnerte ich 
mich des Falles, der mich in der Erzählung meines Vaters 
einstmals so bewegt hatte, und ich ließ mir das Dossier 
„Tod der Fürstin Eleonora Windischgrätz" holen, ein dick¬ 
bäuchiges Konvolut. 

Ich überflog die ersten Aktenstücke: Protokolle über 
Haus- und Wohnungsdurchsuchungen nach einer allfällig 
in Betracht kommenden Schußwaffe, vorgenommen in den 
dem k. u. k. General-Commando gegenüberliegenden Ob¬ 
jekten; Einvernahme von zwei auf dem Wege vom Cle- 
mentinum zu den Barrikaden festgenommenen Courieren 
Michael Bakunins, der den Aufstand geleitet hatte; Kreuz¬ 
verhör mit dem Techniker Maur und anderen verdäch¬ 
tigen (Zivilpersonen; etc. etc. 

Da war nicht durchzukommen. Schon wollte ich den Ak¬ 
tenstoß zurückstellen, als mir auffiel, daß von einem Bogen 
ein Siegel herabbaumle. Zwar sind Hängesiegel in einem 
Archiv nichts Besonderes, pompöse Petschafte in kost- 


12 



baren Kapseln hängen an Seidenschnüren von jeder Bulle 
und jeder Gerechtsame, was aber hatte ein solch mittel¬ 
alterliches Sigillum an einem Aktenstück aus meines Va¬ 
ters Zeit zu suchen? 

Und siehe da, es war auch kein Siegel, vielmehr war es 
ein hölzernes Rädchen von einem Kinderspielzeug und 
hing als Corpus delicti herab von einem acht Seiten lan¬ 
gen Protokoll, auf genommen am 19. Juli 1848 mit dem 
p. Josef Kreibich, Inhaber eines Modewarengeschäftes im 
Haus Cons.-Nr. 936 - I., Prag, Zeltnergasse. Im Protokoll 
war die Kanone des kleinen Eduard genau so geschildert, 
wie sie mein Vater mir geschildert hatte. Neu war mir nur, 
daß Vater Kreibich laut eigener Angabe seinem zehnjäh¬ 
rigen Sohn Eduard, als selbiger einen Schuß aus der Ka¬ 
none abfeuerte, ein Kopfstück gegeben und der Waffe 
einen Fußtritt versetzt habe, so daß dieselbe zerstört und 
hernach weggeworfen worden sei mitsamt zugehöriger 
Munition. Bei der behördlichen Haussuchung hat sich ein 
unzweifelhaft von der Lafette stammendes Rädchen vor¬ 
gefunden und wird hiermit den Akten beigeschlossen. 

Seit dem Todesschuß waren also fünf volle Wochen ver¬ 
gangen, ehe sich ein Verdacht gegen Edi lenkte. Obwohl, 
wie aus dem langatmigen Protokoll hervorgeht, die Unter¬ 
suchungsbehörde der Sache beträchtliche Bedeutung bei¬ 
maß, konnte nichts bewiesen werden. „Wenn Gott will, 
schießt ein Besen" - gut, das mochte auch die hohe Obrig¬ 
keit glauben, aber einen solchen Willen Gottes vor Gericht 
zu stellen und abzuurteilen, wagte sie nicht. 

Womit wir wieder zum blinden Methodius zurückkeh¬ 
ren wollen, der uns singend über die Weltgeschichte aus 
Vaters Tagen belehrt. Im Laufe seines Lebens, das von 
1838 bis 1901 währte, hat mein Vater nur zwei historische 
Ereignisse aus der Nähe erlebt, eben jenen Prager Auf¬ 
stand von 1848 und den Krieg zwischen Österreich und 
Preußen. Die haben seine Lebensweise wenig verändert, 
und er pflegte sich wiederholt zu rühmen, seit seiner Jüng¬ 
lingszeit immer im gleichen Bett geschlafen zu haben. Sei¬ 
nen Söhnen gönnte das Schicksal keine so stete Lagerstatt. 
Einer fiel 1914 jung im Weltkrieg, einer, der für den An¬ 
schluß Österreichs und für ein Großdeutschland schwärmte. 


13 



mag sich darum im Bannbezirk Hitlers nicht glücklicher 
fühlen, einer ist durch die Invasion der Tschechoslowakei 
grausam von Frau und Kindern getrennt einer wirkt als 
Arzt der chinesischen Armee in Bombardements, Wolken¬ 
brüchen und Erdbeben, und einer wurde auf langen Um¬ 
wegen nach Mexiko verschlagen, wo er diese Memoiren 
aus anderen Zeiten und Breiten schreibt. 

Aber der blinde Methodius hält noch bei Vaters Zeit. 
Durch seine Lieder erlebe ich die Schlacht von KÖnig- 
grätz, ohne es zu wissen, ähnlich dem Helden der Stendhal- 
schen „Kartause von Parma", der nicht ahnt, daß er an 
einer Schlacht teilnimmt und den nahen Ort namens Wa¬ 
terloo nicht kennt. Jahrelang höre ich den blinden Metho¬ 
dius vom Blutvergießen in Sadowa singen, von aufein¬ 
ander lossprengenden Reitern bei Stezery und von zahl- 
und namenlosen Holzkreuzen bei Horenowes, aber all das 
sind mir nur böhmische Dörfer. Denn die deutsche Klio 
hat die Spitze ihres Zirkels ins Städtchen Königgrätz ge¬ 
spießt und einen Kreis gezogen, in dem die Schauplätze 
Horenowes und Sadowa und Stezery verschwanden. Da¬ 
gegen hat die französische Klio das Dorf Sadowa zum 
namengebenden Mittelpunkt genommen und solcherart 
Königgrätz im Kreisdunkel versinken lassen. Revanche de 
Sadowa pour Königgrätz. 

Zum Preise eines heimischen Räubers läßt der blinde 
Methodius ein aufregendes Lied ertönen. In den drama¬ 
tischen Steigerungen ähnelt es den Puppenspielen auf dem 
Weihnachtsmarkt, aber es ist noch schöner, weil es ge¬ 
reimt ist und gesungen wird, das Messer am Schleifstein 
knirscht und goldene Sternchen prasseln. 

Gar viele edle Moritaten verübt der Räuberhauptmann 
Babinsky, bevor er gefangen wird und in der Zelle 
schmachten muß, eiskalte Ketten an Händen und Füßen. 
Da bekommt er Damenbesuch, ein tritt seine jungfräu¬ 
liche Geliebte. Der Räuber Babinsky enthüllt ihr, er sei 
der Räuber Babinsky, was sie eigentlich wissen mußte, 
denn wie hätte sie ihn sonst aufsuchen können. Morgen, 
fügt er hinzu, werde seine Hinrichtung begangen werden. 
Daraufhin sinkt sie tot um, und das Schleifrad des blinden 
Methodius bleibt brüsk stehen. 


14 



Eines seiner Lieder, sein Bravourstück, mußte der blinde 
Methodius viele, viele Jahre später aus seinem Repertoire 
streichen. Von diesem Lied verstehen wir Kinder über¬ 
haupt nichts und geben dem Hannchen, einem kleinen 
Mädchen aus dem dritten Stock, auf Grund dieses Liedes 
den Beinamen Hanka Falschheit. In Wirklichkeit gilt der 
Name Hanka des Liedes einem Mann, und auch der wird 
nicht der Falschheit beschuldigt, sondern gegen diesen 
Vorwurf in Schutz genommen. 

Es handelt sich um den Museumsbeamten Wenzel 
Hanka, der 1817 in einem Turm'der Königinhofer Kirche 
eine frühmittelalterliche Handschrift entdeckt hatte. In den 
Gelehrtenkreisen der Welt erregte dieser Fund Aufsehen 
und warmes Interesse für die tschechische Kultur, die nun 
als ein Ahne der europäischen dastand. Deshalb mußte es 
auf tschechischer Seite Empörung hervorrufen, als fünfzig 
Jahre hernach in der Prager deutschen .Zeitung „Tages¬ 
bote' 1 ein anonymer Paläograph (wieder fünfzig Jahre spä¬ 
ter eruierte ich, daß es der Bibliothekar Zeidler gewesen 
war) die Echtheit der Handschrift anzweifelte. Der Redak¬ 
teur des „Tagesboten", David Kuh, wurde wegen Verleum¬ 
dung verurteilt, nicht gemildert aber wurde der Kampf 
zwischen Deutschen und Tschechen, der durch die Ver¬ 
dächtigung der Königinhofer Handschrift entbrannt war. 
„Verleumder", riefen die einen, „Fälscher", die anderen. 

Da verschoben sich plötzlich die Fronten dadurch, daß 
zwei tschechische Gelehrte, Gebauer und Masaryk, mit 
vollem Namen und wissenschaftlichen Beweisen die Köni¬ 
ginhofer Handschrift als eine von Wenzel Hanka verübte 
Fälschung erklärten. Gegen Gebauer und Masaryk rich¬ 
teten nun deren Konnationalen ihre Wut in allen Formen, 
auch in der des Liedes, das der blinde Methodius sang. In 
dem Lied wird behauptet, die beiden Verräter wollen dem 
tschechischen Volk das Recht auf nationale Vergangenheit 
und damit auch auf nationale Zukunft absprechen und so¬ 
gar bestreiten, daß je ein böhmisches Mädchen einen Blu¬ 
menstrauß aus einem Bach gefischt habe, wie in der Köni¬ 
ginhofer Handschrift geschrieben steht. (Diese Stelle aus 
dem Hankaschen Fund hat Goethe unter dem Titel „Das 
Sträußchen" ins Deutsche übertragen.) 


15 



Alles, was auf der Welt existiert - so höhnt der Refrain 
des blinden Methodius ist eine Fälschung Hankas, und 
als Schlußakkord ergeht die Aufforderung, den beiden 
Volksfeinden den Kopf zurechtzusetzen. „Laßt die Herren 
es verspüren / Daß sie nicht mehr masarykieren / Was ver¬ 
ehrt ein jeder Tschech! / Sonst droht ihnen großes Pech / 
Wie mit dieser Schreiberei / Daß alles Hankas Fälschung 
sei/ 

Dennoch hat jener Masaryk all das weiter „masary- 
kiert", was verblendeten Nationalisten heilig war, und er 
hatte deshalb mehr als bloß Spottlieder zu überwinden, 
ehe er seinem Volk einen eigenen Staat schuf. In diesem 
Staat konnte der blinde Methodius das Lied nicht mehr 
singen. Das aber ist Zukunft, vom Standpunkt meiner 
Knabenzeit gesehen. 

Als Gegenwart, als eine des Besingens würdige Gegen¬ 
wart bringt uns der Moldaufluß die Zeit zum Bewußtsein, 
da er rasend und reißend wird und das altstädtische Fest¬ 
land in einen Archipel verwandelt. Einige Tage vorher 
hat uns Hannchen, genannt Hanka Falschheit, im Keller 
über die Geheimnisse der Liebe aufzuklären versucht (sie 
zog die Sache von der verkehrten Seite auf), und heute 
ist der unterirdische Rittersaal überschwemmt, als hätte 
der Himmel die Sintflut über dieses Sodom und Gomorrha 
geschickt. Bis hinauf zum Kellereingang schaukelt das 
durch die Kanalröhren eingedrungene Wasser, der Hof 
ward zum Teich, und der blinde Methodius muß samt sei¬ 
nem Schleifrad in die Loggia des ersten Stocks übersie¬ 
deln. Mit blitzblanken Helmen, schnaubenden Pferden und 
einer riesengroßen Pumpe fährt die Feuerwehr in unserem 
Hof auf, um das Wasser auszupumpen. 

Uns genügt diese Sensation nicht, allzu aufregende 
Nachrichten dringen aus der Gegend des Kais, wohin es 
für Kinderbeine kaum zehn Minuten zu rennen ist. Wir 
rennen unter der Führung Hannchens,. genannt Hanka 
Falschheit, zunächst zum Bethlehemsplatz und an den 
Rand der Postgasse, in der die Leute beneidenswerter¬ 
weise auf Schinakeln fahren. Hernach wagen wir uns zum 
Moldauufer vor. Dieses kommt uns allerdings auf halbem 
Weg entgegen. Kaiser Karl IV., der bisher auf dem Fest- 


16 



land gestanden, steht jetzt im Wasser, die Wellen spielen 
um die Goldene Bulle in seiner herabhängenden Hand, 
und es sieht sehr unanständig aus, wie von dieser Bulle 
die Tropfen fallen. Jubelnd sehen wir, daß die Fluten die 
ewige Kärlsbrücke so zerbrochen haben, wie wir unsere 
Spielzeuge zu zerbrechen pflegen, bums. Verschwunden 
sind die Heiligenstatuen, i . . 

Was die Wogen alles vor sich her treiben! Möbelstücke, 
Hütten, Bäume, Balken, Fässer, Telegrafenstangen!. Und 
auf einem schwimmenden Dach bellt verzweifelt ein wei¬ 
ßer Hund. . ‘ : 

Pioniertruppen mit Pontons sind von überallher heran¬ 
gezogen, um zu retten, was zu retten ist. . 

Kaum drei Wochen später singt Lder blinde Methodius; 
mit seinem Schleifrad in unserem>Hof stehend, der wieder 
ein Hof und kein Teich mehr ist/ ein Lied von der großen 
Prager Wassernot. Es ist ein parodistisch Lied „von dem 
Schrank, der ertrank" und dem. ein Pionier nachschwamm, 
und von einer Bank, auf . der. Großmama saß. Auch der 
weiße Hund hat eine Strophe, die ihn verspottet: er belle, 
um Brandstifter fernzuhalten. Von; den Brückenheiligen 
wird gesungen, daß sie es vergeblich dem Sankt Nepomuk 
gleichzutun versuchen, der seinerzeit hier ertränkt, wurde 
und, von strahlenden Sternen umgeben wieder, zum Vor¬ 
schein kam. Und Karl IV.. erkältet sich den Bäuch mitsamt 
seiner Bulle. 

Wir Kinder haben all das, was das Lied behandelt, mit 
eigenen Augen gesehen, drei Wochen lang haben wir das 
Geschaute lärmend und gestikulierend besprochen, und 
nun, nun singt uns der, der nicht dabei war, den Bericht. 

Das kommt mir komisch vor. 



IM INNERN VON „ S. KISCH & BRUDER" 


Der düstere Flur, der, vom Hof kommend, die Gesänge 
des blinden Methodius an den nie betretenen Verliesen 
vorbeileitet, führt durch einen skulptierten Torbogen ins 
Hell der Straße. 

Wahrlich, eine helle Pracht ist dieses Portal. Zwei stei¬ 
nerne Bären, die seit Jahrhunderten das Gold-ihres Fells 
bewahrt haben, hüten das Tor, ihrerseits behütet von zwei 
mit Ruten bewehrten Jünglingen. Unten, fast in Straßen¬ 
höhe, sprießen aus den Mündern zweier menschlicher Pro¬ 
file dichte Ranken, Früchte und Blätterwerk, zuerst auf¬ 
wärts und dann in leichter Rundung sich einander zu¬ 
wendend. Das Gezweig umhüllt Säulen und Ornamente 
und läßt nur den goldenen Bären in der Höhe den gebüh¬ 
renden Platz. 

Noch heute steht dieses Haus, es steht sogar unter 
Denkmalsschutz, aber die Firmentafel neben dem schönen 
Portal ist für immer dahin - es sei denn, daß sie in einem 
der eisenverschlossenen Verliese stäke. Diese Firmentafel 
lautete „S. Kisch & Bruder, Tuch-Handlung". Eine tsche¬ 
chische Übersetzung stand nicht dabei. Der „S. Kisch" war 
mein Onkel, der „& Bruder" mein Vater. 

Oberhalb des Geschäfts liegt unsere Wohnung; dort bin 
ich 1885 geboren, und diese Tatsache glaubten die „Reise¬ 
führer für Prag und Umgebung" den kunsthistorischen 
Angaben über das Haus anfügen zu müssen. In der nazifi- 
zierten Ausgabe von 1934 fiel diese Mitteilung weg, und 
so wäre in einem künftigen Baedeker das Bärenhaus in 
der Melantrichova statt mit einem Sternchen mit zweien 
zu erleuchten, dieweil es einmal ein Geburtshaus war und 
dann aufhörte, eines zu sein. 

Vorläufig sind wir in der Vergangenheit, in der die 
Melantrichova den Namen Schwefelgasse führte und jene 
Tafel „S. Kisch & Bruder" einen Ladeneingang und ein 
Schaufenster überquerte. 


18 



Im Hof, am Schleifstein des blinden Methodius, war ich 
damals ein begieriger Zuhörer. Auf dem großen Vorbau 
vor unserer Wohnung, wo mein ältester Bruder mit sei¬ 
nen Freunden tobte, war ich ein geduldeter Mitspieler. Im 
Keller, wo Hannchen, genannt Hanka Falschheit, uns ihre 
Kenntnisse beizubringen versuchte, war ich ein erstaunter 
Schüler. Im Laden aber war ich ein Kaiser - mehr als ein 
Kaiser: ein Feldmarschall. Ich befehligte ein Heer. 

Der Verkaufsraum allerdings bot der Phantasie wenig 
Spielraum. So langgestreckt und schmal er auch verlief, 
mußte er sich doch gefallen lassen, durch den Ladentisch 
längsseits halbiert zu sein. Die Räumlichkeit sah, sofern 
ich's heute bedenke, geradezu wie ein Stollen aus: Schicht 
um Schicht lagerte in den Wänden, zum Hangenden klomm 
man auf Leitern empor, des Abends sogar mit einer La¬ 
terne in der Hand. Neben den schwarzen und dunkelbrau¬ 
nen und dunkelblauen und dunkelgrauen Tuchen ver¬ 
schwanden die hellen Sommerstoffe ganz. 

Von ganz anderer Art war die Egalisierungskammer: 
klein und quadratisch. Mir aber schien der Raum riesen¬ 
groß und rund, und noch jetzt kreist er in meiner Erinne¬ 
rung als eine hundertfarbig leuchtende und sprühende 
Kugel, in deren Innern ich sitze und hinwegrolle über 
Festungen, Feinde und Schlachtfelder. Die Ballen hier sa¬ 
hen mitnichten so plump und so dick und so ernst drein 
wie jene im Stollen der Anzug- und Mantelstoffe. Lustig 
und luftig spielten sie in allen und noch viel mehr Farben; 
ohne Rüdesicht auf die Reihenfolge der Regenbogenskala, 
ohne Rücksicht auf Ähnlichkeit oder Nuance schmiegten 
sie sich übereinander und aneinander. 

Da lag Grelles auf Sanftem, Krapprot auf Saftgrün, 
Steingrau auf Karmesinrot, Apfelgrün auf Preußischblau, 
Zinnober auf Milch, Safran auf Tauben, Hecht auf Dotter, 
Himmel auf Ziegel, Wein auf Zitronen, Kirsch auf Oliven, 
Maus auf Gift, Schnee auf Bordeaux, Orange auf Schwefel, 
Lachs auf Kaffee, Stahl auf Kastanien. Sehr gefiel mir das 
Gelb der Sechser-Dragoner, weil es mich an den Wuschel 
auf des blinden Methodius Kopf erinnerte, aber noch lieber 
hatte ich Papageigrün, wohl wegen des Namens, der mich 
in einen Urwald voll schwatzender Vögel versetzte. 


19 



Jeder österreichisch-ungarische Offizier und Soldat trug 
auf. dem Blusenkragen je zwei tuchene rechteckige. Auf¬ 
schläge in der Regimentsfarbe. Bei den Waffenröcken, die 
man zur Wache und zur Parade anlegte, bestanden sogar 
der. ganze Kragen, die Epauletten und der Saum der Är¬ 
mel aus dem regimentfarbenen Stoff, und das wurde „Ega¬ 
lisierung"“ genannt, obwohl es die Armee nicht egalisierte, 
sondern, im Gegenteil, die Truppenkörper schon auf weite 
Sicht voneinander unterscheiden ließ, also un-egalisierte. 

In welcher. Garnison die Regimenter auch immer stehen, 
an welchem 1 Manöver auch immer, sie teilnehmen und an 
welcher .Grenze : auch immer sie die Wacht halten mochten 
- gleichzeitig lagerten sie alle in unserer Egalisierungs¬ 
kammer und, harrten meiner Befehle. Das papageigrüne 
Infanterieregiment Nr. 91. war auch, dabei, und dort wollte 
ich, der derzeitige Befehlshaber der. ganzen Armee, später 
einmal als Soldat dienen, wenn ich zum'Militärmaß heran¬ 
gewachsen sein würde. 

Kam eine Militärperson in unseren Laden, so lief ich 
ohne Aufforderung in das Egalisierungszimmer, um stolz 
den richtigen Ballen mit der Regimentsfarbe des Kunden 
heranzuschleppen. 

Einmal im Jahr, am Fronleichnamstag, hielten vormit¬ 
tags die Bürgermiliz mit den Zünften und der Feuerwehr, 
nachmittags das richtige Militär ihre Paraden ab. An sich 
war die der Bürgergarden die merkwürdigere, die Zunft 
der Fleischhauer schulterte riesige silberne Beile, die Bäk- 
ker trugen weiße Schürzen über der Uniform, und auf die 
Bürgergrenadiere waren Fellmützen gestülpt, wahrhaftig 
so groß wie ihre Träger selber. Das aufregendste an die¬ 
sen. bärbeißigen Gestalten war, daß ich viele von ihnen 
außerhalb der Bärbeißigkeit kannte, denn wenn sie nicht 
verzaubert waren wie eben jetzt bei der Parade, waren sie 
Gewerbsleute, die bei uns einkauften oder bei denen, wir 
einkauften. ' 

In dem. Augenblick, da das Messeglöcklein in der Tein¬ 
kirche zu läuten begann, erscholl der. Befehl „General-De? 
Charge", und . die Bürgersoldaten gaben aus ihren altfrän¬ 
kischen Flinten eine Salve ab, die sich .von der der Militär¬ 
soldaten durchaus unterschied; es war kein einfacher 


20 



Knall, sondern ein verknatterndes Feuer, und wenn end¬ 
lich der letzte Schuß gefallen schien, der Kömmandoruf 
zum Schultern schon hallte, ließ sich ein oder der andere 
verspätete Hinterlader noch ein Schüßchen entfahren. 

Diese Schau vollzog sich auf dem Altstädter Ringplatz, 
der Bürgermeister und die Mitglieder des Stadtrats nah¬ 
men vor dem Eingang des Rathauses die Defilierung ab, 
und ich konnte aus dem Seitenfenster unserer Wohnung 
bequem zuschauen; ■ j ‘ 

Der Parade des richtigen Militärs, die von der Garni¬ 
sonskirche in der Königinhofer Straße über die Haupt¬ 
straße, den Graben, zog, bebte ich wochenlang entgegen. 

Auf dem Balkon des Cafes Continental' saßen wir Kin¬ 
der der Stammgäste, und ich'zählte den anderen stolz auf, 
welchen Regimentern der Kordon hüben und drüben an¬ 
gehörte und die Musikkapellen,/die rieben dern Palais 
Sylva-Taroucca Aufstellung nahmen/ich kannte sie ja alle 
nach ihrer Egalisierung. Die Erwachsenen hinter. uns wa¬ 
ren belustigt über diese Sachkenntnis, und ich höre noch, 
wie jemand zu meinem Vater sagte:.„Ihr Junge wird ent¬ 
weder General oder Tuchhändler." 

Ich wurde rot, denn General zii'werden war mein Ge¬ 
heimnis. Selbstverständlich würde ich General werden, 
das stand längst bei mir fest, ein General wie der Graf 
Grünne, der höchste General von Prag, mit grünem Fe¬ 
derbusch und’ krapproten Lampassen. Die Stoffe seiner 
Uniform hatte ich mir im Laden bereits zurechtgelegt, nur 
sein Verhalten'mußte ich ihm noch abgucken. 

Auf das Aviso „La-den!" ertönte ein einziger Schlag von 
vielen tausend Händen auf die Patronentaschen, auf das 
Kommando „La-det!" wurden gleichzeitig viele tausend 
Gewehre gefällt und Patronen in viele tausend Läufe ge¬ 
schoben, und auf den Befehl „Hoch an, Feuer!" knallte aus 
den vielen tausend Läufen ein einziger knapper Schuß. 

Bis nun war die mit gelbem Sand bestreute Fahrbahn 
leer, eine Leere, um so feierlicher, um so erwartungsvol¬ 
ler, als ein Doppelrahmen*sie umspannte: der Militärkor¬ 
don und das vielreihige, dichte Spalier der Zuschauer. - 
In diese Leere kam es heran, teils hoch zu Roß, teils in 
Schritt und Tritt. Es blitzten die Säbel der Offiziere im 


21 



Bogen der Schwenkung. Es flatterten die ruhmreich zer¬ 
rissenen Fahnen. Es wippten die Feldzeichen aus Laub 
auf den Tschakos. Es zuckten die Schultern, es prellten die 
Beine hoch. Vor dem Palais Sylva-Taroucca drehten sich 
die Köpfe mit einem Ruck nach links, während die Hälse 
geradeaus weitermarschierten, die mit unseren Egalisie¬ 
rungen benähten Hälse; die ziegelroten Hälse der Drei- 
undsiebziger, die dunkelgrünen Hälse der Hundertzweier, 
die milchgrauen Hälse der Elfer, die marineblauen Hälse 
der Achtundzwanziger, ah, die papageigrünen Hälse der 
Einundneunziger, die orangeroten Hälse der Sechsunddrei¬ 
ßiger, und ihnen nach die Hälse der Jägertruppe, der Ka¬ 
vallerie, der Artillerie und des Trains. Die Musikkapellen 
spielten jeweils den Marsch des Tuchballens, der eben 
abgewickelt wurde, es gab ebenso viele Regimentsmärsche 
wie Regimentsfarben; den Castaldomarsch, den des Prager 
Hausregiments, summten und pfiffen die Zuschauer mit. 

Auf tänzelndem Apfelschimmel, den ein Soldat im 
Zaum hielt, saß vor dem Sylva-Tarouccaschen Portal der 
General Graf Grünne, sein strenge gerunzelter, furchtein¬ 
flößender Blick war es, dem sich die Köpfe entgegenreck¬ 
ten und um dessentwillen die bunten Hälse selbständig 
weitermarschierten, starr, ohne Richtung und Abstand zu 
verlieren. 

So saß er da, so wird er da sitzen bis zu dem Tag, an 
dem ich an seiner Stelle dort sitzen werde mit strenge 
gerunzeltem, furchteinflößendem Blick. Ich übte den Blick. 

Man hatte mir erzählt, General Grünne habe eine 
Schlacht geführt, eine richtige Schlacht mit richtigen Sol¬ 
daten! Daß es eine verlorene Schlacht war, hatte man mir 
nicht erzählt und auch nicht, daß Graf Grünne nicht der 
oberste Leiter jener Schlacht gewesen; aber das hätte ihm 
in meinen Augen keinen Abbruch tun, mich keineswegs 
davon abbringen können, sein Ebenbild werden zu wol¬ 
len. 

Etwas anderes brachte mich davon ab, und in meinem 
neunten Lebensjahr, in dem Alter, da die Begeisterung 
für Militarismus am lebhaftesten zu sprießen pflegt, 
mußte die Parade meines Beiseins entraten. Denn ich hatte 
General Grünne aus der Nähe kennengelernt. 


22 



ER kam in unseren Laden, in Zivil, und dennoch er¬ 
kannte ich IHN gleich. Ich zitterte vor Aufregung. Die 
Parade - der Apfelschimmel - die Hälse - die große 
Schlacht. 

Seine Frau war mit und suchte für IHN eine Reihe von 
Zivilstoffen aus. ER stand daneben, sagte nichts, wie ER 
auch bei der Parade nichts gesagt hatte. ER begnügte sich, 
mit dem Blick, den ich kannte, mit dem strenge gerunzel¬ 
ten, furchteinflößenden Feldherrnblick, die defilierende 
Ware zu mustern. Zuletzt wurden Lodenstoffe für einen 
Jagdanzug vorgelegt, und die Generalin entschied sich für 
einen davon, IHM gefiel ein anderer besser, und ER 
äußerte das. 

„Kusch!" zischte seine Frau ihn an. 

Und der Feldherr? Er schwieg. 

Beim Abendessen erzählte mein Vater der Mutter la¬ 
chend die Szene. Mir aber war nicht zum Lachen zumute, 
ich war zerrüttet durch die Zurechtweisung, die sich mein 
General widerspruchslos hatte gefallen lassen. 

„Wie kann sie ihm so etwas sagen?" mischte ich mich in 
das Gespräch meiner Eltern. 

„Schweig", sagte mein Vater. Er sagte nicht „kusch" zu 
mir. „Kusch" sagt man nur zu einem Hund. Und daß mein 
General das Wort wortlos eingesteckt hatte, konnte ich 
nicht fassen. Meine militärischen Zukunftspläne stürzten 
zusammen. Ich verlor meinen Beruf, mußte einen neuen 
ergreifen. 

Zur nächsten Fronleichnamsparade ging ich, wie gesagt, 
nicht mehr. Statt mit Zinnsoldaten spielte ich jetzt mit den 
Buchstaben meines Druckkastens, statt des Egalisierungs¬ 
zimmers wurde der unsichtbare Platz unter dem Stehpult 
unseres Verkaufsraums mein liebster Aufenthalt. Dort 
kam ich, durch eine Reihe von Ereignissen bewegt, auf 
den Einfall, eine Zeitung zu machen. 

Die erste Zeitungsnachricht, die ich gelesen oder, bes¬ 
ser gesagt, buchstabiert hatte, war kriminalistischer Na¬ 
tur. Ich war auf die Notiz aufmerksam geworden, weil 
mein Onkel (die vordere Hälfte der Firma „S. Kisch 
Bruder") das Verbrechen entdeckt hatte. Auch den Schau¬ 
platz, den Juwelierladen Rummel in der Jungmanns- 


23 



gasse, kannte : ich gut, denn im gleichen Haus hatte mein 
Onkel seine Junggesellenwohnüng. Oft war ich zu Besuch 
dort, es war ganz, ganz anders als bei uns zu Hause. Eine 
dicke Dame, die sich ohne Kleider hatte malen lassen', 
hing an der Wand, Photographien von Kusinen und Tan¬ 
ten, die ich nicht kannte, und mitten unter ihnen das Bild 
eines männlichen Verwandten. Das war unser Urahn, der 
Hohe Rabbi Loew, ein großmächtiger Zauberer; er hatte 
sich aus Lehm einen lebendigen Sklaven geformt, der Go¬ 
lem hieß. Neben Onkels Bett lag ein Tiger, der aber tot 
war. Manchmal, wenn ich zu Besuch kam, fand ich die 
Wohnung. versperrt, und der Onkel rief mir durch die 
Türe zu, auf der Straße zu warten. Dann stand ich vor 
dem Schaufenster des Juweliers Rummel, darin brillan¬ 
tene Schmetterlinge flatterten und kleine silberne Kut¬ 
schen fuhren und komische Anhängsel für Uhrketten bau¬ 
melten. 

Eines Nachts, als Onkel Semi sehr spät nach' Hause 
ging - er ging immer sehr spät nadi Hause bemerkte 
er vom Flur aus einen Lichtschein im Rummelschen La¬ 
den. Er lauschte, hörte Geräusche, benachrichtigte den 
nächsten Polizisten und auf dessen Wunsch die Wachstube. 
Man umstellte das Haus, drang in den Laden ein und ver¬ 
haftete einen Einbrecher. 

Aus seinem Werkzeug und der Präzision seiner Arbeit 
schloß die Polizei, eines gefährlichen Internationalen hab¬ 
haft geworden zu sein. Aber wer war er? Daktyloskopie 
gab es damals ebensowenig wie ein Verbrecheralbum mit 
Photos aus aller Welt. Der Festgenommene besaß Legiti¬ 
mationspapiere mit seiner genauen Personenbeschreibung. 
Sie' läuteten auf den Namen eines bisher unbescholtenen 
Geschäftsreisenden. Hatte er sie gefälscht? 

Polizeikommissar Olitsch diktierte ihm, wie ich in der 
Zeitung „Bohemia" las, stundenlang Sätze, in die er Unauf¬ 
fällig Worte aus den Dokumenten einflocht. Die Schrift 
des Verhafteten ergab keine besondere Ähnlichkeit mit der 
in den ‘Papieren; entweder hatte der Einbrecher seine 
Handschrift bei der Herstellung der Dokumente verstellt, 
öder er verstellte sie jetzt; oder aber die Dokumente wa¬ 
ren echt ühd er war wirklich zum erstenmal auf Abwege 


24 



geraten. Da, nach drei Stunden, der Geprüfte war offen¬ 
sichtlich müde geworden, diktierte ihm Olitsch schnell 
einen Satz, in dem das Wort „Bezirk" vorkam. Der Ein¬ 
brecher schrieb „Bezierk". 

„Bezirk schreibt man nicht mit ie", sagte Olitsch. 

„Ach ja", sagte der Mann und strich das e weg, „ich 
irre mich dabei immer." 

„Jawohl, Sie irren sich dabei immer. Aber ein Beamter 
würde Bezirk nicht falsch schreiben, das müssen Sie zu¬ 
geben. Hier auf Ihrem Geburtsschein steht Bezirk mit ie, 
und in Ihrem Arbeitsbuch ist Bezirk ebenso falsch ge¬ 
schrieben." 

Daraufhin gestand der Verhaftete die Fälschung der 
Dokumente und seinen wahren Namen ein/ Es war der 
eines steckbrieflich gesuchten Geldschrankknackers. 

Diese Schilderung des Verhörs wirkte weit aufregender 
auf mich als das Lied vom Räuber Babinsky, und so blieb 
ich Zeitungsleser. Ich ahnte nicht, bald von einem Verbre¬ 
chen in der Zeitung zu lesen, das mich weit mehr angehen 
sollte als der Einbruch beim Juwelier RummeL 

Die Firma „S. Kisch & Bruder" versandte zweimal im 
Jahr Musterkarten an Kundschaften in der Provinz. In der 
Ecke jedes Tuchmusters klebte ein kreisrunder Zettel, dar¬ 
auf Preis, Nummer, Art und Breite des Stoffes angegeben 
waren. Diese Vignettchen wurden in unserem Geschäft 
mittels einer Stanze hergestellt. Das tat ich sehr gern, und 
wenn keine für Geschäftszwecke zu stanzen waren, stanzte 
ich sie für mich. Aus einem der braunen Pappkartons, die 
zwischen die Seidenpapierblätter des Kopierbuchs gelegt 
wurden, damit sich der zu kopierende Brief nicht auf einen 
anderen, abdrücke, stanzte ich eines Tages einen kleinen 
Kreis heraus, und, schau, schau, er glich ganz und gar 
einem kupfernen Kreuzer. Ich legte ihn vor den Laden¬ 
eingang, jemand kam des Weges, bückte sich danach und 
steckte den Fund in die Tasche. Kühn gemacht durch die¬ 
sen Einzelerfolg, ging ich zur Massenproduktion über und 
verstreute Hartgeld, das de facto Papiergeld war, in unse¬ 
rer Straße. 

Vom Wohnungsfenster aus; hinter dem Vorhang ver¬ 
steckt, beobachtete ich die Wirkung. Märiniglich hob Kup- 


25 



fermünzen auf, um sie als Kartonblättchen wegzuwerfen, 
mancher eilte wortlos weiter, sich des Hereinfalls schä¬ 
mend, die meisten aber schimpften, zumal dann, wenn sich 
zwei gleichzeitig hastig und energisch nach dem gleichen 
Geldstück bückten und ihre Köpfe dabei aneinanderstie¬ 
gen. Bald sammelten sich Gruppen und nahmen eine be¬ 
drohliche Haltung an, ohne zu wissen, gegen wen. 

Aus dem ehemaligen Michaelskloster schaute ein Mann 
auf die Strage hinab, die ihrerseits auf ihn hinaufzu¬ 
schauen begann. Er lächelte in aller Unschuld. Unten nahm 
man das für Hohn und schickte sich an, ins Haus zu drin¬ 
gen, jedoch gelang es dem Hausbesorger, das Tor recht¬ 
zeitig zu schliegen. Ein herbeigeeilter Polizist verschaffte 
sich Einlag. Während dieser Szene kam meine Mutter ans 
Fenster, um zu sehen, was es gäbe; ich beschwor sie, sich 
nicht zu zeigen, kreidebleich erklärte ich ihr, was ich an¬ 
gestellt. „Ach was", meinte sie, „es wird wohl etwas ande¬ 
res passiert sein." 

Drüben führte der Polizist den Mann aus dem Michaels¬ 
kloster. Was wird mit dem Verhafteten geschehen, wenn 
er seine Unschuld nicht beweisen kann? Was wird mit 
mir geschehen, wenn man den wahren Täter entdeckt? 

Es hieg alle Spuren beseitigen. Vorerst verbrannte ich 
den Rest des Kartons, aus dem ich die Münzen geprägt 
hatte, dann versteckte ich die Stanze im dunklen Flur 
eines benachbarten Durchhauses. An ihre Stelle legte ich 
eine alte, ausrangierte Stanze; sie schnitt viel grögere 
Kreise aus, die kein Mensch für Kupferkreuzer halten 
konnte. 

Dag die Tat in einer Tuchhandlung begangen worden 
war, würde die Polizei sicherlich feststellen, und nur eine 
in unserer Strage kam in Betracht. 

Bezirk schreibt man nicht mit ie, wie ich genau wugte. 
Ich erwog, ob ich nicht Dokumente hersteilen und ab¬ 
sichtlich Rechtschreibfehler hineinmachen sollte, um sie 
beim Verhör vor Polizeikommissar Olitsch zu vermeiden 
und so meine Unschuld zu beweisen. Oder wäre es nicht 
besser, zu flüchten? Rugland soll riesig grog sein, dort 
wird man mich bestimmt nicht finden. 

Am nächsten Morgen standen in der Zeitung drei Zei- 


26 



len, ein Unbekannter habe in der Schwefelgasse münzen¬ 
ähnliche Kartonstücke ausgestreut und dadurch einen Auf¬ 
lauf hervorgerufen. Dieser Mitteilung folgte eine andere 
über die mutwillige Alarmierung der Feuerwehr im Vor¬ 
ort Zizkow. Die beiden Notizen trugen den gemeinsamen 
Titel „Bubenstücke". 

O weh! Also auch das hatten sie schon heraus, dafi 
meine Münzen die Stücke eines Buben waren, kein Zwei¬ 
fel, sie waren mir auf der Spur. Ich konnte nicht schlafen, 
stündlich erwartete ich die Polizei, die da kommen mufjte, 
um mich zu holen. Wie dem Räuber Babinsky würde man 
mir Ketten anlegen, eiskalte Ketten, und mich in eine fin¬ 
stere Zelle sperren. 

Es dauerte lange, ehe ich diese Befürchtung los wurde, 
ich vergaß sie erst bei der Lektüre des Mordprozesses 
gegen den Verein „Omladina" („Verjüngung"). Am Weih¬ 
nachtsabend 1893 war der Handschuhmachergehilfe Ru¬ 
dolf Mrva in seiner Wohnung erstochen worden, und 
etwa ein Jahr später fand die Verhandlung gegen die 
Täter statt. Der spaltenlange Bericht war fein zu lesen, weil 
die Sätze kurz waren und nach jedem ein Absatz kam. 

Vorsitzender: Sie klopften an die Tür? 

Angeklagter Dragoun: Ja. 

Vorsitzender: Auf gewöhnliche Art? 

Dragoun: Nein, mit unserem Klopfzeichen. 

Vorsitzender: Wie war das? 

Dragoun: Zwei langsame und drei schnelle Schläge und 
ein Kratzen an der Tür. 

Vorsitzender: Daraufhin hat Mrva geöffnet? 

Dragoun: Erst fragte er, wer da sei. 

Vorsitzender: Was antworteten Sie? 

Dragoun: Die rot-blaue Sieben. 

Vorsitzender: Daraufhin hat Mrva geöffnet? 

Dragoun: Nein. Er fragte zuerst, welcher Teil der Sie¬ 
ben. Ich nannte meinen Namen. 

Vorsitzender: Welchen Namen? 

Dragoun: Die Lampe im Felsen. 

Vorsitzender: Wo hatten Sie das Dolchmesser verbor¬ 
gen? 


27 



Im Hintergrund dieser Mordgeschichte stand eine große 
antiösterreichische Verschwörung. Monatelang waren in 
Prag Wappen auf den Staatsämtern, Tabaktrafiken und 
Briefkästen, die Denkmäler des Kaisers Franz I. und des 
Feldmarschalls Radetzky zu nächtlicher Stunde mit Teer 
oder Farbe beschmiert worden. Auf den steinernen Dop¬ 
pelaar der Finanzprokuratur war eine Flasche' mit roter 
Farbe geschleudert worden, und schaudernd sahen wir 
einen Raubvogel mit zwei Schnäbeln und vier Krallen, die 
von Blut troffen. Unter Aufsicht der Polizei und im Bei¬ 
sein undurchdringlich dreinschauender Neugieriger wurde 
stundenlang versucht, die Farbe wegzuschrubben. Nicht 
mehr zu helfen war dem Adler über dem Postamt am 
Kleinen Ring, dem waren die Köpfe abgeschlagen, zwei 
Drähte ragten aus dem klaffenden Doppelhals. Bei hohen 
Staatsbeamten langten Drohbriefe und sogar Höllen¬ 
maschinen ein. Mit 'Riesenbuchstaben war auf eine Häu¬ 
serwand der Elisabethstraße eine Bitte an den Kaiser ge¬ 
pinselt: „Franz Joseph, krepiere." Über Prag wurde das 
Standrecht verhängt, ohne daß die Aktionen sich vermin¬ 
derten. 

Plötzlich, sozusagen über Nacht, kam die Polizei einem 
tschechischen Geheimbund „Omladina" und ihrer Terror¬ 
gruppe „Das unterirdische Prag" auf die Spur. Massen¬ 
verhaftungen setzten ein. 

Ohne Zweifel lag Verrat vor. Die noch in Freiheit be¬ 
findlichen Mitglieder der „Omladina" verdächtigten den 
buckligen Rudolf Mrva, Geheimname: „Rigoletto von Tos¬ 
kana". In dem Notizbuch, das seine Geliebte ihm im Auf¬ 
trag der Organisation entwendete, fand sich der Beweis 
für seinen Verrat, und als Mrva den Weihnachtsbaum 
schmückte, ertönten an seiner Wohnungstür die zwei lang¬ 
sam und die drei schnell aufeinanderfolgenden Klopf¬ 
zeichen und das Kratzen... Die rot-blaue Sieben 

„Das ist die Liebe nur ganz allein", sang der blinde Me¬ 
thodius, seine Messer wetzend, „sie stößt den. Dolch.in 'n 
Buckel rein." Von der Haft der „Omladinisten" und ihrem 
Prozeß sang er auch, aber ganz leise, denn das Lied war 
verboten, und drüben vor dem schwarzgelben Briefkasten 
stand, wie wir ihm warnend zuflüsterten, ein Polizist. 


28 



Der Mord an Mrva war der Höhepunkt dieser anti- 
dynastischen Welle, nach der Verurteilung der Führer ver¬ 
ebbte sie, und eine antisemitische Flut konnte steigen. Im 
Wald beim Dorf Polna war die Leiche eines Mädchens 
auf gefunden worden, Dorfbewohner rotteten sich zusam¬ 
men und schrien, niemand anderer als die Juden hätten 
das Mädchen ermordet und man müsse alle Juden er¬ 
schlagen. Um dieser Forderung wenigstens einigermaßen 
zu entsprechen, nahm der Gendarm irgendeinen Juden aus 
der Gegend fest, und gegen, diesen, Leopold Hilsner mit Na¬ 
men/wurde das Verfahren wegen „Ritualmords" eingeleitet 
Ein oder zwei Jahre später, während Hilsner in Haft saß, 
entdeckte man abermals eine verweste Frauenleiche und 
legte ihm nunmehr auch den zweiten Mord zur Last. 

Die Rolle, die Zola im Fall Dreyfus übernommen, über¬ 
nahm im Fall Hilsner der Professor Masaryk. Ja dessen 
Rolle war vielleicht noch undankbarer. Keine Zeitung 
stand Masaryk bei, und er führte diesen Kampf allein, 
ebenso wie. er gegen die gefälschte Königinhofer. Hand¬ 
schrift allein gekämpft hatte. Selbst diejenigen seiner 
Konnationalen, die gleich ihm die Ritualmordbeschuldi¬ 
gung als Wahnwitz erkannten, selbst sie ließen angesichts 
der alles überflutenden antisemitischen Verhetzung sowohl 
Hilsner als auch Masaryk fallen, „für Ruhe und Ordnung, 
gegen Freiheit und Gerechtigkeit". 

. „Du Hilsner", wurde den Judenkindern auf dem Schul¬ 
weg zugerufen mit einer Bewegung gegen die Kehle; Nach¬ 
ahmung des „charakteristischen Schnitts", der in dem Pro¬ 
zeß eine Rolle spielte. Der blinde Methodius sang , zwar 
nur ein elegisches Lied: „Hilsner, du arger Mann / Was 
hast im:Brezinawald getan...", aber die Straße war er¬ 
füllt vom Ruf nach Rache und Pogrom. Hannchen, genannt 
Hanka Falschheit, die mich noch vor wenigen Tagen über 
Liebe aufgeklärt hatte, sang jetzt Haß: „Kaufet nicht beim 
Juden ein / Kaffee, Zucker, Möbel / Die Juden, sie erschlu¬ 
gen uns / Ein sehr junges Mädel." Es kam zum Krach 
zwischen , uns beiden, und ungeachtet unseres im- Keller 
besiegelten Bundes ging sie von dannen, aus vollem be¬ 
ginnendem Busen schmetternd: „Mein Schubkarren ist mir 
lieb / Jeder Jud ist ein Dieb." 


29 



Das war die Zeit, in der mir, um so mehr als ich einen 
Kinderdruckkasten besaß, die Idee kam, eine Zeitung zur 
Aufklärung der Massen herauszugeben. 

Der Platz unter dem Stehpult unseres Ladens war keine 
unebene Räumlichkeit für die Zeitung des kleinen Man¬ 
nes. Schräg wie das Dach eines Hauses war der Pult¬ 
deckel hoch über mir und so breit, daß Hauptbuch und 
Kassabuch aufgeschlagen nebeneinander liegen konnten. 
Wenn jemand zu meinen Häupten bücherliche Eintragun¬ 
gen machte, störte es mich nicht, denn von oben, durch 
den Pultdeckel hindurch, konnte er mich ebensowenig se¬ 
hen wie ich ihn. Ja er sah noch weniger von mir als ich 
von ihm: ich sah seine Beine; sie standen wie zwei Säulen 
vor dem Portal meines Zeitungspalastes. Die andere Front 
des Stehpults bestand aus polierten Latten, die mich vor 
den Blicken der Außenwelt verbargen. Links und rechts 
hatte ich freien Ausguck und konnte für meine Zeitung 
das öffentliche Leben beobachten, soweit es sich in unse¬ 
rem Laden vollzog, darin der meine eine Enklave war. 

Der Name der Zeitung lautete „Zeitung". Es wäre eine 
Fehlinterpretation, in diesem Titel die Anmaßung des 
Herausgebers sehen zu wollen, daß er seine Zeitung für 
die Zeitung an sich hielt. Eher war er dabei von der in¬ 
stinktiven Erkenntnis geleitet, kein Mensch würde die 
Zeitung als Zeitung erkennen, wenn er sie nicht durch den 
Titel als solche kenntlich mache. (Übrigens sollte sie auch 
kein Mensch zu Gesicht bekommen.) 

Mit drei Garnituren von Bleibuchstaben - nach und 
nach angekauft - wurde sie gesetzt und in einer Auflage 
von einem Exemplar gedruckt, das sofort expediert wurde, 
und zwar in die kleine Kiste, die auch als Redaktionstisch 
diente. Redaktionsfauteuil war der Fußboden. 

An Stoff gibt es in einem Tuchladen keinen Mangel 
auch an Stoff zum Schreiben nicht. Nehmen wir zum Bei¬ 
spiel Herrn Meyer, den Bankier aus der Heinrichsgasse. 
Er kaufte meist englischen Homespun, die „Pepper-and- 
Salt"-Stoffe wurden eigens für ihn aus Manchester bestellt. 
Mein Vater machte, wenn er Herrn Meyer Stoffe vorlegte, 
immer Witze, die sich auf Gespenster bezogen: „Wird viel 
getragen in Gespensterkreisen" oder: „Wünschen Sie ein 


30 



okkultes Muster oder lieber etwas Clairvoyantes?" Einmal 
fragte ich meinen Vater nach dem Sinn dieser Anspielun¬ 
gen und erfuhr, daß Herr Meyer Spiritist sei und was das 
bedeute. Flugs druckte ich einen den Geisterglauben ver¬ 
dammenden Artikel folgenden Wortlauts: „Gespenster gibt 
es nicht. Ritualmorde gibt es auch nicht. Es ist blöd, so 
etwas zu glauben/' Wie man sieht, war meine Zeitung ein 
Gesinnungsblatt. 

Einige Zeit später wurde der Bankier Meyer unter dem 
Verdadit des Börsenbetrugs verhaftet, und ich - ein Zola 
und Masaryk zugleich - verfaßte einen geharnischten, 
nicht weniger als drei Zeilen langen Artikel zu seiner 
Verteidigung, bestehend in dem Satz, daß Herr Meyer 
ein sehr anständiger Herr sei. Ich verschwendete mich in 
diesem Fall an kein unwürdiges Objekt, denn nach sei¬ 
ner Freilassung begann Bankier Meyer unter Pseudonym 
im Münchner „Simplizissimus" satirische und mystische 
Geschichten über Prag zu schreiben und veröffentlichte den 
viel diskutierten, viel kritisierten Roman „Der Golem". 
Aber nie hat Gustav Meyrink erfahren, daß ich der erste 
war, der über ihn geschrieben. 

Einer meiner Artikel richtete sich gegen Politiker, die 
öffentlich den Boykott deutscher und jüdischer Waren 
predigten, aber bei uns einkauften. Allerdings traten sie 
nicht durch die Geschäftstür ein, sondern heimlich, durch 
den Hausflur. Sogar das Tuch für die Tschamara, den ver¬ 
schnürten Salonanzug der Panslawisten, bezogen sie bei 
uns; um dieses Tuch, einen gewöhnlichen Smokingstoff, 
zu bekommen, hätten die Boykottprediger wahrlich nicht 
zum Boykottierten gehen müssen. 

Mein Blatt geißelte den Widerspruch zwischen Rede 
und Handlung, es verglich die Kunden des Hintereingangs 
mit den Mördern Mrvas, die Klopfzeichen anwandten und 
mit dem Dolch im Gewände zu ihren Opfern schlichen. 
Wie der Leser bemerkt, paßt der Vergleich nicht, aber 
damals bemerkte das kein Leser, denn die Zeitung drang 
ja aus dem Souterrain des Stehpultes nicht hinaus, und 
obwohl seit ihrer Gründung ein halbes Jahrhundert ver¬ 
gangen ist, wird sie hier und an dieser Stelle zum ersten¬ 
mal zitiert. Hätte damals jemand von der Firma „S. Kisch 


31 



&. Bruder" diese Nummer gelesen, sicherlich wäre sie der 
Beschlagnahme verfallen und der Hersteller der Druck¬ 
schrift wegen Geschäftsstörung zur Verantwortung ge¬ 
zogen worden. Schade, daß das nicht geschah, dergestalt 
hätte ich schon frühzeitig gelernt, daß Pressefreiheit dort 
aufhört/ wo geschäftliche Interessen beginnen. 

Als größtes Thema iür meine Jugendjournalistik hätte 
sich eigentlich der Prager Dezember von 1897 darbieten 
müssen. Das waren wilde Tage. Die deutschen Abgeord¬ 
neten im Reichsrat, die Tumulte an der Wiener Universi¬ 
tät und die Straßendemonstrationen in Graz hatten den 
Sturz des Ministerpräsidenten Bädeni erzwungen und die 
Zurückziehung seiner slawenfreundlichen Sprachenverord¬ 
nungen. Daraufhin erhoben sich die Tschechen. Deutsche 
Gebäude und Geschäfte in Prag wurden gestürmt, ihre 
Einrichtungen zertrümmert, Firmenschilder und Fenster¬ 
scheiben eingeschlagen. 

„Der Russe ist mit uns. Wer gegen uns ist, den wird 
der Franzose hinwegfegen", sangen die Prager Demon¬ 
stranten, und das galt als Hochverrat, denn mit Österreich 
standen Italien und Deutschland zum Dreibund zusammen, 
während die Franzosen und Russen bereits'der zukünftige 
Erbfeind der Monarchie waren. 

Immer größere Ausmaße nahm die Revolte an, macht¬ 
los .war die Polizei, machtlos selbst das aufgebotene Mili¬ 
tär. Vor den Gewehren der Infanterie wich die Menge nur 
zurück, um sich in einer anderen Straße zu sammeln und 
Steine zu schleudern. Gegen die Kavallerie wandten die 
Demonstranten „Knallfrösche" an, 1 Feuerwerkskörper, die 
unter den Pferdehufen explodierten; die Pferde scheuten, 
von einem geschlossenen Vorrücken konnte keine Rede 
sein, 

Unser Haustor war versperrt. Wir gingen nicht zur 
Schule, überhaupt nicht auf die Straße. In unserer Woh¬ 
nung wurde keine Lampe angezündet. Trotz Verbots lug¬ 
ten wir Buben aufgeregt und neugierig abends aus dem 
Fenster. Die vom Wenzelsplatz vertriebenen Demonstran¬ 
ten gruppierten sich immer wieder. Ein Mann mit offenem 
Mantel rannte in unbeschreiblicher Hast durch die Gasse. 
Gerade vor. unserem Haus hielt er eine Sekunde lang 


32 



inne, knöpfte seinen Mantel ab und warf ihn hin. Im 
Schein der Gaslaterne sah ich sein Gesicht, es war fahl 
Augen und Mund aufgerissen. Der Mann lief ins Leder- 
gäßchen, verschwand im Dunkel - nicht mir verschwand 
er, ich sehe ihn noch heute vor mir. 

Eine Minute später klapperten Pferdehufe übers Pfla¬ 
ster, Dragoner. Mit den Säbeln schlugen sie die Scheiben 
der Schenke neben dem „Täubelhaus" ein, preschten zu 
Pferd in die Wirtsstube. Dann galoppierten sie weiter. An 
der Ecke des Leder gäß chens überlegten sie, ob sie in diese 
Finsternis und Enge hineinreiten sollten. Ein Pferd ver¬ 
wickelte sich mit den Hufen in den weggeworfenen Man¬ 
tel, der Reiter schenkte dem keine Beachtung. Die Schwa¬ 
dron ritt geradeaus, durch die Schwefelgasse. Wenn die 
Reiter jenen Mann verfolgten, waren sie auf falscher 
Fährte. Ich freute mich darüber, ohne zu wissen, warum. 

Über alle diese großen Themen berichtete die Zeitung 
„Zeitung" kein Wort. Die Firma „S. Kisch & Bruder" war 
eine Woche lang geschlossen und damit auch meine Re¬ 
daktion und Druckerei. 



WIRKLICH GEDRUCKT 


Das vorige Jahrhundert und meine Existenz überschnei¬ 
den sich, fünfzehn Lebensjahre haben wir beide gemein¬ 
sam. Ich sitze längst nicht mehr redigierend, druckend 
und herausgebend unter dem Stehpult. Nur die Kiste dient 
mir noch. Sie, die mir Schreibtisch und Absatzgebiet ge¬ 
wesen, ist nun Depot für Manuskripte meiner Poesie und 
Prosa. Sogar ein Theaterstück enthält sie; für das andert- 
halbaktige Schauspiel „Die Rathausuhr" sollten nur die 
Bretter der Kiste die Bretter der Welt bedeuten. 

Gerne würde ich meine Wei*ke richtig gedruckt sehen. 
Aber da steht ein Aber: „Mitarbeit an Zeitungen oder 
Zeitschriften beziehungsweise Einsendungen, auch wenn 
sie keine Veröffentlichung zur Folge haben, werden auf 
das rigoroseste, gegebenenfalls mit Relegierung bestraft/' 
Mit diesen Worten des Amtsstils versucht die „Diszipli¬ 
narordnung für Schüler der k. k. Mittelschulen" jede Äuße¬ 
rung eines jugendlichen Genies zu ersticken. 

„Auf das rigoroseste bestraft..das würde mir unter 
normalen Umständen keine besondere Angst einflößen, im 
allgemeinen heißt das einige Stunden Karzer, und die 
nähme ich gern für Ruhm in Kauf. Relegierung steht ja 
nur „gegebenenfalls" auf das Verbrechen der versuchten 
Literatur. 

In meinem Fall aber ist es schlimmer. Dreimalige Ver¬ 
urteilung zu Karzer innerhalb eines Schuljahres hat auto¬ 
matisch den Ausschluß aus der Schule zur Folge. Und ich 
habe gleich zu Beginn des Schuljahrs 1899/1900 das Pech 
gehabt, zweimal nacheinander in den Karzer gesteckt zu 
werden. 

Der erste Vorfall war eine Prügelei auf dem Schulhof. 
Gemeinsam saßen mein Gegner und ich die vier Stunden ab, 
und einer ließ den anderen die Strafarbeit abschreiben, 
was nicht hinderte, daß die Gegner unversöhnt schieden. 

Am zweiten Delikt trug nicht ich die Schuld, sondern 


34 



meine Großmutter. Wie oft wurde ich in meinem Berufs¬ 
leben an diese groteske Episode erinnert, wie oft haben 
Redakteure, genauso wie damals meine Großmutter und 
aus ähnlichen Gründen, Tatsachen in meiner Arbeit be¬ 
anstandet. War ich gegenüber meiner Großmutter im 
Recht? Urteilt selbst: 

Ich war Quartaner, vierzehn Jahre alt, saß zu Hause 
und lernte Heimatkunde, die Geographie der im „Öster¬ 
reichischen Reichsrate vertretenen Königreiche und Län¬ 
der". Ich hatte das Buch vor mir auf dem Tisch, das Ka¬ 
pitel „Herzogtum Salzburg" auf geschlagen, die Arme auf¬ 
gestützt, das Kinn in den flachen Händen. 

Gestern hatte der Lehrer beim Schüler Kinzl zu prüfen 
aufgehört, der im Alphabet vor mir kam, morgen konnte 
ich als erster gerufen werden. 

Neben dem Tisch saß Großmutter und strickte. Halblaut 
las ich: „Das Herzogtum Salzburg hat einen Flächeninhalt 
von 7153 Quadratkilometern und 192 760 Einwohner." Ich 
wiederholte: „7153, 7153" und „192 760". Folgendermaßen 
ging der Text weiter; „Die Bevölkerung auf dem flachen 
Lande ernährt sich zumeist von Ackerbau und Viehzucht, 
in manchen Gegenden auch von Salzgewinnung. In den 
Städten sind Handel und Industrie bedeutend." 

Das brauchte nicht intensiv eingeprägt zu werden. War 
es doch die Eigenschaft aller Kronländer von Österreich, 
soweit ich sie gelernt hatte, daß Handel und Industrie in 
den Städten bedeutender waren als auf dem flachen Land, 
wogegen Ackerbau und Viehzucht niemals in den Städten 
blühten. Neu war nur die Salzgewinnung. Ich wiederholte 
mir: „. . . in manchen Gegenden auch von Salzgewinnung." 
Dann lernte ich weiter: „Die Bevölkerung besteht fast aus¬ 
schließlich aus Deutschen. Die Hauptstadt von Salzburg 
ist Salzburg ..." 

Ein leichtes Brummen ließ sich hören. Eine Fliege? Ich 
sah keine Fliege. Vielleicht war es mir nur so vorgekom¬ 
men, als ob etwas gebrummt habe, eine akustische Täu¬ 
schung. Großmutter saß strickend da. Sicherlich hatte nichts 
gebrummt, wo sollte denn auch jetzt, im September, eine 
Fliege herkommen? Ich schaute wieder in mein Buch, um 
weiterzulernen. Wo war ich denn stehengeblieben? 


35 



„Die Bevölkerung besteht fast ausschließlich aus Deut¬ 
schen. Die Hauptstadt von Salzburg ist Salzburg.. 

„Mach keine Witze und lern", sagte Großmutter in 
einem Ton, der Güte und Freundlichkeit war. Verständ¬ 
nislos sah ich sie an, sie aber bemerkte den fragenden 
Blick nicht, sie strickte. 

„...fast ausschließlich aus Deutschen. Die Hauptstadt 
von Salzburg ist Salzburg", wiederholte ich. 

„Du sollst keine Witze machen und lernen." Kein Groll 
lag in ihrer Stimme. Es schien nur ein freundlicher Rat 
zu sein, den sie mir erteilte, eben der Rat, keine Witze 
zu machen und zu lernen. 

„Ich lerne doch, Großmama." 

„Gut, gut, mein Kind." 

Verärgert über diesen ihren Gleichmut, wiederholte ich 
den letzten Satz, möglicherweise sogar etwas lauter, als 
es die Weisheit, daß Salzburg die Hauptstadt von Salz¬ 
burg ist, erfordert hätte. Vielleicht hätte ich ihn überhaupt 
nicht wiederholen sollen. Vielleicht habe ich doch einige 
Schuld an dem Vorfall? Wie dem auch sei, ich will mich 
heute weder mit Selbstvorwürfen noch mit Verteidigungs¬ 
reden plagen, beides wäre verspätet. „Urteilt selbst", habe 
ich oben gesagt. 

„Die Hauptstadt von Salzburg ist Salzburg 

Großmutter drohte: „Du wirst ein paar Ohrfeigen krie¬ 
gen, wenn du nicht auf hör st, Dummheiten zu reden." 

Ich trotzig: „Ich rede keine Dummheiten, ich lerne, was 
hier im Buch steht." 

Bestimmt, Gerechtigkeit in jedem Akzent, erklärte sie: 
„Wenn du lernst, was im Buch steht, werde ich nichts reden." 

Da hatte ich sie. Wollen mal sehen, ob sie ihr Wort hal¬ 
ten wird, nichts zu reden, wenn ich das lerne, was im Buch 
steht. „Die Hauptstadt von Salzburg ist Salzbu ..." 

Und schon hatte ich eine Ohrfeige. Wie gesagt, ich war 
Quartaner. Ein Quartaner läßt sich nicht ohne weiteres 
ohrfeigen, am allerwenigsten wegen einer wissenschaftlich 
erwiesenen Tatsache, die er schwarz auf weiß vor sich 
hat. Ich stampfte mit dem Fuß und schrie. Großmutter 
aber schrie jetzt auch, ihr Garn war gerissen und ihre 
Geduld. 


36 



Meine Mutter kam ins Zimmer geeilt und gab mir noch 
eine Ohrfeige. Begründung; „Warum ärgerst du die Gro߬ 
mutter?" 

„Ich ärgere sie nicht, ich lerne nur, was im Buch steht, 
und Großmama behauptet, ich mache Witze." 

„Blödheiten redet er, anstatt zu lernen", rief Großmut¬ 
ter in mein Plädoyer. 

„... nur was im Buch steht." 

„Die Hauptstadt von Salzburg ist Salzburg und solchen 
Unsinn quatscht er." 

„Au", machte ich, denn ich hatte eben die zweite Ohr¬ 
feige von meiner Mutter bekommen, „da steht doch, daß 
Salzburg ..." 

„Wo steht das?" sagte meine Mutter, hob neuerlich 
schlagbereit die rechte Hand und lenkte ihre Augen in 
das Buch. 

Dort stand es tatsächlich. 

„Mutterl", sagte meine Mutter zu der ihren, „hier steht 
wirklich, daß .. 

„Was steht dort?" 

„.. . daß Salzburg die Hauptstadt von Salzburg ist." 

„Sehr gut!" kreischte Großmutter. „Das ist ja sehr gut!" 
Sie war ganz außer sich. „Das ist großartig!" So wütend 
hatte ich sie noch nie gesehen; „So? Steht das dort? Salz¬ 
burg ist die Hauptstadt von Salzburg, steht dort? Was 
steht noch dort? Böhmen ist die Hauptstadt von Böhmen, 
Wien ist die Hauptstadt von Wien - steht das auch 
dort?" 

„Aber, Mutterl, wenn wirklich ..." 

„Dann braucht er das nicht zu lernen. Das kann er so¬ 
wieso. Jungbunzlau ist die Hauptstadt von Jungbunzlau!" 
Großmutter hatte eine Tochter in Jungbunzlau verheiratet, 
eine andere in Pilsen und eine dritte in Brünn. Bei dem 
Wort „Jungbunzlau" erinnerte sie sich wohl, daß sie diese 
beiden anderen Töchter und meine Mutter, die in Prag 
war, nicht vernachlässigen dürfe, und schrie, Pilsen sei die 
Hauptstadt von Pilsen, Brünn die Hauptstadt von Brünn 
und Prag die Hauptstadt von Prag. Mehr Töchter hatte 
sie .nicht, wir glaubten also, mit diesen Hauptstädten 
werde es zu Ende sein. Aber es war nicht zu Ende. „Afrika 


37 



ist die Hauptstadt von Afrika, Deutschland ist die Haupt* 
stadt von Deutschland - wenn das alles in dem Buch drin¬ 
steht, braucht er nicht zu studieren." 

Sie sprang auf und packte - die wirtschaftlich spar¬ 
same Großmutter! - das Lehrbuch der Heimatkunde und 
warf es mit Wucht und in großem Bogen aus dem Fen¬ 
ster. „Nicht einen Neukreuzer geb ich für sein Studium 
her, so wahr ich leb. Italien ist die Hauptstadt von Italien, 
wirklich, sehr gut!" 

Beruhigungsversuche blieben vergeblich. Ein wahrer 
Paroxysmus hatte Großmutter erfaßt. Vor einer imaginären 
Landkarte tanzte sie hin und her, sprang von einem Welt¬ 
teil auf den anderen, von Land zu Land, von Stadt zu 
Stadt. Mit aus gestreckten Armen behauptete sie, Öster¬ 
reich sei die Hauptstadt von Österreich, Amerika die 
Hauptstadt von Amerika, Berlin die ... 

Es klingelte an der Wohnungstür, wir hörten aus dem 
Vorzimmer die Stimme der Frau Popper, aber Großmutter 
war nicht willens oder nicht in der Lage, auf Besuch Rück¬ 
sicht zu nehmen, sie fuhr fort mit ihren geographischen 
Feststellungen. „Berlin ist die Hauptstadt von Berlin, Frau 
Popper ist die Hauptstadt von Frau Popper", schrie sie, 
und schrie, bis Babitz, der kleine Ort, dem sie entstammte, 
von ihr zur Hauptstadt von Babitz erklärt worden war. 

Tags darauf ging unser Geographielehrer, ein glatter, 
übertrieben elegant gekleideter Herr, wie immer zu Be¬ 
ginn des Unterrichts, die Bankreihen durch, um zu kon¬ 
trollieren, ob jeder Lehrbuch und Geographieheft vor sich 
liegen habe. Auch ich hatte beides auf dem Pult, die Hei¬ 
matkunde sogar in sauberes blaues Papier eingeschlagen. 
Leider kam ihm das Buch etwas zu dick vor, er nahm es 
in die Hand und stellte fest, daß es die französische Gram¬ 
matik war. 

„Hm, hm. Wo haben Sie die Heimatkunde?" 

„Ich habe sie vergessen." Unmöglich konnte ich ihm 
doch sagen, daß meine Großmutter sie gestern aus dem 
Fenster geworfen habe. 

„Nun, das macht nichts", bemerkte er mit seiner gleis¬ 
nerischen Freundlichkeit und schwang das lange schwarze 
Band, an dem sein Kneifer befestigt war. „Wenn Sie die 


38 



Heimatkunde im Kopf haben, brauchen Sie kein Buch. 
Kommen Sie heraus/' 

Wahrscheinlich wäre ich auch gerufen worden, wenn ich 
mein Lehrbuch besessen hätte, denn die Prüfung hatte ja 
in der letzten Stunde bei Kinzl, meinem Vorgänger im 
Alphabet, aufgehört. Jedenfalls aber überstürzte sich in¬ 
folge des Fenstersturzes der Heimatkunde nun auch der 
Lauf der Ereignisse. 

„Was wissen Sie über das Herzogtum Salzburg?" 

Ich begann aufzusagen, sehr laut, sehr schnell. Er wird 
merken, daß ich über das Herzogtum Salzburg genau 
unterrichtet bin, und wird mir - so hoffte ich - eine an¬ 
dere Frage stellen. „Das Herzogtum Salzburg hat einen 
Flächeninhalt von 7153 Quadratkilometern und 192 760 
Einwohner. Die Bevölkerung auf dem flachen Land ernährt 
sich zumeist von Ackerbau und Viehzucht, in manchen 
Gegenden auch von Salzgewinnung. In den Städten sind 
Handel und Industrie bedeutend. Die Bevölkerung besteht 
fast ausschließlich aus Deutschen. Die Hauptstadt von 
Salzburg ist Salzburg ..." 

Ich schaltete eine Pause ein. 

„Weiter", forderte mich der Lehrer auf und wirbelte 
seine Kneiferschnur durch die Luft. 

Ich wiederholte den letzten Satz nachdenklich, als ob 
ich mich an die Fortsetzung erinnern wolle. „Die Haupt¬ 
stadt von Salzburg ist Salzburg ..." 

„Das haben wir schon zweimal gehört. Daß Salzburg 
die Hauptstadt von Salzburg ist, ist doch wohl selbstver¬ 
ständlich." 

Das war mir zuviel. Meiner Großmutter war gestern der 
Satz, Salzburg sei die Hauptstadt von Salzburg, so un¬ 
wahrscheinlich, so unglaubhaft, so unmöglich erschienen, 
daß sie darüber einen Tobsuchtsanfall bekommen hatte, 
und jetzt sollte es auf einmal „doch wohl selbstverständ¬ 
lich" sein! „Das ist gar nicht selbstverständlich", schrie ich 
mit krebsrotem Kopf. 

„Wieso ist das nicht selbstverständlich?" fragte der Leh¬ 
rer und vergaß, so starr war er über meine Frechheit, die 
Kneiferschnur zu schwingen, „wieso?" 

„Fragen Sie die Großmutter!" 


39 



Er schleifte mich zum Direktor, der eine Lehrerkonfe¬ 
renz einberief. Die Lehrerkonferenz entschied: fünf Stun¬ 
den Karzer. Als mir der Direktor dieses Urteil verkün¬ 
dete, fügte er hinzu: „Und was es zu bedeuten hat, wenn 
Sie sich noch das Geringste zuschulden kommen lassen, 
wissen Sie." 

Ja. Wußte ich. Ich verhielt mich so artig, wie ich konnte. 
Nach Schulschluß lief ich immer stracks nach Hause, um 
in keine Konflikte zu kommen. Abends saß ich in unserer 
Tuchhandlung, dichtend und träumend, hauptsächlich da¬ 
von träumend, meine Dichtungen gedruckt zu sehen. 

Soweit dieser Ehrgeiz seine Erfüllung fand, verdanke 
ich es der Tatsache, daß ich ein Tuchhändlerssohn war. 

Alle Läden der Schwefelgasse handelten mit Material 
für Herrenkleidung, aber mitnichten standen sie alle auf 
der gleichen Stufe. Aristokratischen Rang hatten die Tuch¬ 
handlungen, denn um ihretwillen kamen die Schneider aus 
ihren Werkstätten in unsere Straße, die Schneider aus der 
Provinz nach Prag. Hier befühlten und beäugten und be¬ 
rochen sie den Cheviot, den Kammgarn, den Buckskin, den 
Homespun und den Palmerston, ja sie behorchten ihn auch, 
während sie ihn zwischen den Fingern klacken ließen. 
Manche verlangten die Lieferscheine zu sehen, zum Be¬ 
weis, daß der vorgelegte Ballen wirklich aus Manchester 
und nicht aus Reichenberg oder Brünn stamme. Sie stu¬ 
dierten den Fabrikpreis des Ballens und dividierten ihn 
durch die Zahl seiner Ellen (bei englischer Ware: der 
Yards). Ein Einkauf dauerte mehrere Stunden, oft einen 
ganzen Tag oder zwei Tage lang. 

Der Schneidermeister Orlik zum Beispiel brachte immer 
seine beiden Söhne mit, «den Emil wegen der Farbe, den 
Richard wegen des Stoffs". Der Emil hatte nämlich an der 
Malerakademie studiert, der Richard an der Schneider¬ 
akademie. Als Emil später nach Berlin ging, wurde er 
von zu Hause regelmäßig mit Anzügen beliefert, so daß 
er dort als der am würdigsten gekleidete Maler galt und 
bald Professor der Kunstakademie wurde. Aber auch Ri¬ 
chard machte seinen Weg, er war nicht nur maßnehmend, 
sondern auch maßgebend in der Prager Hautevolee. Wenn 
man zu ihm von seiner Werkstatt sprach, fuhr er ärger- 


40 



lieh auf: „Eine Werkstatt hat mein Bruder. Ich habe ein 
Atelier!" - > . 

Dieses Atelier befand sich im Prachtgebäude der Trie- 
ster Versicherungsgesellschaft „Assecuraziöni Generali", in 
Prag kurz „Generali" genannt. Während eines Besuchs in 
Karlsbad füllte der Schneider Orlik den Anmeldeschein 
lakonisch' aus: „Richard Orlik, T Generali, Prag". Worauf 
die Zeitungen veröffentlichten, daß General Richard Orlik 
aus Präg zum Kuraufenthalt eingetroffen sei. Boshafte 
Freunde sandten ihm ein Telegramm: „seiner exzellenz 
general richa'rd orlik karlsbad stop- sollen knöpfe auf 
grauem anzug für kommerzialrat pick einreihig oder dop¬ 
pelreihig genäht werden stop Zuschneider wopitschka ge- 
neralstabschef". * ■ ■ * 

Seither hieß der Schneider Orlik nur General Orlik, und 
das Witzwort kursierte, der Kriegsminister habe ihm die 
Bewilligung erteilt, Generalsuniform zu tragen, und zwar 
über dem linken Unterarm. 

Krasse Gegenstücke zu den anspruchsvollen Orliks'bil¬ 
deten die Kunden aus der Provinz. Die Dorf Schneider ka¬ 
men in' der Regel frühmorgens im Bauern wagen an und 
fuhren am nächsten Tag mit dem eingekauften Jahres¬ 
bedarf wieder heim. Am Abend gingen sie ins National¬ 
theater, der Stoff, den sie von dort mitnahmen, schien 
ihnen-fast ebenso widitig wie der aus unserem Laden. Ich 
hatte die Aufgabe, unsere Landkundschaft zum Theater zu 
begleiten und nach 1 der Vorstellung abzuholen - allein 
hätte sich keiner durch das rasende Großstadtgewirr von 
Droschken und Fahrrädern gewagt. 

Eines Nachts wartete ’ ich vergebens vor dem Theater¬ 
ausgang an der vereinbarten Stelle, mein Pflegebefohlener 
kam nicht. Alles Suchen blieb erfolglos, auch die Polizei 
fand ihn nicht. Am nächsten Tag kam er an, er war bei 
Ibsens „John Gabriel Borkman" so fest eingeschlafen, daß 
er erst am Morgen im Theater aufwachte. Ausgeruht und 
mit geschärftem kritischem Sinn ging er daran, die Mode¬ 
neuheiten auszüwählen, die; seine Kunden zur Kirchweih 
und r zur nächsten Dorfhochzeit' tragen sollten. 

Bei weitem nicht so langwierig wie die Wahl des Tuchs 
war der Einkauf des Zubehörs. Damit handelten die klei- 


41 



neren Kaufleute unserer Straße, sie führten Lüster, Serge, 
Inlett und Cloth für Futter und Taschen, Zwirn und Cor- 
donetteseide für Knopflöcher, Steifleinen und Kanevas für 
den Revers, Roßhaar für die Fassonierung, Watteline für 
die Schultern, Knöpfe, Schnallen und Ösen für Herren¬ 
anzüge. 

Welches von diesen Geschäften der Schneider aufsuchen 
sollte, war ihm gleichgültig, zumeist ließ er sich von sei¬ 
nem alten Geschäftsfreund, dem Tuchhändler, beraten. 
Deshalb wurde der Tuchhändler von allen „Zubehörern" 
devot gegrüßt und seinen Kindern Näschereien zuge¬ 
steckt. 

Penible Kunden, die bis in die späten Abendstunden 
wählten und feilschten, ließen manchmal einer Knopf- oder 
Futterhandlung sagen, sie möge offenhalten, es werde 
noch ein Käufer kommen. Der Bote war ich, oft holte ich 
sogar diese Nebenwaren selbst ein. 

Drüben im Haus „Zu den fünf Kronen" - Witzbolde 
nannten es „Zu zwei Gulden fünfzig", was fünf Kro¬ 
nen der neuen Währung entsprach - hatten die drei alten 
Schwestern Iserstein ihre Wohnung und ihr Knopfgeschäft. 
Ihr Untermieter war ein Redakteur, wie die ganze Gasse 
wußte, denn er versorgte die Schwestern Iserstein mit 
Freikarten ins „Theater Variete". Der Redakteur war Inse- 
ratenagent bei einem in deutschen Familien vielgelesenen 
Wochenblatt. 

Gerne hätte ich diesem Redakteur meine Gedichte vor¬ 
gelegt, und deshalb führten mich alle Botengänge in 
Knopfangelegenheiten zu den Isersteins. Sogar Ösen und 
Schnallen kaufte ich dort, obwohl ich wußte, daß sie das 
nicht auf Lager hatten und es erst vom Haftelmacher Be¬ 
nedikt Bär holen mußten, der den Isersteins freilich Pro¬ 
vision gab. 

Kurz vor Weihnachten 1899 hatte ich für einen Schnei¬ 
der aus der Garnison Theresienstadt zehn Gros Infanterie¬ 
knöpfe und sechs Dutzend Artillerieknöpfe zu besorgen. 
Ein großer Posten fürwahr, und in seinem Schutz warf ich, 
so leichthin, wie ich's vermochte, der diensthabenden Iser¬ 
stein die Frage hin, ob sie dem Herrn Redakteur meine 
Gedichte zeigen könnte. 


42 



Mit einem Paket von zehnmal zwölf Dutzend Infante¬ 
rieknöpfen und einem halben Gros Artillerieknöpfen ging 
ich davon, um mit einem Paket „Gedichte von E. Kisch'* 
wiederzukehren. Den vollen Namen „Egon" wagte ich we¬ 
gen der strengen Schulvorschrift nicht hinzusetzen, und 
um ein Pseudonym zu wählen, dazu war ich wohl zu stolz 
auf meine Werke. Ich unterschrieb „E. Kisch" - so konnte 
ich dort, wo ich wollte, mich der Autorschaft berühmen 
und sie dort, wo es nötig war, abstreiten. 

Bebend vor Erwartung, schlug ich die Weihnachtsnum¬ 
mer auf. Nichts war darin. Am darauffolgenden Sonntag 
jedoch erschien eines von den Gedichten. Es stand in 
der unteren Ecke auf der ersten Seite. Wie mußte es dem 
Redakteur gefallen haben, da er es auf der ersten Seite 
druckte! Daß der Abdruck mit den zehn Gros Infanterie¬ 
knöpfen und den sechs Dutzend Artillerieknöpfen in Zu¬ 
sammenhang stehen könnte, fiel mir nicht ein. 

Dichter pflegen ihre Vornamen nicht abzukürzen. Des¬ 
halb hatte der Redakteur den Punkt nach dem E wegge¬ 
nommen und den Namen ergänzt. „Von Erwin Kisch" stand 
unter dem Titel des Gedichts. Weiß Gott, wie er darauf 
kam, ich hatte niemals Erwin geheißen. 

Zeitig bin ich am Dienstag nach den Weihnachtsferien, 
dem ersten Schultag des neuen Jahrhunderts, in der 
Klasse, um allen Mitschülern unter dem Siegel der Ver¬ 
schwiegenheit meinen Eintritt in die Unsterblichkeit zu 
zeigen. Einige haben das Gedicht bereits gelesen und trotz 
des falschen Vornamens die Klaue dessen erkannt, der die 
Fußballzeitung redigiert. 

Es gibt zwei Kategorien von Lehrern: die „anständigen 
Kerle" und die „gemeinen Hunde". Garzaroni, unser Che¬ 
mielehrer, gehört unbestritten in die zweite Kategorie. 
Wir fürchten ihn, wozu sein grauviolett geflecktes Gesicht 
beträchtlich beiträgt. Eine Säure muß sich einmal rache¬ 
schäumend gegen seine Wangen und seine Stirn geworfen 
haben; ob sie auch das Kinn erwischt hat, ist unter seinem 
Spitzbart nicht zu sehen. Dagegen kann man erkennen, 
daß sich die aufbrausende Flüssigkeit am Haaransatz fest¬ 
krallte, denn seine borstigen Haare stehen längs grau¬ 
violetten Zacken. So unheimlich wie er selbst ist das Thema 


43 



seines Kurses, den er an der Universität abhält: „Feststel¬ 
lung von Vergiftungen am Leichnam der Opfer". 

Wir nennen ihn „Karzeroni", er hat sich diesen Spitz¬ 
namen um manchen von uns verdient. Ich allerdings ver¬ 
danke meinen letzten Karzer nicht ihm, sondern dem Leh¬ 
rer der Heimatkunde, aber auch Karzeroni „sitzt mir auf", 
das heifjt: er kann mich nicht leiden, und meine chemische 
Prüfung ergibt zumeist ein negatives Resultat ohne Rück¬ 
stand. 

An jenem Dienstagmorgen nach meiner ^ literarischen 
Defloration, während ich noch mit meinen Mitschülern 
darüber streite, ob mein Gedicht ein Mist oder ein Mei¬ 
sterwerk sei, tritt Karzeroni ins Klassenzimmer, wie immer 
ein Tablett mit Eprouvetten und Retorten vor sich her 
tragend. 

Kaum hat er das Katheder bestiegen, da ruft er meinen 
Namen. Das ist auffallend, beunruhigend. Um so auffal¬ 
lender, um so beunruhigender, als Karzeroni in der letz¬ 
ten Stunde keineswegs beim Schüler Kinzl zu prüfen auf- 
gehört hat und ich erst kürzlich geprüft worden bin. 

Ganz nah tritt er auf mich zu und schaut mich an wie 
ein Ungeheuer den armen Zwerg, der in Gefangenschaft 
geraten ist. Mit einem Ruck stößt er mir eine Eprou¬ 
vette vor die Nase: „Was ist hier drin?" 

Hilfesuchend wende ich mich zur Klasse. * , 

„Drehen Sie sich zum Fenster", sagt Karzeroni. „Was ist 
in der Eprouvette?" 

Gift ist darin, denke ich bei mir, in meinem Leichnam 
wird man es feststellen. Ich sage nichts. Draußen schneit 
es. 

„Also Sie wissen es nicht." Mit weithin sichtbarem 
Schwung trägt er ins Klassenbuch ein große Fünf ein. 
„Nicht genügend:" Dazu sagt er: „Ich habe in der letzten 
Zeit Gedichte von einem Kisch gelesen. Sind das etwa 
Sie?" 

Alle halten den Atem an. Weiß er? In einer Sekunde 
muß sich entscheiden, ob die Klasse einen Mitschüler ver¬ 
lieren wird, den linken Außenstürmer der geheimen Fu߬ 
ballmannschaft und Redakteur ihres Sportblattes. 

Für mich bedeutet die Frage mehr. Weiß er? Ich bin 


44 



blaß. Ich zittere. In einer Sekunde muß sich mein Schick- 
sal entscheiden. 

„Nein", antworte ich. Ganz zu verleugnen vermag , ich 
meine Literatur aber nicht und füge hinzu: „Die Gedichte 
sind von meinem Bruder." 

So still ist es im Klassenzimmer, daß man die Schnee¬ 
flocken fallen hört. Weiß er? Karzeronis nächster. Satz 
kann die schreiende Lüge schreiend, als solche brandmar¬ 
ken und die Enthüllung bringen, daß die ^Wahrheit fest¬ 
gestellt und der Anklagezustand gegen mich erhoben sei. 

„Ihr Bruder scheint ja den Grips für die ganze Familie 
abbekommen zu haben", sagt Karzeroni. 

Diese Bemerkung löst die Spannung der. Klasse in Ge¬ 
lächter auf, und die . Freude, den linken Flügel der Fu߬ 
ballmannschaft nicht zu verlieren, lacht schallend mit. Das 
ist nicht das Gewieher, in das Schüler beim Witz eines 
Lehrers auszubrechen pflegen, durch Übertriebenheit ihre 
Ironie zum Ausdruck bringend; übrigens ist in Karzeronis 
Stunde selbst ein solches Pflicht- und Parodielachen bisher 
nie vorgekommen, weil er niemals Witze machte. Es ist 
dieses Mal zum erstenmal, daß die Schüler in seiner Stunde 
lachen. 

Und - Karzeroni lacht mit, mitgerissen von der unver¬ 
kennbar echten Wirkung seines Witzes, überwunden von 
seinem unüberwindlichen Humor. „Ja, ja", stöhnt er in das 
schon verebbende Lachen hinein, „manchmal findet sich in 
der gleichen Familie ein gescheiter Mensch und ein kom¬ 
pletter Trottel." ' 

Neuerlich steigt der gelachte Orkan an, wer würde sich 
nicht über den Hereinfall eines Lehrers freuen, noch dazu 
eines so verhaßten! Karzeronis grauviolettes Säuregesicht 
strahlt bis zum gezackten Haaransatz hinauf. Draußen 
wirbeln die Flocken so dicht, als schüttle sich selbst der 
Himmel. ' r . i.-. 

Zweieinhalb weitere Jahre hatte ich Karzeroni als, Leh¬ 
rer. In Quarta, in Quinta und in Sexta ließ er mich im 
ersten Semester durchfallen, und ich mußte deshalb das 
Abitur auch aus anorganischer und organischer .Chemie 
ablegen, die normalerweise kein Prüfungsgegenstand wa¬ 
ren. 


45 



Aber ich grolle ihm nicht, denn zweieinhalb Jahre lang 
lief* er keine Gelegenheit vorübergehen, ohne seinen Hu¬ 
mor an mir zu erproben, indem er die jeweilige literari¬ 
sche Leistung des begabten Erwin über den grünen Klee 
lobte, um den unbegabten Egon herabzusetzen, den „un¬ 
gleichen Zwilling". Hab Dank, du mein erster Kritiker. 
Friede deinem Leichnam, Gott schütze ihn vor „Feststel¬ 
lung von Vergiftungen". 

Alljährlich vor Schulschluß wurden die Absolventen der 
Realschule nach ihrem künftigen Lebensberuf befragt. 
Lächerlicherweise gab es nur sechs Berufe, aus denen man 
zu wählen hatte: Bauingenieurwesen, Architektur, Maschi¬ 
nenbau, Chemie oder Militärwissenschaft. Für den Kauf¬ 
mannsberuf prangte im gedruckten Jahresprogramm das 
stolze Wort „Handelswissenschaft". 

Als ich 1902 gefragt wurde, antwortete ich: „Journa¬ 
listik." 

„Ich verbitte mir Ihre albernen Scherze", herrschte mich 
der Klassenlehrer an. 

„Ich will wirklich Journalist werden", sagte ich. 

„Natürlich, Sie müssen immer eine Extrawurst haben! 
So etwas kann ich nicht eintragen." Nach einer Pause des 
Unwillens: „Das muß ich der Lehrerkonferenz zur Ent¬ 
scheidung vorlegen." 

Die Lehrerkonferenz beschloß, daß mein Lebensberuf 
„Publizistik" zu sein habe. 

Vor ein paar Jahren kam mir der alte „Jahresbericht 
der k. k. Ersten Deutschen Staatsrealschule in Prag" zur 
Hand, und ich las, wie viele meines Jahrgangs Militär¬ 
wissenschaft als Beruf angegeben. Sie hatten gehofft, da¬ 
durch bei der Matura weniger streng geprüft zu werden 
- was schadet es einem Leutnant, wenn er die Eigen¬ 
schaften des Ameisenbären nicht kennt, und was nützt es 
einem General, wenn er weiß, wann Goethe die „Iphigenie" 
vollendete. Ernsthaft hatte kaum einer daran gedacht, sich 
der Militärwissenschaft zu widmen, und erst der Welt¬ 
krieg hat alle gleichermaßen, die seinerzeit zukünftigen 
Militärwissenschaftler ebenso wie die Prätendenten des 
Ingenieurwesens und der Handelswissenschaft, zu Soldaten 
gemacht, zu Kriegskrüppeln oder Heldenleichen. 


46 



Von den Überlebenden habe ich einige wiedergetroffen. 
Als ich Sing Sing besuchte, war unter meinen zwei inter¬ 
nierten Landsleuten, die Warden Lawes mir vorführte, 
ein Mitschüler; vor der Matura hatte er angegeben, Che¬ 
mie studieren zu wollen, aber nachher war daraus Alko¬ 
holschmuggel geworden mit Todesschuß gegen einen Poli¬ 
zisten. In Berlin begegnete ich einem, der 1902 die Frage 
nach der künftigen Profession mit Architektur beantwortet 
und wirklich von Wolkenkratzern und Akropolen geträumt 
hatte; statt sie zu bauen, leitet er die Sargfabrik des Be¬ 
erdigungsinstituts Grieneisen. Einen dritten - Berufs¬ 
angabe: Maschinenbau - traf ich als „letzten Mann" des 
Kasinos von Monte Carlo, und er enthüllte mir die Ge¬ 
heimnisse des Roulettes. Ein vierter, mein sommerspros¬ 
siger Nebensitzer, war zukünftiger „Handelswissenschaft¬ 
ler" gewesen, aber er erfand das abstrakte und schriftlose 
Plakat und wartet seither im Pariser Cafe du Dome auf 
Aufträge. 

Eigentlich war es voreilig von mir, die Tatsache, daß 
die Realschulleitung nur sechs Berufe zur Auswahl frei¬ 
stellte, als lächerlich zu bezeichnen. Sollen etwa im offiziel¬ 
len Schulprogramm Berufe wie Alkoholschmuggler, Lei¬ 
chenbestatter, Abortwächter oder Surrealist prangen? 

Auch hatte 1902 keiner von den vieren, die ich erwähnt, 
an solche Zukunft gedacht. Keiner segelte aus nach diesen 
Häfen, es waren die widrigen Winde der Zeit, durch die 
sie strandeten. 

Bismarck hat einst die Journalisten als Leute abgetan, 
die ihren Beruf verfehlt haben. Im Falle unserer Schul¬ 
klasse stimmt es gerade umgekehrt; nur der eine, der 
Journalistik beziehungsweise die akademischer klingende 
Publizistik gewählt hatte, hat diesen Beruf nicht verfehlt. 

Jedoch nicht gleich nach Absolvierung der Realschule 
strafte ich Bismarck Lügen. Zuerst inskribierte ich an der 
Technischen Hochschule. Hätte dort das Studium mit Ma¬ 
terialkunde und Technologie samt Exkursionen begonnen, 
wäre ich vielleicht dabeigeblieben. Es begann mit Integral- 
und Infinitesimalrechnung (oder wie immer man es aus¬ 
spricht), und in solchen Fächern stand ich schon als Real¬ 
schüler kläglich da. So schwänzte ich Collegia. Unser ge- 


47 



heimer Fußballklub „Sturm" war jetzt da einige seiner 
Mitglieder zu akademischen Bürgern aufgestiegen waren, 
ein öffentlicher, registrierter Verein und gab mir viel zu 
tun. /Immerhin blieb mir Zeit, mich in der Literarischen 
Sektion des Studentenverbandes „Lesehalle" zu betätigen 
und - was, reicht denn mein Leben bis ins Mittelalter zu¬ 
rück! - drei. Duelle, eines auf Pistolen und zwei auf Säbel, 
auszutragen, an die 1 ich mich nur, erinnere, wenn ich im 
Spiegel meine abgeschlagene und schlecht angenähte Nasen¬ 
spitze erblicke. 

Nach einem Jahr des Nichtstudiums trat ich meinen Mi¬ 
litärdienst an; doch nicht den,papageigrünen Einundneun- 
zigern wurde ich zugeteilt, zu denen ich von Kindheit an 
gewollt, sondern den milchgrauen Elfern, einer in Prag 
garnisonierenden Truppe, die. Wallenstein im Dreißigjäh¬ 
rigen Krieg, aus den Insassen der böhmischen und mäh¬ 
rischen Zuchthäuser formiert hatte. Jetzt hieß sie „k. u. k. 
Infanterieregiment Johann Georg Prinz von Sachsen 
Nr. 11", ein langatmiger schwieriger Name, den sich die 
Böhmerwäldner Holzfällerburschen nur in der Form „Hans 
Sachs Nummer elf" merken konnten. 

Ein neunzehnjähriger unbekümmerter Studiosus, der 
sich literarisch' betätigt und Ehrenhändel ausgefochten 
hatte, machte ich. mich auf Kasernenhofhumor gefaßt. Bald 
aber lernte ich, daß. man beim Militär unbekümmerte Stu¬ 
diosi, und insbesondere solche, die sich literarisch betätigt 
und Ehrenhändel ausgefochten hatten, durchaus nicht lei¬ 
den mochte, und daß man in Kasernenhöfen jedes Humors, 
einschließlich des Kasernenhofhumdrs, bar war. 

Wer eine Strafe entgegenzunehmen, wer eine Strafe an¬ 
zutreten oder, wer eine Strafe verbüßt hattet wurde zum 
Tagesrapport befohlen und hatte an dessen.linkem Flügel 
strammzustehen. Wie in den vorhergegangenen Jahren 
beim Fußballspiel und in den nachfolgenden Jahren ande¬ 
rer. Betätigungen, stand ich auch hier. am. linken Flügel. 
Und wurde verurteilt, zu vierzehn oder zu. einundzwanzig 
Tagen verschärften Arrests, je nachdem. Nach dem Dienst 
führte mich der Korporal vom Tage in das Arrestgebäude 
an der Ecke des Kasernenhofs., Dort ’ habe ich von den 
dreihundertfünfundsechzig Abenden und Nächten meines 


48 



Dienstjahrs nicht weniger als hundertsiebenundvierzig ver¬ 
bracht, die Sonn- und Feiertage ganz. Dieses mein erstes 
Gefängnis war kein fideles. Dunkel die Einzelzelle, unge¬ 
hobelt die Pritsche, ungenießbar das Essen, schmutzig das 
Trinkgerät, durchlöchert die Waschschüssel, gefährlich die 
Latrine. 

Theoretisch war ich infolge meiner Schulbildung ein 
Offiziersanwärter, und wenn ich auch praktisch wegen 
meiner Strafen diese Anwartschaft verloren hatte, galt für 
mich noch immer eine Reihe ebenso ehrender wie pein¬ 
licher Vorschriften. So durfte ich die Zelle nicht mit ge¬ 
wöhnlichen Mannschaftspersonen teilen und saß deshalb 
in Einzelhaft. So durfte ich - damit niemand einen künf¬ 
tigen Offizier als Häftling sähe - nicht an dem morgend¬ 
lichen Ringelspaziergang im Hof teilnehmen, sondern 
mußte im finsteren Staub bleiben. So durfte ich mich nicht 
an der Reinigung des Hauses beteiligen wie die Häftlinge 
aus dem Mannschaftsstand, die sich, Bürste, Eimer und 
Lappen in Händen, auf den Korridoren und in der Wach¬ 
stube unterhalten konnten, sogar abends und nachts. Von 
solch entwürdigenden Arbeiten befreit, sollte ich allein in 
meinem dunklen Loch stecken. _ 

Zum Glück lag das Arrestgebäude so, daß der davor? 
stehende Posten das Herannahen, des Inspektionsoffiziers 
von ferne sehen und den Wachkorporal rechtzeitig benach¬ 
richtigen konnte. Darum riskierte es dieser gegen ein 
Trinkgeld, den Nobelhäftling Licht und Leben der Wach¬ 
stube atmen und die Gemeinschaft mit den anderen Arre? 
stanten genießen zu lassen, bis lange über die Mitter¬ 
nachtsstunde hinaus. 

Unter den Häftlingen gab es Kriminelle, die erst nach 
Verbüßung von Zivilstrafen zum Militärdienst eingezogen 
worden waren und nun als Soldaten neuerdings Eigen¬ 
tumsdelikte begangen hatten. Andere saßen Disziplinar¬ 
strafen wegen Wirtshausraufereien und Gewalttätigkeiten 
ab oder weil sie, um der Liebe und des Suffs willen, eine 
ordnungswidrige Entfernung aus dem Kasernenbereich 
dem ordnungsmäßigen Verbleiben im Kasernenbereich 
vorgezogen hatten. 

Neugierig und fasziniert hörte ich die Gespräche aus 


4 Kisch VII 


49 



Regionen, von denen ich bisher nur in der Zeitung gele¬ 
sen. Meine Mitgefangenen erklärten einander verschieden¬ 
artige Praktiken beim Gebrauch des Dietrichs, sie unter¬ 
hielten sich über Leben und Treiben in den Spelunken, 
über ein Zuhälterkonsortium und den Handel mit Jung¬ 
frauenschaft und über die Möglichkeit von Fluchtversuchen 
aus Inquisitionsspital und Garnisonsgericht. Das war eine 
andere Welt als die, in der ich bisher gelebt, da gab's 
manches zu lernen, manches zu verlernen. Ich, der ich 
nicht einmal mit einem meiner Brüder aus der gleichen 
Kaffeetasse getrunken hätte, trank jetzt aus der Schnaps¬ 
flasche, die reihum ging. Ich sog an dem gemeinsamen 
Zigarrenstummel. Ich ließ mich tätowieren, um zu bewei¬ 
sen, daß ich mich weder fürchte noch ekle vor der rostigen 
Nadel und dem schmutzigen Lappen, mit dem das ausströ¬ 
mende Blut und die einströmende Farbe auf der durch¬ 
löcherten Haut verrieben wurden. 

Morgens wurde ich aus meiner Zelle zur Einjährigen¬ 
kompanie hinübergeführt und machte Dienst wie meine 
Kollegen, die die Nacht fern von Pritsche, Arrestanten und 
Tätowierung zugebracht und in ihren Betten berechtigter¬ 
weise davon geträumt hatten, in Kürze Reservefähnriche 
oder Reserveleutnants zu werden. Ich war via facti von 
solcher Zukunft ausgeschlossen. Alsbald bekam ich es auch 
schriftlich. 

Das geschah im Unterricht Militärgeschäftsstil, einer 
ganzen Wissenschaft über Zusammenfalten des Papier¬ 
bogens, über Respektdistanz von vier beziehungsweise 
sechs Fingern Breite, über Anredefloskeln und dergleichen. 
Wir hatten als Prüfungsarbeit ein Gesuch abzufassen, mit 
dem wir uns dereinst, nach allfälliger Erlangung einer ge¬ 
achteten Existenz, um den Rang eines Reserve-Offiziers- 
stellvertreters bewerben konnten. 

Auf feinstem Ministerpapier, mit reichlicher Anwen¬ 
dung von Kalligraphie und Geometrie berief ich mich in 
der utopischen Eingabe auf einen utopischen Beruf: 
„Diensthöflichst Unterfertigter, Redaktionsmitglied der 
Tageszeitung ,Die Zeit', mit einem Monatsgehalt von zwei¬ 
hundert Kronen österreichischer Währung, stellt hiermit 
alleruntertänigst das Ansuchen 


50 



Unser Lehrer, der siebzigjährige Hauptmann-Truppen¬ 
rechnungsführer Bjehauneck, strich das Gesuch durch und 
schrieb darunter: „Kann infolge krasser Unkenntnis des 
Militärgeschäftsstils niemals einer Zulassung zum Ehren¬ 
kleide des Offiziers gewürdigt werden, kann aber glei¬ 
chermaßen ebensowenig Redaktionsmitglied einer Tages¬ 
zeitung sein, sintemalen jedes Mitglied einer P. T. Druk- 
kerei ein derartiges Manuskript, wie es das vorliegende 
darstellt, dem Schreiber um die Ohren hauen würde." 

Wie mag sich wohl der Lehrer des Militärgeschäftsstils 
ein Zeitungsmanuskript vorgestellt haben? 



DAS TÄTOWIERTE PORTRÄT 


Am Abend, wenn die Luft rein, das heißt, wenn ein 
Auftauchen des Inspektionsoffiziers nicht mehr zu be¬ 
fürchten war, konnte ich meine Einzelzelle verlassen, wenn 
auch nicht das Arrestgebäude. Mein Weg endete in der 
Wachstube, wo sich die Häftlinge aus den Zellen zusam¬ 
menfanden, um nach einem zwischen Mauer, Holz und 
Eisen verbrachten Tag Menschen zu sehen und zu hören, 
zu erzählen und Karten zu spielen. 

Mit dem Lithographen der Regimentskanzlei, einem 
Gefreiten, der als Arrestant eingeliefert wurde, kam ein 
neuer Ton in die Bude. Er schimpfte auf das «alte Rüssel¬ 
schwein", das „wegen so einer Lappalie" die Strafanzeige 
erstattet habe. 

Unter „so einer Lappalie" verstand der neue Arrestant 
die Tatsache, daß er in dem von ihm lithographierten 
Regimentskommandobefehl eigenmächtig einen Korporal 
zum Feldwebel gemacht hatte. „Dabei wäre mein Freund, 
den ich da ernannt habe", sagte er, „ein zehnmal besserer 
Feldwebel als alle, die der Oberst ernennt, dieses alte 
Rüssel sch wein." 

Der Lithograph tobte nicht nur über die Ungerechtigkeit, 
sondern auch über den Undank des Obersten: „Dabei habe 
ich diesem Rüsselschwein soviel Gefälligkeiten erwiesen." 

»Du hast dem Obersten Gefälligkeiten erwiesen?" 

„Seine Wohnung hab ich ausgemalt, Tischkarten ge¬ 
zeichnet und seiner Frau die Photographie ihres Vaters 
vergrößert. Die hängt jetzt gerahmt im Schlafzimmer, und 
ich sitze hier im Arrest - eine schöne Pietät! Wenn ich 
aber wieder in Zivil bin, werde ich ihm das schon ein¬ 
salzen, diesem Rüsselschwein." 

Die Arrestanten freuten sich über diese Ausbrüche, denn 
es war ein Vorgesetzter, der da beschimpft oder bedroht 
wurde. Ich hatte ihn einmal bei unserer Vereidigung ge¬ 
sehen. Ein anderes Mal war er, als ich im Kasernentor 


52 



Wache schob, mit einem verächtlichen Blick vorbeigeschrit¬ 
ten, ohne mir und meinem präsentierten Gewehr zu dan¬ 
ken. War ich doch nur ein Einjährig-Freiwilliger, und ein 
solcher stand für die Berufsoffiziere auf der niedrigsten 
Stufe der Zoologie. 

Wie wir in der ersten Instruktionsstunde gelernt, hatte 
unser Oberst von der Pike auf gedient. Unter Feldmar¬ 
schall Radetzky hatte der damals achtzehnjährige Korpo¬ 
ral Ferdinand Knopp in der krainischen Stadt Unterhausen 
mit seiner Korporalschaft eine italienische Kavallerie- 
Patrouille zusammengeschossen. Dafür war ihm die Kai- 
ser-Ferdinand-Medaille verliehen worden, zwar nicht die 
höchste, aber bei weitem die größte Auszeichnung. Wegen 
dieser Größe - etwa der eines Topfdeckels - wurde sie 
später nicht mehr verliehen. Als Ferdinand Knopp den 
Adel und den Namen jenes Schlachtenorts als Prädikat 
bekam, lag die Heldentat fast vierzig Jahre zurück, und 
er war bereits Oberst. Ein Oberst Knopp von Unterhausen 
kann von seinen Soldaten gar nicht anders genannt wer¬ 
den als der „oberste Knopf von Unterhosen". 

Er war grotesk genug. Schmückte ihn schon als einzigen 
der außer Kurs gesetzte Orden, die Kochtopfdeckel¬ 
medaille, so war auch die ganze Uniform anachronistisch. 
Die niedrige Kappe trug er nach der Adjustierungsvor¬ 
schrift von anno Radetzky, dergestalt, daß sie einerseits 
die Augenbrauen verdeckte und andererseits unmittelbar 
an der Schädeldecke aufhörte. Unter dieser Kappe sah 
der Kopf wie skalpiert aus. Dazu kam, daß der Oberst 
überwältigend dick und vollkommen halslos war. Auf 
Treppenstufen stieg sein Kinn bis zur Brust hinab, und 
die Brust setzte sich ohne Übergang bis zum Bauch fort, 
dessen Umfang kein oberster Knopf von Unterhosen auch 
nur um einen Millimeter zu vermindern vermochte. Am 
auffallendsten aber war seine Nase, eigentlich nicht die 
Nase selbst, denn diese sah man nicht unter der faust¬ 
großen schwabbelnden Wucherung, hinter der sie in Dek- 
kung lag. Sie bestand aus lauter rötlich violetten Beeren, 
und so war der Ausdruck Rüsselschwein, den unser neuer 
Mithäftling immerfort durch die Zähne zischte keineswegs 
präzis. 


53 



Dieser unser neuer Mithäftling wurde nicht müde, auf 
das Rüsselschwein zu schimpfen, während er Karten 
spielte oder die Kunst des Tätowierens ausübte. In dieser 
Kunst war er bemerkenswert. Mit schnellem Bleistift warf 
er zuerst Zeichnungen aufs Papier, einen Adler, ein Paar 
gekreuzter Hanteln, eine Jungfrau mit realistischen De¬ 
tails, eine sich ringelnde und züngelnde Schlange, Inschrif¬ 
ten, Embleme und hinweisende Pfeile zu einem oder dem 
anderen Körperteil. Das von der Kundschaft ausgewählte 
Muster stach er mit einer Schusterahle in die Haut, als 
Farbe benützte er die kaum noch flüssige Tinte aus der 
Wachstube. Das Blut, das aus den Stichwunden spritzte, 
die Tinte, soweit sie nicht in diese Wunden sickerte, und 
den Schweiß, der aus den Poren drang, wischte er in 
kurzen Intervallen mit einem unbeschreiblichen Schmutz¬ 
lappen ab. 

Wir Häftlinge umstanden den Meister und seine leben¬ 
digen Staffeleien und machten Bemerkungen zu jeder 
Linie, die vor unseren Augen entstand. Er war ein Gra¬ 
phiker von hohen Graden. Mich allerdings ekelte der von 
Schmutz, Blut und Tinte starrende Lappen. Ob ich mich 
schüttelte, weiß ich nicht, aber einer aus der Zuschauer¬ 
schar rief: „Schaut den Einjährigen an, wie der zittert!" 
Ob ich blaß war, weiß ich nicht, aber ein anderer aus der 
Zuschauerschar fügte hinzu: „Wie blaß der ist, der Ein¬ 
jährige." 

Alle wandten sich von dem entstehenden Kunstwerk 
ab und mir zu, höhnisch, mitleidig, überlegen. Ich mußte 
etwas tun zur Rettung meiner Ehre, der Ehre des Ein¬ 
jährigenstandes und der Ehre aller Intellektuellen über¬ 
haupt. „Blödsinn", sagte ich, „ich zittere gar nicht und 
bin auch nicht blaß. Ich laß mich gleich selber tätowie¬ 
ren." 

Teils Beifall, teils Zweifel. „Große Schnauze. Werden 
sehen, ob er Mut dazu hat." 

Ein Soldat, der sich gerade tätowieren ließ, rief selbst¬ 
bewußt herüber: „Bis zum Schluß hält's der gewiß nicht 
aus. Es tut verdammt weh." 

„Dafür hast du's für ewig", sagte ein anderer. 

„Wollen Sie sich wirklich tätowieren lassen?" fragte 


54 



mich der Lithograph. „Natürlich - ich hab's doch schon ge* 
sagt", mußte ich antworten. „Gut/' 

Er schlug mir vor, einen ziselierten Ring auf meinen 
linken Mittelfinger oder ein Uhrenarmband auf mein 
Handgelenk zu tätowieren. Ich wollte aber nichts so allge¬ 
mein Sichtbares. 

„Gut, ich setz Ihnen was auf die Brust", sagte er, 

.. oder, noch besser: auf den Rücken." Bei diesem Nach¬ 
satz schien ein infernalischer Einfall in seinem Blick auf¬ 
zuleuchten. Weil aber auf dem Rücken wirklich kein Un¬ 
befugter die Tätowierung sehen kann, erklärte ich mich 
einverstanden. Wir einigten uns auf ein harmloses Still¬ 
leben. 

Und er begann seine Arbeit an mir. Nicht oben bei 
Schulter und Schlüsselbein fing er an, sondern tiefer, was 
mich wunderte. 

„Damit man es auch dann nicht sieht, wenn Sie 
Schwimmhosen anhaben." 

„Für einen Grund ist es ein Grund", sagte ich und gab 
mich zufrieden. 

Es schmerzte. Es schmerzte jeder Stich. Ich biß die Zähne 
zusammen und wiederholte mir: dafür hast du's für ewig. 
Schlimmer als die Stiche war es, wenn der schmutztrie¬ 
fende Lappen meine Wunden rieb. Jedoch auch meinen 
Ekel ließ ich mir nicht anmerken, denn das ganze Korps 
der Arrestanten umstand uns. 

„Lassen Sie die Hosen etwas hinunter", sagte der Mei¬ 
ster. 

„Warum?" 

„Ich habe die Früchte gezeichnet, und jetzt kommt die 
Schüssel, in der sie liegen." 

Die Zuschauer lachten. Ich verstand nicht, was an einem 
Stilleben so lächerlich sein konnte. 

„Ach, der Apfel ist so gut gelungen, direkt zum Hinein¬ 
beißen", und von neuem lachte der ganze Chor. 

„Noch etwas tiefer die Hosen", verfügte der Meister. 

„Warum?" 

„Weil die Weintrauben über den Rand der Fruchtschüs¬ 
sel hängen." 

„So tief?" 


55 



„Ich hab nämlich die Schüssel zu breit angelegt. Des¬ 
halb muß ich mehr Obst nehmen und die Trauben Über¬ 
hängen lassen." 

Ich schob die Hose bis zu den Knien hinab, spürte, wie 
kalte Nadel und warmer Wischer arbeiteten, und hörte, 
wie bald der, bald jener aus der Zuschauerschaft los¬ 
prustete und schließlich alle grölten. 

Endlich war's zu Ende, ich zog das Hemd an, blieb noch 
eine Anstandspause lang in der Wachstube und ging dann 
in meine Einzelzelle hinauf. An Schlaf war nicht zu den¬ 
ken, es schmerzte bestialisch, ich konnte weder liegen noch 
sitzen. Meine Achseldrüsen schwollen an, ich fieberte. Da¬ 
für hast du s für ewig, versuchte ich mich zu trösten. 

Am Morgen mußte ich mich zur Marodenvisite melden. 
Im Sanitätszimmer der Kaserne versah Oberarzt Doktor 
Böhm den Dienst, ein alter Bummelkumpan. Er erzählte 
mir, heute nacht hätten sich die Mädchen aus dem Cafe 
Mikado erkundigt, wann ich denn wiederkäme. Dann 
fragte er mich, was mir fehle. 

„Recht geschieht dir!" lachte er, als er es erfuhr, „jetzt 
wirst du mindestens eine Woche lang verfluchte Schmerzen 
haben. Und wenn du Alkohol trinkst, noch verfluchtere. 
Na, zeig mal her." Ich zeigte her. 

„Sie Schweinehund!" donnerte Oberarzt Böhm aus hei¬ 
terem Himmel. „Sie Schweinehund!", wobei das Wort 
„Schweinehund" bei weitem nicht so schlimm war wie das 
Wörtchen „Sie", weil es dienstlich war. 

„Feldwebel!" rief er ins Nebenzimmer, „schreiben Sie 
sofort eine Strafanzeige gegen den Einjährig-Freiwilligen 
Kisch." 

Betroffen, verständnislos wagte ich einzuwenden, eben 
habe doch Herr Oberarzt darüber gelacht, weil ich täto¬ 
wiert wurde. 

„Halten Sie mich für einen Trottel? Haben Sie geglaubt 
ich werde nicht erkennen, was die Tätowierung vorstellt? 
Soll ich vielleicht Ihretwegen meine militärische Laufbahn 
ruinieren, mich zu Ihrem Mitschuldigen machen an einem 
Verbrechen im Sinne des Militärstrafgesetzes?!" 

Vergeblich beteuerte ich, daß ich keine Ahnung habe, 
was hinter meinem Rücken geschehen sei, Oberarzt Dok- 


56 



tor Böhm diktierte die Strafanzeige, und so erfuhr ich, 
wessen ich beschuldigt wurde. 

Der Lithograph, dieser Schurke! Jetzt verstand ich, wel¬ 
che Idee ihn durchzuckt hatte, als er vorschlug, mir die 
Tätowierung auf den Rücken zu setzen - dort wollte er 
seine Rache ungestört befriedigen. Seine Rache an unse¬ 
rem Obersten. Statt des vereinbarten Stillebens hatte er 
mir hinterlistig und hinterrücks die bösartigste Karikatur, 
nämlich das Porträt des Obersten eingestochen: den durch 
die Kappe abgeschnittenen Schädel, den halslosen dicken 
Körper mit der Kochtopfdeckelmedaille und die wab¬ 
belnde, aus rotvioletten Beeren bestehende Nase. 

Das alles wäre noch kein Verbrechen im Sinne des Mi¬ 
litärstrafgesetzes gewesen. Das Verbrechen im Sinne des 
Militärstrafgesetzes bestand darin, daß das Porträt ver¬ 
kehrt gemalt war. Der Kopf war auf den Kopf gestellt, 
und aus dem Mund hing übertrieben lang die Zunge her¬ 
aus über Hügel und Tal, wo sie im Dunkel verschwand. 
Diese Zunge also war die „überhängende Weintraube" 
gewesen, um derentwillen ich meine Hose hinunterlassen 
gemußt. Deshalb hatten die Kunstbetrachter so dröhnend 
gelacht, deshalb hatte sich Oberarzt Doktor Böhm vor Mit¬ 
schuld an einem Verbrechen im Sinne des Militärstraf¬ 
gesetzes gefürchtet und Anzeige gegen mich erstattet. 
Subordinationsverletzung, Verhöhnung eines hohen Vor¬ 
gesetzten, des Regimentskommandeurs, wenn nicht gar 
Meuterei. 

Schon am Nachmittag wurde ich ins Justizzimmer der 
Kaserne geführt. Die Kommission zur Feststellung des 
Sachverhalts bestand aus drei Offizieren. Der eine, Leut¬ 
nant meiner Kompanie, war ein junger und sympathischer 
Mensch, leider aber auch aufrichtig und naiv. Kaum hatte 
er einen Blick auf meine Tätowierung geworfen, rief er 
aus, sie stelle unverkennbar den Herrn Obersten dar, un¬ 
verkennbar. Sogar das Bild Kaiser Ferdinands auf der 
Kriegsmedaille sei absolut ähnlich. Nachdem er solcher¬ 
art sein Gutachten wahrheitsgetreu abgegeben hatte, trat 
er befriedigt beiseite. 

Nun besichtigte mich das nächste Kommissionsmitglied, 
der Jurist, ein Hauptmannauditor. Das war ein schlauer 


57 



Mann, denn er hütete sich, in einer abstoßenden Karikatur 
eine Ähnlichkeit mit seinem Vorgesetzten zu erkennen. 
„Überhaupt keine Ähnlichkeit", sagte er, „es wäre eine 
Beleidigung des Herrn Obersten, so etwas zu behaupten." 

Der Leutnant, der eben so etwas behauptet hatte, wurde 
leichenblaß. 

„Und in diesem albernen Gesicht auf der Medaille das 
weise Antlitz Sr. Majestät weiland Kaiser Ferdinands er¬ 
kennen zu wollen ist geradezu ein Crimen lasae maje- 
statis." 

Angstschlotternd hörte solches der arme Leutnant. Er 
merkte nicht die Ironie, mit der der Auditor vom weisen 
Antlitz Kaiser Ferdinands sprach; Kaiser Ferdinand war 
notorisch schwachsinnig gewesen und hatte demgemäß ge¬ 
nauso ausgesehen wie auf dem tätowierten Abbild der 
Medaille. 

Der Major, welcher als dritter zur Abgabe des Gut¬ 
achtens schritt, war von Natur aus vielleicht nicht sehr 
schlau. So schlau aber war er doch, um zu begreifen, 
warum der Auditor die Ähnlichkeit zwischen Original 
und Konterfei bestritten hatte. Bevor er noch seinen Knei¬ 
fer aufsetzte, stellte er bereits fest: „Keine Spur von Ähn¬ 
lichkeit. Es ist eine Frechheit, eine Insubordination, hier 
von Ähnlichkeit zu sprechen." 

Der Leutnant stand an der Wand wie vor einem Hin¬ 
richtungspeloton. 

„Diese Fresse da", rief der Major aus, „diese scheu߬ 
liche Fresse mit unserem Herrn Obersten zu vergleichen! 
Unerhört! Unser Herr Oberst ist doch ein stattlicher 
Mann, ein schöner Mensch." Und weil dem Sprecher diese 
Lüge selbst etwas zu dick aufgetragen schien, spiegelte er 
vor, seine Erkenntnis aus der näheren, aus der nächsten 
Betrachtung zu schöpfen, Er beugte sich so tief gegen die 
Tätowierung vor, daß ich seinen Atem spürte. „Unser 
Herr Oberst..begann er wieder. 

Da öffnete sich die Tür sperrangelweit, und in ihr 
erschien kein Geringerer als das Modell des eben disku¬ 
tierten Stichs. Breit und mächtig trat Oberst Knopp von 
Unterhausen ein. Seine Augen blitzten durch das Mützen¬ 
schild hindurch. Alles sprang in Positur, jedoch der Oberst 


58 



nahm sich kaum Zeit, zu danken. «Wo ist der Kerl mit 
der Tätowierung?" fragte er. 

«Herr Oberst", sagte der Major, «darf ich gehörsamst 
bemerken, daß überhaupt keine Ähnlichkeit besteht. Nur 
böser Wille oder Dummheit..." 

Der Oberst winkte ihm ab. «Wo dieser Kerl ist, will ich 
wissen." 

Dieser Kerl stand marmorn da, männliches Gegenstück 
zur Venus von Milo. Aber statt des Kleides, das sie hoch¬ 
zuraffen versucht, versuchte er das mit den herabgelasse¬ 
nen Hosen. 

«Kehrt euch", kommandierte der Oberst, und in dem 
Augenblick, da meine Wendung vollzogen war, brauste es 
wie Donnerhall, wie Schwertgeklirr und Wogenprall durch 
den Kasernenbereich: «Das bin ich! Auf Ehrenwort, das 
bin ich! So eine Schweinerei!" 

Lange Pause. Nur das Schnaufen eines verwundeten 
Tigers war zu hören, ein Fauchen von Wut und Schmerz. 
Dann legte er los gegen den ungeheuerlichen Vorwurf der 
Zeichnung. 

„Ich habe unter Sr. Exzellenz Feldmarschall Graf von 
Radetzky gedient", begann er mit Stolz und Pathos, um 
im gleichen Satz mit Stolz und Pathos hinzuzufügen, daß 
er an Sr. Exzellenz Feldmarschall Graf von Radetzky nie¬ 
mals das ausgeübt, wessen ihn die Zeichnung zeihe. 

„Ich habe unter Sr. Exzellenz dem Generalstabschef Frei¬ 
herr von Benedek gedient", fuhr der Oberst fort und ver¬ 
sicherte, er habe diesen auch nicht... So ließ er seine 
Vorgesetzten Revue passieren, streng nach dem Rang 
einen nach dem andern, bis er zur Konklusion kam: „Und 
ich werde auch einen Ein jäh ..." 

Mitten im Wort stockte er. Der Gedanke, sich mit 
einem Einjährig-Freiwilligen irgendwie in Zusammenhang 
zu bringen, war für ihn so ekelerregend, daß seine 
Stimme sich wehrte. Aber er begann von neuem: „Und 
ich werde auch einen Einjährig-Freiwilligen nicht am 
A.. 

Damit war das Wort zu Ende, der Satz und die Lebens¬ 
kraft des Obersten. Er fiel um und japste nur: „A... 
A.. 


59 



Alle stürzten auf ihn zu, alle riefen nach dem Regi¬ 
mentsarzt, nach Ordonnanzen, die einen Arzt suchen soll¬ 
ten, Eis aus der Offiziersmesse holen und ein Kissen. 

Ich wollte auch etwas holen, aber der Hauptmannaudi¬ 
tor, der noch vor wenigen Minuten ein für mich günstiges 
Gutachten abgegeben hatte und nun von seinen Bemühun¬ 
gen um den vom Herzschlag getroffenen Obersten aus¬ 
gefüllt schien, ließ mich nicht aus den Augen. Scharf be¬ 
fahl er:'„Sie bleiben hier!" 

Jetzt sah nämlich mein Fall ganz anders aus. Der Oberst 
hatte entschieden, daß die Karikatur ihn vorstelle, und 
nach einem Blick auf den röchelnd Daliegenden konnte 
kein Zweifel bestehen, daß zu den Verbrechen, deren ich 
beschuldigt war, alsbald der Vermerk hinzukommen 
werde: „Mit tödlichem Ausgang." 

In das Sanitätsgebäude am Westflügel der Kaserne 
wurde der sterbende Oberst transportiert, in das Arrest¬ 
gebäude am Ostflügel der Einjährig-Freiwillige, dem sein 
todbringender Zorn gegolten. Der Oberst entschlief am 
selben Abend, versehen mit den Tröstungen des Regi¬ 
mentsgeistlichen; der Einjährig-Freiwillige, der jeder Trö¬ 
stung ermangelte, konnte nicht entschlafen. Zum Takt der 
Worte „mit tödlichem Ausgang" ging ich in meiner Zelle 
auf und ab. 

Nach dem Tätowierer, dem Lithographen, hatte die 
Justizabteilung bereits gesucht, aber er war schon am 
Morgen zu einer höheren Instanz eskortiert worden. Sein 
Delikt war Urkundenfälschung, nicht etwa, weil die Täto¬ 
wierung den Obersten fälschlich einer erniedrigenden Tä¬ 
tigkeit bezichtigte, sondern wegen der eigenmächtig vor¬ 
genommenen Ernennung eines Korporals zum Feldwebel. 

Des Lithographen Nachfolger trat das Amt mit der Ver¬ 
vielfältigung einer Einladungskarte an: „Wer von den 
Herren Offizieren das tiefe Herzensbedürfnis fühlt, unse¬ 
res teuren Verblichenen im engen Kameradschaftskreise 
zu gedenken, wird hiermit zu der übermorgen (Dienstag) 
um sechs Uhr nachmittags in der Offiziersmesse statt¬ 
findenden Gedenkfeier für Herrn Oberst Knopp von 
Unterhausen höflichst eingeladen." Für jene aber, die 
allenfalls das tiefe Herzensbedürfnis nicht fühlen sollten. 


60 



trug die höfliche Einladung den Vermerk: „Ausreden wer¬ 
den nicht entgegengenommen!" 

' Der Einjahrig-Freiwillige Kysela, der im Zivilberuf 
Maler war, bekam den Auftrag, für diese Feier den dahin¬ 
geschiedenen Obersten in Lebensgröße zu porträtieren. 

„Ich habe den Herrn Oberst nie gesehen", sagte Kysela. 
„Bei unserer Eidesleistung stand ich ganz hinten in der 
sechzehnten Kompanie, im zweiten Glied. Ich habe keine 
Ahnung, wie er ausgesehen hat." 

Er verlangte eine Photographie, aber es gab keine; Wer 
ein Rhinophym im Gesicht trägt, läßt sich nicht gerne 
photographieren. 

Dem Regimentsadjutanten blieb nichts übrig, als Kysela 
auf. meine Tätowierung hinzuweisen. Ich wurde ins Wach¬ 
zimmer gerufen, dorthin, wo die Skizze zu dem künftigen 
Porträt vorgestern abend entstanden war. 

„O weh", rief Kysela mit gespieltem Entsetzen aus, als 
er die Tätowierung sah, „die Graphik ist ja verkehrt ge¬ 
hängt. Wie soll ich sie da abzeichnen?" 

Der Adjutant befahl mir, mich bäuchlings auf den Tisch 
zu legen, aber Kysela sagte, das sei nichts. Höchstens, 
wenn ich 'Handstand machen würde, wäre es möglich, die 
Skizze zu kopieren. Aber eine Stunde lang kann niemand 
auf den Händen stehen. 

„Ließe sich nicht durch Spiegelreflex das Bild in die 
gewünschte Lage bringen?" fragte der Adjutant. 

Davon verstehe er nichts, antwortete Kysela, nur in sei¬ 
nem Atelier könnte er eine Kopie in Farben machen. 

■So mußte man mir trotz des Verdachts, ein militärstraf¬ 
rechtliches Verbrechen mit tödlichem Ausgang begangen 
zu haben, der Mörder des Regimentskommandeurs oder 
zumindest der Schuldtragende an seinem Tode zu sein, so 
mußte man mir, sage ich, das Verlassen der Kerkerzelle, 
ja des Kasernenbereichs gestatten. Ich bekam einen Ur¬ 
laubsschein für vierundzwanzig Stunden! 

Das waren vierundzwanzig Stunden! Normalerweise 
durfte sich kein Soldat nach dem Zapfenstreich auf der 
Straße.oder in einem Lokal sehen lassen, es sei denn, daß 
er „Überzeit" hatte, Ausgangserlaubnis bis zu einer be¬ 
stimmten Stunde. Kysela aber und ich waren unbeschränkt. 


61 



Der Warnung zum Trotz, daß Alkohol den Tätowierungs¬ 
schmerz verschlimmere, trank ich in mich hinein, was das 
Zeug hielt. Zum Kranksein würde ich im Arrest genug 
Zeit und Muße haben. 

Als wir am Morgen dem Hause zutorkelten, in dem 
Kysela sein Atelier hatte, erschraken wir. Vor dem Haus¬ 
tor standen zwei Soldaten. Verhaftung? Bewachung? Kei¬ 
nes von beiden. Der Regimentsadjutant hatte gestern die 
Uniform des verstorbenen Obersten geschickt, damit der 
Maler sie für das Gemälde verwerte, und die beiden Sol¬ 
daten sollten sie persönlich übergeben. Da Kysela nicht zu 
Hause war, hatten sie die ganze Nacht gewartet. 

Auf diese Weise wurde Kysela daran erinnert, daß er 
noch heute ein lebensgroßes Porträt zu malen habe. Die 
Uniform war wenigstens etwas; Kysela konnte sie ab¬ 
malen. Für das Porträt des Waffenrocks verbrauchte er 
drei Tuben Preußischblau. Mindestens eine Tube mehr 
wäre erforderlich gewesen, hätte Kysela nicht den großen 
Kreis für die Medaille ausgespart, in den er Messingfarbe 
auftrug. Solchermaßen füllte der Rumpf bereits drei Vier¬ 
tel der Leinwand aus. Vorteilhaft war auch die Kappe, 
denn sie verdeckte fast das ganze Gesicht, das der Maler 
nicht kannte. 

Für das Gesicht hatte Kysela nur meine Tätowierung 
als Vorbild. Aber so frech er sonst war, er wagte es nicht, 
ihre krasse Realität in Öl und Lebensgröße zu übertragen. 
Nur ganz leicht deutete Kysela das Rotviolett der Nase 
an, und so war das Gemälde auf seiner Leinwand bei wei¬ 
tem nicht so lebenswahr wie die Graphik auf meiner Haut. 

Noch frisch und feucht wurde das Bild in die Kaserne 
gebracht, und damit war der Urlaub zu Ende. Ich kehrte 
in meine Zelle zurück, meldete mich mit hohem Fieber 
krank und bekam Diät vorgeschrieben. 

In Gold gerahmt und im Offizierskasino auf gehängt, fand 
das Ölgemälde bei der Trauerfeier gebührend Bewunde¬ 
rung. Die Witwe des Obersten ließ den Künstler rufen. 

„Das Bild ist ausgezeichnet. Sie haben meinen Mann 
sicherlich sehr gut gekannt", sagte sie huldvoll zu ihm. 

Kysela entgegnete, er habe den Herrn Oberst nie ge¬ 
sehen. 


62 



„Nie gesehen? Wie konnten Sie ihn dann so ähnlich 
malen? Es gibt ja kein Photo von ihm." 

Kysela erwiderte/ er habe es von einer Tätowierung ab¬ 
gezeichnet. 

„Was? Von einer Tätowierung? Wer hat sich denn ein 
Porträt meines Mannes tätowieren lassen?" 

Kysela antwortete, ein Einjährig-Freiwilliger namens 
Kisch. 

„Ach, ist das rührend!" Die Frau Oberst wandte sich an 
die Stabsoffiziere, die sie umstanden. „Ist das nicht wirk¬ 
lich schön, meine Herren, daß ein Soldat sich das Bild des 
Regimentskommandanten tätowieren läßt, um es immer 
vor Augen zu haben? Soviel Liebe und Dankbarkeit für 
seinen Vorgesetzten!" 

Die Stabsoffiziere nickten und bemerkten, das beweise 
in der Tat eine seltene Liebe und Dankbarkeit zum Vor¬ 
gesetzten. 

„Ich möchte gerne die Tätowierung sehen. Bitte, lassen 
Sie den Freiwilligen rufen. Ich will ihm danken, daß er 
Herrn Kysela das Vorbild für dieses schöne Gemälde ge¬ 
liefert hat." 

Bei diesem Wunsch der Frau Oberst horte das zustim¬ 
mende Nicken der Stabsoffiziere auf. Sie traten nervös 
von einem Fuß auf den anderen und glaubten sich erst 
gerettet, als der Regimentsarzt meldete, der Einjährige 
Kisch sei leider sehr krank, 41 Grad Fieber, er könne un¬ 
möglich gerufen werden. 

„Dann führen Sie mich zu ihm", rief Frau Oberst ent¬ 
schlossen aus, „es ist ohnehin richtiger, daß ich zu ihm 
gehe, wenn ich mich bedanken will. Wo liegt er, im Sani¬ 
tätsgebäude?" 

Nein, der Mann liege im Arrestgebäude. 

„Im Arrestgebäude? Nun gut. Herr Major und Herr 
Hauptmann werden die Freundlichkeit haben, mich hin¬ 
überzubegleiten." 

So geschah es, daß sich plötzlich die Tür der Zelle öff¬ 
nete, in der ich fiebernd auf dem Bauche lag, und herein 
kamen der Major-Kasernenkommandant, der Hauptmann- 
Regimentsadjutant und zwischen ihnen eine schwarzver¬ 
schleierte Dame. 


63 



Sie trat auf mich zu. „Ich bin Frau Oberst von Knopp. 
Ich will Ihnen dafür danken, daß Sie sich das Bild meines 
Mannes tätowieren ließen." 

*O bitte, Frau Oberst", sagte ich verwirrt, „nichts zu 
danken, geschah ... ich wußte gar nicht..." 

„Ich möchte die Tätowierung gerne sehen." 

Hier sprangen Major und Hauptmann dazwischen: das 
sei nicht möglich. 

„Warum sollte das nicht möglich sein, wenn ich es aus¬ 
drücklich wünsche?" Die Stimme der Frau Oberst klang 
gereizt, als sie dieses fragte, sie klang drohend. 

„Verzeihung, Frau Oberst", stotterte der Major, „ich 
bitte um Verzeihung, aber die Tätowierung ist an einer 
sehr delikaten Stelle." 

„Ach Unsinn, ich bin eine verheiratete Frau!" Sie 
wandte sich an mich, und in einem Befehlston, an dem 
das Wort „bitte" nichts änderte, sagte sie: „Bitte, zeigen 
Sie mir Ihre Tätowierung." 

Ich zeigte meine Tätowierung. Sie hatte durch Alkohol 
und Fieber die Farben blühenden Lebens bekommen, aber 
das allein erklärt nicht, was jetzt geschah. Wer hätte vor¬ 
aussehen können, daß die rauhe Begebenheit mit der Tä¬ 
towierung plötzlich eine Wendung ins Lyrische nehmen 
werde und mit den zarten Tönen der Liebe und Rührung 
ende. 

„Ferdinand!" flüsterte die Frau Oberst bewegt, als sie 
ihren Mann vor sich sah, „mein Ferdl", hauchte sie hin¬ 
gebungsvoll und beugte sich nieder, um ihn mit Küssen 
zu bedecken. 



VORTRÄGE UND THEATER 


Den erfolgreichen Erwin lieg Egon am Leben, auch als 
letzterer des ersteren nicht mehr bedurfte. Beide Namen 
standen auf der Buchausgabe der Gedichte, die ich zwi¬ 
schen meinem fünfzehnten und achtzehnten Lebensjahr 
gereimt hatte: „Vom Blütenzweig der Jugend", Verlag 
E. Pierson in Dresden, 1904. 

Der Tonfall der Verse war von Heinrich Heine ent¬ 
lehnt, das Stoffliche von den „Elf Scharfrichtern", einer 
Münchner Künstlergruppe. Heine ist ein Meister des Ver¬ 
ses, und die „Elf Scharfrichter" besagen eine kühne 
Thematik, aber in den Gedichten desjenigen, der sie 
plünderte, findet sich von diesen Vorzügen nichts. Wenn 
man Erstlingswerken symptomatische Bedeutung beimigt. 
mugte man den Schlug ziehen, dag ein solcher Blüten¬ 
zweig in der Zeit der Reife ungeniegbare Früchte tragen 
werde. 

Der Verlag E. Pierson war ein Druckkostenverlag, jeder¬ 
mann konnte, sofern er zweihundert Mark bezahlte, dort 
sein Werk erscheinen lassen. So erschien auch meines. 
Unter meinen Freunden aber sprengte ich aus, diesen Be¬ 
trag als Honorar erhalten zu haben. Ja ich erhöhte ihn 
sogar um hundert Mark. Wenn ein Verleger mich mit so 
hohem Geldeswert einschätzte, konnten kritische Ein¬ 
wände meiner Freunde nur geringe Beweiskraft haben. 
Man bedenke: dreihundert Mark! 

Leider verstand meine Mutter nichts von Literatentricks, 
nicht einmal von denen eines Anfängers. In der Meinung, 
etwas, wofür zweihundert Mark ausgegeben worden seien, 
müsse sein Geld wert sein, hielt sie mit der Wahrheit nicht 
hinterm Berg, die Herausgabe des Buches finanziert zu 
haben. Und weil etwas, das noch mehr kostet, auch noch 
mehr wert sein müsse, erzählte sie überall, im Glauben, 
mein Ansehen zu steigern, sie hätte dreihundert Mark 
dafür bezahlt. 


5 Kisch VII 


65 



Schon frühzeitig habe ich mich der Gedichte geschämt 
und schäme mich ihrer noch heute. Schon frühzeitig habe 
ich mich geschämt die Druckkosten bezahlt zu haben, 
aber ich schäme mich nicht mehr dafür. Je mehr meine 
Kenntnis der Literatur wuchs, desto weniger hätte ich ge¬ 
wagt, ein Buch zu veröffentlichen. Nur der Wunsch, das 
klägliche Debüt wettzumachen, ermutigte mich, ein zwei¬ 
tes Buch zu veröffentlichen. Diesmal war es eine Novellen¬ 
sammlung „Der freche Franz", und der Verlag Hugo Stei- 
nitz, Berlin, gab sie heraus; nach einem Jahr verkaufte 
er das Verlagsrecht an eine Eisenbahn-Leihbücherei wei¬ 
ter, die mir auf meine Anfrage mitteilte, daß sie dafür 
zweitausend Mark bezahlt hatte. Mir sollte laut Verein¬ 
barung mit Steinitz eine jährliche Abrechnung Honorar 
bringen, aber ich bekam weder Abrechnung noch Hono¬ 
rar. 

Nach meinem Militärdienst]ahr bot ich mich dem „Pra¬ 
ger Tagblatt", das eine Kurzgeschichte von mir veröffent¬ 
licht hatte, als Volontär an. Der Feuilletonchef, der mich 
empfing, trug lange, wenn auch schüttere Künstlerlocken, 
eine Samtjacke und eine großgetupfte Lavalliere-Krawatte. 
Er hieß Neuhof oder Altberg, oder vielleicht hieß er Alt¬ 
hof oder Neuberg, oder vielleicht hieß er auch ganz anders, 
ich habe es vergessen, wahrscheinlich, weil er sich nur 
„Herr Feuilletonchef" nennen ließ. Auch an der Tür seines 
Büros stand: „Feuilletonchef des Prager Tagblatt". 

Seines Amtes war es vor allem, aus der hauptstädtischen 
Presse Kulturnachrichten auszuwählen, und wenn das 
Idealprodukt der Journalistik, die „Frankfurter Zeitung", 
eine Wiener Notiz abdruckte, die auch er für sein Blatt 
ausgeschnitten hatte, dann strich er stolzgebläht seine Lok- 
ken. Aus den einlangenden Manuskripten suchte er täglich 
eines aus, das er als Feuilleton in Satz gab, und schrieb 
biographische Notizen über Schriftsteller und Künstler, die 
starben oder sonstwie aktuell wurden. Am nächsten Tag 
fragte er alle Kollegen, ob sie seine Notiz gelesen hätten, 
und nahm selbstzufrieden ihr Lob entgegen. Nur darunter 
litt er, daß nicht er, sondern der Chefredakteur Heinrich 
Teweles die Theaterkritiken schrieb. 

Nachdem der Feuilletonchef mich reichlich geprüft hatte. 


66 



übertrug er mir die Berichte über die allwöchentlichen 
Vorträge von vier Bildungsvereinen: der naturwissen¬ 
schaftlichen Gesellschaft „Lotos", des Vereins zur Verbrei¬ 
tung gemeinnütziger Kenntnisse, des Bundes „Frauenfort¬ 
schritt" und der studentischen „Lesehalle". 

„Die Rezension der ,Concordia'-Vorträge behalte ich 
natürlich mir selbst vor", sagte er und fuhr sich schwung¬ 
voll durchs Haar. Die „Concordia" war der Schriftsteller¬ 
verband. 

So ward ich denn kritische Instanz für Vorträge über 
Ruinenfunde bei Edschmiadsin (mit Lichtbilder-Projek- 
tion), über Pflege des Kindes vor der Geburt (weibliche 
Gäste willkommen), über Metaphern im Codex Argenteus 
des Bischofs Ulfilas (anschließend Aussprache), über die 
Entdeckung der Fingerabdrücke durch Goethes Freund 
Purkynje (nur für Mitglieder), über die Assimilation der 
Kohlensäure durch das Chlorophyll der Tropenpflanzen 
(mit Experimenten) und über ähnliche weder miteinander 
noch mit mir in Zusammenhang stehende Themen. 

Wagte ich es, meinen Berichten einige Glanzlichter auf¬ 
zusetzen, dann verlöschte der Feuilletonchef, an dessen Na¬ 
men ich mich nicht mehr erinnere, sie erbarmungslos mit 
seinem Blaustift. Zweifellos strich er meine Manuskripte 
deshalb zusammen, weil nur in seinen Referaten Brillan¬ 
ten blitzen sollten, er behauptete jedoch, es geschehe mei¬ 
ner Langatmigkeit wegen. „Kürzer, junger Mann, kür¬ 
zer." 

Deshalb, und nicht etwa, weil ich von dem Thema kein 
Wort verstand, beschränkte ich mich darauf, über einen 
Vortrag des Zivilrechtlers Josef Köhler aus Berlin zwanzig 
Zeilen zu schreiben. Am nächsten Tag sagte der Chef¬ 
redakteur Teweles böse zu mir: „Es ist ein Zeichen von 
Unbildung, Geheimrat Köhler mit zwanzig Zeilen abzu¬ 
tun." 

In der studentischen „Lesehalle" las ein Raimund 
Schwarr, dessen Roman „Der Ungebärdige" kurz vorher 
im „Prager Tagblatt" als epochal gepriesen worden war, 
aus neuen Werken, und zwar stundenlang mit Pathos und 
bei rot abgedämpftem Licht. Ohne Rücksicht auf das begei¬ 
sterte Attest in unserem Blatt und ohne Rücksicht auf die 


67 



Tatsache, daß der Bruder des Dichters Generaldirektor des 
Böhmischen Bankverbandes war, überschüttete ich ihn. mit 
Hohn. 

Tags darauf empfing mich der Feuilletonchef, an dessen 
Namen ich mich nicht mehr erinnere, mit einem Gesicht, 
als habe er eine Spinne gefrühstückt. „Sie sollen zum 
Chefredakteur kommen." Von dem bekam ich eine Phi¬ 
lippika zu hören, die noch gehässiger war als meine Kritik 
über Raimund Schwarr. Chefredakteur Teweles schloß mit 
der Lehre: „Einen solchen Ton schlägt man nur gegen die 
Roten an, merken Sie sich das." 

Die Roten waren die Sozialdemokraten. Von den tsche¬ 
chischen Parteien waren sie die einzige, die gegen die 
antideutschen und antijüdischen Straßendemonstrationen, 
gegen die Dreyfus-Hetze und gegen die Hilsner-Hetze auf¬ 
getreten war. Demnach hätte sie dem „Prager Tagblatt" 
sympathischer sein müssen als die anderen Parteien. War¬ 
um sollte man also einen solchen Ton nur gegen die Roten 
anschlagen? Warum sollte ich mir das merken? 

Ich begriff nur, daß meine Position in der Redaktion 
nicht sehr stark sei, etwas Lobendes hatte mir Chefredak¬ 
teur Teweles noch nie gesagt, getadelt hatte er mich 
wiederholt. 

Teweles war Anhänger des humanistischen Gymna¬ 
siums und hielt alle für ungebildet, die nicht acht Jahre 
lang Latein und Griechisch gelernt hatten. Den Begabte¬ 
sten unserer Redaktion, den jungen Karl Tschuppik, ver¬ 
letzte er regelmäßig mit den Worten: „Als Gewerbeschüler 
können Sie das natürlich nicht wissen." Den Gerichtssaal¬ 
berichterstatter Urban, der inmitten des Hilsner-Prozess.es 
vom. antisemitischen „Wiener Volksblatt" zum liberalen 
„Prager Tagblatt" herübergewechselt war, nannte Teweles 
nur „den Maurer" - allerdings nie in Urbans Anwesen¬ 
heit, was die Sage bestätigte, Urban sei ihm einmal mit 
proletarischen Fäusten gekommen. Einen, der absolvierter 
Handelsakademiker war und bei Teweles „der dumme 
Kohn" hieß, verjagte er aus der Redaktion in die Admini¬ 
stration, von wo aus „der dumme Kohn" sehr bald die 
Herrschaft über die ganze Zeitung und sich den Namen 
„der schlaue Keller" eroberte. 


68 



Ich, der Benjamin, hatte nur Realschulstudium und war 
außerdem ein leidenschaftlicher Fußballer, was nicht allein 
dem Chefredakteur, sondern selbst den nicht humanistisch 
gebildeten Kollegen als der Gipfel von Unseriosität er¬ 
schien. Wer da öffentlich schreibt, muß privat Würde an 
den Tag legen, das galt als die Vorbedingung von Erfolg 
und Anerkennung. Ich habe die Würde nie erlernt, das 
schadete mir zeitlebens, und oft erwog ich, ob ich nicht in 
einem Buch „Die Rolle von Vollbart und Bauch in der Ge¬ 
sellschaft" gegen die Würde polemisieren sollte. 

Unser Chefredakteur trug übrigens weder Bauch noch 
Bart, er bezog seine Würde vom humanistischen Gymna¬ 
sium her - auch der flachste seiner Artikel barg ein kost¬ 
bares lateinisches oder gar (an Sonntagen) griechisches 
Zitat. Alle in der Redaktion bewunderten die Schnelligkeit 
seines Schreibens. „Bevor die Tinte des Titels trocken ist", 
rühmten sie, „setzt er schon den Schlußpunkt hin." 

Außer seiner redaktionellen Tätigkeit entfaltete Teweles 
auch- eine dramaturgische. Unter anderem hatte er das 
Drama seines Freundes Theodor Herzl „Das neue Getto" 
für die Prager Uraufführung bearbeitet, und Theodor 
Herzl nahm einige Tewelessche Feuilletons für die Wiener 
„Neue Freie Presse" an. Allerdings mußten sie mit einem 
Pseudonym'gezeichnet sein, da der Zionistenführer Herzl 
einen so jüdischen Namen wie Teweles in dem liberalen 
deutschen Blatt nicht drucken durfte. Für Reclams Univer¬ 
salbibliothek vollendete Teweles das Schillersche „Deme- 
trius"-Fragment. Dem Theater diente er mit noch größerer 
Leidenschaft als der Zeitung. „Ich bin bei Angelo Neumann 
zu erreichen", sagte er allabendlich, wenn er die Redaktion 
verließ. 

In der Tat war Teweles der Freund Angelo Neumanns, 
der seinerseits der Freund Richard Wagners gewesen war. 
In Prag sprach das mehr für Richard Wagner als für 
Angelo Neumann. Angelo Neumanns Amt, sein Äußeres 
und vor allem seine Ehe machten ihn zu einer mythischen 
Gestalt Er war Direktor der beiden deutschen Theater 
Prags, die in der europäischen Bühnenwelt hohes Ansehen 
genossen, die besten Schauspieler und Sänger deutscher 
Zunge wären von ihm entdeckt und gefördert worden und 


69 



viele Kapellmeister und Komponisten, einschließlich Ri¬ 
chard Wagner und Gustav Mahler. 

Angelo Neumanns Direktionsloge war eine Bühne für 
sich. Punkt sieben Uhr abends erschien er dort, ein pere 
noble, mit pechschwarz gefärbtem Haar und Schnurrbart, 
schwarzem Anzug und schwarzer Krawatte, maß aufrecht 
stehend, mit lang anhaltendem Blick, den Zuschauerraum 
vom Parkett bis zur Galerie, und dann erst gab er das Zei¬ 
chen, nein, die Erlaubnis zum Beginn der Vorstellung. Ne¬ 
ben ihm saß sein Stiefsohn, ein schöner Knabe, in der Ka¬ 
dettenuniform der Adelsakademie, der wohl kaum ahnte, 
daß die auf die Loge gerichteten Operngläsern ihm galten 
und warum sie ihm galten. Bei Neuinszenierungen hatte 
Angelo Neumann außerdem den Chefredakteur Teweles an 
seiner Seite, bei den Opern den Prager Abt P. Alban 
Schachleitner und dessen Koadjutor Graf Galen. 

Pater Alban Schachleitner führte später in Deutschland 
den nazifreundlichen Flügel der Katholiken und wurde 
deshalb nach seinem Tod in München von Hitler mit kö¬ 
niglichen Ehren bestattet. Aber damals, als er zur Rechten 
des Juden Angelo Neumann sitzen durfte, durfte er es, 
weil er ein Musikmäzen war; in der Politik bekämpfte er 
damals vehement die antiliberale und antiklerikale Partei 
Georg von Schönerers, mit dessen Programm Adolf Hitler 
viele Jahre hernach zur Macht kam. 

Der Geistliche neben Alban Schachleitner hatte eine 
interessantere Gegenwart und charaktervollere Zukunft. 
Graf Galen waltete als Beichtiger auf Schloß Konopischt. 
In Graf Galens Ohr gingen die ehrgeizigen Pläne des 
Erzherzogs Franz Ferdinand, und Graf Galens Lippen 
hielten sie verschlossen. Dieser junge Mann in der Loge 
kannte Europas Zukunft und seine eigene Zukunft, denn 
menschlichem Ermessen nach mußte das Beichtkind bald 
Kaiser von Österreich und der Beichtvater Erzbischof von 
Wien werden. 

Es kam anders. Nach dem Zusammenbruch Österreichs 
verließ Graf Galen die Prager Diözese und wurde Bischof 
von Münster. Ich sah ihn nicht mehr wieder, aber ich 
denke dankbar an ihn. Als ich 1933 seit der Nacht des 
Berliner Reichstagsbrandes im Spandauer Zuchthaus saß. 


70 



empfing ich eines Tages meinen ersten und einzigen Be¬ 
such, Es war mein Anwalt, der mir von Bemühungen 
Außenstehender zu meiner Freilassung berichtete. Unter 
anderem habe der Bischof von Münster in einem Brief an 
das Polizeipräsidium erklärt, daß er mich aus seinem frü¬ 
heren Amtsbereich kenne und mich einer feigen Brand¬ 
stiftung für unfähig halte. Das konnte Naivität sein - 
kam es denn den Nazis auf Schuld oder Unschuld an? 
aber Graf Galen zeigte bald offener, daß er nicht naiv, 
sondern ein bewußter Gegner des Regimes sei. Er wandte 
sich zunächst gegen den Nazitheoretiker Alfred Rosen¬ 
berg, später in einem Hirtenbrief gegen Hitler selbst und 
wurde als verhaftet erklärt. Da er sich weigerte, sein Bi¬ 
schofsgewand abzulegen, wagte die Polizei nicht, ihn aus 
dem Bischofspalast abzuführen. So unterblieb die Verhaf¬ 
tung, aber ein Staatsbegräbnis, wie es seinem einstigen 
Chef Alban Schachleitner inszeniert wurde, kann er von 
Hitler nicht erwarten. 

Seit dem Selbstmord des Kronprinzen Rudolf war Erz¬ 
herzog Franz Ferdinand österreichischer Thronfolger, aber 
auch Angelo Neumann war Nachfolger des Kronprinzen 
Rudolf, und zwar durch seine Frau, die verwitwete Gräfin 
Török. Sie hieß auf dem Theaterzettel „Johanna Buska" 
und im Privatleben „Frau Gräfin", jedoch niemals, niemals 
„Frau Neumann". Man erzählte sich, ein neuer Bühnen¬ 
arbeiter sei einmal zu Angelo Neumann mit der Mitteilung 
gekommen: „Herr Direktor, Ihre Frau Gemahlin erwartet 
Sie." - „Sie haben zu sagen: die Frau Gräfin", korrigierte 
ihn Angelo Neumann, „verstehen Sie?" - „Jawohl, Herr 
Graf", antwortete der eingeschüchterte Mann. 

Bevor Johanna Buska Frau Gräfin oder gar die Gattin 
Angelo Neumanns wurde, hatte sie zum Ensemble des 
Wiener Burgtheaters gehört, und Kronprinz Rudolf be¬ 
gann sich für die gertenschlanke Schauspielerin mit den 
wunderbar langen Augenwimpern und dem wunderbar 
langen Haar auffallend zu interessieren. Kaiser Franz Jo¬ 
seph, selbst mit einer Kollegin der Buska, der Hofschau¬ 
spielerin Katharina Schratt, liiert, duldete so etwas nicht. 
Sein Sohn mußte Wien für einige Zeit verlassen, und der 
kaiserliche Obersthofmeister Fürst Montenuovo übermit- 


71 



telte dem altersschwachen ungarischen Feldmarschalleut- 
nant Graf Török den Allerhöchsten Befehl, Fräulein Buska 
zu heiraten. Knapp nach der Hochzeit und noch knapper 
vor seinem Tode schenkte die junge Gräfin ihrem Gatten 
einen männlichen Leibeserben. 

Jener Fürst Montenuovo, der sich mit der Liquidierung 
dieser und anderer Liebesaffären der Habsburgerfamilie 
zu befassen hatte, war ein Enkel von Marie-Louise, Kaise¬ 
rin der Franzosen, aus ihrer zweiten Ehe. Als Marie- 
Louise an der Seite Napoleons auf dem Herrscherthron 
Europas safi, ahnte sie nicht, dag es dereinst das Amt ihres 
Enkels sein werde, Bettgeschichten von österreichischen 
Erzherzogen und Erzherzoginnen zu bereinigen. Noch we¬ 
niger aber konnte sie voraussehen, dag sich ihr Enkel 
ihres Gatten schämen würde, sich schämen Napoleons! 

Mit dem Fürsten Montenuovo (Montenuovo ist die Ita- 
lisierung des Namens Neipperg) hatte ich als Journalist 
wiederholt zu tun. Vor allen Besuchen des Kaisers Franz 
Joseph in Böhmen fuhr der Obersthofmeister voraus, um 
die Räume zu inspizieren und das Zeremoniell vorzube¬ 
reiten, und empfing einzelne Vertreter der loyalen, das 
heigt der deutschen Presse, denen er über die Arrange¬ 
ments Auskunft gab. Bei einem meiner Interviews mit 
ihm schien er über meine unverfrorenen Fragen besonders 
belustigt zu sein, so dag ich die Frage wagte, ob in seiner 
Familie unbekannte Andenken an Napoleon vorhanden 
seien. Augenblicklich wurde sein Gesicht abweisend. 

„Wir Montenuovos haben mit Bonaparte nichts zu schaf¬ 
fen", sagte er langsam und in einem Ton, der ergänzend 
ausdrückte, dag die Montenuovos ein Fürstengeschlecht 
seien und Bonaparte nur ein Bürgerlicher war, weshalb er 
eben nichts mit ihm zu schaffen haben könne. 

Unleugbar zu schaffen gehabt hat Fürst Montenuovo 
mit der obenerwähnten Liebesgeschichte des Kronprinzen 
Rudolf, und er hat sie auf wohlfeile Weise bereinigt, denn 
Frau Buska und ihr Sohn erbten die Generalspension, die 
nicht aus der Privatschatulle der Habsburger, sondern vom 
Militärärar ausbezahlt wurde. Johanna Buska durfte sich 
Frau Gräfin nennen, auch nachdem sie Angelo Neumann 
geheiratet. Ihr Sohn war Graf. Und wenn sich im Prager 


72 



Theater alle Operngucker in die Direktionsloge bohrten, 
so geschah es immer wieder um der Feststellung willen, 
der Junge sei dem Kronprinzen Rudolf wie aus dem Ge¬ 
sicht geschnitten. 

Bei der Mutter des Knaben hingegen wollte man Ähn¬ 
lichkeiten mit der Baronesse Vetsera entdecken, die ihre 
Nachfolgerin im Herzen des Kronprinzen geworden und 
mit ihm in den Tod gegangen war. Wie weinten die Fen¬ 
ster, wenn der blinde Methodius in unserem Hof von der 
Tragödie auf Schloß Mayerling sang! 

Johanna Buskas Bühnenehrgeiz war durch ihre Romanze 
mit dem jungen Kronprinzen nicht erloschen. Auch nicht 
durch ihre Ehe mit dem alten Feldmarschalleutnant, die 
allen Tempelhüterinnen Thalias in deutschen Landen als 
Gipfel der Karriere erschien und sogar von Theodor Fon¬ 
tane in diesem Sinne behandelt wurde. Die verwitwete 
Gräfin heiratete den Bühnenprinzipal Angelo Neumann, 
um Diva zu werden, und spielte ihrem wachsenden Alter 
zum Trotz Mädchenrollen. Sie kopierte die Sarah Bern¬ 
hardt; im „Hamlet" trat sie jedoch nicht als Hamlet, son¬ 
dern als Ophelia auf, weil sie in der Wahnsinnsszene ihr 
langes Haar aufgelöst und mit Blumen geschmückt zeigen 
konnte. In einer Pantomime „Rund um Wien", die ihret¬ 
wegen nie aus dem Repertoire verschwand, stellte sie ein 
Mädchen dar, das aus der Donau gefischt wird und dessen 
Haar bei Rettern und Neugierigen Bewunderung erweckt. 

Das Theater und alles, was dazu gehört, war in jener 
Zeit, da es keinen Film, kein Radio, kein Auto, keinen 
Massensport, keine Weekendausflüge gab, Monopol und 
Gipfel des gesellschaftlichen Lebens. Deshalb versuchten 
die Zeitungen vor allem durch die Theaterkritik einander 
zu übertreffen, nicht nur was die Qualität, sondern auch 
was die Quantität anlangt. Langstreckenmeister der Kritik 
war Professor Alfred Klar, dessen Rezension über einen 
neueinstudierten „Don Carlos" drei Tage lang in Fortset¬ 
zungen die Spalten der Zeitung füllte; auf Grund dieses 
Rekords wurde Professor Klar an die „Vossische Zeitung" 
nach Berlin berufen. 

Eine so heilige Sache wie die Unabhängigkeit der Thea¬ 
terkritik konnte keineswegs als gewahrt gelten, wenn dei 


73 



Kritiker des „Prager Tagblatts* gleichzeitig der Freund 
des Theaterdirektors war. „Ich danke Gott, daß ich nicht 
bin wie jener*, beteuerte der Kritiker des Konkurrenz¬ 
blattes „Bohemia" und Nachfolger des Professors Alfred 
Klar, Herr Doktor Dykschy, indem er seine Meinungs¬ 
freiheit durch schärfsten Tadel der Vorstellungen und ins¬ 
besondere der Johanna Buska kundtat. Anläßlich einer Auf¬ 
führung von „Minna von Barnhelm", des hundertfünfzig 
Jahre alten Lustspiels, leistete er sich den „Witz", Frau Buska 
habe die Titelrolle schon bei der Uraufführung gespielt. 

Heinrich Teweles ließ sich nicht beirren. Nach wie vor 
zeigte er sich in der Direktionsloge, lobte unentwegt Re¬ 
pertoire und Aufführung, insbesondere Frau Buska. Nach 
Angelo Neumanns Tod übernahm er selbst für einige Zeit 
die Theaterdirektion und wurde später wieder Freund sei¬ 
nes Nachfolgers und wieder Kritiker und hob wieder alles 
in den Himmel. Nur als 1924 meine Komödie „Die gestoh¬ 
lene Stadt" gespielt wurde, griff er sie, die doch ein hei¬ 
misches Thema und einen heimischen Autor hatte, in einem 
Ton an... just in dem Ton, den er mir achtzehn Jahre 
vorher nur gegen die Roten bewilligt hatte. 

Sein Tadel von 1906 hatte mich schwerer getroffen, mich 
nahe an den Entschluß getrieben, das Schreiben an den 
Nagel zu hängen. Auf jeden Fall wollte ich das „Prager 
Tagblatt" verlassen, wo meine beiden Vorgesetzten, der 
Chefredakteur Teweles und der Feuilletonchef, an dessen 
Namen ich mich nicht mehr erinnere, mir offenkundig 
nicht wohlgesinnt waren. Ich bewarb mich bei der „Bo¬ 
hemia" um eine Stellung, bekam aber keine Antwort 

Allnachmittäglich saß ich mit der Prager Literatur im 
Cafe Central. Hätte ich damals unseren Stammtisch als 
die Prager Literatur bezeichnet, so wäre ich schön verlacht 
worden. Anerkannt als die Prager Literatur waren jene 
Dichter, die niemals in einem zweisprachigen Cafe ver¬ 
kehrten, sondern nur im deutschen Cafe Continental oder 
im Deutschen Kasino und für die der langhaarige Frauen¬ 
arzt Dr. Hugo Salus der Dichterfürst war. 

Die Ablehnung des nationalen Sektierertums und der 
führenden Künstlerclique einte die junge Generation, so 
uneinig sie auch in ihren literarischen Richtungen war, der 


74 



satirische Dämoniker Paul Leppin, der katholische Neo¬ 
romantiker Rene (später Rainer) Maria Rilke, der ethische 
Erotiker Max Brod, der mystische Realist Franz Kafka, 
der philosophische Bibliothekar Hugo Bergmann. Gegen 
Hugo Salus hatte einer von uns den Zweizeiler verfaßt: 

Hugo Salus ist ein Gebu- 
Rts-Helfer und Poet dazu. 

Eines Nachmittags war die literarische Debatte im Cafe 
Central besonders heiß. 

Es ging um die Poesie. Rilke sprach wie immer erregt 
auf uns ein; seine langen Hände flatterten wie Tauben auf 
uns zu. „Ich habe die Formel gefunden: Poesie ist Liebe, 
und Liebe ist Gottesglaube." 

Ärgerlich stülpte der halb taubstumme tschechische 
Essayist Antonin Macek seine Hand, die bisher wie ein 
Hörrohr sein Ohr verlängert hatte, als Sprachrohr auf den 
Mund und schrie unartikuliert: „Welcher Gottesglaube? Sie 
als Katholik können doch nicht das Heidentum der grie¬ 
chischen Tragiker, den Mohammedanismus von tausend¬ 
undeiner Nacht', den Protestantismus der deutschen und 
englischen Dichter... Sie dürfen das doch nicht Gottes¬ 
glaube nennen. Sie nicht, Rene!" 

Ich warf die Namen Oscar Wilde und Anatole France, 
die uns damals Ideale waren, als Beispiele ungläubiger 
Dichter ins Gespräch. 

Rilkes Tauben hoben sich hoch, um auf uns herabzu¬ 
fliegen, aber ehe ihre Botschaft uns erreichte, klopfte mir 
jemand auf die Schulter. Es war ein alter Redakteur der 
„Bohemia", bei Gästen und Kellnern des Cafes Central 
unbeliebt, weil er aus den aufliegenden Zeitungen Notizen 
ausschnitt oder gar Seiten herausriß. 

Ich stand auf und wandte mich zu dem Redakteur. Er 
habe mir zu bestellen, daß ab Anfang April eine Stellung 
in der Redaktion frei sei. 

„Das ist sehr schön", antwortete ich, „ich nehme sie an." 

„Nicht so stürmisch, junger Mann, Sie wissen ja noch 
gar nicht, um welche Art von Arbeit es sich handelt. Es 
ist die Stelle des Herrn Melzer, unseres Spezialisten in 
Mordfällen..." 


75 



Hinter mir flatterten Rilkes Tauben mit der Botschaft, 
daß aus dem Haß niemals Poesie entströmen kann und 
daß der Katholizismus alles umfaßt, was andere Religio¬ 
nen an Liebe enthalten. 

„Ich könnte den Posten sofort antreten", sagte ich zu 
dem Redakteur. 

Er schien das nicht erwartet zu haben. „Herr Melzer 
war unser Lokalreporter, wissen Sie das?" 

Der halb taubstumme Antonin Macek stöhnte: „Shake¬ 
speare sprüht überall Haß, und die Bibel ist ein Buch der 
Rache, wissen Sie das, Rene?" 

„Ja", antwortete ich dem Redakteur, „ich weiß das. Ich 
komme noch heute in die Redaktion, um mich vorzu¬ 
stellen." 

Sicherlich hätte ich auch angenommen, wenn man mir 
eine Stellung in der Handelsrubrik oder im Sportteil, als 
Leitartikler oder als Kunstkritiker angeboten hätte. Wäre 
dann mein Leben anders verlaufen? 

Nun, wohin immer mich der Zufall hingesetzt, der Sitz 
wäre jedenfalls sehr bald ein Auslug geworden, dafür 
hätte die heftigste meiner Eigenschaften gesorgt: die Neu¬ 
gierde. Wie andere Menschen bei etwas Bedrohlichem aus 
dem Traum aufschrecken, so erwache ich, weil ich nicht 
weiß, wer jene Person im Hintergrund des Traumes ist. 
Ich kann in keiner Straßenbahn fahren, ohne herauskrie¬ 
gen zu wollen, welches Buch der Herr in der entgegen¬ 
gesetzten Ecke liest. Ich verfolge ein Paar durch mehrere 
Straßen, um zu erfahren, welche Sprache sie sprechen. Ich 
gaffe in fremde Fenster, ich lese alle Wohnungsschilder in 
dem Haus, in dem ich zu Besuch bin, ich durchforsche 
Friedhöfe nach vertrauten Namen. Gleichgültige Menschen 
frage ich über ihr Leben aus. Ungewöhnliche Straßen¬ 
bezeichnungen zwingen mich, zu ergründen, warum sie so 
lauten. Jede Rumpelkammer und jeden Stoß alter Papiere 
möchte ich durchsuchen, jedes „Eintritt verboten" lockt mich 
zum Eintritt, jede Geheimhaltung zur Nachforschung. 

Diese Kuriosität ist nicht nur kurios, sondern auch be¬ 
schämend, und ich würde mich wohl kaum so unverblümt 
zu ihr bekennen, wenn sie mir nicht dazu verhelfen hätte, 
sie auch bei Dante zu entdecken. 


76 



Dantes Neugierde ist stärker als sein Grauen darüber, 
daß er vorbeiziehen muß an allem, was, vom Plusquam¬ 
perfekt bis zum Präsens der Menschheit, je gelebt und ge¬ 
sündigt hat oder als lebendig und sündig gedacht war, an 
den Monstren der Mythologie, der Theologie und der Ge¬ 
schichte und an allen unausdenkbaren Arten der Marter. 

Fleht er etwa seinen Geleitsmann an, in der Durchwan¬ 
derung und Erörterung innezuhalten? Nichts davon findet 
sich in den Gesängen der „Göttlichen Komödie", und eben¬ 
sowenig steht geschrieben, daß er eine solche Bitte unter¬ 
läßt. Deshalb ist den Forschern, die sich nur an das Ge¬ 
schriebene halten und das Fehlende übersehen, deshalb, 
sage ich, ist ihnen entgangen, daß Dante den Gang durch 
die Hölle nicht unausgesetzt als Höllenqual empfindet und 
daß seine Neugierde das Maß seines Mitleidens übersteigt. 
Wo Vergil ihm ein Detail ersparen, wo Vergil an einem 
Verdammten wortlos vorübereilen, wo Vergil ermüden 
will - Dante will kein Detail erspart haben, Dante will 
nirgends wortlos vorübereilen, Dante will nie ermüdet 
sein. 

Angesichts der schreienden Menge jener, die wegen 
ihrer Parteilosigkeit, ihrer Lauheit nicht einmal durchs 
Höllentor eingelassen werden, forscht Dante, wer sie seien, 
und gleich darauf erbittet er Auskunft über das Wer, Wie 
und Warum der Schatten am Acheron. Er möge sich nur 
gedulden, antwortet ihm sein Begleiter in solcher Weise, 
daß Dante eingestandenermaßen seine Blicke beschämt 
senkt und sich weiterer Worte enthalten will. Freilich 
wirkt sein Vorsatz nur bis zum Höllendistrikt der Seelen 
aus vorchristlicher Zeit. Vergil, der in diesen Bannkreis 
gehört, ist besonders erregt, aber Dante nimmt keine 
Rücksicht darauf und fragt ihn nach Strich und Faden aus. 

Bei jeder Gelegenheit versucht er Interviews zu machen. 
„So wirksam war mein anteilvolles Rufen", rühmt er sich 
seiner Tüchtigkeit, daß ein Jüngling und eine Frau sich 
aus dem Wirbel einer schwarzen Windsbraut lösen, um 
ihm Rede zu stehen. Dante hat an ihrer Darstellung nicht 
genug, er unterbricht sie mit einer indiskreten erotischen 
Detailfrage. Nun erst läßt sich die Frau, Francesca da Ri- 
mini, mit dem ausdrücklichen Hinweis auf Dantes „so ent- 


77 



schiedenes Verlangen", zu der Enthüllung herbei, wie ihr 
Ehebruch geschah, und gestaltet dadurch das Interview 
zum berühmtesten der Weltliteratur. 

Manche der Verdammten verhalten sich so, wie Straf¬ 
gefangene einem Berichterstatter gegenüber sich gewöhn¬ 
lich verhalten: sie schließen eine knurrig-kurze Auskunft 
mit den Worten: «Mehr red ich nicht, noch geb ich weiter 
Antwort", oder sie versuchen, ihr Gesicht zu verbergen. 
Manche antworten barsch: «Was geht's dich an, wie ich 
heiße", manche fauchen: „Was bist du so neugierig ..wer 
heißt dich, so in uns dich zu bespiegeln!" 

Das ficht Dante nicht an. Mit allen Mitteln entlockt er 
Informationen, manchen verspricht er, er werde für ihre 
Rechtfertigung eintreten, in der Oberwelt für sie Stim¬ 
mung machen. Solche, die gerade das vermeiden wollen, 
läßt er in dem Glauben, auch er sei nur ein Schatten, der 
nicht auf die Erde zurückkehren könne. Ein andermal 
greift er zum Mittel des Nachrichtenaustauschs, erklärt sich 
bereit, von der Welt der Lebenden zu berichten, unter der 
Bedingung, daß die Höllengefangenen über sich aussagen. 
Nicht einmal davor schreckt er zurück, eine im See ein¬ 
gefrorene Gestalt an den Haaren zu packen, ihr ganze 
Büschel auszureißen und sie mit weiteren Gewalttaten zu 
bedrohen, falls sie ihm ihren Namen nicht nenne. 

Noch mehr liegt ihm daran, Odysseus zum Sprechen zu 
bringen; dem fühlt er sich verwandt, „weil nichts ver¬ 
mochte, jenen Trieb in ihm zu dämpfen, der ihn die Welt, 
die Tugenden und Laster der Menschen stets weiter zu 
erkunden hieß...". Aber Dante ist nicht konsequent: Ge¬ 
gen Eva zeigt er sich gehässig, weil sie, kaum geschaffen, 
es nicht ertrug, daß ihr etwas verhüllt bleibe. Er fühlt 
nicht, wie sehr er ihr Enkel ist. Er fühlt nur seine Pflicht 
und Neigung als Korrespondent: „Bedenkst du, Leser, 
welch peinliches Begehren mehr zu vernehmen du emp¬ 
fändest, brach ich hier plötzlich ab, was ich begonnen 
habe, so wirst du selbst erkennen, welch Verlangen ich zu 
erfahren trug, wer diese seien, seit offenbar sie meinem 
Blick geworden." 

Auf Lokalnachrichten aus Florenz ist Dante besonders 
scharf. Allenorts erkundigt er sich, ob Landsleute da seien. 


78 



und fragt sie nach ihrem Kriminalfall aus. Die Prominen¬ 
tenliste, das „Unter den Anwesenden bemerkte man", 
scheint in Dante ihren Urheber zu haben: „Sag mir, ob 
unter denen, die dort wandeln, du welche siehst, die des 
Bemerkens wert sind, denn darauf nur ist jetzt mein Sinn 
gerichtet." Einige Insassen von Plutos Kerkerparzelle 
kommen dem Dante - zumindest behauptet er das - be¬ 
kannt vor, aber der Führer weist Dantes Irrtum brüsk 
zurück: hier seien alle so verwandelt, daß jegliches Erken¬ 
nen unmöglich wäre. An den Grüften erlaubt Vergil dem 
Dante nur unter der Bedingung, daß er sich kurz fasse, 
mit einem Begrabenen zu reden: „Gezählt sei'n deine 
Worte!" 

Was, von einem anderen ausgesprochen, wie ein Sakrileg 
an Dante gelten würde, Dante selbst gibt es ungeniert zu: 
daß er den Wunsch habe, einer Peinigung beizuwohnen: 

Ich sagte: Meister, sehr wär ich begierig. 

Zu sehn, wie man ihn taucht in diese Brühe... 

Wohl verdient der in die Brühe zu Tauchende diese Mit¬ 
leidslosigkeit ganz besonders, und Vergil ist mit ihr ein¬ 
verstanden; dennoch klingt in seiner Antwort Ironie mit: 

... Noch eh die andere Küste 

Sich dir gezeigt, wirst du befriedigt werden. 

Die Lust, die du begehrst, sollst du genießen! 

Einmal reißt dem Vergil die Geduld, und er beschuldigt 
Dante niedriger Gesinnung, weil er sich von dem Ge¬ 
zanke zweier Verräter nicht loszureißen vermag. 

Aber kehren wir auf die Erde zurück. Uns kommt es 
nicht darauf an, Dante die Neugierde eines Reporters zu 
unterschieben, sondern darauf, daß ein Reporter durch den 
Hinweis auf Dantes Neugierde den Mut findet, sich zu 
der seinen zu bekennen. 

Ohne Zweifel bot die Lokalrubrik meiner Neugierde 
einen Tummelplatz, wenngleich keine Befriedigung auf 
Lebensdauer. Dagegen ist mein Nachfolger im Vortrags¬ 
referat bis heute auf dem Posten geblieben. 

Dieser mein Nachfolger war ein junger Mann, der bis 
dahin für eine Pilsner Zeitung „Prager Briefe" schrieb und 


79 



gleich mir die Vorträge besuchte. Wiederholt waren wir 
beide fast das einzige Publikum im Saab saßen immer 
nebeneinander, diskutierten den Vortrag, halfen einander 
mit unseren Notizen aus. Er war der Sohn eines Pilsner 
Beamten, hatte klassische Philologie studiert, aber das Ge¬ 
biet schien ihm zu eng, er wollte über alles schreiben, was 
Menschen bereits durchdacht hatten. Nur eine einzige 
Reise wollte er machen; zu der Stätte, wo Karthago einst 
gestanden. Wenn ich ihn in seinem Zimmerchen auf dem 
Franzenskai besuchte und die Aussicht pries, sagte er: 
„Ich sehe nur Karthago." 

Die Vortragsreferate füllten seine „Prager Briefe" nach 
Pilsen aus, er war glücklich, darüber berichten zu können, 
was ein Fachmann dem Auditorium unterbreitet hatte. An 
ihn, den Vortragenden, waren seine „Prager Briefe" eigent¬ 
lich gerichtet, und es schmerzte ihn, daß sie den Adres¬ 
saten und dessen Fachkollegen fast nie erreichten. Ich 
hingegen schien ihm beneidenswert, denn ich schrieb für 
ein großes Blatt der Hauptstadt, wenn diese auch nur eine 
Provinzhauptstadt war. Da wir Freunde waren, vermieden 
wir es, über die ungerechte Verteilung der journalistischen 
Wirkungsbereiche viel zu sprechen, wir sprachen lieber 
von anderem. 

So sehr schwärmte mein Freund von Karthago, daß ich 
ihm vorschlug, unsere Urlaubsreise dorthin zu machen. Er 
lachte nur. „Fahr nicht hin, du würdest schön enttäuscht 
sein. Nichts ist dort als Schutt und Geröll." 

„Weshalb also willst du hinfahren?" 

„Eben weil dort gar nichts zu sehen ist. Nichts wird 
midi stören, wenn ich der Dido begegne, wie sie mit dem 
Riemen aus einer Ochsenhaut den Bezirk umspannt. Un¬ 
gestört werde ich zusehen, wie Baal Kinder verschlingt. 
Nichts wird mich abhalten, an Hannibal heranzutreten 
und an seine punischen Krieger mitsamt den Kriegselefan¬ 
ten, und an Scipio Africanus, der die Stadt in Stücke 
schlägt. Weil dort alles Öde und leer ist, kann ich die 
ganze Herrlichkeit genießen." 

Als ich den Posten bei der „Bohemia" annahm, war mein 
Freund der erste, dem ich das anvertraute. Er konnte es 
nicht fassen, daß ich das Vortragsreferat gegen das Nie- 


80 



derschreiben von Lokalnotizen eintauschen wolle. Noch 
erstaunter aber war er, als ich ihm riet, sich um meine 
Stellung beim „Prager Tagblatt" zu bewerben. 

„Nein", sagte er, „wozu sich in Hoffnungen wiegen und 
hinterher durch die Ablehnung enttäuscht werden?" Ich 
entwickelte ihm einen Plan: Ich würde einen Demissions¬ 
brief abschicken, und er möge am gleichen Tage beim 
„Prager Tagblatt" wie zufällig nach einer Arbeit fragen. 
Mein Brief würde psychologisch vorbereiten, daß ein gut¬ 
erzogener junger Mann aus altösterreichischer Beamten¬ 
familie wohl aufgenommen werde. 

Er schwieg lange und sah mich dankbar an. „Sollte ich 
die Stellung wirklich bekommen", sagte er schließlich, „so 
würde ich mich nur als deinen Platzhalter betrachten." 

Drei Tage später erschien mein Freund bei Chefredak¬ 
teur Teweles, und dieser, der die klassischen Philologen 
liebte, engagierte ihn, die Vorträge zu besprechen. 

Er bespricht sie noch heute, wohnt im gleichen Zimmer 
am Franzenskai und träumt von einer zukünftigen Kar¬ 
thagoreise. Wann immer und wo immer ich in den letzten 
dreißig Jahren nach Prag kam, besuchte ich ihn. Seine 
erste Frage war immer, ob ich gekommen sei, um meine 
alte Stellung anzutreten. Erst wenn ich ihn darüber be¬ 
ruhigt hatte, gab er sich uneingeschränkt seiner Freude 
des Wiedersehens hin. Stundenlang gingen wir einst durch 
die Nacht, und er erzählte begeistert von der bunten Viel¬ 
falt der Vortragsthemen, über die er in der Zeit meiner 
Abwesenheit berichtet. Manchmal unterbrach er sich er¬ 
schreckt: „Um Gottes willen, mach ich dir nicht Lust zur 
Rückkehr?" 



DEUTSCHE UKD TSCHECHEN 


Mein Vorgänger, Herr Melzer, war es gewesen, der 
mich einst so beeindruckt hatte, als er den Einbruch beim 
Juwelier Rummel beschrieben. Noch eine andere Kind¬ 
heitserinnerung knüpft sich für mich an den Namen Mel¬ 
zer. Sein Vater war der Zuckerbäcker in der Heinrichs¬ 
gasse, in dessen Schaufenster ein himmelblaues Wappen¬ 
schild mit drei goldenen Lilien prangte und der Aufschrift 
„Lieferant des Königs von Frankreich". Die Melzerschen 
Nußbeugel waren das Lieblingsgebäck König Karls des 
Zehnten. „Sind die Nußbeugel nicht hart geworden, ehe sie 
nach Frankreich kamen?" fragte ich als Kind und wurde 
belehrt, daß das französische Volk den König abgesetzt 
habe und er nachher mit seinem Enkel in Prag lebte. „Der 
kleine Bub mag sicherlich nicht mehr nach Frankreich zu¬ 
rück", sagte ich. (Der „kleine Bub", seither zum alten Ba¬ 
ron von Frohsdorf, dem Gesellschaftslöwen der österreichi¬ 
schen Aristokratie geworden, hatte kurz vorher die ihm 
von der Regierung Mac-Mahon angebotene französische 
Königskrone abgelehnt.) „Warum glaubst du denn, daß er 
nicht nach Frankreich zurück will?" fragten mich die Er¬ 
wachsenen. „Weil er dort keine Melzerschen Nußbeugel 
bekommt." 

Herr Melzer junior hatte einen anderen Ehrgeiz, als 
Nußbeugel umzubiegen. Er war Journalist geworden, ein 
guter Journalist, aber nur Quartalsarbeiter. Sogar Morde, 
seine Spezialität, vernachlässigte er, wenn sie außerhalb 
seiner Arbeitsperiode fielen. Dadurch unterschied er sich 
von seinem tschechischen Rivalen Wenzel Vilde, der seine 
angeborene Faulheit schnell überwand, wenn ein großer 
Fall der Behandlung harrte. Seine Frau konnte ihn nur 
aus dem Bett bringen mit dem Ausruf: „Wenzel, schnell, 
ein Raubmord!" 

Was Herrn Melzer anbelangt, war er mit seinem Chef¬ 
redakteur in stetem Konflikt. Deshalb entschloß er sich 


82 



nach jahrzehntelanger Reporterlaufbahn, selbst Chefredak¬ 
teur zu werden, und zwar in der kleinen Stadt Gablonz. 
Dort vertrug die journalistische Arbeit einige Atempau¬ 
sen, wie der Vermerk beweist, der eines Tages an der 
Spitze des Gablonzer Blattes erschien: „Auf Wunsch zahl¬ 
reicher Leser veröffentlichen wir unseren gestrigen Leit¬ 
artikel heute noch einmal." Wohlgemerkt, nicht etwa den 
vorgestrigen oder sonst einen, den die zahlreichen Leser 
schon weggeworfen haben konnten, sondern den, den sie 
eben vor sich hatten, als sie der Redaktion den Wunsch 
kundtaten, ihn morgen wieder im Blatt zu finden. 

Nach Herrn Melzers Abgang wurde in seinem alten 
Amtsbereich, der jetzt der meine war, noch lange debat¬ 
tiert, ob es eine Degradierung sei, sich mit tausend Lesern 
zu begnügen, wenn man für vierzehntausend schreiben 
könne. Ich war zu neu, um mich an diesen Gesprächen be¬ 
teiligen zu dürfen, aber mir schien, daß nicht die Zahl der 
Leser den Wert eines Journalisten bestimme. Sonst hätten 
ja meine neuen Kollegen auf die Redakteure des mehrver¬ 
breiteten „Prager Tagblatts" mit Respekt blicken müssen. 
Das taten sie jedoch nicht, vielmehr verachteten sie die 
„Kommis von Mercy". 

Das „Prager Tagblatt" war in der Tat ein Geschäfts¬ 
unternehmen. Gegründet von der Hugenottenfamilie 
Mercy als ausschließliches Inseratenblatt, fügte es erst 
nach und nach redaktionellen Text hinzu, den es infolge 
der Monopolstellung seiner „Kleinen Anzeigen" (Stel- 
lungs-. Tausch-, Altverkaufs- und Heiratsangebote) mit 
großen Mitteln ausbauen konnte. In diesem Textteil nah¬ 
men Nachrichten über den Kleinhandel den größten Raum 
ein; die Zahlungsschwierigkeiten oder der Konkurs eines 
Krawattengeschäftes, Warenkurse und Preise von Gänse¬ 
federn und Schweineborsten wurden mit minutiöser Ge¬ 
wissenhaftigkeit verzeichnet. Als Gesamttitel stand über 
der Rubrik „Nationalökonomisches", was jeden Händler 
mit Gänsefedern und Schweineborsten zum Glauben legi¬ 
timierte, er sei ein Nationalökonom. Und seine Frau 
dünkte sich gebildet, wenn sie die mit lateinischen Zitaten 
geschmückten Artikel von Heinrich Teweles las. 

Langten spätabends noch Inserate ein, dann fielen ganze 


83 



Seiten redaktionellen Textes weg oder, wie man euphemi¬ 
stisch sagte, „in den Übersatz". Wenn sich der Verfasser 
eines geopferten Artikels darüber beschwerte, konnte er 
vom Administrationschef die Sentenz hören: „Unsere 
Abonnenten lesen tausendmal lieber Inserate als eure 
Weisheiten." 

Selbstverständlich gab es auch Ereignisse, die vor sol¬ 
cher Gefahr gefeit waren und für die man Raum und Geld 
opferte. Während des Hilsner-Prozesses im Städtchen Pi- 
sek hatte das „Prager Tagblatt" die Weltpresse mittels der 
allerneuesten Erfindung überholt. Alle Korrespondenten 
mußten auf das Freiwerden des einzigen Telefondrahts 
warten, nur die des „Prager Tagblatts" jagten in einem 
Automobil - sie rühmten sich mit zwanzig Kilometer 
Stundengeschwindigkeit - nach Prag und schrieben dort 
ihren Bericht. 

Bei der „Bohemia" dagegen herrschten patriarchalische 
Verhältnisse. Sie war achtzig Jahre alt und ein vornehm¬ 
lich politisches Blatt. Ihre Stellungnahme galt als die aller 
Deutschen in Böhmen, wurde von den Provinzzeitungen 
nachgedruckt und an ausländische Zeitungen telefoniert. 
Der Prager Korrespondent der allmächtigen Wiener 
„Neuen Freien Presse", Herr Hermann Katz, war gleich¬ 
zeitig Redakteur der „Bohemia", auch die Prager Korre¬ 
spondenten anderer Wiener und Berliner Zeitungen saßen 
in unserer Redaktion. 

Die Innenpolitik war ein Seilziehen darum, ob die 
Deutschen oder die Tschechen von seiten der österreichi¬ 
schen Regierung benachteiligt seien, ob der neue Postbote 
der Landgemeinde Melnik ein Tscheche oder ein Deut¬ 
scher sein müsse, ob auf den Wegweisern im Böhmerwald 
die tschechischen Ortsnamen oberhalb oder unterhalb der 
deutschen stehen sollten. Von einer wissenschaftlichen Be¬ 
handlung des Nationalitätenproblems, um das sich in jener 
Zeit die sozialistischen Theoretiker, insbesondere Otto 
Bauer und der eigens nach Österreich gekommene Kau¬ 
kasier Josef Stalin, ernsthaft bemühten, war keine Rede. 
Nur mit einigen sich immerfort wiederholenden Zitaten 
versuchte die „Bohemia" der sterilen Polemik einen gebil¬ 
deten Anstrich zu geben, mit einer Äußerung Mommsens 


84 



über die böhmische Schädelform oder mit dem Vers von 
Friedrich Hebbel: 

Auch die Bedientenvölker rütteln 
Am Bau, den jeder tot geglaubt. 

Die Tschechen und Polaken schütteln 
Ihr strupp'ges Karyatidenhaupt. 

Als Beweis für die Bedeutungslosigkeit und Unbekannt¬ 
heit der Tschechen wurde immer wieder angeführt, daß 
Shakespeare im „Wintermärchen" das Land Böhmen an die 
Meeresküste verlegt. Bei jeder Gelegenheit wurde die 
Fälschung der Königinhofer Handschrift aufs Tapet ge¬ 
bracht; ein Chefredakteur der „Bohemia", Josef Willo- 
mitzer, hatte eine Parodie der Handschrift in Buchform 
veröffentlicht, der Journalist Friedrich Mauthner einen 
satirischen Roman, „Die Böhmische Handschrift". 

Willomitzer und Mauthner gehörten übrigens nicht 
mehr zur journalistischen Gilde, als ich in sie eintrat. 
Willomitzer war gestorben und Mauthner im Ausland der 
große Sprachphilosoph geworden, zu dessen siebzigster 
Geburtstagsfeier sich die Akademien und gelehrten Ge¬ 
sellschaften rüsteten. Aus diesem Anlaß interviewte ich 
seine Schwester, eine hochbetagte Arztgattin, über seine 
Jugendzeit. „Ja, ja", sagte mir die alte Dame, in Erinne¬ 
rungen versunken, „der Fritz, das war ein begabter 
Junge." Aber plötzlich wurden ihre.Züge ganz streng: „Der 
hätte ganz gut sein Doktorat machen können!" 

Aus diesen Worten sprach das deutsche Prag. Wer kei¬ 
nen Titel hatte und nicht reich war, gehörte nicht dazu. 
Das deutsche Prag! Das waren fast ausschließlich Großbür¬ 
ger, Besitzer der Braunkohlengruben, Verwaltungsräte der 
Montanunternehmungen und der Skodaschen Waffenfabrik, 
Hopfenhändler, die zwischen Saaz und Nordamerika hin- 
und herfuhren, Zucker-, Textil- und Papierfabrikanten so¬ 
wie Bankdirektoren; in ihrem Kreis verkehrten Profes¬ 
soren, höhere Offiziere und Staatsbeamte. Ein deutsches 
Proletariat gab es nicht. Die fünfundzwanzigtausend Deut¬ 
schen, nur fünf Prozent der Bewohnerschaft Prags, be¬ 
saßen zwei prunkvolle Theater, ein riesiges Konzertgebäude' 
zwei Hochschulen, fünf Gymnasien und vier Oberreal- 


85 



schulen, zwei Tageszeitungen, die morgens und abends er¬ 
schienen, große Vereinsgebäude und ein reges Gesellschafts¬ 
leben. 

Mit der halben Million Tschechen der Stadt pflog der 
Deutsche keinen außergeschäftlichen Verkehr. Niemals 
zündete er sich mit einem Streichholz des Tschechischen 
Schulengründungs-Vereins seine Zigarre an, ebensowenig 
ein Tscheche die seinige mit einem Streichholz aus einem 
Schächtelchen des Deutschen Schulvereins. Kein Deutscher 
erschien jemals im tschechischen Bürgerklub, kein Tsche¬ 
che im Deutschen Kasino. Selbst die Instrumentalkonzerte 
waren einsprachig, einsprachig die Schwimmanstalten, die 
Parks, die Spielplätze, die meisten Restaurants, Kaffee¬ 
häuser und Geschäfte. Korso der Tschechen war die Fer¬ 
dinandstraße, Korso der Deutschen der „Graben". 

In der Hussitenzeit hatten die Kirchen Prags den Utra¬ 
quismus durchgesetzt, indem sie das Abendmahl in bei¬ 
derlei Gestalt verabreichten. Jetzt waren sie nicht einmal 
in sprachlicher Beziehung utraquistisch, die Deutschen hat¬ 
ten ihre Stammkirchen, die Tschechen die ihren. 

Die deutsche und die tschechische Universität, die tsche¬ 
chische und die deutsche Technische Hochschule waren 
einander so fern, als wäre die eine am Nordpol, die andere 
am Südpol. Jeder von den hundert Lehrstühlen hatte sein 
Pendant auf der anderssprachigen Seite, aber es gab kein 
gemeinsames Gebäude, keine gemeinsame Klinik, kein 
gemeinsames Laboratorium, keine gemeinsame Sternwarte 
(die eine hatte die astronomischen Instrumente Tycho de 
Brahes, die andere die des Johannes Kepler geerbt), keine 
gemeinsame Fachbibliothek und keine gemeinsame Lei¬ 
chenkammer. Für den botanischen Garten der einen Uni¬ 
versität wurde vom Südsee-Archipel eine Pflanze bestellt, 
die man im botanischen Garten der anderen Universität 
hätte blühen sehen können, wenn dies nicht eine Mauer 
verhindert hätte. 

Was jedem Prager selbstverständlich war und jedem 
Nichtprager als unglaubwürdig erscheinen muß, um so 
mehr, wenn man die damalige Rolle des Theaterlebens 
in Betracht zieht, war dieses: Kein tschechischer Bürger 
besuchte jemals das deutsche Theater und vice versa. Ga- 


86 



stierte im tschechischen Nationaltheater die Comedie- 
Frangaise oder das Moskauer Künstlertheater oder ein 
berühmter Sänger, so nahm die deutsche Presse nicht die 
geringste Notiz davon, und die Kritiker, die tagtäglich 
die Namen Coquelin, Stanislawski oder Schaljapin jon¬ 
glierten, verfielen gar nicht auf die Idee, einer solchen 
Vorstellung beizuwohnen. Andererseits vollzogen sich 
Gastspiele im Deutschen Theater, ob es nun solche des 
Wiener Burgtheater-Ensembles, von Adolf von Sonnen¬ 
thal oder Enrico Caruso waren, ohne Kenntnisnahme durch 
die tschechische Öffentlichkeit. 

Daß diese Barriere zwischen den beiden nationalen Get¬ 
tos nimmermehr überschritten werde, darüber wachte auf 
deutscher Seite die „Bohemia" mit flammendem Schwert. 
Der Versuch einiger deutscher und tschechischer Schauspie¬ 
ler, sich an einem Stammtisch zusammenzufinden, wurde 
von ihr als nationaler Verrat gegeißelt, und in diese Geiße¬ 
lung fiel auch die tschechische Presse ein. 

Gleich bei meinem Eintritt in die Redaktion schärfte 
man mir die goldenen Regeln ein: kein tschechisches Wort 
ohne deutsche Übersetzung, denn wir muten unseren Le¬ 
sern nicht zu. Tschechisch zu verstehen. Bei Slava-Rufen 
muß in Klammern bemerkt werden, daß es sich um Hoch- 
Rufe handle, bei Hanba-Rufen, daß es „Nieder" bedeute. 
Der häufige tschechische Frauenname Blazena heißt bet 
uns Beatrice, Bozena bei uns Theodora (die Genannten 
hätten sich unter diesen Taufnamen selbst nicht erkannt). 
Die Brücke am Podskaler Kai, vom Stadtrat zu Ehren des 
großen Tschechen „Palacky-Brücke" benannt, bleibt für un¬ 
sere Leser die Podskaler Brücke. Der „Sokol", eine nach 
Hunderttausenden zählende Organisation, heißt „Tschechi¬ 
sche Turnervereinigung Falke". 

Als Kaiser Franz Joseph nach Prag kam, um die tsche¬ 
chische Jubiläumsausstellung zu besuchen, wurden Emp¬ 
fang, Dekorationen, Ovationen und jede Drehung der 
Hofkaleschenräder spaltenlang beschrieben - doch unver¬ 
mittelt brach die Schilderung mit dem Satz ab: „Hierauf 
betrat Seine Majestät das Ausstellungsgelände." Denn die 
Ausstellung wurde von deutscher Seite totgeschwiegen. 
Nur über eine mißglückte Ballonfahrt in der Ausstellung 


87 



wurde berichtet, natürlich mit Spott. Aber die Tschechen 
spotteten selbst darüber, und der blinde Methodius sang: 
„Schiffe niemals in die Luft / Daß dir nicht die Luft ver¬ 
pufft." 

Die „Deutsche Fortschrittspartei" war bestenfalls in der 
Judenfrage fortschrittlich, in nationaler und sozialer Be¬ 
ziehung war sie so unduldsam wie möglich - getreues 
Abbild der Wiener Liberalen. Selbst in Kunstfragen erwies 
sich die liberale Wiener und Prager Presse als konser¬ 
vativ, oft als reaktionär. Gegen Richard Wagner ver¬ 
öffentlichte sie seine „Briefe an die Putzmacherin", Oscar 
Wilde warf sie Homosexualität vor und Rodin Effekt¬ 
hascherei. 

Wenn oben gesagt wurde, daß sich die jungen Schrift¬ 
steller und Künstler von den offiziellen deutschen Kreisen 
fernhielten und ostentativ im zweisprachigen Cafe Central 
verkehrten, so muß hinzugefügt werden, daß diese Fort¬ 
schrittspartei sich gar nicht um sie bemühte. Die intellek¬ 
tuelle Jugend lehnte auch das Treiben der farbentragen¬ 
den, mensurenschlagenden und kneipenden Studentenkor¬ 
porationen ab. Deren Mitglieder waren „Deutschböhmen" 
oder „Südmährer" (den Begriff „Sudetendeutsche" gab es 
damals noch nicht) und der Mehrheit nach Anhänger des 
Abgeordneten Georg Ritter von Schönerer. Dieser Ritter 
Georg wollte das Schicksal aller deutschsprachigen Gaue 
auf Gedeih und Verderb mit dem der Hohenzollern ver¬ 
knüpfen. Er hatte einen Überfall auf die Redaktion des 
„Neuen Wiener Tagblatts" geleitet, weil dieses durch eine 
falsche Nachricht vom Tode Kaiser Wilhelms „eine Maje¬ 
stätsbeleidigung an unserem angestammten Herrn" began¬ 
gen habe. 

In den Wahlbezirken der Schönerer-Partei blühte der 
Tschechenhaß, lange bevor man der Welt melden konnte, 
daß die Sudetendeutschen durch den tschechoslowakischen 
Staat politisch unterdrückt und durch die Prager Macht¬ 
haber wirtschaftlich vernichtet würden. Damals gab es 
keinen tschechoslowakischen Staat, und die Machthaber 
saßen in Wien und waren Deutsche. 

Gegen die tschechischen Sportvereine bestand ein Boy¬ 
kott, verhängt nach der Dezemberrevolte des Jahres 1897, 


83 



von der ich als Kind am verdunkelten Fenster einen flat¬ 
ternden Ausläufer gesehen hatte. In jener turbulenten 
Woche war das Klubhaus des deutschen Ruder- und Fu߬ 
ballklubs „Regatta" auf der Kaiserwiese in Brand gesteckt 
worden von Demonstranten, die angeblich der Kapitän des 
tschechischen Sportklubs „Slavia", Herr Freya, anführte. 
Deshalb Spielverbot. Nicht nur gegen die „Slavia", son¬ 
dern gegen alle tschechischen Sportvereine. Ein Viertel¬ 
jahrhundert lang, über den Weltkrieg hinaus, dauerte die¬ 
ser Boykott. Der Deutsche Fußballklub, abgekürzt DFC, 
spielte nicht gegen die Tschechen, aber es geschah, daß 
diese in Berlin oder Wien oder Budapest sich mit einer 
Mannschaft maßen, die eine Woche darauf gegen den DFG 
antrat Dadurch entstand eine mathematische Wissen¬ 
schaft, genannt die „Papierform"; sie suchte mit Hilfe von 
Goal- und Eckenzahlen zu errechnen, ob DFC, ob „Slavia" 
besser sei. 

Nur ein einziger deutscher Klub beteiligte sich nicht 
an diesem Boykott, der Fußballklub „Sturm", dessen linker 
Außenstürmer ich war. 

Einmal traten wir zu einem Ligaspiel gegen die „Slavia" 
an, die uns überlegen, weit überlegen war. Wir waren 
entschlossen, das Spiel abzubrechen, wenn sich irgendein 
Anlaß dazu bieten sollte. Zwar würde uns dann das Match 
als verlorenes gerechnet werden, aber wir würden mit 
einer geringeren Zahl von erlittenen Goals in die Schlu߬ 
runde kommen. Die erhoffte Gelegenheit ergab sich, als 
ich der Länge nach hinsauste, weil mir ein kleiner Half- 
back der „Slavia" namens Benes ein Bein gestellt hatte. 
Vielleicht auch hatte er mir kein Bein gestellt. Jedenfalls 
trat er sofort, als wir ihn anschuldigen wollten, vom 
Spielfeld ab, um nicht uns den Anlaß zum Abtreten zu 
geben, ein Schachzug, den er später, als er Präsident der 
Tschechoslowakischen Republik geworden war, leider wie¬ 
derholte. 

So unüberwindlich auch der Abgrund zwischen der deut¬ 
schen und der tschechischen Presse klaffte, es gab dennoch 
geheime Brücken. Vor unserem Redaktionsgebäude sprach 
mich eines Tages ein tschechischer Abgeordneter an, der 
Präsident der Böhmischen Landes-Findelanstalt. Er wolle 


89 



mir, wenn ich ihm das Redaktionsgeheimnis zusichere, 
eine wichtige Information geben. In einer einsamen Wein¬ 
stube zeigte er mir das Verzeichnis der öffentlichen Schu¬ 
len, denen die Pfleglinge der Findelanstalt zugeteilt wur¬ 
den. Es waren durchweg tschechische Schulen. Demnach 
wurden die Findelkinder aus den deutschen Gebieten Böh¬ 
mens (dreißig Prozent) ihrer Nation entfremdet, slawi- 
siert. 

Ich übergab das Verzeichnis unserer politischen Redak¬ 
tion, die Zeter und Mordio schrieb. Daraufhin verteidigte 
die tschechische Presse das Vorgehen ihrer Findelanstalt. 
Der Präsident der Anstalt antwortete auch selbst „auf den 
niederträchtigen Angriff aus dem deutschen Lager* und 
druckte den Jahresbericht der Wiener Landes-Findelanstalt 
ab, aus dem hervorging, daß die es mit den slawischen 
Kindern ebenso mache. Dies aber und nur dies sei ver¬ 
werflich, weil Wien seine Stellung als Reichshauptstadt zur 
Germanisierung von Kindern aus nichtdeutschen Kron- 
ländern mißbrauche. 

Immer schärfer ging die Polemik hin und her, beschäf¬ 
tigte Landtag und Reichstag, Verwaltungsgericht und 
Obersten Gerichtshof und zog sich bis zum Amtsablauf 
des Präsidenten hin. Vor Beginn der Affäre hatten seine 
Konnationalen aus verschiedenen Gründen beschlossen, ihn 
nicht mehr zu kandidieren. Nunmehr wurde er einstimmig 
wiedergewählt - unmöglich konnte man einen Mann fal¬ 
lenlassen, der mitten im Kampf gegen den nationalen 
Feind stand. 

Ich selbst schrieb keine Politik, die nationalen Streite¬ 
reien gefielen mir nicht. Meine Fußballvereinigung „Sturm", 
gegen die die „Bohemia" die heftigsten Notizen geschleu¬ 
dert hatte, bevor ich in die Redaktion eintrat, spielte wei¬ 
ter mit tschechischen Mannschaften. Von den Telefonistin¬ 
nen des Postamts verlangte ich die Verbindung tschechisch 
und telefonierte aus der Redaktion mit tschechischen Be¬ 
amten in ihrer Sprache. Meine Kollegen knurrten: „Wie 
können wir verlangen, daß man auf den Ämtern deutsch 
sprechen soll, wenn unsere eigenen Herren tschechisch 
sprechen I" 

Nun wird vielleicht der Leser fragen, wieso ein journa- 


90 



listischer Anfänger sich solche Abweichungen von der 
Haltung seiner Zeitung leisten könne. Wird denn nicht 
selbst ein erfahrener Redakteur, der die Richtung seiner 
Zeitung zu bestimmen glaubt, weit mehr von ihr be¬ 
stimmt? 

Ja, das ist so. Aber ich hatte eine Sonderstellung. Ich 
verdankte sie nur der Tatsache, daß ich jung war. Die 
Redaktion war überaltert, und die alten Herren ließen 
den gewähren, der ihnen Arbeit abnahm. 



DIE ALTEN HERREN 


Nach dem italienischen Krieg von 1859 und nach dem 
preußischen von 1866 hatte die in ihren Fundamenten 
erschütterte österreichische Monarchie ihren Völkern einige 
Freiheiten gewähren müssen; Parteien und Vereine ent¬ 
standen und mit ihnen eine Flut von Zeitungen und Zeit¬ 
schriften. Ein zweiter Aufschwung der Presse erfolgte 
durch die Aufhebung des Zeitungsstempels. 

Die jungen Journalisten von Anno Königgrätz und die 
von Anno Zeitungsstempel waren inzwischen zu Greisen 
herangewachsen, sie hatten ein halbes Jahrhundert in 
Druck befördert und waren blasiert. Mochte auch die ori¬ 
ginellste Nachricht eintreffen, so erinnerten sie daran, daß 
sich die gleiche Sache schon vor soundsoviel Jahren er¬ 
eignete, und damals weit sensationeller. „Es ist schon alles, 
alles einmal dagewesen", mit dieser Weisheit - fürwahr 
keiner Weisheit, die einem Journalisten ansteht - redi¬ 
gierten sie in den Weltkrieg hinein. Als einmal jemand 
kreidebleich auf einen der Alten zustürmte: „Kaiser Franz 
Joseph ist gestorben!", zuckte der Angesprochene nur 
gleichmütig die Achseln: „Na und? Das war doch zu er¬ 
warten bei einem so alten Mann." 

Unsere Lokalrubrik hieß „Local- und Provincial-Nach- 
richten", obwohl sich längst kein Lokal mit einem c und 
keine Provinz ohne ein z schrieb. Ich schlug vor, die bei¬ 
den Buchstaben zu ändern, worauf ich die sarkastische 
Antwort bekam: „Warum nicht! Wir können ja ,Lozal- 
und Provinkial-Nachrichten' schreiben." 

Unser Nachtredakteur war in seiner Jugend auf dem 
böhmischen Schloß Königswart Hilfssekretär des Exkanz¬ 
lers Metternich gewesen. Wahrscheinlich dachte man in 
der Redaktion, er habe seinem bisherigen Chef staatsmän- 
nische Weisheit abgeguckt. Aber diese beschränkte sich 
auf den Satz: „Seine Durchlaucht Fürst Metternich hätte 
das ganz anders gemacht." Sein Ressort war außer dem 


92 



Nachtdienst die Abfassung von Nekrologen. Als der Erb¬ 
prinz eines deutschen Großherzogtums vom Pferde stürzte 
und einen Schädelbruch erlitt, ließ unser Nachtredakteur 
einen Nachruf aussetzen und wartete auf die Todesnach¬ 
richt Der Verunglückte erholte sich jedoch, heiratete, be¬ 
stieg den Thron, bekam Kinder und Enkel, erlebte Krieg 
und Gefangennahme, Vertreibung und Wiedereinsetzung 
- und jede dieser Phasen wurde von unserem Nacht¬ 
redakteur seinem vorbereiteten Nachruf sorgfältig ange¬ 
fügt. Bis schließlich die Todesnachricht kam. Ich sehe ihn 
noch vor mir, wie er frohlockend in den Setzersaal eilt, das 
in verschiedenem Abtönungen vergilbte Manuskript zwi¬ 
schen Daumen und Mittelfinger schwingend: Der Schmet¬ 
terling, dem er ein ganzes Leben lang nachgejagt, war ihm 
nun endlich ins Netz gegangen. 

Damit machte er die Schlappe wett, die er kurz vorher 
erlitten, als er eine telefonische Mitteilung über die Auf¬ 
führung von Tolstois „Macht der Finsternis" aufnahm. Ob 
es seinem mangelhaft gewordenen Gehör, seiner mangel¬ 
haft gewordenen Bildung oder ob es der undeutlichen Tele¬ 
fonverbindung zuzuschreiben war - jedenfalls erschien 
im Blatt die Notiz über ein Drama „Maxi Winternitz". 

Ein anderer Kollege, Prager Korrespondent eines Wie¬ 
ner deutschnationalen Blattes, telefonierte diesem minde¬ 
stens zweimal im Monat die politische Lage und immer 
in der gleichen Form: „Die Nachricht von... hat in den 
deutschen Kreisen Böhmens eine tiefgehende und nur all¬ 
zu berechtigte Empörung hervorgerufen. Man muß sich 
fragen, wie lange es die Regierung wagen wird, die durch 
die letzten Maßnahmen erbitterte deutsche Bevölkerung 
noch weiterhin zu reizen. Wie Ihrem Korrespondenten aus 
maßgebenden politischen Kreisen versichert wird, wird 
dieser neuerliche, gegen alle nationalen Empfindungen ge¬ 
richtete Streich eine Interpellation im Abgeordnetenhaus 
und die Veranstaltung nachdrücklichster Protestkundgebun¬ 
gen zur Folge haben. Caveant consules!" 

Wenn dieser Kollege abends aus dem Büro ging, so hin¬ 
terließ er dem Nachtredakteur sein schon hundertmal ver¬ 
wendetes Expose: „Falls etwas kommt, so füllen Sie das 
hier aus und blasen Sie's nach Wien." 


93 



Die anachronistischste Figur in unserer Redaktion war 
ohne Zweifel Herr Lobing. Mehr als vierzig Jahre lang 
war er Leitartikler gewesen, das heißt, er hatte an mehr 
als vierzigmal dreihundertfünfundsechzig Abenden eine 
Nachricht oder einen Standpunkt oder eine Forderung mit 
Empörung, Belehrung oder Verehrung behandelt, bis alles 
zusammen genau zwei Spalten a hundert Zeilen lang war 
und sich an der Spitze des Blattes sehen lassen konnte. 

Von der neunten bis zur zwölften Nachtstunde saß Lo¬ 
bing an seinem Leitartikel. Niemand durfte es wagen, auch 
nur ein Wort an ihn zu richten, denn er schrie jeden Störer 
mit Stentorstimme an: „Zur Erregung brauche ich Ruhe!" 

Selbst Nachrichten, die sich auf das Thema des in 
Entstehung begriffenen Artikels bezogen, nahm er wäh¬ 
rend des Schöpfungsaktes nur im äußersten Notfall ent¬ 
gegen. Telegraf und Telefon waren für ihn Büttel Luzifers, 
ausgesandt, um die schönstgeschliffenen Prämissen ins 
Gegenteil zu verkehren und die eben gezogenen Folgerun¬ 
gen „zur Situation", ja die Situation selbst aufzuheben. 
Aber jenen Neuerungen gegenüber, von denen dem Leit¬ 
artikel keine direkte Gefahr zu drohen schien, zeigte sich 
Lobing modern, sogar die Erfindung des Automobils er¬ 
weckte sein Wohlwollen, wenngleich er seinem Lob die 
Einschränkung hinzufügte: „Ein Verkehrsmittel wird es 
allerdings niemals werden." 

Was er noch mehr haßte als Telefon und Telegraf, war 
das „Klavier des Teufels". In der Ära des Handsatzes war 
der gänzliche Umbau eines Leitartikels unmöglich gewe¬ 
sen, der Setzer brauchte genausoviel Zeit zum Setzen, 
wie Lobing zum Dichten brauchte. Als das Klavier des 
Teufels, die erste Setzmaschine, aufgestellt wurde, barg 
jede noch so spät einlaufende Nachricht die Gefahr, in 
einen Leitartikel umgemünzt zu werden. Allerdings nicht 
von Lobing selbst. Ihm, der vierzig Jahre lang allmitter¬ 
nächtlich das Büro in der Gewißheit verlassen hatte, der 
Welt die richtige staatsmännische Beurteilung „zur Situa¬ 
tion" geliefert zu haben, ihm widerfuhr es nun wiederholt, 
daß er morgens an der Spitze des Blattes etwas las, was 
mit dem gestern abend von ihm Verfaßten in keiner Weise 
identisch war. 


94 



Dem senil werdenden Lobing war ein anderer Leit¬ 
artikler zur Seite gesetzt worden, nach einiger Zeit wurde 
Lobing überhaupt nicht mehr herangezogen, und als er in 
den Ruhestand versetzt wurde, vergaß der Herausgeber, 
ihm davon Mitteilung zu machen. So wußte Lobing nicht, 
daß er kein Redakteur mehr, sondern nur ein pensionier¬ 
ter Redakteur war, und nahm an jedem Monatsersten 
seine Pension in Empfang, die er für das Gehalt hielt. Die 
Bürostunden verbrachte er nach wie vor in der Redak¬ 
tion, würdig und allzeit leitartikelbereit die Räume durch¬ 
messend. 

Während des Weltkrieges und auch nachher machten 
sich die Kollegen oft das Gaudium, den alten Lobing, der 
die Zeitung nicht einmal mehr las, nach seiner Ansicht 
über aktuelle Ereignisse zu fragen, und ergötzten sich an 
seiner ahnungslosen, gespreizten Antwort. Allmählich hörte 
dieser Spaß auf, ein Spaß zu sein, und man ließ den Alten 
in Frieden und Feierlichkeit durch die Redaktionszimmer 
wandeln. An einem Sommertag des Jahres 1923 sprach ich 
ihn an: „Was sagen Sie dazu, Herr Lobing, daß das Par¬ 
lament die Abschaffung der Todesstrafe beschlossen hat?" 

Er hielt inne in seinem Löwenkäfigsgang und hob be¬ 
lehrend den Finger: „Wobei füglich zu bedenken ist, daß 
jede beschlossene Änderung der Verfassung oder der Ge¬ 
setze zuvörderst der Approbation des Kaisers bedarf." 

„Welches Kaisers?" fragte ich verblüfft. 

Den Namen des Kaisers vorsichtig vermeidend, ant¬ 
wortete er: „Seiner Apostolischen Majestät des Kaisers von 
Österreich, Königs von Ungarn, Königs von Böhmen .. 

Sicherlich hätte er den ganzen großen Titel zu Ende 
deklamiert, wenn ich ihn nicht unterbrochen hätte: „Wir 
haben doch keinen Kaiser mehr, Herr Lobing." 

„Höre ich recht? Keinen Kaiser mehr? Was haben wir 
denn, mit Verlaub zu fragen?" 

„Eine Republik." 

Ganz fest sah er mich an. „Seit welchem Zeitraum soll 
denn diese von Ihnen behauptete Staatsform der römi¬ 
schen res publica hierzulande Kraft und Geltung haben?" 

„Seit fünf Jahren schon, Herr Lobing." 

Er zuckte zusammen. „Seltsam und befremdlich!" Dann 


95 



wandte er sich brüsk um und nahm mit erregten Schrit¬ 
ten seinen Aufundabgang wieder auf. 

Ich schaute dem Alten nach, der einst alles Geschehen 
der Zeit ausführlich und kategorisch beurteilt hatte und 
nun vom Ausgang des Weltkrieges, vom Umsturz, von 
der Schaffung des tschechoslowakischen Staats keine 
Kenntnis mehr besaß. Vielleicht habe ich ihm diese Tat¬ 
sachen zu rücksichtslos beigebracht, ihn dadurch gekränkt, 
daß er vor mir eine beschämende Lücke bloßlegen mußte. 
Ich eilte ihm ins andere Zimmer nach, um mich zu ent¬ 
schuldigen: „Aber, Herr Lobing, Sie wußten natürlich, daß 
wir eine Republik haben. Sie wollten doch nur einen 
Spaß..." 

„Nein", fiel mir Lobing ins Wort, elementar brach ein 
jahrzehntealter Groll gegen seine Hintansetzung hervor, 
Verbitterung und Beschwerde, „nein, ich hab das natürlich 
nicht gewußt. Ich bin ja in dieser Redaktion das fünfte 
Rad am Wagen. Mir sagt man doch nichts." 

Und dieses schreiend, ballte er die Fäuste gegen einen 
Feind, der ihm die wichtigsten Ereignisse verheimlichte. - 

Es gehörte zur Tradition, daß die polemische Glosse, 
die neben dem Leitartikel der Zeitung den politischen 
Charakter gab, vom Chefredakteur selbst geschrieben 
wurde. Dieser hatte sich, als er noch Provinzadvokat war, 
um ein Reichstagsmandat beworben, wozu ihn sein mäch¬ 
tiger holzfarbener. Backenbart, der nahe den Brustwarzen 
in Spitzen auslief, wohl prädestinierte. Aber kurz vor der 
Wahl bot ihm sein millionenschwerer Gegenkandidat die 
Chefredaktion der „Bohemia" an, wenn er von der Kan¬ 
didatur zurücktrete. Das Geschäft war ein sicheres und 
dauerndes, wogegen die Wahlaussichten schwankten und 
ein Abgeordnetenmandat nach sechs Jahren ablief. So 
nahm er den Handel an, wurde Chefredakteur, bekleidete 
wichtige Funktionen in der Fortschrittspartei und im Deut¬ 
schen Volksrat für Böhmen und schrieb tagtäglich die Po¬ 
lemik gegen die tschechische Presse, obwohl er kein Wort 
Tschechisch verstand. Er ließ sich einfach erzählen, welche 
„Perfidie" oder welche „Ignoranz" sich eines der „Tsche¬ 
chenblättchen" heute geleistet habe, strich entschlossen die 
hölzernen Flügel seines Gesichts bis zu den Brustwarzen 


96 



hinab und bestieg dann seinen Chefredakteursfauteuil, um 
die kühne Attacke zu reiten. Niemals ließ er sich die geg¬ 
nerische Replik übersetzen. „Was können die schon darauf 
antworten!" meinte er. 

Einer seiner Witze bestand darin, in die Polemik Be¬ 
merkungen, wie „die neu frisierte falsche Behauptung des 
Herrn Palacky", einzufügen. Mit der „frisierten falschen 
Behauptung" war die Perücke des vor einem Menschen¬ 
alter gestorbenen Professors Palacky gemeint. Diese An¬ 
spielung konnte niemand mehr verstehen, und das war 
dem Chefredakteur eben recht. Er wollte dartun, wie we¬ 
nig er sich um die Vorgänge im tschechischen Lager küm¬ 
mere, obwohl er gegen sie aufzutreten genötigt sei. 

Besonders hochmütig schauten er und die anderen Her¬ 
ren der Redaktion auf die Angriffe der Zeitung „Union" 
herab. Die „Union" war eine gemeinsame Gründung der 
alttschechischen Bürgerpartei und des tschechischen Gro߬ 
grundbesitzes. Die Idee war, durch ein deutsch geschriebe¬ 
nes Blatt die tschechischen Auffassungen den deutschen 
Lesern, vor allem den Wiener Staatsmännern und den Po¬ 
litikern anderer Provinzen, direkt zu vermitteln. 

Aber die Durchführung der Idee mißlang. Wer tsche¬ 
chisch gesinnt war, las tschechische Blätter, wer deutsch 
gesinnt war, las deutsche, und für ein paar Berufspolitiker 
und Pflichtabonnenten ließ sich keine anständige Tages¬ 
zeitung machen. Die Redakteure, meistens ehemalige 
Gutsbeamte, beschränkten sich darauf, tschechische Reden, 
Beschlüsse und Blätterstimmen zu übersetzen. Das Feuille¬ 
ton war einer Dame anvertraut, die mit Vorliebe deutsche 
Klassiker zitierte, obwohl sie sie jedenfalls nur in tsche¬ 
chischer Ausgabe besaß. So mußte sie rückübersetzen: „In 
betreff des jetzt doch eingefundenen Frühlings möchten 
wir mit dem Titelhelden des ausgezeichneten Theater¬ 
stücks Friedrich von Schillers, ,Waldstein', ausrufen*. ,Sie 
treffen zwar spät ein, Herr Graf Isolani, aber es ist schön 
von Ihnen, daß Sie wenigstens eintreffen.' " Im Original 
sagt Wallenstein kürzer: „Spät kommt Ihr, doch Ihr 
kommt." 

Nur ein einziger Redakteur, Maurus Bloch, fiel aus dem 
Rahmen der „Union". Seine Leitartikel hatten eine sehr 


7 Kisch VII 


97 



persönliche Note. Von dem jeweiligen Anlaß offenkundig 
tief bewegt, rief der Verfasser den Leser an, selbst zu 
entscheiden. In den polemischen Notizen fühlte sich Mau¬ 
rus Bloch derart in den Angegriffenen ein, daß es fast 
wie ein Mangel an eigener Persönlichkeit anmutete. Schlug 
er dann auf den Gegner ein, so war es, als ob er sich 
selbst geißelte. Maurus Blochs stilistische Wandlungsfähig¬ 
keit verblüffte mich immer wieder, und um ihretwillen 
habe ich jahrelang täglich die „Union" gelesen. 

Nachdem das Blatt eingegangen war, bekam Maurus 
Bloch, schon ein fünfzigjähriger Herr, durch Vermittlung 
der tschechischen Politiker einen hohen Posten beim öster¬ 
reichischen Ministerratspräsidium in Wien und, als auch 
Österreich einging, einen noch höheren in der neuen Tsche¬ 
choslowakei. 

Als Pressechef der Regierung saß er nun auf der Prager 
Burg. Sein Amtszimmer war der sechsfenstrige Tizian¬ 
saal; darin pflegte sich einst Kaiser Rudolf II. mit den 
Frauenbildnissen Tizians tagelang einzuschließen, des Völ¬ 
kerlärms nicht achtend, der den Beginn des Dreißigjähri¬ 
gen Krieges ankündigte. Jetzt hingen keine Tizians mehr 
an den Wänden, nur ein Venezianer Spiegel, dessen Spie¬ 
gelfläche durch ein vergrößertes Photo Masaryks ersetzt 
war. 

Wie es vorkommt, beruhte meine Sympathie für die 
Artikel Maurus Blochs auf Gegenseitigkeit. Sooft ich ihn 
auch besuchte, immer redete er stundenlang mit mir von 
den vergangenen Zeiten der Prager Journalistik. Mit aus¬ 
ländischen Korrespondenten könne er das nicht, die seien 
ortsfremd, und mit seinem Stab erst recht nicht, das seien 
geborene officiosi, Protektionskinder, aber keine Journa¬ 
listen, und das „Fieber bei Blattschluß" hätten sie nie mit¬ 
gemacht. Was wissen die! 

Bei einem meiner Besuche fand ich ihn augenkrank. Die 
sechs Fenster des Tiziansaals standen offen, aber die Ja¬ 
lousien waren herabgelassen, so daß es stockdunkel war. 
In dieser Finsternis tobte Maurus Bloch gegen seine 
Krankheit und gegen seinen Posten. Bald tobte er von 
rechts, bald von links, ich hätte kaum gewußt, auf welcher 
Seite des Saals er war, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein 


98 



Windhauch die Jalousien bewegt und einen Lichtstrahl auf 
Blochs schwarze Brillengläser geworfen hätte. Manchmal 
sprang auch auf Masaryks spiegelnden Rahmen ein kurz¬ 
fristiger Sonnenstrahl. 

„Was hat das alles für einen Sinn!" brummte es bald 
vom Schreibtisch, bald von der Tür her. „Gegen wen soll 
ich denn Polemiken führen von der Höhe der Burg herab? 
Heute hat man mir einen Artikel aus der ungarischen 
Presse vorgelesen, auf den ich verdammt gern geantwortet 
hätte. Der Budapester Herr hat zwei Jahre lang von uns 
Subvention bezogen und das Gegenteil geschrieben von 
dem, was er jetzt verzapft. Aber das darf ich nicht sagen. 
Gar nichts darf ich sagen. Farbloses Zeug muß ich schmie¬ 
ren für die Staatskorrespondenz, diplomatische Noten stili¬ 
sieren und Regierungserklärungen . . 

„Verfassen Sie auch Reden für Präsident Masaryk, Herr 
Bloch?" fragte ich in die Richtung, aus der sein Schelten 
kam. 

Ein Lachen war die Antwort. „Sie glauben wohl, ich 
kann Amtsgeheimnisse verraten, weil man hier nichts 
sieht? Ein Amtsgeheimnis gilt mindestens ebensoviel wie 
ein Redaktionsgeheimnis!" 

„Das ist eine bejahende Antwort, Herr Bloch." 

„Lieber Freund, versuchen Sie nicht, allzu schlau zu 
sein! Aber ich kann Ihnen ruhig die Wahrheit sagen. Ich 
schreibe wirklich für den Herrn Präsidenten: jede An¬ 
sprache, jeden Dank auf eine Begrüßung, jede Antwort 
auf eine Delegation." 

„Also war ich doch nicht allzu schlau, Herr Bloch." 

„Doch, Sie waren allzu schlau. Der Herr Präsident be¬ 
steht darauf, daß ich die Sachen abliefere, aber, zum Teu¬ 
fel, er verwendet sie nicht. Nicht ein einziges Wort, nicht 
einen einzigen Gedanken, nicht die Linie des Ganzen! Er 
liest mein Manuskript, legt es neben sich und schreibt 
etwas total anderes. Vielleicht ist es besser als meines, ich 
muß sagen, es ist besser als meines .. . Aber ich liebe das 
nicht. Das ist mir selbst in Wien nie passiert, da hat man 
mir nicht einmal..." 

Er brach den Satz ab. 

Ich wußte, was ihm durch den Kopf ging. Zu genau 


99 



hatte ich seinerzeit den Stil von Maurus Bloch studiert 
um ihn nicht auch dann zu erkennen, wenn er sich unter 
einem nom de guerre versteckte. Ich hatte diesen Stil in 
dem berühmten Manifest erkannt, das Kaiser Franz Jo¬ 
seph gleichzeitig mit der Kriegserklärung „An meine Völ¬ 
ker" gerichtet hatte. Daß der Kaiser sich darin nicht „Wir, 
von Gottes Gnaden" nannte, sondern in Ich-Form sprach, 
daß in seinen Worten das Herz eines Landesvaters pochte 
und daß das Vorgefühl seines baldigen Todes rührend 
hindurchschimmerte, daß er darin seine Landeskinder mit 
zitternden Händen beschwor, ihm zu glauben, wie sehr er 
sich gegen den Krieg gesträubt - das alles konnte mich 
nicht täuschen. Dieses Ich war nicht das des alten Kaisers, 
es war, wie das pochende Herz und die zitternden Hände, 
das Ich des Herrn Maurus Bloch. 

Hundertmal war während des Krieges diese Proklama¬ 
tion zitiert worden, in jeder Ansprache an die Truppen, 
in jeder Feldpredigt, in jedem Armeebefehl, in jedem Ar¬ 
tikel kehrten ihre Worte wieder. Und je öfter sie wieder¬ 
holt wurden, desto mehr festigte sich meine Überzeugung, 
daß sie von Maurus Bloch stammten. 

.. nicht einmal das Manifest des Kaisers korrigiert", 
vollendete ich seinen Satz. 

„Wie? Wovon sprechen Sie? Phantasieren Sie?" 

Ich zuckte die Achseln, aber das konnte er nicht sehen. 
Er konnte nur hören, daß ich keine Antwort gab. 

„Welches Manifest meinen Sie?" 

„Das Manifest bei der Kriegserklärung trägt Ihre Hand¬ 
schrift, Herr Bloch." 

Es war windstill draußen und stockdunkel drinnen, denn 
die Jalousien bewegten sich nicht. Aber ich wußte, daß 
Maurus Bloch unmittelbar vor mir stand, ich spürte sei¬ 
nen Atem. Was ich da rede, sei Unsinn. Niemand habe 
bisher eine solche Vermutung geäußert. „Von wem haben 
Sie das gehört?" 

Darauf sagte ich, es sei ganz und. gar unvorstellbar, 
daß einer von den kaiserlich-königlichen Pressebeamten, 
die in den offiziösen Organen ihre Apologien ablagerten, 
eines solchen Stils fähig gewesen wäre. 

„Fanden Sie denn die Proklamation wirklich so gut?" 


100 



„Ich fand sie meisterhaft. Ich fand sie menschlich. Sie 
konnte nicht wirkungsvoller sein. Bedenken Sie, Herr 
Bloch: der unpersönliche Kaiser wurde plötzlich persön¬ 
lich, ein unzugänglicher Greis wendet sich an seine Fa¬ 
milie, um ihr seinen Schmerz zu klagen." 

Die Stimme von Maurus Bloch lächelte. „Nun, nun! Sie 
sind ja ganz begeistert. Eine solche Kritik habe ich noch 
nie gehört... also gut." Er gestand mir die Autorschaft 
ein. Aber ich möge darüber schweigen, solange er lebe. 
„Sehen Sie", sagte er, „die Österreichischen Republikaner 
würden mir übelnehmen, daß ich für den Kaiser geschrie¬ 
ben habe, die tschechoslowakischen Republikaner würden 
mir übelnehmen, daß ich für den österreichischen Kaiser 
geschrieben habe. Dabei dankt mir die Tschechoslowakei 
ihre Existenz. Im letzten Manifest Kaiser Karls habe ich 
eine Reorganisation im Sinne der nationalen Selbstbestim¬ 
mung versprochen. Auf Grund dieser Selbstbestimmung 
zerfiel die achthundertjährige Monarchie binnen vierund¬ 
zwanzig Stunden." 

Er war stehengeblieben, während er das sagte, ich wußte 
nicht, nach welcher Seite des Dunkels ich meine Antwort 
richten sollte: „Alle Achtung, Herr Bloch! Noch nie hat 
ein Journalist unter so klingenden Pseudonymen geschrie¬ 
ben wie Sie. Ghostwriter von zwei Kaisern...!" 

„Zwei Kaisern?" unterbrach er mich. „Ich werde Ihnen 
etwas zeigen." Er zog eine der Jalousien hoch, ging zur 
Zimmertür und versperrte sie. Dann holte er aus einem 
Schreibtisch eine groß gedruckte Proklamation in Plakat¬ 
form hervor, an deren Rand mit Bleistift und Tinte Kor¬ 
rekturen gemacht waren. „An meine geliebten Völker", 
lautete die Aufschrift, „Franz III., Kaiser von Österreich, 
König von Ungarn, König von Böhmen, etc.", lautete die 
Unterschrift. 

Niemals hatte es einen Kaiser Franz III. von Österreich 
gegeben. Was bedeutete dieses Manifest, von wem ist es? 
fragte mein Blick die schwarzen Brillengläser Maurus 
Blochs. 

„Sie wissen nicht, was das ist?" 

Ich schüttelte den Kopf. 

„Raten Sie." 


101 



„Ich habe nicht die leiseste Ahnung." 

„Das ist die Proklamation für die Thronbesteigung des 
Erzherzogs Franz Ferdinand. Ich hatte sie jahrelang vor¬ 
bereitet Kaiser Franz Joseph konnte doch jeden Tag ster¬ 
ben. Wiederholt hat man sie mir geändert die Korrekturen 
mit Tinte sind vom Kabinettchef Graf Bardolf, die mit 
Bleistift vom Thronfolger selbst Daß der vor dem alten 
Kaiser sterben wird, haben wir alle drei nicht erwartet." 

Maurus Bloch schloß die nie erschienene Kaiserprokla¬ 
mation in das Schubfach und ließ die Jalousien herab. 
«Ja, ja", klagte er dabei, „so bleiben mir die besten Sa¬ 
chen im Übersatz." 

Er war wieder im Dunkel verschwunden, aber er hatte 
Licht geleckt und erzählte weiter von seinen pseudonymen 
Arbeiten. Nachdem 1917 der französische Ministerpräsi¬ 
dent Georges Clemenceau das private und geheime Sepa¬ 
ratfriedensangebot Kaiser Karls, den sogenannten Sixtus- 
Brief, der Öffentlichkeit preisgegeben hatte, mußte Kaiser 
Karl dazu Stellung nehmen. So schrieb Maurus Bloch, 
Clemenceau habe einen Satz unterschlagen, in welchem 
ich (Kaiser Karl) die französischen Ansprüche auf Elsaß- 
Lothringen als unberechtigt bezeichnete. 

„Wissen Sie, das war mir vorgeschrieben worden. Ge¬ 
wöhnlich aber bekam ich nicht einmal eine Andeutung 
über das, was ich schreiben sollte. Eines Abends rief mich 
Minister Geßmann an, ich solle ihm die Grabrede für den 
eben verstorbenen Wiener Bürgermeister Karl Lueger auf¬ 
setzen. Sie erinnern sich sicherlich noch an das Aufsehen, 
das diese Rede machte. Geßmann kündigte mit ihr eine 
Schwenkung der christlich-sozialen Politik in liberalere 
Bahnen an. Am meisten erstaunt war wohl Geßmann selbst 
über seine Worte. Immerhin - er hat diese Worte er¬ 
füllt." 

So behaglich sich Maurus Bloch, geschützt durch die 
Dunkelheit des Raumes, in die Erinnerung an die Zeit 
vertiefte, da er Kaisern und Staatsmännern bei deren 
denkwürdigen Kundgebungen die Feder geführt, Weltpoli¬ 
tik und Weltgeschichte gemacht hatte, weit stolzer schien 
er auf die Projektile der Polemik zu sein, die er einstmals 
in der „Union" gegen die deutschen Journalisten Prags 


102 



abgeschossen. Er wollte genau wissen, was man in unserer 
Redaktion zu diesen Angriffen gesagt hatte. Unmöglich 
konnte ich ihm antworten, daß außer mir bei uns niemand 
die „Union" zu lesen pflegte. So stotterte ich etwas, jedoch 
er merkte meine Verlegenheit gar nicht. „Ja, ja", kicherte 
er aus einer Ecke des finsteren Zimmers, „euch wird nicht 
sehr wohl zumute gewesen sein." 



KÄMPFE UM DIE LOKALNOTIZ, 
SPEZIELL UM SELBSTMORDE 


Was ausländische Meldungen anbelangt, waren die 
sechzehn Prager Tageszeitungen auf eine einzige Nach¬ 
richtenagentur beschränkt, die amtliche. Die Informatio¬ 
nen aus dem böhmischen Landtag und von den politischen 
Parteien besorgten sich die Zeitungen selbst, aber das 
stellte beileibe keinen Lesestoff dar. 

Wollte man Originalnachrichten fürs Publikum haben, 
mußte man sie aus dem Strom des lokalen Lebens angeln. 
Dennoch hatte jede Zeitung nicht mehr als einen Reporter, 
und auch der stand nicht hoch im Rang. Er war der Tag¬ 
löhner der Journalistik, le journalier, bezog meist nur ein 
Zeilenhonorar, bangte darum, es täglich zu verdienen, 
bangte darum, es stündlich zu verlieren. 

„Bin ich ein Vogel, daß ich an zwei Stellen zugleich sein 
kann?" mochte er grollen wie der Barbier im Börsenwitz. 
Nein, auch der Lokalreporter hat nicht die Fähigkeit, an 
zwei Stellen zugleich zu sein, obwohl ihm das, als er noch 
ganz allein und nur für sich auf Nachrichten ausflog, be¬ 
sonders nötig gewesen wäre. Während er einen Mord 
recherchierte, konnte anderswo ein Gebäude zu Schutt und 
Asche verbrennen. 

Zum Glück fand er den Ausweg, den schon die Urgesell¬ 
schaft betreten hatte: den Tauschweg. „Gib mir deine 
Beute", sagte der Jäger zum Fischer der benachbarten 
Sippe, „und ich gebe dir dafür meine." Es entstand ein 
Markt, auf dem jeder seine Produkte anbot, und weitere 
Teilung der Arbeitsprozesse. 

Anfangs trafen sich Notizenjäger und Notizenfischer 
aller Zeitungen jeden Abend in einem Absteighotel auf 
dem Wenzelsplatz. Diese Zusammenkünfte wurden von 
ihren Teilnehmern „Börse der Nachrichten" genannt. Da 
man aber nicht auf Grund von Warenproben oder gar mit 
unsichtbaren Werten handelte, vielmehr die Ware greif- 


104 



bar vorlag, war diese Börse in volkswirtschaftlichem Sinne 
eigentlich keine Börse, sondern ein Markt. Andererseits 
stellten die Waren nur Papierwerte dar, Börsenmeldungen 
notierten oder wurden notiert, und von einer Barzahlung 
war keine Rede. Also war es eigentlich doch eine Börse 
und kein Markt. Übrigens ist das ganz egal, denn von der 
Börse stand niemals ein Wort in den Zeitungen, obwohl 
sie nur für diese ihre Tätigkeit entfaltete. 

Als sich die Leserkreise einiger Zeitungen zu über¬ 
schneiden begannen, wollte jede mehr Nachrichten brin¬ 
gen als die Konkurrenz, jede wollte der anderen zuvor¬ 
kommen, womöglich einen „scoop" haben, wie man in 
Amerika sagt, einen „Solokarpfen", wie man in Prag sagte. 

So spaltete sich die Einheitsbörse. Es gab nun zwei. Die 
eine tagte im Restaurant Chodiera in der Ferdinand¬ 
straße, mit Ausnahme eines kurzen Interims, in dem das 
Restaurant polizeilich geschlossen war, weil eine Gruppe 
tschechischer Stammgäste die im Stiegenhaus aufgestellte 
Kaiserbüste kurz und klein geschlagen hatte. Die andere 
Börse tätigte in einem Hinterzimmer des Restaurants 
Brejschka von sechs bis acht Uhr abends ihre Geschäfte. 

Innerhalb jeder der beiden Börsen waren die Aufgaben¬ 
kreise verteilt. Ein Reporter hatte täglich das Krankenhaus 
zu besuchen und die eingelieferten Fälle von Distinktion 
zu notieren, ein anderer das Rathaus, um die Maßnahmen 
der Kommunalverwaltung festzustellen, ein dritter hielt 
die Verbindung mit der Feuerwehr, ein vierter die mit 
dem Gendarmeriekommando aufrecht. 

Die Polizei war dreißig Jahre lang von Herrn Melzer 
besorgt worden, und ich war auf der Brejschka-Börse sein 
Nachfahr, sieben Jahre lang. Wenn von der Polizei eine 
Nachricht offiziös ausgegeben wurde oder ein großer Vor¬ 
fall die Beamten in Bewegung hielt, so hatte ich davon alle 
Börsenkollegen zu informieren. Erfuhr ich eine Nachricht 
privat, die nicht im Bereich der Gefahr lag, auch von der 
Konkurrenzbörse ergattert zu werden, durfte ich sie für 
meine Zeitung allein behalten oder - natürlich nur an ein 
Mitglied unserer Börse - gegen eine andere Spezialnach¬ 
richt austauschen. 

Für das Restaurant Chodiera ging zur Polizei der „blei- 


105 



che Schnüffelest der gleichfalls eine deutsche Zeitung ver¬ 
trat, das „Prager Tagblatt". Wie man sieht, schwieg in 
Börsensachen der nationale Boykott, den die Presse in 
ihren Spalten predigte. 

Mehr Nachrichten zu erjagen als die andere Börse war 
auf beiden Seiten ein Sport, der manchmal in persönliche 
Kämpfe ausartete. Einer der heftigsten entbrannte wegen 
einiger Menschenknochen, die kurz vor meinem Amts¬ 
antritt auf dem Dorf platz des Vorortes Krtsch gefunden 
wurden und auf denen ein Zettel lag mit der Aufschrift: 
„Die da wurde im Keller erschlagen." 

Die Brejschka-Mannschaft hatte allein von dem Fund 
erfahren mitsamt dem Detail, daß die Knochen verletzt 
seien und nicht von einet Person, sondern von einem 
Mann und einer Frau stammten. Das schien Grund ge¬ 
nug, die Nachricht als „geheimnisvollen Doppelmord in 
Krtsch" groß aufzumachen. 

Die andere Börse, solcherart ins Hintertreffen geraten, 
versuchte die Bedeutung des Fundes abzuschwächen. Al¬ 
len Anzeichen nach habe ein makabrer Witzbold die Ge¬ 
beine in einem Friedhof ausgegraben, und die, die auf 
Grund des Zettels an einen Mord glaubten, stünden nun 
da „blamiert bis auf die Knochen". Wie im Pathologischen 
Institut festgestellt worden sei, rühre die Knochenspal¬ 
tung mitnichten von gewaltsamen Verletzungen her, son¬ 
dern Adipocire, eine Seifenbildung bei Leichen, habe das 
Platzen der Knochen verursacht. 

Die zeitunglesende Bevölkerung war in erregte Lager 
geteilt; das eine schäumte: Mord, das andere: Seife, als 
aus dem Keller einer Krtscher Villa zwei Leichen ans Ta¬ 
geslicht stiegen und ein wüstes Spiel von Geldgier und 
Sexualgier enthüllten. Drei Jahre vorher hatten die Gärt¬ 
nersleute dieser Villa, ein gewisser Vales mit Frau und 
Stieftochter, ein ungarisches Liebespaar, das in der Villa 
den Winter verbrachte, durch Beilhiebe ermordet und be¬ 
raubt. Hernach hatten sie die Kleider der Toten mit Stroh 
ausgestopft und diese Puppen in der Dämmerung mit 
einem Wagen weggefahren, damit die Nachbarschaft die 
Abreise der beiden Fremden sehe. 

Verscharrt im Keller, lagen die Leichen in Totenruhe 


106 



bis zu dem Tage, da es dem fast siebzigjährigen Vales zu 
bunt wurde, daß sich seine Stieftochter - sie war über 
fünfzig - seinen Liebeswerbungen hartnäckig entzog und 
bei jedem gegebenen Anlaß ihre Mutter zu Hilfe rief. 
„Wenn ihr euch weiter wider setzt, bringe ich euch und 
mich an den Galgen", drohte Vales. Sie widersetzten sich 
weiter, auch nachdem Vales mit der öffentlichen Preis¬ 
gabe der Knochen bewiesen hatte, wie ernst es ihm mit 
seinen Worten war. 

Erst als eine Polizeikommission in Krtsch von Haus zu 
Haus ging und Vales schwor, er werde sie mit dem Ein¬ 
geständnis des Mordes empfangen, erlaubte Frau Vales 
ihrem Mann, sich mit ihrer Tochter im Zimmer einzu¬ 
schließen. Schon näherte sich die Kommission dem Garten, 
Frau Vales trommelte an die Tür: „Rasch, macht rasch, sie 
kommen!" 

Glückselig lächelnd, ist er doch am Ziel jahrelanger 
Wünsche, öffnet Vales die Liebeskammer im gleichen 
Augenblick, da die Beamten eintreten. Die merken Er¬ 
regung und beginnen eine genaue Untersuchung des Hau¬ 
ses. In einer Ecke des Kellers sind Geräte und Möbel auf¬ 
gestapelt, unter ihnen finden sich Spuren einer frischen Gra¬ 
bung, ein süßlicher Geruch ist spürbar - man exhumiert 
zwei Leichen. 

Fürwahr, das ist ein „geheimnisvoller Doppelmord", 
fürwahr, das ist keine Adipocire! Die Reporter von Cho- 
diera, die dieses Wort den bei Brejschka versammelten 
Konkurrenten eine Woche lang höhnisch zugerufen, müs¬ 
sen sich nun selbst mit „Adipocire" verspotten lassen. 

Solche Sensationen bildeten selbstverständlich nur die 
Ausnahme, die tägliche Nahrung der Börsenmitglieder be¬ 
stand nicht aus großen Solokarpfen, sondern aus kleinen 
Fischen, und davon konnten jene Reporter, die von der 
Zeile in den Mund lebten, nicht satt werden. 

Oft brachte ich derart winzige Fische, daß meine Kol¬ 
legen sie ins Wasser zurückwarfen. Gleich zu Beginn kam 
ich mit der Meldung, fünfzehn Mitglieder einer Damen¬ 
kapelle seien aus Portugal nach Prag abgeschoben und 
heute von der Prager Polizei nach ihrer Heimatgemeinde 
Nechanitz weitertransportiert worden. 


107 



Diese Nachricht wollte niemand, weil, wie mir erläutert 
wurde, sie sich mindestens sechsmal im Jahr wiederhole. 
Wann immer ein Musiklokal Bankrott mache oder ein 
Impresario durchbrenne, würden die Mädchen, mittellos 
und zumeist geschwängert, nach Nechanitz zurückexpe¬ 
diert. (Alle Damenkapellen stammen aus Nechanitz.) Für 
meine Kollegen war das eine abgestandene Sache, mir war 
es neu und schien mir mit einer Bühnenaktualität ver¬ 
knüpfbar. 

Ungefähr ein Jahr vorher hatte der Schriftsteller Hans 
Müller die Liebesgeschichte einer solchen Wandermusike¬ 
rin novellistisch behandelt, und der Komponist Oscar 
Straus fragte an, zu welchen Bedingungen er diese Ge¬ 
schichte zu einer Operette verwenden könne. Hans Müller 
hielt eine magere Abfindung in der Hand für besser als 
eine fette Tantieme auf dem Dach und verkaufte seine 
Autorenrechte für hundert Kronen. Einige Monate später 
wäre ihm eine tausendfach größere Tantieme zugefallen, 
und dabei stand der „Walzertraum" erst am Anfang sei¬ 
nes Millionenerfolgs. 

Ich leitete meine Notiz über die heute abgeschobene 
Damenkapelle mit einem Hinweis auf die Operette ein. 
Man findet das Ende im „Walzertraum" zu sentimental, 
schrieb ich, will sich nicht damit abfinden, da§ die Heldin 
auf ihr Glück verzichtet, resigniert den Fiedelbogen 
streicht und von dannen zieht. Aber der Prager Polizei 
sind weit tragischere Schicksale von Wandermusikerinnen 
bekannt... Und so. 

Erstaunlicherweise gab das Korrespondenzbüro die No¬ 
tiz im Wortlaut aus, und die obige Einleitung wurde von 
den Wiener Zeitungen als ästhetische Erkenntnis und als 
Gefühlsausbruch der Prager Bevölkerung aufgefafjt. „Prag 
zweifelt an der Richtigkeit des ,Walzertraums'! Aber die 
Polizei bestätigt sie." Unter solchen Titeln stand, von 
Sperrungen und Fettdruck unterbrochen, mein harmloser 
Exkurs: „Man findet, wie aus Prag telegrafiert wird, dort 
das Ende der Operette ,Der Walzertraum' zu sentimental. 
Wie die ,Bohemia' meldet, will man sich in Prag nicht da¬ 
mit abfinden, daß die Heldin auf ihr Glück verzichtet, re¬ 
signiert den Fiedelbogen streicht und von dannen zieht. 


108 



Dieser ablehnenden Auffassung über das Ende der Operette 
steht aber, wie das genannte Blatt selbst zugeben muß, die 
Tatsache entgegen, daß der Frag er Polizei weit tragischere 
Schicksale von Wandermusikerinnen bekannt sind.. 

Manche Börsentage waren so flau, da ß eine Meldung 
von der Abschiebung einer Damenkapelle auch meinen 
Kollegen ein willkommener Happen gewesen wäre. Müßig 
saß man herum und fluchte um die Wette. 

Allein der fromme Herr Adalbert Betzek von der „Volks¬ 
gemeinde", dem Tagesblatt der klerikalen Partei, fluchte 
niemals, er wehklagte nur. Er nannte sechs Kinder sein 
eigen, und die „Volksgemeinde", von deren Zeilenhonorar 
die Familie ernährt werden sollte, verschwieg - wie übri¬ 
gens damals alle katholischen Zeitungen der Welt - jede 
Mitteilung über Selbstmorde, weil man einem von der 
Religion verbotenen Akt keine Verbreitung geben, nicht 
zu seiner Nachahmung verlocken wollte. 

So führte die Zentrumspartei im Ruhrgebiet nach dem 
Tode des Kanonenkönigs Friedrich Alfred Krupp eine 
Kampagne gegen die Sozialdemokratie. Krupp hatte sich 
umgebracht, als er von sozialistischer Seite beschuldigt 
wurde, in Capri homosexuelle Orgien zu feiern. In einem 
erbarmungslos naturalistischen Sonderbericht aus Capri 
schilderte die katholische „Germania" das Sterbezimmer 
Krupps; der Revolver lag neben dem Stuhl, Blut bedeckte 
die Diele, die Augen des Toten waren entsetzt aufgeris¬ 
sen - der Leser mußte glauben, die Sozialdemokratie habe 
Krupp erschossen, denn die Tatsache des Selbstmordes 
war nicht einmal angedeutet 

Über die Tragödie auf Schloß Mayerling soll der Pariser 
„Gaulois", um das vatikanische Selbstmord-Nachrichten¬ 
verbot nicht zu verletzen, berichtet haben, daß man aus 
dem Schlafzimmer zwei Detonationen gehört und beim 
Eindringen den Kronprinzen Rudolf von Habsburg und 
die Baronesse Vetsera vom Herzschlag getötet aufgefun¬ 
den habe. 

Hingegen verschwieg die klerikale Presse Nachrichten 
über Diebstahl, Raub, Meineid, Mord aus Rache oder 
Totschlag am Ehebrecher nicht, obwohl auch Eigentums¬ 
verbrechen, falsche Zeugenaussage, Mord und Ehebruch 


109 



in den Zehn Geboten untersagt sind und gleichfalls zur 
Nachahmung verlocken könnten. All das druckte sie mit 
der gleichen Ausführlichkeit wie die profanen Zeitungen. 

Deshalb lag der fromme Herr Adalbert Betzek Tag für 
Tag, ehe er zur Nachrichtenbörse ging, in der Maria- 
Schnee-Kirche auf den Knien und betete zur Mutter Got¬ 
tes, sie möge eine ausgiebige Bluttat geschehen lassen oder 
eine Katastrophe mit vielen Todesopfern, amen. 

Aber der fromme Herr Adalbert Betzek war nicht nur 
fromm, er war auch zynisch, er verließ sich nicht allein 
auf die Hilfe der Madonna. Seine Kenntnisse vom Pri¬ 
vatleben einiger kirchlicher Würdenträger benutzte er, um 
sich von ihnen Nachrichten zu beschaffen. Auch Gerüchte 
von bevorstehenden Veränderungen im Klerus, vom An- 
und Verkauf von Kirchengrund und so weiter, die sein Blatt 
nicht bringen konnte, erfuhr er auf diese Weise und 
machte anderweitige Geschäfte damit. Auf der Börse wurde 
der fromme Herr Adalbert Betzek oft geneckt, daß er mit 
solchen Praktiken nicht in den Himmel kommen werde. 
Er lächelte überlegen. „Gewiß, Sankt Petrus hätte die 
Macht, mich abzuweisen, er hat ja eine Vertrauensstellung. 
Aber ist er wirklich so vertrauenswürdig? Er glaubt si¬ 
cherlich, es sei schon vergessen, daß er der Peter war, der 
seinen Herrn dreimal verriet..." - „Was kann Ihnen das 
nützen, Herr Betzek?" - „Wenn mich der heilige Petrus 
zweimal abgewiesen hat, werde ich draußen krähen. Dann 
macht er sofort auf - an alte Geschichten sind die hohen 
Herrschaften nicht gerne erinnert." 

Immer wenn auf der Börse Selbstmorde oder Selbst¬ 
mordversuche notiert wurden, an denen der fromme Herr 
Adalbert Betzek nicht teilhaben durfte, jammerte er über 
die Kleinmütigkeit der Generation: „Die jungen Menschen 
von heutzutage haben keinen Glauben mehr, deshalb legen 
sie Hand an ihr Leben, was Christus verboten hat in sei¬ 
nem Testament. Hat einer kein Geld - Selbstmord; ist 
einer eifersüchtig - Selbstmord. Gibt es denn keine Pan¬ 
zerkassen mehr, die man aufbrechen kann, keine Unter¬ 
schriften, die sich nachahmen lassen, kein Vitriol, um die 
Nebenbuhlerin beiseite zu schaffen? Ich bin gewiß der 
letzte, der das gutheißt. . ." 


110 



«Na, na, Herr Betzek!" 

.. immerhin ist es doch besser, als sich umzubringen. 
Aber statt ein paar Monate Haft zu riskieren, ziehen es 
die Leute vor, für immer tot zu sein. Sie fürchten die Po¬ 
lizei mehr als die Strafe Gottes." 

Der fromme Herr Adalbert Betzek drehte mit seinen 
Fingerspitzen den Rosenkranz in seiner Westentasche und 
klagte dem Himmel und allen heiligen Seelen den Verfall 
der Zeitläufte: „Das ist keine Kunst, sich selbst totzuschla¬ 
gen, da gibt's ja keine Gegenwehr. Früher haben die 
Menschenkinder mutigere Auswege aus ihrer Not gesucht, 
ohne gleich an Selbstmord zu denken. Nehmen Sie zum 
Beispiel die beiden Jünglinge, die die Juwelierin Goller¬ 
stepper am hellichten Tage erschlagen und den Laden 
seelenruhig ausgeräumt haben. Sechshundert Zeilen habe 
ich über sie geschrieben." 

Zärtlich streichelten seine Finger die Rosenkranzperlen. 
„Oder diese drei Trainsoldaten - wie hießen sie denn 
nur? Da hat ihnen ein Hotelier aus der Provinz unchrist¬ 
liche Anträge gemacht, noch dazu an einem Karfreitag, so 
sind sie denn mit ihm auf die Schanzen gegangen und 
haben ihm dort das Faschinenmesser irgendwohin hinten 
hineingestoßen, bis er selig im Herrn entschlafen ist. Herr¬ 
gott, waren das Burschen, groß und schlank wie Zedern 
auf dem Libanon. Im Garnisongefängnis hat man sie ge¬ 
hängt, nachdem ihnen der hochwürdige Herr Divisions¬ 
pfarrer Hummelhans das heilige Abendmahl gegeben, und 
dann wurden sie in geweihter Erde bestattet, nicht wie 
die Äser von Selbstmördern. Der Herr der Heerscharen 
schenke ihnen Gnade am Tage des Jüngsten Gerichts, den 
drei armen Schächern, hundertzwanzig Zeilen Borgis hat 
man mir allein über die Hinrichtung abgedruckt." 

Er hatte den Rosenkranz aus der Tasche gezogen und 
ließ ihn sanft über dem Gefild der Erinnerung baumeln. 
„Wie haben die drei nur geheißen?" fragte der fromme 
Herr Adalbert Betzek die Tafelrunde. 

„Cucko, Velek und Otterstatt", antwortete ich, „und der 
Ermordete hieß Gustav Wolf." 

Alle schauten auf. „Wieso wissen Sie das? Das war doch 
lange vor Ihrer Zeit. Haben Sie sich etwa auf Ihren Be¬ 


lli 



ruf vorbereitet? Sie glaubten wohl. Sie müssen bei uns 
eine Aufnahmeprüfung aus alten Lokalnotizen machen?" 

Man lachte. 

In der Tat ein Hofmeister hatte mich eingepaukt. Mir 
klingt es noch heute im Ohr, was der blinde Methodius 
über den ermordeten Hotelier Wolf aus Franzensbad sang, 
der sich nur mit Männern unterhielt, „aus Schüchternheit" 
die Gesellschaft von Frauen mied. Seine drei Mörder aber 
sind Trainsoldaten: 

Zufällig ohne Chargengrad. 

Cucko, Velek, Otterstatt, 

Lotterhaft 

Ham sie den Wolf erschlagen. 

Und nicht nur die Moritat an Hotelier Wolf kannte ich 
besser als jene, die sie seinerzeit recherchiert und be¬ 
schrieben hatten, ich kannte auch andere causes celebres. 
Zum Beispiel die vom Vorstadtschneider Slanecek; Frau 
und Söhne hatten ihn bestialisch raubgemordet und wur¬ 
den nachher auf dem gleichen Galgen gehängt. Das gab 
dem Textlieferanten des blinden Methodius Anlaß zu herz¬ 
zerreißendem Lamento, und mit den Worten „So mußte 
eine geachtete Familie enden" endete sein Lied. 

Auch den Fall der Sankt-Wenzels-Vorschußkasse wußte 
ich in Versen auswendig. Die war ein klerikales Unter¬ 
nehmen, das infolge von Millionenunterschlagungen Ban¬ 
krott machte. Die Schuld traf den Bankpräsidenten, einen 
lebenslustigen Monsignore Drossel, und zwei andere geist¬ 
liche Aufsichtsräte namens Hahn und Schwalbe, weshalb 
das Spottlied alle Witze herbeizog, die irgendwie mit Vö¬ 
geln in Zusammenhang zu bringen waren. An diese Affäre 
erinnerte sich der fromme Herr Adalbert Betzek, Redak¬ 
tionsmitglied einer klerikalen Zeitung, freilich nicht gerne. 

Aus der Reminiszenz an goldene Zeiten zur rauhen Ge¬ 
genwart erwacht, den leeren Notizblock vor sich, Rosen¬ 
kranz und Fingerspitzen wieder in der Westentasche ver¬ 
senkt, schielte er dem Kollegen Wenzel Vilde über die 
Schulter, als ob er die Formulare nicht gekannt hätte, die 
Kollege Wenzel Vilde für jede Kategorie von Vorfällen 
in Bereitschaft hatte. 


112 



Kollege Wenzel Vilde war Vertreter der „Volkspolitik", 
die zweimal täglich in einer Auflage von mehr als hundert¬ 
tausend Exemplaren erschien und ihrem Namen zum Trotz 
auf Politik keinen Wert legte, um so mehr aber auf aus¬ 
führliche Behandlung jedes Lokalereignisses. 

Trüben Auges mußte der fromme Herr Adalbert Betzek 
Zusehen, wie Kollege Wenzel Vilde mit gelangweiltem 
Gesicht einen „Schimmel" nach dem andern ausfüllte, 
kaum zwei Worte und zwei Ziffern einzufügen hatte und 
schon mit achtzehn Zeilen fertig war. 

„PHOSPHORVERGIFTUNG. Gestern hat die im Haus 

Nr-der ... Straße angesteilte ... Jahre alte Dienstmagd 

... ova in selbstmörderischer Absicht von mehreren 
Schachteln Streichhölzern den Phosphor abgekratzt, diesen 
in einem Glas Wasser aufgelöst und dieses ausgetrunken. 
Alsbald wurde das bedauernswerte Mädchen von großen 
Schmerzen gepackt und begann um Hilfe zu rufen. Die 
Rettungsstation erschien mit dem Chefarzt MUDr. Vladi¬ 
mir Kotab sofort an Ort und Stelle und veranlaßte nach 
erster Hilfeleistung die Überführung der Lebensmüden 
mittels Ambulanzwagens in das Allgemeine Krankenhaus. 
Das Motiv der Tat ist in unglücklicher Liebe zu suchen, 
die sich das besonders empfindliche Mädchen sehr zu Her-, 
zen genommen hat" . , 

Kamen mehrere solcher Vergiftungen am. gleichen Tage 
vor, so blieb der Schluß vom „besonders empfindlichen 
Mädchen" nur in einer Notiz stehen; aus den anderen For¬ 
mularen mußte er weggestrichen werden, was Kollege 
Wenzel Vilde immer sehr unwillig tat, denn er haßte jede 
Arbeit, wenn es sich nicht um einen Raubmord handelte.. 

Der fromme Herr Adalbert Betzek hatte nichts auszu¬ 
füllen oder zu streichen, er. schlug seinen Rosenkranz auf 
den Tisch. „Der Staat ist der. Massenmörder! Warum ver¬ 
bietet er nicht einfach den Verkauf von Phosphorstreich- 
hölzern? Um des Profits willen läßt er seine Bewohner 
sich umbringen." 

Er war dagegen. Er war gegen vieles, auch gegen die 
Brücken. Dieser ungeschützte Brückenrand sei geradezu 
eine Aufforderung an den Passanten, sich darüberzu¬ 
schwingen, ins Wasser hinein. Warum legt man keine 


8 Kisch vii 


113 



Drahtnetze an? Warum sperrt man nicht abends von der 
Gasanstalt aus alle Gasleitungen ab? Hunderte von Mäd¬ 
chen könnte man dadurch am Selbstmord verhindern. Gifte 
und Revolver sollte man nur an Leute abgeben, die von 
ihren Familien oder von ihrer Firma eine Bestätigung vor¬ 
weisen, daß sie weder an unglücklicher Liebe leiden noch 
Geld unterschlagen haben. 

„Wäre es denn nicht besser, Waffen- und Giftverkauf 
überhaupt zu verbieten, Herr Betzek? Man kann doch 
nicht den Waffenverkauf nur auf Mörder beschränken?" 

„Mord und Totschlag kommen sogar im Evangelium 
vor", antwortete er, „dagegen kann man nichts machen." 
Der fromme Herr Adalbert Betzek war nur gegen Selbst¬ 
morde, weil durch sie andere Taten, gute Lokalfälle, 
unterblieben. 

Übrigens war es ihm einmal gelungen, einen Selbstmord 
so zu regulieren, daß er in seinem Blatt erwähnt werden 
mußte. Als die Nachrichtenbörse noch in dem Stunden¬ 
hotel tagte, trat ein verstörter junger Mann aus einem 
Zimmer und bat um Tinte und Schreibpapier. Es war klar, 
daß es sich um einen Lebensmüden handelte, der Ab¬ 
schiedsbriefe schreiben wollte. Der fromme Herr Adalbert 
Betzek ließ sich den Grund auseinandersetzen und sagte: 
„Sie haben zwar recht, aber..." - „... aber?" In dem 
jungen Mann blinkte ein Hoffnungsstrahl auf. „Sie müs¬ 
sen den Selbstmord so verüben, daß Ihre Geliebte sich 
sagt: Das ist ein Kerl! Wenn Sie sich einfach erschießen, 
wird das auf das Mädchen gar keinen Eindruck machen." 
Der Lebensmüde fragte mit gebrochener Stimme, wie er 
es also tun solle. „Gift schlucken, sich auf dem Fenster¬ 
brett erschießen und auf die Straße - nicht in den Hof - 
fallen lassen." Der fromme Herr Adalbert Betzek erbot 
sich, das Gift aus der nächsten Apotheke zu holen. Zu¬ 
rückgekehrt, übergab er dem jungen Mann das Pülver- 
chen und schärfte ihm ein, die Verpackung nach verübter 
Tat sichtbar auf dem Tisch liegenzulassen. Dann segnete 
er ihn und verließ ihn mit den Worten: „Requiescat in 
pace." 

Der Lebensmüde schrieb, schluckte, schoß und sprang, 
und der fromme Herr Adalbert Betzek verfaßte eine No- 


114 



tiz. Sie hieß selbstverständlich nicht „Dreifacher Selbst¬ 
mordversuch" wie bei den anderen, sondern „Aufsehen¬ 
erregender Vorfall auf dem Wenzelsplatz" und beschrieb 
nur, daß der junge Mann XY in angeschossenem und ver¬ 
giftetem Zustand vom Fenster des Hotels auf die Straße 
gefallen sei, die Aufregung der Passanten und was mit 
dem Verletzten geschah. 

„Was geschah denn mit dem Verletzten, Herr Betzek?" 

„Der Trottel wurde gerettet, Gott sei gelobt und geprie¬ 
sen. Nicht einmal zielen konnte er, kaum seine Schulter 
hat er getroffen. Und er sprang aus dem ersten Stock, so 
daß er sich nur die Beine verstauchte ... Nun, ich will 
nicht undankbar sein, meine dreißig Zeilen Petit habe ich 
in der Tasche gehabt und dem heiligen Adalbert drei Ge¬ 
setze Rosenkranz gebetet - wissen Sie, für Petit-Notizen 
danke ich immer nur meinem Namenspatron und nicht 
dem Heiland." 

„Aber das Gift, Herr Betzek?" 

„Was für Gift? Bin ich denn von allen Heiligen und 
Aposteln verlassen, daß ich für teures Geld Gift kaufe und 
mir noch Ungelegenheiten mache? Ein Brausepulver habe 
ich ihm gebracht." 

Diese Episode gab der fromme Herr Adalbert Betzek 
selbst oft zum besten. Dagegen bestritt er entrüstet, daß 
er allabendlich nur deshalb zu Fuß in seine Vorstadtwoh¬ 
nung zurückkehre, um unterwegs Kinder zum Herunter¬ 
springen aus dem Fenster zu verlocken. „Niemals würde 
ich mich so versündigen", beteuerte der fromme Herr 
Adalbert Betzek, „ich gehe zu Fuß, weil ich das Fahrgeld 
sparen will. Nur durch Gottes Fügung wurde ich zweimal 
Augenzeuge, wie Kinder aus dem Fenster fielen. Über den 
einen Sturz habe ich nicht mehr als zehn Zeilen geschrie¬ 
ben; über den anderen allerdings fünfundfünfzig, weil es 
das TÖchterchen eines bischöflichen Domänenrats war und 
sich erschlagen hatte. Die Wege des Herrn sind wunder¬ 
bar." 



VOM GROSSEN ZORN DIESER REPORTER 


Nicht jeder hatte das Glück des frommen Herrn Adal¬ 
bert Betzek, dem die Kinder wie gebratene Tauben in den 
Mund flogen. Zumeist war es schwer, eine Nachricht heim¬ 
zubringen; man durcheilte „der Straßen lange Zeile" und 
erntete nur eine kurze Zeile, wenn man nicht gar erfuhr, 
daß überhaupt nichts passiert, das Gerücht nur ein Ge¬ 
rücht gewesen war. Das muß man in Betracht ziehen, um 
die Zornausbrüche der Lokalreporter zu begreifen. 

Beim Ritter Wuk von Rosenberg, dem Reporter des 
Bauernblattes „Das flache Land", kam noch ein cholerisches 
Temperament dazu. Dieser Sproß aus ältestem Landadel 
hatte nichts an sich, was hergebrachten Begriffen von Ari¬ 
stokratie entsprach, nie schien ihm ein Rasiermesser Wan¬ 
gen und Kinn entweiht zu haben, seinen Schlapphut und 
seinen Havelock hatte wohl schon einer von Karl Moors 
Räubern in den böhmischen Wäldern getragen. Ohn Un¬ 
terlaß fluchte der Ritter Wuk von Rosenberg und spuckte 
dazu, und Dantes unflätig trompetende Teufel hätten von 
ihm noch etliche Akkorde profitieren können. 

Frauen verachtete er aus vollster Speicheldrüse, und 
ich, der ich ihn für einen ewigen Junggesellen hielt, war 
erstaunt, als er eines Abends, in weitem Bogen ausspuk- 
kend, von seiner gewesenen Frau sprach: „Die Giftkröte 
ist von mir fortgelaufen, weil ich trinke. Weshalb sollte ich 
denn Zeilen schinden, wenn ich das Geld nicht für Weich¬ 
selschnaps brauchen würde?" Er spuckte aus, in noch wei¬ 
terem Bogen als das erstemal. 

„Als ich heiratete", vertraute er mir an, „habe ich eine 
Notiz darüber in mein Blatt gegeben; für den Schwieger¬ 
vater habe ich mir den längsten Taufnamen ausgedacht, 
einen ebenso langen Mädchennamen für die Brautmutter. 
Als Heimat meiner Frau habe ich aus dem Verzeichnis 
der Gemeinden den längsten Dorfnamen herausgesucht 
und noch die Bezirkshauptmannschaft angegeben, zu der 


116 



das Nest gehörte. Das Honorar für diese acht Zeilen war 
das einzige, was ich von meiner Ehe gehabt habe." Und 
er spuckte in einem noch weiteren Bogen als das zweite- 
mal. 

War es schon nicht standesgemäß, daß einer aus dem 
Geschlecht der Wuk von Rosenberg Notizen über plebe¬ 
jisches Leben schreiben mußte, noch weniger standesgemäß 
war es, auf den Tod eines Verunglückten, eines Mord¬ 
opfers oder eines Prominenten lauern zu müssen. Jedoch 
gerade das war des Ritters Wuk von Rosenberg Obliegen¬ 
heit. 

In der Vorstadt Holleschowitz rang Svatopluk Czech, 
der Klassiker des tschechischen Volkes, seit Wochen mit 
dem Tode. Allabendlich hatte Ritter Wuk von Rosenberg 
in die Wohnung des Sterbenden hinauszugehen, um die 
Todesnachricht rechtzeitig zu erfahren. An einem Tag, an 
dem die Ärzte das Ableben als eine Frage von Stunden 
bezeichnet hatten, kam er um neun Uhr abends. Die 
Schwester des Kranken öffnete ihm die Tür. „Es geht et¬ 
was besser", sagte sie. 

„Verfluchte Sauerei", schrie Ritter Wuk von Rosenberg, 
„da muß ich heute nacht noch einmal herausrennen!" Wü¬ 
tend spuckte er an der entsetzten Dame vorbei auf die 
Tür, hinter der der Sänger der „Sklavenlieder" sich mit 
schwindenden Kräften gegen den Tod wehrte, der seine 
große Seele wollte. 

Weiß Gott, Wuk von Rosenberg, dieser Ritter, hatte 
vor nichts Respekt, weder vor der Majestät des Todes 
noch vor der des Lebens. Beim Besuch des Kaisers Franz 
Joseph, 1908, waren wir Journalisten im Burghof des 
Hradschin gruppiert, um den Einzug zu beschreiben. Hart 
neben uns hatte die Generalität Böhmens in voller Kriegs¬ 
bemalung zum Empfang ihres Allerhöchsten Kriegsherrn 
Posto gefaßt: golden funkelten Militärmedaillen und Feld¬ 
binden auf den schneeweißen Waffenröcken, golden flös¬ 
sen Lampassen die zinnoberroten Hosen entlang, golden 
schaukelten Portepees auf den spiegelnden Säbelscheiden, 
golden schimmerte das gestickte Laub des Kragenspiegels. 

Diesem Glanz paßte die Nachbarschaft des schäbigen 
Zivils der goldlosen Journalisten keineswegs. Wir sahen. 


117 



wie die Adjutanten mit dem Polizeidirektor verhandelten. 
Sie wiesen auf uns. Polizeidirektor Krikava zuckte sor¬ 
genvoll die Achseln, für ihn war es ebenso peinlich, sich's 
mit der Presse zu verderben wie mit der Generalität. 

Da trat Feldzeugmeister von Cibulka ärgerlich gestiku¬ 
lierend auf ihn zu. Cibulka ist ein tschechisches Wort und 
bedeutet „Zwiebelchen". Das Diminutiv paßte, denn Ci¬ 
bulka war von winziger Statur. Dessenungeachtet war er 
der Chef der Garnison, Korpskommandant Nachfolger des 
Grafen Grünne. 

„Er sagt immerfort /Federfuchser', was ist das?" fragte 
ein tschechischer Kollege. 

Unschlüssig näherte sich uns der Polizeidirektor. Aber 
er hatte noch nicht den Mund aufgemacht als ihm Ritter 
Wuk von Rosenberg schon die Antwort entgegendonnerte, 
so wuchtig, daß Generäle und Würdenträger baß erschau¬ 
derten. 

„Wir können ja nach Hause gehen und auf den Kaiser 
scheißen, wenn Sie es befehlen." 

„Um Gottes willen, meine Herren, davon ist doch keine 
Rede, es handelt sich nur darum, daß die Herren Gene¬ 
räle .. /' 

„Ich stelle fest, daß dieser Tornisteradel da", Ritter Wuk 
von Rosenberg stieß seinen Zeigefinger unmißverständlich 
in die Richtung der Generalität, „daß dieser poplige Tor¬ 
nisteradel von uns verlangt, wir sollen auf den Kaiser..." 

Nein, nein, um Gottes willen, niemand habe das Ver¬ 
langen nach solch einem Crimen lasae majestatis auch nur 
angedeutet 

Schon reitet die Arcierenleibgarde auf ihren Lipizzaner 
Apfelschimmeln ein, sie führt den prunkvollen Zug. Schon 
rollen die Equipagen mit den höchsten Herren des Hofs 
über die Rampe. Schon ist der Ruf des Schnarrpostens 
verhallt und die Wache ins Gewehr getreten. Schon into¬ 
nieren die Musikkapellen die Hymne. Schon schmettern 
Fanfaren von allen hundert Türmen den Generalmarsch 
darein. Schon singen die Schulkinder vor dem Burgtor das 
„Gott erhalte". Und Ritter Wuk von Rosenberg brüllt noch 
immer: „Diese plebejische Soldateska da verlangt von uns, 
wir sollen auf den Kaiser . .." 


118 



.. Gott beschütze unsern Kaiser ..singen die Kin¬ 
der mit Recht. 

Auf Rädern aus purem Gold rollt die Kaiserkarosse 
durch das Gittertor. Franz Joseph I. steigt aus, „elastischen 
Schrittes", wie wir nachher schreiben werden, um auf die 
Empfangsbereiten zuzutreten, da, da erblickt er plötzlich 
einen bärtigen, wutgeschüttelten Mann, der unflätige Rufe 
ausstößt. Der Kaiser erschrickt und wendet sich zum Wa¬ 
gen zurück, zum Glück umringen ihn aber bereits die 
Würdenträger, und hinter ihrem Wall fühlt sich der Mon¬ 
arch geschützt vor jener furch teinflößenden Erscheinung. 
Nur von Zeit zu Zeit wirft er einen scheuen Blick her¬ 
über. 

Wer Journalisten kennt, weiß, wie wir uns an Cibulka 
rächten. „Seine Majestät entstieg elastischen Schrittes dem 
Wagen, trat auf die Divisionäre Conte Corti a la Catene 
und Baron Georgi zu und unterhielt sich huldvollst mit 
ihnen; hierauf zog er die Brigadekommandanten Ritter von 
Schreitter, Makowitschka von Mohnfeld, Haluska und Graf 
Deym in längere, angeregte Gespräche ..Korpskomman¬ 
dant Cibulka wurde nicht erwähnt. 

Ohne daß wir geradezu gelogen hatten, stand er tränen¬ 
erregend und klein wie ein Zwiebelchen vor der Öffent¬ 
lichkeit, umschwelt vom beizenden Geruch der kaiserlichen 
Ungnade. Aber das Schicksal strafte ihn außerdem - viel¬ 
leicht auch war die Vorahnung dieses Schicksals der Grund 
seines Ausbruchs gegen die Federfuchser. Sein einziger 
Sohn wurde nämlich Schriftsteller, und zwar einer, der 
beim besten Willen nicht anders denn als Federfuchser 
bezeichnet werden kann und der seinen tschechischen Na¬ 
men dadurch wettmacht, daß er ein Nazischreiber nach 
dem Herzen der Reichsschrifttumskammer ist. 

Ein gemeinsamer Haß verband die Reporter alle, der 
Haß gegen die Nachtredakteure. Diese entschieden über 
das Schicksal des Arbeitsprodukts. Je nach Laune strichen 
sie es zusammen oder warfen es ganz weg, und gegen ihre 
Urteilsbegründung „Platzmangel" gab es keine Berufung. 

Selbst in der „Nationalzeitung" geschah das, obwohl sie 
das Format der „New York Herald", aber zum Unterschied 


119 



von „New York Herald" keine Berichterstatter in aller 
Welt und keine ausländischen Originalnachrichten hatte. 
Wäre sie das Blatt gewesen, dem der Kriegskorrespondent 
Henry Stanley die Bibel telegrafierte, um seinen Rivalen 
den Draht zu verlegen, sie hätte genug Raum gehabt, die 
Bibel abzudrucken. 

Deshalb konnte Papa Vejvara, ihr Vertreter auf der 
Nachrichtenbörse, die „Wichtigtuerei mit den X-Strahlen" 
jahrelang nicht verwinden. Unmittelbar nachdem .die 
Nachricht von der in Deutschland erfolgten Erfindung der 
X-Strahlen durch Professor Konrad Röntgen bekannt 
wurde, setzte der Physiker der Prager Technischen Hoch¬ 
schule, Professor Puluj, einen Experimentalvortrag dar¬ 
über an. Auch Puluj hatte nämlich die Strahlen entdeckt 
und mit ihnen zwanzig Jahre lang experimentiert, ohne 
in die Öffentlichkeit zu treten. Nun führte er die von ihm 
konstruierten Apparate vor, durchleuchtete auf dem Po¬ 
dium einen Eisenschrank, eine Dogge, einen Mann und 
sogar eine (allerdings maskierte) Frau. Zum erstenmal sah 
man den Inhalt verschlossener Behälter, zum erstenmal 
lebende, sich bewegende Skelette in lebenden, sich bewe¬ 
genden Menschen. 

Seitenlang berichtete darüber die Presse, am weitläufig¬ 
sten die „Nationalzeitung", letztere auf Kosten von Papa 
Vejvara, dem man die Lokalnotizen dieses Tages bis zur 
Unkenntlichkeit zusammenstrich. „Idiotenbande!" wütete 
er, „über die Wichtigtuerei mit den X-Strahlen lassen sie 
ganze Kolonnen zusammenschmieren, aber für einen 
Mordversuch mittels Schleuder haben sie nur zehn Zeilen 
Platz!" 

Beträchtlich im Vorteil mit dem Zeilenhonorar war der 
ehemalige Oberleutnant Bacula, der für die Zeitung 
„Union" den lokalen Teil besorgte. Sein Blatt, von den 
Konservativen gefördert, hielt auf Angabe genauer Titu¬ 
latur. Wenn die anderen schrieben: „Minister Foscht traf 
gestern abend aus Wien ein", verdiente Oberleutnant Ba¬ 
cula das Vierfache, denn bei ihm war es kein kürzerer als 
„Seine Exzellenz der kaiserliche und königliche Minister 
für Handel und Gewerbe, Herr Doktor Emanuel Foscht, 
welcher gestern abend in einem Salonwagen des Wiener 


120 



Schnellzugs auf dem Kaiser-Franz-Josephs-Bahnhof einzu¬ 
treffen geruhte"'. 

An Oberleutnant Bacula war alles hellblond, einschlie߬ 
lich der Hände, der Augen, des Benehmens und der Hand¬ 
schrift Um so unverständlicher war es, daß er es den brth 
netten Schmocken gleichtun wollte, den berühmten Prager 
Schmocken, deren einen Gustav Freytag als Urbild aller 
im Lustspiel „Die Journalisten" verewigt hatte und die 
Prag den Beinamen „das Schmockkästchen der Monarchie" 
eintrugen. 

Nur der Ehrgeiz des hellblonden Oberleutnants Bacula 
war düster: Er wollte sich in seinen Lokalnotizen als Dich¬ 
ter zeigen. Über jedem Ertrinkungstod badete Luna ihr 
perlmuttnes Antlitz in den Wogen des Moldaustroms, und 
jedes gestürzte Pferd schaute mit anklagenden Augen in 
die erbarmungslose Menschenwelt. Manchmal hatten die 
Stilblüten, die seinen Berichten entsprossen, einen zwei¬ 
deutigen Duft: „Durch eine Explosion wurde die ganze 
Garderobe des Herrn Kommerzialrats B. vernichtet öder 
beschädigt, so daß nur die Hosen, die er eben anhatte, 
als voll gelten können." 

Bei einer Zirkusprobe hatten sich drei Löwen auf den 
Dompteur Kratky Bey gestürzt und „ihn zerfleischt". Die 
Presse brachte Interviews mit Augenzeugen und Angriffe 
gegen Tierquälerei, begangen an Löwen. Es wurde sogar 
das Gerücht verzeichnet, Kratky Bey sei bereits tot und 
insgeheim begraben worden. Um dem ein Ende zu machen, 
setzte der Zirkusprinzipal eine Pressevorführung mit dem 
verwundeten Dompteur an. 

„Als Herr Löwenbändiger Kratky Bey", schrieb Ober- 
leunant Bacula, „Kopf und Arm in der Binde, hinkend, 
aber mit den männlichen Gesten eines Helden dem Zwin¬ 
ger zuschritt und sich vor den Vertretern der Prager Zei¬ 
tungen ritterlich verneigte, begrüßten ihn die Bestien mit 
lautem Gebrüll." Am Abend darauf erschien Oberleutnant 
Bacula in Uniform auf der Börse und erklärte, daß er mit 
dem Wort „Bestien" selbstverständlich nicht die Herren 
Kollegen gemeint habe, die mißverstehbare Wendung be- 
daute und zurückziehe. 

Mitglied unserer Börse war auch Regierungsrat Kriza- 


121 



nek. Dieser Regierungsrat - möcht wissen, was er der 
Regierung geraten hat - war Lokalreporter des offiziö¬ 
sen „Prager Abendblatts", das allgemein der „Kreuzer¬ 
frosch" hieß, weil es einschließlich Postzustellung einen 
Kreuzer kostete. Selbst in der Zeit des ZeitungsStempels, 
der allein einen Kreuzer pro Exemplar ausmachte, hatte es 
nicht mehr gekostet, es war also unentgeltlich. Sein Wert 
überstieg diesen Preis nicht. Die Deutschböhmen lasen 
täglich neunzigtausend Exemplare dieses Regierungsblattes 
und wählten einhellig regierungsfeindliche Abgeordnete. 

Der Chefredakteur des „Prager Abendblatts" - er war 
Hofrat und ich möcht wissen, was er dem Hof geraten 
hat - warf dem Regierungsrat Krizanek die Wüstentrok- 
kenheit seiner Notizen vor, insbesondere, daß er immer¬ 
fort die gleichen drei Überschriften verwende: „Ent¬ 
menschte Jugend", „Der Gattin in den Tod gefolgt" und 
„Ein tragischer Vorfall". 

Eines Tages ereignete sich auf dem Karlsplatz eine be¬ 
sonders komplizierte Begebenheit: Der Balkon eines Hau¬ 
ses brach ab, zwei Personen stürzten auf die Straße, in¬ 
folgedessen scheute ein Gespann und überfuhr eine 
schwangere Frau. Wie angegossen hätte hier der altbe¬ 
währte Titel „Ein tragischer Vorfall" gepaßt, aber Regie¬ 
rungsrat Krizanek, der sich die Vorwürfe seines Chef¬ 
redakteurs zu Herzen genommen hatte, wollte diesmal 
eine besonders originelle Schlagzeile finden. Lange ging 
er nachdenklich auf und ab. Plötzlich hellte sich sein Ge¬ 
sicht auf, er rieb sich befriedigt die Hände, setzte sich hin 
und schrieb den Titel: „Unfall". 

So tief die Lokalreporter auf der Rangliste des Journa¬ 
lismus figurierten, noch unter ihnen standen die Melder, 
die mit mündlichen Mitteilungen oder mit amtlichen Ver¬ 
zeichnissen auf die Börse kamen; einer mit den Resultaten 
der Lotto-Ziehungen, ein anderer mit Besitzwechseln, den 
Käufen und Verkäufen, die im Grundbuch eingetragen 
wurden, ein dritter - als „Redakteur der Toten" bekannt 
- mit den beim Sterbeamt und der Beerdigungsbrüder¬ 
schaft gemeldeten Namen der Verstorbenen. Stellungslose 
Journalisten brachten Nachrichten, die sie zufällig erfuh¬ 
ren. 


122 



Einer von ihnen war Jaroslav Hasek, später Autor des 
tschechischen Don Quijote, des Romans „Der brave Soldat 
Schwejk". Jaroslav Hasek erzählte uns erfundene Humo¬ 
resken und wollte sie als Nachrichten geglaubt wissen. 
Jaroslav Hasek zufolge war heute nachmittags in der Mol¬ 
dau ein Menschenhai aufgetaucht und hatte durch Schläge 
seiner Schwanzflosse ein Fischerboot umgeworfen. Jaroslav 
Hasek zufolge hatten gestern nachts in einem Tanzlokal 
nahe dem Pathologischen Institut zwei betrunkene Lei¬ 
chenträger, weil kein Mädchen mit ihnen tanzen wollte, 
eine Frauenleiche von der Bahre genommen und mit ihr 
bis zum Morgengrauen Walzer getanzt. Jaroslav Hasek zu¬ 
folge kam heute um vier Uhr morgens eine in der Korn¬ 
gasse wohnende Gemüsehändlerin neben ihrem Haus an 
einem nackten, am Unterleib verletzten Mann vorüber, der 
an einen Kandelaber gefesselt war; sie eilte, einen Mantel 
zu holen. Als sie zurückkehrte, war der Unbekannte ver¬ 
schwunden. Jaroslav Hasek zufolge hatte heute ein fünf¬ 
jähriger Knabe einem anderen die Nase abgebissen und 
verschluckt; der Vater des Opfers sei auf der Suche nach 
seines Sohnes Nase. Jaroslav Hasek zufolge war dem Gast¬ 
wirt des Dorfes Sazavice ein Knabe mit einem vier Zenti¬ 
meter langen Schnurrbart geboren worden, Mutter und 
Kind befinden sich wohl. 

Vier Glas Pilsner Bier verlangte Jaroslav Hasek für jede 
seiner Informationen. Wollte sie niemand haben, so ging 
er mit dem Preis herunter, lehnte man sie auch dann ab, 
hielt er Vorträge, in denen er parallele Ereignisse aus der 
Weltgeschichte produzierte, um die Glaubhaftigkeit seiner 
Nachricht zu unterbauen. 

Dabei trank er mindestens fünf Glas Pilsner, die selbst¬ 
verständlich wir zu bezahlen hatten. 



SONNENTHAL IM LETZTEN SEINER TODE 

Eines Sonntagnachmittags sah ich den alten Doktor 
Alfons Pollak, wie er aus seinem Hause rannte, sichtlich 
zu einem besonders dringenden Fall gerufen. Als ich ihm 
fragend in den Weg trat, stutzte er, überlegte, flüsterte: 
„Blauer Stern" und lief weiter. 

Im Hotel „Blauer Stern" herrschte heillose Aufregung. 
Weit offen standen im ersten Stock die Türen des großen 
Appartements, Hotelpersonal lief mit Eimern, Medika¬ 
menten und Eisbeuteln ein und aus, niemand schenkte 
mir Beachtung, als ich unmittelbar hinter Doktor Pollak 
eintrat. 

Auf dem Sofa, das quer am Fußende des Bettes stand, 
lag und verröchelte ein Mensch. 

Es war Sonnenthal. 

Nur wenige, die diesen Namen hier lesen, können sich 
vorstellen, was er bedeutet hat. 

Seit einem halben Jahrhundert übte Adolf Sonnenthal 
als König des Burgtheaters zugleich auch das Königtum 
über alle Bühnen aus, soweit in diesen auch nur ein Fünk¬ 
chen von der heiligen Flamme der Klassik gehütet ward. 

Demgemäß sah das Publikum in ihm den Gipfel des 
Erhabenen. Jede Gestalt, die er verkörperte, verkörperte 
das Edle, selbst um den sinnesverwirrten Kopf des ver¬ 
jagten Lear, selbst um den gehörnten Fuhrmannsschädel 
Henschels, selbst über dem zum Verräter werdenden Wal¬ 
lenstein strahlte die Gloriole. 

Zweimal im Jahr gastierte Sonnenthal je eine Woche 
lang in Prag, und wir, die Jugend, verbrachten die Abende 
dieser vierzehn Tage auf der Galerie. Wir kannten jede 
seiner Gesten. Wir freuten uns schon im voraus darauf, 
wie er einem der widerspenstigen Pappenheimschen Kü¬ 
rassiere den Uniformrock straff ziehen werde. Wir wu߬ 
ten, daß er als sterbender, verstummter Attinghausen die 
Hände ballen würde, um noch als Leichnam den Schwei- 


124 



zern zu sagen> sie mögen einig, einig, einig bleiben. Wir 
erwarteten fiebernd den Moment, da er als Verrina, dem 
die Tochter ihre Vergewaltigung berichtet, die Unterlippe 
herabstoßen und die Zähne blitzen lassen werde, seine 
berühmten, von Jugend auf unversehrt gebliebenen Zähne. 
Wir kannten die Monologe auswendig und kopierten die 
Töne der Biederkeit, bewunderten sogar, daß er den Buch¬ 
staben M in ein B verwandelte: „Bleib bei bir, Bax! Wie 
ist es böglich, daß bich bein Bax verlassen bag." 

Wie oft hatten wir den, der jetzt auf dem Sofa vor mir 
starb, wie oft hatten wir ihn sterben gesehen, und unser 
Knabenherz hatte dabei gehämmert und in unser Knaben- 
aug die Träne sich gedrängt. Wir weinten, weil er sterben 
mußte, er jedoch weinte niemals darüber, er hatte von 
seinem ersten Auftritt an abgeschlossen mit allem irdi¬ 
schen Gelüst; er war schon als Lebender ein milder Be¬ 
wohner des Jenseits. 

Aber das Jahrhundert ging zu Ende, das in der Erzie¬ 
hung des Menschengeschlechts durch die „Schaubühne als 
moralische Anstalt betrachtet" das Hauptmittel zur Ret¬ 
tung von allem Übel sah. Das neue Jahrhundert, das mit 
neuen Ideen herankam, war zugleich die Zeit, da wir den 
Knabenschuhen entwuchsen. Mit ihnen wechselten wir 
unsere Götter. Ibsens „Volksfeind", Zolas „Totschläger", 
Gerhärt Hauptmanns „Weber" und vor allem Maxim Gor¬ 
kis „Nachtasyl" waren von jetzt ab unsere Dramen, und 
unsere Schauspieler waren die der Freien Bühnen von Otto 
Brahm, Stanislawski und Antoine. 

Sonnenthal wurde in den Orkus geschleudert. So kritik¬ 
los unsere Hingabe an ihn gewesen war, so kritisch wurde 
unsere Gegnerschaft. Nun fanden wir seine Auffassung 
des Heldischen kleinbürgerlich, seine Herzenstöne schmal¬ 
zig, sein Pathos rhetorisch, seine Gesten mätzchenhaft und 
seine Güte unrealistisch und unwahrscheinlich. 

Der alte Sonnenthal spielte Väterrollen. Wir aber moch¬ 
ten die Väter nicht. Wir glaubten nicht an ihren Edelmut 
und auch nicht an den von Großvätern und Ahnen, die in 
der Stunde des letzten Schattens keinen Wunsch des Le¬ 
bens mehr hegten, sondern nur goldene Worte von sich 
gaben und die Augen friedlich schlossen. 


125 



Und nun stirbt er, der den Tod so oft wie keiner ge¬ 
probt stirbt er den wirklichen Tod. In den Armen einer 
jungen Schauspielerin, die heute abend mit ihm in Prag 
gastieren sollte, mitten im Akt hat ihn ein Schlaganfall 
getroffen. 

Die Partnerin steht mit aufgelösten Haaren in der Zim¬ 
mermitte, sie hat einen himmelblauen Schlafrock um sich 
geworfen, die Strümpfe hängen ihr um die Knöchel, ver¬ 
stört stützt sie die Hand auf die Tischplatte und weif} nicht, 
wie sie sich benehmen soll und was mit ihr geschehen 
wird. Ihr unbekannter Name erhob sich heute auf dem 
Theaterzettel, fettgedruckt und mit dem Vermerk «als 
Gast" versehen, gleich jenem, der neben dem ihren stand 
und der klingendste im Bereich ihrer Kunst war. Sie hatte 
gehofft, die Tournee in den Ruhm fortsetzen zu können, 
waren doch Riffe und Wogen des Widerstands verbannt 
durch den allmächtigen Magier. Seine Zuneigung war das 
sichere Geleit für eine Tochter Thalias. So übersah sie 
willig, daß er ein Greis war, und ließ es geschehen, als er 
sie zärtlich an sich zog. 

Wann? Wann war das alles? Wie lange ist es her, seit 
das Gastspiel mit ihm bevorstand, seit die Überfahrt zur 
blauen Küste des Ruhms gesichert war, seit des Meisters 
zärtlichem Begehr? Unvorstellbar viel Zeit ist seither ver¬ 
gangen - schon eine Viertelstunde. 

Dort auf dem Sofa schaukelt ein Wrack, sinkt in die 
Wellen, hebt sich ächzend wieder empor und muß doch 
untergehen. 

Zwei Dinge liegen unbeachtet auf dem Boden, noch hat 
sie niemand aufgehoben, der Todesbote hat sie dem An¬ 
gefallenen vom Kopf und aus dem Mund geschlagen. Und 
Sonnenthal braucht sie auch nicht mehr, diese beiden Gar¬ 
derobenstücke für sein Leben außerhalb der Bühne: die 
Perücke und das Gebiß. 

Er ist nicht mehr Herr seiner Rolle und seiner Maske. 
Dennoch heften sich Blicke auf ihn, so unabwendbar, wie 
er sie erzogen hat, sich auf ihn zu heften. 

Aber jetzt will er das vielleicht nicht mehr. Starr und 
vorwurfsvoll ruft das mit dem Tode ringende Auge. Was 
hast du, Lästerer, hier zu suchen? fragt es mich, suchst du 


126 



etwa den Beweis, daß der Tod anders erfolgt, als ich ihn 
zu spielen pflegte? 

Dem Sterbenden entringt sich ein langer Schrei, der 
immer neue Töne bringt, aber keiner von ihnen erinnert 
an jene, mit denen dieser Schauspieler Empfindungen aus¬ 
drückte und Menschenherzen rührte, es ist überhaupt kein 
menschlicher Ton in dieser Skala. 

Jäh verstummt der Schrei, als habe eine Axt ihn ent¬ 
zweigehackt. Und noch größer, noch starrer, noch vor¬ 
wurfsvoller wird das Auge. 

Gleich wird Sonnenthal aufspringen, Perücke und Gebiß 
anlegen, sich Mund und Kinn abtrocknen, den Anzug rich¬ 
ten und donnern: „So sähe ein realistischer Tod aus, wie 
ihr ihn von mir verlangt, ihr törichten Jünglinge." 

Ich warte. Aber Sonnenthal springt nicht auf, stumm 
spielt er den realistischen Tod weiter und bewegt sich 
nicht, als Doktor Pollak den Herzstich macht. 



DEBÜT BEIM MÜHLENFEUER 

Es ist zum erstenmal dag ich meine Memoiren schreibe; 
mir mangelt die Übung, und ich weiß nicht, ob ich's richtig 
mache. Immer wenn ich eine Begegnung oder eine Bege¬ 
benheit erwähne, greife ich nicht nur zurück, sondern auch 
vor. So kennt mich der Leser bereits in Situationen, die 
mir noch nicht zukommen. Bin ich doch erst am Beginn 
meiner Reportertätigkeit. 

Auf der Börse war man unzufrieden, weil meine Zei¬ 
tung als Nachfolger des Herrn Melzer, der mit den rang- 
ältesten Polizeibeamten die Schulbank gedrückt hatte, einen 
so jungen Hund wie mich entsandte. In der Redaktion 
war ich nur ein Reporter. 

Und die Tatsache, daß meinen Anfängen ein sogenann¬ 
ter Erfolg beschieden war, vollzog sich unter Umständen, 
welche die anderen Redakteure der „Bohemia" nicht für 
mich einnehmen konnten. Meine erste Notiz schilderte 
meinen Besuch am Krankenbett eines Freundes, der vor 
Jahresfrist in einem Duell einen Studenten getötet hatte 
und selbst lebensgefährlich verletzt worden war. Neben 
ihm im Spital lag ein Akrobat, der, gleichfalls lange vor 
meinem Berufsantritt, vom fliegenden Trapez ins Publi¬ 
kum gestürzt war. Der andere Bettnachbar, ein Knabe, war 
am Weihnachtsabend vor der Villa des ehemaligen Bür¬ 
germeisters Bielsky von dessen Wachhunden überfallen 
und gebissen worden. 

Jede dieser drei Begebenheiten war zu ihrer Zeit jour¬ 
nalistisch zu Tode gehetzt worden, und es waren demnach 
„olle Kamellen", die ich zu einer Notiz zusammenschweißte. 
Aber die „Frankfurter Zeitung" druckte sie nach. 

Seit langem war es das erstemal, daß etwas aus einem 
Prager Blatt Gnade fand vor der Schere des allwissenden 
und unfehlbaren Fedor Mamroth in Frankfurt. („Mam- 
roths Schere reimt sich auf Ehre", pflegte der Feuilleton¬ 
chef des „Prager Tagblatts" selbstgefällig zu reimen, wenn 


128 



die „Frankfurter Zeitung" einmal das gleiche ausgeschnit¬ 
ten hatte wie er.) 

Die Zitierung unserer Zeitung hätte- demnach so emp¬ 
funden werden müssen, als sei der ganze Redaktionsstab 
im Tagesbefehl zitiert. Wenn nur die dekorierte Leistung 
nicht gerade vom jüngsten jungen Mann, dem Lokalrepor¬ 
ter, vollbracht worden wäre und dieser Lobspruch nicht 
wie ein Tadel für die übrigen geklungen hätte. „In der 
Prager ,Bohemia'", so leitete der Oberste Richter in Frank¬ 
furt den Abdruck ein, „findet sich nachstehende, unge¬ 
wöhnlich gut geschriebene Notiz .. 

Mein neuer Beruf schien mir kinderleicht zu sein. Ich 
hatte auf der Polizei und auf unserer Börse Nachrichten 
zu holen und sie zu stilisieren. Je mehr ich sie durch plau¬ 
dernde Wendungen ausschmückte, desto mehr hatten sie 
Anspruch, als Schmucknotizen gewertet zu werden, die 
man zwar Schmocknotizen nannte, aber immerhin ~ wie 
man gesehen hat - eher einen anerkennenden Nachdruck 
fanden als ein simpel berichtetes Faktum. 

So machte ich meine Arbeit bis zu der Nacht, in der 
ich mich zum erstenmal an einem Schauplatz erproben 
sollte. Die Schittkauer Mühlen standen in Flammen. Ich 
rannte hin. Das Feuer war im Begriff, den ganzen Kom¬ 
plex der Mühlen, ein Wahrzeichen der Stadt seit urdenk- 
lichen Zeiten, in Schutt und Asche zu verwandeln. Und was 
weit schlimmer war, die anderen Reporter waren schon 
da und mitten in der eifrigsten Arbeit. 

. Auf einem Hydranten wagen unter einer Laterne, alles 
überblickend und allen sichtbar, saß Papa Vejvara. Er 
schrieb und schrieb. Polizei- und Feuerwehrbeamte liefen 
auf ihn zu, gaben ihm Informationen und eilten wieder da¬ 
von. Von Zeit zu Zeit erschienen Boten seiner Redaktion 
auf Fahrrädern. Papa Vejvara reichte ihnen Manuskript¬ 
blätter und schrieb weiter. 

Ich aber, ich wußte nichts zu schreiben. Keine Zeile 
verstand ich von dieser Wagenburg der Dampfspritzen, 
von diesem Kreuzfeuer aus Wasserstrahlen, von diesem 
Manövrieren der Feuerwehr. Ich drängte mich durch den 
Kordon, es dauerte eine halbe Stunde, bevor ich den gan¬ 
zen Bezirk der brennenden Mühlen abgegangen hatte, um 


9 Kisch VII 


129 



irgendwie irgendwo irgend etwas zu eruieren. Kein Wort 
eruierte ich. 

Mir blieb nichts übrig, als, ein demütiger Bittsteller, 
mich den Stufen des bronzenen Thrones zu nahen, auf 
dem Papa Vejvara waltete. Er neigte sich zu mir herab, 
ich reckte mich hoch, spitzte Zehen und Ohren, um keinen 
Ton von der Sensation zu verlieren, die er mir anvertrauen 
wollte. Aber was er mir zuflüsterte, war dieses: „Es 
brennt." 

Meine Verzweiflung zwang mich, den Hohn zu über¬ 
hören. Ich bat ihn, mir doch ein paar Details zu geben. Er 
wies auf die Flammen: sähe ich da nicht Details genug? 

Nein, ich sah keine Details. Ich sah nur die Flammen, 
die beschäftigte Feuerwehr und meine noch beschäftigte¬ 
ren Kollegen. Wie ein Spritzenschlauch schlängelte sich 
der bleiche Schnüffeles zwischen den Löschapparaten und 
Wasserstrahlen, überall war er gleichzeitig. Er maß mich 
mit Siegermiene. „Nun, Sie Schönschwätzer, zeigen Sie 
jetzt, was Sie können." 

Am Fuß der Feuerleiter traf sich die Chodiera-Börse 
und tauschte Informationen aus. Ich pürschte mich heran, 
etwas zu erlauschen. Sie bemerkten mich und verstumm¬ 
ten, einige lachten. Der bleiche Schnüffeles bekam gerade¬ 
zu Lachkrämpfe. 

Sie konnten lachen, ich konnte weinen. 

Entschlossen arbeitete ich mich zum Feuerwehrkomman¬ 
danten durch. Aber als ich vor ihm stand, fiel mir ein: ich 
weiß nicht einmal, was ich ihn fragen soll. Schöner Re¬ 
porter, der nicht einmal weiß, was er fragen soll. 

Ich fragte nach der Ursache des Feuers. 

„Noch nichts festgestellt." 

So wie bei mir. Nichts hatte ich festgestellt, leer war 
mein Notizblock. Tränen vermochten meine Beschämung 
nicht zu löschen. Selbst wenn Dampfspritzen in meinen 
Augen aufgefahren wären, hätten sie nicht vermocht, meine 
Beschämung zu löschen. Nie, nie hätte ich mir eine der¬ 
artige Unfähigkeit zugemutet. Schluß mit meinem Ver¬ 
such, das Mühlenfeuer zu beschreiben! Schluß mit der 
Reportage! 

Erhaben, auf strahlendem bronzenem Siegeswagen, um- 


130 



geben von behelmten Mannen, fährt der Berufene in die 
Ruhmeshalle der Journalistik ein ... und unten schleicht 
geduckt und gedemütigt einer davon, der vieles unterneh¬ 
men wollte und nichts gekonnt. 

Durch die Masse der Neugierigen, finstere, nächtliche 
Gestalten, zwängte ich mich immer weiter nach hinten. 
Nur weg von hier! 

Wohin? Auf keinen Fall in die Redaktion zurück. Wozu 
mir dort das Toben anhören, weil ich nichts bringe, wozu 
mich noch beschimpfen lassen, bevor ich entlassen werde? 

Allerdings, fair ist es nicht, die Redaktion einfach sit¬ 
zenzulassen. Mutiger wär's, hinzugehen und mein Fiasko 
einzugestehen. 

Langsam ging ich durch die Straßen. Was wird man auf 
der Börse sagen? Mir fielen die Anekdoten ein, mit de¬ 
nen man sich dort selbstgefällig unterhielt, die Anekdoten 
von unfähigen Reportern. 

Ein aus der Provinz engagierter Journalist war zur Er¬ 
hebung eines Vorfalls an die Peripherie der Stadt ge¬ 
schickt worden. Er recherchierte alles genau - aber er 
fand nicht in die Redaktion zurück, dieser findige Repor¬ 
ter. Hahaha! 

Einer wurde zur Hochzeit des berühmten Schauspielers 
M. entsandt. Er kam zurück und schrieb nichts. „Wo ist 
der Bericht über die Hochzeit?" fragte man ihn. „Es gibt 
keinen. Der Bräutigam kam nicht, die Gäste warteten ver¬ 
gebens, die Hochzeit fand nicht statt. Also kann ich doch 
nichts schreiben." Hahahaha! 

Das ist noch gar nichts! Beim größten Brand unserer 
Zeit, als die Schittkauer Mühlen niederbrannten, war ein 
Reporter dabei - Kisch hieß er der wußte nicht eine 
Zeile zu berichten. Hahahahaha! 

So geht mein Name in die Geschichte der Reportage 
ein! 

„Gott sei Dank, daß Sie endlich kommen", empfing mich 
der Nachtredakteur schon auf dem Treppenflur, „ich habe 
Ihnen anderthalb Spalten reserviert. Schreiben Sie schnell, 
damit wir recht viel davon noch in die Postauflage bekom¬ 
men!" Und so rasch, wie es ihm seine siebzig Jahre er¬ 
laubten, humpelte er in den Setzersaal. 


131 



Anderthalb Spalten - das waren hundertfünfzig Zeilen! 
Ich hatte nicht einmal eine. Oder doch, eine hatte ich: den 
Titel. „Brand der Schittkauer Mühlen/' Der stand fest. 
Unter ihm klaffte leere Öde... hundertfünfzig Zeilen tief. 

Da gab's keine Wahl, ich mußte mich hinablassen in die 
öde Leere. Ich schrieb... schrieb von den Flammen und 
wieder von den Flammen... ich ließ sie lodern* leuchten, 
züngeln, prasseln, aufflackern ... das Gebälk ließ ich kni¬ 
stern, krachen, bersten ... die Mehlsäcke ließ ich glimmen 
und platzen und qualmen und dampfen und rauchen... 
die Wasserstrahlen ließ ich stechen wie Dolche und nieder¬ 
sausen wie Säbelhiebe ... und all das zusammen, all das 
zusammen ergab erst zwanzig Zeilen. 

Der Metteur en page riß sie mir aus der Hand. „Schnell, 
schnell das Weitere", schärfte er mir ein und war ver¬ 
schwunden. 

Das Weitere! Das Weitere gab's nicht, obwohl noch hun¬ 
dertdreißig Zeilen dafür frei gehalten waren, der Metteur, 
der Setzer, der Nachtredakteur auf sie warteten. 

Ich lutschte an meinem Bleistift. Entlutschte ihm, daß 
das Städtische Nachtasyl in der Nähe der Schittkauer Müh¬ 
len lag. Mein Bleistift trieb eine Gruppe von Obdachlosen 
zum Brandplatz. Mein Bleistift sah, wie sie fasziniert sich 
gegen den Feuerherd vorschoben, mein Bleistift half ihnen, 
sich dem Kordon der Polizisten zu nähern, denen sie sonst 
eilig und in weitem Bogen auszuweichen pflegen. Die Poli¬ 
zei, von dichtem. Dunkel umgeben, sah nicht, was mein 
Bleistift sah, sah nicht, welcher Art die sich heranwälzende 
Menge war. Nur wenn eine Feuergarbe ihr grelles Licht 
anstatt zum Himmel aufwärts seitlich warf, wurden die 
Gestalten sichtbar, die der Unterwelt entstiegen schienen, 
aber in Wirklichkeit meinem Bleistift entstiegen: Land¬ 
streicher mit gegerbten Gesichtern, wirren Bärten, struppi¬ 
gen Haaren und starr auf das Feuertheater gerichteten 
Augen. 

Mein Bleistift - weit stärker beobachtend als sein Herr 
- beobachtete in einem solchen Moment flammender Be¬ 
leuchtung, wie ein Polizist und ein vierschrötiger Riese ein¬ 
ander gegenüberstanden. Wahrscheinlich kennt der Polizist 
den Mann, vielleicht ist es ein Gewalttäter, der ihm bei 


132 



der Verhaftung Widerstand geleistet hat und entkommen 
war. Oder vielleicht war der Gewalttäter nicht entkommen 
und hat dem Polizisten Rache geschworen, der jetzt in 
seiner Reichweite steht Gleich wird der Flammenkegel 
wieder dem Dunkel Platz machen, einem undurchdring* 
liehen Dunkel gefährlicher Gelegenheit. Solcherlei schrieb 
und beschrieb mein Bleistift, bis ihn die hundertfünfzigste 
Zeile stoppte. 

Sonst pflegte ich, wenn ich eine größere Notiz geschrie¬ 
ben hatte, in die Setzerei hinüberzugehen, um dort angeb¬ 
lich den Bürstenabzug zu korrigieren, eigentlich aber, um 
von den Setzern ein Urteil über mein Produkt zu hören. 

Diesmal verließ ich die Redaktion ohne das. Nichts 
wollte ich wissen, am meisten befürchtete ich, man könnte 
mein Verlegenheitsgefasel loben. Daß ich einen „Bericht" 
zusammengebracht, änderte kein Jota daran, daß er nicht 
einmal enthielt, wie der Brand verlaufen war und was sich 
an Zwischenfällen zugetragen. Wahrscheinlich hatte es so¬ 
gar Tote und Verletzte gegeben. 

Der Entschluß, meine Demission zu geben, war ebenso 
wie die Möglichkeit, entlassen zu werden, noch da. 

Am nächsten Morgen sah ich in unsrem Blatt meine 
Phantasien noch vergröbert. Der Nachtredakteur hatte mei¬ 
nen Titel geändert. Mit Riesenbuchstaben, die mir wie 
brennende Balken vorkamen, spannten sich die Worte „An¬ 
sturm von Obdachlosen bei einer Feuersbrunst" .über die 
Spalten. 

Was die anderen Reporter gestern auf dem Brandplatz 
erfahren hatten, erfuhr ich heute aus ihren Blättern. Sie 
hatten alle Details erhoben, die mir verschlossen geblieben 
waren. Zumeist allerdings waren diese Details von der 
Art, die man in der Zunft als „interessant, aber langweilig" 
charakterisierte; Nach einigen Berichten war das Feuer um 
acht Uhr sechzehn abends von einer in der Nähe wohnen¬ 
den Metzgersgattin bemerkt worden, nach anderen Berich¬ 
ten Schlag neun Uhr von einem zufällig des Weges kom¬ 
menden Bauern aus Südböhmen. Laut „Nationalzeitung" 
war es die Löschmannschaft der Vorstadt Karolinenthal, 
die mit dem Spritzenmeister Soundso und zwei dreispän¬ 
nigen Dampf spritzen zuerst an der Brandstelle eintraf; der 


133 



„Volksgemeinschaft" zufolge aber war die Feuerwache 
Sokolstrage mit der neuen automatischen Feuerleiter als 
erste zur Stelle gewesen. Übereinstimmend war nur die 
Feststellung, dag in kurzen Intervallen alle Feuerwehr¬ 
stationen auf der Brandstätte eintrafen. In den meisten 
Blättern stand, der Brand sei auf dem ebenerdigen Schütt¬ 
boden ausgebrochen, der bleiche Schnüffeles vom „Prager 
Tagblatt" hatte jedoch erhoben, dag das Feuer im ersten 
Stockwerk mehr als eine Stunde lang gewütet und erst 
nachher die Räume im Parterre ergriffen habe. 

Als ich in die Redaktion kam, standen im Vorzimmer, 
das in der Frühstücksstunde eine Art Klubraum war, einige 
Redakteure beisammen. 

„Dieses Gedränge der Obdachlosen", sprach mich der 
Kunstkritiker an, „das mug ja wie ein Gemälde von 
Breughel gewesen sein. Ich habe Ihren Bericht interessiert 
gelesen." 

„Er hat ja nichts weiter aufgeschrieben, als was er ge¬ 
sehen hat", sagte Doktor Dykschy. 

Vielleicht um den geringschätzigen Ton Doktor Dykschys 
abzuschwächen, wandte der Kunstkritiker ein, ich hätte 
immerhin gut beobachtet. 

„Eben nur beobachtet. Was hätte ein Dichter daraus ge¬ 
macht! Eine Elendenkirchweih im Feuerschein! Heilige 
Hermandad und Briganten stehen einander unvermutet ge¬ 
genüber! Aber diese junge Mann merkte gar nicht, dag er 
eine Dramenszene in Händen hielt. Nun, schlieglich ist das 
auch nicht seines Amtes." 

Ich hatte gute Lust, ihm zu enthüllen, dag ich den Stoff 
sehr wohl zu würdigen wisse, denn er entstamme meiner 
Phantasie. Jedoch dann hätte Doktor Dykschy nur wieder¬ 
holt, und die anderen hätten ihm beigestimmt, dag das 
nicht meines Amtes sei. 

Ehe der Tag zu Ende ging, an dem mich Doktor Dykschy 
den Unwert der Wahrheit fühlen lieg, bekam ich eine Lek¬ 
tion über den Wert der Unwahrheit. 

„Ich habe Ihnen anzukündigen, dag Sie aus der Börse 
ausgeschlossen werden, wenn Sie noch einmal in dieser 
Art schreiben", empfing mich Papa Vejvara, als ich abends 
auf die Börse kam. 


134 



„In welcher Art habe ich denn geschrieben?" 

„In der Art eines Lügners", brach er los. „Lauter un¬ 
verschämte Lügen! Sie werden eine gesalzene Berichtigung 
vom Städtischen Nachtasyl bekommen - bei Nacht kann 
niemand aus dem Gebäude, weil es abgesperrt ist und 
jeder beim Eintritt seine Kleider abgeben muß." 

„Ich habe nicht geschrieben, daß es die Insassen des 
Städtischen Asyls waren. Ich habe nur von Obdachlosen im 
allgemeinen gesprochen, die Nähe des Asyls habe ich er¬ 
wähnt, ohne zu sagen, daß die Leute von dort kamen." 

Über diesen Trick wurde Papa Vejvara noch wilder. Er 
hatte nämlich von der Asylleitung ein Dementi meines Be¬ 
richts verlangt, aber den Bescheid erhalten, daß infolge 
der Stilisierung nichts gegen meinen Bericht unternommen 
werden könne. Warum hatte Papa Vejvara das getan? Er 
verheimlichte es nicht. 

„Mit Ihren Lügen bringen Sie uns um die Existenz. 
Heute morgen schnauzt mich der Chefredakteur an, wieso 
ich die Obdachloseninvasion auf der Brandstätte nicht ein¬ 
mal mit einem einzigen Wort erwähnt habe." 

„Sie konnten ihm doch sagen, Herr Vejvara, daß das er¬ 
funden ist." 

„Ich verbitte mir Ihre Ratschläge." 

Kollege Wenzel Vilde mischte sich ein: „Wenn man 
diesen Klebstoffjournalisten sagt, daß ein Konkurrent lügt, 
so glauben sie, das sei eine Ausrede." 

Papa Vejvara bestätigte das, indem er beide Fäuste auf 
den Tisch schlug; sein Chefredakteur habe ihm wörtlich 
gesagt: „Komisch, daß sich die anderen immer die inter¬ 
essantesten Lügen ausdenken und Sie immer nur die lang¬ 
weiligste Wahrheit wissen." Papa Vejvara fiel aus der 
Höhe der Wut in die Tiefe der Bitterkeit: „Das muß ich 
mir sagen lassen im dreißigsten Jahr meiner Tätigkeit." 

„Wegen eines solchen Rotzbengels", sagte Ritter Wuk 
von Rosenberg, nur um nicht unhöflich zu erscheinen. 

„Was sollte ich denn machen?" wandte ich ein, „ich hatte 
doch überhaupt keine Details. Als ich Sie bat, Herr Vej¬ 
vara, mir etwas zu sagen, haben Sie geantwortet: Es 
brennt." Diese höhnische Antwort von Papa Vejvara wurde 
stillschweigend mißbilligt. 


135 



Fromm und milde riet mir Herr Adalbert Betzek, mich 
immerdar nach der Religion zu richten: „Du sollst nicht 
lügen, steht in den Zehn Geboten, und wenn Sie sich schon 
so eine faustdicke Lüge ausdenken, so müssen Sie sie uns 
telefonieren, damit wir sie auch bringen können und nicht 
dastehen wie die törichten Jungfrauen." 

Auf der Chodiera-Börse erschien an diesem Abend Herr 
Tschuppik statt des „bleichen Schnüffeles", der vom „Prager 
Tagblatt" seines Postens enthoben worden war. 

Was war das alles? 

Solange ich Vortragsreferate und Schmucknotizen ver¬ 
faßte, war ich nie ratlos gewesen, hatte nie, selbst wenn 
ich vom Thema wenig verstand, einen Bericht aus der Luft 
gegriffen und nie die Stellung eines Kollegen gefährdet. 

Offenbar ist die direkte Beschreibung der Wirklichkeit 
weit schwieriger. Kein Kritiker wird bei der Besprechung 
eines Buches, einer Aufführung oder einer Ausstellung 
jemals von solch einem Gefühl beruflicher Ohnmacht be¬ 
fallen werden wie ich gestern im Schein des Mühlenfeuers. 
Und dennoch behandeln die Redakteure der Kulturrubri¬ 
ken den Reporter als etwas Untergeordnetes, wie einen, 
der in den Beinen haben muß, was er nicht im Kopf hat. 

Ein paar Tage vorher war ich dem künstlerlockigen 
Feuilletonchef, an dessen Namen ich mich nicht mehr er¬ 
innere, in den Weg gelaufen. Er sprach mir sein Mi߬ 
fallen darüber aus, daß ich Reporter geworden. „Ich hatte 
anderes mit Ihnen im Sinn", sagte er, „ich wollte Ihnen 
einen Namen machen." 

Auch Doktor Dykschy fand das verächtlich, was meines 
Amtes war. Gewiß, er war konsequent. In seinen Literatur¬ 
kritiken anerkannte er als Kunst nur das Übersprudelnd- 
Launische, das Traumhaft-Zerfließende, das Ungebunden- 
Absurde, das Sprunghaft-Unlogische oder das Irrational- 
Mystische. Streng lehnte er den „phantasielosen Rationa¬ 
lismus und öden Materialismus der schnell veralteten fran¬ 
zösischen Schule" ab, worunter er Balzac, Flaubert und 
vollends Zola verstand. Dem Doktor Dykschy, der meinem 
unseligen Lyrikband seinerzeit eine kritische Ermunterung 
gegeben, konnte die Obdachlösenszene nicht gefallen, weil 
er sie für Realität hielt. 

136 



Aber Chefredakteure, Journalisten an verantwortlicher 
Stelle, mußten sie nicht Realität schätzen? So wirkungsvoll 
formuliert die Antithese war, die der Chef des Papa Vej- 
vara gebraucht - durfte er eine Lüge fordern, weil sie 
interessant war? Durfte er sie einer Wahrheit vorziehen, 
und wäre es der sterbenslangweiligsten? 

Diese Fragen waren beileibe keine rhetorischen, es gab 
Antworten auf sie. 

Manche Herausgeber, der große Gordon Bennett zum 
Beispiel, haben eingestanden, daß Zeitungen, ob sie nun 
dem Geschäft oder der Verbreitung einer Gesinnung die¬ 
nen, eine ihre Ziele begünstigende Unwahrheit vorziehen 
müssen einer Wahrheit, die ihren Zielen zuwiderläuft Ein 
Zyniker tat gar den Ausspruch: „Eine falsche Nachricht ist 
mir die liebste, denn erstens hat man sie allein, und zwei¬ 
tens bekommt man eine Berichtigung, die man wieder 
allein hat." 

Die Begründung ist falsch, denn nichts wird so prompt, 
so gründlich und so energisch dementiert wie gerade die 
Wahrheit. Um so mehr kann diesen Grundsatz des Zyni¬ 
kers auch ein Zeitungsherausgeber akzeptieren, der keine 
Berichtigungen wünscht. 

Und der Leser? Welche Wichtigkeit hat es für ihn, zu 
erfahren, ob der zweite oder erst der vierte Schuß des 
Mörders tödlich war? Daß beim Sturm auf Port Arthur 
nicht fünftausend, sondern nur fünfhundert Japaner fielen? 
Daß sich das Feuer in den Schittkauer Mühlen nicht auf 
dem Schüttboden ausbreitete, sondern zunächst im ersten 
Stock? 

Der Stein der Wahrheit, der nur um hohen Preis zu er¬ 
werben ist, ist von seiner billigen Imitation nicht zu unter¬ 
scheiden. Kein Leser hatte in meiner Erzählung vom loka¬ 
len und öffentlichen Ereignis des Mühlenbrands gemerkt, 
daß ihr nichts zugrunde lag. Wie sollte bei einem weniger 
erhellten Tatbestand, wie erst bei einem auswärtigen Vor¬ 
fall die Phantasie, von der Realität unterschieden werden? 
Wenn man gar das Gebot des frommen Herrn Adalbert 
Betzek befolgte, jede Erfindung den Kollegen weiterzu¬ 
geben, fiele auch die letzte Entlarvungsmöglichkeit weg. 

Ich definierte mir, was der Bericht überhaupt darstellt. 


137 



Er ist eine Form der Äußerung, vielleicht sogar eine Kunst¬ 
form, obschon nur eine kleine wie die Bänkel des blinden 
Methodius oder die Tätowierungen im Arrestgebäude. 

Spezifisch ist dem Bericht, daß ein wirklicher Vorfall 
sein Thema bildet. Könnte nicht bloß vorgespiegelt werden, 
daß der Vorfall sich ereignet hat? Nein. Wenn die Be¬ 
gebenheit erfunden ist, mag es der Leser merken oder 
nicht, ist ihre Darstellung kein Bericht. Romanschriftsteller, 
Novellisten und Anekdotenerzähler behaupten oft, daß ein 
von ihnen geschildertes Ereignis sich tatsächlich abgespielt 
habe. Es schädigt den Dichter nicht, es erhebt ihn sogar, 
wenn der Leser diese Behauptung nicht glaubt. Aber ein 
Chronist, der lügt, ist erledigt. 

Die Behandlung des Sujets birgt allerdings eine Alter¬ 
native: Entweder man nimmt das Ereignis zum Ausgangs¬ 
punkt für ein Phantasieprodukt (was ich gestern beim 
Mühlenbrand getan), oder man bemüht sich, die Zusam¬ 
menhänge und Details so zu ermitteln, daß das Ergebnis 
mindestens in gleichem Maße interessant ist wie das Phan¬ 
tasieprodukt. (Ich hätte die Obdachlosenszene entdecken 
müssen, nicht sie erfinden dürfen.) 

Zum obigen Entweder hatte ich mein Geschick, zum 
obigen Oder mein Ungeschick bewiesen, aber ich mußte 
den zweiten Teil der Alternative wählen. 

Oh, nicht etwa aus moralischen Gründen! Da war jene 
Dantesche Neugier. Von Kindheit an brachte ich infolge 
dieser Neugier von jedem Weg zum Kaufmann oder zum 
Postschalter eine solche Fülle von Erzählenswertem heim, 
daß man es zumindest für Übertreibung hielt. Mich ver¬ 
droß diese Verdächtigung, weil ich es nicht nötig hatte 
zu erfinden, sah und hörte ich doch überall so viel Un¬ 
glaubhaftes, das dennoch Wahrheit war. Wie konnte es 
sein, daß die mir selbstverständlichen Erlebnisse den ande¬ 
ren unmöglich schienen? 

Gestern hatte ich zum erstenmal etwas erfunden, und 
alle hatten es geglaubt. .. Sollte ich also bei der Lüge 
bleiben? Nein. 

Gerade weil mir bei der ersten Jagd nach der Wahrheit 
die Wahrheit entgangen war, wollte ich ihr fürderhin nach¬ 
spüren. Es war ein sportlicher Entschluß. 


138 



WEIHNACHTSBESCHERUNG 


„Umherzuschauen bestellt", so erklärt Faust der schönen 
Helena die Aufgabe seines Türmers, „scharf zu überspähn, 
was etwa da und dort sich melden mag." Meine Aufgabe 
war die gleiche. 

Mochte sich da und dort nur melden, was kaum eine 
kurze Notiz ergeben hätte, dann machte ich lange Berichte 
daraus, indem ich es mit Schilderungen des polizeilichen 
Alltagslebens auffüllte. Einen Raufhandel unter Prostitu¬ 
ierten spannte ich in den Rahmen des Sittenpolizeibetriebs, 
anläßlich der Einlieferung eines Taschendiebs schilderte 
ich die anthropometrische und daktyloskopische Kartothek 
sowie das Verbrecheralbum, aus dem Blutfleck auf einer 
gefundenen Jacke ergab sich das Kriminalogische Labora¬ 
torium und aus dem Abtransport von Bettlern der Fahr¬ 
plan und die Reisevorschriften des Gefangenenwagens. 

Sogar die Redaktion des „Polizei-Anzeigers der k.k. Poli¬ 
zeidirektion Prag" versuchte ich zu beschreiben. Ich sage 
„sogar" und „versuchte", weil diese Zeitung unbeschreiblich 
war, nämlich unbeschreiblich langweilig - der Tatsache 
zum Trotz, daß sie einen beneidenswert ausgedehnten 
Telegrammdienst hatte, der sich auf Verbrechen und Ver¬ 
gehen bezog. Aber die Nachrichten bestanden nur aus Auf¬ 
zählungen, Namen, Abkürzungen und Nummern; im In¬ 
landsteil standen die Verzeichnisse verlorener und gestoh¬ 
lener Gegenstände und die Personalbeschreibungen von 
Landstreichern, Geflügeldieben und dergleichen, im Aus¬ 
landsteil die Steckbriefe, die mittels Zirkulartelegramm 
automatisch von allen Polizeibehörden Europas einlang¬ 
ten. 

Ein einziges Mal hatte auch dieses Wochenblatt eine 
große Originalnachricht enthalten, eine internationale Sen¬ 
sation, aber Herausgeber und Redakteur waren nichts 
weniger als erfreut darüber. Hätte ich diesen Vorfall er¬ 
zählen dürfen, dann hätte das für einen Artikel über die 


139 



Polizeiredaktion genügt. Das durfte ich jedoch damals 
nicht, denn es handelte sich um folgenden Steckbrief: 

Nr. 1120. KAISER Wilhelm (Sohn des in Charlottenburg 
bei Berlin verstorbenen KAISER Friedrich), 41 Jahre alt, 
bislang in der Irrenanstalt von Professor Bülow interniert, 
ist vor einigen Wochen von dort entwichen und in Marien¬ 
burg unter Anfällen von Redewut gesehen worden. Beson¬ 
dere Kennzeichen: verkürzter rechter Arm, hochgekämmtes 
Haar, aufwärts gedrehter Schnurrbart und schnarrende 
Stimme. Nach demselben, der äußerst gemeingefährlich ist, 
ist eifrig zu fahnden und ein positives Resultat anher 
bekanntzugeben. Pol.-Dir. Prag 

In der Tat wurde nun „eifrig gefahndet", wenn auch 
nicht nach dem sub Nr. 1120 steckbrieflich Verfolgten, son¬ 
dern nach dem Unbekannten, der den Fahndungsbefehl 
Nr. 1120 eingeschmuggelt hatte. Denn die deutsche Reichs¬ 
regierung - von sämtlichen Polizeibehörden diensteifrig 
aufmerksam gemacht - verlangte eilige Aufklärung und 
strengste Bestrafung dieser Majestätsbeleidigung. Es war 
mehr als eine Majestätsbeleidigung, es war ein politischer 
Protest gegen den Bruch einer Vereinbarung. Nach dem 
Flotteninterview, das Kaiser Wilhelm II. der „Daily Mail" 
gegeben und das im deutschen Reichstag einen Sturm mit 
beinahe antimonarchistischer Tendenz hervorgerufen hatte, 
verpflichtete sich Kaiser Wilhelm, fürderhin mit keiner 
Kundgebung hervorzutreten, die nicht vom Reichskanzler 
Fürst Bernhard von Bülow gegengezeichnet sei. Und den¬ 
noch hatte er nun auf dem Schloß des Deutschen Ritter¬ 
ordens in Marienburg eine säbelrasselnde Rede gehalten. 

So „eifrig gefahndet" auch wurde, ein „positives Resul¬ 
tat" wurde nicht bekanntgegeben, wenigstens nicht, soweit 
es die Person des Mystifikators betraf. Der Prager 
Polizeidirektor wurde in die Wüste geschickt und der 
Redakteur des „Polizei-Anzeigers" ins Gefangenenhaus - 
er konnte von Glück sagen, daß er nur als Verwalter hin¬ 
kam und nicht als Häftling. An seine Stelle trat ein jun¬ 
ger Pedant, der beim Einlauf von Manuskripten scharf 
aufpaßte, und besonders auf solche mit dem Anfangsbuch¬ 
staben K. 


140 



Er vermochte mir nichts zu raten, was ich zum Anlaß 
einer Schilderung seiner „Zeitung" nehmen könnte, ver¬ 
sprach mir jedoch, darüber nachzudenken. 

Ohne Zweifel, die anderen Departements waren ergie¬ 
biger. Reichten die Erklärungen der Beamten nicht aus, so 
konnte ich in kriminalogischen Büchern Ergänzungen fin¬ 
den. Ich begann diese Art von Büchern zu sammeln und 
blieb ihnen fast dreißig Jahre lang treu - viertausend 
Werke über historisch gewordene Verbrechen, Prozesse, 
Kerker, Hinrichtungen enthielt meine Bibliothek und sollte 
dereinst als Symptomatologie und Typologie zur wissen¬ 
schaftlichen Bekämpfung des Verbrechens beitragen; 1933 
aber ist sie den Verbrechern selbst in die Hände gefallen 
und kann ihnen nun als Lehrbehelf dienen. 

Wochentags ging ich nur einmal täglich zur Polizei, um¬ 
herzuschauen, scharf zu überspähn, was etwa da und dort 
sich melden mag, am Sonnabend jedoch erschien ich zwei¬ 
mal und überspähte noch schärfer, denn es war Ehren¬ 
sache, am Sonntag einen Solokarpfen im Topf zu haben. 

Begreiflicherweise wollte ich einen besonders fetten in 
der Weihnachtsausgabe auftischen, aber keiner ließ sich 
angeln, so nahe auch das Fest heranrückte. Alle Abteilun¬ 
gen der Polizei hatte ich bereits überspäht, vergeblich. 
Mehr aus Verzweiflung denn aus Hoffnung kehrte ich in 
der langweiligen Redaktion des langweiligen „Polizei-An¬ 
zeigers" ein. 

„Nichts Neues", sagte der Kommissar-Redakteur, und 
ich wollte eben gehen, als ihm ein Telegramm gebracht 
wurde. 

Das ist meine Weihnachtssensation, durchzuckte es 
mich. Es konnte mich leicht durchzucken, da ich nichts 
anderes gefunden, was mich hätte durchzucken können. Ich 
fragte nach dem Inhalt der Depesche. Der Kommissar 
reichte sie mir mit boshafter Bereitwilligkeit, denn es war 
nur eine jener zahllosen Zirkulardepeschen, die selbst der 
emsigste Reporter verschmäht. Sie lautete: „nachtrag zu 
sechzehn doppelpunkt körpergröße wolodarski nicht un¬ 
gefähr hundertsechzig sondern hundertsiebzig polizeidi- 
rektion przemysl." 

Dennoch verlangte ich den Fahndungsbefehl sechzehn zu 


141 



sehen, den das Telegramm richtigstellte, und fand ihn 
seltsamerweise nicht unter dem Schlagwort „Wolodarski", 
sondern unter dem Schlagwort „Wasinski" in einer vier¬ 
zehn Tage alten Nummer des „Polizei-Anzeigers". Der 
Fahndungsbefehl begann mit folgenden Daten: 16. Septem¬ 
ber: E., Steueramt Przemysl; 4. Oktober: E., Stadtkasse 
Kaschau; 20. Oktober: E. mit Wg. (2 T.), Regierungs¬ 
gebäude Teschen; 6.Dezember: E., Finanzamt Olmütz. („E." 
bedeutet Einbruchdiebstahl, „Wg." Waffengebrauch und 
„T." Totschlag.) 

Unter diesen Angaben dehnte sich ein Tümpel von Zif¬ 
fern und Buchstaben, auf dem wie Inseln einige Namen 
lagen. Die „Dechiffrierung" ergab, daß der fünfundzwan¬ 
zig Jahre alte ehemalige Eisendreher Wassili Wasinski 
aus Przemysl (besondere Kennzeichen: Daumen und Zeige¬ 
finger an der linken Hand fehlen) eine Einbrecherbande 
von sieben bis acht Männern befehligte: den ehemaligen 
Schmied und Wanderathleten Franz Adamski, geboren in 
Ztoczew, dreißig Jahre alt, ein Meter zweiundneunzig 
groß, pockennarbig, Tätowierung auf dem rechten Ober¬ 
arm, darstellend zwei Hanteln und ein Herz mit dem Na¬ 
men „Wanda"; den etwa zweiundzwanzigjährigen Handels¬ 
angestellten Boris Brünner aus Lemberg, schwarzes oder 
dunkelbraunes Schnurrbärtchen, spricht polnisch, deutsch 
und russisch; den siebzehnjährigen Gelegenheitsarbeiter 
Paul Szafranski, hellrotes Haar, linkes Ohr verstümmelt; 
drei oder vier unbekannte Männer und jenen ungefähr 
hundertsechzig - nein, hundertsiebzig Zentimeter langen, 
achtundzwanzig Jahre alten Schlosser Wladimir Wolo- 
darski aus Kolomea, dem die Nachtragsdepesche galt. 

Die Einbrüche der Wasinski-Bande waren Ereignisse im 
fernen Osten der Monarchie, ich aber bedurfte eines Pra¬ 
ger Lokalfalles und mußte daher die Verbrechergruppe 
auf irgendeine Weise mit Prag in Zusammenhang bringen, 
wenigstens in der Form, daß die Prager Polizei vor ihr 
gewarnt worden sei. (Daß die Warnung an alle Polizei¬ 
behörden Europas ging, brauchte ich ja nicht zu erwäh¬ 
nen.) 

Die Nummern der Przemysler, Kaschauer, Teschener 
und Olmützer Zeitungen, in denen über die Amtseinbrüche 


142 



berichtet wurde, waren leicht beschafft, und ich stu¬ 
dierte sie. In jeder Stadt hatte sich mein dortiger Kollege 
selbstverständlich nur mit dem dortigen Ereignis befaßt. 
Der Przemysler Reporter hatte noch nicht gewußt, daß der 
Einbruch im Steueramt von der Wasinski-Bande verübt 
wurde, hingegen verfügte er über eine Personenbeschrei¬ 
bung von zweien der Täter. Genauere Angaben brachte die 
Kaschauer Zeitung; sie stammten von einem Bürger, des¬ 
sen Mieter, Polen, plötzlich verschwunden waren, unmit¬ 
telbar nach dem Raub in der Stadtkasse. In Teschen war 
die Kolonne im Regierungsgebäude überrascht worden, 
konnte aber entkommen, nachdem sie zwei ihrer Verfolger 
durch Kopfschüsse getötet und die anderen eingeschüch¬ 
tert hatte. Vor dem Gebäude des Olmützer Finanzamts 
war am Tage des Einbruchs ein etwa sechzehnjähriger 
Bursche mit Pelzmütze aufgefallen, der dort mehrere Stun¬ 
den lang gewartet hatte. 

Summiert ergaben der Steckbrief und die Zeitungsbe¬ 
richte aus den vier Städten ziemliche Klarheit über die 
Rollenverteilung und die Taktik der Einbrecher. Sie hatten 
zum erstenmal ihre Tätigkeit aus Galizien in ein Nachbar¬ 
land verlegt; daß sie hier der Landessprache unkundig 
waren und deshalb auffallen mußten, schien ihnen kein so 
arger Nachteil wie der, daheim allzu polizeibekannt zu 
sein. Dieses Prinzip bauten sie aus: Nach der ungarischen 
Stadt Kaschau wählten sie, anstatt irgendeinen nahen Ort 
in Ungarn heimzusuchen, das schlesische Teschen zum Ar¬ 
beitsgebiet und nachher das mährische Olmütz, um nicht 
wieder in dem Land aufzutreten, in dem ihr letztes Ver¬ 
brechen die Behörden und Zeitungen noch beschäftigte. 
Nie kehrten sie in einem Hotel ein, sondern mieteten eine 
oder zwei private Wohnungen unter den Namen Kriwow, 
Elsnerowicz, Dembitzky und Radowicz, auf welche ihre Pa¬ 
piere lauteten. Mit den Vorarbeiten zum Einbruch began¬ 
nen sie an Samstagabenden, um zur eigentlichen Ausplün¬ 
derung die sonntägliche Amtsruhe zu benützen. 

Mein Artikel gipfelte in dem Schluß, der Trupp, von 
Przemysl über Kaschau nach Teschen und Olmütz kom¬ 
mend, könne als nächste Station nur Prag gewählt haben. 
„Da Wasinski und seine Leute", so schloß ich, „mit Vor- 


143 



liebe am Samstag und Sonntag arbeiten, werden sie gewiß 
die Stille des Heiligen Abends zur Vorbereitung eines 
großen Coups benutzen und gegebenenfalls vor einer Blut¬ 
tat nicht zurückschrecken, so daß die Prager Detektive 
diesmal keine Weihnachtsruhe werden halten können/ 

Es ist wahr, diese Folgerung war eigentlich die Voraus¬ 
setzung meines Artikels. Ohne sie hätte ich mir nicht die 
Mühe gemacht, ihn zu schreiben, hätte irgendeinen Bericht 
über irgendeinen Vorfall aus irgendeinem ausländischen 
Blatt ausschneiden können. Nur durch diese Konklusion 
war der Artikel zu einem lokalen gestempelt, erst durch 
sie war seine Ausführlichkeit begründet. 

Aber so apodiktisch wurde ich nur, weil sich, während 
ich schrieb, die Glieder der Verbrechenreihe lückenlos in- 
einanderfügten und die logische Folge sich mit solcher 
Selbstverständlichkeit ergab, daß ich schließlich überzeugt 
war, die galizischen Einbrecher seien bereits in Prag und 
mitten in ihrer Arbeit. Zum erstenmal erlebte ich das Phä¬ 
nomen, durch schriftliche Festlegung eines Sachverhalts, 
durch graphische Deduktion zu einer Lösung des Problems 
zu gelangen. 

Am Weihnachtsabend wird in allen Zeitungsdruckereien 
die Festnummer um sechs Uhr abends fertiggestellt, und 
Arbeiter und Angestellte verlassen den Betrieb, um im 
Kreise der Ihren an der Bescherung teilzunehmen. Ich aber 
ging, sosehr ich mich über mich lustig machte, zur Klein¬ 
seite hinüber, dem Stadtteil der Ämter, in der Hoffnung, 
einer Gruppe polnisch sprechender Männer zu begegnen 
oder vor der Staatskasse einen jungen Mann, die Pelz¬ 
mütze über ein beschädigtes Ohr und rotes Haar gestülpt. 
Schmiere stehen zu sehen. Selbstverständlich traf ich, so 
scharf ich auch den wirbelnden Schnee durchspähte, nichts 
dergleichen an. Nur eilende Menschen mit Geschenken und 
die letzten Spielzeugverkäufer sah ich und den Abtrans¬ 
port unverkaufter Tannenbäumchen. 

Am nächsten Morgen erschien die Weihnachtsnummer 
der „Bohemia", Leser und Leserinnen lasen meine Prophe¬ 
zeiung für den gestrigen Abend, als sie durch den Ruf 
„Extra-Ausgabe" unterbrochen wurden . . . 

In der stillen Heiligen Nacht hatte sich nämlich folgen- 


144 



des begeben: In einem Hause nahe dem Hauptpostamt 
ging gegen acht Uhr abends eine Köchin in den Keller, 
um Wein zu holen. Unten vernahm sie Axtschläge, die ihr 
am Weihnachtsabend besonders verdächtig vorkamen, und 
sie alarmierte die Nachbarn. Als diese in den Keller hin¬ 
absteigen wollten, knallten ihnen Schüsse entgegen. Er¬ 
schreckt liefen die Hausbewohner, darunter zwei als Weih¬ 
nachtsmänner verkleidete Familienväter, auf die Straße. 
Sie sahen zu ihrem Staunen einige Männer aus dem - 
Nachbarhaus herausstürzen und eilten ihnen nach. Die 
Flüchtigen schossen und verletzten vier ihrer Verfolger. 

Zufällig kam der Gefängnisaufseher des Strafgerichts, 
Kautsky (ein Vetter des sozialistischen Theoretikers Karl 
Kautsky), des Weges; mit beruflichem Griff packte er 
einen der Fliehenden an der Schulter, aber dieser feuerte 
eine Revolverkugel auf Kautsky ab, riß sich los und ver¬ 
schwand im Neubau eines Eckhauses. Ein anderer, ein 
Hüne, stolperte und stürzte zu Boden. Bevor er sich auf¬ 
zurichten vermochte, umklammerten Passanten seine Arme 
und Beine und hielten ihn fest, bis die Polizei ihm Hand¬ 
schellen anlegte. Die übrigen entkamen. 

Auf dem Bürgersteig vor dem Neubau lag röchelnd Ge¬ 
fängnisaufseher Kautsky und starrte auf die beiden über 
ihn gebeugten Greise mit Bärten aus Schnee und stern¬ 
besäten Mänteln. Ein Arzt stellte fest, daß für Kautsky 
keine Hilfe mehr möglich sei, und wandte sich den anderen 
vier Verletzten zu. Aus allen Fenstern schauten Menschen 
auf die Straße hinab, und hinter ihnen glitzerte der Glas¬ 
schmuck der Weihnachtsbäume. 

In dem Neubau, in dem der Mörder Kautskys ver¬ 
schwunden war, suchten Polizeimänner und Polizeihunde 
die Gerüste ab, die Materialaufzüge, die Ziegel- und Bret¬ 
terhaufen. Ebenso wurde das Haus durchforscht, in dessen 
Keller die Männer überrascht worden waren; sie hatten 
die Wände zu den Kellern der beiden Nachbarhäuser 
durchbrochen, um im Falle einer Entdeckung nach ver¬ 
schiedenen Seiten flüchten zu können. Aus dem an die 
Hauptpost grenzenden Privathaus war ein Weg zum Kas¬ 
senraum der Post freigelegt. Dort, wo viermal hundert¬ 
tausend Kronen in bar und Postwertzeichen für etwa eine 


10 Kisch VII 


145 



halbe Million Kronen lagen, hatten die Einbrecher wäh¬ 
rend der Feiertage ihr Werk tun wollen. 

Der gestolperte und festgenommene Mann war auf die 
Polizeiwachstube gebracht worden. Als ich dort ankam, 
hörte ich, wie man in allen Sprachen auf ihn einredete, 
denn aus einigen unverständlichen Worten, die die Flie¬ 
henden einander zugerufen, schloß man, daß es sich um 
Ausländer handle. Aber der flachstirnige Riese reagierte 
auf keines der englischen, italienischen und französischen 
Worte, teilnahmslos schaute er ins Leere. Neben einem ver¬ 
löschten Christbaum saß er, den Rücken an die Stuhllehne 
gepreßt, den Kopf steif hochgereckt, die Beine gefesselt, 
die Hände mit Handschellen vor dem Bauch aneinander¬ 
geschlossen. Er sah aus wie ein Entfesselungskünstler 
bei Beginn der Vorstellung, und das Wort „Wanderathlet" 
fiel mir ein, das ich heute in meinem Artikel verwendet 
hatte. 

Hinter dem Weihnachtsbaum stehend, rief ich: 
„Adamski." 

Im gleichen Augenblick vernahm man das Klirren an¬ 
einanderschlagenden Metalls. Polizisten sprangen auf den 
Verhafteten zu und packten ihn an den Armen, denn sie 
dachten nichts anderes, als daß er seine Fesseln gesprengt 
habe. Aber er hatte sich nur jäh umgewandt 

Was also hatte so unheimlich geklirrt? Man tastete ihn 
nun gründlich ab und entdeckte sechs je einen Meter lange 
Eisenstäbe, die er auf den Rücken geschnallt trug, und 
eine Stahlschere. Die Stöcke ließen sich ineinanderschrau- 
ben, so daß die Hebellänge der Schere sechs Meter be¬ 
trug. Eine Maulstange von dieser Länge, deren Hand¬ 
habung mehrere Männer erforderte, war noch niemals bei 
Geldschrankknackern gefunden worden, selbst Papacosta, 
der Bahnbrecher der modernen Einbruchstechnik, hatte mit 
einer Maulstange von nur zweieinhalb Metern gearbeitet. 

Während der Besichtigung dieses erstaunlichen Instru¬ 
ments wandte sich Regierungsrat Olitsch an mich: „Was 
haben Sie denn gerufen?" 

„Ich habe seinen Namen genannt." 

„Seinen Namen? Welchen Namen? Wieso wissen Sie sei¬ 
nen Namen?" 


146 



„Der Mann heißt Franz Adamski, ist ein Meter zweiund¬ 
neunzig groß, dreißig Jahre alt, gewesener Schmied und 
Wanderathlet aus Zloczew und gehört der Einbrecherbande 
Wasinski an." 

Regierungsrat Olitsch fragte den Gefesselten: „Franz 
Adamski?" Der Riese hatte seinen Blick ins Leere wieder¬ 
gefunden. „Tlupa Wasinski?" Er blieb stumm. 

Ich ging an ihn heran und wies auf seinen Oberarm. 
„Wanda?" Aus pockennarbigem Gesicht richteten sich fas¬ 
sungslose, drohende Augen gegen mich. Man löste die 
Handschellen (an ihre Stelle traten mindestens zwölf Poli¬ 
zistenhände) und entblößte seinen Arm: zwei gekreuzte 
Hanteln und ein flammendes Herz mit dem Namen 
„Wanda". 

„Der von uns angekündigte Amtseinbruch in der Weih¬ 
nachtsnacht - die Bluttat Wasinski wirklich verübt", stand 
großspurig als Überschrift auf der Extra-Ausgabe, die wir 
am Weihnachtsmorgen herausbrachten. Als Motto war der 
Schluß meines gestrigen Artikels gewählt, und der Bericht 
begann so: „Diese Worte haben wir gestern geschrieben. 
Unsere Voraussage hat sich wörtlich erfüllt. Die Prager 
Detektive konnten keine Weihnachtsruhe halten. Sie for¬ 
schen nach der Bande Wasinskis, die den von uns ange¬ 
kündigten ,großen Coup' am Heiligen Abend mitsamt der 
von uns prophezeiten Bluttat in Prag verübte.. 

Das Meldeamt war noch in der Nacht nach den Namen, 
die ich den galizischen, schlesischen und mährischen 
Zeitungen entnommen hatte, ohne Ergebnis durchforscht 
worden. Am frühen Morgen jedoch erschien bei der Polizei 
ein Hausbesitzer, der von dem Verbrechen noch nichts 
wußte, aber im Bericht der „Bohemia" den Namen Elsnero- 
wicz gelesen hatte; er meldete, daß in sein Haus vor ein 
paar Tagen ein Ingenieur Elsnerowicz mit seinen Brüdern 
eingezogen sei. Eilig fuhren Polizeibeamte zur Wohnung. 
Die Mieter waren verschwunden. Man durchsuchte die 
Räume und verhörte den Hausbesorger. 

Inzwischen standen wir Journalisten auf dem Korridor, 
umgeben von den Hausbewohnern, die sich als Nachbarn 
von solch wichtigen Verbrechern sehr wichtig vorkamen. 
Sie bemühten sich, uns ihre Beobachtungen zu vermitteln. 


147 



zum Beispiel, diese Kerle hätten jeden Tag ein ganzes 
Kilo Schinken zum Frühstück verzehrt! Aufgeregt stieg der 
Friseur, der im Haus seinen Laden hatte, auf uns zu, um 
die Öffentlichkeit darüber aufzuklären, dag er einen von 
diesen Kerls vorgestern rasierte, und der habe es abge¬ 
lehnt, sich nachher das Gesicht mit Alkohol abreiben und 
pudern zu lassen! 

Schon das Kilo Schinken bot für die Ausforschung der 
Täter wenig Anhaltspunkte, wenn man es auch allenfalls 
in einen. Zeitungsbericht einfügen konnte, aber mit dem 
Verzicht auf Puder und Alkohol lieg sich gar nichts an¬ 
fangen. 

Ein Mieter, er betonte, Oberbuchhalter zu sein, wollte 
es unbedingt gedruckt sehen, dag ihm die Kerle gleich 
nicht .gefallen hätten; er könne für sein diesbezügliches 
Urteil eine Reihe von Zeugen anführen, seine Frau zum 
Beispiel. Eine Mutter stellte uns ihr dreizehnjähriges Töch- 
terchen vor, das vorgestern zu spät zum Mittagessen 
gekommen war, weil es einen von diesen Kerlen zum Post¬ 
amt auf dem Comeniusplatz führte. Ein anderer Haus¬ 
bewohner hatte einem dieser Kerle das nächste Wäsche¬ 
geschäft gezeigt, wo er ... 

Der Oberbuchhalter unterbrach ihn mit der Frage an 
uns, ob er seine Bemerkung, dag ihm die Kerle gleich 
nicht gefallen hätten, den Herren von der Polizei melden 
solle; er habe . Zeugen, seine Frau zum Beispiel erinnere 
sich ganz genau. 

Die Mutter des dreizehnjährigen Mädchens schrie über 
ihn hinweg, ihr Kind sei eine volle Stunde zu spät zum 
Essen gekommen, wie leicht hätte der Kerl es in dieser 
Zeit umbringen können. 

„Man mügte alle Ausländer aufhängen", schlug eine 
korpulente Dame vor, „dann werden die Verbrechen in 
der ganzen Welt gleich auf hören. Schreiben Sie in die 
Zeitung, meine Herren, man soll einfach alle Ausländer 
aufhängen!" 

Ich wandte mich an das kleine Mädchen: „Sag mal, war¬ 
um hast du den Mann nicht zum Postamt in der Tyl- 
strage geführt? Das ist doch näher." 

„Dorthin sind wir zuerst gegangen, aber dort sagten 


148 



sie ihm, man kann von dort nicht telegrafieren. So habe 
ich ihn zur Post auf dem Comeniusplatz geführt" 

„Die Suppe war eiskalt geworden", rief die Mutter, „eine 
Stunde wegzubleiben! Na, ich hab's ihr aber gegeben." 

Ein Telegramm? Das könnte eine Spur sein. Aber würde 
ein Einbrecher den Anhaltspunkt zu solcher Spur in das 
Haus legen, das bald alarmiert sein mußte? 

„Hat er dich hier im Haus angesprochen?" fragte ich 
das Kind. 

„Nein, in der Prokopstraße, ich ging aus der Schule." 

Das Telegramm war eine Spur. Auf dem Postamt Co¬ 
meniusplatz eruierte die Polizei das vorgestern mittags 
auf gegebene Telegramm. Es war an einen Villenbesitzer 
in Czernowitz (Bukowina) gerichtet, und der Absender 
Fritz kündigte an, er werde nach den Feiertagen mit Frau 
und Kind zu Besuch kommen. 

Die Czemowitzer Polizei wurde verständigt, sie drang 
durch Tür und Fenster in die Villa ein und überwältigte 
Wasinski und seine Leute trotz ihrer und ihrer Revolver 
Gegenwehr. Einer von den beiden, die in diesem Kampf 
erschossen wurden, war mein Wolodarski. Er starb, ohne 
zu wissen, daß er den ersten Anlaß zu dem Debakel ge¬ 
geben hatte, weil er zehn Zentimeter länger war, als ein 
Fahndungsbefehl angab. 

So episch auch der Wasinski-Fall war, so elegisch sang 
ihn nach entsprechendem Zeitablauf der blinde Methodius 
in unserem Hof. Diese Transponierung ins Sentimentale 
war einem Schmachtfetzen zu danken, der damals durch 
die Welt tremolierte: „Zu jener Zeit, wie liebt ich dich, 
mein Leben / Ich hätt geküßt die Spur von deinem Tritt / 
Hätt gerne alles für dich hingegeben / Und dennoch: du, 
du hast mich nie geliebt..Den Erfolg des Liedes hatte 
der Verfasser des Bänkels in seinen Dienst gestellt, indem 
er den Text umdichtete. 

Die Familie des braven Kerkermeisters Kautsky harrt 
am Heiligen Abend ihres Ernährers, ohne zu ahnen, daß 
dieser zur gleichen Stunde mit dem bösesten Feind der 
Menschheit ringt, mit Wasinski. Während die Kinder be¬ 
schenkt werden, verblutet der Vater auf dem kalten Pfla¬ 
ster der Heinrichsgasse. 


149 



Fehl wäre es, zu glauben, eine so triste Moritat habe 
kein Anrecht auf ein ebenso häppisches Happy-End wie 
ein Rührfilm. Zwar hat der Himmel die Familie Kautsky 
gestraft (wofür?), aber gleichzeitig ist der Himmel voller 
Barmherzigkeit und verwandelt das Unglück in Glück, 
denn am gleichen Tage avanciert der Bruder des Getöteten 
zum Wachinspektor, so daß er nunmehr die verwitwete 
Schwägerin und die verwaisten Neffen unterstützen kann. 

Für mich hatte der Wasinski-Fall nicht einmal einen so 
bescheidenen glücklichen Ausgang. Meine Ankündigung 
des Verbrechens gab dem Sicherheitsbüro nur Anlaß zu 
Mißtrauen gegen mich, man glaubte mir nicht, daß ein 
großer Zufall und eine kleine Kombination die Grundlage 
der Voraussage waren, am unglaubhaftesten aber schien 
meine Behauptung, ich hätte den „Polizei-Anzeiger" ge¬ 
lesen. 

„Gehört etwa auch das Telefonbuch zu Ihrer Lektüre?" 
fragte mich Regierungsrat Olitsch sarkastisch. 

Eher vermutete er, daß ich überirdische oder unterirdi¬ 
sche Beziehungen unterhalte, als daß ich meine Weisheit 
aus dem amtlichen Blättchen geschöpft. 

Die Beamten verhielten sich von nun an reserviert ge¬ 
gen mich. Selbst irgendeine gewöhnliche Ergänzung zu 
irgendeinem gewöhnlichen Steckbrief zeigte man mir nie 
wieder. 



DIE UNABSEHBAREN KONSEQUENZEN 


Da war eine sommersprossige kleine Beamtin aus dem 
Städtchen Podiebrad zum Wochenende nach Prag gekom¬ 
men, um sich einmal unkontrolliert von den Bewohnern 
Podiebrads zu amüsieren. 

Solches Amüsement fand sie im „Hippodrom", einer 
Reitschule, die sich allabendlich zu einem Nachtlokal bil¬ 
liger Art verwandelte. Für zwanzig Heller konnte man 
zehn Runden reiten, drei Ritte kosteten fünfzig Heller, 
und ein „Quartett", aus drei Musikanten bestehend, spielte 
auf. Die weiblichen Gäste, meist junge Mädchen, saßen im 
Herrensattel, rissen am Zaumzeug und versuchten durch 
Schnalzen und Hüpfen die apathischen Gäule zu kühnem 
Galopp aufzustacheln und sich selbst als Amazonen zu füh¬ 
len. Von den sechs Pferden stand eines hoch im Kurs, die 
„Bella", ein einäugiger Brauner mit einem weißen Fleck 
auf der Stirn und zweien auf der Kruppe, was wie eine 
Entblößung aussah und zu Witzen Anlaß gab. Rings um 
die Arena saßen die männlichen Gäste beim Bier und 
ließen die Damen und deren hochrutschende Röcke Revue 
passieren. 

In diesem berittenen Nachtlokal fand das sommerspros¬ 
sige Kind Podiebrads Gefallen vor den Augen eines mei¬ 
ner Freunde, mit dem ich gerade einkehrte. Als er sich für 
ein paar Stunden entfernen mußte, sollte ich mich mit der 
Kleinen beschäftigen, damit nicht ein anderer sie ihm 
entführe. 

Es war nicht sehr unterhaltend, denn erstens war ich 
nur Aufsichtsperson, statt Interessent zu sein, und zwei¬ 
tens gab's mit ihr nicht viel zu reden. Dennoch mußte ich 
mit ihr reden, sonst wäre sie immerfort geritten, und das 
hätte Geld gekostet, zwanzig Heller pro Ritt. 

Sie merkte wohl, daß sie langweile, und bemühte sich, 
mein Interesse zu wecken. Aber ihre Enthüllung, daß sie 
beim Postamt in Podiebrad angestellt sei, reichte nicht aus. 


151 



um eben großen Eindruck zu machen. So fuhr sie mit ver¬ 
meintlich gröberem Geschütz auf: Sie verstehe auch etwas 
Deutsch. Höf lieh erweise machte ich ein Gesicht, in dem 
Bewunderung und Zweifel sich mengten. 

Jawohl, bekräftigte sie ihre Aussage und wiederholte 
nochmals, daß sie etwas Deutsch verstehe, jawohl, das 
brauche sie auch, „für unseren Herrn Fürsten Hohenlohe 
kommen doch öfters Telegramme in deutscher Sprache, ja¬ 
wohl, zum Beispiel vorgestern kam an ihn ein Telegramm 
vom Kaiser in Deutschland, vierundneunzig Worte." 

„Wirklich?" fragte ich. „Was stand denn drin in dem 
Telegramm?" 

„Ich habe es selbst aufgenommen, jawohl", sagte sie, 
teils stolz darauf, daß sie mich endlich doch zu interessie¬ 
ren verstanden, teils stolz darauf/ daß sie das kaiserliche 
Telegramm selbst aufgenommen hat. Das hält sie für das 
wichtigere Detail. 

„Was stand denn drin in dem Telegramm?" 

„Es war in deutscher Sprache, jawohl. Über die Prager 
Relaisstation ist es gekommen. Vierundneunzig Worte, die 
Adresse nicht mitgerechnet, alles deutsch, und ich habe 
keinen einzigen Fehler beim Aufnehmen gemacht, jawohl, 
das hat sogar der Herr Postmeister gesagt, und der lobt 
selten, sehr selten. Kennen Sie den Herrn Postmeister Be- 
ranek in Podiebrad? Nein? Das ist ein schöner Brumm¬ 
bär, an allem hat er etwas auszusetzen." 

„Was stand denn drin in dem Telegramm?" 

„Ausgeschimpft hat der Kaiser unsern Herrn Fürsten. 
Wahrscheinlich ist der Kaiser auch so ein Brummbär wie 
der Herr Postmeister Beranek." 

„Weshalb hat denn der Kaiser euren Herrn Fürsten 
ausgeschimpft?" 

„Das weiß ich nicht. Wahrscheinlich weiß er es selbst 
nicht. Der Herr Postmeister Beranek schimpft ja auch 
manchmal den ganzen Vormittag und weiß selbst nicht, 
warum. Jetzt möchte ich gerne wieder reiten, bitte schön." 

Ich bewillige ihr drei Ritte. Durch Protektion beim 
Stallmeister verschaffe ich ihr sogar das besondere Reiter¬ 
glück, die kaffeebraune, einäugige, hinternnackte Bella 
besteigen zu dürfen. Auch für mich nehme ich drei Tik- 


152 



kets. Vielleicht kann ich, dieweil ich wie ein Knappe ihr 
zur Seite dahinsprenge, doch etwas über das Telegramm 
erfahren. 

Wir stehen in der Manege, um unsere Rosse zu bestei¬ 
gen. 

„Wie war das Telegramm unterzeichnet?" frage ich. 

Sie hat ihren rechten Fuß in Bellas Steigbügel gehoben. 
Das ist ein von den Zuschauern besonders erwarteter Mo¬ 
ment. Im gegebenen Fall offenbart sich weit und breit ein 
blaurotes Barchenthöschen mit weißen Rüschen. Wie aus 
Gefälligkeit für das Publikum zuckt Bella ein wenig, und 
ihre Begleiterin muß ihr auf dem linken Bein nachhüpfen, 
das rechte hängt hoch und sichtbarlich in der Luft. 

Mich aber darf das nicht ablenken, und ich wiederhole 
meine Frage, wie die Depesche unterzeichnet war. Wäh¬ 
rend sie die andere Hälfte der rosaroten Hose mitsamt 
den weißen Rüschen empor schwingt, um sich im Herrensitz 
zu placieren, antwortet sie: „Wilhelm Komma Imperator." 

Ihre Antwort beseitigt meinen Verdacht, daß die Ge¬ 
schichte vom kaiserlichen Telegramm nur erfunden sei, 
um mir zu imponieren. Diesen Titel hat sie kaum jemals 
gehört, bevor sie ihn im Telegrammtext fand, und kann 
auch nicht wissen, daß zwischen Wilhelm und Imperator 
ein Komma gehört. 

Das „Quartett" der drei Blechmusikanten spielt wie im¬ 
mer das Pikkolo-Lied aus der „Walzertraum"-Operette. 
Einem Jockei gleich schlage ich die Fersen in die Weichen 
meines apoplektischen Gauls, auf daß er mit der tempe¬ 
ramentvollen Bella gleiches Tempo halte. Es gelingt nicht. 
Deshalb gehe zu der Taktik über, die der Swinegel 
gegenüber dem Hasen anwendet, ich bringe mein Pferd 
zum Stehen. Nach jeder Runde muß Bella an mir vorbei, 
ich kann ein paar Schritte neben ihr machen und ihre 
Reiterin über das Telegramm ausfragen. Sie hat sich nur 
gemerkt, daß die Worte „unabsehbare Konsequenzen" 
darin standen, jawohl, keine andere Beamtin hätte das 
so fehlerlos aufnehmen können wie sie, das sind keine 
leichten Worte, nicht wahr? 

Allerdings, „unabsehbare Konsequenzen", dem Mund 
eines Kaisers entflossen, sind keine leichten Worte. 


153 



„Pikkolo, Pikkolo, tsin, tsin, tsin", arbeitet die Musik¬ 
kapelle, „da liegt alle Weisheit drin", und die kaffeebraune, 
einäugige, vorn und hinten gefleckte Bella ist weit weg 
von mir. 

„Worauf hat sich das Telegramm bezogen?" frage ich, 
da wir wieder an einem Tisch beieinander sitzen. Das 
wisse sie nicht genau. Als sie es dem Herrn Postmeister 
vorlegte, habe er den Kopf geschüttelt und gebrummt: 
„Weiß Gott, was das für eine Geschichte ist! Sicher hat 
unser Fürst dem Kaiser Geld geborgt und will es jetzt 
zurückhaben. Und deshalb schimpft der Kaiser wie ein 
Rohrspatz. Man soll eben niemandem Geld pumpen." 

Jedes Wort des Telegramms wäre mir wichtig, statt des¬ 
sen wiederholt das Mädchen, vierundneunzig Worte habe 
das Telegramm enthalten, womit ich weder positiv noch 
negativ etwas anfangen kann. Auch aus der Hypothese des 
Herrn Postmeisters Beranek, daß es sich wohl um geborg¬ 
tes Geld handle, läßt sich nichts machen. 

Wo wäre mehr über die Sache zu erfahren? Einen Mann, 
der die Depesche verschaffen konnte, wußte ich: den Vize¬ 
präsidenten der Prager Postdirektion. Er hatte den Ehr¬ 
geiz, Minister zu werden, entweder postalischer Fachmini¬ 
ster von strengster nationaler Überparteilichkeit oder aber 
deutscher Landsmann-Minister mit strengster Wahrung 
deutscher Belange gegenüber allen anderen Nationen. 

Zu diesen Behufen hielt er einerseits fachliche Vorträge 
über Reformen des Postwesens, andererseits heftige 
Brandreden gegen die Bevorzugung tschechischer Beamten 
im Postdienst und brachte unserem Chefredakteur jedes¬ 
mal den Wortlaut dieser Reden mit eingeklammerten Be¬ 
merkungen wie „Lebhafter Beifall", „Zustimmung" oder 
dergleichen. Vor unserem Chefredakteur scharwenzelte er, 
weil dieser als Mitglied des Deutschen Volksrats politi¬ 
schen Einfluß besaß, mit den anderen Redakteuren sprach 
er nie, dankte kaum für ihren Gruß. 

Ich erzählte unserem Chefredakteur von dem Tele¬ 
gramm. Er lächelte nachsichtig über meinen Eifer. Seinen 
holzfarbenen Bart bis zu den Brustwarzen streichend, 
fragte er mich, ob ich denn im Ernst glaube, ein Kaiser 
werde Staatsangelegenheiten in offenen Telegrammen be- 


154 



handeln. „Entweder etwas ist für die Öffentlichkeit be¬ 
stimmt, dann wird es offiziell verlautbart, oder etwas ist 
nicht für die Öffentlichkeit bestimmt, dann wird es nicht 
offen telegrafiert." 

„Aber wenn der Kaiser von unabsehbaren Konsequen¬ 
zen' telegrafiert, so muß es doch wichtig sein", wandte ich 
ein. 

„Gewiß ist es wichtig", sagte er, „eine Familiensache 
oder eine Vermögensangelegenheit, die niemanden etwas 
angeht." 

Darauf konnte ich nur beschämt verstummen. 

„Eines müssen Sie sich für Ihr ganzes Leben merken, 
junger Freund, hohe Politik wird nicht so gemacht, wie 
sich's der kleine Moritz vorstellt." 

Der Chefredakteur äußerte das mit Nachdruck, seinen 
ganzen Eichenbart entlang, und ich habe mir seinen Lehr¬ 
satz gemerkt, wenn auch mit einer kleinen Variante, die 
ich schon nach wenigen Stunden machte, mit der Variante, 
das Wörtchen „nicht" aus dieser Maxime fortzulassen. 
Denn in diesen wenigen Stunden hatte ich erfahren, daß 
sich das Telegramm weder auf eine Familiensache noch 
auf eine Vermögensangelegenheit bezog, sondern auf hohe, 
ja allerhöchste Politik. 

Ich hatte dem Chefredakteur schließlich doch die Er¬ 
laubnis abgerungen, in seinem Namen den Postvizepräsi¬ 
denten um das Telegramm anzugehen. 

„Nur damit Sie erkennen, was für ein Kindskopf Sie in 
der Politik sind", sagte er. „Aber vergessen Sie nicht, dem 
Herrn Vizepräsidenten zu bestellen, daß ich persönlich nicht 
an die politische Wichtigkeit des Telegramms glaube. Ich 
möchte nicht auch als politischer Kindskopf dastehen." 

Ich vergaß zwar diese Bestellung, ersetzte sie jedoch 
durch eine andere: der Herr Chefredakteur lege den denk¬ 
bar größten Wert auf das Telegramm, und der Herr Vize¬ 
präsident würde sich ihn zu besonderem Dank verpflich¬ 
ten, wenn etc. etc. 

Zunächst verhörte mich der Postvizepräsident, ob außer 
dem Chefredakteur jemand von meinem Besuch bei ihm 
wisse und ob ich im Gebäude von jemandem gesehen wor¬ 
den sei. Erst nachdem er darüber beruhigt war, verabredete 


155 



er sich mit mir für zwei Uhr in seiner Wohnung. Dort dik¬ 
tierte er mir folgenden knappen Satz; „Kaiser Wilhelm hat 
beim Fürsten Hohenlohe in Podiebrad gegen eine ohne 
seine Erlaubnis in den Journalen erfolgte Veröffentlichung 
telegrafisch protestiert und sie als grobe Taktlosigkeit be¬ 
zeichnet" 

Wo die grobe Taktlosigkeit verübt wurde, war dem Tele¬ 
gramm nicht zu entnehmen gewesen; weil aber Veröffent¬ 
lichungen gewöhnlich durch die Presse erfolgen, hatte der 
Postvizepräsident wie sich bald herausstellte, die Worte 
„in den Journalen" hinzugefügt. 

Es handelte sich keineswegs um einen Zeitungsartikel, 
sondern um eine auf dem Büchermarkt angekündigte 
Aktenpublikation, die politische Hinterlassenschaft des ver¬ 
storbenen Reichskanzlers Chlodwig zu Hohenlohe-Schil¬ 
lingsfürst; die Dokumente waren vom jüngeren Sohn des 
Kanzlers, dem Prinzen Alexander Hohenlohe, in Gemein¬ 
schaft mit dem Straßburger Historiker Friedrich Curtius 
für den Druck bearbeitet worden. Diese Publikation war 
es, die den Grimm Wilhelms HI. erregte und ihn beim 
Chef des Hohenloheschen Hauses so heftige Klage führen 
ließ. 

Ich aber wußte noch mehr, ich wußte, daß das Tele¬ 
gramm auch von „unabsehbaren Konsequenzen" gesprochen 
hatte, und fügte sie der Nachricht an, die in unserem 
Abendblatt vom 8. Oktober 1906 erschien. 

Was für Konsequenzen konnten das sein, die der ge¬ 
schworene Gottes Streiter gegen alle Schwarzseher als un¬ 
absehbar bezeichnete? Auf diese Frage versuchten am Tag, 
nach dem das sommersprossige Mädchen aus Podiebrad 
mir diese beiden schwierigen Worte vom Rücken Bellas 
zugerufen hatte, die Regierungen und Zeitungen von Lon¬ 
don, St. Petersburg und Paris eine Antwort zu finden. 

Ursprünglich hatte die Deutsche Verlags-Anstalt Stutt¬ 
gart für die Hohenloheschen Memoiren eine Auflage von 
tausend Exemplaren vorgesehen. Auf Grund unserer Ver¬ 
öffentlichung kamen Bestellungen aus aller Welt, ein ame¬ 
rikanischer Buchhandlungskonzern kabelte um zweitausend 
Exemplare. Drei Druckereien waren beschäftigt, der bei¬ 
spiellosen Nachfrage gerecht zu werden, ganze Kapitel 


156 



wurden an die Auslandspresse telegrafiert. Schwarz auf 
weiß erfuhr die Welt welche Gefahr Kaiser Wilhelm für 
den Weltfrieden darstellte, wie schnell und restlos er die 
Bismarcksche Annäherung an das Zarenreich zu liquidieren 
beabsichtigte. Ein Krieg schien unvermeidlich. 

In der französischen Kammer forderte der Abgeordnete 
Clemenceau die sofortige Erhöhung des Heeresbudgets mit 
dem Ausruf: „Contre les unabsehbare Konsequenzen!" Das 
House of Commons verlangte, gegen den Dreibund, einen 
Gegendreibund zu schließen, die Stunde sei gekommen, die 
vieldiskutierte Tripelallianz endlich wahr zu machen. Von 
der Regierung des Zaren wurde die englische Firma Arm¬ 
strong mit der Lieferung von Panzerplatten für vier mo¬ 
derne Schlachtschiffe betraut; in der Dumasitzung schwan¬ 
gen Abgeordnete den Union Jack und die französische Tri¬ 
kolore: „Dasdrastwujet Antant-Kordial" - es lebe die En¬ 
tente Cordiale! 

Ich begegnete meinem Freund, für den ich im „Hippo¬ 
drom" den Platzhalter gemacht. Er entschuldigte sich, mir 
die Kleine auf gehalst zu haben. „Du mußt dich ja schön 
gelangweilt haben. Ich wußte nicht, was für eine dumme 
Gans das ist." 

Dumme Gans? Die Außenministerien der Großmächte 
urteilten ganz anders. Downing Street hielt sie für einen 
Diplomaten von pazifistischer Prägung. Der Quai d'Orsay 
zählte sie zu jenen Schichten der preußischen Beamtenari¬ 
stokratie, die treu, zur Bismarckschen Politik stehen. Näher 
der Wahrheit kam der Wiener Ballhausplatz: er vermtitete 
eine Indiskretion aus tschechischen Beamtenkreisen. Aber 
wenn das „Fremdenblatt", Organ des österreichischen 
Außenministeriums, eine Reinigung der böhmischen Behör¬ 
den forderte, so hatte es schwerlich die Podiebrader Post 
im Auge, und wenn es die Aufdeckung der Angelegenheit 
mit allen Dessous verlangte, so ahnte es nicht, daß dabei 
nur ein blaßrotes Barchenthöschen mit weißen Rüschen auf¬ 
gedeckt werden könnte. 

Die internationale Aufregung mußte entspannt werden. 
Deshalb erklärte die deutsche Reichsregierung in der 
„Norddeutschen Allgemeinen Zeitung", das Telegramm Sei¬ 
ner Majestät an den Fürsten Philipp zu Hohenlohe-Schil- 


157 



lingsfürst sei ein reines Privattelegramm. Nur die unbe¬ 
fugte Veröffentlichung und tendenziöse Wiedergabe durch 
die „Bohemia" habe zu falschen Folgerungen im Auslande 
geführt. Hiermit werde, um allen Weiterungen die Spitze 
abzubrechen, der Wortlaut mitgeteilt: „Ich lese soeben mit 
Erstaunen und Entrüstung die Veröffentlichung der in¬ 
timsten Privatgespräche zwischen Deinem Vater und Mir, 
den Abgang des Fürsten Bismarck betreffend. Wie konnte 
es zugehen, daß dergleichen Material der Öffentlichkeit 
übergeben wurde, ohne zuvor Meine Erlaubnis einzuholen? 
Ich muß dieses Vorgehen als im höchsten Grade taktlos, 
indiskret und völlig inopportun bezeichnen, da es unerhört 
ist, daß Vorgänge, die einen zur Zeit regierenden Souve¬ 
rän betreffen, ohne dessen Genehmigung veröffentlicht 
werden." 

„Haben Sie den offiziellen Wortlaut gesehen?" fragte 
mich der Chefredakteur scharf. 

„Nein", antwortete ich, denn der politische Redakteur 
hatte die amtliche Erklärung soeben in Satz gegeben, ohne 
mir etwas davon zu sagen. Was ging das auch den Lokal¬ 
reporter an? 

„Nichts ist darin von Ihren unabsehbaren Konsequenzen, 
die die ganze Welt aufregen", wütete der Chefredakteur. 
„Schön stehn wir jetzt da!" 

Ich holte mir den amtlichen Wortlaut aus der Setzerei. 
Kein Journalist und kein Leser hätte in der Textierung 
etwas Auffallendes bemerken, keiner an der Richtigkeit 
des Wortlauts zweifeln können. 

Mir aber mußte etwas auffallen, ein Zweifel auftauchen, 
denn... 

... denn so töricht auch die Behauptung des Herrn Post¬ 
meisters Beranek aus Podiebrad gewesen war, daß es sich 
um geliehenes Geld handle, er würde sie nicht gemacht 
haben, wenn das Telegramm die Stelle enthalten hätte: 
„den Abgang des Fürsten Bismarck betreffend". 

Als mir das Podiebrader Mädchen das Geschwätz ihres 
Herrn Postmeisters wiederholt hatte, war mir das herzlich 
belanglos vorgekommen. Und nun entdeckte ich dadurch 
eine von der deutschen Reichsregierung vorgenommene 
Einfügung. Warum sollte sich nicht auch die andere, mir 


158 



unwichtig erschienene Mitteilung der Kleinen als wichtig 
erweisen, ihre Angabe über die Zahl der Worte? Ich zählte 
und verglich und schrieb: „Der für die Öffentlichkeit be¬ 
stimmte Wortlaut enthält einschließlich der neueingefüg- 
ten, einschränkenden Wendung, ,den Abgang des Fürsten 
Bismarck betreffend', nur zweiundachtzig Worte und Inter¬ 
punktionen. Dagegen bestand jene Depesche, von der wir 
berichteten, aus vierundneunzig Worten und Satzzeichen, 
ausschließlich der Adresse, einschließlich der entscheiden¬ 
den und nun eliminierten Bemerkung über die unabseh¬ 
baren Konsequenzen' und" - hier blitzte das rosarote 
Höschen mit den weißen Rüschen in mein Manuskript - 
„der Unterschrift ,Wilhelm Komma Imperator'/' 

Meine Glosse entfachte ein neuerliches Furioso. „Auf¬ 
gedeckte Fälschung!" schallte es aus allen Blätterwäldern, 
„Official Forgery!" - „Falsification commise par le gou- 
vernement du Kaiser." 

Die deutsche Regierungspresse antwortete mit Angrif¬ 
fen gegen ausländische Kriegshetzer. Im Leitartikel der 
„Norddeutschen Allgemeinen" stand: „Die anonyme Ge¬ 
stalt an der Moldau schürt unter rosenroter, gegen den 
Krieg gerichteter Tendenz selber den Krieg, den Krieg 
der anderen. Bella gerant alii. Vermummt reitet sie gegen 
Deutschland zu Felde, aber durch den Schlitz des Visiers 
erkennt man das Auge des Staatsfeindes/' 

Dies lesend, pfiff ich durch die Zähne. Kannten Kaiser¬ 
hof und Reichsregierung die Dessous meiner Nachricht? 
Warum hätten sie sonst als Farbe der Tendenz gerade die 
Farbe der Höschen gewählt, die meine Informatorin im 
„Hippodrom" geoffenbart? Warum gebrauchen sie statt des 
deutschen Wortes „Krieg" das lateinische „Bella", den Na¬ 
men des Pferdchens im „Hippodrom"? Warum sprechen 
sie davon, daß die Gestalt reite, warum erwähnen sie den 
Schlitz? 

Aber diese Terminologie schien nur Zufall zu sein. 

Parlamente und Leitartikel mußten weiter raten, wer 
der Urheber der Veröffentlichung und was seine Absicht 
gewesen sein mochte. Sie rieten noch immer, als bereits 
eine neue, eine lustige Sensation die Welt beschäftigte. Ein 
Berliner Schuster namens Voigt hatte in Hauptmannsuni- 


159 



form eine Truppenabteilung auf der Straße angehalten, sie 
bis in das Rathaus der Vorstadt Köpenick geführt und sich 
vom Bürgermeister die Stadtkasse aushändigen lassen. 
Hierauf verschwand er mit dem Geld. 

Der Kaiser depeschiert 

Der Schuster kommandiert 

Und ganz Deutschland marschiert 

singt in unserem Hof der blinde Methodius, der sonst nur 
Prager Lokalfälle besingt Dieses Lied ertönt überall, in 
allen Sprachen. 

Vom Gelächter des Auslands aufgestachelt, entwickelte 
die deutsche Polizei eine wahre Kriegsstrategie, um des 
Hauptmanns von Köpenick habhaft zu werden. Dabei wur¬ 
den aber die Nachforschungen nach dem Veröffentlicher 
der Kaiserdepesche mitnichten außer acht gelassen. Auf 
Wunsch des deutschen Konsulats nahm die Prager Polizei 
in unserer Redaktion eine Hausdurchsuchung vor; einige 
Manuskripte von meiner Hand wurden konfisziert und la¬ 
gern wohl noch im Hohenzollernschen Hausarchiv zu Pots¬ 
dam mitsamt dem Protokoll, in dem der verantwortliche 
Redakteur und ich, mit Berufung auf das Redaktions¬ 
geheimnis, jede Aussage über die Quelle der Information 
verweigerten. 

Unter denen, die herausfinden wollten, wer uns den 
Inhalt der Kaiserdepesche mitgeteilt, befand sich der Post¬ 
vizepräsident, der uns den Inhalt der Kaiserdepesche mit¬ 
geteilt. Er war überzeugt, wir hätten sie bereits in Hän¬ 
den gehabt, als wir sie von ihm verlangten. Wieso hätten 
wir sonst von den „unabsehbaren Konsequenzen" gewußt, 
wieso von der Unterschrift „Wilhelm Komma Imperator", 
wieso die Zahl der Wörter und wieso, daß der Passus über 
Bismarck nicht im Original enthalten war? Er befürchtete, 
es sei ihm eine Falle gestellt worden, um die Spur vom 
wahren Informator abzulenken. 

Aber nicht das war es, was seiner Karriere ein Ende 
bereiten sollte. Durch den Einfluß unseres Chefredakteurs 
war er als Kandidat für die Reichsratswahl aufgestellt 
worden. Als jedoch die Gegenpartei enthüllte, daß er einer 
Tafelrunde „Die Mormonen" angehöre, deren Mitglieder 


160 



ihre Ehefrauen nächteweise austauschen, trat er von der 
Kandidatur zurück und ging in den Ruhestand. Ich habe 
ihn nicht wiedergesehen und auch die Podiebrader Post¬ 
beamtin mit ihren Sommersprossen, blauroten Barchent¬ 
höschen und weißen Rüschen nie mehr. 

Wiedergesehen habe ich aber Bella, das kaffeebraune, 
einäugige, vorne und hinten helle Pferd aus dem „Hippo¬ 
drom". Die unabsehbaren Konsequenzen waren eingetre¬ 
ten, der Weltkrieg im Gange. Bella diente bei unserer Ma¬ 
schinengewehrabteilung. Als ich sie erkannte, weidete sie 
gerade in der Nähe des Kompaniekommandos. 

„Bella!" rief ich. Mit einem Ruck wandte sie den Kopf 
und schaute mich mit einem großen Auge und einer leeren 
Augenhöhle an. Erwartete sie, ich würde auf ihr in jene 
Zeit zurückreiten, in der sie eine lebensfrohere Last als 
Patronenbeschläge auf ihrem Rücken trug und die Musik 
zu anderem Zwecke auf spielte als zum Sturm in den Tod? 

Ach, Bella, die glücklichen Nächte sind vorbei, ich kann 
nichts für dich tun, ich kann dir nur das alte Lied vor¬ 
pfeifen. 

Ich pfiff, und Bella setzte sich in Trab, zum Takt des 
„Pikkolo, Pikkolo, tsin, tsin, tsin" lief sie im Kreis herum, 
wie sie es getan, als da noch alle Weisheit drinlag. 



DIE MUTTER DES MÖRDERS 


Um fünf Uhr nachmittags war Frau Bergmann ermordet 
und beraubt in ihrer Wohnung auf gefunden worden; der 
Verdacht lenkte sich sofort auf den Geliebten des Dienst¬ 
mädchens (die Hausbesorgerin hatte ihn um drei Uhr das 
Haus verlassen sehen), und um sechs Uhr waren sowohl 
das Mädchen wie auch Franz Polanski verhaftet und dem 
Sicherheitsdepartement eingeliefert. 

Anstatt dort die Beendigung des Verhörs abzuwarten, 
das bei Raubmorden stundenlang zu dauern pflegt, eilte 
ich in die Wohnung des Festgenommenen. Polizeibeamte 
waren bereits dort gewesen, hatten den Schrank Franz 
Polanskis durchsucht und sich bemüht, seine Mutter ein¬ 
zuvernehmen. Aber diese verlor bei der Nachricht jede 
Zurechnungsfähigkeit, so daß sich die Beamten damit be¬ 
gnügten, sie für den nächsten Tag zur Polizei vorzuladen. 

Als ich an die Wohnungstür klopfte, antwortete mir nie¬ 
mand. Frau Polanski, die allein in ihrer Stube sag, beach¬ 
tete mein Eintreten und meinen Gruß nicht. Ihre Augen 
waren trübe, dennoch weinte sie nicht. Weshalb hätte sie 
denn weinen sollen? Sie verstand ja noch gar nichts, es 
war ein gräßliches Unglück geschehen, ihr einziger Sohn 
hatte... So etwas versteht man nicht gleich. Ich fragte sie 
etwas, erhielt jedoch keine Antwort. 

„Verzeihen Sie, Frau Polanski, ich bin nämlich von der 
Zeitung." 

Da löst sich ihr Krampf, löst sich in einem Aufschrei. 
Sie begreift die Öffentlichkeit ihrer Schande. „Von der 
Zeitung!" wiederholt sie entsetzt und schluchzt Worte, eine 
Zusammenfassung ihres Lebens, die in eine Bitte mündet. 

„In der Zeitung wird es stehen! Um Gottes willen, mein 
ehrlicher Name! Mein Seliger - achtzehn Jahre ist er 
schon tot, mein Seliger - in seinem ganzen Leben hat er 
nie etwas mit der Polizei zu tun gehabt. Und ich, mein 
Gott, ich und die Polizei! Ich bin eine arme Waschfrau, 


162 



seit fünfundzwanzig Jahren wasche ich für fremde Herr¬ 
schaften, und noch nicht eine einzige Windel hat gefehlt, 
noch kein Paar Strümpfe habe ich vertauscht, und ich achte 
immer darauf, daß die Manschetten nicht zerfransen, und 
auf einmal soll ich in der Zeitung stehn, alle Leute werden 
es lesen! Geben Sie's nicht in die Zeitung, junger Herr!" 

Ich verfluche meinen Einfall, diese alte Frau aufgesucht 
zu haben, die nichts mit dem Mord zu tun hat, nichts von 
der Welt weiß und nun noch vollends um den Verstand 
gekommen ist und mich anfleht: „Geben Sie's nicht in die 
Zeitung, junger Herr, um Gottes Barmherzigkeit willen, 
tun Sie mir und meinem toten Mann nicht eine solche 
Schande an, bitte, bitte, nicht in die Zeitung." 

Ich versuche ihr zu erklären, dafj das nicht in meiner 
Macht steht, derartige Angelegenheiten ließen sich ja nicht 
verschweigen, über einen Raubmord müsse doch berichtet 
werden. 

Das Wort „Raubmord" schmettert die Frau nieder. Sie 
sieht die Sinnlosigkeit ihrer Bitte ein und starrt von neuem 
aus verhängten Pupillen in die Ecke der Stube. Zu sich 
selbst spricht sie jetzt, ohne daß ihre Lippen sich bewe¬ 
gen: „Ein Raubmord. Daran hab ich noch gar nicht ge¬ 
dacht - das heißt ja Raubmord, und mein Franz ist ein 
Raubmörder. Der Franz Polanski, wird in der Zeitung 
stehn, der Sohn von Frau Anna Polanski, Wäscherin, Brük- 
kengasse 4, das ist ein böser Raubmörder. Und ich bin Hie 
Mutter eines bösen Raubmörders, weiter gar nichts. Mein 
ganzes Leben lang bin ich fleißig und ehrlich gewesen, und 
niemand hat mir auch nur soviel nachsagen können, und 
jetzt wird die ganze Gasse mit Fingern auf mich zeigen." 

Auf irgendeine Weise möchte ich die Unglückliche trö¬ 
sten, mein plumper Ausdruck hat ihr den Rest gegeben. 
„Niemand wird Ihnen die Schuld geben, Frau Polanski, 
alle wissen, daß Sie eine brave Frau sind", sage ich, aber 
sie hört gar nicht zu. 

„Raubmord", wiederholt sie tonlos, „Raubmörder." 

Vielleicht können direkte Fragen sie ablenken. „Wie 
lange hat denn Ihr Sohn schon die Bekanntschaft mit dem 
Dienstmädchen von Frau Bergmann? Wie lange ist Ihr 
Sohn schon ohne Arbeit?" 


163 



„Raubmord! Raubmörder! Der Franz Polanski, der Sohn 
von der Frau 

Nichts zu machen. Ich verabschiede mich mit der Phrase, 
ich hätte sie nicht belästigen wollen, hätte nur gedacht, sie 
könnte ihrem Sohn vielleicht helfen, wenn sie mir einige 
Auskünfte gäbe. 

Da schreit sie wieder auf: „Helfen! Ich will ihm nicht 
helfen! Ein Raubmörder ist er, er hat die Frau Bergmann 
erschlagen, um ihr den Schmuck wegzunehmen. Wissen 
Sie, wie man das nennt, mein Herr? Das nennt man Raub¬ 
mord, und das kommt in die Zeitung, mein Herr. Nie¬ 
mand kann ihm da helfen. Ich möchte ihm ja helfen, mei¬ 
nem Franz, er ist doch mein Junge, mein einziger Junge 
- aber wie kann ich ihm denn helfen? Ich bin nur eine 
arme Wäscherin. Ich werde zu einem Rechtsanwalt gehn, 
ich werde schon das Geld dafür auf bringen. Sie haben doch 
gesagt, ich kann meinem Franzi vielleicht helfen. Wie 
denn? Sagen Sie's mir, junger Herr, bitte, sagen Sie's 
mir!" 

Ich erkläre ihr, daß es für alles mildernde Umstände 
gäbe. Große Not, zum Beispiel, entschuldige vieles, oder 
vielleicht ist der Franz nicht ganz in Ordnung, leidet an 
krankhaften Anfällen oder so etwas. Auch Vererbung gelte 
vor Gericht, wenn er zum Beispiel vom Vater oder von 
der Mutter her ein jähzorniges Wesen hat. 

„Vererbung? Wenn er etwas herhat vom Vater oder von 
der Mutter?" 

Was habe ich da wieder angerichtet! Das Andenken 
ihres Mannes verdächtigt, ihren guten Ruf angetastet, den 
einzigen Besitz dieser Unglücklichen. „Sie dürfen mich 
nicht mißverstehen, Frau Polanski, ich weiß, daß Sie eine 
brave Frau sind." 

„Vererbung heißt das, wenn man etwas herhat von der 
Mutter? - Es ist Vererbung! Von mir hat er's her, der 
Franz." 

„Frau Polanski, ich wollte Sie wirklich nicht beleidigen, 
ich habe bloß gemeint..." 

„Er kann nichts dafür, der arme Franz, von mir hat er's 
geerbt, von mir!" 

Ach so, jetzt will diese Mutter alles auf sich nehmen. 


164 



womöglich sich als eine Borgia hinstellen, weil sie glaubt^ 
ihrem Sohn damit zu helfen. 

„Ja, ja, ganz recht ich will ihm helfen. Sie verstehen 
mich ganz richtig, aber Sie glauben es mir nicht, daß das 
in mir war, mein ganzes Leben lang, dieses Morden. Noch 
keinem Menschen habe ich es gesagt nicht einmal gebeich¬ 
tet hab ich es, sooft ich auch zur Beichte gehe, aber Ihnen 
werde ich es erzählen, damit Sie es in die Zeitungen hin¬ 
eindrucken. Sollen sie mich nur holen kommen, die Poli¬ 
zisten! Soll man auch mit Fingern auf mich zeigen, das ist 
mir gleichgültig! Lange genug habe ich mich verstellt 
jetzt pfeife ich auf alles! Meinem Jungen will ich helfen! 
Warum soll er um meinetwillen leiden - Vererbung ist 
das, weiter gar nichts - ich werde Ihnen die Wahrheit 
sagen: Ich bin eine Mörderin!" 

Ich wünsche mich weit weg von hier. Nun wird sie an¬ 
fangen, ihre armseligen Sünden auszukramen. Das reicht 
bestenfalls für eine Notiz: Die Mutter des Unholds, eine 
brave Wäscherin, beschuldigt sich kleiner Vergehen, damit 
ihm eine vererbte Anlage als mildernder Umstand ange¬ 
rechnet werde. 

„Ja, ich bin eine Mörderin, ich! Mein Junge hat nur 
mehr Kraft gehabt als ich, der hat es ganz durchgeführt/' 

„Nun ja, so durch den Kopf geht einem vieles." 

„Nein, nein, das ist mir nicht bloß so durch den Kopf 
gegangen; da sehen Sie..." 

Frau Polanski hat ihr Tuch vom Kopf gerissen, ihr Haar 
flieht wirr von Stirn und Schläfen. Sie eilt zum Tisch. Eine 
junge Frau ist sie jetzt, wie sie das Schubfach aufzerrt und 
ein Küchenmesser herausnimmt. 

„Da sehen Sie dieses Messer, mit dem habe ich einen 
erstechen wollen. Das ist schon fast dreißig Jahre her, als 
ich Stubenmädchen war beim Finanzrat Martin in der 
Marienstraße, ein ganz junges Mädel war ich noch, eben 
vom Lande gekommen." 

„Wen wollten Sie denn damals erstechen?" 

„Wen ich erstechen wollte? Den ersten Menschen, der 
lieb zu mir war in meinem Leben. Niemand war vorher 
lieb zu mir gewesen, in meinem Elternhaus waren wir 
acht Kinder und haben nie ein gutes Wort bekommen. 


165 



Und dann kommt einer und sagt mir: ,Sie sind hübsch, 
Fräulein' und streichelt mich, küßt mich, verführt mich/ 
„Und heiratet Sie dann nicht. Das alte Lied/ 

„Ach, daran hab ich nie gedacht. Er war ja der Bruder 
von meiner Gnädigen. Mit seinen Schmeicheleien hat er 
mich eingeweicht wie in Seifenwasser. Wenn die Wäsche 
einmal drinliegt in dem Trog da, dann kann man alles mit 
ihr machen, man muß sie nur zwischen die Finger neh¬ 
men, und alles geht weg - freilich, wenn man zu heftig 
anpackt, auch die Farbe und die Fasern/ 

Ganz gut gesagt, denke ich, ich nehme den Notizblock 
aus der Tasche und schreibe mir auf: „Vergleiche einer 
Wäscherin" oder „Die Philosophie am Waschtrog". Das 
kann man als Titel geben, zweispaltig. 

„Ich bin zu ihm in die Wohnung gekommen, und ein 
paar Wochen lang war ich glücklich. Dann aber hat er 
mich nicht mehr aufgefordert, zu ihm zu kommen/ 

„Wollten Sie ihn deshalb umbringen?" 

„O nein, ich war ja ein solches Gänschen und hab alles 
genommen, wie es gekommen ist, und hab geglaubt, es 
muß so sein. Aber dann ist etwas geschehen, wo ich gewußt 
hab, es muß nicht so sein, es kann so nicht in Ordnung 
sein. Er hat mir gesagt, ich soll die blaue Bluse anziehen, 
die er mir geschenkt hat, und abends zu ihm kommen, er 
gibt ein kleines Fest. Also habe ich mir Ausgang genom¬ 
men, bin hingegangen. Es waren noch zwei Freunde von 
ihm da, zwischen die er mich gesetzt hat, und eine Dame, 
die hat neben ihm gesessen - ,eine Dame' ich hab bald 
gesehen, was das für eine Dame war. Sie hat zu ihm ge¬ 
paßt, das Weibsbild!" 

„Ich kann mir schon denken", nicke ich. 

„Wir haben belegte Brötchen gegessen und Wein ge¬ 
trunken, und dann haben sie Halbdunkel gemacht. Nur 
eine Tischlampe mit rotem Seidenschirm hat gebrannt. 
Seine beiden Freunderin sind zudringlich geworden, sie 
haben mir zugesetzt, mehr zu trinken, und er hat mir ge¬ 
sagt, ich soll mich nicht zieren, wir sind hier nicht bei der 
Dorfmusik. Ich war so unsicher, ich bitte Sie, ein Gäns¬ 
chen vom Land, ich hab nicht recht gewußt, was ich machen 
soll, und erzürnen wollte ich ihn auch nicht - da hab ich 


166 



mir genug gefallen lassen. Plötzlich sagt einer: ,Die Da¬ 
men sollen sich ausziehn.' Die andere war gleich dabei, 
aber ich wollte nichts davon wissen. Da hat er mich bei¬ 
seite genommen und hat mir einen Krach gemacht er 
müsse sich für mich schämen, ich sei doch sonst nicht so 
zimperlich gewesen - wenn ich Geschichten machen will, 
ist's aus mit uns - oder ob ich nicht doch lieber sein 
nettes Annerl bleiben wolle? Ich wollte unbedingt weg.* 

„Sind Sie weggegangen?" 

„Er hat die Tür abgesperrt, und da hab ich Schnaps und 
Wein in mich hineingeschüttet, um mir Mut zu machen, 
und die Schweinekerle haben mich ausgezogen. Die andere 
hat das alleine besorgt, sie hat eins - zwei den Rock und 
die Bluse unten gehabt, na ja, die wollte sich zeigen, weil 
sie Batistwäsche angehabt hat mit Spitzen, und ich hab 
mich geschämt für meine langen Barchenthosen, aber die 
geilen Kerle haben nicht Ruhe gegeben, ehe sie mich ganz 
ausgezogen hatten bis auf die Strümpfe - die hätte ich 
mir aber nicht runterziehen lassen, um nichts in der Welt 
- und jetzt hab ich doch besser ausgesehen als die an¬ 
dere!" 

Vor wenigen Minuten war ich in einer Stube voll Sei¬ 
fengeruch mit einer weinenden alten Wäscherin, einem 
Waschtrog und einem Küchenherd, und an der Wand hin¬ 
gen zwei Heiligenbilder. Das alles ist jetzt verschwunden. 
Um mich ist das rot abgedämpfte Licht eines Junggesel¬ 
lenzimmers und vor mir ein junges Mädchen, das man 
zwingt, sich zu entkleiden. 

Warum hat sich die Alte in ihre Jugend verwandelt? 
Warum holt sie vergangene Sünden hervor? Bringt die 
Verzweiflung sie auf den Gedanken, daß es ihr nichts ge¬ 
nützt hat, als anständige Frau zu gelten, daß es sie nicht 
davor bewahrt hat, zur Mutter eines Raubmörders zu 
werden? Warum rühmt sie sich ihres einstmals schönen 
Körpers? Berauscht sie sich an dieser Erinnerung? Warum 
erzählt sie: 

„Und dann haben sie ganz dunkel gemacht. Am Morgen 
haben mich meine beiden neuen Liebhaber in einer 
Droschke nach Hause gebracht, ich habe gespien und nichts 
von mir gewußt. In der Küche konnte ich kaum stehen. 


167 



Fieber hab ich gehabt und die Gnädige hat gefeixt: frei¬ 
lich, bummeln gehn, lauter Vergnügungen und Genüsse, 
dann kann man natürlich nicht arbeiten Y Am Ersten soll 
ich meine Sachen packen und gehn. Ich habe sie gehagt für 
jedes Wort, das sie gesprochen hat. ,Lauter Vergnügungen, 
lauter Genüsse' hat sie mir vorgeworfen - das Kotzen 
war noch in meinem Mund und das Heulen in meinen 
Augen, wenn ich an die ,Genüsse' gedacht habe. Und die 
Gnädige kanzelt mich ab, genau wie ihr Herr Bruder ge¬ 
stern nacht, als ich seine Vergnügungen und Genüsse nicht 
mitmachen wollte. Da ist etwas in mir hochgestiegen, ich 
weig nicht, ob es der Satan war, ich hab mich nicht da¬ 
gegen wehren können. Am Abend, wie der Bruder der 
Gnädigen zum Essen gekommen ist, war ich schon ganz 
verrückt, ich habe das Küchenmesser genommen, dieses 
Küchenmesser da, und bin auf ihn zugerannt und hab auf 
ihn eingestochen/' 

Jetzt sieht sie in der Tat wie Lucrezia Borgia aus. Un¬ 
heimlich, wie sie das Messer schwingt. Man versteht den 
Sohn, der mordet. Sicherlich war sie eine Mörderin, da¬ 
mals, als sie so alt war, wie ihr Sohn heute ist. Ohne 
Zweifel liegt erbliche Belastung vor. 

„Ins Herz hab ich ihn treffen wollen - aber vielleicht 
ist er ausgewichen, oder vielleicht ist die Klinge abge¬ 
rutscht von der Brieftasche, ich weig es nicht, mein Mes¬ 
ser ist ihm in den Arm gegangen, und das Blut hat nur so 
gespritzt." 

„Hat man die Polizei geholt?" 

„Die haben sich schön gehütet! Die ganze Familie hat 
sich auf mich gestürzt, alle haben mich festgehalten, ich 
bin aber ohnmächtig zusammengebrochen, und sie mugten 
mich auf mein Bett tragen. Am nächsten Tag hab ich meine 
Siebensachen ins Holzköfferchen gepackt, so krank ich war, 
und bin gegangen. Das Küchenmesser habe ich mitgenom¬ 
men, zum Andenken. Dafür hab ich meinem Herrn Lieb¬ 
haber die blaue Bluse dortgelassen, die er mir geschenkt 
hat." 

Eine Liebesgeschichte also wie viele andere, weder Poli¬ 
zei noch Gericht haben sich damit befagt, davon nimmt 
die Zeitung nicht Notiz. Da hat nun diese Frau ihr Inner- 


168 



stes entblößt, ihre Lebenslüge eingestanden, und es ist un¬ 
möglich, damit ihrem Sohn zu helfen. 

„Ja, schreiben Sie nur alles auf, junger Herr, geben Sie 
das ruhig in die Zeitung; die Frau Polanski ist gar keine 
anständige Frau, müssen Sie hineinschreiben", mit ihrem 
Zeigefinger diktiert sie, „sie ist eine böse Mörderin, sie 
hat nur nicht die Kraft gehabt, ihre Morde ganz auszu¬ 
führen, aber ihr Sohn, der hat die Kraft gehabt; der Franz 
Polanski ist ein ganz unschuldiger Mensch, müssen Sie 
hineinschreiben, er ist nur ein Opfer von der, alles hat er 
nur geerbt von der, von dieser Frau Anna Polanski und 
von ihren Morden - so schreiben Sie doch!" 

„Morden? Haben Sie denn noch ein zweites Mal so 
etwas gemacht?" 

„Gemacht! Mein Sohn hat einen Mord gemacht und ist 
unschuldig, und ich bin schuldig, schuldig an den Morden, 
zu denen ich keine Kraft und keine Zeit gehabt habe. Da 
drinnen, in dem Waschtrog da, da drinnen liegt meine 
Kraft begraben und meine Zeit." Sie trommelt auf den 
Waschtrog. „Das ist meine Wiege und mein Bett und mein 
Sarg, das sag ich immer. Da drinnen stecke ich mein Le¬ 
ben lang und wasche Batist und Seide und zartes Leinen, 
die nicht mir gehören, und ich habe die Frauen beneidet, 
die das getragen haben, auch ich war jung und hübsch." 

Mit jugendlichem Hafi schlägt sie auf den Rand des 
Trogs. Auch sie sei hübsch und jung gewesen, wiederholt 
sie, „ob Sie mir's. glauben oder nicht, und gerne hätte ich 
die feine Wäsche getragen. Aber ich habe die Fäuste ge¬ 
ballt, und.. ", jetzt lacht sie konvulsivisch, .. mit den 
geballten Fäusten hab ich die Wäsche gerieben, bis sie 
sauber war, blitzsauber. Alles für die anderen." 

Manchmal freilich habe auch sie sich schöngemacht und 
habe ein Paar fremde Ajour-Strümpfe angezogen und ein 
Hemd aus Batist, das sei aber schon ewig her, ihre Jugend 
und ihre Schönheit und all ihre Hoffnungen seien ertrun¬ 
ken in dem Seifenwasser, und ausgeschüttet habe sie alles. 
Längst sei es vorbei, dafi Männer ihr nachstellten. 

„Mein Geliebter war Polizist", erzählt sie, „hu, war der 
eifersüchtig, nicht einmal tanzen hab ich mit einem ande¬ 
ren dürfen. Aber wie ich schwanger geworden bin, hat er 


160 



mir lang und breit auseinandergesetzt, daß er nur proviso¬ 
risch angestellt ist, ans Heiraten darf er gar nicht denken, 
und ich muß mir das Kind nehmen lassen. Ich hab Glüh¬ 
wein getrunken mit Gewürznelken, wie es mir die Freun¬ 
dinnen geraten haben, das hat aber nichts genützt. Da hat 
er mir zugeredet, ich soll einmal mit dem Polanski schla¬ 
fen, damit ich dem das Kind aufbinden kann." 

Soll auch der tote Gatte einbezogen werden in diese 
zwecklosen Selbstbeschuldigungen der verwirrten Frau? 

„Nein, bleiben Sie, junger Herr, jetzt kommt eine Mord¬ 
geschichte für die Zeitung. Mein Herr Polizist hat also 
wollen, ich soll mit dem Polanski gehn, damit er das Kind 
auf ihn schieben kann. Vorher hat er sich über den Po¬ 
lanski lustig gemacht, einen soliden Geschäftsdiener aus 
unserer Straße, der mir immer Blumen gebracht hat und 
rot geworden ist, wenn er mich gesehen hat. Ich wollt 
nichts davon wissen, den armen Menschen so hereinzu¬ 
legen, aber mein sauberer Freund hat so lange auf mich 
eingeredet, bis ich vom Tanzsaal mit dem Polanski nach 
Hause gegangen bin. Mein Freund ist uns nachgeschli¬ 
chen bis an die Haustür, er wollte verhindern, daß ich mir's 
noch überlege. Mir hat es den Hals zugeschnürt wie da¬ 
mals nach jener ekelhaften Nacht beim Bruder der Gnä¬ 
digen, und wieder hat mich der Haß gepackt, und am 
Abend hab ich das Messer mitgenommen zum Stelldichein 
mit meinem Herrn Polizisten. Damals habe ich es mir klar 
und kalt überlegt und hab gewußt, dieser Stich wird nicht 
danebengehn." - „Haben Sie ihn wirklich ...?" 

„Ich hab ihn nicht erstechen können, er ist nicht gekom¬ 
men. Er hatte mich ja verkuppelt und keine Verpflichtun¬ 
gen mehr gehabt. Ein Ehrenmann! - Lange hab ich nicht 
den Mut gefunden, dem Polanski zu sagen: Ich bin schwan¬ 
ger. Erst wie man mir's schon angesehen hat, bin ich damit 
herausgerückt. Der arme Narr hat sich so gefreut, gejubelt 
hat er vor Freude, daß er Vater wird und daß wir gleich 
Hochzeit machen müssen. Da hat mir der Gefoppte so leid 
getan, und ich wollte das Kind nicht austragen, um keinen 
Preis der Welt, auch wenn es mein Leben kosten sollte. 
Aber keine Hebamme hat es machen wollen, ich war schon 
im siebenten Monat. Wieder hab ich Glühwein getrunken. 


170 



Zwanzigmal bin ich vom Tisch gesprungen, vor der Mutter 
Gottes hab ich gekniet und gebetet und gebeichtet und 
gefastet und Gelübde getan; nichts hat geholfen. An diese 
Teufelswand von dem Waschtrog da, hier in der Mitte, wo 
ich immer stehe, hierher hab ich meinen Bauch gedrückt 
und hab gewaschen mit zusammengepreßten Fäusten, die 
Frauenhemden, die blutig waren; nur ich hab kein Blut 
gehabt. Da hab ich mein altes Messer genommen und hab 
es mir in den Bauch gestoßen, damit Blut kommt, damit 
das Kind krepiert und ich mit ihm .. 

„Haben Sie sich schwer verletzt?" 

„Man hat mich ins Spital gebracht, zwölf Tage habe ich 
dort im Fieber gelegen. Wie ich wieder zu mir gekommen 
bin, hat man mir mein Kind gezeigt, den Franzi. Ich hatte 
ihn nicht getroffen - vielleicht war es gut so; ich hab ihn 
liebgewonnen. Auch den Polanski hab ich liebgewonnen, 
der hat den ganzen Tag an meinem Bett gesessen und mich 
nachher geheiratet. Er hat nur eine Sorge gehabt, der arme 
Narr, ob der Bub nicht tuberkulös sein wird wie er. Ich 
hab eine andere Sorge gehabt: ob der Bub nichts erben 
wird von meinem Blut, das nicht hat fließen wollen ohne 
das Messer da. Aber ich werde ihnen das sagen, den Her¬ 
ren vom Gericht, ich werde mir kein Blatt vor den Mund 
nehmen bei der Verhandlung, ich werde denen schon sa¬ 
gen ..." 

Da wird die Tür aufgerissen. „Guten Abend, Mutter." 

Frau Polanski schaut ihren Sohn an, der seine Mütze 
aufs Bett schleudert; sie ist ganz woanders, sie steht vor 
Gericht. 

Wie kommt ihr Sohn in ihre Stube? Wie kommt die 
Stube hierher? 

„Weißt du schon, daß man mich wegen Raubmord ver¬ 
haftet hat? Was sagst du dazu, Mutter?" Er sieht die 
durchwühlten Schubfächer. „Aha, hier waren sie auch schon, 
die gescheiten Herren von der Polizei." 

Frau Polanski schaut ihren Sohn groß an. Wo kommt 
er her, kommt er vom Galgen? 

„Was schaust du so, Mutter? Hast du vielleicht auch 
geglaubt, daß ich der alten Bergmann den Schädel ein* 
geschlagen hab?" 


171 



Ich trete auf ihn zu. „Verzeihen Sie, ich bin Bericht¬ 
erstatter. Wieso hat man Sie entlassen?" 

Franz Polanski lacht. „Da war ich ja beinahe in die 
Zeitung gekommen! Mutter, was sagst du, fast wäre ich 
berühmt geworden. Leider haben sie schon den Mörder, es 
ist der Sohn von der Hausbesorgerin. Aber ich hab seit 
Mittag nichts gegessen; Hunger hab ich, Mutter." 

Sie steht noch immer da mit wirrem Haar und dem Blick 
einer aus der Vergangenheit hervorgeholten Jugend. 

Sie schaut auf mich: Die Mutter eines Mörders hat die 
Dunkelheiten ihres Lebens einem Mann von der Zeitung 
enthüllt, und jetzt ist sie nicht mehr die Mutter eines 
Mörders, und der Mann von der Zeitung hat hier gar 
nichts zu suchen in dieser ehrlichen Stube. Sie hat sich vor 
ihm entblößt, weil sie gehofft hat - was hat sie nur ge¬ 
hofft? 

„Hunger hab ich, Mutter, hörst du nicht? Seit Mittag 
hab ich keinen Bissen im Mund gehabt! Was starrst du 
denn so? Fressen will ich, wie oft soll ich es noch sagen?" 

Da zuckt Frau Polanski zusammen, sie bindet ihr Kopf¬ 
tuch um, und gebückt, eine alte Wäscherin, stapft sie zum 
Herd. „Na ja, na ja, ich geh ja schon." 

Und ich verlasse die Wohnung, ohne eine Notiz, ohne 
auch nur eine Zeile zu haben. 



DIE 

WASSERKATASTROPHE VON KONOPISCHT 


Auf die Nachricht von einer Überschwemmung bei Be¬ 
neschau, die an einem Sonntag in Prag bekannt wurde, 
fuhr ich hin. Beneschau war wohl eine Reise wert, denn 
auf Schloß Konopischt bei Beneschau hatte der Erzherzog 
Franz Ferdinand seine, wie er dachte, provisorische Resi¬ 
denz, dort wartete er mit unverhohlener Ungeduld auf 
seine Übersiedlung in die Hofburg. Aber in dieser Wiener 
Wohnung saß ein gar zäher Mieter und dachte nicht daran, 
sie zu räumen: Kaiser Franz Joseph I. 

Als dessen Sohn Kronprinz Rudolf 1889 sich in Mayer¬ 
ling erschoß, wurde sein Vetter Franz Ferdinand Thron¬ 
folger von Österreich-Ungarn. Damals war Kaiser Franz 
Joseph sechzig Jahre alt und schwerkrank, und der neue 
Erbe machte sich bereit, binnen kurzem den Thron zu be¬ 
steigen. Ein Jahr des Wartens verging, ein Jahrzehnt ver¬ 
ging, zwei Jahrzehnte vergingen, ein Vierteljahr hundert, 
und als 1914 die Schüsse von Sarajevo den Wartenden 
töteten, lebte der Erblasser Franz Joseph immer noch. 

Zur Zeit, da ich nach Konopischt fuhr, um über die 
Wasserkatastrophe zu berichten, hatte die Wartezeit Franz 
Ferdinands ihr achtzehntes Jahr erreicht. Um ihn und sein 
Schloß rankten sich vielerlei Gerüchte, und eben waren 
sie um eine mystische Note bereichert worden: Ein be¬ 
rühmter englischer Pflanzengenetiker war nach Konopischt 
berufen worden, um durch Kreuzung der Rosa canina mit 
der Rosa rugosa ein Geschlecht schwarzer Rosen zu züch¬ 
ten. Kaum drang von diesen Versuchen etwas in die 
Öffentlichkeit, wandten sich Kassandrarufer und Zeichen¬ 
deuter in Briefen an den Editor der „Times": Wisse man 
nicht aus der Geschichte Englands, daß es eine Mordtat 
mit nachfolgendem Krieg bedeute, wenn die schwarze Rose 
blühe? Wie erst, wenn sie im Hause des Prinzen blühe, des¬ 
sen Händen die Zukunft von Mitteleuropa anvertraut ist? 


173 



Zum Glück vermochte der Züchter des botanischen Un¬ 
glücksraben die Zeitgenossen, die Timesgenossen zu be¬ 
ruhigen: Laut der Chromosomentheorie, die ihrerseits auf 
der Mendelschen Vererbungslehre fuße, geraten bei Kreu¬ 
zungen eines wilden Rosenmännchens mit einem rauhen 
Rosenweibchen von je hundert Kindern fünfundzwanzig 
dem Vater nach und sind weiß wie dieser, und fünfund¬ 
zwanzig sind rosarot, ganz die Mama. Von den übrigen 
fünfzig werden die fünfzehn brünettesten dem Geschlechts¬ 
verkehr mit Vater oder Mutter preisgegeben, hernach die 
fünfzehn dunkelsten dieser Blutschande neuerlich dem 
Verkehr mit ihren Erzeugern, und erst nach sieben Jah¬ 
ren könne eine völlig schwarz pigmentierte Generation ge¬ 
boren werden. Bis zum Sommer 1914 sei demnach für jene, 
die an dergleichen Vorzeichen glauben, das Schicksal des 
österreichischen Thronfolgers wie das des Friedens ge¬ 
sichert. 

Wahrscheinlich stand der Editor der „Times" vor diesem 
Brief wie der Esel Buridans oder, besser gesagt, Puritans. 
Einerseits konnte er die shocking Geschichte von Zucht 
und Inzucht, diese Anleitung zur Erzeugung von Neger¬ 
bastarden, seinen Leserinnen nicht gut vorsetzen, anderer¬ 
seits aber war die Erklärung des Botanikers geeignet, der 
City und ihren Aktien ein Limit von sieben Jahren zu ge¬ 
währen. 

Wie immer fiel die Entscheidung zwischen Moral und 
Wirtschaft zugunsten der letzteren aus, die Öffentlichkeit 
wurde unterrichtet, daß die Chromosomen vorläufig weder 
Mordabsicht noch Kriegsabsicht im Busen hegten, und 
niemand konnte annehmen, daß die Wasserkatastrophe 
bei Konopischt ein Resultat des Rosenexperiments sei. 
Tatsächlich war sie auch im Vergleich zu jenen, die später 
folgten, kaum eine Katastrophe zu nennen, und wenn man 
sie dennoch so nannte, geschah es, weil man die Ausmaße 
der kommenden nicht kannte. 

Der Eisenbahnzug, der mich spätabends an den Schau¬ 
platz brachte, war der letzte; kurz nachdem er angelangt 
war, stiegen längs der Strecke Wlaschin-Beneschau die 
Fluten zur Höhe des Bahndamms empor, schlugen über 
den Gleisen zusammen. 


174 



In Beneschau recherchierte ich, was zu recherchieren 
war. Aus den Garnisonen des weitesten Umkreises war 
auf des Erzherzogs telegrafischen Befehl Militär und Gen¬ 
darmerie herantransportiert worden. Die Tätigkeit der 
Gendarmen bestand darin, die Fische zu konfiszieren, die 
aus dem erzherzoglichen Teich auf die Landstraße ge¬ 
schwemmt und von Landleuten aufgelesen worden waren. 
Die k. u. k. Pionierregimenter hatten einen Wall aufzuwer¬ 
fen, um die Kellerräume des Schlosses vor dem Eindringen 
des Wassers zu schützen. 

In der Wirtsstube des Hotels „Zum Löwen", wo ich die 
Ergebnisse meiner Nachforschungen notierte, saßen Men¬ 
schen, deren Gesichter von Verzweiflung durchfurcht wa¬ 
ren. Der Wirt flüsterte mir zu, daß jener Mann in der Ecke 
der Besitzer des überschwemmten Gutes Libesch sei. Die 
stumm-verstörte Familie am Fenster sei die des Müllers 
aus dem Dorf Krupitschka, seine Mühle, die nicht ver¬ 
sichert gewesen, brannte im vorigen Jahr ab, mit seinen 
letzten Ersparnissen baute er sie wieder auf, und jetzt habe 
das Wasser den Neubau vernichtet. 

Von mißtrauischem Charakter, wie du bist, lieber Leser, 
wirst du fragen, wieso ich mir die Namen der böhmischen 
Dörfer Libesch und Krupitschka bis zum heutigen Tag 
gemerkt habe. In der Tat, hätte mir damals im Gastzim¬ 
mer des Hotels „Zum Löwen" jemand geweissagt, ich 
würde nach mehr als einem Menschenalter aus dem Ge¬ 
dächtnis nieder schreiben, daß jener Mann in der Ecke 
der Gutsbesitzer von Libesch und die Familie am Fenster 
die des Müllers aus Krupitschka sei, ich hätte einen sol¬ 
chen Propheten für einen Schwätzer gehalten. 

Konnte ich denn ahnen, wie lückenlos die Chronik des 
blinden Methodius war? Noch Jahre später hörte ich ihn 
das Lied von der Wassersnot singen mit den Strophen 
vom Gutsbesitzer in Libesch und vom Müller aus Kru¬ 
pitschka, welch letzterer - hier hob sich die Stimme des 
blinden Methodius zur Wehklage eines Trauerchors - 
nicht versichert gewesen. 

Wirt und Gäste des Hotels „Zum Löwen" erzählten 
schauerliche Szenen, die Überschwemmung war nachts ge¬ 
kommen, die Dorfbewohner rannten davon, ihnen nach 


175 



setzten die Fluten, waren ihnen auf den Fersen. Über den 
Dächern der Ziegelhäuser schlugen die Wellen zusammen, 
ertränkten. Menschen, Pferde und Kühe, Holzhäuser wur¬ 
den weggeschwemmt, die Ernte vernichtet, die eingebrachte 
in den Scheunen ebenso wie die auf den Feldern. 

„Und im Schloß?" fragte ich. 

Im Schloß? Nun, selbstverständlich sei auch der Park 
überflutet und der Staudamm im Teich zerbrochen. Aber 
dem Schloßgebäude selbst sei nichts passiert. Der Herr 
Erzherzog sei die ganze Zeit dort geblieben. 

Inzwischen war es Nacht geworden, und ich wollte in 
mein Zimmer hinauf gehen. Im Hausflur goß ein Gendarm 
mit grimmigem Gesicht sein Bier in sich, es war mein 
Instruktionskorporal vom 11. Regiment. Ich wollte ihn aus¬ 
fragen, aber er kam mir zuvor: „Sagen Sie - als ein stu¬ 
dierter Mensch werden Sie es wissen -: Weshalb müssen 
wir den armen Leuten, die krepierten Fische abnehmen und 
im Schloß abliefern? Sagen Sie mir, bitte, was macht der 
Herr Erzherzog mit den toten Fischen?" 

Ich konnte keine Antwort auf die Frage geben, trank 
ein Bier mit meinem ehemaligen Lehrer des Exerzierdien¬ 
stes und ging zu Bett. 

Draußen donnerte und blitzte und goß es, der Wind 
wollte mit aller Gewalt den Balkon meines Zimmers ab¬ 
brechen, während Regensträhnen die Fensterscheiben zu 
zerschlagen versuchten. 

Da ich nicht einschlafen konnte, legte ich mir die Tat¬ 
sachen zurecht, die ich bisher erhoben. Sie bezogen sich 
auf das Schicksal der Dörfler, die waren brotlos, obdachlos, 
mittellos geworden. Aber nicht um deren Katastrophe zu 
beschreiben, war ich hierher entsandt. Für die Zeitung war 
das kleine Ungemach eines kaiserlichen Prinzen von Wich¬ 
tigkeit und nicht das große Ungemach von ein paar hun¬ 
dert Bauern. 

Komische Frage, die des Gendarmen! Wozu braucht der 
Erzherzog wirklich die krepierten Fische? Ich mußte mich 
aber mit der Beantwortung nicht plagen, über den erz¬ 
herzoglichen Befehl zum Einsammeln der Fische durfte ich 
ohnehin nichts schreiben, ebensowenig wie über die Ein¬ 
setzung der Truppen zum Schutz des Weinkellers. 


176 



Ein so junger Journalist ich auch war, ich hatte schon 
eine ziemliche Anzahl von Dingen verschweigen müssen, 
und es sollte eine sehr große Anzahl werden, bevor ich ein 
alter Journalist wurde. Wenn Kollegen sich brüsten, sie 
seien nie in ihrem Leben im Schreiben beschränkt worden,, 
nie würde ihnen ein Gedanke gestrichen, so ist das nur 
ein Beweis dafür, daß sie sich von selbst innerhalb der 
Zensurgrenzen bewegen, ihre Denkweise nirgends über die 
Hürden der vorgeschriebenen Ideologie hinausstrebt. 

Vom weiten Ausmaß der Katastrophe blieb mir nur 
eine Parzelle zur Schilderung überlassen: nämlich der Her¬ 
rensitz des künftigen , Kaisers. Aber auch < hierfür gab es 
eine Zensur, vor' allem in ..Prag. Dort hatte sich der Thron¬ 
folger beträchtlichen Einfluß zu sichern, gewußt: Der Chef 
der Politischen; Polizei Bezirkshauptmann-Chum, der Ko- 
nopischter Beichtvater Graf Galen, der Abt von Emmaus 
Alban Schachleitner und der Generalstabschef Oberstleut¬ 
nant Alfred Redl waren seine Vertrauensleute und machten 
katholische und großösterreichische Politik in seinem Sinn;, 
auch der Führer der tschechischen nationalsozialistischen 
Partei, Dr. Karl Schwiha, stand im Sold desErzherzogs, 
was allerdings damals noch-geheim war, bald aber zu 
einem öffentlichen Skandal Anlaß geben sollte. 

Was immer mit dem Thronfolger in : Zusammenhang 
stand, ob es die ominösen schwarzen Rosen waren' oder 
das gefälschte Sankt-Georgs-Relief, das ein Kunsthändler 
dem Erzherzog angehängt - die Auslandspresse, die Wie¬ 
ner und Budapester Zeitungen berichteten darüber spalten¬ 
lang, während einflußreiche ^Freunde unseres Blattes" den 
Chefredakteur der „Bohemia" von der Unzweckmäßigkeit 
der Veröffentlichung überzeugten. Als die Verlobung des. 
Thronfolgers mit der böhmischen Gräfin Sophie Chotek die 
Welt beschäftigte, durften wir kaum die Geschichte des 
Chotekschen Hauses bringen, weder das Echo des Aus¬ 
lands fnoch die Wiener Blätterstimmen registrieren. 

Selbst der knappste Bericht, den ich aus dem Schloß 
heimbrächte, würde also noch zusammengestrichen wer¬ 
den. Aber ich mußte mein Bestes ,tun. Am Morgen mietete 
ich in Beneschau einen Zweispänner und einen Zylinder, 
um ins Schloß zu fahren. Wie erwartet, ließen die am Git- 


12 Kisch VII 


177 



tertor postierten Gendarmen respektvoll den Herrn pas¬ 
sieren, der mit arroganter Miene, Zylinder auf dem Kopf, 
seinem Wagen entstieg. Ungestört ging ich durch den Park. 

Ein eigenes langgestrecktes Gebäude barg die Sankt- 
Georgs-Sammlung. Seit Jahren kaufte der Erzherzog Dar¬ 
stellungen des heiligen Georg zusammen, soweit er sie sich 
nicht schenken ließ, gotische Holzschnitzereien und billige 
Gipsfiguren, Renaissancegemälde und Öldrucke, Kunst und 
Kitsch. 

Daß sich der Thronfolger mit dem Drachentöter identi¬ 
fizierte, schien klar, wen aber meinte er mit dem Lind¬ 
wurm? Was war es, was dieser manische Jäger, der sich 
mit dem Abschuß von tausend Rehen und Hirschen nicht 
zufriedengab, als befriedigende Jagdbeute ersehnte? 

Erst nach dem Tod der Doppelmonarchie erschienen 
des Thronfolgers Briefe, von denen die meisten mit der 
Floskel „Pardon den Bleistift" begannen, und man erfuhr, 
daß er unter dem Drachen alles mögliche subsumiert hatte. 
In cholerischem Ton schreibt er von der Hofkamarilla um 
Franz Joseph, die sich seiner Ehe widersetzte, und von 
den unverschämten Politikern und Journalisten, die sich 
einmischten. Die ungarischen Beschränker der habsburgi¬ 
schen Hausmacht nennt er „Kossuthgesindel", die italieni¬ 
schen Irredentisten „Katzelmacher", die Serben „Ziegen¬ 
schänder" und schimpft außerdem auf Freimaurer, Juden, 
Parlament und Sozialisten. 

Ich lugte durchs Fenster in die merkwürdige Georgs¬ 
kapelle. Das Wasser hatte das aus den Drachenmäulern 
züngelnde Feuer nicht verlöscht, und nicht aus Angst vor 
den steigenden Fluten richteten sich die heiligen George 
in den Steigbügeln hoch. Nur wenn das Hochwasser noch 
höher steigen würde, so notierte ich mir mit journalisti¬ 
schem Konditional, könnten sie Roß und Reiter ersäufen. 
Dagegen war das Rosarium nicht einmal bedingungsweise 
gefährdet, das breite Holztor war geschlossen und durch¬ 
aus geeignet, einem Wassersturm Trotz zu bieten, so daß 
die düstere Blume ruhig ihrer Entfaltung entgegenreifen 
konnte. Und auch die Schätze der berühmten Estensischen 
Waffensammlung in den oberen Stockwerken des Schlosses 
hatten nichts zu befürchten. 


178 



Forschenden Schrittes patrouillierte ich durch den nas¬ 
sen. Park. Jenseits eines wappenförmigen Blumenbeets 
standen zwei Herren. In dem einen erkannte ich den 
Thronfolger, der andere kam auf mich zu und fragte, was 
ich hier tue. Ich erwiderte, daß ich Zeitungsberichterstatter 
aus Prag sei. Er eilte zum Thronfolger und kehrte, diesmal 
zur Energie versteift, zu mir zurück. In scharfem Ton, des¬ 
sen Stimmlage er von seinem Herrn empfangen, erklärte 
er: „Über das Schloß darf kein Wort in die Presse. Ver¬ 
lassen Sie sofort die Domäne!" 

Worauf ich denn sofort die Domäne verließ. Den ersten 
Teil des Befehls zu befolgen war nicht meine Sache, darum 
würden sich schon die Prager Vertrauensleute Franz Fer¬ 
dinands bemühen. 

Kaum hatte ich vom Beneschauer Postamt das letzte 
Wort meines mageren Berichts abdiktiert, erschien die 
Stimme des alten Herrn Katz in der Hörmuschel. Hermann 
Katz war Mitglied unserer Redaktion und gleichzeitig 
Prager Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse". 
Er hatte mir mitzuteilen, daß ich noch heute eine ganze 
Zeitungsseite über die Wirkung der Überschwemmung 
auf das Schloß direkt an die „Neue Freie Presse" telefonie¬ 
ren müsse, einen Originalbericht, verschieden von dem, 
den ich soeben nach Prag gegeben. 

Bevor ich antworten konnte, eröffnete mir Hermann 
Katz mit geradezu feierlicher Betonung, Herr Benedikt 
habe sich erkundigt, wer von der „Bohemia" nach Kono- 
pischt gefahren sei, und wörtlich gesagt: „Sagen Sie Herrn 
Kisch, daß das mein persönlicher Auftrag ist." 

De jure hatte Herr Benedikt mir gar keinen Auftrag zu 
geben. De jure hatte ich nichts mit der „Neuen Freien 
Presse" zu tun, deren Herausgeber Moriz Benedikt war. 
De facto aber lag die Sache anders. De facto gehörte es zu 
den Obliegenheiten unserer Redaktion, den leisesten Win¬ 
ken von Moriz Benedikt zu gehorchen, sonst konnte er 
seinen Prager Korrespondenten aus dem Redaktionsstab 
einer anderen Zeitung wählen. In diesem Falle wären uns 
jene politischen Informationen verlorengegangen, die 
Hermann Katz als Vertreter des einzigen österreichischen 
Weltblatts überall willfährig erhielt. Auch war es dem An- 


179 



sehn der „Bohemia" förderlich daß ihre politische Auf¬ 
fassung in den Berichten von Hermann Katz regelmäßig 
zitiert wurde. 

Darüber hinaus aber war Moriz Benedikt ein Begriff, 
der Begriff von Einfluß und Macht, obwohl seine journa¬ 
listische Alleinherrschaft zu bröckeln begann. Der Libera¬ 
lismus und der Österreichische Zentralismus, die Periode 
des Freihandels lagen in den letzten Zügen, das Wiener 
Kleinbürgertum hatte sich reaktionär, die Arbeiterschaft 
sozialistisch organisiert, die Nationen Österreichs machten 
den Deutschen ,Österreichs die Hegemonie streitig, und 
eine hauptsächlich gegen Moriz. Benedikt gerichtete Zeit¬ 
schrift, „Die Fackel" des Satirikers Karl Kraus, hatte eine 
fanatische Gemeinde von Tausenden. 

Moriz Benedikt nahm all das nicht zur Kenntnis. Nach 
wie vor sollte seine Zeitung als Bibel und er selbst als 
Hoherpriester gelten. Als ihm einer seiner Parlaments¬ 
berichterstatter eine Nachricht mitteilte und hinzufügte, er 
habe sich unter Eid verpflichtet, sie vorläufig nicht zu ver¬ 
öffentlichen, erhob sich Moriz Benedikt, streckte priester- 
lich die Arme aus und sprach: „Hiermit entbinde ich Sie 
Ihres Eides." 

Unentwegt betrachteten die alten Abonnenten das Blatt 
so, wie dessen Herausgeber es betrachtet wissen wollte: 
Sie schworen auf jedes Wort. Der Schriftsteller Arthur 
Holitscher schilderte mir einmal, wie sich seine Familie 
von ihm lossagte, weil er, statt Kaufmann zu werden oder 
zu studieren, sich der Literatur zuwandte. Briefe an seine 
Mutter kamen uneröffnet zurück, seine Annäherungen an 
die Geschwister begegneten der beleidigendsten Ableh¬ 
nung, auch als er schon mit Büchern und Dramen Erfolge 
hatte. Um so erstaunter war Arthur Holitscher, plötzlich 
von seiner Familie Briefe zu bekommen, die ihn geradezu 
um Verzeihung baten. Was war geschehen? Geschehen war, 
daß die „Neue Freie Presse" unter den prominenten Besu¬ 
chern einer Veranstaltung seinen Namen genannt hatte. 

Man erzählte sich in Wien, daß bei einer Audienz Kaiser 
Franz Joseph den Komponisten Anton Bruckner fragte, ob 
er einen Wunsch habe, worauf Bruckner tränenüberströmt 
ausrief: „Majestät, könnten S' nicht beim Herrn Hanslick 


180 



ein Wörtl für mich einlegen, daß er mich nicht immer so 
tadeln tut?" 4 . 

Nein, das konnte Majestät nicht, hier hatte der Kaiser 
sein Recht verloren. Und dabei war Eduard Hanslick in 
der „Neuen Freien Presse" nur der Musikkritiker! 

Theodor Herzl, der alsbald angesichts einer staunenden 
Welt mit dem Kaiser von Deutschland vor den Toren 
Jerusalems das Projekt einer gesicherten jüdischen Heim¬ 
stätte in Palästina'diskutieren sollte, Theodor Herzl, der 
am Hof des Sultans in Konstantinopel und am Hof des 
Zaren in St. Petersburg die Regelung des Judenproblems 
verfocht, selbiger Theodor Herzl trug gewissenhaft in sein 
Tagebuch ein, wie ihm der Herausgeber der „Neuen Freien 
Presse" jeweils begegnete, glücklich, wenn dieser ihn eines 
Gesprächs würdigte, unglücklich, wenn er auf seinen Gruß 
nur kühl dankte. 

Und nun bekam ich, ein junger Mann aus der Provinz, 
voni 'Pontifex maximus Benedictus einen persönlichen Auf¬ 
trag, den Auftrag, eine ganze Seite zu füllen. Diese Seite 
würde der Zensur der Prager Erzherzogsclique nicht zum 
Opfer fallen, denn vor kurzem hatte sich zwischen Franz 
Ferdinand und Moriz Benedikt ein Kampf abgespielt, aus 
dem der Thronfolger keineswegs als Sieger hervorgegan¬ 
gen war. 

Moriz Benedikt hatte in der Verlobung Franz Ferdi¬ 
nands mit der Gräfin Chotek den Anlaß zu künftigen Kom¬ 
plikationen in der Thronfolge erblickt. Nur eine öffent¬ 
liche und beschworene Verzichterklärung des.Thronfolgers 
für Frau und Deszendenz könne Österreich vor einer Wie¬ 
derholung der Maria-Theresianischen Erbfolgekriege be¬ 
wahren. Selbstverständlich durfte ein solcher Standpunkt 
nicht offen ausgesprochen werden, aber Moriz Benedikt 
konnte ausländische Blätterstimmen und Parlamentsreden 
dieser Tendenz groß zitieren. Außerdem bestellte er bei 
berühmten Juristen und Historikern „allgemein gehaltene", 
„unaktuelle" Artikel über die Frage, ob die Gemahlin eines 
Kaisers, die gemäß den habsburgischen Erbfolgegesetzen 
nicht Kaiserin von Österreich sei, dennoch als Königin 
über Ungarn und Böhmen regieren dürfe und welche Fol¬ 
gen das mit sich brächte. 


181 



So gelehrt und zeitlos diese Frage behandelt wurde, so 
wütend und drohend antwortete das Organ Franz Ferdi¬ 
nands, die christlich-soziale Wiener „Reichspost", und ihre 
Experten, meist hohe Geistliche, griffen Moriz Benedikt per¬ 
sönlich mit ganz und gar unpriesterlicher Gehässigkeit an. 

Der Erzherzog durfte die Gräfin Chotek wohl heiraten, 
aber er mußte vor der Trauung beschwören, daß er für 
seine Gattin auf den Titel einer Kaiserin und Königin und 
für seine zukünftigen Kinder auf die Thronfolge verzichte. 
Diesen Schwur konnte Moriz Benedikt als seinen Erfolg 
buchen, freilich als einen Erfolg, den ihm Franz Ferdinand 
nach der Machtübernahme bitter heimzahlen würde. 

Vorläufig war es Moriz Benedikt, der an der Macht 
war, und ich war hier und heute an seiner Statt. Mit Zy¬ 
linder und Zweispänner fuhr ich zum zweitenmal ins 
Schloß hinaus. Wiederum ließ die Wache mich passieren, 
was weniger überraschend war als das erstemal, denn 
jetzt spiegelte sich sicherlich in meinen Mienen der Stolz, 
Beauftragter eines Weltblatts zu sein. 

Von den Bäumen tropfte der Regen auf meinen Zylin¬ 
der, aus den Pfützen spritzte es meine Hosenbeine hinauf, 
ich jedoch achtete nicht darauf, ich war vollauf damit be¬ 
schäftigt, Eindrücke zu hamstern. Mein Bericht sollte ein 
Bericht werden, wie ihn nicht einmal die ältesten Abon¬ 
nenten der „Neuen Freien Presse" je gelesen! 

Das Ufer des angeschwollenen Fischteichs, das aufge¬ 
hört hatte, ein Ufer zu sein, ging ich entlang, die Füße im 
Lehm, den Kopf im Parnaß. Ich dichtete für Moriz Bene¬ 
dikt, der auf meinen Bericht wartete, ich dichtete gegen 
Erzherzog Franz Ferdinand. 

Dem vielfachen St. Georg will ich einheitliche Züge 
geben, seine Jünglingshaftigkeit schildern, seine schmale 
Gestalt und sein bartloses Gesicht, und sein Blick wird 
erkennen lassen, wie ihm der Wille, ein Tier zu töten, 
bisher ferngelegen ... kurzum, all das soll hervorgehoben 
sein, was den Unterschied zwischen dem Ritter Georg und 
dem dicken, schnauzbärtigen, jagdfanatischen Schloßherrn 
ausmacht. Boshaft schmunzelnd beschließe ich, von wohl¬ 
geformten Gipsfiguren und von besonders schönen Farben¬ 
drucken des heiligen Georg zu schreiben. 


182 



Diesmal war das breite Holztor des Rosariums geöffnet, 
zwei Handkarren voll mit toten Fischen fuhren eben ein. 

„Für drinnen?" fragte ich einen Gärtnergehilfen. 

„Ja, wir düngen immer mit Fischresten und gelegentlich 
auch mit toten Fischen. So teure aber und so viel auf 
einmal haben wir noch nie gehabt." 

Würdiger Dünger, dachte ich bei mir, würdiger Dünger 
für die schwarze Rose: tote Fische, entrissen hungernden 
Menschen. Das darf ich freilich auch in Wien nicht aus¬ 
sprechen. Aber selbst ohne den Dünger wird in meinem 
Bericht die schwarze Rose aufblühen, inmitten fröhlicher 
und heller Blumen des Friedens und der Freude, das un¬ 
heilverkündende Gewächs. 

Ich betrete den Damm. Der ist in der Mitte geborsten, 
nur bis zu der etwa drei Meter breiten Bruchstelle kann 
ich vorwärts gehen. Zu meinen Füßen tobt ein Wirbel, als 
wollten flüssige Krallen den Rest des steinernen Hinder¬ 
nisses packen, um ihn abzureißen. Während ich mich um¬ 
wende, mir panoramische Notizen mache, ist auf der ande¬ 
ren Seite der Bresche jemand erschienen. Der Erzherzog! 

„Unerhört! Ich habe Ihnen doch sagen lassen: Ich dulde 
nicht, daß über das Schloß etwas in die Zeitung kommt", 
schreit er. 

Aus seinen Pupillen blitzen Drohungen, die ihre Wir¬ 
kung gewohnt sind. Aber sie verfehlen ihre Wirkung auf 
mich, der ich von höherer Seite gesandt bin. 

Über den klaffenden Abgrund hinweg schallt meine 
Antwort: „Kaiserliche Hoheit, was in der ,Neuen Freien 
Presse' erscheint, bestimmt niemand anderer..." 

Bei dem Wort „Neue Freie Presse" wird sein Gesicht 
puterrot vor Wut, seine Finger krampfen sich zusammen, 
als wollten sie jemanden erwürgen. 

„... bestimmt niemand anderer als Herr Moriz Bene¬ 
dikt." 

Damit wende ich dem Erben des Weltreichs den Rücken 
zu und schreite über den ungeborstenen Teil des geborste¬ 
nen Dammes in die Richtung zum Tor. 


183 



ZYANKALI GEGEN DEN GEN-ER ALSTAB 


Daß an der Kriminalgeschichte der Fall Hofrichter so 
und nicht anders heißt, gereicht mir nicht zur Ehre, denn 
ich habe in diesem Fall ' die Unschuld Hofrichters ver¬ 
fochten, Dieser Giftmordanschlag gegen eine ganze Berufs¬ 
gruppe steht in der Kriminalistik ohne Parallele da, aber 
auch in der Geschichte der öffentlichen Meinung bildet 
das Kapitel Hofrichter die Ausnahme von der Regel. War 
doch hier das Für und Wider'von verwirrenden Einflüs¬ 
sen bewegt: Die Verteidiger'des mutmaßlichen Täters 
standen zumeist auf der linken Seite der politischen Arena, 
und die rechte applaudierte ihr, weil es um einen der Ihren 
ging. 

Die Affäre begann mit dem Tod des Generalstabshaupt¬ 
manns Mader in Wien. Am Abend des 17. November 1909, 
während Mader einen Brief an seine im Ausland weilende 
Freundin schrieb, schickte er seinen Diener Wurst und Brot 
holen. Als nach zehn Minuten der Offiziersdiener zurück¬ 
kehrte, fand er seinen Herrn röchelnd und sich in Krämp¬ 
fen windend auf dem Boden liegen. Der herbeigerufene 
Arzt konnte nur noch den Tod feststellen: Vergiftung durch 
Zyankali. 

Eine militärische Untersuchungskommission fischte aus 
Maders Papierkorb ein Schächtelchen, in dem anscheinend 
das Gift gewesen war. Sie entschied: Selbstmord aus unbe¬ 
kannter Ursache. Demgemäß berichteten die Zeitungen 
unter dem Titel „Selbstmord eines Generalstäblers wäh¬ 
rend der Abfassung eines Briefes" über Maders Tod. 

Aber ein Kamerad Maders brachte die Vergiftung in 
Zusammenhang mit einem Medikament, das er am Tag 
vorher per Post erhalten hatte. Er nahm an, daß es auch 
anderen Generalstäblern zugekommen war, da auf dem 
Umschlag die Worte: „Hochwohlgeboren Herrn ..., k. u. k. 
Hauptmann im Generalstab" vervielfältigt, Name und 
Adresse jedoch handschriftlich ausgefüllt waren. Der Sen- 


184 




düng lag ein in Blockbuchstaben hektographiertes Rund¬ 
schreiben bei: 

Charles Francis Datum des Poststempels 

Wien 

VI/4 Postfach 

Diskret 

Euer Hochwohlgeboren! Die vorzeitige Abnahme der 
Mannbarkeit ist eine Krankheit des neuen Jahrhunderts. 
Diese zu ergründen, Gegenmittel zu schaffen war eine not¬ 
wendige Arbeit erster ärztlicher Kapazitäten. Auf Grund 
eingehender Versuche gelang es endlich, ein Mittel zu fin¬ 
den, welches, ohne der Gesundheit zu schaden, die männ¬ 
liche Potenz bedeutend erhöht. Wir erlauben uns, anbei 
eine Probe gratis beizulegen. Urteilen Sie selbst; dies wird 
unsere beste Reklame sein. 

Gebrauchsanweisung: Schachtel vorsichtig öffnen (Papier 
abreißen), Pillen, ohne die Oblaten zu beschädigen, ent¬ 
nehmen, beide ca. eine halbe Stunde vor... (hier war das 
Wort „Coitus" mit Handschrift eingefügt) rasch nachein¬ 
ander mit kaltem Wasser schlucken. Pillen bald in Ge¬ 
brauch nehmen, da ihr Inhalt an der Luft leicht verdirbt. 
Wirkung verblüffend! 

Ihre gütige Bestellung erwartend - Adresse obenste¬ 
hend, Zusendung diskret und raschest - 

hochachtungsvoll ergebenst 
Charles Francis. 

Die chemische Untersuchung ergab, daß die Francisschen 
Pillen reines Zyankali waren. Es bestand also Vergiftungs¬ 
gefahr für alle Empfänger. Deshalb veröffentlichte die Poli¬ 
zei eine Warnung, in der jedoch kein Wort davon gesagt 
wurde, daß das Francissche Mittel mit dem Tod des Haupt¬ 
manns Mader zusammenhing. Wenn man der Verlaut¬ 
barung glauben wollte, hatten sich die Empfänger vor¬ 
sichtig, geradezu wie Gelehrte benommen: „Offiziere, die 
solche Pillen erhielten, haben sie sogleich chemisch unter¬ 
suchen lassen, wobei Giftgehalt festgestellt wurde. Die 
übrigen Offiziere seien jedenfalls eindringlich davor ge- 


185 



warnt, die ihnen von dem Unbekannten gesandten Pillen 
zu benützen." 

So harmlos die Warnung abgefaßt schien, so enorm war 
das Aufsehen, das sie bewirkte. Ohnehin war es unglaub¬ 
würdig gewesen, daß jemand mitten im Schreiben eines 
gutgelaunten Liebesbriefes Selbstmord begangen habe. Nun 
wurde klar, daß Mader durch die Pillen ermordet worden 
war. Ein Gerücht wollte wissen, sie hätten noch viele 
andere Opfer gefunden. Ausländische Zeitungen sprachen 
von mindestens zehn Toten. 

Was die Polizei herausbekam, war weniger als wenig. 
Weder gab es das angegebene Postfach noch einen Charles 
Francis. Am 14. November morgens waren die Sendungen 
im Bereich des Postamts Wien 99 aufgegeben worden, 
durchwegs an Generalstabshauptleute des jüngsten Jahr¬ 
ganges und einen Oberleutnant, der die Kriegsschule absol¬ 
viert, jedoch keine Aufnahme in den Generalstab gefunden 
hatte. 

Da die Adressaten im Alter von neunundzwanig bis 
vierunddreißig Jahren standen, war bei ihnen allgemeine 
Impotenz nicht anzunehmen, und man wäre versucht, des 
Mörders Voraussetzung, sie würden von dem Präparat Ge¬ 
brauch machen, herzlich dumm zu nennen. Aber der Ge¬ 
danke war verflucht gescheit. Denn er zog einen über¬ 
steigerten Ehrgeiz ins Kalkül. 

Um aus der Masse der „Troupiers" in die Kriegsaka¬ 
demie aufgenommen zu werden und hernach deren Lehr¬ 
stoff zu bewältigen, bedurfte es eines asketischen Verzichts 
auf die Vorrechte und Vergnügungen der gewöhnlichen 
Offiziere. Mit Hilfe von Tonika und Injektionen hielten 
sich die künftigen Generalstäbler nächtelang wach, über 
Büchern und Heften hockend, nur von dem Wunsch be¬ 
seelt, sich über die Truppe zu erheben, rasch zu avancieren 
und reich zu heiraten. „Wodurch unterscheidet sich ein 
Generalstäbler von einem Militärarzt?" war eine Scherz¬ 
frage in Österreich. Antwort: „Ist er ein Jud, ist es ein 
Militärarzt, ist sie eine Jüdin, ist es ein Generalstäbler." 

Daß so Zielstrebige auch in einer Liebesstunde mehr 
hergeben wollen, als normalen Kräften entspricht, mußte 
ein Kenner ihrer Psychologie voraussehen. Prompt war das 


186 



„stärkende Mittel" verschlungen worden, und nur die War¬ 
nung verhinderte auch andere, am eigenen Leibe zu er¬ 
fahren, was der Absender mit den Worten „Wirkung ver¬ 
blüffend" gemeint hatte. 

Wo aber lag der Beweggrund dieses versuchten Massen¬ 
mords? Wollte ein fremder Staat die wichtigsten Offiziere 
des zukünftigen Feindes erledigen? Für diese Annahme 
sprach, daß Generalstäbler des jüngsten Jahrgangs aufs 
Korn genommen worden waren, denn die kämen selbst 
dann an die Front, wenn sich der Ausbruch des Krieges 
noch jahrelang verzögern sollte. War es ein antimilitaristi¬ 
sches Attentat, war es ein Akt sadistischen Wahnsinns? 

Möglicherweise sollte bloß ein einziger getötet werden, 
und das Gift wurde nur deshalb auch an andere gesandt, 
um die Spur des Täters zu verwischen. Nicht ausgeschlossen 
war ein als Mord getarnter Selbstmord, begangen aus 
Furcht vor postmortaler Entdeckung eines Verbrechens, 
vielleicht eines Verrats. Warum hatte Mader mitten im 
Schreiben eines zärtlichen Briefes das Mittel genommen? 
Warum den Diener weggeschickt? Stand Mader wirklich 
„eine halbe Stunde vor... ", wie Charles Francis den Zeit¬ 
punkt zum Einnehmen der Pillen vor schrieb? Dann wäre 
doch der Damenbesuch gekommen. 

Am nächsten lag die Vermutung, daß jemand durch das 
Gift seine Vordermänner beseitigen wollte. Unter den 
Empfängern der giftigen Post befand sich, wie erwähnt, 
einer von jenen Oberleutnants, die trotz erfolgreicher Be¬ 
endigung der Kriegsschule nicht in den Generalstab auf¬ 
genommen wurden, weil dieser komplett war. Gegen die¬ 
sen Oberleutnant - er diente in Galizien - richteten sich 
die ersten Recherchen; aber auch jeder andere nicht in den 
Generalstab berufene Kriegsschüler schien seiner Um¬ 
gebung verdächtig. 

Einige Tage nach dem Tod Maders sandte ein Leutnant 
Waldherr aus Linz dem Kriegsministerium ein Schächtel- 
chen mit der Anfrage zu, ob es der Verpackung der Pillen 
gleiche; in diesem Schächtelchen habe ihm der Oberleut¬ 
nant Adolf Hofrichter, ein absolvierter Kriegsschüler, 
einige Stahlfedern geschickt. Waldherr meldete gleich¬ 
zeitig, daß Hofrichter seinen Novemberurlaub auffallender- 


187 



weise in Linz verbrachte statt, wie beabsichtigt, in 
Reichenau. 

In der Tat sah das von Waldherr eingesandte Schächtel- 
chen denen der Francisschen Sendung ähnlich, und ein 
Generäls tabsober st fuhr mit dem Chef der Wiener Sicher¬ 
heitspolizei, Polizeirat Stuckart, nach Linz, wo Hofrichter 
im Korpskommando Dienst machte. Die beiden Herren be¬ 
auftragten Hofrichter, nach Hause zu gehen und sie dort 
zu erwarten, da sie in einer Stunde eine Haussuchung 
vornehmen würden. 

Während die Kommission den Leutnant Waldherr ver¬ 
hörte, erfuhr sie, daß Hofrichter das Korpsgebäude nicht 
verlassen habe und in seinem Zimmer dienstliche Ange¬ 
legenheiten erledige. Befragt, warum er nicht nach Hause 
gegangen sei, erwiderte Hofrichter, er wolle seine Woh¬ 
nung gleichzeitig mit der Kommission betreten, damit nicht 
die Vermutung auf tauche, er hätte inzwischen etwas weg¬ 
geschafft. 

Nach erfolgter Haussuchung, bei der Hofrichter bereit¬ 
willig mithalf, eröffnete ihm die Kommission, es liege der 
Verdacht vor, daß er mit Charles Francis identisch sei. Ge¬ 
lassen erwiderte Hofrichter, er habe, Gott sei sein Zeuge, 
nichts mit diesem gräßlichen Verbrechen zu tun. 

Der Generalstabsoberst verließ ihn mit dem Befehl, sich 
binnen einer Stunde zur Verhaftung zu stellen. Zwar 
konnte Hofrichter, wenn er der Täter war, innerhalb dieses 
Zeitraums Schuldbeweise beiseite schaffen, andererseits 
aber konnte er sich auch erschießen, und das war es, was 
die Militärkreise am liebsten gesehen hätten: Eingeständ- 
nis unritterlicher Handlungsweise durch ritterlichen Tod. 

Hofrichter erschoß sich nicht und wurde ins Wiener Gar¬ 
nisonsgericht gebracht. 

Gleichzeitig zog Polizeirat Stuckart, der wegen seiner 
Erfolglosigkeit in der Giftmordaffäre von der Militärkanz¬ 
lei des Kaisers gerügt und von den Sozialdemokraten an¬ 
gegriffen worden war, in Wien ein. Die offiziöse Polizei¬ 
korrespondenz rührte die Reklametrommel für ihren Chef 
und streute ihm Weihrauch, indem sie ein triumphierendes 
Bulletin ausgab: 


188 



Vom Augenblick an, da man die Leiche des Hauptmanns 
Mader fand, hat die Polizei ihre Aufmerksamkeit auf den 
Oberleutnant Adolf Hofrichter in Linz gelenkt, der unter 
den ersten Anwärtern auf die Einberufung in den General¬ 
stab figurierte, die Francis-Sendung aber nicht erhalten 
hatte. (In Wirklichkeit hatte die Polizei einen anderen, 
jenen galizischen Oberleutnant gerade deshalb verdächtigt, 
weil ihm die Pillen zugeschickt worden waren.) 

Der Verdacht verdichtete sich dadurch, daß Hofrichter 
seine Ferien nicht in seiner Heimatstadt Reichenau in Böh¬ 
men, die er als Urlaubsziel angegeben hatte, sondern in 
Linz verbrachte, von wo er binnen wenigen Stunden nach 
Wien und zurück fahren konnte. Aus diesem Grunde wurde 
eine Untersuchungskommission nach Linz entsandt. Sie 
forschte dort den Lebenswandel des Verdächtigten aus und 
erfuhr durch Umfrage (siel), daß Hofrichter einem Kame¬ 
raden zum Namenstag eine mit Stahlfedern gefüllte Schach¬ 
tel geschenkt hatte, die vollkommen jenen mit dem Gift¬ 
pulver glich.: (Wie konnten die in Linz „Umgefragten" das 
wissen, sie hatten ja die Giftschachteln nicht gesehen?) 
Der beschenkte Offizier wurde ausfindig gemacht (siel), 
bestätigte den Erhalt des Geschenks und legte die Schachtel 
vor. Mit Erstaunen und Bestürzung stellte die Kommis¬ 
sion fest, daß die Schachtel den zum Versand der Pulver 
verwendeten auf ein Haar glich. 

Solcherart wurde das einzige Indiz, das eingesandte 
Schächtelchen, an das Ende einer Verdachtskette gesetzt 
wie ein abschließender Beweis. Polizeirat Stuckart glaubte, 
damit den endgültigen Sieg über alle Angreifer, hoch und 
gering, davongetragen zu haben. 

Soweit aber war es nicht. Die sozialdemokratische „Ar¬ 
beiter-Zeitung" deckte die Polizeitaktik auf, und ihr Lokal¬ 
reporter Max Winter (der nachmalige Vizebürgermeister 
von Wien) bewies, daß die Polizei andere wichtige Spuren 
außer, acht lasse und sich nur auf die vage Annahme von 
Hofrichters Schuld beschränke. 

Merkwürdigerweise fand der Pressefeldzug der Sozial¬ 
demokratie gerade in dem ihr feindlichen Lager den stärk¬ 
sten Widerhall. Konservative und patriotische Kreise hiel- 


189 



ten es mit der Ehre der Wehrmacht für unvereinbar, einen 
Offizier ehrloser Handlungen verdächtigt zu sehen, und 
stimmten den Angriffen gegen die Polizei begeistert zu. 
Die deutsch-nationalen Abgeordneten wandten sich gegen 
den militärischen Untersuchungsrichter, den Auditor Jaro- 
slav Kunz, der im Verlauf der Ereignisse an die Seite 
Stuckarts trat; sie beschuldigten Jaroslav Kunz, der ein 
Tscheche war, daß er aus tschechisch-nationalem Interesse 
die österreichische Wehrmacht schädigen wolle. (Diesen 
Vorwurf wertete Jaroslav Kunz nach dem Umsturz von 
1918, als er in den tschechoslowakischen Staatsdienst über¬ 
nommen wurde, für sich aus, indem er sich rühmte, wäh¬ 
rend seiner österreichischen Dienstzeit bewußt sabotiert zu 
haben.) 

Kunz und Stuckart fütterten die Öffentlichkeit mit «Sen¬ 
sationen" über das Privatleben Hofrichters. Schon als Ka¬ 
dettenschüler sei er wegen Streberei und Bosheit verhaßt 
gewesen; als verheirateter Mann habe er mit einer Gouver¬ 
nante in einem Hotel übernachtet; seinem Schwiegervater 
habe er sich verpflichtet, binnen drei Monaten in den 
Generalstab berufen zu werden. Und dergleichen mehr. 

In Böhmen lebte weder der angebliche Täter noch einer 
der als Opfer Ausersehenen, und ich konnte vorerst nur 
einige Offiziere herausfinden, die in der Kadettenanstalt 
Mitschüler Adolf Hofrichters gewesen waren; sie bestritten 
einmütig, jemals Heimtücke oder Skrupellosigkeit an ihm 
bemerkt zu haben, die angeblichen Eigenschaften Hofrich¬ 
ters, mit denen die Wiener Polizeipresse unausgesetzt ope¬ 
rierte. 

Gravierend blieb nur die unterbliebene Urlaubsreise 
nach Reichenau. Ich fuhr nach Reichenau, um mit den Ver¬ 
wandten Hofrichters zu sprechen. Sie klärten mich dar¬ 
über auf, daß Adolf um Urlaub für den Sommer angesucht 
habe, ihn aber erst für den November bewilligt erhielt. 
Daß er im Winter mit seiner schwangeren Frau die Reise 
hierher machen werde, hatten seine Verwandten keine Mi¬ 
nute lang erwartet. 

Mein Bericht aus Reichenau beschrieb das winterliche 
Städtchen. Frost verbrannte Ohren und Nasen der Be¬ 
wohner, die über die Schneehügel und die gletschergleichen 


190 



Wege balancierten. Um vier Uhr nachmittags schon ver¬ 
sank die Sonne hinter dem Fichtelgebirge, und nur der 
Schnee besorgte die Straßenbeleuchtung. Welch ein Einfall, 
jemanden des Mordes zu verdächtigen, weil er diese eisige 
Öde nicht zum Erholungsort für sich und seine im letzten 
Monat der Schwangerschaft befindliche Frau erkor! 

Die Wiener Zeitungen, die bisher nur die Auffassung 
der Polizei vertreten hatten, fingen nun an, auch gegentei¬ 
lige Meinungen zu zitieren. Hatten sie anfangs Hofrichter 
nur als „Giftmischer" und „Meuchelmörder" bezeichnet, so 
nannten sie ihn alsbald den „Täter" oder den „mutma߬ 
lichen Täter", dann wurde „Hofrichter" daraus und „Ober¬ 
leutnant Hofrichter", bis schließlich, und das war bereits 
demonstrativ, von „Herrn Oberleutnant Hofrichter" die 
Rede war. Selbst die lammfrommsten Leitartikel sprachen 
davon, daß das Ansehen der Wehrmacht durch Ehrgeiz und 
Ungeschicklichkeit von Bürokraten gefährdet sei. 

In Reichenau hatte ich Hofrichters Bruder kennengelernt, 
von dem ich einige Tage später folgenden Brief erhielt: 

Sehr geehrter Herr Kisch! Hiermit möchte ich Ihnen 
über die letztaufgetauchte Sensationsnachricht ausführliche 
Auskunft zugehen lassen, aus welcher Sie ersehen werden, 
daß hier wieder eine bodenlose, niederträchtige Lüge vor¬ 
liegt, der Sie, geehrter Herr Kisch, unbedingt entgegen¬ 
treten müssen. 

Mein Verwandter schreibt mir folgendes: „Ich brauche 
als Gifthändler nicht Buch über den Einkauf und Verkauf 
von Giften der Gewichtsmenge nach zu führen (und nie¬ 
mand tut dies auch), so daß nie etwas fehlen oder über¬ 
bleiben kann. Man schreibt bloß die Mengen ein, die 
gegen Bezugschein der Bezirkshauptmannschaft ausgefolgt 
werden. Den Verkauf an Gifthändler brauche ich überhaupt 
nicht einzuschreiben." 

Das Stichhaltigste, woraus Sie, sehr geehrter Herr Kisch, 
ersehen können, daß der ganze Bericht über ein Manko 
nur wieder gemeine Sensationslüsternheit ist, ist die Tat¬ 
sache, daß mein Verwandter, wie er mir vollkommen der 
Wahrheit gemäß berichtet, seit dem Jahr 1905 überhaupt 
kein Zyankali mehr führt . Sein letzter Einkauf stammt aus 


191 



dem Jahre 1901. Die letzten schwarzen und somit gänzlich 
verdorbenen Reste wurden vor ca. 3 Jahren vernichtet. Seit 
dieser Zeit hat mein Verwandter mit Zyankali nichts mehr 
zu tun gehabt. 

Von der Wahrheit dieser Angaben hat sich eine Kom¬ 
mission Gewißheit verschafft. Indem ich Sie bitte, dies zu 

veröffentlichen, zeichne hochachtungsvollst 

' . - , ^ i Karl Hofrichter 

Reichenau b. Gablonz 

15.1.1910 

NB Den Namen darf ich aus Geschäftsgründen nicht 
nennen, da mein Verwandter, wie er mir versichert, sonst 
zuviel Schaden hätte. Bitte dies aber nicht mit veröffent¬ 
lichen zu wollen. .... , ^' , 

Wiederholt ergebenst 

d. O. 


Dieser Brief war mehr aufgeregt als verständlich. Er 
dementierte eine Nachricht, von der ich nicht wußte, was 
sie enthielt und wo sie erschienen war. Anscheinend lebte 
irgendwo irgendein irgendwie mit den Hofrichters ver¬ 
wandter Chemiker oder Chemikalienhändler oder etwas 
Ähnliches, irgendein Winkelblatt seiner Gegend, das von 
der Verwandtschaft wußte, hatte ihn beschuldigt, dem 
Oberleutnant Gift geliefert zu haben, und irgendeine Kom¬ 
mission hatte sich von der Haltlosigkeit dieser Beschuldi¬ 
gung überzeugt. Ebensowenig wie der Name, der Ver¬ 
wandtschaftsgrad, der Beruf oder der Wohnort des Ver¬ 
wandten war die Art der Kommission genannt. Also konnte 
ich aus dem Brief nicht mehr als eine Notiz machen, und 
diese wurde von den Prager ausländischen Korrespon¬ 
denten an ihre Blätter telegrafiert, weil bei dem Aufsehen, 
das die Hofrichter-Affäre. in der Welt hervorrief, überall 
auch das Belangloseste gedruckt wurde. 

Aber die belanglose Meldung hatte ein unerwartetes 
Resultat. Denn zu dem matten Bildchen, das sie bot, wurde 
zu gleicher Stunde ein anderes Bildchen geliefert, und beide 
zusammen bildeten ein klares Diapositiv. Um alle Oppo¬ 
sition und Diskussion mit einem Schlage zu beenden, hatte 
nämlich die Wiener Polizei tags vorher verlautbart, Hof- 


192 



richter habe aus seiner Zelle zwei Kassiber geschmuggelt 
in denen die Abkürzung „O. W. Frdtal." vorkam. Die Poli¬ 
zei ermittelte, daß diese Buchstaben „Onkel Wilhelm in 
Friedenthar bedeuten, und dieser Onkel sei Inhaber einer 
Drogerie. Sofort sei eine Kommission nach Friedenthal in 
Böhmen abgefertigt worden, und diese habe auf Grund 
der Geschäftsbücher Wilhelm Hofrichters das Fehlen eines 
Quantums von Zyankali festgestellt das genau dem Ge¬ 
wicht des in den Pillensendungen enthaltenen Giftes, ent¬ 
spreche. 

Dies wäre allerdings ein schweres Beweismoment ge¬ 
wesen, wenn nicht eben mit zufälliger Gleichzeitigkeit 
meine Meldung eingelangt wäre, daß der Onkel überhaupt 
keine Geschäftsbücher führe und kein Zyankali besitze. An 
der Wahrheit seiner Erklärung war nicht zu zweifeln, denn 
wäre eine Lieferung an Adolf Hofrichter bewiesen worden, 
dann hätte gegen O. W. Frdtal. ein Verfahren wegen Mit¬ 
wisserschaft oder gar Mitschuld eingeleitet werden müssen. 

Die offiziöse Verlautbarung war, soweit sie von den 
Schmuggelbriefen sprach, eine flagrante Verletzung des 
militärgerichtlichen Dienstgeheimnisses; soweit sie die 
Feststellungen der Kommission betraf, war sie das auch, 
und außerdem eine Lüge. 

„Was gedenkt die Regierung gegen eine solche Art von 
halbamtlichen Eingriffen in ein schwebendes Gerichtsver¬ 
fahren, zu unternehmen?"* Vier Interpellationen von vier 
antagonistischen Parteien stellten im Parlament diese 
Frage. Es wurde gefordert, den Polizeirat Stuckart und den 
Auditor Jaroslav Kunz sofort und schonungslos zur Rechen¬ 
schaft zu ziehen. Die Beseitigung der Maria-Theresiani¬ 
schen Militär-Prozeßordnung, die Abschaffung der Militär¬ 
gerichte und Garnisonsgefängnisse und die Einsetzung 
einer parlamentarischen Untersuchungskommission im Fall 
Hofrichter wurden verlangt, was geradezu bedeutete, die 
Militärgerichtsbarkeit, wenn nicht gar die Armee der 
Volksvertretung zu unterstellen. „Gegen polizeiliche Will¬ 
kür und militärische Feme", hießen die Parolen der sozia¬ 
listischen Versammlungen. Die Grundfesten der Monarchie 
wankten..Der Staat mußte etwas unternehmen, um sich zu 
retten. 


13 Kisch VII 


193 



Ein kluger Kriminalist, der in die Methoden der Ver¬ 
höre wohl eingeweiht war, machte zu mir die paradoxe 
Bemerkung: „Wenn Hofrichter morgen nicht gesteht, ist 
er schuldig." 

Am nächsten Tage ging die amtliche Meldung durch die 
Presse: „Der wegen Verdachts des vollbrachten Gift¬ 
mords und weiterer Giftmordversuche in Haft befindliche 
Oberleutnant Adolf Hofrichter hat heute in Gegenwart 
der versammelten militär-richterlichen Funktionäre ein un¬ 
umwundenes Geständnis abgelegt und dieses schriftlich 
zu Protokoll gegeben/' Damit waren alle Debatten zu 
Ende. 

Mich hatte die Bemerkung des Kriminalisten darauf 
vorbereitet, daß die von der Entlassung bedrohten Be¬ 
amten unter allen Umständen ein „Geständnis" herbeifüh¬ 
ren würden. Um so weniger konnte ich an die Aufrichtig¬ 
keit dieses Geständnisses glauben, als ich mich im Verlauf 
der Affäre mit dem Militärstrafverfahren vertraut gemacht 
hatte. Es enthielt eine einzigartige Bestimmung: Kein 
Mörder, selbst wenn er lückenlos überführt, selbst wenn 
er beim Mord beobachtet oder auf frischer Tat betreten 
wird, kann zum Tod oder auch nur zu lebenslänglichem 
Kerker verurteilt werden, falls er die Tat leugnet. Dieser 
Paragraph stammte aus der Zeit der hochnotpeinlichen 
Halsgerichtsordnung, in der es Aufgabe der Folterknechte 
war, entweder ein Geständnis herbeizuführen oder den In- 
quisiten unter den Marterinstrumenten sterben zu lassen. 

Längst aber brauchte ein vor dem Militärgericht ange- 
klagter Mörder die Folter nicht mehr zu fürchten, er 
konnte sich durch einfaches Leugnen vor der Todesstrafe 
retten. Geständnis war Selbstmord. * 

Weshalb also hatte Adolf Hofrichter gestanden? Erst 
beim Prozeß, zu dem ausnahmsweise eine Art von Bericht¬ 
erstattung zugelassen wurde, erfuhr man, daß das „unum¬ 
wundene und schriftlich zu Protokoll gegebene Geständnis" 
folgenden Wortlaut hatte: Ich habe die Tat, deren ich be¬ 
schuldigt werde, verübt. Ich habe in unzurechnungsfähi¬ 
gem Zustand gehandelt. Ich wußte nicht, was ich tat." 

In der Gerichtsverhandlung jedoch erhob Hofrichter die 
Finger: „Ich schwöre vor Gott, dem Allmächtigen, daß 


194 



meine Seele rein ist und daß ich nicht belastet bin mit 
dem Verbrechen, dessen ich beschuldigt werde." 

Der Militärgerichtshof hätte auf Todesstrafe erkennen 
müssen, wenn das seinerzeitige Geständnis als Geständnis 
angesehen worden wäre. Aber Hofrichter wurde nur zu 
zwanzig Jahren Kerker verurteilt. 

Beim Umsturz 1918 saß Hofrichter in der Strafanstalt 
Möllersdorf. Er weigerte sich, sie zu verlassen, auch als 
die anderen sechshundert Häftlinge, dem Beispiel ihrer 
Wachmannschaft folgend, bereits in alle Winde zerstreut 
waren. Obwohl er den Entlassungsschein und sogar einen 
Auslandspaß besaß, wollte er auch den Bescheid seiner Be¬ 
gnadigung haben. Das Justizministerium der neuen öster* 
reichischen Republik beschied sein Gesuch abschlägig und 
verfügte, Hofrichter habe bis zum Abschluß der Strafzeit 
in Gewahrsam zu bleiben. 

Bald aber wurde Hofrichter dennoch entlassen. Er 
wohnte in Wien und änderte seinen Namen. In einer Kor¬ 
respondenz, die ich mit dem Freigelassenen führte, fragte 
ich ihn, wie sein seinerzeitiges Geständnis zustande ge¬ 
kommen war und welchen Ursprung des Giftes das Ge¬ 
richt angenommen hatte, und erhielt folgende Antwort: 

Hochgeehrter Herr! Wien ' am 26 ‘ März 1928 

Ihr gütiges Schreiben, das ich heute durch Herrn Dr. 
Krasznas Liebenswürdigkeit erhielt, erfüllt mich mit gro¬ 
ßer Freude. Innigen Dank! 

Ihre frdl. Mitteilungen über das Buch Kunz' haben 
mich natürlich sehr interessiert. Wenn Sie bedenken, daß 
wir Offiziere, besonders die vom Stab, die Auditore stets 
als eine Gattung minderer Art behandelten, daß mir als 
Oberleutnant sogar ein gewisses Recht gegen Stabsaudi¬ 
tore zustand, als ich beim Stab diente, und wenn Sie nun 
bedenken, daß mich ein solcher Mann in die uneinge¬ 
schränkte Macht bekam, um sein Mütchen an mir zu küh¬ 
len, er, der Ultraceche, mir Urdeutschen gegenüber, so 
werden Sie so beiläufig ahnen, daß ich schon verurteilt 
war, bevor man mich nur verhörte. 

Es ist ganz richtig, wenn Kunz sich nun als Urceche 


195 



ausgibt. Er war kaisertreu, nur soweit die Gage reichte. 
Der beste Beweis, daß er beim Umsturz fluchtartig Wien 
verließ, denn am Tage meiner Freiheit, als ihn seine Op¬ 
fer suchten, war er schon in Prag in Sicherheit.-Wie der 
Mann vor mir Furcht hatte, vor der Wahrheit, wie er noch 
bis zum letzten Augenblick mich unterdrückte, darüber 
habe ich interessante Dienstbriefe aus dem Akt Möllers¬ 
dorf mir angeeignet, die alles dokumentarisch bestätigen. 

. Sie interessiert mein Geständnis. Es war ein Kuhhandel 
Zwischen Kunz, den Psychiatern und mir, das zu schildern 
wie ein Ulk sich ausnehmen würde, und kam nach einer 
Nacht und einem Tag zustande, an dem ich sechzehn Stun¬ 
den lang immerfort über das Gift verhört und bis zur 
Besinnungslosigkeit zermürbt war. Wie ich später erfuhr, 
war das an dem Tage, an dem mein Onkel, der eine Dro¬ 
gerie besaß, öffentlich bewies, daß ich es nicht von ihm 
besaß. 

Das aber war die ganze Theorie von Kunz gewesen, 
weil ich von diesem Onkel im Jahre 1904 Chemikalien für 
Photographie bezogen hatte. Niemals aber hatte er mir 
Gift gesandt, und nach Postbelegen ergab sich, daß eine 
Zusendung ausgeschlossen war, und persönlich hatten wir 
uns nie getroffen. 

Beim „Geständnis" war ich. in Verlegenheit, woher ich 
das Gift beglaubigen sollte. Ich gab an, es im Jahre 1904 
von meinem seither verstorbenen Vater bekommen zu ha¬ 
ben. Der war tot, konnte nicht leugnen. Und siehe da, die 
Sachverständigen sagten nun, dies sei möglich. Auf einmal 
hielt es sich anstandslos 5 Jahre! Noch dazu, wo ich die 
Hitzen der Herzegowina mitmachte, wo es sicher in Luft 
aufgegangen wäre. Kunz sah selbst ein, ich lüge, hatte nie 
dies Gift: wozu auch? Aber ich mußte eben verurteilt wer¬ 
den, und da nahm man halt an, ich hatte es. 

Ich stehe Ihnen jederzeit gerne zur Verfügung; und in¬ 
dem ich Ihnen nochmals für all Ihre unvergeßliche Güte 
innigst danke, verbleibe ich mit dem Ausdrucke besonde¬ 
rer Hochachtung 

Ihr ganz ergebener 
Adolf H. 


196 



.. ich mußte eben verurteilt werden", sagt Adolf H. 
in diesem Brief, aber er, der in der Haft wenig von den 
Stürmen um seine Person erfuhr, weiß nicht, daß es weni¬ 
ger auf seine Verurteilung als auf sein Geständnis und 
weniger auf sein Geständnis als auf die Veröffentlichung 
des Geständnisses ankam. Nur sie konnte eine Clique 
retten, die in seinem Fall besonders karrierelüstern und 
reklamesüchtig vorgegangen war. 

Was mir dieser Brief des ehemaligen Oberleutnants des 
ehemaligen Namens Adolf Hofrichter Neues enthüllte, war 
sein Charakter. Wie er stolz darauf ist, als Offizier den 
Militärbeamten übergeordnet zu sein, wie er betont, daß 
ihm. als Oberleutnant sogar die Superiorität über Stabs¬ 
auditoren zustand, wie er den Ultratschechen dem Urdeut- 
schen entgegensetzt, wie er sich brüstet, nur aus Furcht vor 
ihm sei Kunz geflüchtet, das gefiel mir nicht. 

Großmannssucht und chauvinistische Herrenmoral atmen 
aus dieser Sprache, die der Sprache Adolf Hitlers gleicht. 
Deshalb habe ich ihm nicht geantwortet. Gott verzeih mir, 
wenn ich ihm unrecht tat, aber ich wollte auch mit diesem 
Adolf H. nichts zu tun haben. 



TÖTET DER BUCHSTABE? 


Die Landschaft von Smichow (zu deutsch: Lachende Au) 
war im Zeitalter des Rokokos das Rokoko an sich. Hier 
besaßen die Herren des böhmischen Adels ihre Lustschlös¬ 
ser und Lustgärten, und wer eine besonders privilegierte 
Freundin innehatte, ließ ihr in nächster Nachbarschaft ein 
eigenes Tuskulum erbauen, wie zum Beispiel der Graf 
Clam für die Sängerin Duschek. Diese wiederum hatte 
einen Freund, der Wolfgang Amadeus Mozart hieß und 
im lauschigen Garten der Madame Duschek mancherlei 
Andantes und Allegros komponierte. So schuf er hier die 
Ouvertüre zum „Don Giovanni", denn dieser Garten 
„Bertramka" war der adäquate Platz zum Musizieren über 
Wollust und Tod. 

Jeglicher der Herren in diesem Bezirk war mehr oder 
minder ein Don Juan, den eine Donna Elvira liebte und 
dem eine Donna Anna Rache spann, und an Smichower 
Zerlinchen gab's genug, die sich die Werbung der feinen 
Herren gerne gefallen ließen. Vom Hügel des Gartens 
blickte der Kompositeur auf den Friedhof „Malvazinka' 
hinunter. Der war zwar ein verspielter Rokokofriedhof, 
aber nichtsdestoweniger ein Friedhof. Sicherlich galt eines 
der Grabmonumente dem Komtur, der vom Verführer sei¬ 
ner Tochter erstochen ward und nun darauf sinnt, im stei¬ 
nernen Gewand beim Gastmahl des Mörders zu erschei¬ 
nen ... 

Bereits in der ersten Halbzeit des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts schwand der galante Charakter der Gegend, und 
wenn nun jemand das Wort Smichow mit „Lachende Au' 
übersetzte, so geschah es im Witz. Die Lust in den Lust¬ 
schlössern hatte aufgehört, denn ein ununterbrochenes 
Dröhnen drang heran, das drohender war als der nahende 
Schritt eines steinernen Gastes. Es war der Schritt einer 
neuen Zeit. 

Selbst ein Mozart hätte hier nicht mehr reine Engels- 


198 



töne aus dem himmelblauen Himmel auf sein Notenpapier 
übertragen können. Bliesen doch Fabrikschlote dichte 
Rauchschwaden in diesen Himmel, und schrille Sirenen 
zerrissen die Harmonie der Sphären. Die Lachende Au 
war zu einem Industriedistrikt geworden. Kurz nach den 
großen Weberaufständen von Lyon und Schlesien, die sich 
gegen die Bedingungen der Heimarbeit richteten, brach 
in Smichow wegen der Aufstellung eines Kattundruck¬ 
automaten der erste Fabrikarbeiterstreik auf dem europäi¬ 
schen Kontinent aus. Diese Entwicklung setzte sich weiter 
fort, Smichow wurde und blieb ein radikaler Wahlbezirk, 
und deshalb wurden hart an den Mietskasernen große 
Militärkasernen aufgeführt, darunter auch die, in der ich 
meiner Dienstpflicht samt Arreststrafen Genüge getan 
hatte. Auf dem Grundstück dreier Adelsparks erhob sich 
eine Waggonfabrik, auf anderen Brauhäuser, Metall¬ 
waren- und Textilfabriken. Das Clamsche Grafenschloß war 
zu einem Tanzlokal umgewandelt, wobei allerdings die 
Bosketts im Garten ihren alten Zweck erfüllten. Nur das 
durch Mozart geheiligte Tuskulum „Bertramka" sowie der 
mystische Rokokofriedhof „Malvazinka" blieben unver¬ 
ändert bestehen und hatten sogar einen Gärtner. Mit einer 
seiner Töchter war ich befreundet. 

Sie war Verkäuferin in einem Smichower Kurzwaren¬ 
laden, vor dem ich oft bei Geschäftsschluß wartete, um sie 
bis zum Tor der „Bertramka" zu begleiten oder, wenn der 
Abend zu dunkel war, durch den Mozartgarten und seine 
lauschigen Büsche auf weichem Rasen bis zum Gärtner¬ 
haus. 

Meine Freundin war ein bescheidenes Mädchen. Kehr¬ 
ten wir irgendwo ein, wollte sie sich nie den Kaffee be¬ 
zahlen lassen, und es gab Kämpfe, bevor sie ein Geschenk 
annahm. Demnach mußte ein ernsthafter Grund vorliegen, 
als sie eines Morgens aufgeregt zu mir kam und hun¬ 
dert Kronen erbat. Ein paar Tage später klärte sie mich 
auf, wozu sie das Geld gebraucht: für eine Fahrkarte 
nach Frankreich, damit ihr Bruder zur Fremdenlegion 
könne. 

„Zur Fremdenlegion? Dazu hast du ihm noch ver- 
holfen?" 


199 



Ach Gott, mit dem Rudolf sei's schlimm gewesen, und 
noch Schlimmeres war zu befürchten. Er war unter den 
Einfluß eines gewissen Litera geraten, eines ehemaligen 
Sportkollegen, und ihm sklavisch ergeben. Jede Nacht 
durchbummelten sie. Ob sie mit Mädchen ausgingen, die 
sie im Sommertheater „Arena" aufgabelten, ob sie sich 
beim „König Ottokar" betranken oder ob sie in den Flö¬ 
ßerkneipen am Holzhafen Karten spielten - nie kamen 
sie vor Morgengrauen nach Hause. 

Meine Freundin hatte sich schon seit langem Sorgen 
darüber gemacht, wo die beiden das Geld hernahmen, 
aber erst in den letzten Tagen, als Rudolf ganz verstört 
umherging, gelang es ihr, ihm eine Beichte abzupressen. 
Er habe mit seinem Freund eine Reihe von kleinen Dieb¬ 
stählen verübt, und jetzt bereite dieser Litera eine „nasse 
Sache" vor, das bedeute wahrscheinlich etwas, wobei Blut 
fließen könne. Dazu aber fehlte Rudolf der Mut, und noch 
mehr der Mut, dem Litera abzusagen. Aus Angst, es 
könnte mit ihrem Bruder etwas Gräßliches geschehen, 
hatte sie ihm geholfen, ins Ausland zu gehen. Nun war 
Rudolf bei der Fremdenlegion angekommen und schrieb 
bereits aus Algier. 

Seitdem mir meine Freundin das anvertraut hatte, wa¬ 
ren einige Wochen vergangen, als in Smichow eine Mord¬ 
tat verübt wurde. Pünktlich um halb ein Uhr nachts hatte 
der Inhaber des Restaurants „Zum König Ottokar" wie 
allnächtlich hinter seinen Angestellten das Tor von innen 
versperren wollen. Am Morgen fand man ihn mit ein¬ 
geschlagener Schädeldecke neben der geleerten Handkasse 
im Hausflur. Also ein Raubmord. 

Dennoch erhob sich sogleich die Behauptung, die räube¬ 
rische Absicht sei nur vorgetäuscht, in Wirklichkeit handle 
es sich um ein politisches Attentat. Anzeichen dafür lagen 
in der Atmosphäre. Die Sozialdemokratie hatte, nachdem 
sie das allgemeine Wahlrecht erkämpft, bei den ersten 
Wahlen auf Kosten aller Parteien einen überlegenen Sieg 
erfochten. Eine „Allparteiliche Zentralstelle zur Bekämp¬ 
fung der Internationalen Sozialdemokratie" rüstete zur 
Abwehr; sie warnte vor dem drohenden Zukunftsstaat, 
der die sparsamen Bürger zwingen würde, ihr Vermögen 


200 



mit jedem Hungerleider zu teilen. Informationsmaterial 
über die Verbrechen der Sozialdemokratie ging den Re¬ 
daktionen zu, um dort in Artikel umgemünzt zu werden. 
In ganz Österreich wurden nationale Arbeiterparteien und 
nationale Gewerkschaften gegründet, und insbesondere die 
slawischen hatten starken Zulauf, da die Wiener Führer 
der Österreichischen Sozialdemokratie deutsch, orientiert 
waren. / 

Eine Zeitlang war der Vorsitzende der Nationalen Kell¬ 
nergewerkschaft Böhmens der Mann gewesen, der nach¬ 
her das Restaurant „Zum König Ottokar" erwarb und dar¬ 
aufhin Leiter der nationalen Sozialisten von Smichow 
wurde. Als solcher stand er in erbittertem Kampf mit den 
Sozialdemokraten, und noch am Morgen, an dem man ihn 
im Hof seines'Hauses ermordet auffand, war in der so¬ 
zialdemokratischen Presse ein heftiger Angriff gegen ihn 
erschienen. 

Neben der Auffassung, daß ein politischer Mord vor¬ 
liege, gab es eine, die einen Akt persönlicher Rache an¬ 
nahm. Der Wirt vom „König .Ottokar" hatte eben seine 
Ehescheidung angestrengt, um eine andere Frau zu hei¬ 
raten, die wiederum von einem Verehrer mit Eifersuchts¬ 
szenen und Todesdrohungen verfolgt wurde. 

Die Polizei verhörte Stammgäste und Personal und 
Nachbarn des „König Ottokar", verhaftete in großem Ma߬ 
stab und fand keinen Anhaltspunkt. 

Im Sicherheitsbüro unterhielt ich mich mit dem Detek- 
tivinspektor Binder, der mich seit der Wasinski-Affäre für 
ein unfehlbares Orakel ansah. „Was halten Sie von dem 
Fall?" fragte er, und ich antwortete; „In Smichow glauben 
die Leute, daß es ein gewisser Litera war." 

„Wer ist Litera?" fragte Inspektor Binder. 

„Ich kenn ihn nicht." - '•■■■■ 

„Aber Sie wissen doch etwas über ihn." J- 

„Gar nichts weiß ich über ihn." 

„Und warum glauben die Leute in Smichow, daß er es 
war?" 

„Das weiß ich nicht." 

Ich wußte wirklich nicht, warum die Leute in Smichow 
das glauben sollten. Den Namen hatte ich . mir gemerkt. 


201 



weil es ein merkwürdiger Name war; „Litera" ist das 
tschechische und lateinische Wort für „Buchstabe". 

„Ihren Litera hab ich mir geholt", kam abends der De¬ 
tektivinspektor Binder auf mich zu. 

„Meinen Litera?" sagte ich erschrocken, „wieso denn 
meinen Litera?" 

„Sie haben mich doch auf ihn aufmerksam gemacht." 

„Ich habe Sie auf gar nichts aufmerksam gemacht", sagte 
ich, „ich habe nur im Gespräch erwähnt, was man in Smi- 
chow glaubt." 

„Ja, genau so habe ich es auch dem Herrn Polizeirat 
referiert. Ich soll Sie fragen, wer Ihnen den Namen ge¬ 
nannt hat." 

Ich murmelte etwas von Frauen, die ich in der Straßen¬ 
bahn über den Mord sprechen gehört. „Mir ist nicht im 
Traum eingefallen, den Mann zu beschuldigen", fügte ich 
hinzu. 

„Nun, nun", beruhigte mich Inspektor Binder, „morgen 
werden wir ihn sowieso entlassen. Diesmal waren Sie kein 
Prophet. Der Litera ist ein harmloser Tunichtgut, ich hab 
auch kein Geld bei ihm gefunden. Außerdem stimmt sein 
Alibi: Er hat in einem Gasthaus am Holzhafen Karten 
gespielt und ist bis zur Sperrstunde dort geblieben. Im 
,König Ottokar' hat er nie verkehrt, den Wirt überhaupt 
nicht gekannt." 

„Im ,König Ottokar' hat er verkehrt", sagte ich. 

Binder sah mich groß an. „Wieso wissen Sie das? Sie 
haben mir doch gesagt, daß Sie den Litera nicht kennen, 
gar nichts über ihn wissen!" 

„Ich wiederhole Ihnen, daß er bestimmt im ,König Otto¬ 
kar' verkehrt hat." 

„Hm, hm, sehr merkwürdig. Dann werde ich ihn also 
mit den Kellnern konfrontieren. 

In der Tat erkannten ihn die Angestellten, wußten so¬ 
gar seinen Namen. Dagegen stimmte es, daß er in der 
Mordnacht in dem Flößergasthaus Karten gespielt hatte. 
Knapp vor halb eins war er hinausgegangen, seine Not¬ 
durft zu verrichten, und etwa zehn Minuten draußen ge¬ 
blieben. Das bezeugten seine Mitspieler, die auf ihn ge¬ 
wartet hatten, sowie der Wirt, der das Lokal schloß, nach- 


202 



dem Litera wieder hereingekommen war und seine Zeche 
beglichen hatte. 

Innerhalb von zehn oder sagen wir fünfzehn Minuten 
hätte Litera, wenn er der Mörder wäre, folgendes ausfüh¬ 
ren müssen: das Mordinstrument von irgendwo holen, die 
neunhundert Schritte zum „König Ottokar" zurücklegen, 
auf das Opfer lauern, den Mord begehen, Beil und Beute 
an sicherer Stelle verbergen, sich der Blutspritzer entledi¬ 
gen (mit welchen er bei einem Axthieb rechnen mußte) 
und den Rückweg machen. Länger hätte er aber nicht weg¬ 
bleiben dürfen, ohne sein Alibi zu zerstören, ohne den 
Verdacht seiner Zech- und Spielkumpane wachzurufen. 

Nein, Litera war nicht der Mörder, darüber war die 
Presse sich einig. Nur mir wollte es nicht aus dem Kopf, 
daß er, den ich fast zufällig nannte, seine Bekanntschaft 
mit dem Tatort und dem Wirt geleugnet, sich in der Nähe 
der Mordstätte aufgehalten und um die kritische Stunde 
vom Kartenspiel entfernt hatte. Ich stellte meine Berichte 
auf die Täterschaft Literas ein. 

Die anderen Blätter schrieben, der wahre Täter sei ganz 
woanders zu suchen; dort, wo die Polizei ihn nicht suchen 
wolle, nämlich im Parteihaus der Sozialdemokratie. Es 
handle sich um planmäßige politische Mordtaten, befohlen 
vom Triumvirat der sozialdemokratischen Internationale, 
Viktor Adler, August Bebel und Jean Jaures. Nicht genug, 
daß die Polizei gegen die Roten untätig bleibe, verhafte 
sie einen Unbeteiligten, um die Spuren der wahren Täter 
und ihrer ausländischen Hintermänner zu verwischen. 
Selbstverständlich verteidige die deutsche Zeitung „Bohe- 
mia" die Ermordung tschechischer Nationalisten und helfe 
den Behörden bei den Ablenkungsmanövern, indem sie 
faule Beweisgründe für die Schuld eines Unschuldigen zu¬ 
sammentrage. 

„Ich möchte nicht", sagte der Chefredakteur stirnrun¬ 
zelnd zu mir, „daß wir in den Verdacht kommen, die So¬ 
zialdemokraten zu decken." 

Ein Reporter kann auf solchen Vorwurf nur mit dem 
Hinweis auf seine Recherchen erwidern. „Und wenn nun", 
wandte ich ein, „Litera wirklich der Mörder wäre?" 

„Und wenn nun", äffte er mich nach, „und wenn nun Li- 


203 



tera wirklich der Mörder wäre, so müssen wir deshalb 
noch lange nicht den Roten helfen. Wir sind ein unpar¬ 
teiisches Informationsorgan, aber ein politisches." 

Er gab mir zwei Broschüren, herausgegeben von der 
„Allparteilichen Zentralstelle zur Bekämpfung der Inter¬ 
nationalen Sozialdemokratie". Ich nahm die Büchlein als 
gute Prise für meine kriminalistische Bibliothek. Was darin 
stand, wußte ich, denn seit dem Smichower Mord brachten 
alle Zeitungen Reminiszenzen an den Überfall auf den Fa¬ 
brikanten Merstallinger und den Bankier Eisert, an die 
Brandlegung auf den Nußdorfer Holzplätzen und an die 
Ermordung der Polizeibeamten Hlubek und Blöch, verübt 
von den Anarchisten Kämmerer und Stellmacher. Die Fälle 
lagen schon mehr als zwanzig Jahre zurück, sie waren in 
Wien geschehen, als die Behörden eine wahre Ausrottungs¬ 
kampagne gegen die beginnende Arbeiterbewegung' führ¬ 
ten, worauf einige verwirrte Elemente mit Terrorakten ant¬ 
worteten. Mit dem Smichower Mord hatte das nichts zu tun. 

Am nächsten Tag sagte mir der Chefredakteur, er wün¬ 
sche wirklich nicht, daß wir in den Verdacht kämen, das 
sozialistische Gesindel zu decken. Dabei runzelte er die 
Stirn mehr als gestern, denn das Ausland zitierte in den 
Berichten über die „sozialistische Mordtat in Prag" aus¬ 
schließlich unsere Konkurrenzblätter. 

Am übernächsten Tag wiederholte er mir, er wollte 
unter keinen Umständen im Verdacht bleiben, die roten 
Mordkumpane zu verteidigen. Er habe mir das schon drei¬ 
mal gesagt und und werde es mir nicht ein viertes Mal 
sagen. Überall werden über den Sozimord Leitartikel 
geschrieben, nur er könne sich meinetwegen nicht rühren. 
„Ich wage mich gar nicht mehr ins Deutsche Kasino", sagte 
er, „man behandelt mich dort wie einen Helfershelfer der 
Sozis." Dabei legte er seine Stirn in noch tiefere Falten 
als gestern, geschweige denn vorgestern. 

Das sozialdemokratische „Volksrecht" führte eine ver¬ 
zweifelte Kampagne, um die Partei vom Vorwurf des Meu¬ 
chelmords'zu reinigen, und stützte sich dabei auf meine 
Berichte. Das wieder wurde von der nationalistischen 
Presse als Beweis für die Zusammenarbeit zwischen So¬ 
zialdemokraten und deutschen Bürgerlichen gewertet. 


204 



Die Worte meines stirnrunzelnden Chefredakteurs wa¬ 
ren mißbilligende Worte, ein sich steigernder Tadel, aber 
als ausdrücklichen Befehl faßte ich sie nicht auf. Da wurde 
die Mutter Literas dafür gewonnen, gegen die „Bohemia" 
eine Verleumdungsklage einzubringen; ein angesehener 
Anwalt übernahm ihre Rechtsvertretung, und der Prozeß 
konnte uns teuer zu stehen kommen. 

Der Chefredakteur runzelte nicht mehr die Stirn und 
wünschte nichts mehr. Er sagte nur; „Wir sprechen uns am 
Ersten." Das war die Kündigungsformel, am Monats ersten 
wurden die Entlassungen ausgesprochen. 

„Über den Smichower Mord verbiete ich Ihnen auch nur 
eine Zeile zu schreiben", fügte der Chefredakteur hinzu. 
„Wenn Sie etwas Wichtiges in der Sache erfahren, so mel¬ 
den Sie es einem anderen Kollegen, und er soll es behan¬ 
deln." 

Ich sollte meine Berichte von einem anderen schreiben 
lassen, wie ein zufälliger Melder von der Straße! Das 
war noch beleidigender als die Entlassung. 

Dieses Mal waren beide Nachrichtenbörsen konform in 
ihrer Auffassung: politischer Mord. Ich war der einzige, 
der aus der Reihe tanzte. Am Abend des Tages, an dem 
mir der Chefredakteur die Entlassung verkündet und das 
Schreibe verbot auf erlegt hatte, eröffnete mir Papa Vejvara: 
„Wir haben Ihren-Ausschluß aus der Börse beschlossen, 
und zwar bedingt Wenn Sie den Litera noch mit einem 
Wort beschuldigen, dürfen Sie morgen hier, nicht mehr 
erscheinen." 

Die anderen Reporter hatten die Bleistifte hingelegt, 
zum Zeichen, daß die Erklärung Papa Vejvaras offiziell 
war. Nach einer Pause wandte sich der fromme Herr Adal¬ 
bert Betzek an mich: „Jawohl, es steht geschrieben; Der 
Buchstabe tötet. Aber er tötet Siel" Und er warnte mich 
mit dem Bibelspruch: „Wir sollen dienen im neuen Zeichen 
des Geistes und nicht im alten Wesen des Buchstaben!" 

Kollege Wenzel Vilde, wie immer in den Tagen eines 
Mordfalls bis zur Unkenntlichkeit verjüngt, sagte mir: 
„Wenn Sie beim Reporterberuf bleiben sollten, so merken 
Sie sich, daß es nichts Schlimmeres gibt, als sich in eine 
fixe Idee zu verbeißen. Sie haben sich verrannt. Sehen Sie, 


205 



ich bin heute nachts um halb eins den Weg vom Flößer¬ 
gasthaus zum ,König Ottokar' in schnellem Schritt abge¬ 
gangen. Wissen Sie, wie lange ich gebraucht habe? Acht 
Minuten, ohne Rückweg." 

«Aber Litera ist ein Sportler, ein Schnelläufer", wider¬ 
sprach ich. 

Kollege Wenzel Vilde lächelte überlegen. „Deshalb bin 
ich ja nachts hingegangen, um zu sehen, ob jemand, ohne 
aufzufallen, um diese Zeit dort rennen kann wie ein... 
wie ein ..." 

„... Ammoniakläufer", half ihm Oberleutnant Bacula 
aus, der an Amokläufer dachte. 

«In der Mozartgasse sind drei Gasthäuser", fuhr Kol¬ 
lege Wenzel Vilde fort, „die um halb eins schließen; min¬ 
destens zwanzig Menschen sah ich aus diesen Lokalen 
herauskommen. Vor dem Hotel ,Don Juan' standen vier 
Liebespaare. Außerdem traf ich zwölf Passanten. Glauben 
Sie, daß da jemand unbeobachtet rennen kann wie ein.. 

„... wie ein Ammoniakläufer", beendete Oberleutnant 
Bacula die Beweisführung des Kollegen Wenzel Vilde. 

Ehe ich antworten konnte, trat ein Smichower Bürgers¬ 
mann ein. Seine Freunde hätten ihn bewogen, hierherzu¬ 
kommen; er sei nämlich Stammgast im „König Ottokar" 
und habe einige sensationelle Beobachtungen zu melden. 
Diese sensationellen Beobachtungen bestanden darin, daß 
vor einigen Tagen drei Männer mit breitkrempigen Hüten 
und provokatorischen Krawatten einander in der Gaststube 
„Zum König Ottokar" rot eingebundene Broschüren ge¬ 
zeigt hätten. Selbige Broschüren aber seien ausländische, 
jawohl, ausländische Broschüren gewesen! Wiederholt hät¬ 
ten die drei den Wirt so eigentümlich gemustert, daß es 
ihm, dem Smichower Bürgersmann, sehr aufgefallen sei, 
aber sehr! 

Nachdem er gegangen war, verarbeiteten alle Kollegen 
seine Wahrnehmungen. Nur ich saß mit verschränkten 
Armen da - mir war ja das Schreiben von Chefredakteurs 
wegen untersagt. 

„Warum schreiben Sie das nicht?" schrie Papa Vejvara, 
„was Ihnen nicht in Ihre Verleumdungskampagne paßt, 
schweigen Sie einfach tot." 


206 



Der rauhe Ritter Wuk von Rosenberg hatte mich knapp 
vorher erfolgreich um einen Barbetrag von drei Glas 
Weichselschnaps angepumpt, wohl um mir zu zeigen, daß 
ich durch die Maßregelung seine persönliche Wertschät¬ 
zung nicht eingebüßt habe. Nun fiel er mir in den Rücken. 
„Diese sozialistischen Hungerleider sollte man alle an den 
Kugeln aufhängen und Sie daneben." 

Zu diesem harten Strafausmaß gab der fromme Herr 
Adalbert Betzek kopfnickend sein Plazet und ergänzte es 
mit einem Bibelspruch: „Und wird also dasjenige, als wel¬ 
ches von Natur eine Vorhaut ist, dich richten, der du unter 
dem Buchstaben und der Beschneidung bist." 

Ja, so schien es. Ich war sub literae, der Teufel soll den 
Buchstaben holen! Als ich das Börsenzimmer verließ, er¬ 
widerten alle meinen Gruß, was sonst nicht üblich war. 
Es war ein Abschied. 

Ich ging nach Smichow, um meine Freundin abzuholen, 
auf andere Gedanken zu kommen, weg vom Mord. Aber 
die Gedanken waren nicht wegzubringen, und ich ging 
nicht zu meiner Freundin. Es zog mich hin zum Mord. 

Was wollte ich an der Mordstätte? Zu recherchieren gab 
es nichts, und wenn es etwas zu recherchieren gäbe - für 
wen sollte ich's tun? Alles hätte ich für möglich gehalten, 
nur meine Entlassung nicht. Als ich in die Redaktion ein¬ 
trat, war die „Bohemia" ein Moniteur des Prager Deut¬ 
schen Kasinos und des Deutschen Volksrats für Böhmen 
gewesen, abonniert aus achtzigjähriger Tradition, eine Fa¬ 
miliengruft. Seither waren einige Faktota der Redaktion 
infolge Altersschwäche oder Tod ausgeschieden, der ver¬ 
bohrte Doktor Dykschy hatte mit dem Berliner Schrift¬ 
steller Paul Wiegier den Platz getauscht, der unser Blatt 
modernisierte. Ein junger Jurist hatte eine Handels- und 
Industrie-Rubrik geschaffen, die Massen neuer Leser 
brachte und Inserate. Die „Bohemia" war die führende Zei¬ 
tung Böhmens geworden, und - ich muß es wohl oder 
übel aussprechen - ich hatte diese Entwicklung eingeleitet, 
und aller Lesestoff, soweit er nicht aus ausländischen Zei¬ 
tungen ausgeschnitten war, stammte von mir. 

Und wie war es auf der Börse? Ich hatte den großen 
Melzer ersetzt, meinen Kollegen viele Tausende von be- 


207 



zahlten Zeilen verschafft und Siege über den Erbfeind 
von Chodiera. 

Nun schmiß man mich' heraus, mir nichts, dir ^nichts. 
Weil ich in einem Kriminalfall eine falsche Fährte' ver¬ 
folgte. Nach jeder Mordtat werden, ehe sie aufgeklärt ist, 
unzählige Leute verhaftet, und über jeden Verhafteten 
trägt die Presse so viel Belastungsmaterial zusammen, wie 
sie erfährt. Das hat noch nie zur Entlassung eines Repor¬ 
ters oder zu seinem Ausschluß von der Nachrichtenbörse 
geführt. 

Gut, mag der Mord im „König Ottokar" ein politischer 
Mord sein. War ich deshalb verpflichtet,, für die natio? 
nalen'Sozialisten gegen die internationalen zu schreiben? 
Hätte ich eine Partei der Täterschaft beschuldigt, so. wäre 
das allenfalls ein Grund, mich zu maßregeln. Keinesfalls 
ist es ein Grund, wenn ich - sei es . auch zu Unrecht - 
an einen Raubmord glaubte. ■ ■; . 

Mit solchen Gedanken sah ich mich vor dem Restau¬ 
rant „Zum König Ottokar" stehen, dessen Tor seit der 
Bluttat geschlossen war. Die Idee des Kollegen Wenzel 
Vilde, den Weg vom Flößerwirtshaus bis hierher abzu¬ 
gehen, war ein guter Reportereinfall. Ich werde ihn ko¬ 
pieren, obgleich ich auch darüber nicht schreiben: darf. 

Ich ging, die Schritte zählend. Neunhundert. Zweimal 
neunhundert Schritte konnte ein Sportler wie Litera in we¬ 
niger als sechs Minuten zurücklegen,' so daß ihm> falls er 
wirklich nur zehn Minuten von der Kartenpartie wegge¬ 
blieben war, noch vier Minuten zum Auf lauern im, Flur, 
zum Zuschlägen und Rauben zur Verfügung standen. Aber 
das Mordwerkzeug? 

Unwahrscheinlich, daß ein Assistent auf Litera gewartet 
hat, um ihm die Requisiten vor der Tat zu überreichen und 
nach .'der Tat wieder in Empfang zu nehmen. Wer: wird 
sich einer Handreichung wegen einen Mitwisser nehmen, 
der schon durch sein Warten Aufmerksamkeit auf sich 
lenken : könnte, wer wird ihm geraubtes, noch nicht ge¬ 
zähltes Geld anvertrauen? Zwar wußte ich, daß Litera ur¬ 
sprünglich an einen Komplicen für die „nässe .Sache" ge¬ 
dacht hatte, an den Bruder, meiner Freundin, der ihm 
hörig gewesen; aber dieser Sklave diente jetzt in Afrika, 


208 



und einen neuen Freund besaß Litera nicht, wie die Polizei 
auf der Suche nach Komplicen festgestellt hatte. 

Kollege Wenzel Vilde hat recht, die Gegend ist zu be¬ 
lebt. Bis zur Mozartgasse könnte einer rennen, ohne Auf¬ 
sehen zu erregen, denn am Holzhafen ist nachts kein 
Verkehr. Um so mehr Verkehr aber ist in der Mozart¬ 
gasse. 

Möglicherweise ist Litera aus diesem Grunde nicht durch 
die Mozartgasse gelaufen, obwohl sie die direkte Verbin¬ 
dungslinie ist, sondern durch die nächste Parallelstraße. 
Diese, die Lorenzo-da-Ponte-Gasse, wäre allerdings ein 
Umweg, denn sie liegt - ich zähle - dreihundert Schritte 
südlich. Zweimal dreihundert Schritte läuft man in zwei 
Minuten. So wäre Litera noch immer genug Zeit zur Tat 
geblieben. Das kann ich dem Kollegen Wenzel Vilde er¬ 
zählen, falls ich ihn noch einmal Wiedersehen sollte. Selbst 
werde ich kaum mehr etwas schreiben, am allerwenigsten 
über diesen Fall. 

Aber die Idee des Umwegs ließ mich nicht los. Ich fand, 
daß die nächste Parallelstraße zur Mozartgasse und Lo¬ 
renzo-da-Ponte-Gasse nicht parallel verlief, sie divergierte 
mit ihnen. Außerdem verlängerte sie sich dadurch, daß sie 
einen Bogen machte. Ihr Name erinnerte weder an den 
Komponisten noch an den Librettisten des „Don Giovanni", 
ganz unmusikalisch hieß sie Kohlengasse. Dementspre¬ 
chend bestand sie aus verrußten Häusern, war eng und 
spärlich beleuchtet. Ich maß ihre Schrittlänge nicht mehr, 
für einen Spielraum von zehn Minuten kam diese unregel¬ 
mäßig gebogene, abseits gelegene Straße nicht in Frage. 

Andererseits konnte sie sich aber über ein Zuviel an 
Verkehr nicht beklagen. Obwohl es erst früh am Abend 
war, traf ich keine menschliche Seele. 

Zwischen zwei Häusern bemerkte ich einen Bauplatz, 
dicht verschalt. Die Bretterwand war über zwei Meter 
hoch. Könnte sich hier jemand hinüber schwingen? Dazu 
sind die Latten wohl zu dünn. Sie würden wahrscheinlich 
zusammenbrechen. Ich taste die Wand ab. Ob sie mich 
tragen würde, wenn ich mich emporziehe? Eine Planke 
bewegt sich, sie ist nur oben befestigt, sie schaukelt. Ich 
drücke sie nach hinten, mein Atem setzt aus. 


14 Kisch vn 


209 



Innen, gleich neben der Luke, liegt ein dunkles Bündel, 
darunter schaut etwas wie ein Stock hervor. 

Ich telefoniere dem Detektivinspektor Binder und brau« 
che nicht lange zu warten, bevor er mit zweien seiner 
Leute ankommt. Was sie hinter der Bretterwand aufheben, 
ist ein Mantel, unter ihm liegt ein Handtuch, ein Taschen¬ 
tuch und eine Axt. Dem Mantel ist ein Sack als Kapuze 
angenäht und unten am Saum ein zweiter Sack, der bis zur 
Erde reicht, alles über und über mit Blut bedeckt. Die Ta¬ 
schen sind gefüllt mit Geldscheinen, Kupfer- und Nickel¬ 
münzen, Speise- und Biermarken. 

Eine halbe Stunde später wird Litera aus seiner Zelle 
in das Zimmer des Polizeirats geführt. „So spät am Abend 
wollen Sie mich entlassen?" sagt er lachend beim Eintre¬ 
ten. „Mein Hausbesorger wird in Ohnmacht fallen, wenn 
er den Raubmörder jetzt heimkommen sieht." 

Da aber der Polizeirat auf den Mantel zeigt, weicht aus 
Litera alle Gesichtsfarbe, seine Unterlippe schiebt sich 
hoch, und er fängt zu wanken an, so daß ihn Inspektor 
Binder stützen muß. 

„Probieren Sie mal den Mantel da", sagt der Polizeirat. 

„Nicht nötig", sagt Litera heiser, „es ist mein Winter¬ 
rock." 

Mit der Nachricht vom Geständnis Literas eile ich in 
die Redaktion. Ich denke nicht an meinen morgigen Sie¬ 
gesbericht, dessen Titel mit den Worten beginnen wird: 
„Unser Berichterstatter entdeckt..Ich denke nur daran, 
wie sich der Chefredakteur beschämt bei mir entschuldigen 
wird. 

Nichts dergleichen geschieht. Der Chefredakteur sieht 
kaum vom Schreibtisch auf, als ich ihm von meiner Ent¬ 
deckung und von Literas Geständnis Mitteilung mache. 
Er ordnet nur an: „Schreiben Sie in der Einleitung, wir 
haben als die einzigen die Wahrheit zu sagen gewagt, den 
Anwürfen zum Trotz, daß wir mit den roten Banditen im 
Bunde stehen." 



DIE ZUSAMMENGEWACHSENEN 
SCHWESTERN 


Sehr merkwürdig erging es mir mit Rosa Blazek, der 
älteren der zusammengewachsenen Schwestern, sofern man 
bei zusammengewachsenen Schwestern von einer älteren 
sprechen kann. Rosa und Josefa Blazek stammten aus 
Skrejchov bei Mnichovice, einem Nest bei einem Nest, und 
wurden schon im Säuglingsalter auf Jahrmärkten gezeigt, 
wie sie zu zweit auf einem einzigen Nachttöpfchen saßen. 

Aus den böhmischen Dörfern kamen sie direkt nach 
New York, und von dort zerrte man sich als Schauobjekt 
und Ausbeutungsobjekt durch die Welt. Überall wurden 
für die „siamesischen Zwillinge aus Böhmen" wahre Wirbel 
auf der Reklametrommel geschlagen, unter anderem erhob 
ein Zirkusbesitzer Klage gegen die Eisenbahnverwaltung, 
weil „von Fräulein Rosa-Josefa Blazek" die Bezahlung 
zweier Fahrkarten gefordert wurde. 

In der Tat benutzte das Paar nur eine Sitzgelegenheit. 
Bisher waren die meisten zusammengewachsenen Zwil¬ 
linge sogenannte Ischiopagen gewesen, das heißt neben¬ 
einanderstehende Wesen. Rosa und Josefa hingegen waren 
ein Pygopage, ihre Rümpfe standen in einem Winkel zu¬ 
einander. 

Intimere Details verbreitete eine Schrift, verfaßt von 
zwei Dozenten der Psychiatrischen und Nervenklinik an 
der Königlichen Charite zu Berlin: „Über das psychische 
und sonstige Verhalten des Pygopagen Rosa-Josefa Bla¬ 
zek". Wie die beiden Lehrer der Seelenforschung einlei¬ 
tend hervorheben, „verdanken wir das Glück, eine so haar¬ 
genaue Schilderung samt graphischer Skizze präsentieren 
zu können, dem Umstand, daß die Mutter des Pygopagen 
schwer erkrankt im Charite-Krankenhaus lag, gerade zu 
der Zeit, als ihr Tochterpaar ein Engagement in Castans 
Panoptikum antrat. So konnten wir sie veranlassen, uns 
ihre Töchter zur Beobachtung und Untersuchung zu über- 


211 



geben, wiewohl sich die Familie sonst gegenüber der Neu¬ 
gier des Publikums und auch wissenschaftlich interessierter 
Kreise sehr zurückhielt." 

Mit dem gedruckten Ergebnis dieser Untersuchung mu߬ 
ten die Mädchen, nachdem sie ihr Duett gesungen und ihr 
Geigenspiel beendet hatten, dem Publikum die „Sensatio¬ 
nelle Beschreibung unseres Körpers" zum Verkauf an¬ 
bieten. 

Im Sommer 1909 kamen die Schwestern auf einem Um¬ 
weg über den ganzen Erdball zum erstenmal nach Prag. 
Auf den Plakaten hießen sie „Ruza" und „Joza", wie in 
ihrer Kindheit. Aber ihre Mutter, für die sie wohl immer 
so geheißen hatten, kehrte nicht mit ihnen in die Heimat 
zurück, die Skrejchover Bäuerin war in Singapore gestor¬ 
ben, und von ihren Töchtern hatte ein italienisch-amerika¬ 
nischer Impresario Besitz ergriffen. 

Beladen mit Broschüren, Sonderdrucken und Zeitungs¬ 
ausschnitten, besuchte er die Redaktionen, um die Re¬ 
klame zu organisieren. Auch mich ersuchte er um den Ab¬ 
druck des Materials, ich aber wollte selbst einen Artikel 
über die Zwillinge schreiben, die den Namen Böhmens in 
die exotischsten Himmelsstriche trugen. Ich schlug dem 
Manager vor, mir Gelegenheit zu geben, die Schwestern 
in ihrem Privatleben zu schildern. „Allright", sagte er smart 
und amerikanisch, „va bene", fügte er temperamentvoll 
und italienisch hinzu, „morgen haben die Girls Geburts¬ 
tag, wir werden ihn abends zusammen feiern. Ist das 
o.k.?" 

. In ihrer Wohnung waren die Zwillinge anfangs recht 
befangen und benahmen sich konzertmäßig, und auch ich 
wußte mich nicht recht in die Situation zu schicken, als 
Geburtstagsgast, als Freund an ihrem Tisch zu sitzen und 
dennoch ein Wildfremder, ein Späher der Öffentlichkeit 
zu sein. Erst nach und nach fielen einige Schranken. Seit 
langem hatten die Mädchen nicht mehr mit einem Dritten 
tschechisch gesprochen, und ich hatte noch nie Whisky ge¬ 
trunken. Whisky schien mir ein harmloses Getränk, der 
Impresario trank ihn pur, die Mädchen zwar mit Soda¬ 
wasser, aber Glas auf Glas, und ich mit ihnen. 

Noch heute, dieweil ich dieses schreibe, liegt ein whisky- 


212 



farbener Schleier über meinem Erinnerungsbild. Dahinter 
schwebt ein vierfüßiges, vierhändiges, zweiköpfiges Fabel¬ 
wesen, halb himmelblau, halb scharlachrot. Die himmel¬ 
blaue Halbfee Rosa hat ein aufwärts gerichtetes Näschen, 
„in das es hineinregnet", wie man hierzulande sagt. In 
ihrem Kinn hat der Finger des Schöpfers ein Grübchen 
hinterlassen, als er auf sie wies; „Die da ist ganz nett." 
Dunkelblond sind ihre Locken. Ihre Pupillen schimmern 
wie das helle Grün eines Dorfweihers. 

„Gibt's einen Teich in Skrejchov?" frage ich. 

Rosa weiß es nicht, so lange war sie nicht mehr daheim; 
ihr Daheim heißt jetzt Unterwegs. Sie ist kein Landmäd¬ 
chen geworden wie die Nachbarkinder, sie tanzt nicht bei 
der Dorfmusik mit den Bauernburschen, sie ist blaß und 
mager wie kaum ein anderes Mädchen im Heimatdorf, 
aber dafür hat sie gelernt, englisch zu sprechen und 
Whisky zu trinken statt Pilsner Bier. Sie rät mir, nicht so¬ 
viel Soda zum Whisky zu nehmen und noch ein Glas zu 
trinken und wieder ein Glas. Wir fangen an zu flüstern, 
Rosa neigt sich zu mir, wobei sie nolens volens den Kopf 
Josefas mit herüberzieht, und ich streichle Rosas Hals - 
spürt es auch Josefa? 

Nein, sie spürt es nicht. „Gemeinsam ist die Sensibilität 
nur im Gebiete . . habe ich gelesen. Seltsam, sich einem 
Mädchen zu nähern, von dem man einen Situationsplan 
mit Grundriß und Aufriß in der Tasche hat. 

Unser Geflüster scheint dem Mister Signor nicht zu ge¬ 
fallen und der Josefa ebensowenig. Der Impresario fürch¬ 
tet wohl, daß Rosa mir, das heißt der Presse, in der ihm 
nicht verständlichen tschechischen Sprache zuviel anver¬ 
trauen könnte. Josefa fürchtet zwar nichts, aber sie ist 
links liegengelassen, und das ärgert sie offensichtlich. Ich 
frage Josefa, warum sie so still ist, ob sie schlechter Laune 
sei. 

„Ach, lassen Sie sie!" sagt Rosa. „Die ist immer so." 

‘Wie? Sind denn Rosa und Josefa nicht auch psychisch 
eine Einheit, sind sie nur ein Leib, nicht auch eine Seele? 

Arme Geschöpfe! Lebenslänglich einander verhaftet, le¬ 
benslänglich abgesondert von anderen, ist keine von beiden 
jemals allein. Das Verdikt „lebenslänglich" ward gefällt 


213 



bei ihrer Geburt und wird dauern bis zu ihrem Tod, mit 
dem es anfängt todeslänglich zu werden. Zusammen wer¬ 
den sie im Grabe liegen oder in der mächtigen Spiritus¬ 
flasche eines anthropologischen Museums. Und am Jüng¬ 
sten Tag müssen sie einen Urteilsspruch entgegennehmen, 
der für beide gilt. Denn wie könnten um die eine Hüfte 
die linden Lüfte des Paradieses wehen, dieweil die andere 
Hüfte im Teufelskessel schmort? 

Aber nicht einmal die Aussicht auf die Unzertrennlich- 
keit im Jenseits hat die Dualität zu einer Indivi-Dualität 
verschmolzen. Meine Verwunderung darüber veranlaßt 
Rosa, die Eigenschaften Josefas zu bekritteln. Josefa repli¬ 
ziert, und im Nu ist ein gehässiger Streit im Gange, der 
tätlich zu werden droht. 

„Habt ihr euch schon einmal geprügelt?" frage ich. 

„Als wir noch klein waren. Aber bald sind wir darauf 
gekommen, daß uns jeder Schlag genauso weh tut, wenn 
wir ihn geben wie wenn wir ihn bekommen/ 

Dem zusammengefleischten Haß ist also selbst dieses 
Ventil genommen, und es bleibt zwischen ihnen nur ein 
ewiges Gequengel. Auch zum heutigen Festtag, der freilich 
an den fluchwürdigsten Tag ihres Lebens, den ihres Gebo¬ 
renwerdens, erinnert, macht der Streit die Begleitmusik. 
Je herzlicher ich mit Rosa werde, desto obstinater wird 
Josefa; bald hat sie an Rosas Frisur, bald an ihrem Be¬ 
nehmen etwas auszusetzen. Obwohl sie dem Whisky nicht 
weniger zuspricht als Rosa, weigert sie sich, mit ihr eine 
neue Flasche vom Fensterbrett zu holen; als Rosa resolut 
aufsteht, um die Flasche zu bringen, läßt Josefa sich wi¬ 
derwillig nachschleppen. 

Unbemerkt geht der Abend von der Farbe des Whiskys 
in die der Morgendämmerung über; da ich mich verab¬ 
schiede, döst der Impresario-Manager im Nebenzimmer 
vor geleerten Whiskyflaschen; an Rosas Seite ist Josefa 
eingeschlummert. 

Am nächsten Tag, als ich den Bericht schrieb, fühlte 
ich mich selbst wie ein Doppelwesen: ein privater Roman¬ 
tiker, zusammengewachsen mit einem beruflichen Realisten. 
Einerseits wollte ich kein indiskreter Gast sein, anderer¬ 
seits war ich ja eingeladen worden, um die Absurdität 


214 



effektvoll und geschäftsbelebend zu schildern. Nun, ich 
entlehnte die Realistik den medizinischen Abhandlungen 
und ließ der Romantik in einer Hymne auf Rosa freien 
Lauf. 

Ein Prager Skandalblatt, „Der Arm mit dem Schwert", 
bediente sich meines Berichts, um unter dem Vorwand 
der Empörung und mit dem Mittel der Vergröberung die 
Geburtstagsfeier in eine Orgie zu verwandeln. Meine Be¬ 
kannten hänselten mich mit Rosa, wollten Details über das 
Fest wissen, und mancher Besucher der Blazekschen Schau¬ 
stellung machte hohe Angebote, um ebenfalls eine Privat¬ 
einladung zu erhalten. 

Erfolgreich hätten die Zwillinge ihr Gastspiel in der 
Heimat verlängern können, jedoch eine Tourneeverpflich¬ 
tung rief sie nach Marokko, Algier, Tunis und Ägypten, 
und erst nach der Rückkehr von dort traten sie wieder 
einen Monat lang in Prag auf. Ich glaubte sie längst ab¬ 
gereist, als ich eines Tages ihren Italoamerikaner in einem 
Laden traf. Er war von der Begegnung offensichtlich un¬ 
angenehm berührt, und auf meine Frage, ob auch die Da¬ 
men noch hier seien, stotterte er, sie fühlten sich ein 
wenig unwohl und seien deshalb vorläufig in Prag geblie¬ 
ben. 

„Ich möchte sie gerne besuchen", sagte ich. 

„No, Sir, das ist unmöglich, sie sind krank, sehr krank, 
a rividerci, good-bye." 

Da stimmte etwas nicht, da lag etwas vor, was er ver¬ 
heimlichen wollte. Selbst eine gewöhnliche Krankheit solch 
ungewöhnlicher Menschen ist keine gewöhnliche Krank¬ 
heit. 

Ich ging in die Wohnung, in der wir den Geburtstag 
gefeiert hatten. Dort saßen neue Mieter, die Schwestern 
Blazek waren mit Monatsende übersiedelt. Wohin? Die 
Hausbesorgerin wußte es nicht. „Ich glaube, sie sind ab¬ 
gereist", sagte sie. „Wohin?" fragte ich wieder. Die Haus¬ 
besorgerin sagte, sie habe keine Ahnung. Erst ein Trink¬ 
geld brachte ihr in Erinnerung, daß der amerikanische 
Herr sie gefragt hatte, von welchem Bahnhof man nach 
Rican fahre. „Vielleicht", sagte sie, „vielleicht sind sie nach 
Rican gefahren." 


215 



„Vielleicht" ist vielleicht das Wort, dachte ich, das das 
Wagnis von der Pflicht unterscheidet, vielleicht sollte das 
Wort „vielleicht" das Losungswort des Reporters sein. Der 
Weg, dachte ich weiter, zu den Begebenheiten, zu denen 
er eingeladen wird, führt zu nichts, der Vielleicht-Weg 
führt vielleicht auch zu nichts, vielleicht aber auch zu et¬ 
was. 

Also nach Rican - vielleicht wird sich die Bahnfahrt 
lohnen, vielleicht sind die Schwestern dort. 

Im Dorf Rican hatte niemand sie gesehen oder von 
ihrem Hiersein gehört. Ich fragte nach dem Krankenhaus, 
es gab keines. Es gab nur ein Entbindungsheim in der 
Villa des Doktor Polifka. 

Vom Gärtner der ersten besten Villa ließ ich mir einen 
Blumenstrauß binden und betrat die Villa Polifka. „Ich 
möchte die Damen Blazek besuchen." 

„Blazek?" Der Pförtner schüttelte erstaunt den Kopf. 
„Wir haben keine Frau Blazek hier." 

Zu meiner und meines Blumenstraußes Entschuldigung 
sagte ich: „Die Schwestern Blazek haben mir doch ge¬ 
schrieben, daß sie ..." 

„Ach so, Sie meinen diese Zusammengewachsenen?" 

„Ja, sind sie nicht hier?" 

„Die sollten vor ein paar Tagen zu uns kommen, aber 
statt dessen gingen sie auf die Klinik Kukula. Es war nur 
eine Appendicitis. Mein Gott, die Weiber, die reden sich 
leicht ein Kind in den Bauch." 

Unverrichteter dinge mußte ich zum Bahnhof zurück. 
Mein Bukett warf ich ärgerlich über einen Gartenzaun. 

Auf ein „vielleicht" hin, noch dazu auf das von einem 
Trinkgeld hervorgerufene „vielleicht", hatte ich eine Eisen¬ 
bahnfahrt gemacht, Blumen gekauft, einen Nachmittag 
vergeudet. 

„Vielleicht" ist vielleicht das Wort, dachte ich, das den 
Erfolg ausschließt, vielleicht sollte das Wort „vielleicht" ein 
Warnungswort für den Reporter sein, vielleicht sollte er 
auf ein „vielleicht" hin niemals eine Recherche unterneh¬ 
men. Der Weg, dachte ich weiter, zu den Begebenheiten, 
zu denen er eingeladen wird, führt vielleicht doch zu etwas, 
der Vielleicht-Weg führt zu nichts. 


216 



Erst in zwei Stunden geht der Zug nach Prag. Rican ist 
kein richtiges Dorf, es ist eine Villensiedlung, keine 
Bauernhäuser gibt es hier, keine Dorfschmiede, keine 
Mühle, keinen Weiher. Nur der Aprilwind, der mich heftig 
anfaucht, mag in Rican wie in Skrejchov der gleiche sein, 
ein starker, feuchter und kühler Wind. Ich schäme mich vor 
ihm und gestehe mir ein, daß ich hier nichts zu suchen 
hatte. 

Gut, daß die Mädchen nicht in der Villa Polifka liegen, 
das wäre ein zu arges Mißgeschick. Eine Blinddarmsache 
ist glücklicherweise nichts Gefährliches und nichts, was 
man geheimhalten müßte. Milder weht der Wind, streichelt 
mich, als wäre er mit mir einverstanden. 

Dann aber sitze ich wieder im Eisenbahnzug, die Fenster 
sind geschlossen, rauchig, stickig ist die Luft im Abteil. 
Haben die Mädchen eigentlich einen gemeinsamen Blind¬ 
darm, oder haben sie zwei? Davon stand nichts in den 
anatomischen Untersuchungen, auch nicht in der psychisch- 
somatologischen. Warum sollten die Schwestern zuerst' in 
ein Entbindungsheim kommen? Warum hat man dem Kol¬ 
legen von der Reporterbörse, der täglich im Allgemeinen 
Krankenhaus die eingelieferten Fälle notiert, verschwiegen, 
daß die Blazeks auf der Klinik liegen? 

„Vielleicht" ist vielleicht schlecht, „vielleicht" ist aber 
vielleicht gut, dachte ich und ging zum Krankenhaus. Ohne 
in der Aufnahmekanzlei nach den Blazeks zu fragen, stieg 
ich geradewegs die Treppe hinauf in die Klinik Kukula. 

Da trat Professor Pitha in einem weißen Mantel und be¬ 
gleitet von zwei Herren in weißen Mänteln aus einer Tür 
am Ende des Korridors. Was macht Professor Pitha hier, 
der Leiter der geburtshilflichen Klinik? Unter normalen 
Umständen hat ein Gynäkologe bei den Chirurgen nichts 
zu tun, am allerwenigsten im Leinenkittel. 

Ich verbarg mich vor den Ärzten und klopfte nach einer 
Weile an die Tür, aus der sie gekommen waren. Drinnen 
krähte ein Sümmchen. Eine mächtige Dame, mehr Weh¬ 
mutter als Krankenschwester, trat heraus, sehr brüsk, sehr 
abweisend. 

Ich sei von der Wiener Gynäkologischen Klinik, sagte 
ich, Herr Professor Pitha habe mich herbestellt. 


217 



Die Wehmutter änderte sofort den Ton. Leider sei Pro¬ 
fessor Pitha eben fortgegangen, in diesem Moment. 

„Macht nichts, es ist nicht so eilig. Wann kommt denn 
Herr Professor Pitha wieder?'' 

„Heute nacht wird die Patientin" - sie verbesserte sich 
lächelnd -, „werden die beiden Patientinnen weggebracht, 
wegen der Zeitungen, Sie verstehen." 

Ich legte alle Verachtung, die ein Wissenschaftler für 
die Presse aufbringen kann, in meine Miene und sagte 
skeptisch: „Diese Kerle schnüffeln ja doch alles heraus." 

„Bis jetzt wissen sie nichts, obwohl schon drei Tage ver¬ 
gangen sind. Und wenn erst die Patientinnen von hier weg 
sind, kann niemand etwas erfahren." 

„Bravo! Und drinnen? Alles in Ordnung?" 

„Alles normal, die Kindesmutter normal und auch der 
Bub normal. Selbst Fräulein Josefa schimpft nicht mehr so¬ 
viel, obwohl sie noch immer Milchbildung hat. Entschul¬ 
digen Sie, ich muß wieder hinein." 

Die Nachricht schwang sich aus unserer Redaktion auf 
den Telegrafendraht, sprang auf die Druckmaschinen und 
drang zu den Lesern in allen Ländern: Ein halbes Doppel¬ 
wesen gebärt ein Kind, die andere Hälfte zeigt sich em¬ 
pört, denn wie kommt sie dazu, gleichfalls das Wochen¬ 
bett zu hüten und Milch in ihrem jungfräulichen Busen zu 
spüren, unschuldig, ohne Mehranlaß! 

War der Fehltritt Rosas wirklich ohne Wissen, ohne 
Einverständnis und ohne Mitgefühl Josefas erfolgt? Hatte 
diese etwa geschlafen? War sie betäubt worden? Wenn 
nicht, warum hatte sie sich nicht entfernt, die moralisch 
gefährdete Schwester mit sich ziehend? 

Amerika kabelte den Prager Zeitungen diese Fragen, 
und für die Antworten gab es Dollarschecks. Ich schrieb 
nichts, ich war der Sache nicht froh. 

Bald aber schwand mein Schuldbewußtsein, denn ich 
wurde Zeuge von Indiskretionen und Konkurrenzmanö¬ 
vern aus dem Professorenkreis, und sie waren um nichts 
geringer als die der Tageszeitungen. 

Hatten seinerzeit jene zwei Berliner Psychiater ihr 
„Glück dem Umstand verdankt, daß die Mutter des Pygo- 
pagen schwer erkrankte", so verdankten nun eine Reihe 


218 



von Gynäkologen ihr Glück dem Umstand, daß eine Toch¬ 
ter der alten Blazek in andere Umstände gekommen war. 
Die Geheimhaltung der Geburt und die Wegschaffung der 
Wöchnerin waren nur deshalb angeordnet worden, weil 
sich einige Professoren die Erstveröffentlichung sichern 
wollten. Jetzt, da das Geheimnis enthüllt war, jagten medi¬ 
zinische Reklamefeitel aus aller Welt heran, um wenig¬ 
stens etwas von der Nachgeburt zu erhaschen. 

Dank seiner machtvollen Beziehungen konnte der Wie¬ 
ner Hofrat Schauta, genannt „Habsburgs Klapper¬ 
storch", von der Entbindung Rosas und der Milchbil¬ 
dung Josefas den Rahm abschöpfen. „Ich bin in der außer¬ 
ordentlich glücklichen Lage", begann er seinen Vortrag, 
zu dem die Tagespresse eingeladen war, „als erster über 
ein Ereignis wissenschaftlich zu referieren, das bis jetzt 
niemals bei einer Doppelmißbildung zur Beobachtung 
kam: die Geburt eines Kindes." Hofrat Schauta, der über 
jedes freudige Ereignis im Kaiserhaus oder in Theater¬ 
kreisen erschöpfende Interviews zu geben pflegte, fuhr 
fort: „Es ist klar, daß mir jedes Sensationsbedürfnis fern¬ 
liegt und es mir nur um die Festlegung dieses historischen 
Phänomens zu tun ist." 

Ganz ließen sich die Prager Kollegen Schautas das Recht 
der Erstgeburt nicht rauben. Professor Pitha führte Mut¬ 
ter, Tante und Kind in der Aula vor, und sie mußten mit 
anhören, wie er in ihrer Muttersprache ironisch bedauerte, 
nicht auch den Freund Rosas vorstellen zu können, der 
sich durch die Vaterschaft den Dank der Wissenschaft er¬ 
worben. 

Inmitten der ärztlichen Rivalitätskämpfe machte der 
italienisch-amerikanische Impresario sein Geschäft, obwohl 
die Mädchen nicht mehr auftraten. Er ließ Photos und An¬ 
sichtskarten des Wochenbetts herstellen, in dem Rosa müt¬ 
terlich-verklärt lächelte, während der Photograph der Jo¬ 
sefa ein „bitte, recht feindlich" eingeschärft zu haben 
schien; die Bilder wurden in Massen abgesetzt. Außer¬ 
dem nützte der Impresario die Wochen des Wochenbetts 
dazu aus, um Interviews mit der schuldigen Kindesmutter 
und der unschuldigen Kindestante gegen hohe Bezahlung 
an amerikanische Korrespondenten zu vermitteln. Er gab 


219 



auch selbst Auskünfte über die mirakulöse Empfängnis, 
wobei er in Abrede stellte, der Kindesvater zu sein; und 
weil er wußte, daß die Geburtsnachricht von mir stammte, 
deutete er rachsüchtigerweise an, ein Prager Journalist sei 
der Autor des Kindes. 

„Allgemeinem Vernehmen nach wird das neugeborene 
Söhnchen der Schwestern Blazek", stand im „Arm mit dem 
Schwert" zu lesen, „auf den Namen Egon getauft werden; 
wäre dem Kind ein angewachsener Bruder mitgeboren 
worden, so hätte dieser den Namen Erwin erhalten zu 
Ehren des Reporters, der die Zeugung vorgenommen ha¬ 
ben soll, um die Nachricht von der Geburt als erster ver¬ 
öffentlichen zu können." 

Demgegenüber erkläre ich hiermit, nur die Nachricht 
von der Geburt des Kindes in die Welt gesetzt zu haben, 
nicht aber das Kind selbst. 



DIE HIMMELFAHRT DER GALGENTONI 


Wahrlich, ich sage euch, die Buhlerinnen und die 
Zöllner werden euch einführen ins Himmelreich. 

Evang. Matthäi 

Selten habe ich so wüste Nachtlokale gesehen wie die 
rings um den Prager Gemüsemarkt und Fleischmarkt. 
Nicht als Nachtlokale waren sie gedacht, sondern als Mor¬ 
genlokale, wo die Kutscher, die Bauern und die Bäuerin¬ 
nen, die Fisch- und die Blumenhändlerinnen, die Metzger- 
bursdhen und die Markthelfer im Morgengrauen ihren 
Kaffee oder ihre Suppe schlürfen sollten. Aber diese Stät¬ 
ten für Frühaufsteher wurden zu Sammelbecken für Spät¬ 
schlafengeher. Denn da sich ihre Tore just zu jener Stunde 
öffneten, in der die anderen Gaststätten von der polizei¬ 
lichen Sperrvorschrift geschlossen wurden, traf sich hier 
all das, was das Bett scheute oder scheuen mußte, Kellner> 
Musikanten, Zeitungssetzer, Journalisten, Prostituierte, 
Säufer, Obdachlose, Zuhälter. Und die biederen Landleute 
und Marktleute wurden in den Hintergrund gedrückt. 

In vielhundertjährigen Häusern staken diese Kneipen, 
und jede hatte ihre Geschichte. Unter dem Eichentisch der 
Schenke „Zur Hölle", wo immer Betrunkene liegen, lag 
1378 Herzog Wenzel von Luxemburg, als Kammerherren 
eintraten, um ihm den Tod seines Vaters zu melden, des 
deutschen Kaisers Karl IV. Sie trugen den sinnlos Betrun¬ 
kenen ins Schloß hinauf und setzten ihn auf den Thron. 

Von der größten Zeche, die je im „Grünen Frosch" ge¬ 
macht ward, erzählen noch heute Wirt und Stammgäste, 
als wären sie dabeigewesen. Aber es sind schon dreihun¬ 
dert Jahre her, seit Scharfrichter Mydlarz hier die zehn 
Schock Meißner Silberthaler nach dem Tagewerk vertrank, 
für das er sie verdient hatte: für die Massenhinrichtung 
der böhmischen Adelsherren. 

In der Kaschemme „Bataillon" gibt es keine Teller, nur 


221 



Mulden, die in die Tische eingeschnitten sind; in diese 
Mulden wird aus einem Schlauch die Suppe gespritzt. Die 
Blechlöffel sind mit Ketten am Tisch befestigt, damit sie 
der Gast nicht mitnehmen könne. 

Hier bezog Doktor Unger, Universitätsdozent für Staats¬ 
recht und Abgeordneter des Landtags, seinen permanenten 
Aufenthalt, als er erfuhr, daß seine Frau Orgien mit sei¬ 
nen Kollegen feiere. Bevor er sich bewußt zu Tode trank, 
vermachte er sein Vermögen den neunzig Stammgästen 
des „Bataillon". Dafür sollten sie - so stand es im Testa¬ 
ment -, jeder mit einer Flasche Haferschnaps in der Hand, 
an seinem Begräbnis teilnehmen, unterwegs auf sein See¬ 
lenheil trinken und sein Lieblingslied singen „Vorbei, vor¬ 
bei ist alles, vorbei mein Lebensglück ..." 

Hinter dem Leichenwagen schritten die Witwe in 
schwarzem Schleier, der Oberstlandmarschall von Böhmen 
mit Zweispitz, goldgesticktem Frack und Degen, der Rek¬ 
tor und die Dekane der Universität in Talaren und Hals¬ 
ketten; und die Pedelle in purpurnem Ornat trugen die 
Zepter der Fakultäten. Neben ihnen und zwischen ihnen 
aber drängte sich der zerlumpte, saufende, grölende Chor 
der Erben. Nach wenigen Schritten brach die Witwe vor 
Scham zusammen. Am Grabhügel versuchte der Rektor 
seine Rede zu halten, die melodramatisch vom Gebrüll des 
Liedes „Vorbei, vorbei..begleitet wurde. Seine Magnifi¬ 
zenz konnte nicht zu Ende sprechen; ein Dekan sank in 
Ohnmacht und wurde davongetragen, die anderen Trauer¬ 
gäste flüchteten in panischem Schrecken, dieweil die Ba¬ 
taillonsbrüder den Platz behaupteten und dem toten Kum¬ 
pan weinend die geleerten Haferschnapsflaschen ins Grab 
schleuderten. 

Ein Schwesterlokal des „Bataillon" war die „Mimose". 
Der bescheidene Name stammte wohl aus der Biedermeier¬ 
zeit, aber für die Gäste war er ein Fremdwort, das sie sich 
nicht merken konnten, weshalb sie es „Phimose" nannten. 
Größer als die Wirtsstube war der Hof, in dem Gebirge 
von leeren Kisten standen. Sie gehörten dem im gleichen 
Hause befindlichen Leinenwarengeschäft Brumlick, wurden 
jedoch in der Nacht vom „Mimose"-Wirt an Liebespaare 
vermietet. Der Kellner Honza Luft, sonst als Athlet ge- 


222 



fürchtet war wegen seiner Geschicklichkeit im Herauszie¬ 
hen von Spänen als Helfer beliebt. 

Ich habe in der „Mimose" vielen gefährlichen Zusam¬ 
menstößen beigewohnt, und alle wurden von Honza Luft 
geschlichtet, knapp bevor es zum Blutvergießen kam. Nur 
einmal sah ich seine Intervention kläglich scheitern. Das 
war, als zwei Veteraninnen der Prostitution aufeinander 
losgingen. Die eine stotterte, und die andere fluchte in 
einem wilden Rotwelsch, dem ich nur entnehmen konnte, 
daß es um einen Gast ging, den die Stotternde der Flu¬ 
chenden abspenstig machen wollte. Plötzlich begann die 
Stotterin „Galgentoni, Galgentoni" zu brüllen und „diese 
da wird geholt, bevor einer aufgehängt wird". Da sprang 
die als „Galgentoni" Apostrophierte auf sie zu, warf sie zu 
Boden und schlug, allen Trennungsversuchen des Hünen 
Honza Luft spottend, so lange auf die unheimlich gellende 
Feindin ein, bis diese verstummte und leblos dalag. In die¬ 
sem Augenblick trat die Polizei ein und arretierte die 
Galgentoni. 

Die Schilderung, die ich als Zeuge dieses Frauenduells 
zu schreiben versuchte, mißlang, weil ich nicht wußte, was 
mit der Anspielung gemeint war, die diese brachiale Wut 
ausgelöst hatte. Ich nahm mir vor, die Partnerinnen gele¬ 
gentlich darüber zu befragen. Jedoch keine der beiden er¬ 
schien mehr in der „Mimose". Vielleicht war infolge der 
Schlägerei die eine verurteilt und die andere tot oder bei¬ 
den das Lokal verboten. 

Eine andere der Marktspelunken hieß Cafe Melantrich. 
Auch hier saßen an den Tischen Gestalten, die sich durch 
nichts von den Stammgästen des „Bataillon" oder der „Mi¬ 
mose" unterschieden. Dennoch stellten sie eine Elite dar 
gegenüber den Außenseitern, die sich im Korridor dräng¬ 
ten, Krakeeler, Gewalttäter, Epileptiker oder Aussätzige. 
Ihnen erlaubte Herr Isidor Natscheradetz, genannt 
„Mungo", nicht den Eintritt in das Innere seines Lokals. 
Stehend mußten sie ihre Zeche konsumieren und neidisch 
ein Spalier für die Privilegierten bilden, die ungehindert 
im inneren Heiligtum ein und aus gehen durften. 

In diesem Spalier bemerkte ich eines Tages die beiden 
Duellantinnen aus der „Mimose". Ich ging auf die Galgen- 


223 



toni zu, und unser Gespräch begann mit ihrer Frage, ob 
ich ihr einen Schnaps bezahlen wolle. Ich zahlte nicht 
nur ihr einen Schnaps, sondern auch der Stotterin und so¬ 
gar ihrer anderen Nachbarin, die als Frieda Kniefall an¬ 
gesprochen wurde. Allviert tranken wir einander zu und 
waren fast Freunde. Als ich jedoch mit der Frage heraus¬ 
rückte, weshalb denn die Galgentoni damals so wütend 
geworden, verstummte sie unwillig. Vergeblich redeten 
Stotternde und Frieda Kniefall - die eine schimpfend, die 
andere gleisnerisch - auf sie ein, mir Auskunft zu geben. 

Von Zeit zu Zeit ging Mungo Natscheradetz mit mi߬ 
trauischem Gesicht vorbei; er schien sich von einem Inter¬ 
view mit den verrufensten seiner Stammkundinnen keine 
Reklame für das Lokal zu versprechen. 

Erst nach der dritten Runde Schnaps erklärte sich die 
Galgentoni bereit, mir zu verraten, worin ihre Beziehung 
zum Galgen bestand, aber sie knüpfte eine Bedingung 
daran: ich müßte zu ihr kommen in ihre Wohnung, dort 
werde sie mir alles genau erzählen. An diesem Besuch lag 
ihr mehr als an Schnaps oder Geld, ihre Wirtin und ihre 
Mitbewohnerinnen sollten sehen, daß sie noch Gäste emp¬ 
fange! 

In einer unbeschreiblich elenden Kammer im Ledergäß- 
chen saß ich viele nächtliche Stunden lang bei der Galgen¬ 
toni. Mühselig mußte ich die Details ihrer Lebensgeschichte 
herausholen, aber ein Redeschwall brach aus ihr, als sie 
sich, sozusagen vor einem imaginären Richter, zu ihrer 
Verteidigung auf schwang und zu Anklagereden gegen eine 
polnische Wanda, die Stotterbetty und die Frieda Knie¬ 
fall, gegen Mungo Natscheradetz und gegen die Sittenpoli¬ 
zei. Sie verlangte von dem imaginären Richter nicht nur 
einen glorreichen Freispruch für sich, sondern auch die 
Verurteilung jener Feinde und Feindinnen. 

Ihr Schicksal aber war ein Schicksal zwischen blauester 
Romantik und grauester Realistik, der Sturz aus einem 
eingebildeten Paradies in die scheußlichste Gosse, in der 
sich nur der Wunsch spiegelte, in jenes Paradies zurück¬ 
zukehren. 

Ein paar Wochen später wollte ich die Galgentoni wie¬ 
der sprechen, fand sie jedoch weder auf dem Korridor des 


224 



Cafes Melantrich noch in ihrer muffigen Bude im Leder- 
gäschen. Dort sagte man mir, sie sei im Krankenhaus, im 
Krankenhaus erfuhr ich, daß sie gestorben sei. 

Nun fährt sie also zu dem imaginären Richter hin, auf 
dessen Urteil sie sich mit ihren Plädoyers vorbereitet hat. 
Sicherlich vollzog sich diese Himmelfahrt so, wie es sich 
die Galgentoni vorgestellt hat. Freunde, laßt uns daran 
nicht zweifeln! Am Sammelplatz der Seelen, wo die Vor¬ 
stadt der Welt endet, wartet ein gewöhnlicher Polizei¬ 
wagen. Und doch kein ganz gewöhnlicher. Es ist ein Poli¬ 
zeiwagen für Höhenfahrt, denn der Klepper, der ihm vor¬ 
gespannt ist, hat weiße Fittiche, und auch der Polizeiwacht¬ 
meister, der auf und ab geht, ist geflügelt. Nicht lange 
braucht er der Fahrgäste zu harren. Seht, dort kommt schon 
jemand. 

Im Nachthemd, ein weißes Tuch um Kopf und Kinn ge¬ 
knüpft, in der einen Hand einen Kranz, in der andern eine 
brennende Wachskerze, knickst Frieda Kniefall vor dem 
Polizeiwachtmeister. Direktenwegs geht sie auf den Wa¬ 
gen zu, direktenwegs will sie ins Paradies. 

„Schutzmännchen, mein Schutzengelchen", piepst Frieda 
Kniefall, „ich komme direktenwegs ins Himmelreich. Das 
hat mir vor einer Stunde der hochwürdige Herr Pfarrer 
versprochen, als er mir die Letzte Ölung gegeben hat." 
Fräulein Frieda Kniefall, habe der geistliche Herr zu ihr 
gesagt. Sie kommen direktenwegs ins Himmelreich ... 

Freundlich erklärt ihr der Wachtmeister, niemand 
komme sogleich ins Himmelreich, alle Seelen werden zu¬ 
nächst dem Fegefeuer eingeliefert. Dieser Umweg stört die 
Frieda nicht allzusehr, sie hat ja die Zusicherung vom 
Herrn Pfarrer, im Himmel aufgenommen zu werden. Aber 
warum fährt der Wagen noch nicht ab, da sie doch schon 
hier ist? 

Ja, man müsse bis Mitternacht warten. „Wir sind heute 
der letzte Transport; wer bis vierundzwanzig Uhr stirbt, 
fährt noch mit uns hinauf." 

In der Tat kommt eben ein anderer Passagier, Herr 
Mungo Natscheradetz. Er entschuldigt sich, daß er die 
Herrschaften habe warten lassen, er ist überzeugt, nur auf 
ihn habe man mit der Abfahrt gewartet, und verlangt eine 


15 Kisch VII 


225 



Fahrkarte erster Klasse in den Himmel, ohne Umsteigen, 
Schlafwagen womöglich. „Kostet, Herr Kondukteur?" 

Wie oft schon mag der Wachtmeister die Auskunft ge¬ 
geben haben, daß es keine direkte Linie in den Himmel 
gebe! Herr Natscheradetz hat ein überlegenes Lachen zur 
Antwort! „Das sagen Siel Sie scheinen nicht zu wissen, 
wer ich bin!" Er liest seine Todesanzeige vor: „Wir be¬ 
trauern in dem Heimgegangenen einen hochprima Charak¬ 
ter von vorzüglicher, erstklassiger Qualität..." Hernach, 
der Wirkung sicher, die dieser Text gemacht haben muß, 
will er die Wagentür öffnen. Aber der Wachtmeister hält 
ihn zurück, und Frieda Kniefall äußert mit einem Seufzer: 
„Wir müssen uns in himmlische Geduld fassen." 

Mungo Natscheradetz ist baß erstaunt, die Frieda hier 
zu sehen, jovial streckt er ihr die Hand hin, aber Frieda 
Kniefall will hier mit dem Wirt der übelbeleumundeten 
Kaschemme nichts zu tun haben. 

„Ich kenne Sie nicht", äfft Mungo Natscheradetz ihr 
nach, „und seit zwanzig Jahren verkehren Sie bei mir im 
Lokal, um sich Gäste zu schnappen." 

Darüber erschrickt Frieda Kniefall, denn wenn das der 
Wachtmeister hört und höhern Orts meldet, kann ihr das 
sehr schaden, der Zusicherung des geistlichen Herrn zum 
Trotz. Spitzig flüstert sie Mungo Natscheradetz zu, seit 
langem verkehre sie nicht mehr in seinem Cafe, seit der 
Zeit nämlich, da ihr Bräutigam dort all ihr Geld verspielt 
habe. 

Nun ist es Herr Natscheradetz, der erschrickt, denn mit 
der Beschuldigung, eine Spielhölle gewesen zu sein, könnte 
ihm, seiner Todesanzeige zum Trotz, die Hölle heiß ge¬ 
macht werden. 

Zum Glück für beide kann der Wachtmeister von dem 
Gespräch nichts hören, weil sich aus der Ferne ein Gassen¬ 
hauer nähert, von einer heiseren Stimme geschmettert. Ist 
das überhaupt eine Stimme zu nennen? Ja. Denn wie aus 
einem Mund sagen Mungo Natscheradetz und Frieda Knie¬ 
fall, die Stimme komme ihnen bekannt vor. 

Und da erscheint auch schon unsere Galgentoni im 
Mondscheinlicht. Sie stoppt ihr Lied erst, als sie die ver¬ 
traute Silhouette eines Polizeiwagens vor sich sieht. Wie 


226 



sie es wohl immer getan, versucht sie die Wagentür mit 
dem Fuß aufzustoßen. Hier aber scheint das nicht die rich¬ 
tige Art und Weise zu sein, der Wachtmeister schiebt sie 
zur Seite. Die Galgentoni nimmt das nicht übel. Sie ist so 
froh, aus dem Spittel raus zu sein, daß ihr kein Polizist 
die Stimmung vermasseln kann. Nur ungeduldig ist sie, 
sie will in den Himmel; sie brauche kein Billett, ruft sie, 
sie habe eine Jahreskarte, sogar schon kontrolliert, einmal 
wöchentlich vom Herrn Polizeiarzt bei der Hurenvisite. 

Entsetzt raunt Frieda Kniefall dem Herrn Natscheradetz 
zu, das sei doch die Galgentoni. 

Herrn Natscheradetz zu erzählen, daß das die Galgen¬ 
toni sei, ist auf Ehre sehr gut! Herr Natscheradetz hat sie 
nicht in die Gaststube gelassen, auf dem Korridor stehend, 
mußte sie den Kaffee trinken. Und jetzt will sie in den 
Himmel! 

Jawoll, das will die Galgentoni, und möglichst schnell. 
«Sollen wir denn hier warten, bis es irgendeinem Hotten¬ 
totten in Italien beliebt, die Beine steif zu machen?" 

„Mit solcher Benehmität will sie in den Himmel", mur¬ 
melt Mungo Natscheradetz seinem Bart zu. 

Toni hat es gehört. Sie faucht ihn an, hier habe er nichts 
mehr zu befehlen, sondern zu schweigen, widrigenfalls sie 
ihn vor seine Adlernase stoßen müßte, daß er die Engel 
pfeifen hört, bevor er noch mit der Grünen Minna abge¬ 
fahren ist. Dabei fällt ihr ein, daß die Grüne Minna, die 
Rheumatismuskiste da, noch immer nicht Miene macht, 
abzudampfen. 

„Ich will mir hier doch kein Geschäft auf machen", denkt 
sie laut, sehr laut sogar. „Das ist nicht mein Strich, so ein 
mieses Revier such ich mir nicht aus. Wie ein Kind freu 
ich mich seit zweiundfünfzig Jahren auf meine Himmel¬ 
fahrt, und jetzt soll ich Schlange anstehen? Also los jetzt, 
Himmel, Arsch und Zwirn, sonst passiert was!" 

Frieda Kniefall bekreuzigt sich, der Himmel beschütze 
uns, betet sie, und der Wachtmeister schwingt seinen 
Gummiknüppel. Die Toni rät ihm eindringlich, keine Wel¬ 
len mit seinen Flügeln zu machen. Ihre Bestimmungsstation 
sei der Himmel, und der warte schon auf sie. 

„Oder aber die Hölle", sagt der Wachtmeister, wofür er 


227 



von Mungo Natscheradetz belobt wird, das sei eine aus¬ 
gezeichnete Abfuhr gewesen, einfach brillant! 

Das sei ihr scheißegal, brüllt die Toni, keinesfalls werde 
sie ihre Pedale hier anfrieren lassen, das sei kein Himmels¬ 
strich für sie. „Wenn die Fuhre nicht gleich abgeht, wichse 
ich in den Schimmel hinein, daß euch die Pferdeäpfel um 
die Ohren sausen und die ganze Milchstraße auseinander¬ 
läuft/ 

„So eine Ausdrucksweise hab ich noch nicht erlebt, seit 
ich tot bin", beteuert Mungo Natscheradetz. Der Wacht¬ 
meister ist wütend. „Halten Sie den Mund", sagt er zu 
Toni, „sonst..." 

Toni krempelt sich die Ärmel auf und geht auf ihn los. 
„Sonst? Sonst was?" zischt sie. „Jetzt hat's aber zwölf ge¬ 
schlagen!" 

Und da schlägt es wirklich zwölf, und der Wachtmeister 
schlägt den Ton eines Bahnhofschaffners an: „Einsteigen 
die Herrschaften, nicht so drängen." 

Mungo Natscheradetz drängt sich vor, Toni stößt ihn 
zur Seite. Kann man's ihm übelnehmen, daß er verärgert 
fragt: „Gibt's denn da keine erste Klasse? Muß ich mit 
der Chonte im Wagen fahren?" 

„Mit so einer Person", assistiert ihm Frieda Kniefall, 
„wer mir das bei Lebzeiten gesagt hätte!" Niemals noch 
sei sie in einem Polizeiwagen gefahren. 

„Wirklich nicht?" sagt Toni. Dann könne sich Fräulein 
Frieda Kniefall ja ein Taxi nehmen, sogar eins für sich 
allein und ihren Jungfernkranz, wenn sie fürchte, daß Herr 
Natscheradetz ihn im Wagen zerdrücken könnte. 

Mungo Natscheradetz überhört das, er ist damit be¬ 
schäftigt, den Wagen mißtrauisch zu mustern. „Das heißt 
eine Karosserie! Ich hab direkt Angst, daß das auseinan¬ 
derfällt." Worauf die Galgentoni ihn höhnisch beruhigt: 
„Was kann Ihnen denn noch passieren. Sie toter Jud, Sie?" 

Schließlich sind die Fahrgäste einwaggoniert, es knallt 
die Peitsche, es schwingen die Flügel des magern Hippo- 
gryphen, es pfeift der Wind, und es fährt der Wagen von 
der Erde ab, über Wolkenberg und Wolkental, dem Fege¬ 
feuer zu. 

Das Fegefeuer sieht aus wie eine Gerichtsstube, aber 


228 



die Hinterwand hat zwei seltsame Tore. Das eine samt 
zugehörigem Schilderhaus ist blau und gold gestreift und 
eine Lichtreklame mit der Aufschrift „Himmel" funkelt 
darüber. Schwarz und rot ist das andere Tor, düster seine 
Tafel: „Hölle". Vor dem blau-goldenen Schilderhaus trip¬ 
peln zwei Engel, den Palmwedel geschultert, auf und ab; 
vor dem anderen versehen den Wachtdienst zwei ge¬ 
schwänzte Teufel, die Birkenruten wie Säbel gezogen. 
Mond und Sterne leuchten nahe, Wolken durchschweben 
den Gerichtssaal. 

Vorne am Gerichtstisch ist der Präsident des Obersten 
Gerichtshofs eingenickt, ein Herr mit langem Wattebart 
und ebensolchem Haupthaar. Rechts und links von ihm 
markieren zwei Assessoren, der himmlische und der höl¬ 
lische, eifrige Arbeit, bis sie am Schnarchen merken, daß 
der Alte schläft. Da schieben sie die Akten beiseite, zün¬ 
den ihre Zigaretten an der Mondscheibe an und beginnen 
eine Diskussion über Gott und die Welt. Solange es nur 
über Gott und die Welt geht, sind sie in ihren Ansichten 
ziemlich einig, aber als die Debatte die Politik streift, 
bricht ein Konflikt aus. Der Himmelsassessor, ein glatter 
Herr mit Monokel, Schnurrbärtchen und Orden, schnarrt 
wütend, es sei eine Affenschande, daß man mit jeder her¬ 
gelaufenen Seele lange Verhandlungen abführe, statt ein¬ 
fach kurzen Prozeß zu machen. Und immer, wenn er ein 
wenig das römische Recht studieren wolle, müsse er das 
ewige Gewimmer aus der Hölle anhören. Wehleidige 
Schlappschwänze! Sollte man alle an die Wand stellen. 

Demgegenüber bekennt sich der Höllenassessor zur De¬ 
mokratie, jeder müsse wimmern können, soviel er wolle. 

Der laute Streit weckt den Präsidenten. Der schwingt 
die Tischglocke. „Ruhe! Ich kenne keine Parteien, ich 
kenne nur Seelen." 

Die beiden Assessoren haben kaum die Zigaretten ver¬ 
löscht und ihre Plätze eingenommen, als auch schon Pferde¬ 
getrappel, Wagenrollen und Peitschenknall die Ankunft 
von Zuwachs verkünden - es ist der, den wir kennen. 
Unsere drei Freunde werden angewiesen, sich auf die Bank 
zu setzen, jedoch Mungo Natscheradetz gestattet sich, sich 
höflichst vorzustellen und um Aufenthaltsbewilligung im 


229 



Himmel zu ersuchen, vielleicht könne er früher drankom¬ 
men, er sei nämlich momentan effektiv pressiert; er flüstert 
dem Präsidenten zu, er lasse sich's gern was kosten... 

„Was fällt Ihnen ein?* schreit ihn der bemonokelte Him¬ 
melsassessor an, „Sie atmen hier Himmelsluft I* Nun, 
Mungo Natscheradetz ist auch bereit, ein Luftgeschäft zu 
machen, aber der Präsident heißt ihn sich hinsetzen und 
ruft Frieda Kniefall auf. Mungo Natscheradetz murmelt; 
„Rischeß!" 

Der Präsident hat in Frieda Kniefalls Akten geblättert 
und erklärt sie schuldig der Heuchelei. Bevor die erschrok- 
kene Frieda auf die ausdrückliche Zusage des Herrn Pfar¬ 
rers hinweisen kann, daß sie direktenwegs ins Himmelreich 
eingehen werde, wird sie von den beiden Teufelsposten 
gepackt. Sie sträubt sich und schimpft und droht, ohne 
daß es ihr nützt. Unsanft wird sie durchs Höllentor be¬ 
fördert, aus dem ein Feuerschein aufflammt. 

Als nächster wird Herr Natscheradetz vorgerufen, was 
wiederum der Galgentoni nicht recht ist. Lange genug, 
zweiundfünfzig Jahre, warte sie schon auf den Klimbim, 
sie wolle hier nicht versauern; o nein, da kenne man sie 
schlecht. Den Himmelsassessor, der sie schneidig zurecht¬ 
zuweisen versucht, nennt sie einen vertrottelten Monokel¬ 
fritzen. Die Teufelsposten wollen, sich schüttelnd und die 
Zunge bleckend, die Galgentoni einschüchtern. Die aber 
kriegt nur einen Lachkrampf. „Ihr seid wohl aus dem 
Pfefferkuchenladen geflitzt? Verkriecht euch nur schnell 
mit euren Schwänzen, oder ich..Flugs ziehen die Teu¬ 
fel ihre Schwänze ein und verstecken sich im Schilderhäus¬ 
chen. 

Milde sagt der Präsident zur Galgentoni; „Seien Sie 
endlich still.* Da wird sie endlich still. O weh, denkt sie, 
jetzt hab ich die Karre ganz verfahren, jetzt ist's Essig 
mit dem Himmel. 

Mungo Natscheradetz wird befragt, was er zu seiner 
Verteidigung vorzubringen habe. Schemajisröl! Zu seiner 
Verteidigung! Wenn er gewußt hätte, daß er hier eine 
Verteidigung brauche, hätte er seinen Anwalt mitgebracht. 
Mit bewegter Stimme liest er seine Todesanzeige vor: 
„Tiefbetrübt geben wir Nachricht vom Hinscheiden des 


230 



Herrn Isidor Natscheradetz, Seniorchef des bestrenommier¬ 
ten Cafe Melantrich, Melantrichgasse .. 

„Der alte Hurenstall", ruft die Galgentoni dazwischen. 

„Ihnen gesagt hineingelassen worden zu sein!" antwor¬ 
tet ihr Mungo Natscheradetz und schickt sich an, in der 
Vorlesung seiner Todesanzeige fortzufahren, aber der Prä¬ 
sident nimmt sie ihm aus der Hand und gibt sie dem Teu¬ 
felsposten, der sie durch das Höllentor wirft, „ein Stück 
Papier für besondere Zwecke". 

Natscheradetz schreit auf: „Was, meine Todesanzeige 
wollen Sie als Ascher-Joze-Papier verwenden? Wissen Sie, 
was die gekostet hat?" 

„Sie können ihr gleich nach", verurteilt ihn der Präsi¬ 
dent, „Sie sind ein Kuppler." 

Bevor das Höllentor hinter Mungo Natscheradetz zu¬ 
fällt, hört man, wie er dort Freunde begrüßt: „Ah, Schle¬ 
singer und Sinaiberger, ihr seid auch schon da?" 

Nun wird Antonia Havlova aufgerufen, und das ist der 
bürgerliche Name der Galgentoni. Ihre Akten werden her¬ 
beigetragen, Assessoren, Doppelposten und sogar der 
Wachtmeister haben daran zu schleppen, daß sie keuchen. 
Der Präsident liest die Titel der Aktenstöße: „Geheim¬ 
prostitution", „Körperverletzung", „Ruhestörung", „Grober 
Unfug", „Verunreinigung öffentlicher Plätze". Erschreckt 
hört die Galgentoni diese Vorlesung. „Prost Mahlzeit", 
brummt sie, „das Geschreibsel haben sie hier auch!" 

Sie ist, wie sich ergibt, zweiunddreißigmal polizeilich 
und - drei-, nein, viermal gerichtlich vorbestraft. „Immer 
unschuldig, hoher Gerichtshof", beteuert sie, „immer un¬ 
schuldig, so wahr ich lebe." 

Alle erschrecken. 

„Wer lebt?" 

„Ach so, ich bin ja tot. Das vergißt man in der Auf¬ 
regung." 

Der Präsident fragt sie: „Antonia Havlova, haben Sie 
noch einen anderen Namen, ich meine: einen Spitznamen?" 

Ja, antwortet sie mißtrauisch, den habe doch jede von 
ihrer Gilde. Auf weiteres Befragen gibt sie diesen Spitz¬ 
namen an: „Mich nennt man die Galgentoni." 

Der Präsident schiebt die Akten fort und fragt, warum 


231 



man sie so nenne. Da kommt er aber schön an. Das seien 
ihre ureigensten Privatangelegenheiten, das stehe in kei¬ 
nem Akt, da habe sich keiner hineinzumischen, darüber 
gebe sie keine Auskunft. Schikanieren lasse sie sich nicht, 
das habe nicht einmal die Sittenpolizei fertiggekriegt, dar¬ 
über rede sie nicht, und wenn man sie auch in den heiße¬ 
sten Höllenkessel schmeiße. 

Ruhig läßt der Präsident diesen Wortschwall über sich 
ergehen und erinnert sie, daß sie ja die Geschichte auch 
bei Lebzeiten manchmal erzählt habe. 

Oh, das sei eine ganz andere Kiste gewesen. Wenn 
jemand sie besucht habe oder mal drei Glas Schnaps be¬ 
zahlte, das war die Taxe, dann konnte er allenfalls die 
Geschichte verzapft kriegen. Aber zwingen - nein, Herr! 

Nun, Schnaps wird hier nicht geführt, aber dafür gibt's 
Äther genug. Auf ein Zeichen des Präsidenten senkt sich 
aus den Wolken eine Flasche nieder, und die Galgentoni 
äußert ihr Erstaunen, daß sich auch die himmlischen Heer¬ 
scharen zeitweise einen hinter die Binde gießen. Gegen 
eine solche Verdächtigung protestiert der ganze Gerichts¬ 
hof entrüstet. 

Es ist ein guter Schluck, den Toni aus der Ätherflasche 
macht. „Fein! Ein Klassetröpfchen! Gibt's das in der Hölle 
auch?" 

Statt einer Antwort erhält sie die Aufforderung, zu er¬ 
zählen. 

„Ja also, heiliger Gerichtshof, das ist schon eine alte 
Brühe. Das ist schon bald nicht mehr wahr. Es war am 
12. August 1881." 

„Da sind es heute dreißig Jahre", bemerkt der Präsident, 
worauf Tonis Mißtrauen verstärkt wiederkehrt. „Wirklich 
wahr, auf den Tag dreißig Jahre! Na und? Hab ich mich 
nicht auf Erden genug damit herumgeschlagen? Wollen 
Sie mir aus der Sache hier auch noch einen Strick 
drehen?" 

„Erzählen Sie nur ruhig, Toni." 

„Also, ich war damals im Salon Koutzki angestellt, in 
der Plattnergasse." 

„Hm", macht der Präsident, „Ecke Saazergäßchen, nicht 
wahr?" 


232 



„Da schau her. Sie kennen das Lokal? Haben Sie auch 
bei uns verkehrt?" 

Assessoren und Wachtposten kichern. 

„Sie müssen sich dafür gar nicht genieren, Herr Ge¬ 
richtshof, es war ein sehr nobles Etablissement, nur Her¬ 
ren aus der ersten Gesellschaft waren unsere Stammgäste. 
Das können Sie mir doch bestätigen, wenn Sie uns beehrt 
haben, Herr Gerichtshof." 

Vergeblich versucht das Personal das Lachen zu ver¬ 
beißen, und ärgerlich gebietet der Präsident Ruhe. Und die 
Galgentoni erzählt weiter: 

„Also, ich war damals bei Koutzki in der Plattnergasse 
und war weitaus die schönste von den Damen." 

Der Himmelsassessor räuspert sich. 

„Sie sollten lieber nicht hüsteln, sonst kommt Ihnen Ihr 
Monokel in die falsche Kehle. Wenn ich sage, ich war die 
schönste von den Damen, so können Sie mir das glauben. 
Heute bin ich ja ein alter Schlampen, was hätte ich davon, 
mich zu rühmen? Aber damals war ich ,die blaue Toni', 
wegen meiner blauen Augen und weil ich ein blaues Em¬ 
pirekleid aus Atlas getragen hab, Ajour-Strümpfe und 
Lackschuhe. Wenn ich in den Salon hinunter gekommen 
bin, haben immer schon Herren auf mich gewartet, und 
um vier Uhr früh, bevor Schluß gemacht worden ist, ha¬ 
ben sie sich vor meinem Zimmer angestellt, ganze Reihen, 
jawohl. So eine Klasse war ich. Alle Damen - Sie wissen, 
die Kolleginnen - haben mich beneidet." 

„Nun, und was war am 12. August?" 

„Ja, also am 12. August saßen wir, alle Damen, in der 
Küche beim Essen, da kam ein Detektivinspektor von der 
Polizei mit einem Gefängniswärter vom Strafgericht und 
tuschelte mit der Frau Koutzki. Wir haben gehört, wie die 
Alte sich aufregt und wie der Inspektor sagt, er habe es 
satt, von einem Puff ins andere zu laufen. Wenn ihm die 
Frau Koutzki Schwierigkeiten macht, so wird er ihr näch¬ 
stens auch Schwierigkeiten machen. Natürlich hat die Alte 
sich mit ihm nichts anfangen wollen, na und da kommt sie 
zu uns nach hinten, und der Inspektor fragt, ob eine von 
uns Damen nicht ins Strafgericht gehen möchte zum Fer¬ 
dinand Prokupek. Und Frau Koutzki hat dazu gesagt, sie 


233 



gibt der Betreffenden noch fünf Gulden extra. Natürlich 
hat sich keine gemeldet." 

„Es hat sich eine gemeldet", unterbricht der Präsident 
die Darstellung. 

„Nein, hoher, heiliger Gerichtshof, es hat sich keine ge¬ 
meldet. Ganz Prag hat ja gewußt, daß der Prokupek mor¬ 
gen gehängt wird, weil er drei Mädel erwürgt hat, eine 
bei Brandeis, eine bei Krtsch, und die restliche hat er ins 
Wäldchen bei Hodkowitschka gelockt. Alle drei hat er 
erwürgt, und dann hat er die Leichen verstümmelt. Ein 
scheußlicher Kerl. Und so hat er auch auf dem Bild aus- 
gesehn, das von ihm im ,Illustrierten Kurier' war - ein 
Strolch mit zerfressenem Gesicht, das Kotzen ist einem an¬ 
gegangen, wenn man nur die Photographie angeschaut hat, 
pfui Teufel!" 

Zum Glück baumelt die Flasche noch, so daß die Galgen- 
toni den Ekel hinunterspülen kann und weitererzählt: 
„Der Detektivinspektor hat eine Dame gebraucht, weil der 
Prokupek sich gewünscht hat, ein Mädchen bei sich zu ha¬ 
ben, und wenn einer hingerichtet wird, muß ihm sein letz¬ 
ter Wunsch nämlich erfüllt werden." 

Diese Gelegenheit, mit seiner Kenntnis des römischen 
Rechts zu protzen, läßt sich der Himmelsassessor nicht 
entgehen. Devot bemerkt er zum Präsidenten, das sei das 
alte Scortum Scorto. 

„Was ist los?" fragt die Galgentoni. 

„Nichts ist los, das ist aus dem römischen Recht", sagt 
der Himmelsassessor. 

„Dann unterlassen Sie, bitte, solche Bemerkungen. Bei 
uns gilt das nicht, und es hat sich auch keine gemeldet." 

„Aber Toni", sagt der Präsident, „es hat sich ja doch 
eine gemeldet." 

„Nein, hoher, heiliger Gerichtshof, das muß ich doch 
besser wissen, es hat sich keine gemeldet. Nicht einmal 
die Ludmilla wollte gehen, ,nicht für tausend Gulden', hat 
sie gesagt. Und sie war doch die mieseste von uns, daran 
werden Sie sich ja noch erinnern, Herr Gerichtshof, wenn 
Sie unser Stammgast waren." 

„Ruhe am Richtertisch, wenn ich bitten darf", ruft der 
Präsident, denn die Assessoren prusten wieder los. 


234 



„Weil also keine von uns Damen zum Prokupek gehn 
wollte, so hat die Frau Koutzki zur Frau Petrikova gesagt 
sie soll sich anziehn und ins Strafgericht mitgehn. Die 
Frau Petrikova war damals nur Bedienerin bei uns, drei 
viertel Jahre vorher war sie noch Dame gewesen, aus die¬ 
ser Zeit werden Sie sie vielleicht kennen, Herr Gerichts¬ 
hof/ 

„Ruhe!" 

„Olga hat sie damals geheißen. Aber dann ist sie krank 
geworden, und als sie aus dem Spital zurückgekommen 
ist, hat sie so alt und häßlich ausgesehn, daß man sie un¬ 
möglich in den Salon lassen konnte. Eingefallene, fleckige 
Wangen hat sie gehabt und rote Augen, die Haare sind 
ihr ausgegangen, und immerfort war sie heiser. Furcht¬ 
bar/ 

Ein neuer Schluck aus der Ätherflasche schwemmt die 
Erinnerungen weg. 

„Die Frau Koutzki wollte die Olga nicht mehr aufneh¬ 
men, aber weil sie so geheult hat, daß sie sich umbringen 
wird, hat man sie auf dem Sofa im Doktorzimmer schlafen 
lassen und hat ihr das Essen gegeben. Dafür hat sie dann 
eben aufräumen müssen und hat natürlich nicht mehr Olga 
geheißen, sondern Frau Petrikova. Weil nun keine von 
uns Damen zum Prokupek hat gehn wollen, sollte sie die¬ 
jenige sein. Da hat sie die Hände über dem Kopf zusam¬ 
mengeschlagen und hat aufgeschrien, aufgeschrien ohne 
Stimme. Lieber schmeißt sie sich in die Moldau, hat sie 
gesagt und hat gezittert wie Sülze... Da fiel mir plötzlich 
ein, zu sagen: Ich geh zum Prokupek .. / 

„So, so!" 

„Jawohl, dann bin ich also mit dem Inspektor losgezo¬ 
gen bis ins Strafgericht. Damals war ich zum erstenmal 
dort. Im Aufnahmebüro waren ein paar Aufseher, die 
haben so blöd gemeckert: ,Gute Unterhaltung wünschen 
wir Ihnen, Fräulein', und dann haben sie mich genau und 
gründlich abgetastet - angeblich, ob ich nicht ein Messer 
oder einen Strick für den Prokupek mitbringe. Na, viel¬ 
leicht haben sie auch wirklich Angst gehabt, daß ich ihnen 
die schöne Hinrichtung verderben könnte. Und ein junger 
Aufseher hat ganz traurig zu mir gesagt*. ,So ein bild- 


235 



hübsches Mädel, schämen Sie sich nicht?' Er hat geglaubt, 
ich mache es wegen der paar Gulden. Na, und dann haben 
sie mich in die Zelle vom Prokupek geführt Sein Bild 
hab ich schon aus dem illustrierten Kurier' gekannt, das 
hab ich Ihnen, glaube ich, schon erzählt. Aber er war noch 
viel ähnlicher als auf der Photographie. So eine schmierige 
Zuchthauskluft hat er angehabt und lauter Stoppeln und 
Pickel im Gesicht." 

Ein Zug aus der Ätherflasche beweist, daß der absto¬ 
ßende Eindruck, den der Mörder auf sie gemacht hat, ein 
tiefer war. 

«Wie ich ihn gesehn hab, hab ich mir gedacht: Wenn 
ich nur schon wieder draußen wäre! Aber anmerken hab 
ich mir das nicht lassen. Wenn ich schon einmal da bin, 
soll er sich auch mit mir freuen. Ich weiß, was ich mei¬ 
nem Beruf schuldig bin. Ich hab also zu ihm gesagt: ,Ihr 
Bild habe ich schon im »Illustrierten Kurier« gesehen, hat 
mir gleich gefallen, deshalb bin ich gekommen/ Da hat 
er etwas ganz Ordinäres gebrummt: ich soll ihn.. 

Hier hält es der Präsident für angebracht, den Satz 
selbst zu vollenden: „... den Buckel runterrutschen." 

Diese Fassung aber ist nicht die authentische. ,,0 nein", 
beharrt die Galgentoni, „noch viel gemeiner. Sie verstehen 
schon, hoher Gerichtshof, ich brauche mich hoffentlich 
nicht darüber zu verbreiten, das wäre mir peinlich. Eine 
halbe Stunde war ich mit dem Prokupek, da sagt er zu 
mir: Jetzt kannst du gehn/ Ich war heilsfroh, daß es 
vorbei war, ich hab ja so eine Angst gehabt, daß er mich 
vielleicht auch erwürgen wird wie die drei Mädel. Aber 
wie ich ihm die Hand geben will, hat er mir leid getan. 
Ich hab mir gedacht, am Morgen holt ihn der Henker, 
und da hab ich zu ihm gesagt: ,Ich möchte gerne noch ein 
bißchen bleiben/ Da hat er wieder so etwas gebrummt wie 
vorher. Sie wissen schon ..." 

„Gewiß, Sie müssen es nicht wiederholen." 

„Nein, nein, ich wiederhole es nicht, ich erwähne nur, 
daß er wieder so etwas Unfeines gesprochen hat. Aber 
es hat ihn doch sehr gefreut, daß ich gesagt hab, ich 
möchte dableiben. Na, und um zwei Uhr nachts bin ich 
nach Hause gerannt und bin gleich auf mein Zimmer und 


236 



wollte mich schlafen legen. Da sehe ich # daß mir meine 
Kolleginnen, die Damen, diese Säue, einen Galgen aus 
Pappdeckel auf den Nachttisch gestellt haben. Mit so et' 
was macht man doch keine Witze, nicht wahr, hoher Ge¬ 
richtshof? Ich hab einen solchen Zorn gehabt, daß ich 
kaum einschlafen konnte. Wie ich am Nachmittag zum 
•Frühstück runterkomme, haben alle schon die Hinrichtung 
in der Zeitung gelesen und fangen an, mich zu uzen: ,Du 
bist wohl so stolz geworden, weil sie deinen Liebsten er¬ 
höht haben?' - ,Schlepp uns nur keinen kleinen Prokupek 
ins Haus, sonst erwürgt er uns noch alle/ Je mehr ich 
mich geärgert habe, desto mehr haben sie mich gehöhnt, 
und wütend bin ich auf mein Zimmer gelaufen/' 

«Aber Sie sind doch wieder hinuntergegangen, Toni?" 

„Erst am Abend, wie das Geschäft angefangen hat. Wie 
ich also abends in den Salon runterkomme in meinem 
blauen Empirekleid, das mir so gut gepaßt hat - Sie 
erinnern sich doch noch...?" 

„Ja, ja, erzählen Sie weiter." 

«... da haben die Luder alle im Chor gerufen: ,Galgen- 
toni!' Und denken Sie, diese Gemeinheit: den Gästen ha¬ 
ben sie auch erzählt, wo ich gestern abend war. Das ist 
doch unlauterer Wettbewerb, nicht wahr, hoher Gerichts¬ 
hof? Meine treuesten Gäste haben mich nicht einmal an¬ 
geschaut." 

Und jetzt dringt auf die Galgentoni eine Erinnerung 
ein, die nicht mit Äther hinunterzuspülen ist und nicht mit 
Tränen. Sie schluchzt, da sie vom blonden Willy erzählt: 
„Um ein Uhr ist der blonde Willy gekommen, der war 
schon drei viertel Jahre mein richtiggehender Liebster 
- ich hab den Lausejungen, den elenden, so schrecklich 
gern gehabt, nie mehr werde ich einen wieder so gern 
haben - ein feiner Junge, er war immer tipptopp ange¬ 
zogen, Sie werden sich sicherlich noch an ihn erinnern, 
hoher Gerichtshof, er ist immer am Mitteltisch gesessen, 
mit gelben Handschuhen und einer grün-weißen Krawatte. 
Also, ich will mich zu ihm setzen, da schreit er durchs 
ganze Lokal: ,Bevor mich der Henker hochzieht, laß ich 
dich schon rufen/" 

Tonis Körper schüttelt sich vor Schmerz. „Und dann - 


237 



und dann - ist er mit der - polnischen Wanda aufs Zim¬ 
mer gegangen! Mit dem Biest, das immer so gemein zu 
mir war. Das hätte er mir nicht antun sollen, das nicht, 
nein, das nicht!" 

„Trinken Sie einen Schluck, Toni, und erzählen Sie wei¬ 
ter." 

„Am nächsten Tag bin ich vom Salon Koutzki weggelau¬ 
fen. Bei der ,Blauen Nudel' haben sie mich aufgenommen." 

„Blaue Nudel?" 

„Das werden Sie nicht kennen, das ist ein ganz kleines 
Puff gegenüber vom Blindeninstitut." 

Der Himmelsassessor nickt. 

„Ja, Sie werden es kennen. Ach Gott, das war mit dem 
Salon Koutzki gar nicht zu vergleichen. Da hab ich kein 
blaues Empirekleid mehr gehabt und keine Lackschuhe 
und keine durchbrochenen Strümpfe. Und wissen Sie, was 
mir am meisten gefehlt hat - das Grammophon. Erinnern 
Sie sich noch an das große Grammophon bei Koutzki? Da 
hab ich so gern getanzt, wenn es gespielt hat: 

'Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen, komm. 

Wir wolln ins Grüne gehn .. 

Erinnerungsselig streckt sie die Arme aus und beginnt 
zu summen und sich zu bewegen, dann zu singen und zu 
tanzen: 

„Da ist es wunderschön ..." 

Und der Gerichtshof mitsamt dem Wachtpersonal summt 
und singt und bewegt sich mit, sogar die Wolken schau¬ 
keln im Takt des Liedes: 

,Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen, komm. 

Wir wolln ins Grüne gehn. 

Da ist es wun . . 

Der Präsident ist der erste, der sich wieder besinnt. 
„Pst! Ruhe!" ruft er. Und als schon alle verstummt sind, 
fügt er hinzu: „Ein Skandal!" 

Dann sagt er zu Toni: „Weiter!" 

Worauf sie wieder aus voller Kehle zu singen anfängt: 

„Komm, Karlinchen, komm, Karlinchen . . 


238 



„Ruhe! Sind Sie verrückt geworden?" 

„Aber Sie haben doch gesagt weiter', Herr Gerichtshof/ 

„Weiter erzählen sollen Sie/ 

„Ach so! Ja, wo sind wir denn stehengeblieben? Richtig, 
bei dem Grammophon. Also das Grammophon hat mir, 
wie gesagt, sehr gefehlt. Nein, Koutzki und ,Blaue Nudel' 
das war wie Tag und Nacht, hoher Gerichtshof, den Unter¬ 
schied sollen Sie Orgel spielen können. Ich war aber nur 
drei Nächte dort: In der dritten Nacht ist ein Gast gekom¬ 
men, der mich vom Salon Koutzki gekannt hat, und der 
Quatschkopf hat die Geschichte gleich ausgepackt. Die 
Damen haben mich sowieso beneidet, weil ich den schön¬ 
sten Körper gehabt hab und weil ich eine Neue war. 
Gleich hat's wieder geheißen: Galgentoni! Das war ein 
richtiges Fressen für die: Galgentoni! Unter solchen Um¬ 
ständen ist es schwer, in einem Lokal zu arbeiten, das 
müssen Sie doch einsehen! Da bin ich dann wieder von 
der ,Blauen Nudel' weg und bin auf die Straße gegangen. 
Ja, was ist mir denn anderes übriggeblieben als der Strich? 
Dreißig Jahre lang bin ich so gegangen, Abend für Abend, 
keine Müdigkeit vorschützen. Und ich hab auch, Gott sei 
Dank, jeden Abend einen Freier gefunden/ 

Hier kann sich der Himmelsassessor der spöttischen Be¬ 
merkung nicht enthalten: „Nulla dies sine linea/ 

„Was heißt denn das schon wieder?" fragt Toni. 

„Das heißt: Kein Tag ohne Strich/ 

„Jawohl, das stimmt, dreißig Jahre lang kein Tag ohne 
Strich. Zuletzt hat mir ein Kunde einen Pelzmantel ver¬ 
sprochen, damit ich in den feinen Kaffeehäusern verkeh¬ 
ren kann. Aber das hab ich nicht mehr erlebt. Ist es denn 
ein Wunder? Die Straße ist doch das Furchtbarste, was es 
gibt/ 

„Warum denn?" fragt der Präsident und gibt dem Asses¬ 
sor ein Zeichen, das zu protokollieren. 

„Was man von der Polizei ausstehen muß. Und erst 
recht von der Zimmerwirtin! Jeden Tag schikaniert sie 
einen mit was Neuem, und alle nasenlang erhöht sie einem 
die Miete, und alles muß man sich gefallen lassen. Alles 
muß man sich allein besorgen, am hellen, lichten Tag, wo 
man doch schlafen sollte. Und wenn man was einkaufen 


239 



geht einen Hut oder eine Bluse oder Reizwäsche - man 
kann doch nicht in Flanell herumlaufen! dann begau¬ 
nern einen die Verkäufer. Jeder glaubt unsereins kann 
geneppt werden. Und woher kommt das, unser ganzer 
schlechter Ruf?" 

„Nun, woher, glauben Sie?" 

„Das kann ich Ihnen ganz genau angeben, Herr Ge¬ 
richtshof, und der Herr dort soll es auf sehr eiben. Unser 
ganzer schlechter Ruf kommt nur von den Fräuleins auf 
der Promenade, von diesen Nutten. Das sind solche Rotz¬ 
nasen, die nichts gelernt haben und nichts können und 
die glauben, wenn sie nachts ausgehen, dann sind sie schon 
Huren. Und sehen Sie: die gehn zu keiner Kontrolle, und 
von ihnen kommen dann die Krankheiten. Aber gerade 
diese Luder haben die meisten Kundschaften. Und wir 
müssen stundenlang herumjagen, bevor wir einen Freier 
erwischen. In der Nässe, in der Kälte - nein, die Straße 
ist einfach gräßlich. Das ist nicht wie im Salon, wo sie 
einem alles besorgen und wo man von hinten und vorn 
bedient wird." 

„Finden Sie's dort wirklich so schon?" fragt der Präsi¬ 
dent und macht sich eine Notiz. 

„Ach, das Puff ist das Schönste, was es gibt. Na, aber 
das ist vorbei. Und am Strich hat mich wenigstens niemand 
gekannt, und das mit der ,Galgentoni' hat aufgehört." 

Der Präsident stöbert in den Akten und fragt; „Für 
immer auf gehört?" 

„Nein, nicht für immer. Die Menschen sind ja so schlecht! 
Einmal sitzen wir in der ,Phimose', wo man frühmorgens 
die beste Kuttelflecksuppe gekriegt hat - ich war mit 
einem Kerl da, mit dem ich mich schon die ganze Nacht 
herumgeschleppt hatte, und ich hoffte, doch noch Handgeld 
zu machen. In dem Lokal waren ein paar Nutten, die noch 
niemanden gefunden hatten, und bei denen am Tisch saß 
die Stotterbetty, die mich noch von der ,Blauen Nudel' ge¬ 
kannt hat. Das Aas hat ganz genau gewußt, daß ich schon 
stundenlang mit dem Kerl herumzottle, und trotzdem 
macht sie verliebte Nasenlöcher auf ihn. Na, ich lasse mich 
doch nicht aus einem Geschäft schieben! Also hab ich sie 
aufs Klosett hinausgerufen und zu ihr gesagt: ,Das kannst 


240 



du doch nicht machen!' Da stottert sie: ,Der Kakaka-kar- 
toffelbauer interessiert mich ja gagagar nicht/ Kaum ha¬ 
ben wir uns wieder ins Lokal gesetzt hat das Weibsstück 
wieder angefangen. Jetzt wollte der Kerl wirklich mit ihr 
anbandeln, und da hab ich sie aufmerksam gemacht: 
,Wenn die Komödie nicht gleich aufhört, hau ich dir das 
Tischbein um die Ohren, daß dir die Zähne in Doppelreh 
hen aus dem Hintern marschieren, du dreckiger Abort/ 
Kaum hab ich das gesagt, denken Sie nur, ist die Person 
schon ordinär geworden. ,Gegegeh doch zu deine Kuku- 
kundschaften in der Todeszelle, gegegeh doch zu deinen 
Mördern!' ruft sie durchs ganze Lokal. Und wie die 
anderen fragen, was denn das heißen soll, da brüllt die 
Stotterbetty, dieses Mistvieh: /Wiwiwißt ihr denn nicht, 
daß das die Gagagalgentoni ist? Die wird geholt, wenn 
einer gegegehängt wird, damit er befriedigt aus dem 
Leben scheidet/ Alle haben gelacht, mir aber ist ganz 
schwarz vor den Augen geworden, so eine Wut hab ich 
gekriegt. Ich bin aufgesprungen und hab ihr in die Fresse 
geknallt 

Mehr und mehr hat sich die Toni in die Wut hinein¬ 
gelebt, die sie damals empfand, und nun haut sie auf den 
Gerichtstisch ein, als wäre er die Fresse der Stotterbetty. 
In weitem Bogen fallen die Aktenstücke auf den Boden. 
Das stört die Toni nicht in der Erzählung: 

„... daß der Stottersau gleich die Marmelade aus der 
Nase gekommen ist. Dann habe ich sie zwischen die Beine 
genommen und so hingehaut, daß die Rettungsgesellschaft 
sie hat abholen müssen. Das werden Sie ja ganz leicht.. 
sie zeigt auf den Boden, wo die Aktenstücke verstreut lie¬ 
gen, „... in den Akten finden. Seit dieser Zeit hütet sich 
die Stotterbetty, etwas von ,Galgentoni' zu erwähnen, auch 
wenn wir nächtelang im Cafe Melantrich auf dem Korridor 
miteinander streiten. Aber die Sache hat sich herumgespro¬ 
chen. Zuletzt war's mir auch schon egal, und wenn ich gut 
gelaunt war und mir einer drei Glas Schnaps zahlte oder 
zu mir ins Zimmer kam, so kriegte er die ganze Ge¬ 
schichte von mir erzählt, wie ich beim Prokupek in der 
Zelle war, mit allen intimen Einzelheiten, auch wie er 
mich..." 


16 Kisch VII 


241 



Hier unterbricht der Präsident: «Toni, wollen Sie mir 
noch eine Frage beantworten?" 

«Aber mit dem größten Vergnügen, Sie sind ja so ein 
freundliches gemütliches Huhn. Fragen Sie nur ruhig, was 
Sie interessiert." 

„Antonia Havlova, warum sind Sie damals zu dem Mör¬ 
der Prokupek gegangen?" 

Toni denkt nach. „Das weiß ich eigentlich selber nicht", 
antwortet sie schließlich. 

Da erhebt sich der Präsident und klingelt. Es wird dun¬ 
kel/nur ein transparenter Schlüssel leuchtet. Unter Orgel¬ 
klang und Glockengetön verwandelt sich die Gerichtsstube 
in ein Lokal mit runden Tischen, an denen Mädchen und 
Gäste sitzen. Wolken schweben darüber. 

Toni selbst ist wieder jung, im blauen Empirekleid, mit 
großen gefiederten Flügeln. Sie klatscht entzückt in die 
Hände. „Ach, wie fein, da bin ich ja wieder im Salon 
Koutzki." 

Alle Gäste freuen sich, die blaue Toni wiederzusehen, 
und die sehr dicke, sehr dekollettierte und sehr ge¬ 
schminkte Frau Koutzki bietet ihr eine Zigarette an. 

Und wer ist noch da? Der blonde Willy ist noch da. Er 
sitzt wie immer am Mitteltisch und hat seine knallgelben 
Handschuhe an und seine grün-weiße Krawatte und ruft: 
„Na, Liebling, Gott sei Dank, daß du wieder da bist." 

„Der blonde Willy!" flüstert Toni, die das alles gar nicht 
fassen kann. 

Geringschätzig rümpft der Himmelsassessor die Nase 
und äußert in dementsprechendem Ton: „Da haben Herr 
Präsident Ihrem Grundsatz wieder einmal Ehre gemacht: 
Jedem Menschen sein Himmelreich/ Den Geschmack 
dieser Person haben Herr Präsident jedenfalls tadellos ge¬ 
troffen." 

Der Präsident überhört die Ironie. „Glauben Sie wirk¬ 
lich, Herr Assessor?" fragt er. 

„Na, zweifellos", antwortet der, „Herr Präsident sind ge¬ 
radezu unfehlbar." 

Aber der Präsident will aus Tonis eigenem Mund hö¬ 
ren, ob sie nun glücklich sei. 

„So glücklich!" bringt sie nur hervor. 


242 



„Und hast du noch einen Wunsch, Toni?" 

„Ach ja, ich möchte so gern das Grammophon wieder 
hören." 

Daraufhin gibt der Präsident ein Zeichen. Das Grammo¬ 
phon beginnt das Lied „Komm, Karlinchen" zu spielen. 
Die blaue Toni lauscht verzückt. Dann wirft sie die Ziga¬ 
rette fort, packt den blonden Willy und tanzt mit ihm. 
Sie ist im Himmel. 



DER MORDVERSUCH 
UND DER MORD AN MEINEM ONKEL 

I 

In der Zeitungsnotiz über den Einbruchsdiebstahl im 
Juwelenladen des Herrn Rummel, die in meiner Kindheit 
so großen Eindruck auf mich machte, stand der Name des 
Kommissars, der durch das unorthographisch geschriebene 
Wort „Bezirk" die Identität des verhafteten Einbrechers 
feststellte. 

Nicht zufällig war damals der Name Olitsch in die Zei¬ 
tung gekommen, Olitsch liebte eine gute Publizität und 
haßte eine schlechte. Er ließ mich das schon am ersten Tag 
meiner Polizeireportertätigkeit wissen. An diesem Tag 
machte ich meine Antrittsvisite beim Chef der Kriminal¬ 
polizei, zu welchem Amt jener Held meiner Knabenzeit 
inzwischen aufgestiegen war. 

Olitsch war ein alter Mann von so winziger Statur, wie 
ich es mir beileibe nicht vorgestellt hätte, er trug eine 
goldene Brille und war so kurzsichtig, wie ich es mir bei¬ 
leibe nicht vorgestellt hätte. Auch sein Amtszimmer, von 
dem aus er die Geheimnisse der Unterwelt aufspürte, bot 
nichts Besonderes, nichts Kriminalistisches, nichts Geheim¬ 
nisvolles dar, es war ein Büro wie jedes andere. 

Nur hinter dem Spiegel steckte ein zusammengefaltetes, 
vergilbtes Zeitungsblatt, auf das ich neugierig hinschielte. 
Der alte Olitsch bemerkte meinen Blick, löste den Rei߬ 
nagel, mit dem das Blatt befestigt war, und reichte es mir. 

Es war ein Blatt aus dem sozialdemokratischen „Volks¬ 
recht" und stammte aus den Tagen des Mordes an der 
Juwelierin Gollerstepper, einer Affäre, die ich aus einem 
Lied des blinden Methodius und aus den Erzählungen des 
frommen Herrn Adalbert Betzek kannte. Wochenlang hatte 
man vergeblich die Spur der Täter gesucht, und wochen¬ 
lang wurde der Kriminalpolizei Unfähigkeit vorgeworfen. 


244 



Schon hieß es, Olitsch werde in den Ruhestand versetzt 
werden, als er plötzlich durch seine Glanzleistung in einem 
anderen Kriminalfall rehabilitiert wurde. In die Wechsel¬ 
stube Eduard Kischs in der Poritscher Straße kamen eines 
Freitags zur Abendstunde zwei Männer und ließen sich 
alte Schlicksche Silbermünzen, sogenannte „Joachimsthaler", 
vorlegen. Diese böhmischen Stammväter aller Taler und 
Dollars waren eine spezielle Ware meines Onkels Eduard. 

Während er einige Joachimsthaler auf den Ladentisch 
legte, sprangen die beiden Männer über das Ladenpult, 
einer schwang eine Axt, um sie auf den Köpf des Wechsel¬ 
stubenbesitzers niedersausen zu lassen und - im gleichen 
Augenblick tauchten einige versteckt gewesene Detektive 
mit erhobenen Revolvern auf und machten die Männer 
dingfest. 

Wenige Tage vorher hatte nämlich Olitsch durch die 
Festnahme eines lange gesuchten Verbrechers erfahren, 
daß dessen Komplicen die Wechselstube zu berauben be¬ 
absichtigten, und zwar am Freitag, an welchem Tage mein 
Onkel vorzeitig zu schließen pflegte. Daraufhin traf Olitsch 
Vorkehrungen, und seine Leute traten im Augenblick der 
Tat, absichtlich erst im Augenblick der Tat in Aktion, um 
die Räuber in flagranti zu überführen. 

So stand es im Polizeibericht, und tagelang bewunderte 
die Stadt den genialen Schachzug Olitschs. Bloß das sozial¬ 
demokratische „Volksrecht" gab sich nicht zufrieden. Wohl 
sei der Schachzug genial, jedoch in anderem Sinn, als der 
Öffentlichkeit weisgemacht werde. Die angeblichen Raub¬ 
mörder seien Olitschs Kreaturen, und für ihre Freilassung 
werde er schon sorgen. Nur um die öffentliche Aufmerk¬ 
samkeit von dem unaufgehellten Mord an Frau Goller¬ 
stepper abzulenken, habe Olitsch die Szene arrangiert 
„Das ist so wahr", schloß der Artikel, „wie es wahr ist, 
daß sich Herr Olitsch diesen Artikel nicht hinter den Spie¬ 
gel stecken wird." 

Ich reichte dem Chef der Kriminalpolizei, der noch im¬ 
mer den Reißnagel in der Hand hielt, die Zeitung zurück. 

„Sehen Sie: bis zum letzten Wort erlogen!" Mit diesen 
Worten steckte er den Artikel wieder sorgfältig hinter den 
Spiegel. 


245 



II 


Vier Jahre nach dieser meiner Installierung ins Repor¬ 
teramt traten abermals zwei Männer in Eduard Kischs 
Wechselstube ein. Diesmal aber konnte leider kein oppo¬ 
sitionelles Blatt einen Zweifel daran äußern, daß es sich 
um Raubmörder handelte, denn diesmal waren keine Poli¬ 
zeibeamten abwehr- und verhaftungsbereit im Laden ver¬ 
steckt, diesmal wurde mein Onkel wirklich erschlagen 
und sein Geschäft ausgeraubt, und diesmal verschwanden 
die Täter mit großer Beute. 

Unter den Reportern, die sich nach Entdeckung des Mor¬ 
des am Tatort einfanden, fehlte ich. 

Ich war an jenem Abend, einem Freitag, ins Städtische 
Asyl gegangen, um für die Sonntagsnummer darüber zu 
schreiben. In dünnen Strähnen rieselte ein Septemberregen 
auf die hernieder, die ohne Mantel und ohne Sohlen vor 
dem versperrten Obdach schlotterten. 

Als sich endlich das Haustor öffnete, öffnete es sich als 
Spalte und vorläufig nur denen, die ein Arbeitsbuch be¬ 
saßen. Nach einer Stunde fand die zweite Schicht Einlaß, 
die mit Heimatscheinen. Wer weder Arbeitsbuch noch Hei¬ 
matschein sein eigen nannte, mußte noch länger harren 
im Regen und vor allem in der Ungewißheit, ob man ihn 
aufnehmen werde. Aber schließlich ward auch an den letz¬ 
ten der Gnadenakt vollzogen, sofern die Untersuchung 
nach Läusen ein negatives Ergebnis hatte. 

Wir waren unter Dach, bekamen einen Teller warme 
Suppe, die mehr warm als Suppe war, saßen im Schlafsaal 
auf den „Kavalletts", den Feldbetten, spielten Karten oder 
erzählten, bis das Schlafsignal ertönte. Alle Gasflammen 
schrumpften gleichzeitig, wie vom Hauch eines unsicht¬ 
baren Wesens erstickt, auf das Volumen einer Haselnuß 
zusammen. Wir krochen unter die dunkelgraue Decke. 
Einige fingen gleich zu schnarchen an. 

Plötzlich der Ruf: „Streifung!" Durch die Tür kommt ein 
Polizeiinspektor mit zwei Mann, und zu Ehren ihres Ein¬ 
tritts entfalten sich, wie vom Hauch eines unsichtbaren 
Wesens angefacht, die Haselnüsse fächerförmig und leuch¬ 
tend. 


246 



Die Gestalten der drei Polizisten sind von Radmänteln 
aus schwarzem, nassem Wachstuch geweitet, auf denen sich 
die flackernden Gasflammen widerspiegeln. 

„Alles aufstehen! Papiere vorweisen!" 

Jedermann tritt, seinen Ausweis in der Hand, ans Fug¬ 
ende seines Bettes. Des Inspektors Schnurrbartspitzen be¬ 
wegen sich, als wären sie es, die die Eintragungen läsen 
und die Seiten der Arbeitsbücher umblätterten. In Heimat¬ 
scheinen gibt es wenig zu lesen und nichts umzublättem. 
Aber jemand, der nur einen Heimatschein besitzt, erlaubt 
dem Schnurrbart erst recht nicht, ruhig zwischen Oberlippe 
und Nasenwurzel zu verharren. 

„Zeigen Sie die Hände!" knurrt der Schnurrbart, und 
seine Spitzen scheinen zu dieser Handfläche oder zu jenem 
Handrücken etwas Mißbilligendes zu äußern. Sechs harte 
Augen prüfen die Schlafanzüge, als könnten sie an diesen 
dem Städtischen Asyl gehörigen Wäschestücken Spuren 
einer draußen verübten Ungesetzlichkeit entdecken. 

Ich Neuling denke, das ist wahrscheinlich immer so, je¬ 
den Abend, kaum daß die Obdachlosen unter Obdach sind, 
sich ausstrecken und die Augen schließen wollen, kommt 
die Polizei und sucht nach solchen, die gesucht sind. Ich be¬ 
schließe, diese allabendliche Razzia und die Sinnlosigkeit 
der Wäscheprüfung in meinem Artikel zu brandmarken. 

Ich ahne nicht, daß ein ganz anderer Stoff meiner Be¬ 
handlung harrt, ahne nicht, daß vor wenigen Stunden, nah 
vom Asyl, ein Raubmord verübt worden ist und die Polizei 
hier die Täter sucht! 

Von Feldbett zu Feldbett, von Arbeitsbuch zu Arbeits¬ 
buch, von Heimatschein zu Heimatschein, von Händepaar 
zu Händepaar schreitet der Inspektor und kommt zu mir. 

„Ihre Papiere." 

„Ich habe keine." 

„Gar keine?" 

Seine Schnurrbartspitzen sind von mehr Argwohn be¬ 
wegt als angesichts der anderen Asylisten. Zweifellos sind 
ihm die von früher her bekannt, wohl schon oft hat er über 
sie die Amtshandlung niedergehen lassen. Wo auch immer 
Geprüfte sich ducken - die Obrigkeit dringt ein, um sie 
von neuem zu prüfen. 


247 



Hier im Schlafsaal sind manche Greise, Veteranen der 
industriellen Reservearmee, und manche Krüppel, Inva¬ 
liden der industriellen Reservearmee. Hunger, Alkohol-und 
Obdachlosigkeit haben an den meisten das Ihre getan, 
einige sehen wie Leichen aus, die kein Geld haben, sich 
begraben zu lassen. Die Polizei, die im Asyl nach Hoch¬ 
wild pirscht, wird kaum Jagdbeute machen, wohl keinen 
Wechsel falscher finden, keinen Hoteldieb, keinen Defrau¬ 
danten, keinen Geldschrankknacker und - wenn sie gar 
danach jagen würde - keinen Raubmörder. Nein, nieman¬ 
dem ringsumher ist ein solches Verbrechen zuzutrauen. Da 
schon eher mir. 

„Wie heißen Sie?" 

„Kisch." 

Der Inspektor taumelt einen Schritt zurück, aber seine 
Schnurrbartspitzen taumeln diesmal nicht mit, steif stehen 
sie da, erstarrt. Die beiden Polizisten machen Miene, sich 
meiner zu bemächtigen. 

„Wie heißen ... wann sind ... ?" Der Inspektor beginnt 
einige Fragen an mich, ohne sie zu beenden. „Kommen Sie 
mit hinunter." 

Rechts ein Polizist, links ein Polizist, hinter uns der In¬ 
spektor, so durchschreiten wir den langen Schlafsaal. 

„Den haben sie", höre ich die Zimmergenossen sagen, 
ehe sich hinter unserer Eskorte die Tür schließt. 

In der Aufnahmekanzlei gebe ich an, wer ich bin, was 
ich hier will. Ich gebe es lächelnd an. Kein Gegenlächeln 
rufe ich hervor, unbewegt verharren die gezwirbelten 
Spitzen der Behörde. 

„Weshalb haben Sie sich als Handlungsgehilfe eintragen 
lassen?" 

„Weil ich nicht sagen wollte, daß ich Journalist bin." 

„Hm. Warum haben Sie angegeben. Sie seien aus Rei¬ 
chenberg, wenn Sie aus Prag sind?" 

„Weil man mich gefragt hätte, warum ich nicht zu Hause 
schlafe." 

Langsam, jedes Wort betonend und die Wirkung auf 
mein Gesicht beobachtend, den entscheidenden Namen an 
den Schluß setzend, stellt er die Frage: „Sind Sie verwandt 
mit Herrn Eduard Kisch?" 


248 



Wahrscheinlich, denke ich, kennt der Inspektor meinen 
Onkel Eduard, dessen Laden ja hier im Revier liegt, gleich 
wird sein Mißtrauen schwinden, wenn ich ihm sage, daß 
ich der Neffe des soliden Kaufmanns Eduard Kisch bin. 

„Und wann haben Sie Ihren Onkel zuletzt gesehen?" 

„Gestern oder vorgestern." 

„Wo ?" 

„In seinem Geschäft - in der Poritscher Straße." 

Wie eine angriffsbereite Schlange züngelt der Schnurr¬ 
bart des Inspektors. „Was haben Sie dort gemacht?" 

Jetzt wird mir das Verhör ungemütlich. „Herr Inspektor", 
sage ich, „alle Herren der Polizeidirektion kennen mich. 
Sie können sich über mich erkundigen." 

Er geht zum Telefon, verlangt die Kriminalpolizei. Ich 
schüttle den Kopf, denn zu dieser Stunde kann sich dort 
niemand melden, um acht Uhr abends ist der Dienst zu 
Ende. Nur im Präsidialbüro hält ein Beamter Nachtdienst, 
der Inspektor müßte also das Präsidialbüro anrufen. 

Seltsam - der Inspektor bekommt die Verbindung. Er 
spricht mit einem Kommissar, macht die Meldung: „Hier 
Städtisches Asyl... Mann ohne Papiere ... gibt sich für 
einen Journalisten Kisch aus .. . Wie? ... Bitte? . .. Jawohl, 
Egon Erwin, sagt er... " 

Pause. Der Schnurrbart verrät erstaunten Unmut. „Ja¬ 
wohl, Herr Kommissar, er steht neben mir." Sich zu mir 
wendend: „Sie sollen ans Telefon kommen." 

Ich: „Hallo, ah, Herr Kommissar Wasanek, noch so spät 
im Dienst? Ist denn was passiert? Zu dumm, daß ich nicht 
hinkommen kann." 

Im Schlafsaal, in den ich zurückkehre, sind die Gasflam¬ 
men wieder auf Haselnußgröße zusammengeschrumpft. 

Die Mörder meines Onkels hat man nicht gefunden, ob¬ 
wohl der Tatort reichliche Spuren aufwies. An alle Polizei¬ 
behörden des In- und Auslands wurden die Photos der 
Fingerabdrücke gesandt; Berlin telegrafierte die Antwort: 
„Abdrücke stammen von Einbrecher Rudolf Hauser aus 
Innsbruck." 

Nachforschungen ergaben, daß der Einbrecher Rudolf 
Hauser mit einem gewissen Karl Josef Hess aus Amstetten 
vor kurzem dem Zuchthaus entsprungen war. Wahrschein- 


249 



lieh hatten die beiden während ihrer Haft von einem Teil¬ 
nehmer des ersten, des mißglückten Überfalls auf Eduard 
Kisch erfahren, welche Chance dessen Wechselstube am 
Freitagabend biete, und hatten ihre Flucht auf dieses Ziel 
hin unternommen. 


III 

In den Umsturztagen von 1918 bereitete das neugeschaf¬ 
fene Volksheer die Besetzung der monarchistischen Stütz¬ 
punkte in Wien vor, darunter auch des k.u.k. Militärkom¬ 
mandos. Die neu in die Maschinengewehrgruppe Einge¬ 
teilten standen in der Bataillonskanzlei, ihre Personalien 
wurden auf genommen, und jeder bekam eine Anweisung 
auf Stahlhelm und Ledergamaschen. Wer seinen Schein 
hatte, wartete auf die anderen, denn alle sollten gemein¬ 
sam in das Monturmagazin hinübergehen. 

Eben hatte ich den Schein für „Weigend, Alois" unter¬ 
schrieben, dem Soldaten dieses Namens gereicht und 
wandte mich dem nächsten zu. Weigend las meine Unter¬ 
schrift und fügte wie für sich hinzu: „Eduard Kisch." 

Schreibend fragte ich ihn: „Kennst du einen Eduard 
Kisch?" 

„Hab mal einen gekannt, das ist schon lang her, das 
war in Prag..." 

„Den Wechselstubenbesitzer?" sagte ich; „der ist tot." 

Weigend, ein untersetzter Mann, verlor jäh alle Gesichts¬ 
farbe. „Nein, nein, kein Wechselstubenbesitzer", stotterte 
er, „ich weiß gar nicht, was er war." 

Ich tat uninteressiert, unterschrieb den nächsten Schein. 
Weigend trat auf mich zu und sagte: „Der Kisch, den ich 
gekannt hab, das war ein Schlosser. Jetzt hab ich mich er¬ 
innert, daß er ein Schlosser war. Er war nicht aus Prag, 
ich hab mich geirrt, er war aus Ternitz. In Ternitz hab ich 
mit ihm gearbeitet." 

Ich nickte, schrieb weiter, bis alle fertig waren und die 
Kanzlei verließen. Dann ging ich ins Monturdepot hinüber, 
um mit Weigend zu sprechen. Ich sah ihn nicht und fragte 
nach ihm. Der Gewehrmeister sagte: „Einer ist zum Tor 
gegangen, weil seine Frau dort auf ihn wartet." 


250 



Bei der Torwache erkundigte ich mich, ob jemand die 
Kaserne verlassen habe, 

„Ja, ein Weigend, Alois, aber der kommt gleich zurück, 
er hat seinen Fassungsschein für die Ledergamaschen als 
Pfand dagelassen.* 

Wie triftig die Gründe für den angeblichen Weigend 
waren, auf neue Ledergamaschen zu verzichten und aus 
der Kaserne für immer zu verschwinden, konnte der Wacht¬ 
posten nicht wissen. 

In der Stammrolle waren alle Adressen der Soldaten ver¬ 
zeichnet. Weigend hatte angegeben: Neubaugürtel 72. Ich 
schickte jemanden hin, um ihn zu suchen. Ein Weigend war 
im Haus Neubaugürtel 72 unbekannt. 

Weitere Nachforschungen unterließ ich. Die Kischs sind 
kein sizilianisches Bauerngeschlecht, und keine Tradition 
verpflichtet mich, Blutrache zu üben. 



MAGDALENENHEIM 


An eine Reportage, die ich in meiner Jugend machte 
oder, besser gesagt, zu machen versuchte, wurde ich dreißig 
Jahre später auf höchst kuriose Weise erinnert. 

Im Jahre 1933 gründeten die deutschen Schriftsteller, die 
ihre den Nazis zur Beute gewordene Heimat verlassen 
hatten, in Paris ein kulturelles Zentrum der antifaschisti¬ 
schen Emigration, den Schützverband Deutscher Schrift¬ 
steller. An jedem Montag versammelten sich im Gebäude 
der Societe de 1'Encouragement de l'Industrie mehrere 
hundert deutsche Flüchtlinge, um Vorträge und Vorlesun¬ 
gen zu hören. Ausstellungen der in Nazideutschland ver¬ 
botenen Kunst und Theater- und Kabarettvorstellungen auf 
großen Pariser Bühnen wurden veranstaltet, eine vieltau¬ 
sendbändige „Bibliothek des verbrannten Buches" und der 
Heinrich-Heine-Preis geschaffen, der jährlich für ein in der 
Emigration geschriebenes Erstlingswerk verliehen wurde. 
Eine Zeitschrift „Der Schriftsteller", äußerlich dem gleich¬ 
namigen Organ der nationalsozialistischen Reichsschrift- 
tumskammer nachgeahmt, ging per Post an alle in Deutsch¬ 
land lebenden Schriftsteller, die teils anonym und zustim¬ 
mend, teils nichtanonym und ostentativ schimpfend, aber 
immer aufschlußreich den Empfang bestätigten. 

Die Redaktion dieser Zeitschrift verfolgte genau die Lite¬ 
raturrubriken der Nazipresse - keine ergiebige Arbeit, 
denn in der Nazipresse spielte alles andere eine beträcht¬ 
lichere Rolle als die Literatur. Aber plötzlich schien sich 
eine Schwenkung zur energischen Literaturförderung vor¬ 
zubereiten: Die Stadt Hamburg schrieb einen Preis von 
tausend Mark für diejenige Kurzgeschichte aus, „die den 
bodenständigen Humor und Witz der deutschen Wasser¬ 
kante am besten zum Ausdruck bringt". Bisher waren fünf¬ 
zig oder hundert Mark das Maximum gewesen - tausend 
Mark für eine Kurzgeschichte war für Deutschland eine 
erstaunlich hohe Summe. 


252 



Einige Wochen später las man,, daß die gekrönte Ge¬ 
schichte den Titel „Magdalenenheim" trage; der Preisträger 
war der Humorist des „Hamburger Fremdenblatts" Hanns 
ut Hamm. 

An sich ist ein Magdalenenheim, eine Anstalt zur Besse¬ 
rung gefallener Mädchen, kaum eine Quelle für boden¬ 
ständigen Humor und Witz, am allerwenigsten aber für 
die Nazis, deren Kulturprogramm ganz auf dem Glauben 
an die Wunderwirkung solcher Heime fußt, Umschulungs¬ 
lager, Erziehungslager, Konzentrationslager. Wie kann ein 
Heim wenn auch gefallener, so doch deutscher Mädchen 
Gegenstand einer Satire sein? 

Mir hatte allerdings einmal, durch das Zusammentreffen 
von Umständen, ein solches Heim seine komische Seite 
enthüllt, aber meine Schilderung dieses Zusammentreffens 
von Umständen trug mir keine Preiskrönung ein. 

Es-war so gewesen, daß ich das Prager Heim für ge¬ 
fallene Mädchen anrief und die Oberin fragte, ob ich die 
Anstalt besichtigen könne, um einen Artikel darüber zu 
schreiben. 

Ein Schreckensschrei war die Antwort: „Einen Artikel? 
Sagten Sie: einen Artikel?" 

Ich konnte der Oberin nur bestätigen, daß sie richtig 
gehört habe. 

„Um Gottes willen!" stöhnte es drüben, „hier ist ja nichts 
passiert! Warum wollen Sie denn einen Artikel über uns 
schreiben?" 

Ich beruhigte die Oberin, ich wolle bloß die Einrich¬ 
tungen der Anstalt und die Erziehungsarbeit schildern, 
ganz allgemein, ohne jeden äußeren Anlaß. 

„Ach so!" Ein Quaderstein fiel vom Herzen der Oberin, 
darf aber keine Besuchserlaubnis erteilen, ich muß 
erst Ihre Exzellenz die Frau Präsidentin fragen. Morgen 
nachmittag werde ich Ihnen Bescheid geben." 

Morgen nachmittag erfuhr ich nur, daß für übermorgen 
eine Ausschuß-Sitzung anberaumt sei, um über meine Be¬ 
suchserlaubnis zu beraten. Überübermorgen wurde ich da¬ 
von in Kenntnis gesetzt, daß ich überüberübermorgen um 
elf Uhr vormittags in der Anstalt erscheinen dürfe. 

Pünktlich war ich am Tor, das vom Kaiserbart eines Por- 


253 



tiers ausgefüllt war, und wollte eintreten. Von oben herab 
fragte mich der Kaiserbart: „Haben Sie einen Passier¬ 
schein?" 

Woraufhin ich erwiderte, herbestellt zu sein. 

„Sind Sie etwa der Herr von der Zeitung?" 

Eben dieser war ich, was ihm zu einem nicht verhohlenen 
Staunen Anlaß gab. „Ihretwegen steh ich ja hier", sagte 
er, „und auch die Damen erwarten Sie schon." 

Unter den Damen verstand er keineswegs die gefallenen 
Mädchen, denn weder von Mädchen noch von gefallen 
konnte die Rede sein bei den Damen, die mich erwarteten, 
der Ausschuß der Anstalt, Es waren Sprossinnen von Fa¬ 
milien, deren Adel bis zum böhmischen Amazonenkrieg 
zurückreichte. Großgestaltig, großbusig, großhändig und 
großfüßig erhoben sie sich vor mir, und als wäre ihnen so¬ 
viel Größe nicht groß genug, hatten sie steile Straußen¬ 
federn, sogenannte Pleureusen auf ihre Köpfe gepflanzt. 

Im Kreise dieser stattlichen Männlichkeit stand ein ver¬ 
legenes und verschüchtertes Wesen, gehüllt in ein langes 
schwarzes Kleid, und war der Seelsorger der Anstalt. En 
profil schien er dick, denn er trug einen Bauch vor dem 
Bauche, en face aber mußte man ihn als mager bezeichnen, 
weil seine Schultern und sein Körper schmal waren. Dieser 
bauchig-magere Priester stellte sich mir mit einer Art 
Knicks vor und mich hernach Ihrer Exzellenz der Frau 
Präsidentin, den anderen Vorstandsdamen und der Frau 
Oberin, die durch mich telefonisch so erschreckt, aber auch 
eines Quadersteines entbunden worden war. 

Wir nahmen an einem runden Tisch Platz. Zum Behufe 
meiner Begrüßung erhob sich der Pater von dem Sitz, den 
er eben eingenommen, legte ein beängstigend umfang¬ 
reiches Manuskript vor sich hin und begann eine An¬ 
sprache, für mich geschrieben, an mich gerichtet: „Ver¬ 
ehrter Herr Redakteur, lassen Sie mich Ihnen im Namen 
unserer Anstalt sagen, wie erfreulich wir es finden, daß ein 
Vertreter der öffentlichen Meinung den Ernst und die Gott¬ 
gefälligkeit unserer moralischen Betätigung erfaßt hat" 
(hier nickten sich die Pleureusen Anerkennung zu) „und 
über unsere Anstalt einen Aufsatz in die Zeitung setzen 
will, was der Ausschuß in der satzungsmäßig einberufenen 


254 



Sitzung vom 22. Februar dieses Jahres einstimmig bewil¬ 
ligt hat. Vor der Besichtigung will ich Sie, verehrter Herr 
Redakteur, über die Ziele und Zwecke unseres Instituts in 
kurzen Worten unterrichten." 

Die Worte mögen wirklich kurz gewesen sein, die Rede 
aber war lang. Halb war sie eindringliche Fastenpredigt, 
halb belehrender Vortrag. Sie begann mit den Begriffen 
der Versuchung und Verführung. Mitnichten etwa in ab¬ 
schreckender Gestalt - also ward ich belehrt - nahe sich 
das Laster dem Erdenbürger, kein Pferdefuß und keine 
Hörner und kein Geruch von Pech und Schwefel verraten 
den Sendboten Luzifers. Sondern im Gegenteil. In gefäl¬ 
liger Gestalt, schmeichelnd und gleisnerisch trete das Laster 
auf seine Opfer zu, um sie in seine Fallstricke zu locken. 

Nachdem der Seelsorger mit lauter Stimme, als rufe er 
in ein Kirchenschiff, mir diese Enthüllung gemacht, sah er 
mich groß an. Sein Blick fragte: Hättest du solches für 
möglich gehalten? 

Bislang hatte ich noch nie über die Methoden des Lasters 
nachgedacht und mir demnach auch nicht vorgestellt, daß es 
durch Hörner und Teufelsschwanz erkennbar und durch 
Höllengestank ruchbar gemacht sei. Weil ich jedoch den 
Blick des pausierenden Sprechers so antwortheischend auf 
mich gerichtet sah, beantwortete ich ihn durch ein ungläu¬ 
biges Kopfschütteln: Ist das auch wirklich wahr, was hier 
über die Perfidie des Lasters berichtet wird? 

Doch, es mußte wahr sein, denn alle Pleureusen rings¬ 
umher nickten Bestätigung, und so ließ ich langsam jeden 
Zweifel aus meiner Miene schwinden. 

Befriedigt nahm der Seelsorger seine Rede wieder auf: 
„Aber diese gefällige Gestalt des Lasters ist nichts als Ver¬ 
stellung, nichts als Verkleidung, nichts als Maske. Wehe 
den armen Opfern, wehe vor allem den jungen Mädchen, 
die sich willig davon täuschen lassen und sich hingeben .. 

Hier erschraken alle Hörerinnen, aber zum Glück meinte 
der Redner nur, daß sie sich hingeben „... der Versuchung. 
Wehe ihnen", rief er aus, „dreimal wehe! Denn saget an, 
was ist ihnen zum Lohne? Es ist ihnen zum Lohne nur 
Verachtung, und diese Verachtung ist vollauf berechtigt; 
denn sie wollten der Armut entgehen, die doch wahrhaft 


255 



keine Schande ist, und sie wollten der Arbeit im Schweife 
ihres Angesichts entgehen, die in der Heiligen Schrift an¬ 
befohlen ward uns allen." 

An dieser Stelle nickte der Redner sich selbst die Be¬ 
stätigung zu, und der weibliche Uradel nickte im Schweiße 
seines Angesichts. 

Weiter floß der Rede Strom: Es sei das eitle Streben, 
welches diese Mädchen hinführe zu dem Bösen. Statt sich 
als Dienstmädchen oder Fabrikarbeiterinnen bei ihren Mit- 
menschen Ansehen zu erwerben, ziehen sie es vor, sich 
der Schwelgerei und Wollust zu ergeben; statt das Ehren¬ 
kleid der Not mit Stolz zu tragen, schmücken sie sich lie¬ 
ber mit Flitter und Tand. Dafür bleiben ihnen die Ent¬ 
täuschungen auch nicht erspart, „bittere Enttäuschungen, 
vornehmlich im Alterl". 

Also, ich war starr. Wer hätte das gedacht? Weil aber 
die Pleureusen abermals bekräftigend nickten, mußte ich 
das wohl oder übel glauben. 

„Noch berechtigter jedoch als die Verachtung für die 
gefallenen Mädchen ist die Verachtung, die die Versucher 
verdienen. Wer aber ist da gemeint?" 

Mein Blick gab zu verstehen, daß ich nicht wisse, wer 
da gemeint sei. 

„Gemeint sind jene verworfenen Männer, die sich nur 
um des Vergnügens willen mit Mädchen einlassen, ohne 
die Absicht, diese Mädchen auch zu ehelichen." 

Diesmal war ich es, der durch lebhaftes Nicken sein vol¬ 
les Einverständnis mit der Verdammung derartiger Män¬ 
ner kundtat. Zum Trost horte ich nun, daß die Unsittlich¬ 
keit ihren Gegner gefunden habe: „Unsere Anstalt erhebt 
sich" (Redners Stimme erhob sich) „als ein Schanzgraben" 
(Redners Stimme erhob sich mehr), „als ein Bollwerk" 
(Redners Stimme erhob sich noch mehr), „als eine Bastion 
gegen die Verderbnis der heutigen Welt. Freilich" - hier 
sank Redners Stimme von der Höhe der Schanzgräben, der 
Bollwerke und der Bastionen auf den Boden der schlichten 
Tatsachen herab -, „freilich haben wir den Sieg noch nicht 
errungen. Die Schuld liegt nicht bei uns, die Schuld liegt 
bei den Mädchen selbst. Die wenigsten nur kommen aus 
Reue und freiwillig in unsere Mauern: Die Polizei und die 


256 



Jugendgerichte müssen sie mit Gewalt herbringen - höret 
an, mit Gewalt an die Stätte ihrer Rettung! Manche, die 
sich selbst zur Aufnahme melden, geben zwar an, sie täten 
es aus bußfertigem Herzen, aber die Wahrheit ist eine 
andere: Nur um eine Zeitlang ohne Nahrungssorgen zu 
leben oder weil sie krank sind, suchen sie den Weg in 
unser Heim. Einige kommen auch, weil sie fälschlicher¬ 
weise glauben, bei uns vor der Polizei sicher zu sein. Was 
Wunder, daß sie sich nach ihrer Entlassung wieder dem 
eingangs geschilderten Laster in die Arme werfen - was 
sage ich da: ,in die Arme', ich sollte besser sagen, in die 
Fänge, in die Klauen, in die Teufelskrallen. 

Nimmermehr aber stehet uns an, durch solche Mi߬ 
erfolge uns ablenken zu lassen vom Wege der Versitt- 
lichung, denn der Herr hat sich erbarmt der Büßerin aus 
Magdala und sie hinangeführet die Stufen der Heiligkeit. 

Wir wollen das gleiche tun, das der Herr getan, und 
unser Leitspruch lautet: ora et labora. Gebieterisch voran 
steht ,ora'. Es wird gebetet zur Morgenstunde und zur 
Mittagsstunde, es wird gebetet zur Vesperstunde und zur 
Abendstunde, und es wird gebetet während der Arbeit, 
zu der unsere Schützlinge unerbittlich angehalten werden. 
Keine mißverständliche Milde waltet in unserem Haus der 
Buße, wir strafen mit schärfsten Strafen, denn also stehet 
es geschrieben: Wer seine Kinder liebet, der züchtiget sie. 
So erziehen wir denn mit Strenge zu Gebet und Arbeit, zu 
jener Arbeit, deren Erzeugnisse wir verkaufen zu frommen 
kirchlichen Zwecken. Amen." 

Damit war der Seelsorger zu Ende und sah sich im 
Kreise um, der ihm aus vollen Pleureusen Beifall spendete. 
Dann heftete er seine Augen auf mich. Ich tat alles, um 
ihn feststellen zu lassen, daß ich über seine Enthüllungen 
tief erschüttert sei. 

Ihre Exzellenz die Frau Präsidentin ergriff jetzt das 
Wort, um zu verkünden, daß wir nun einen Rundgang 
durch die Arbeitsräume, die Wohnräume und die Kapelle 
unternehmen wollten. „Auch eine Reihe weiblicher Hand¬ 
arbeiten haben wir eigens für unseren verehrten Gast zu 
einer Ausstellung vereinigt." Der verehrte Gast war nie¬ 
mand anderer als ich. Ihre Exzellenz die Frau Präsidentin 


17 Kisch VII 


257 



sprach die Hoffnung aus, der verehrte Gast werde an die¬ 
sen Häkel-, Strick- und Stickereiarbeiten die Energie des 
Aufsichtspersonals erkennen und zu rühmen wissen. 

„Gewiß, gewiß*, versprach ich. 

Mit diesem meinem Schlußwort war die Empfangszere¬ 
monie programmgemäß beendet, und wir schritten, ein 
aus Ausschußdamen, einem Seelsorger und mir bestehen¬ 
der Zug, durch einen langen Korridor. Unterwegs flüsterte 
mir der Pater zu, es sei heute zum erstenmal gewesen, daß 
er vor der Presse gesprochen habe. Er übergab mir das 
Manuskript und erläuterte mir, wie wichtig es sei, die 
Rede in extenso zu veröffentlichen und darauf zu achten, 
daß sein Name richtig gedruckt werde. 

Bei unserem Eintritt in den Arbeitsraum erhoben sich 
etwa dreißig Mädchen sittsam von ihren Sitzen, indem sie 
in gedehntem Chorus einen frommen Gruß sprachen. „In 
Ewigkeit, amen", antworteten wir. 

„Hier sehen Sie zunächst..begann Ihre Exzellenz die 
Frau Präsidentin mir zu erklären, als mich die Fanny Mel¬ 
ker erkannte. 

„Servus, Egon", rief sie. 

„Der Egon ist da", tönte es jetzt von allen Seiten, und 
Mädchen kamen auf mich zugelaufen. Die Handschuh¬ 
betty aus dem Cafe Montmartre umarmte mich und küßte 
mich in der Freude des Wiedersehens. Über sie hinweg 
streckte mir die lange Mizzi Mohnkuchen ihre Handfläche 
hin. „Gib mir eine Zigarette, wir kriegen hier keine." - 
„Was macht mein Feuerwerker?" rief die Artillerieliesel, 
„ist der Schweinekerl schon ausgeheilt?" Eine andere gab 
mir den Auftrag: „Grüß mir die Bengels in der Bar Bra¬ 
silia und sag ihnen, in längstens vierzehn Tagen ist Hansi 
Waschblau wieder bei ihnen." 

So peinlich ich von diesen Begrüßungen berührt war, 
die Ausschußdamen waren es weit mehr, sie hätten direkt 
in einem Heim für aus den Wolken gefallene Mädchen 
Aufnahme finden können. 

Die erste, die Worte fand, war Ihre Exzellenz die Frau 
Präsidentin. In einem Ton, in dem grönländische Kälte, 
gaurisankarhohe Empörung und tief seetiefe Verachtung 
lagen, wandte sie sich an mich: „Sie brauchen sich nicht 


258 



weiter zu bemühen, mein Herr, so ähnlich ist es in allen 
unseren Räumen/ 

Damit war ich entlassen, aber ich schrieb alles nieder, 
wie ich es erlebt. Mein Bericht machte böses Blut, böses 
blaues Blut Einige Adelsfamilien bestellten unsere Zei¬ 
tung ab. Anderen aber gefiel der Spaß, und ein Berliner 
Verlag nahm ihn in eine Anthologie des Welthumors auf. 

Dieser Besuch im Prager Magdalenenheim war es, an 
den mich ein Menschenalter später der in allen deutschen 
Zeitungen veröffentlichte Titel der preisgekrönten Ham¬ 
burger Kurzgeschichte erinnerte. Einen Augenblick lang 
dachte ich, Hanns ut Hamms Schöpfung könnte in irgend¬ 
einer Weise von meinem Erlebnis beeinflußt sein, aber so¬ 
fort wies ich den Gedanken zurück, denn was auch immer 
man aus meiner seinerzeitigen Schilderung herauslesen 
konnte, keinesfalls den bodenständigen Humor und Witz 
der deutschen Wasserkante. 

Nachdem dem Preisträger im Festsaal des Hamburger 
Senats das Diplom der Nazi-Jury und die tausend Mark 
mit vielen schönen Reden überreicht und die Meisterhumo¬ 
reske unter dröhnender Heiterkeit verlesen worden war, 
erschien „diese köstliche, an Fritz Reuter erinnernde und 
noch etwas derbere Probe unverfälschtesten Volkshumors 
von der Wasserkante" in den Zeitungen Hitlerdeutschlands. 

Freunde, ich traute meinen Augen nicht. Es war wörtlich 
mein Prager Magdalenenheim. Hanns ut Hamm hatte es 
nur nach Hamburg und ins Plattdeutsche verlegt und eine 
kleine, allerdings effektvolle Änderung meines Textes vor¬ 
genommen, statt mit „Egon" läßt er sich nämlich von den 
gefallenen Engeln mit „Hanns" begrüßen. 

Ich wollte diese meine Preiskrönung durch die Nazis in 
unserer Zeitschrift „Schriftsteller" den in Deutschland ver¬ 
bliebenen Kollegen zum Nachdenken empfehlen. Aber das 
„Schwarze Korps", Organ der SS, kam mir mit der Ent¬ 
hüllung zuvor. Es hatte die Quelle entdeckt und tobte. 
Beileibe nicht die Tatsache des literarischen Diebstahls war 
es, was das Blut des „Schwarzen Korps" am 6. Mai 1939 
in Wallung brachte, sondern die „schamlose Einschmug- 
gelung von typisch volksfremden Gedankengängen in das 
nationalsozialistische Volks- und Brauchtum". 


259 



Die Vorstellung, daß sich nationalsozialistische Führer 
feierlich versammeln, „um das Produkt eines Asphaltlitera¬ 
ten zu krönen, dessen Bücher mit Recht schon auf unserem 
ersten Scheiterhaufen verbrannt wurden", erfüllte das Blatt 
mit dem eingestandenen Gefühl tiefster Beschämung. Es 
verlangte, daß der neue Verfasser meines alten Berichts 
sofort verhaftet werde, „damit Hanns ut Hamm ein iür 
allemal erfährt, was es kostet, wenn man in Egon Erwin 
Kischs ausgelatschte Stiefel schlüpft und beginnt, auf platt¬ 
deutsch zu jüdeln ... " 

Nach diesem Ergebnis des Preisausschreibens sind die 
Bemühungen um Schaffung einer Naziliteratur wieder auf¬ 
gegeben worden. 



EIN MÄDCHEN, DAS DES MÖRDERS HARRT 

„Aber", wandte jemand ein, als wir eines Abends von 
1913 über kriminelle Begebenheiten sprachen, „wenn es 
wahr ist, dag die Verbrecher dumm sind, wie kommt es 
dann, dag so viele Verbrechen gelingen?" 

„Weil ihre Opfer noch dümmer sind." 

Zustimmend nickte die Frau meines Verlegers und 
fragte: „Sie kennen doch mein Stubenmädchen?" 

„Die alte Klara?" 

„Die alte Klara. Neulich hat sie mir ihren Liebesroman 
gebeichtet: In ihrer Jugend war sie Kindermädchen in 
Hannover. Die Familie, bei der sie diente, fuhr zum Som¬ 
meraufenthalt nach Vöslau bei Wien. Dort hat die Klara 
einen Mann kennengelernt und sich mit ihm verlobt. Sie 
fuhr nach Hannover zurück, um ihre Ersparnisse zu be¬ 
heben und in Wien zu heiraten. Ihr Bräutigam nannte sich 
Ingenieur Siegel und deutete an, dag er in Wirklichkeit 
ein Fürst Wipolinski sei." 

„Nicht Winipolski?" fragte ich. 

„Ja, Winipolski, ganz recht. Sie kennen ihn? Wer ist 
dieser Fürst Winipolski? Wenn Sie den Mann kennen, ist 
die Sache vielleicht doch anders. Mir schien es unglaub¬ 
haft, dag der Zar ihn von Mördern verfolgen lasse. Ich 
war überzeugt, die Klara sei einem Heiratsschwindler in 
die Hände geraten." 

„Wie ging denn die Sache weiter?" 

„Sie fuhr nach Wien. Ihre Ankunft hatte sie ihm an¬ 
gekündigt, aber er war nicht an der Bahn. Sie ging in ein 
Hotel, das er ihr angegeben. Dort war er auch nicht. Auf 
dem Postamt erfuhr sie, dag ihre letzten Briefe nicht 
behoben waren. So wugte sie, dag ihr Verlobter verhin¬ 
dert war, entweder durch Krankheit oder durch eine wich¬ 
tige Geschäftsreise. Ein paar Tage wartete sie im Hotel, 
dann kehrte sie nach Hannover zurück. Seither wartet sie, 
dag er kommen wird und sie heiraten, wie er ihr geschrie- 


261 



ben. In einer Schatulle hat sie seine Briefe aufbewahrt 
mitsamt dem Verlobungsring - ihr einziges Heiligtum." 

„Könnte ich die Briefe sehen?" 

„Die Klara wird sie sicherlich nicht zeigen wollen." 

„Sagen Sie ihr doch, ein Graphologe könnte aus der 
Handschrift feststellen, ob der Schreiber noch lebt, ob er 
wiederkommen wird." 

„Warum interessiert Sie die Sache so?" 

„Ich werde es Ihnen erzählen, wenn ich die Briefe ge¬ 
sehen habe." 

So lud mich die Frau meines Verlegers für einen Sonn¬ 
tag ein, an dem Klara Ausgang hatte, und ich nahm Ein¬ 
sicht in ihren Schatz. 

Er bestand aus sechs kurzen Billetts aus der Zeit vom 
Juli bis Dezember 1883, aus zwei gepreßten Rosen und 
einem goldenen Ring mit einem großen weißen Saphir. 
Diese Unterpfände plus einem oder zwei Gesprächen hat¬ 
ten genügt, um Klara drei Jahrzehnte lang in Glaube, 
Liebe, Hoffnung des Verlobten harren zu lassen. Der 
brauchte wahrlich nicht mehr zu tun, um sich ihrer zu ver¬ 
sichern, und er hätte auch kaum Zeit gehabt, mehr zu 
tun. 

Denn er, der mit „Hermann Siegel, Ingenieur" unter¬ 
zeichnet, war, wie ich sofort wußte, als der Name „Fürst 
Winipolski" fiel, kein anderer als der Dienstmädchenmör¬ 
der Hugo Schenk. Und in jener Zeit, als er das junge 
hannoveranische Kindermädchen kennenlernte und lieben 
lehrte, übte er eine Tätigkeit aus, so bestialisch, daß noch 
Jahre später dieser Alpdruck in den Schlafkammern der 
Dienstmädchen lastete. 

Aus alten Zeitungsberichten über seinen Prozeß konnte 
ich feststellen, was der Fürst ihres Herzens während der 
Verlobungszeit getrieben, wann und wieso es kam, daß 
er mit Klara anbandelte, genauer wohl, als sie selbst es 
weiß. 

Weshalb war er in Vöslau? Kurz vorher hatte Hugo 
Schenk mit der böhmischen Dienstmagd Josefine Timal 
und seinem erprobten Mordkomplizen Karl Schlossareck 
einen Ausflug nach Weißkirchen zur Schlucht „Gevatter¬ 
loch" gemacht Im Walde ließen sie sich nieder und Schlos- 


262 



sareck ging abseits. Als er mit einem großen Stein zurück¬ 
kam, lag die Timal in derangierter Kleidung auf dem Bo¬ 
den. Schlossareck fragte Schenk: «Warum hast du das ge¬ 
tan?" Schenk erwiderte: „Sie hat es verlangt" - „Was?" 
fragte Josefine, und das war ihr letztes Wort, denn in die¬ 
sem Augenblick knebelte Schenk das Mädchen, mit dem 
er wenige Minuten vorher zärtlich gewesen, und Schlossa¬ 
reck fesselte ihr Arme und Beine. Gemeinsam lösten 
Schenk und Schlossareck die Schmuckstücke von Arm, Fin¬ 
gern, Ohren und Hals des Mädchens und nahmen das 
Sparkassenbuch, das sie in der Bluse verwahrt hatte, an 
sich. Dann banden sie ihr den Stein um den Leib und 
warfen sie lebend die Böschung hinab in das Wasser des 
Gevatterlochs. „Wie fuchtig sie uns ang'schaut hat", sagte 
Schlossareck, sonst bloß gefühlloser Gehilfe, zu seinem 
Meister, „die Augen werd ich mein Lebtag nicht verges¬ 
sen." 

Die Tat fällt in jene Epoche des Schenkschen Schaffens, 
in der er sich zur Erkenntnis durchgerungen hatte, ein 
Opfer dürfe nicht bloß beraubt, sondern müsse auch getö¬ 
tet werden, und ebenso alle Leute, die einen Anhaltspunkt 
zur Aufhellung der Tat geben könnten. Im gegebenen Fall 
war die Tante der ermordeten Josefine, Fräulein Katharina 
Timal in Budweis, aus der Welt zu schaffen, weil sie nach 
dem Verbleib ihrer Nichte forschen konnte. Außerdem 
hatte auch Katharina Geld. 

Ingenieur Siegel, recte Schenk, entschloß sich, ihr zu 
schreiben, daß er Josefine geheiratet habe, und lud die Tante 
ein, zu ihnen auf ihr Landgut bei Pöchlarn zu übersiedeln. 
Da er die Adresse von Tante Katharina nicht wußte, fuhr 
er nach Vöslau, um die Schwester der Josefine danach zu 
fragen. 

Das war rasch erledigt, und es blieb ihm noch Zeit, 
das hannoveranische Kindermädchen Klara auf der Straße 
anzusprechen, ihr ewige Liebe zu schwören, sie um ihre 
Hand zu bitten, das Jawort zu erhalten und ihr sein Le¬ 
bensgeheimnis zu enthüllen, daß er vom Zaren verfolgt 
werde. Ferner erkundete er noch die Höhe ihrer Erspar¬ 
nisse, besprach den Termin der Hochzeit und trug ihr 
strengstes Stillschweigen auf, ohne daß diese Überfülle von 


263 





Erklärungen und Verpflichtungen dem jungen Mädchen 
aus den achtziger Jahren irgendwie auffiel. 

Katharina Timal aus Budweis kam, der vermeintlichen 
Einladung der „jungverheirateten" Nichte Folge leistend, 
mit Hab und Gut am 21. Juli in Wien an. Ihr neuer Neffe 
Hermann Siegel erwartete sie und fuhr mit ihr nach 
Krumm-Nußbaum. Abends gingen sie dem nicht vorhande¬ 
nen Landgut zu, als Schlossareck am Donauufer an sie 
herantrat. „Brauchen Sie einen Fährmann?" Hugo Schenk 
bejahte - das verabredete Zeidien und im gleichen 
Augenblick fiel Schlossareck über Katharina Timal her, um 
sie zu erwürgen. Da sie sich loszureißen versuchte, schnitt 
ihr Hugo Schenk mit einem Schlachtmesser Hals und Kehle 
durch. Dann nahmen sie der Sterbenden Pretiosen und ein 
auf zwölfhundert Gulden lautendes Sparkassenbuch ab, 
banden ihr einen Stein um den Leib und warfen sie in die 
Donau. Tags darauf behob Hugo Schenk in Wien die Spar¬ 
einlage und machte mit Emilie Höchstmann, einem Mäd¬ 
chen, das er wirklich zu lieben schien, eine Landpartie 
nach Melk, wo sich, um in seinem Stil zu sprechen, ihre 
Beziehungen nach seinem Wunsch gestaltet haben. 

Am gleichen Tage putzte sich unsere Klara in VÖslau 
schon heraus, sie erwartete ihren Verlobten. Statt seiner 
kam ein Brief, sein erster Brief: 


Wien, 25. Juli 1883 

Verehrtes Fräulein! 

Ich bestätige den Empfang Ihres w. Schreibens vom 22. 
und muß ich nur bedauern, daß ich Sonntag nicht zurecht 
kommen konnte, da ich Ihr Schreiben viel zu spät erhielt. 
Es hätte auch meinem Herzenswunsch entsprochen, mit 
Ihnen den Sonntag auf dem Lande zu verbringen, doch 
kam Ihr Brief erst gestern an. Heute ist es leider zu spät, 
denn ich nehme an, daß Sie in den nächsten Tagen nach 
H. verreisen werden. Ich hätte Sie dann gerne in Wien 
erwartet, aber ich reise heute abend nach Ungarn (ge¬ 
schäftlich), was mich ein bis zwei Wochen aufhalten wird. 
Reisen Sie glücklich, verehrtes Fräulein, ich hoffe bestimmt, 
daß Sie in Ihrer Heimat die Versprechungen nicht verges¬ 
sen werden, die wir uns gegenseitig gegeben haben, und 


264 



an denen ich mit ganzem Herzen festhalte. Mit innigen 
Grüßen zeichne ich mich 

Hermann Siegel 

Adresse: H. K. S., Ingenieur 

Westbahn Wien, 

Posterestante. 

Der Brief ist wie alle folgenden mit gewandter Hand ge¬ 
schrieben; Hugo Schenk, Sohn eines Kreisgerichtsrates in 
Teschen, hatte gute Schulbildung genossen und war, ob¬ 
wohl er erst vierunddreißig Jahre zählte, ziemlich weit 
gereist. Er hatte jung geheiratet, lebte aber nicht mit sei¬ 
ner Frau, die in Prag und später in Saaz wohnte und bis 
zu seinem Tode verzweifelte Versuche machte, seine Liebe 
wiederzugewinnen. 

Schenks nächstes Schreiben an Klara ist nach Hannover 
gerichtet, nach einer neuerlichen Bluttat, die er allein ver¬ 
übte. Am 5. August 1883 war er mit dem Stubenmädchen 
Therese Ketterl nach Lilienfeld zur Gebirgsschlucht „Stern¬ 
leiter" gefahren, an deren Rand er das Mädchen erschoß. 
Hugo Schenk beraubte die Leiche vollständig, sogar Klei¬ 
der, Wäsche und Strümpfe zog er ihr aus. Drei Tage dar¬ 
auf schreibt er an Klara nach Hannover: 

Verehrtes Fräulein! Wien ' 8 ' August 1883 

Anzeige Ihnen, daß ich von meiner Geschäftsreise zu¬ 
rückgekehrt bin, habe viele Aufregungen hinter mir, doch 
glaube ich alles gut erledigt zu haben, sodaß unsere Zu¬ 
kunft jetzt heller erscheint. Ich fand Ihre beiden 1. Briefe 
und können Sie sich denken, wie ich mich freute. Ich ver¬ 
traue Ihnen vollkommen, wie Sie auch mir vertrauen kön¬ 
nen. Das Leben hat viele ernste Momente, doch mit Mut 
und Geduld kann man alles überwinden. Auch Haß und 
Mißgunst können nichts ausrichten gegen die Einigkeit 
zweier treuer Herzen. Ich würde Ihnen raten, alle not¬ 
wendigen Papiere sich von Ihren w. Eltern schicken zu 
lassen, und auch alles andere bereit zu halten. Sie werden 
von mir sehr bald erfahren, was ich für uns beide be¬ 
schlossen habe, und glaube ich, daß dann unser Glück voll- 


265 



kommen sein wird. Seien Sie vielmals und aufrichtig innig 
gegrüßt von Ihrem 

Hermann S. 

Dieser Brief, mit dem er sich Klara als Opfer sichern 
will, ist der Brief eines Unermüdlichen, denn die letzte 
Beute ist so beträchtlich, daß er sich eine Zeitlang Ruhe 
gönnen konnte. Hat er doch das Depot der Ketterl, 1400 
Gulden, behoben und dem Leichnam ziemlich viel Schmuck 
geraubt. 

Mit der geliebten Emilie Höchstmann fährt er nun nach 
Stein an der Donau, nicht ohne vorher der Klara obige edle 
Sentenzen von den ernsten Momenten des Lebens und von 
der Macht des Muts und der Geduld eingeprägt zu haben. 
Den Rest seiner Flitterwochen mit Emilie Höchstmann 
verbringt er in Wien, wo Plakate das Verschwinden der 
Therese Ketterl anzeigen und den Verdacht eines Raub¬ 
mords aussprechen. 

Doch Klara drängt sich zu ihrem Glück und schreibt 
ihm, daß sie demnächst nach Wien komme. Hermann S. 
winkt ab. Korrespondenzkarte genügt: 

Verehrtes Frl.! Wien ' 25 ' Au 9 ust 1883 

Ein Telegramm zwingt mich, auf einige Zeit zu verrei¬ 
sen, und muß ich Sie daher bitten, Ihre Abreise zu ver¬ 
schieben, bis ich Ihnen meine Rückkunft anzeige, welches 
hoffentlich recht bald der Fall sein wird. Mit vielen Grü¬ 
ßen zeichne ich mich 

Hermann S. 

Hermann S. arbeitet an neuen Dingen. In Baden bei 
Wien lebt die greise Baronin Malfatti, Witwe nach dem 
Leibarzt des Herzogs von Reichstadt, und bewahrt gol¬ 
dene, brillantenbesetzte Geschenke auf, die der einzige 
Sohn und Erbe Napoleons dem ärztlichen Freund ver¬ 
machte. Bei Baronin Malfatti will Schenk einbrechen. Vor¬ 
her macht er fürsorglich die Bekanntschaft ihrer Zofe Jose¬ 
fine Eder. Die verfällt der Macht ihres neuen Freundes so 
sehr, daß der es gar nicht nötig hat, den Einbruch zu ver- 


266 



üben. Sie selbst stiehlt das napoleonische Erbe mitsamt 
dem Schmuck der Baronin, um es dem Freund zu bringen. 

Diese gute Prise, die sich allerdings nicht gleich ver¬ 
äußern läßt, hindert Schenk keineswegs daran, ein anderes 
Stubenmädchen aufs Korn zu nehmen, Rosa Ferenczi, die 
achthundert Gulden besitzt. Aber sie hat ihr Sparkassen¬ 
buch verloren, und es muß amortisiert werden, bevor er 
darangehen kann, sie umzubringen. 

Deshalb schreibt Hugo Schenk wieder an die Reserve¬ 
braut nach Hannover: 

Verehrtes Fräulein Klara! Wien ' 1Z Oktober 1883 

Mitteile Ihnen voller Freude, daß ich gesund zurück¬ 
gekehrt bin und daß Ihre Briefe vorgefunden habe. Bin 
sehr schmerzlich überrascht, weil Sie an meiner Treue ver¬ 
zagt sind, ich bin ein Mann von Wort und was ich mir 
vornehme, führe ich durch, auch wenn sich noch so un¬ 
ermeßliche Schwierigkeiten gegen mich türmen. Seien Sie 
versichert, daß auch ich der schönen Stunden in V. mich 
gerne erinnere und nichts sehnlicher wünsche, wie unsere 
endliche Vereinigung. Schreiben Sie mir, wann Sie nach 
hier kommen können, damit ich, mit Berufsgeschäften und 
-sorgen überhäuft, alles einrichten kann. Nehmen Sie noch¬ 
mals die Versicherung meiner vollsten Liebe und Ergeben¬ 
heit entgegen von Ihrem 

Hermann S. 


Diesem Wink kann Klara nicht sogleich Folge leisten. 
Bevor sie Ende August zur Hochzeit zu fahren beabsich¬ 
tigte, hatte sie ihrer Herrschaft gekündigt. Als dann die 
absagende Postkarte aus Wien kam, wollte Klara wieder 
in der Stellung bleiben, und ihre Dienstgeber willigten nur 
unter der Bedingung ein, daß sie sich für weitere vier 
Monate verpflichte. Obwohl sie jeden Tag Fürstin sein 
könnte, hält sie ihr Wort, das sie der Herrschaft gegeben. 

Wenn der Bräutigam „sehr traurig" darüber ist, bis Neu¬ 
jahr auf Klara warten zu müssen, so ist das begreiflich. 
Denn die Amortisierung von Rosa Ferenczis Sparkassen¬ 
buch verzögert sich, und die Inhaberin ist deshalb noch 


267 



nicht schlachtreif. Aber diesen Grund seiner „Sehr-Traurig¬ 
keit" gibt Schenk der Klara selbstverständlich nicht an, nur 
ungeduldige Liebe gibt er ihr an: 


Verehrtes Fräulein Klara, 


Wien, 2. Nov. 1883 


bestätige Ihnen Ihre beiden Briefe vom 18. und 26. Ok¬ 
tober und bin sehr traurig, dag Sie sich auf so lange Zeit 
verpflichtet haben. Ich habe unsere Vereinigung, die ich 
so sehr ersehne, für diese Tage erwartet und bin sehr trau¬ 
rig, dag ich bis Neujahr warten mug. Schreiben Sie mir, 
wann Sie eintreffen, da ich Sie sehnsüchtig am Bahnhof 
erwarten werde. In meinem Leben ist unerwartet eine sehr 
günstige Wendung eingetreten, ich gebe Ihnen die be¬ 
stimmte Versicherung, dag sich unsere Zukunft sehr gün¬ 
stig gestalten wird. Vergessen Sie nicht, die Papiere mitzu¬ 
bringen und alles andere, damit nichts verzögert, ich habe 
hier bereits alle Vorbereitungen getroffen. Mit der Hoff¬ 
nung auf endliches baldiges Wiedersehen, empfiehlt sich 
Ihnen Ihr Sie liebender 


H. S. 


Der letzte Brief, den Schenk an Klara schreibt, und in 
dem er ihr - vielleicht wirklich „aus aufrichtigem Herzen" 
- ein „glücklichstes Weihnachtsfest" wünscht, „weil es 
doch das letzte ist..trifft auch alle Anordnungen über 
ihre Ankunft. 


Verehrtes Fräulein Klara, 


Wien, 10. Dez. 1883 


wie ich aus Ihrem letzten Briefe vom 1. d. M. ersehe, ha¬ 
ben Sie alles so erledigt, wie ich es nicht besser wünschen 
kann. Betreffs Ihrer Befürchtung kann ich Sie vollkommen 
beruhigen, ich bin ein freiheitlicher Mann und habe keine 
Vorurteile. Bewahren Sie mir nur Ihre w. Zuneigung und 
Vertrauen, und seien Sie versichert, dag ich Gleiches mit 
Gleichem vergelten und meine Zärtlichkeit niemals erkal¬ 
ten wird. Ich wünsche Ihnen aus aufrichtigem Herzen ein 
glücklichstes Weihnachtsfest, weil es doch das letzte ist, 
das Sie in ledigem Stand verbringen. 


268 



Abreisen Sie also am 1. n. M., nehmen Sie alles mit und 
schreiben Sie mir noch die Stunde Ihrer Ankunft.. Ich 
werde auf dem Perron warten, wenn ich in Wien bin. Sonst 
gehen Sie ins Hotel „Zur gold. Spinne" auf der Landstraße, 
wo ich ein Zimmer reservieren werde. Es kann nämlich 
sein, daß mich eine wichtige unaufschiebbare Angelegen¬ 
heit zu einer kurzen Reise zwingt. (Geschäftlich.) 

Nehmen Sie die Versicherung meiner vollsten Ehren¬ 
haftigkeit, mit der ich mich zeichne 

Siegel. 

PS Bitte antworten Sie mir noch umgehend. 

Eine Woche nach der Absendung dieses Briefes trifft 
endlich die Mitteilung an Rosa Ferenczi ein, daß ihre Ein¬ 
lage auf ein neues Sparkassenbuch umgeschrieben wurde. 
Am 28. Dezember macht Schenk mit der Ferenczi einen 
Ausflug nach Preßburg, Schlossareck fährt mit. Von dort 
gehen sie nach dem Marktflecken Kittsee. Vielleicht - man 
erlaube eine kleine Hypothese - spielen dort vor dem 
Haus des Kaufmanns Goldmann dessen Knaben. Vielleicht 
fragt Hugo Schenk sie nach dem nächsten Weg zur Furt 
und vielleicht erklärt sich auch der kleine Max bereit, sie 
hinzuführen. Aber das Drama, das am Ufer gespielt wer¬ 
den soll, bedarf keines Regisseurs, und wenn es auch der 
zukünftige Max Reinhardt wäre ... 

Kaum fünfhundert Schritte hinter dem Goldmannschen 
Haus läßt sich die Gesellschaft am Ufer nieder. Schlossa¬ 
reck nimmt eine Hacke aus seinem Koffer und reicht sie 
Hugo Schenk. Der zertrümmert der Rosa Ferenczi damit 
die Schädeldecke und holt das Sparkassenbuch aus ihrer 
Handtasche. Ohrgehänge und Perlenarmband nimmt 
Schenk der Leiche rechtens ab, denn es sind seine Ge¬ 
schenke, der Schmuck, den die Eder bei der Baronin Mal- 
fatti gestohlen. Steinbeschwert sinkt Rosa Ferenczi auf 
den Grund des Donaustroms. 

Schenk holt am nächsten Tag das Geld aus der Spar¬ 
kasse, dann aber wird er vorsichtig. Das Verschwinden 
der Rosa Ferenczi könnte in Verbindung mit der Ab¬ 
hebung des Spardepots Verdacht erwecken, und die Dienst¬ 
geber der Ferenczi kennen ihn. Auch die Schwester der 


269 



Josefine Timal kennt ihn, und die Josefine Eder, die we¬ 
gen Diebstahls der napoleonischen Andenken in Haft ist 
Deshalb hält sich Hugo Schenk in der Wohnung Schlossa- 
recks verborgen, betritt die Straße nicht. 

Klara kommt in Wien an, und weil ihr Bräutigam sie 
nicht am Bahnhof erwartet, geht sie ins Hotel „Zur golde¬ 
nen Spinne". Kein Zimmer reserviert, ein Ingenieur Her¬ 
mann Siegel unbekannt. Auf dem Postamt der Westbahn 
erfährt sie, daß ihre letzten Briefe nicht behoben sind. Sie 
fährt nach Hannover zurück. Auch hier kein Brief. Nun, 
sicherlich hat ihr Bräutigam wichtige, unaufschiebbare Ge¬ 
schäfte. 

In Wien wird Hugo Schenk von der Polizei ausgeforscht, 
verhaftet, prozessiert, und am 22. April 1884 baumelt er 
neben Schlossareck auf dem Galgen. 

Alle Bänkelsänger singen von ihm, kein anderes Motiv 
erfüllt die Kolleginnen seiner Opfer mit solch gruselnder 
Wollust. Auch der blinde Methodius hat in seinem Reper¬ 
toire die Hugo-Schenk-Ballade, und bei der Stelle, da die 
Kehle der Katharina Timal durchschnitten wird, reißt er 
das Messer mit einem Ruck über den Schleifstein, daß die 
Funken sprühen wie Blut und die Hörerinnen grell auf- 
schreien. 

Vielleicht kennt Klara dieses Lied, vielleicht singt sie 
es selbst, schüttelt dabei den Kopf und denkt; Wie welten¬ 
fern sind doch die Männer voneinander verschieden! 

Zur Arbeit und zur Muße, im Wachen und im Traum, 
in Liebe und im Liede denkt sie an den ihren. Sie betet 
vor dem Heiligenschrein, darin die Briefe sind, zwei Rosen 
und ein Ring, das Liebespfand ihres Fürsten, der vornehm, 
zurückhaltend und feinfühlig ist wie kein anderer Mann 
der Welt. So harrt sie seiner seit Jahrzehnten, unbeirrbar 
überzeugt, er werde wiederkehren und sie freien. 



WIE ICH ERFUHR, 
DASS REDL EIN SPION WAR 


Noch immer gehörte ich dem Fußballklub an, mit dem 
ich einst gegen „Slavia" gespielt hatte, lange bevor der da¬ 
malige Halfback Eda Benes zum Präsidenten der Republik 
geworden war. Noch immer spielten wir als einzige deut¬ 
sche Mannschaft gegen tschechische Mannschaften, obwohl 
ich nicht nur Redaktionsmitglied einer deutschen Zeitung, 
sondern jetzt sogar Obmann des Klubs „Sturm" war. 

Ein Obmann, ihr wißt ja, erweist den Koryphäen (auch 
wenn sie Amateure sind) Gefälligkeiten, manchmal zahlt 
er für sie die Zeche, manchmal kauft er dem einen oder 
anderen einen Winterrock, manchmal borgt er ihnen bares 
Geld. , 

Unser rechter Endback hieß Wagner und war die Stütze 
der Mannschaft. Es ist also verständlich, daß ich ihm eine 
der eben erwähnten Gefälligkeiten erwies unmittelbar vor 
unserem Auswahlspiel gegen die zweitklassige Mannschaft 
Union Holleschowitz. Vom Ausfall dieses Matchs hing es 
ab, ob wir oder sie unter die Erstklassigen eingereiht wür¬ 
den. 

Das Match fand am Sonntag, dem 25. Mai 1913, statt 
DBC Sturm verlor und kam nicht in die Reihe der Erst¬ 
klassigen. Warum? Der Zeitungsbericht formulierte es so: 

„Der DBC Sturm I gegen SK Union Holleschowitz 5 : 7 
(Halbzeit 3:3). ,Sturm" war anfangs seinem Gegner über¬ 
legen, und seine Stürmerreihe arbeitete, wie sich auch in 
der großen Zahl seiner Scores ausdrückt, das ganze Spiel 
hindurch sehr erfreulich. Doch war ,Sturms" Verteidigung 
durch das Fehlen Mareceks und Wagners derart ge¬ 
schwächt, daß Atja allein nicht imstande war, alle Durch¬ 
brüche ,Unions" zu vereiteln." 

Mareceks Nichtantritt war entschuldigt, er hatte eine 
Sehnenzerrung. Aber Wagner war nicht entschuldigt. Ge¬ 
gen ihn richtete sich unsere Wut nach dem verlorenen 


271 



Spiel, besonders die meine. Hatte er mir doch, erfreut 
über mein Geschenk, doppelten Spieleifer versprochen, und 
nun blieb er schon am ersten Sonntag weg, beim Auswahl¬ 
spiel, unentschuldigt, unentschuldbar. Deshalb schaute ich 
gar nicht auf, als mich Wagner am nächsten Vormittag in 
der Redaktion auf suchte. 

„Ich komm dir sagen, daß ich gestern nicht antreten 
konnte/ 

„Hab ich gemerkt Hau ab!" 

„Es war wirklich unmöglich. Ich mußte .. 

„Ist mir ganz egal, was du mußtest", schnitt ich ihm das 
Wort ab. 

„Ich war schon angezogen, da kommt ein Soldat in un¬ 
sere Werkstatt und sagt, jemand von uns muß sofort ins 
Korpskommando, ein Schloß aufbrechen." 

„Erzähl mir keine Geschichten! So etwas dauert fünf Mi¬ 
nuten. Und wir haben eine geschlagene Stunde mit dem 
Anstoß gewartet." . 

„Drei Stunden hat es gedauert. Ich mußte eine Woh¬ 
nung aufbrechen und dann alle Schubfächer und Schränke, 
es waren nämlich zwei Herren aus Wien da, den einen 
haben sie Herr Oberst genannt. Sie haben nach russischen 
Papieren gesucht und nach Photographien von Plänen." 

„Wem gehört denn die Wohnung?" 

„Ich glaube, einem General. Eine große Wohnung im 
ersten Stock." 

„Und der General war nicht da?" 

„Der, dem die Wohnung gehört? Nein, der war nicht 
dabei. Aber der Korpskommandant war dabei." 

Obwohl ich Obmann des Fußballklubs bin, der gestern 
durch die Schuld eines pflichtvergessenen Endbacks das 
Wettspiel verloren hat, vergesse ich, dem pflichtvergesse¬ 
nen Endback länger böse zu sein. Ich sage ihm nicht mehr: 
„Erzähl mir keine Geschichten", sondern lasse mir die Ge¬ 
schichten von gestern nachmittag ganz genau erzählen, 
wie der Wiener Oberst die Photographien von Plänen und 
Aktenstücken dem Prager Korpskommandanten hinüber¬ 
reichte und wie dieser jedesmal den Kopf geschüttelt und 
gesagt hat: „Schrecklich, schrecklich! Wer hätte das für 
möglich gehalten!" 


272 



Wagner erzählt, daß die Wohnung ganz merkwürdig 
ausgesehen habe, „wie von einer Dame", lauter Toiletten¬ 
gegenstände und Brennscheren und parfümierte Briefe und 
Photos von jungen Männern. 

„Wieso weißt du denn, daß die beiden Offiziere aus 
Wien waren?" 

„Sie haben gesagt, daß sie noch abends nach Wien zu¬ 
rück müssen. Sie glaubten, ich verstehe nicht Deutsch. 
Der Korpskommandant hat mir immer tschechisch über¬ 
setzt, wenn sie wollten, daß ich ein Schloß aufmachen soll." 

Es kann sich nur um die Wohnung von Oberst Alfred 
Redl, dem Generalstabschef des Prager Korps, handeln, 
über den das k. u. k. Telegrafen-Korrespondenzbüro heute 
eine Meldung ausgegeben hat. Die Lobpreisung Redls, die 
diesem Telegramm beigefügt war, ist also ein Verschleie¬ 
rungsmanöver, denn die Kommission war nach Prag ge¬ 
kommen, weil Oberst Redl des Militärverrats verdächtigt 
wurde. Der Generalstabschef von Prag ein Spion! Alfred 
Redl, Kandidat für den Posten des Kriegsministers, der zu¬ 
künftige Armeekommandant - eine Kreatur des Feindes! 
Das ist eine ungeheuerliche Nachricht! 

Aus der begeisterten Würdigung im Telegramm des 
Korrespondenzbüros geht hervor, daß man diese unge¬ 
heuerliche Nachricht unterdrücken will. Ich aber habe kei¬ 
nen Anlaß, sie zu unterdrücken, keinen Anlaß, ein Ge¬ 
heimnis zu hüten, das man mir nicht anvertraut hat. 

Allerdings, da ist eine Schwierigkeit, eine schier un¬ 
überbrückbare. Die Enthüllung, daß ein österreichischer 
Generalstabschef im Dienste des Auslands steht, wie bringt 
man sie in eine österreichische Zeitung, ohne sofort konfis¬ 
ziert zu werden? 

Mit einem Überraschungstrick könnte es vielleicht ge¬ 
lingen. 

Der Überraschung strick gelingt, wie wir später sehen 
werden, meine Nachricht erscheint unkonfisziert im Abend¬ 
blatt der „Bohemia", und der Sturm bricht los. Verwei¬ 
gerung des Heeresbudgets nach tobender Parlamentssit¬ 
zung, Maßnahmen des Thronfolgers, den Generalstab nur 
aus Mitgliedern des Adels zusammenzusetzen, Pensionie¬ 
rung der höchsten Militärs, Debatten im Inland und Aus- 


18 Kisch VII 


273 



land über die Wehrfähigkeit der österreichischen Monar¬ 
chie - kurz, all das, was die Eingeweihten hatten vermei¬ 
den wollen. Ein Prozeß, der die volle Aufklärung des 
Verrats gebracht hätte, war verhindert, Spezialeide waren 
geleistet und ein überschwenglich warmes Lob für einen 
Verräter war amtlich ausgegeben worden, nur damit die 
Sache geheim bleibe vor dem Kaiser, dem Thronfolger, 
dem Kriegsminister und der Welt. 

Alle erfuhren davon, aber niemand ahnte meine Quelle. 
Die Militärbehörde forderte von der Staatspolizei einen 
Bericht, ob irgendwelche Anzeichen darauf hindeuten, daß 
ich Beziehungen zu auswärtigen Militärstellen unterhalte. 
In dem Lokal, in dem ich nach Redaktionsschluß verkehrte, 
setzten sich zwei ostentativ angeheiterte Herren zu mir 
und beteuerten ihre Bewunderung für meinen im Fall Redl 
bewiesenen Spürsinn. Sie boten sich an, mir Zeitungsnach¬ 
richten über militärische Dinge zu liefern, aber - Ver¬ 
trauen gegen Vertrauen - ich möge ihnen sagen, woher 
ich von der Spionagetätigkeit Redls wußte, vom Eintreffen 
der Kommission, von ihrem Verhalten in Redls Wohnung, 
von der Homosexualität. 

Das Pariser „Journal des Debats" schrieb, oh, Ruhm 
meiner Karriere, von einem jungen Wunderjournalisten, 
der in der Provinzstadt Prag ein internationales Geheim¬ 
nis nach dem andern zu enthüllen wisse. 

Soviel aber auch über den Fall Redl gesagt und geflü¬ 
stert wurde, das meiste mußte ungesagt und ungeflüstert 
bleiben, solange die österreichisch-ungarische Monarchie 
bestand. Nach dem Weltkrieg versuchte ich alle Zusam¬ 
menhänge der Redl-Affäre festzustellen. Unter anderem 
fuhr ich nach Graz, um Feldmarschalleutnant Urbanski 
von Ostromiesz aufzusuchen, der 1913 Chef des Evidenz¬ 
büros und Oberst im Generalstab gewesen war; er gehörte 
zu denen, die am Tage nach meiner Veröffentlichung vom 
Thronfolger Franz Ferdinand aus der Armee gejagt wur¬ 
den, Ebenso schnell aber wurde Urbanski von Ostromiesz 
reaktiviert, als aus Sarajewo die Nachricht von der Ermor¬ 
dung des Thronfolgers eintraf. Er machte den Krieg mit 
und avancierte. 

Mehrere Tage lang saß ich bei Feldmarschalleutnant Ur- 


274 



banski von Ostromiesz in seiner Grazer Wohnung, und er 
gab mir auf alle Fragen geduldig Antwort. Nur bei mei¬ 
ner Frage, wieso das Geheimnis in die Öffentlichkeit ge¬ 
drungen sei, wurde er unwillig, und erst recht unwillig, 
als ich meine Auffassung äußerte, wie das geschehen sein 
konnte. Diese Auffassung schien ihm denn doch zu naiv für 
einen Journalisten, der den Eingeweihtesten der Affäre 
interviewt Die Darstellung Urbanskis von Ostromiesz 
war nur die militärische Innengeschichte, über die aben¬ 
teuerliche Verfolgung Redls und manches andere wußte er 
weniger als ich. 

Der Sachverhalt war in Kürze dieser: Im Frühjahr 1913 
wurden zwei Briefe als verdächtig geöffnet, die postlagernd 
unter der mit Schreibmaschine geschriebenen Chiffre 
„Opernball 13" beim Hauptpostamt Wien eingetroffen wa¬ 
ren. Sie stammten aus Eydtkuhnen, einem Ort an der 
deutsch-russischen Grenze, und enthielten österreichische 
Banknoten, der eine sechstausend Kronen, der andere acht¬ 
tausend Kronen. Solche Summen werden nicht postlagernd 
und anonym geschickt, wenn es sich um rechtmäßiges Gut 
handelt. Der Absendungsort deutete auf Rußland, es schie¬ 
nen Gelder für Bestechung, vielleicht sogar für Spionage 
zu sein. Deshalb war es die Politische Staatspolizei, die 
mit der Aufklärung dieser Sendung betraut wurde. 

Zwei Geheimpolizisten, Ebinger und Steidl, wurden zu 
ständiger Dienstleistung in das Postamt entsandt. Ihr Zim¬ 
mer war durch eine elektrische Klingel mit dem Postschal- 
ter verbunden, und auf das Glockenzeichen des Schalter¬ 
beamten sollten die beiden den Übernehmer der Briefe 
sicherstellen. Wochen vergingen, Monate. Der Polizeirat, 
der diese Überwachung organisiert hatte, war ins Ministe¬ 
rium versetzt worden und hatte die Angelegenheit seinem 
Nachfolger, dem nachmaligen Bundeskanzler Johann Scho¬ 
ber, übergeben. Auch die Beamten am Postschalter wech¬ 
selten, und die neuen wußten wohl nicht, wie wichtig die 
Sache sei. Es kam auch niemand, die Briefe zu beheben. 

Am Abend des 24. Mai 1913, einem Samstag, fünf Mi¬ 
nuten vor Schluß der Amtsstunden, weckte das Glocken¬ 
signal die beiden Geheimpolizisten aus ihrer gewohnten 
Ruhe. Bevor sie zum Posterestanteschalter kamen, wo der 


275 



Beamte zwar langsam, aber doch auch nicht auffallend 
langsam die Briefe mit der „OpernbaH"-Chiffre ausgehän¬ 
digt hatte, war der Beheber fort 

Sie eilten ihm nach, sie erblickten ihn noch, einen statt¬ 
lichen Herrn, der die Tür des angekurbelt gebliebenen 
Autos hinter sich zuschlug, der Wagen fuhr davon. Es war 
ein Taxi 

Ein Auto, das die Verfolgung hätte auf nehmen kön¬ 
nen, besitzen Ebinger und Steidl nicht. Was hilft es ihnen, 
daß sie die Nummer des Taxis gelesen haben? Was hilft 
es ihnen, daß sie den Chauffeur ausforschen und erfahren 
können, woher und wohin die Fahrt gegangen sei? Sicher¬ 
lich ist der Mann nicht direkt in seine Wohnung gefahren, 
sicherlich steigt er unterwegs aus und nimmt einen neuen 
Wagen, Fest steht für die beiden Detektive nur ihre 
schimpfliche Entlassung. Aber nun beginnt für sie und die 
österreichische Wehrmacht eine Kette von unglaublichen 
Zufällen, „Jägerglück". 

Die beiden Polizeiagenten stehen auf dem Kolowratring 
und beraten. Sollen sie versuchen, den Chauffeur gleich 
ausfindig zu machen, und im Einvernehmen mit ihm ein 
Märchen von mißglückter Verfolgung des Unbekannten 
ausdenken? Oder sollen sie lieber dem Polizeirat Schober 
ihr Mißgeschick melden? Während sie überlegen, fährt ein 
Taxi vorbei. Sie lesen die Nummer - es ist der Wagen, 
der ihnen vor zwanzig Minuten ihre Beute entführt hat. 
Sie winken, pfeifen, schreien, laufen. Das Auto hält. Es ist 
leer. 

„Wohin haben Sie den Herrn vom Postamt aus geführt?" 

„Ins Cafe Kaiserhof." 

Auf der kurzen Fahrt finden die Detektive im Innern 
des Wagens das Futteral eines Taschenmessers, eine Hülle 
aus hellgrauem Tuch. Im Cafe Kaiserhof, in das sie mit 
dem Chauffeur ein treten, ist der stattliche Herr nicht mehr. 
Was nun? 

Sie eilen zum nächsten Taxistandplatz. Jawohl, ein Herr, 
der so aussieht, sei eben weggefahren. Wohin? Wir sind in 
Wien, und dort weiß es einer: der Wasserer. Eigentlich ist 
er kein Wasserer, denn seit der Fiakerstand zum Auto¬ 
stand degradiert ist, gibt's keine harben Rösser mehr, de- 


276 



nen der Wasserer den Tränkeimer servieren kann. So putzt 
er die Karosserien, holt Würstel für die Chauffeure und 
übt das altehrwürdige Gewerbe des Wagentüraufmachens 
aus. Der Wasserer hat gehört, wohin der Herr befohlen 
hat, „ins Hotel Klomser", hat er befohlen. 

Nach ins Hotel Klomser. Im Foyer wird der Hotelportier 
befragt. „Gerade jetzt sind zwei Herren im Auto ange¬ 
kommen, Kaufleute aus Bulgarien." - „Und vorher ein 
Herr allein?" - „Im Auto? Das weiß ich nicht. Vor einer 
Viertelstunde ist Herr Oberst Redl gekommen. In Zivil 
war er, das weiß ich. Aber ich weiß nicht, ob er im Auto 
vorgefahren ist." 

Oberst Redl? Den Polizeiagenten flößt dieser Name 
Scheu ein. Sie kennen ihn gut. Er hat ihnen keine Sekunde 
Rast gegönnt, niemals die Notwendigkeit einer Nachtruhe 
anerkannt, wenn sie seine Treiber waren auf der Jagd nach 
Spionen. Und wie wußte Oberst Redl sein Wild zur Strecke 
zu bringen, wie wußte er einen Spionageverdächtigen zu 
inquirieren, er, der berufene Sachverständige, der Leiter 
des österreichisch-ungarischen Kundschafterdienstes. 

Geheimpolizist Ebinger lacht schallend. „Das ist ja 
großartig! Jetzt wohnt der Spion mit unserem Oberst Redl 
Wand an Wand! In einem Kriminalroman würde das hei¬ 
ßen: ,In die Falle gegangen.' Oder: ,Die Flucht in die 
Höhle des Löwen.' Nein, das kann sich kein Dichter aus¬ 
denken, daß ein Spion sich in dem Haus einmietet, wo 
der allergrößte Verfolger der Spione wohnt." 

Ebinger will gleich zu Oberst Redl hinaufgehen und 
ihm den spaßigen Zufall melden. Der andere Geheimpoli¬ 
zist, Steidl, hat Bedenken gegen einen solchen selbstän¬ 
digen Schritt. Vielleicht hat das Postamt den Polizeirat 
bereits verständigt, daß die Briefe behoben wurden. Also 
muß man ihm berichten, wie die Verfolgung ausgefallen 
ist. 

Während Ebinger aus der Telefonzelle des Hotels, die 
auf der linken Seite der Halle ist, mit Polizeirat Schober 
spricht, reicht Steidl auf der rechten Seite der Halle das 
Messerfutteral dem Portier. „Fragen Sie, wem von den 
zuletzt angekommenen Gästen das Futteral gehört." 

Eine Freitreppe führt von der Mitte der Halle zu den 


277 



Etagen. Oberst Redl kommt in Uniform, sich die Hand¬ 
schuhe zuknöpfend, die Treppe herab und legt dem Portier 
den Schlüssel von Zimmer Nr. 1 auf den Tisch. In der 
Telefonzelle berichtet Detektiv Ebinger, daß Oberst Redl 
zufälligerweise auch im Hotel Klomser wohnt, und fragt, 
ob er ihm die Sache sofort melden solle. „Vielleicht", meint 
Ebinger, „hat sich der Spion absichtlich hier eingemietet, 
um sich an Oberst Redl heranzumachen." 

„Haben Herr Oberst das Futteral Ihres Taschenmessers 
verloren?" fragt der Portier, während in der Telefonzelle 
Ebinger seinem Vorgesetzten von dem Fund im Taxi be¬ 
richtet. „Ja", antwortet Oberst Redl, holt sein Messer aus 
der Tasche und stülpt das hellgraue Tuchsäckchen dar¬ 
über, „ich suche es schon seit einer Viertelstunde. Wo ha¬ 
ben Sie es denn gefun ..." 

Er hat die Frage noch nicht beendet, da fällt ihm die 
Antwort ein. Zuletzt hat er sein Taschenmesser benutzt, 
als er auf der Fahrt vom Postamt die Umschläge der Geld¬ 
briefe aufgeschnitten hat. Dort im Taxi hat er die Messer¬ 
hülle vergessen. Wieso hat man sie gefunden? Wieso hier¬ 
hergebracht? Mit einem Ruck wendet er sich um und er¬ 
blickt einen Mann, der abseits steht und mit betontem 
Interesse das Gästebuch des Hotels durchblättert. Oberst 
Redl kennt den Mann. 

Oberst Redl wird blaß wie ein Toter, denn er weiß, daß 
er ein Toter ist. 

Er tritt auf die Straße hinaus, geht raschen Schrittes 
weiter. An der ersten Ecke schaut er zurück, ob niemand 
aus dem Hoteltor kommt. Niemand kommt aus dem Hotel¬ 
tor. Aber aus dem Restaurant Klomser treten zwei Män¬ 
ner. 

Einer dieser beiden Männer hat, bevor sie das Hotel 
verließen, dem Portier aufgetragen, die Nummer 12 3 48 
anzurufen, die Geheimnummer der Politischen Staatspoli¬ 
zei. „Sagen Sie dem Herrn Polizeirat Schober, daß das Fut¬ 
teral dem Herrn Oberst Redl gehört." 

Da Ebinger und Steidl die Straßenecke erreichen, sehen 
sie Oberst Redl nicht mehr. Er ist im Haus der alten 
Börse verschwunden, das drei Ausgänge hat. Alle Achtung 
vor einem Mann, der noch vor zwei Minuten ein glanz- 


278 



volles Leben vor sich sah und seit zwei Minuten einen 
schimpflichen Tod vor sich sieht und bereits die Möglich¬ 
keit des Entkommens kaltblütig ins Auge faßt. 

Inzwischen spielt das Telefon vom Hotel Klomser zur 
Staatspolizei, von der Staatspolizei zum Evidenzbüro des 
k. u. k. Generalstabs. Oberst Urbanski von Ostromiesz 
nimmt die Meldung entgegen und kann sich nicht fassen 
vor Erregung. Oberst Redl! 

Der Adjutant Urbanskis von Ostromiesz fährt zur 
Hauptpost, um den Schalterbeamten zu fragen, wie der 
Beheber der Briefe ausgesehen habe. Außer der Perso¬ 
nenbeschreibung wird ihm ein Zettel gegeben, auf den der 
Beheber die Chiffre der postlagernden Briefe geschrieben 
hat, „Opernball 13". 

Im Evidenzbüro suchen Urbanski von Ostromiesz und 
sein Adjutant Handschriften Redls heraus. Es ist kein 
Mangel daran: eine „Anweisung zur Anwerbung und Über¬ 
prüfung von Kundschaftern, verfaßt von Alfred Redl, k. u. 
k. Hauptmann im Generalstab", fünfzig Paragraphen lang, 
ein „Schema für die Beschaffung von Kundschaftermate- 
rial", „Normen zur Aufdeckung von Spionen im In- und 
Ausland", ein dickes Aktenbündel „Gutachten in den Jah¬ 
ren 1900 bis 1905". Zwar ist auf dem Zettel „Opernball 13" 
nur leicht und dünn hingeschrieben, jedoch von einer Ver¬ 
stellung kann keine Rede sein, es ist die Schrift des Ober¬ 
sten Redl, 

Den verfolgen unterdessen die beiden Geheimpolizisten. 
In einer Passage haben sie den Verschwundenen wieder 
erspäht. Auch er sie. Er zerreißt Papiere, wirft sie auf den 
Boden. Einer der Detektive, nimmt er an, wird sich auf¬ 
halten, um sie aufzuklauben, und dem anderen ließe sich 
allenfalls entkommen. Aber beide gehen ihm weiter nach. 
Sie halten ein Taxi an und geben dem Chauffeur die Wei¬ 
sung, langsam nachzufahren. Dann erst kehrt Geheim¬ 
polizist Steidl in die Passage zurück, sammelt die Papier¬ 
schnitzel auf und bringt sie zur Polizei. 

Von dort fahren die Papierchen sofort im Auto ins 
Evidenzbüro, wo sie zusammengesetzt werden. Es sind 
Postbestätigungen über Geldsendungen an einen Ulanen¬ 
leutnant in Stockerau und über eingeschriebene Briefe 


279 



nach Brüssel, Warschau und Lausanne. Die Adresse in 
Lausanne ist, wie vor einigen Tagen festgestellt wurde, 
eine Deckadresse für die Spionagezentrale Italiens, des 
„Bundesgenossen". Jetzt ist es verständlich, daß seit Jah¬ 
resfrist jede noch so geheime strategische Vorkehrung an 
der italienischen Grenze mit Gegenvorkehrungen beant¬ 
wortet wurde, oft sogar, bevor Österreich sein Projekt in 
Angriff nahm. 

Soll man die Verhaftung von Oberst Redl sofort an¬ 
ordnen? Militärische oder polizeiliche Verhaftung? Soll 
man die Militärkanzleien des Kaisers und des Thronfol¬ 
gers benachrichtigen? Oder soll man das Ergebnis der 
Untersuchung abwarten? 

Oberst Redl geht zum Franz-Josephs-Kai. Von Zeit zu 
Zeit sieht er sich um, ob sein Schatten ihm folgt. Sein 
Schatten folgt ihm. Oberst Redl will zum Brigittaplatz. 
Dort ist er heute um vier Uhr nachmittags in einem 
Daimler-Tourenwagen, den er im August 1911 für acht¬ 
zehntausend Kronen gekauft hatte, aus Prag angekom¬ 
men. Ein schönes Auto. A. R. in Goldbuchstaben auf dem 
Wagenschlag: der Querstrich des A besteht aus zwei schrä¬ 
gen Linien und sieht wie ein „v" aus, ein abgekürztes 
„von". Über dem Monogramm schwebt eine Krone, zwar 
nur die fünfzackige Bürgerkrone, aber wer merkt das? 
Oberst Redl hat sein Auto beim Karosseriemacher Zed- 
nitschek auf dem Brigittaplatz eingestellt, damit der die 
Seitenwände des Chassis unten mit Glanzleder und oben 
mit bordeauxroter Seide tapeziere. 

Im Hotel Klomser empfing Oberst Redl den Besuch von 
Leutnant Stefan Hromadka, einem hübschen Ulanenoffizier 
aus Stockerau, und hatte eine lange Auseinandersetzung 
mit dem geliebten Freund, der sich von ihm trennen und 
heiraten wollte. Um halb sechs ging Leutnant Stefan Hro¬ 
madka fort, zehn Minuten später Oberst Redl. Er mußte 
aufs Postamt. Das Geld beheben. Wochenlang hatte er es 
aufgeschoben, weil es riskant war. Jetzt blieb keine Wahl. 
Er hat seinem Stefan ein Auto versprochen. Er will mit 
ihm über Land fahren, ihn von seiner Braut loslösen, ihn 
die Heiratsabsicht vergessen machen. 

„Über Land fahren..." Und jetzt hastet Redl zu Fuß 


280 



mit unheimlichem Gefolge den Donaukanal entlang und 
denkt, wie gut es wäre, in seinem Tourenwagen zu sitzen 
und, auch ohne Glanzlederbelag und ohne bordeauxrote 
Seide, über Land fahren zu können. Über Land fahren. 
Daran ist jetzt nicht mehr zu denken. Er kehrt, beschattet, 
ins Hotel Klomser zurück. 

Zur gleichen Zeit fährt Oberst Urbanski von Ostromiesz 
bei einem anderen Hotel vor. Im Grandhotel sitzt der 
Chef der Chefs, der Oberkommandierende des General¬ 
stabs, mit Freunden im Speisesaal. «Was bringst du mir 
Schönes?" fragt General Conrad von Hötzendorf seinen 
Evidenzchef und Freund. Die Zigeunerkapelle Rigos, des 
Geigers, der die belgische Königstochter entführt hat, 
spielt ein Potpourri aus der neuen Operette „Graf von 
Luxemburg". 

„Dürfte ich Eure Exzellenz gehorsamst um ein Gespräch 
unter vier Augen bitten?" 

„Was, mitten im Abendessen? Ist's wirklich so drin¬ 
gend? Na, alsdann gehn wir." 

In einem Nebenraum erstattet Urbanski von Ostromiesz 
die Meldung, dafj die Opernballbriefe behoben wurden, 
der Beheber, von Detektiven verfolgt, habe unterwegs 
Postbestätigungen zerrissen, darunter eine aus Lausanne. 

„Lausanne auch!" seufzt General Conrad von Hötzen¬ 
dorf. „Dachte ich mir schon lange. Ist der Mann ver¬ 
haftet?" 

„Er wurde sichergestellt, Exzellenz." 

„Nur sichergestellt? Wer ist es denn?" 

„Exzellenz.. 

„Nun? Wer der Mann ist, will ich wissen." 

„Es ist..." 

„Heraus mit der Sprache, August. Ich bin ja darauf vor¬ 
bereitet, daß es nicht der erste beste ist." 

„Exzellenz, es ist Oberst Redl." 

„Wer? Sind Sie wahnsinnig geworden?" Conrad von 
Hötzendorf schreit: „Nehmen Sie sich in acht, Herr 
Oberst!" 

„Exzellenz .. 

„Entschuldige, August. Oberst Redl! Ist denn das si¬ 
cher?" 


281 



General Conrad von Hötzendorf ist auf einen Stuhl 
gesunken, er preßt beide Hände aufs Herz. „Wenn doch 
wenigstens"* sagt er, nachdem er sich etwas gefaßt hat, 
„wenn doch wenigstens dieser widerliche Rigo mit seinem 
Gefiedel aufhören würde." Dann spricht der General lange 
kein Wort Er versucht, sich die Tragweite auszumalen. 
Wenn die Schmach bekannt wird - das Kriegsministerium 
und der Thronfolger hassen den Generalstab ohnedies, die 
„Auserwählten" ~, was wird das Ausland sagen! Der 
Feind! Alles schon morsch, sagt man gern der Doppel¬ 
monarchie nach - die Überheblichkeit des verbündeten 
Deutschlands wird noch größer werden. Und die oppositio¬ 
nellen Nationen! Was wird geschehen, wenn in dieses 
Pulverfaß ein Zündstoff fällt? Gerade jetzt, da die Lage 
kritisch ist. 

General Conrad von Hötzendorf erhebt sich. „Dieser 
Schuft hat sofort zu sterben." 

„Er soll selbst... Exzellenz?" 

„Ja", entscheidet Conrad von Hötzendorf. Diese zwei 
Buchstaben sind Todesurteil und Befehl zur Vollstreckung, 
bei der der Verurteilte als sein eigener Henker zu fungie¬ 
ren hat „Niemand darf etwas über die Todesursache er¬ 
fahren, niemand! Bin ich verstanden worden, Herr 
Oberst?" 

„Zu Befehl, Exzellenz!" 

„Noch heute nacht." 

„Zu Befehl, Exzellenz." 

„Sie werden sofort eine Kommission zusammenstellen, 
Herr Oberst, bestehend aus Höfer als Leiter, aus Chef¬ 
auditor Worlitschek, Ihnen und Ihrem Adjutanten. Über 
den Vollzug ist morgen früh direkt an mich zu melden." 

Um Mitternacht erscheinen vier hohe Offiziere im Hotel 
Klomser. Sie klopfen an die Tür von Zimmer Nr. 1. Wäh¬ 
rend ein heiseres „herein" hörbar wird, öffnen sie. Oberst 
Redl, der am Tisch sitzt, macht zweimal den Versuch auf¬ 
zustehen und fällt in den Stuhl zurück. Endlich erhebt er 
sich wankend. „Ich weiß, weshalb die Herren kommen", 
bringt er hervor, „ich bin im Begriff, Abschiedsbriefe zu 
schreiben." 

Ein Brief an seinen Bruder ist kuvertiert, ein angefan- 


282 



gener Brief ist an General von Giesl, den Kommandanten 
des Prager Korps, gerichtet. Auf dem Nachttisch liegt das 
Taschenmesser mit dem hellgrauen Futteral und ein Stück 
Bindfaden. („Ein dolchartiges Messer und eine Rebschnur 
hatte Redl zur Verübung des Selbstmords vorbereitet", 
antwortet zwei Tage später Landesverteidigungsminister 
Georgi im Parlament auf die Beschuldigung, der Selbst¬ 
mord Redls sei vom Generalstab befohlen worden.) 

Die Kommission befragt Redl nach seinen Komplicen. 

„Ich habe keine", erwidert er. 

„Wer hat Sie für die Spionage geworben?" 

„Der russische Militärattache in Wien. Er zwang mich 
dazu, denn er - denn er wußte, daß - daß ich - homo¬ 
sexuell bin." 

Die vier Offiziere schütteln sich vor Ekel. Homosexuell? 
Entsetzlich! 

Auf die Frage nach dem Umfang seiner Tätigkeit, nach 
deren Details und Dauer antwortet er, alle Beweise wür¬ 
den sich in seiner Prager Dienstwohnung finden. Damit 
gibt sich die Kommission zufrieden. Bevor sie das Zim¬ 
mer verläßt, fragt General Höf er: „Herr Redl, haben 
Sie ..." 

Redls Finger tasten nach seinem goldenen und bestern¬ 
ten Kragen. Dort ist er noch kein Herr Redl, dort ist er 
noch Oberst. 

.. eine Schußwaffe?" vollendet General Hofer die 
Frage. 

„Nein." 

Der General: „Sie dürfen um eine Schußwaffe bitten, 
Herr Redl." 

Redl: „Ich bitte - gehorsamst - um einen - Revolver." 

Niemand hat einen bei sich. „Sie werden einen bekom¬ 
men." Oberst Urbanski von Ostromiesz fährt nach Hause, 
seinen Browning zu holen, um ihn „Herrn Redl" einzu¬ 
händigen. 

Die vier Offiziere warten an der Straßenecke. Sie kön¬ 
nen die Fenster von Zimmer Nr. 1 nicht sehen, denn es 
ist ein Hofzimmer. Kein Lärm, keine Aufregung, kein 
Schuß verrät, daß das Urteil vollstreckt ist. Abwechselnd 
fahren die Kommissionsmitglieder nach Hause, um Zivil 


283 



anzulegen, denn vier auf und ab gehende Stabsoffiziere 
würden auffallen. Die Stunden verrinnen. Nichts. 

Zeitig morgens will General Conrad von Hötzendorf die 
Meldung haben, daß die Angelegenheit beendet ist. 
Oberst Urbanski von Ostromiesz und Chefauditor Wor- 
litschek müssen mit dem Schnellzug sechs Uhr fünfzehn 
nach Prag fahren, die Haussuchung vorzunehmen. Aber 
andererseits kann man nicht gut hinaufgehen und zu Redl 
sagen: „Erschießen Sie sich rasch, wir können nicht so 
lange warten." 

Um fünf Uhr wird ein Detektiv der Staatspolizei tele¬ 
fonisch herbeigerufen, einer von den beiden, die gestern 
die Verfolgung Redls durchgeführt und noch in der Nacht 
einen „Spezialschwur auf Diensteid" geleistet hatten, kein 
Wort über die Angelegenheit zu sprechen. Das Geheimnis 
soll auf neun Personen beschränkt bleiben, und kein zehn¬ 
ter soll auch nur ahnen, daß ein Generalstabschef Verrat 
beging. 

Der herbeigekommene Detektiv ist Ebinger, er wird 
angewiesen, zu Oberst Redl hinaufzugehen. Was immer 
er auch im Zimmer sehen würde, er möge im Hotel nichts 
davon sagen. So will man Diskussionen darüber verhin¬ 
dern, daß die Leiche von einem Polizeiagenten entdeckt 
wurde. Ebinger sagt dem Nachtportier, er sei vom Herrn 
Oberst Redl bestellt. Der Portier, seines vergeblichen Ein¬ 
spruchs gegen den nächtlichen Besuch der vier Offiziere 
eingedenk, läßt Ebinger passieren. 

„Das Zimmer war nicht versperrt", meldet Ebinger einige 
Minuten später der Kommission, „ich habe also die Tür 
geöffnet. Neben dem Sofa liegt der Herr Oberst tot." 

Damit ist der Straßendienst der vier Stabsoffiziere zu 
Ende, genau zwölf Stunden nach Behebung der postlagern¬ 
den Briefe. Noch vor Tagesanbruch soll die Leiche gefun¬ 
den werden, deshalb wird das Hotel angerufen: Herr 
Oberst Redl möge ans Telefon kommen. 

Das Hotel Klomser verständigt die Polizei von einem 
im Hause vorgefallenen Selbstmord. Redl hat sich, vor 
dem Spiegel stehend, in den Mund geschossen, das Pro¬ 
jektil durchbohrte das Gaumendach und drang schräg 
von rechts nach links in das Gehirn; im linken Scheitel- 


284 



knochen blieb das Geschoß stecken, die Ausblutung er¬ 
folgte durch die linke Nasenhöhle. Neben der Leiche lag 
ein Browning. 

Am Sonntag gab das k.k.Telegrafen-Korrespondenzbüro 
die Meldung vom Selbstmord des Obersten Alfred Redl 
aus und fügte einen Nekrolog hinzu, der aus dem Büro 
des Generalstabs stammte. „Der hochbegabte Offizier", 
hieß es darin, „dem eine große Karriere bevorstand, hat 
sich in einem Anfall von Geistesverwirrung ..„... in 
der letzten Zeit an außergewöhnlicher Schlaflosigkeit 
litt.. . in Wien, wohin ihn dienstliche Aufgaben ge¬ 

führt hatten ...", „... an dem Leichenbegängnis werden die 
gesamte in Wien weilende Generalität und die dienst¬ 
freien Truppen und Militäranstalten . . " 

Der Chef des Evidenzbüros, Urbanski von Ostromiesz, 
und der Chefauditor Worlitschek fuhren nach Prag und 
meldeten sich beim Korpskommandanten Baron Giesl. 
Der war telegrafisch vom Selbstmord seines Generalstabs¬ 
chefs in Kenntnis gesetzt worden, nicht aber vom Motiv 
der Tat. Tags vorher hatte Korpskommandant Baron Giesl 
von seinem Bruder, dem Österreichisch-ungarischen Ge¬ 
sandten in Belgrad, die Mitteilung bekommen, daß die 
serbischen Regierungskreise den Krieg als unvermeidlich 
betrachten. 

Für „Fall 3 " (Krieg gegen Serbien) war das Prager 
Korps zum Vormarsch zwischen Drinamündung und Save¬ 
mündung bestimmt. Um so größer war die Erschütterung 
des Korpskommandanten Baron Giesl, als er nun von den 
beiden Wiener Stabsoffizieren erfuhr, daß die Pläne seines 
Korps verraten seien und gewiß auch die vertraulichen 
Mitteilungen seines Bruders, verraten von seinem Ver¬ 
trauensmann. 

Nach dem Essen ging Korpskommandant Baron Giesl 
mit Oberst Urbanski von Ostromiesz und Chefauditor 
Worlitschek in die Wohnung Redls. Sie war versperrt, und 
niemand hatte die Schlüssel. 

Während die Kommission vor der Tür steht, stehe ich 
auf dem Fußballplatz in Holleschowitz. Das Wettspiel soll 
beginnen, aber unser Endback Wagner ist noch nicht da. 

Ohne zu ahnen, daß sein Interviewer mit den Gedan- 


285 



ken auf einem Fußballfeld ist erzählt Feldmarschalleut- 
nant Urbanski von Ostromiesz von der Hausdurchsuchung: 
„Wir mußten die Tür aufbrechen lassen, die Schränke und 
den Schreibtisch." 

„Von einem Zivilschlosser?" frage ich. 

„Ich glaube. Es war Sonntagnachmittag und wahrschein¬ 
lich kein Professionist anwesend." 

„Exzellenz wissen nicht mehr, woher man den Schlosser 
holte?" 

„Nein. Von irgendwo aus der Nachbarschaft, das ist 
doch wirklich unwichtig." 

Feldmarschalleutnant Urbanski von Ostromiesz runzelt 
ärgerlich die Stirn. Deshalb bemühe ich mich, meine Frage 
zu entschuldigen. „Der Schlosser hätte doch die gewalt¬ 
same Öffnung der Wohnung und der Schubfächer verraten 
können." 

Urbanski von Ostromiesz verzieht spöttisch die Mund¬ 
winkel. „Wem verraten?" 

„Der Presse zum Beispiel." 

„Mein lieber Freund", seufzt Urbanski von Ostromiesz, 
„Sie sehen den Fall als Kriminalfall an! Es war aber ein 
Fall der internationalen Wehrpolitik. Da spielt kein 
Schlossergehilfe mit." 

„Und wie, glauben Eure Exzellenz, ist die Sache in die 
Presse gekommen?" 

„Ja, das war allerdings das ärgste an der Katastrophe. 
Zuerst dachten wir an den privaten Racheakt eines in Prag 
tätigen Spions, etwa eines Geliebten von Redl. Nachher 
mußten wir annehmen, daß eine ausländische Spionage¬ 
stelle auf die Nachricht von der Erledigung ihres Ver¬ 
trauensmanns Redl der Zeitung ,Bohemia' das Material 
gab, um sich am Generalstab zu rächen. Aber erst wäh¬ 
rend des Krieges hat mir Exzellenz Conrad von Hötzen- 
dorf anvertraut, daß die Sache auf ganz andere Weise in 
die Zeitung gekommen war. Es war schlimmer." 

„Wieso schlimmer, Exzellenz?" 

„Der Polizeirat Schober hat trotz seinem Spezialeid den 
Vorfall dem Kriegsminister gemeldet, und der Kriegs¬ 
minister fuhr noch am Sonntag im Auto nach Prag, in¬ 
kognito natürlich. Er haßte den Generalstab, weil wir ihm 


286 



nicht unterstellt waren, obwohl er das immerfort bean¬ 
tragte. So wollte er uns in der Öffentlichkeit schaden und 
vor allem beim Thronfolger, ohne uns direkt bei ihm zu 
denunzieren. In Prag übergab der Kriegsminister die 
Nachricht einem befreundeten Redakteur von der ,Bohe- 
mia', einem gewissen Kisch .. 

Urbanski von Ostromiesz fällt ein, dag ich auch „Kisch" 
heiße. „War das Ihr Herr Vater?" unterbricht er sich. 

Ich nicke bejahend. Ich bin nicht hier, Informationen zu 
geben, sondern zu empfangen. 

„Dann wissen Sie ja, dag die Sache stimmt." 

Durch neuerliches Kopfnicken bestätige ich die kleine 
Verwechslung des Schlossergehilfen mit dem Kriegsmini¬ 
ster. 

„Sehen Sie", fährt Urbanski von Ostromiesz fort, „des¬ 
halb war in der ,Bohemia' der Artikel mit dem Vermerk 
versehen: ,Von hoher Stelle 7 . Vielleicht erinnern Sie sich 
daran?" 

Gewiß, ich erinnerte mich sehr genau. Kaum hatte da¬ 
mals Wagner das Redaktionszimmer verlassen, als ich 
zum Chefredakteur stürzte, Beratung. Sollen wir die groge 
Meldung bringen, trotz der Gewißheit, beschlagnahmt zu 
werden? Oder sollen wir die große Meldung einfach weg¬ 
lassen? 

Wir entschlossen uns zu einem Kompromiß: die Kon¬ 
fiskation der Abendausgabe zu riskieren, indem wir die 
Nachricht in Form eines Dementis bringen. So erschien ein 
Dementi in Fettdruck an der Spitze des Blattes: „Von 
hoher Stelle werden wir um Widerlegung der speziell in 
Militärkreisen aufgetauchten Gerüchte ersucht, daß der 
Generalstabschef des Prager Korps, Oberst Alfred Redl, 
der vorgestern in Wien Selbstmord verübte, einen Verrat 
militärischer Geheimnisse begangen und für Rußland Spio¬ 
nage getrieben habe. Die aus Wien nach Prag entsandte 
Kommission, die, geleitet von einem Obersten, am gestri¬ 
gen Sonntagnachmittag in Gegenwart des Korpskomman¬ 
danten Baron Giesl die Dienstwohnung des Obersten Redl, 
die Schränke und Schubfächer aufbrechen ließ und eine 
dreistündige Durchsuchung vornahm, hatte nach Verfeh¬ 
lungen ganz anderer Art zu forschen ., . usw." 


287 



Solche Dementis versteht der Leser, es ist so, wie wenn 
man sagt: „Der X ist kein Falschspieler." Aber konfiszie¬ 
ren ließ sich ein solches Dementi schwer. Der Presse- 
Staatsanwalt mußte annehmen, es stamme vom Korpskom¬ 
mando oder aus Wien, von einem Ministerium. 

Als die Nachricht in Wien ankam, läutete die Presse 
Sturm beim Kriegsministerium. Dort las der diensthabende 
Telefonist jedem anrufenden Journalisten folgendes vor: 
„Hieramts ist von irgendwelchen Verfehlungen des ver¬ 
storbenen Herrn Generalstabsoberst Alfred Redl nichts 
bekannt und stehen solche Gerüchte im Widerspruch zum 
untadeligen Charakter des Verewigten. Ebensowenig ist 
hieramts von einer Entsendung einer Kommission nach 
Prag etwas bekannt, und kann es sich sohin nur um eine 
normale Inventaraufnahme in der Dienstwohnung des ver¬ 
storbenen Herrn Oberst Redl handeln." 

Aber fast gleichzeitig sagte das Platzkommando von 
Wien das militärische Leichenbegängnis ab - ein Mehr 
an Eingeständnis war nicht nötig. In der Nacht zog das 
Kriegsministerium seine Erklärung zurück, so daß von ihr 
nur ein Detail zurückblieb: Dem Kriegsministerium war 
die Spionageaffäre unbekannt gewesen. 

Von den Wolken des Vorkriegs war die Redl-Affäre die 
dunkelste: Wie soll die k.k. Armee einen Krieg bestehen, 
wenn ihre Aufmarschpläne bis ins letzte Detail verraten 
sind? Mit ebensoviel Energie wie Ahnungslosigkeit wurde 
in Presse und Parlament die unverzügliche Änderung der 
Kriegspläne gefordert, und der Landesverteidigungsmini¬ 
ster beeilte sich, beruhigende Versicherungen in diesem 
Sinne zu geben. Aber ein Kriegsplan läßt sich nicht will¬ 
kürlich ändern, denn er stellt die Lösung der strategischen 
Aufgabe auf Grund ethnographischer und militärischer Ge¬ 
gebenheiten dar. 

Der Thronfolger ließ ein Telegramm nach dem andern 
los: „Ich bin zu der unumstößlichen Gewißheit gelangt, 
daß die geistige Spannkraft des Oberst Urbanski von 
Ostromiesz in derartigem Maße gelitten hat, daß er für 
eine aktive Verwendung nicht mehr in Betracht kommt, 
und ist er der Superarbitrierung zu unterziehen." Auch 
gegen General Conrad von Hötzendorf, gegen Höfer und 


288 



Worlitschek richtete sich die Wut Franz Ferdinands, also 
gegen alle, die ihrem Generalstabskollegen zu nächtlicher 
Stunde den Selbstmord befahlen, ihm keine Gelegenheit 
zur Beichte und zum Heiligen Abendmahl gaben und sich 
Spezialeide leisten ließen, nur damit er, der Thronfolger, 
nichts erfahre. Ja, sie hatten ihm sogar den Vorschlag 
unterbreitet, an dem Leichenbegängnis von Oberst Redl 
teilzunehmen. 

Aber nicht einmal diese Geheimhaltung hatten sie durch¬ 
zuführen vermocht. Anderthalb .Tage später wußte die 
ganze Welt davon. 

Die ganze Welt wußte davon, weil ein Endback, ein 
Fußballer, ein Wettspiel versäumte. Das Spiel gegen Union 
Hoileschowitz, eine zweitklassige Mannschaft. 



VON DER REPORTAGE 


Lachen und Kreischen dringt durdi die Mauern des Bä¬ 
renhauses. So stark war des blinden Methodius humoristi¬ 
sche Wirkung noch nie. 

Hm. Dieser Fall also ist es ... 

Dieser Fall ist in fachmännischem Sinne keine Tages¬ 
nachricht. Nur die Nachbarn der Beteiligten wußten da¬ 
von, und einer von ihnen hat mir die Begebenheit erzählt, 
gelegentlich, als sie schon mehrere Wochen alt war. Im¬ 
merhin schrieb ich sie auf. 

Der blinde Methodius singt nun, was ich damals schrieb, 
die Geschichte vom Eisenbahnschaffner, der sich morgens 
von seiner Frau verabschiedet, um auf Fahrt zu gehn. Wie 
üblich kocht sie ihm kein Frühstück, sie behauptet, es 
dauere zu lange, bevor der Herd warm wird. Wie üblich 
bleibt sie noch im Bett. Wie üblich ist ihr Abschied ein 
liebevoller - „sie reicht ihm Kuß und Pfötchen", singt der 
blinde Methodius. Aber das Schicksal erspart dem Schaff¬ 
ner heute zufällig den Dienst, und er kann nach Hause 
zurückkehren. Leise, um Frauchen nicht zu wecken, sperrt 
er die Türe auf, und - braucht's da eines Gedanken¬ 
strichs? - Frauchen ist höchst wach, und ein Gast ist's mit 
ihr. Und was vielleicht das schlimmste ist, im Herd, der 
angeblich so schwer zu erheizen ist, brodelt ein fröhliches 
Feuer. 

Während der Gast, seine Wäsche und Kleider in den 
Händen, das Weite sucht, packt der wütende Schaffner 
die ungetreue Schaffnerin. Mit starken Armen hebt er sie 
hoch und setzt sie mitten auf den geheizten Küchenofen, 
den flammenden Beweis ihres Ehebruchs; und zwar der¬ 
gestalt, daß sie im Herdloch steckenbleibt. Vergeblich ver¬ 
sucht sie von diesem Sitzplatz aufzustehen, sie ist vom 
eisernen Ring umfaßt, und unter ihr steigt die Wärme 
hoch, die sie selbst entfacht hat. 

Das also ward würdig befunden, Substrat einer Ballade 


290 



zu sein, und die Hörerinnen lachen, weil der treulosen 
Gattin tüchtig eingeheizt wird, und freuen sich, daß der 
Untugend die Strafe auf dem Fuße oder auf sonst etwas 
folgt: Warum so wenig Solidarität mit der Geschlechts¬ 
genossin? Ist es der Neid darüber, daß sich die Frau 
Schaffnerin einen Schichtwechsel ihrer Belegschaft leistet? 

Wie dem auch sei, es ist zum erstenmal, daß eines mei¬ 
ner Themen, in Poesie und Musik gesetzt, vom Ideal mei¬ 
ner Kindstage vorgetragen wird. Da habe ich nun etwas 
Ersehntes erreicht, und prompt stellt sich die Enttäuschung 
ein. Der blinde Methodius könnte wirklich bessere meiner 
Stoffe verwenden. 

Andere verwenden bessere meiner Stoffe, aber auch das 
ist mir nicht recht, bringt mir nur zum Bewußtsein, wie 
gering der Marktwert der Wahrheit ist. Jeden Abend füllt 
die Operette „Die Galgentoni" das Stadttheater. Alles 
kommt darin vor, was ich in meinem Artikel geschrieben, 
die Schlacht zwischen Stotterbetty und Galgentoni im Cafe 
Mimose, der Cafetier Mungo Natscheradetz und die heuch¬ 
lerische Frieda Kniefall, und vor allem die anklagende 
Verteidigung, auf die sich die Galgentoni vorbereitet hat 
und die sie mir in ihrer häßlichen Kammer im Ledergäß- 
chem vorgesprochen. 

Ich verklagte die Plagiatoren, und das Gericht stellte 
mir die Frage, ob Handlung und Figuren erfunden seien. 
Selbstverständlich antwortete ich, daß sie nicht erfunden 
seien. Überdies fand sich ein Zeuge, ein Angestellter des 
verklagten Stadttheaters, und er beschwor, eine Frau habe 
ihm ihr Leben so erzählt, wie es auf der Bühne gespielt 
werde. Die literarischen Sachverständigen erklärten, mein 
Artikel sei nur ein Tatsachenbericht gewesen und kein 
Phantasieprodukt, „weshalb ihm ein geistiges Eigentums¬ 
recht keinesfalls innewohnen könne". So wurde meine 
Klage abgewiesen und ich zur Tragung der Prozeßkosten 
verurteilt. Seither ging ich mit Plagiatoren nicht mehr zu 
Gericht. 

Nach dem ersten Weltkrieg recherchierte ich die Hinter¬ 
gründe und Zusammenhänge des Redl-Falles, den ich 1913 
aufgedeckt hatte, und veröffentlichte die Ergebnisse. Ohne 
mich zu fragen, ohne mich zu nennen, wurde meine Dar- 


291 



Stellung mitsamt dem verlorenen Fußball-Wettspiel, dem 
Entschuldigungsbesuch des Schlossers Wagner, dem ko¬ 
mischen Verhalten der Detektive, den Dialogen und so wei¬ 
ter von Zeitungen abgedruckt, von „Autoren" an Zeitschrif¬ 
ten verschickt, zu Romanen ausgewalzt, dramatisiert, ver¬ 
filmt und als Grundlage von Anthologien der Spionage 
verwendet. In einer ernsten Geschichte der Spionage, die 
in Amerika erschien, hat sich der Verfasser die Mühe ge¬ 
nommen, die vielen gleichlautenden Publikationen über 
Redl durchzustudieren und sie gewissenhaft zu zitieren; 
nicht mich, denn er wußte nicht, daß sie allesamt von mir 
abgeschrieben waren. 

Der Preis, den Nazi-Hamburg meiner Geschichte aus 
dem Magdalenenheim erteilte, ist nicht meine einzige 
Ehrung durch eine Stadtgemeinde. Ein Volksdichter XY 
(er ist tot, und so lasse ich ihn leben) bekam den Litera¬ 
turpreis der Stadt Wien für seine Autobiographie. Das 
Interessanteste in seinem Leben ist ohne Zweifel das Er¬ 
zählertalent seiner böhmischen Großmutter. Wann immer 
sie im Lebensbuch ihres Enkels auftaucht - und sie taucht 
bei Beginn jedes Kapitels auf -, erzählt sie eine meiner 
Geschichten, die in der „Bohemia" als Sonntagsfeuilletons 
erschienen waren, aufs Komma genau. Nur den Namen des 
Verfassers nennt sie nie, wahrscheinlich hat sie ihn ver¬ 
gessen, begreiflich bei einer so alten Frau. 

Oft rieten mir Freunde und Kritiker, mich nicht selbst 
einen Reporter und meine Produkte nicht Reportagen zu 
nennen, nicht zu betonen, daß meine Stoffe mit wirklichen 
Ereignissen übereinstimmen. „Lassen Sie doch Daten und 
Namen weg, und schreiben Sie als Untertitel ,Novelle' hin. 
Dann werden Sie literarisch beurteilt werden, als Mann 
von Phantasie." 

„Von Phantasie!" Bedarf die Gestaltung der Wahrheit 
keiner Phantasie? Es ist wahr, die Phantasie darf sich 
hier nicht entfalten, wie sie lustig ist, nur der schmale 
Steg zwischen Tatsache und Tatsache ist zum Tanze frei¬ 
gegeben, und ihre Bewegungen müssen mit den Tatsachen 
in rhythmischem Einklang stehen. Und selbst diesen be¬ 
schränkten Tanzboden hat die Phantasie nicht für sich 
allein. Mit einem ganzen Corps de ballet von Kunstformen 


292 



muß sie sich im Reigen drehen, auf daß der sprödeste 
Stoff, die Wirklichkeit, in nichts nachgebe dem elastisch¬ 
sten Stoff, der Lüge. 

Ist schließlich das Darzustellende folgerichtig darge¬ 
stellt, dann erscheint es dem Leser so klar, daß er aus¬ 
ruft: „Das ist doch klar!" Wobei das Wort „klar" soviel 
wie „selbstverständlich" bedeutet und den Vorwurf der 
Banalität, der Platitüde, der Photographiererei ausdrückt. 
„Er hat ja nur aufgeschrieben, was er gesehen", wie Dok¬ 
tor Dykschy sagte. 

Ich nahm den Rat nicht an, das Wahre als Erlogenes zu 
tarnen. Im Gegenteil, ich versuchte, das Fehlen der Fak¬ 
ten, unter dem ich während des Mühlenfeuers gelitten, durch 
Fülle, oft durch Überfülle von Details zu kompensieren, 
selbst graphische Darstellungen, Situationspläne, Termini 
technici, Fußnoten und Bibliographien verschmähte ich 
nicht. Eine solche Genauigkeit bringt wieder andere Vor¬ 
würfe als den des Mangels an Phantasie. Die anspruchs¬ 
volle Akribie reizt den Leser, nach einer Lücke zu suchen. 

In der Tat kann auch dem Sachlichsten etwas Wichtiges 
entgehen, wofür der Reisechronist Thomas Platter aus Ba¬ 
sel ein klassisches Beispiel ist. Der kam zu Anfang des 
siebzehnten Jahrhunderts nach London und stöberte alle 
Besonderheiten auf. Auch im strohgedeckten Globe^Theater 
war er bei der Novität „Julius Cäsar" und widmete ihr den 
Satz: „Haben in dem streuernen Dachhaus die Tragedy 
vom ersten Keyser Julio Cäsare mit ohngefähr fünfzehn 
Personen sehen gar artlich agiren, und dantzeten sie zu 
endt der Comedien, ihrem gebrauch nach, gar überaus zier¬ 
lich." Er spricht also einmal von einer Tragödie und das 
andere Mal von einer Komödie, weil er wohl merkt, daß 
hier weder das eine noch das andere im aristotelischen 
Sinne „agiret" wird. Aber daß hier die Revolution des 
Dramas vorliegt, merkt Thomas Platter nicht oder hält es 
nicht der Aufzeichnung wert. Wie grundlegend wäre sein 
Buch durch eine zeitgenössische Kritik oder gar durch 
ein Interview mit Shakespeare gewesen, während es so 
nur als ein Dokument aus der Stadt und der Zeit Shake¬ 
speares Erwähnung findet, das den Namen Shakespeare 
nicht kennt. 


293 



Von den Fesseln des aktuellen Anlasses emanzipierte 
ich mich bald. Daß ich das konnte, verdanke ich einem 
neuen Redaktionskollegen, Paul Wiegier. Er schätzte meine 
Lokalberichte anders ein, als es die anderen Redakteure 
taten. Einmal kommentierte ich die Nachricht vom Ver¬ 
kauf des aus der Mozartzeit stammenden Clamschen 
Parks, der zu einem Tanzlokal geworden war. Am Sonn¬ 
tag fand ich die Glosse im Gehege des Feuilletons, wo 
bisher nur die berühmtesten Schriftsteller Deutschlands 
abgedruckt worden waren, mit meinem Namen und dem 
Serientitel „Prager Streifzüge" samt einer römischen I. Auf 
diese Weise war ich via facti zum ständigen Wochen- 
feuilletonisten ernannt, und ich schrieb jahrelang allsonn¬ 
täglich die Prager Streifzüge, eine Art unaktueller Lokal¬ 
schilderungen, ähnlich denen, die mir im Liederschatz des 
blinden Methodius so gefallen hatten. 

Ich drängte mich mit der Masse der Frierenden in den 
Wärmestuben, ich wartete mit den Hungernden in der 
Volksküche auf die Armensuppe, ich nächtigte mit den 
Obdachlosen im Nachtasyl, mit den Arbeitslosen hackte 
ich Eis auf der Moldau, schwamm als Flößerbursch nach 
Hamburg, statierte im Theater, zog mit dem Heerbann des 
Lumpenproletariats ins Saazer Land auf Hopfenpflücke 
und arbeitete als Gehilfe des Hundefängers. Gab es Hin¬ 
dernisse, so registrierte ich die Hindernisse, und sie wa¬ 
ren oft merkwürdiger als das Thema selbst. 

Als ich den Friedhof der Strafanstalt St Pankraz be¬ 
schreiben wollte, lehnte der Oberstaatsanwalt mein An¬ 
suchen ab: 

„Das Betreten des Anstaltsfriedhofs kann aus disziplinä¬ 
ren Gründen ebensowenig bewilligt werden wie ein Besuch 
der Gefangenenzelle. Da die innerhalb der Anstalt Beerdig¬ 
ten vor Abbüßung ihrer Strafe gestorben sind, unterstehen 
sie de jure auch weiterhin den k. u. k. Gefängnisvorschrif¬ 
ten. Ein Sträflingsfriedhof kann niemals als Stätte öffent¬ 
licher Pietät betrachtet werden." 

Mir blieb nichts anderes übrig, als die Friedhofsmauer 
zu überklettern und nachher minuziös zu beschreiben, wie 
ich dies bewerkstelligt hatte und daß ich dabei das Verbot 
des Oberstaatsanwalts in der Tasche trug. Ebenso genau 


294 



schilderte ich die Gräber, in denen politische Häftlinge 
und lokalhistorische Personen lagen. 

Nach Erscheinen meines Artikels wurde ich zum Ober¬ 
staatsanwalt zitiert, der mir ein Verfahren wegen Haus¬ 
friedensbruchs, Leichenschändung und Verletzung von 
Amtsgeheimnissen androhte. Ich fragte, wie er denn Tag, 
Stunde und Durchführung dieser Verbrechen feststellen 
wolle? Ob er Zeugen aufführen könne? 

„Sie wollen also Ihre Tat leugnen, die Sie selber be¬ 
schrieben haben?" 

„Ich werde nur von dem Recht des Beschuldigten Ge¬ 
brauch machen, die Aussage zu verweigern." 

Er ließ es nicht darauf ankommen. 

Eine meiner unaktuellen Reportagen war die reale Su¬ 
che nach einem irrealen Stoff. Vom Hohen Rabbi Loew, 
dem Thaumaturgen, erzählt die Sage, daß er aus Lehm 
und lebensgroß den „Golem" schuf und ihm menschliches 
Leben einhauchte. Als dieser Frevel Unglück über die Ge¬ 
meinde brachte, habe der Hohe Rabbi Loew die Lehmfigur 
auf dem Dachstuhl der tausendjährigen Altneu-Synagoge 
beigesetzt und einen Bannfluch gegen jeden verkündet, 
der den toten Nichtmenschen zu stören wage. Die Treppe 
zum Dach wurde abgetragen. 

Mit Hilfe von Steigeisen stieg ich im Morgengrauen die 
Außenwand der Synagoge empor und schwang mich in 
die Dachkammer. Ich versuchte vorwärts zu gehen, aber 
es gab keinen Fußboden, es gab nur spitze Hügel und 
spitze Abgründe aus Stein - die Außenseite der Wölbun¬ 
gen, welche die darunter liegende Bethalle überdachten. 
Auf dieser Felsenlandschaft balancierte ich, nach rechts 
und links lugend. Eine aufgestörte Fledermaus prallte im¬ 
mer wieder gegen meinen Kopf. 

Hätte ich die von meinem Ahnen geschaffene Statue ge¬ 
funden, dann hätte ich vielleicht versucht, sie wieder zum 
Leben zu erwecken. Aber das wäre mir keinesfalls so ge¬ 
glückt wie dadurch, daß ich sie nicht fand. Der Golem 
wurde lebendig infolge meiner vergeblichen Suche und 
dem Bericht darüber. In der Einleitung zu seiner Golem- 
Monographie schildert Professor Chajim Bloch diese meine 
Einleitung der Golem-Renaissance. Dramen, Filme, eine 


295 



Oper und ein Oratorium hatten nun den Golem zum Hel¬ 
den. Vor allem aber geistert er durch Meyrinks gleich¬ 
namigen Roman. Mein Vater, der dem Bankier Gustav 
Meyer viele Stoffe lieferte, hat kaum geahnt, daß sein 
Sohn dieser Kundschaft einmal einen Stoff von so anderer 
Art liefern werde. Die Prager Stadtgemeinde errichtete 
dem Hohen Rabbi Loew, dem Schöpfer des Golems, ein 
künstlerisches Denkmal, das die Nazis am Tage ihres Ein¬ 
marsches zertrümmerten. 

Paradox und aus paradoxen Gründen veranlaßt war 
meine Fahrt auf dem Moldau-Dampferchen „Lanna 8" - 
eine Reportage ohne Erkundungszweck, ein Spaß, der sich 
über viel Zeit und Raum erstreckte. Der winzige Schlepp¬ 
dampfer war von der Behörde bestimmt worden, auf dem 
Wasserweg von Prag nach Preßburg abzugehen. Dabei 
hatte man eines nicht bedacht: Prag liegt an der Moldau, 
die zum Flußgebiet der Nordsee gehört, während Preßburg 
an der Donau liegt, die nach Süden ins Schwarze Meer 
fließt. Als der Spediteur, der mit dem Transport beauf¬ 
tragt war, auf die Undurchführbarkeit des Befehls hin¬ 
wies, äußerte der verantwortliche Beamte frei nach Kaiser 
Wilhelm: „Wo ein Wille ist, ist auch ein Wasserweg." 
Allerdings, es gab einen, wenn auch nur den lächerlich 
umständlichen auf Moldau und Elbe nordwärts nach Ham¬ 
burg und Cuxhaven, von dort übers Meer westwärts zum 
Rhein, diesen südwärts zum Main und dann auf Kanälen 
zur Donau. Diese Route rund um Europa mußte also die 
„Lanna 8 W nehmen, und der halb ärgerliche, halb amüsierte 
Spediteur konnte nur protestieren, indem er mich als Ad¬ 
ministrator für diese Fahrt anheuerte. Begeistert nahm ich 
an. 

Das Schiffchen mit der Bemannung von zwei Mann, die 
nie aus dem Prager Hafenbezirk herausgekommen waren, 
und ich als dritter, ging nun auf Weltumseglung. Wir hat¬ 
ten einen Schulatlas mitnehmen wollen, ihn aber verges¬ 
sen. Gleichfalls vergessen oder, besser gesagt, nicht ge¬ 
wußt hatten wir, daß ein Flußdampfer nicht übers Meer 
fahren kann, weil er keinen Kondensator für Salzwasser 
besitzt. Aber da wir das nicht wußten, fuhren wir ahnungs¬ 
los von der Elbemündung über das Meer. Und das Meer, 


296 



das noch nie ein Flugdampferchen gesehen hatte, erkannte 
nicht dag die „Lanna 8" ein Flugdampferchen sei, und 
lieg es dahingehen. Bei unserer Landung in Wilhelms¬ 
haven waren wir ganz mit funkelnden Salzkristallen be¬ 
kleidet unsere Bärte, Haare, Kleider und Schuhe, der 
Kamin, die Reling, die Schiffswand, das Steuerrad; sogar 
die den Bordrand überhängende WC-Hütte war in eine 
Märchengrotte verwandelt. Unser Kapitän und unser Ma¬ 
schinist der Getränke des Nordseegebietes ungewohnt, 
hielten es für eine vom Alkohol bewirkte Halluzination, 
als sie ihre alte „Lanna 8" im Flitterkleid sahen. Hunderte 
Menschen standen entzückt um das Schiff aus dem Fabel¬ 
land. 

Grotesk war unsere Passage durch die Felsenengen des 
Rheins. Von hohen Leuchttürmen und Felsengipfeln her¬ 
ab zeigen Signal Wächter, sogenannte „Wahr schauer", jedem 
Schiff an, ob es weiterfahren darf oder zu warten hat, 
denn in dieser Enge können zwei Schiffe nicht aneinander 
vorbeifahren. Für jeden Winkel dieser Strecke müssen die 
Schiffe einen anderen Piloten auf nehmen, der nicht nur 
Strömung und Tiefe, sondern auch die komplizierten 
Licht- und Flaggen- und Hornsignale kennt. Nachtfahrt 
ist verboten. 

Wir aber wugten nichts von alledem. Wir besagen nur 
eine zusammenlegbare Ansichtskarte des Fluglaufs, die 
ich am Ufer gekauft hatte. Ohne Piloten und ohne die 
verzweifelten oder wütenden Signale der Wahrschauer zu 
verstehen, fuhren wir durch eine gewitternde Nacht, un¬ 
ausgesetzt an Riffe und verankerte Schiffe prallend. 

Nach meiner Rückkehr habe ich die Weltumseglung der 
„Lanna 8" in Gemeinschaft mit Jaroslav Hasek, dem Ver¬ 
fasser des „Braven Soldaten Schwejk", dramatisiert. Die 
Szene vom Rhein ist zur Gänze von Jaroslav Hasek, und 
ich setze sie wegen ihrer grandiosen Mischung von Gottes¬ 
glauben, Blasphemie und Naturmythos hierher: 

Maschinist Mikulaschek: Achtung, ein 
Fisch! Ausweichen! 

Kapitän Struha: Ich sehe gar nichts in diesem 
Regen. Gleich werden wir kaputtgehn in dieser Finsternis, 
dieser gottverfluchten. 


297 



Es blitzt und donnert. 

Reporter Kisch immer mit Notizbuch und Blei¬ 
stift : Wir sind verloren! Schiffbruch! Wir werden hernie¬ 
dersinken auf den Grund des Rheins, wo der Nibelungen¬ 
hort liegt Hier unter uns tanzen die Rheintöchter, die 
Walküre und Carmen. Notiert : „Unser geschätzter Mit¬ 
arbeiter Kisch stirbt den Seemannstod!" Hurra! 

Mikulaschek: Man sagt, daß der liebe Gott die 
Betrunkenen beschützt, also müssen wir uns schnell be¬ 
saufen. Seht ihr jetzt ein, wie vorsorglich es von mir war, 
daß ich gestern den Liter Rum eingekauft habe? Nicht die¬ 
sen milden holländischen Genever, den soll der Teufel 

k°^ en ‘ Blitz und Donner. 

S t r u h a : Ich sehe nicht einmal das Steuer. 

Mikulaschek: Ja, ja, finster wie im Hintern ist 
es, und dazu immerfort diese unanständigen Geräusche 
vom Himmel. 

Ein Blitz fährt neben dem Schiffchen ins Wasser. 

Mikulaschek zu den Wolken hinauf: Du willst 
uns abschießen, weil wir fluchen? Da mußt du schon bes¬ 
ser zielen! Ein Patzer bist du, laß dich ausstopfen! 

Blitze sausen backbord und steuerbord vorbei. 

Mikulaschek schwenkt den Arm : Fehler! Fehl¬ 
geschossen. £ s donnert furchtbar. 

S t r u h a : Wenn ich je schon so einen Krach gehört 
hab, soll mich der Blitz erschlagen. 

Blitz und Donnerschlag. 

Struha bekreuzigt sich erschreckt. Zum Himmel: Na, 
na, man wird doch noch ein Wörtchen reden dürfen. 

Kisch : Mit Recht sagt man, daß die Landschaft nir¬ 
gends so heroisch ist wie an der Lorelei. Die Lorelei ist 
die Scylla und Charybdis, die Homer besungen. Seit das 
Weltmeer unseren Ozeandampfer „Lanna 8" mit Stalak¬ 
titen und Adamiten geschmückt hat, war nichts so roman¬ 
tisch auf unserer Fahrt. 


298 



S t r u h a : Schwätzen Sie nicht soviel Herr Reporter. 

Mikulaschek: Man kann ja bei Ihrem Geblödel 
nicht einmal den Donner hören. 

S t r u h a : Zünden Sie lieber ein Streichholz an, Herr 
Reporter, damit wir den Weg sehen. 

K i s c h : Ja, ich werde die Wasserstraße beleuchten. Ich 
werde der Scheinwerfer sein, ich werde als Leuchtturm 
strahlen. Ich bin das Licht, ich bin die Flamme. Er ent¬ 
zündet ein Streichholz. Wie wildromantisch! Wie schön! 

Mikulaschek : Schön? Wenn das schön ist, will ich 


verdammt sein. 


Blitz und Donner. 


S t r u h a : Laß das Fluchen, Mikulaschek. Die Streich¬ 
hölzer werden genügen. 

Kisch: Ganz richtig! Bedienen wir uns des technischen 
Fortschritts. Was brauchen wir mythische Kräfte? Heut¬ 
zutage beherrscht der menschliche Verstand vollkommen 
alle Naturkräfte. Es bedarf keines Gottes mehr. 


Blitze und schauerlicher Donner gehen nieder. 

S t r u h a : Schweigen Sie doch, Herr Reporter, sonst 
kippt das Schiff um. Zünden Sie wieder ein Streichholz 


Kisch : Ich hab keins mehr. 

S t r u h a : Also dann müssen Sie fluchen. Aber schnell, 
bitte, hier scheint ein Schiff zu sein. 

Kisch nach einer Pause des Nachdenkens: Donnerwet¬ 


ter noch mal... 


Kleiner Blitz. 


S t r u h a : Das war gar nichts, Herr Reporter. 
Mikulaschek : Das hat soviel Wirkung wie ein 
Furz im Hochwald. 

S t r u h a : Mikulaschek, fluch du. 

Mikulaschek gegen den Himmel : Du kannst uns 
den Buckel runterrutschen, kreuzweise, damit du's weißt! 

Blitze kreuzen sich. 


Kisch : Das war ein sehr lichtstarker Fluch. Bitte, 
lästern Sie noch so etwas, Herr Mikulaschek, etwas Ge¬ 
pfeffertes womöglich. 


299 



S t r u h a : Nicht mehr nötig. Wir haben die Felsen 
schon umschifft. Wir schwimmen jetzt im breiten Strom. 

Kisch : Gerettet! Notiert : „Unsere Fregatte ist wieder 
flott. Wir haben offene Fahrt!" Ahoi! 

S t r u h a : Ja, uns sturmgewohnten Seeleuten kann kein 
Unwetter etwas antun. Aber in Schweiß bin ich geraten, 

zum Teufel. Kurzer Donner schlag. 

Struha zum Himmel: Brauchst dich gar nicht mehr 
aufzuregen, wir lassen dich jetzt in Ruhe. 



PERVERSES VORSPIEL 


Außer einer alten Dame mit ihrem Sohn waren keine 
Gäste in der Brünner Vorstadtpension, in der ich wohnte. 
Der Sohn war ein untersetzter Herr, Mitte der Dreißig, 
vielleicht ein Bankbeamter. Er trug einen Kneifer und sah, 
wenn man so sagen kann, auffallend uninteressant aus. 
Während der zwei Tage, in denen ich mit ihnen zusam¬ 
men wohnte, wechselten wir, so gerne sie auch anschei¬ 
nend ein Gespräch angeknüpft hätten, kein Wort mitein¬ 
ander. 

Am Morgen schaute ich - o Dantesche Neugier! - die 
im Vorzimmer liegende Post an, obwohl ich keine zu er¬ 
warten hatte. Es waren zwei Karten für den Pensionsin¬ 
haber und ein Brief aus Teschen für Frau Prochaska da. So 
hießen also die alte Dame und ihr Sohn. Prochaska ist der 
gewöhnlichste Name in Österreich, wie Lehmann der ge¬ 
wöhnlichste Name in Deutschland ist; deshalb wurden 
Kaiser Franz Joseph „Prochaska" und Kaiser Wilhelm 
„Lehmann" genannt. 

Am gleichen Nachmittag ging ich mit meinem Freund 
Hugo meiner Pension zu, als uns in ihrer Nähe ein Platz¬ 
regen überraschte. Passanten liefen ins nächste Kaffeehaus, 
wir mit ihnen. Es war überfüllt, nur an einem kleinen Tisch 
fanden wir zwei Stühle frei. Auf dem dritten saß mein 
Pensionsnachbar und machte ein gelangweiltes Gesicht. Er 
hatte keine interessantere Gesellschaft als sich selbst ge¬ 
funden, kannte also keine Menschenseele in. der Stadt. 

Mein Freund Hugo zog aus seiner Aktentasche Photos 
von neuen Filmen. Neugierig wie ein Kiebitz lugte unser 
Nachbar auf die Bilder, worauf Hugo ihm eines nach dem 
anderen reichte. Auf diese Weise entstand ein Gesprächs¬ 
beginn, just so uninteressant wie unser Nachbar und sein 
Name. Er fragte, ob wir aus der Filmbranche seien, und 
wir antworteten, wir seien aus der Filmbranche, und er 
sagte, das sei ein sehr interessanter Beruf, und wir ant- 


301 



worteten, ach Gott, es sei nicht alles Gold, was glänze. Zu 
einem der Photos bemerkte er, daß er diesen Film gesehen 
habe. «Wie ist das möglich?" fragte mein Freund Hugo, 
«dieser Film ist noch gar nicht gelaufen." Aber das klärte 
sich rasch auf, denn es war im Ausland gewesen, in Bel¬ 
grad, wo unser Nachbar den Film gesehen hatte. 

„Waren Sie lange in Belgrad?" fragte ich. 

Unser Nachbar erwiderte, zehn Jahre lang habe er auf 
dem Balkan gelebt, er habe die Nase voll davon. 

„Die Geschäfte schlecht da unten, nicht wahr?" fragte 
mein Freund Hugo mit regem Interesse, denn er ver¬ 
schmäht niemanden, den er bezaubern kann. 

Unser Nachbar erwiderte, er sei als Beamter dort ge¬ 
wesen. 

„Ah, sicherlich im Holzhandel", meinte mein Freund 
Hugo, damit sei freilich jetzt nicht viel los, er habe einen 
Schwager, der sei Direktor der Belgrader Sägewerke 
und . .. 

Nein, unterbrach unser Nachbar, er sei Staatsbeamter. 

Das schien mir seltsam. Die Balkanstaaten beschäftigen 
keine Österreicher in ihrem Staatsdienst, am allerwenigsten 
einen, der die Nase voll hat vom Balkan. Andererseits 
unterhält auch Österreich keine Staatsbeamten im Ausland, 
es sei denn Diplomaten. Wie ein Diplomat sah aber unser 
Nachbar nicht aus, und er war es auch nicht, wie sich aus 
dem weiteren Verlauf des Gespräches ergab. Bestenfalls 
konnte er... 

Kaum hatte ich begonnen, mir ihn auszurechnen, als ich 
schon den Ruf ausstieß: „Sie sind der Konsul Prochaska!" 

Er lächelte halb geschmeichelt, halb erschrocken und 
schaute nach allen Seiten, ob niemand meinen Ausruf ge¬ 
hört. Niemand hatte ihn gehört, alle Gäste ringsum waren 
mit dem Abtrocknen ihrer durchnäßten Anzüge beschäftigt. 

„Woher wissen Sie, wer ich bin?" forschte unser Nach¬ 
bar. 

Ich antwortete, daß ich heute morgen in der Pension 
einen Brief aus Teschen mit dem Namen Prochaska ge¬ 
sehen. „Und als Sie eben sagten, daß Sie Staatsbeamter 
auf dem Balkan waren ..." 

„Hm. Man muß noch viel vorsichtiger sein, als ich es 


302 



schon bin. Sind Sie wirklich aus der Filmbranche, meine 
Herren? Haben Sie nichts mit der Zeitung zu tun?" 

„Mit der Zeitung? Unsere einzige Beziehung zu den 
Zeitungen sind die Filminserate, die wir aufgeben." 

Der Ton unserer Erklärung mußte jedes Mißtrauen be¬ 
seitigen. Überdies fragte mein Freund Hugo unseren Nach¬ 
bar, ob er sich nicht filmen lassen möchte. „Um Gottes 
willen", sagte der, „das fehlte gerade. Ich bin ja hierher¬ 
geschickt worden, damit mich niemand sieht. Ich durfte 
nicht einmal nach meiner Heimatstadt fahren, mußte meine 
Mutter aus Teschen hierherkommen lassen. Seit ich hier 
bin, habe ich mit keinem Menschen gesprochen." 

Er war offenbar erpicht zu sprechen, und ich war erpicht, 
etwas von ihm zu hören. Aber es hieß vorsichtig zu Werke 
gehen, nicht mit der Tür ins Haus fallen, taktvoll sein, 
nichts Indiskretes fragen, nichts, was seine Person betraf. 
Ich fragte also: „Ist es wahr, Herr Konsul, daß Sie von 
den Serben kastriert wurden?" 

„Keine Spur", antwortete er verbindlich und begann 
alles zu erzählen, was er wußte. Aber er wußte nicht alles. 
Selbst wenn ihm weiter nichts abgeschnitten worden war 
als die Verbindung mit der Außenwelt, so war es doch 
gerade die Außenwelt gewesen, die seine uninteressante 
Persönlichkeit zum Zentrum des Interesses und den harm¬ 
losen Namen „Prochaska" zum Schlachtruf von Europa 
gemacht hatte. 

Im Winter 1912 war der Krieg der Balkanstaaten gegen 
die Türkei in vollem Gange, denn Griechenland, Rumänien 
und Serbien hatten sich noch nicht wegen der zukünftigen 
Beute (Konstantinopel und Mazedonien) entzweit. 

Die Österreichisch-ungarische Monarchie war strikt neu¬ 
tral, das heißt, sie trat offen gegen Serbien auf. Hingegen 
wurde Serbien ebenso offen von Rußland in der Feind¬ 
schaft unterstützt, die es seit der Annexion von Bosnien 
und Herzegowina gegen Österreich hegte. 

Anfang November drang die dritte serbische Armee 
über Orischtina und das Amselfeld gegen die Stadt 
Prizrend vor und eroberte sie trotz ihres Widerstandes. 

„Keine Spur", antwortete also unser Nachbar auf meine 
Frage, ob er kastriert worden sei, und fuhr fort: „Aber es 


303 



wäre wirklich kein Wunder gewesen, wenn mir in Prizrend 
etwas passiert wäre. Die Besatzungstruppen konnten an 
sich einem Österreichischen Konsul nicht sympathisch 
gegenüberstehen. Außerdem wurden wohl auch über meine 
persönliche Haltung Gerüchte ausgesprengt." 

Ganz recht, Herr Nachbar. Und damit begannt. 

Die Serben warfen Ihnen vor, daß Sie die Türken und 
die Albaner zur Verteidigung der Stadt Prizrend aufgereizt 
und eigenhändig auf die einziehenden Truppen geschossen 
hätten; und daß Sie dem serbischen Armeekommandanten 
Jankovic keinen Besuch abgestattet hätten, während der 
russische Konsul das sofort tat. Einige Zeitungen forderten 
Ihre standrechtliche Aburteilung als Spion. 

„Jedenfalls hatte ich keine Ahnung, welcher Art die Aus¬ 
streuungen gegen mich waren, und konnte ihnen daher 
nicht entgegentreten." 

Ganz recht, Herr Nachbar, aber das österreichische 
Außenministerium nahm Sie in Schutz. Es protestierte 
gegen die Angriffe, die nicht nur in der Presse Serbiens 
erschienen, sondern auch in Kroatien und Slawonien, also 
österreichischen Provinzen, lanciert wurden. Das Wiener 
Kommunique bezeichnete diese Verleumdungen und Dro¬ 
hungen gegen Ihre Person als völkerrechtswidrige Hetze. 

„Aus der Haltung der serbischen Behörden mußte ich 
schließen", erzählte unser Nachbar weiter, „daß die Aus¬ 
sprengungen auf fruchtbaren Boden gefallen waren." 

Ganz recht, Herr Nachbar, und zwar wurden diese An¬ 
würfe zur Grundlage eines diplomatischen Protestes von 
seiten Serbiens. Statt von den Presseangriffen abzurücken, 
erklärte nämlich der Gesandte Serbiens in Wien, seine Re¬ 
gierung betrachte Sie, Herr Nachbar, als Persona non grata 
und verlange Ihre Abberufung. 

„In dem Haus, in dem ich meine Diensträume und meine 
Wohnung hatte, wurden Soldaten unter gebracht. Ich war 
praktisch ein Gefangener. Die türkischen Postbeamten 
waren aus Prizrend geflohen, und die Serben hatten nur 
eine Feldpost eingerichtet, in deren Dienst ich nicht ein¬ 
bezogen war. So konnte ich nicht nach Wien berichten, 
und das mußte dort auffallen." 

Ganz recht, Herr Nachbar. Die Tatsache, daß keine 


304 



Nachricht von Ihnen einlangte, war der dritte Akt der 
Komödie um Ihre Person. Im Zusammenhang mit dem 
ersten Akt (den Pressedrohungen gegen Sie) und dem 
zweiten Akt (dem Verlangen nach Ihrer Abberufung) er¬ 
regte Ihr Stillschweigen Aufsehen und Besorgnis. Sie waren 
vermißt. Sie waren spurlos verschwunden. Sie waren ver¬ 
schleppt oder gefangen oder gar tot, denn warum hätten 
Sie sonst kein Lebenszeichen gegeben? Repressalien gegen 
Serbien war die Forderung des Tages in Österreich. 

In den Delegationen, einer Repräsentanz der Reichsräte 
von Österreich und Ungarn, kam es zu Szenen stürmi¬ 
schen Unwillens, als Graf Berchtold, der Außenminister, 
erklärte, daß eine Fühlungnahme mit Ihnen, Herr Nach¬ 
bar, unmöglich sei, weil die serbischen Militärbehörden ge¬ 
gen die Entsendung eines österreichischen Kuriers nach 
Prizrend Widerspruch erhoben. 

„Ich bekam nur die Bewilligung, meiner Mutter in 
Teschen eine Postkarte des Inhalts zu schicken, daß ich 
gesund sei. Sonst nichts. Man erlaubte mir nicht einmal, 
mit unserer Belgrader Gesandtschaft Fühlung zu nehmen. 
Dahinter mußte etwas stecken." 

Ganz recht, Herr Nachbar. Was dahintersteckte, war 
der riesenbärtige serbische Ministerpräsident Nikola Pasic, 
der „Bismarck des Balkans". Er beantwortete die Tele¬ 
gramme, die Ihretwegen an ihn gerichtet wurden, keines¬ 
wegs selbst, sondern ließ durch einen Beamten die nichts¬ 
sagende Mitteilung ergehen: „Laut Informationen liegt 
kein Anlaß zu Besorgnissen über befragte Persönlichkeit 
vor." 

Österreichs Sprachrohre führten keine Sprache mehr, sie 
spritzten Galle und Haß. Voll alttestamentarischen Zorns 
wütete die „Neue Freie Presse" gegen das Königreich 
Serbien. Moriz Benedikts Leitartikel fingen immer mit 
einer lapidaren Banalität an, die dann am Schluß als 
Pointe wiederkehrte. (So begann und endete die berühmte 
Benediktsche Verfluchung des Bolschewismus mit dem 
Satz: „Die Familie Broisky war eine der reichsten in 
Kiew.") 

In Ihrem Fall, Herr Nachbar, war es die Postkarte an 
Ihre Frau Mutter, mit der Moriz Benedikt die Welt aus 


20 Kisch VII 


305 



den Angeln heben wollte. „Der Konsul Prochaska darf 
seiner Mutter schreiben. Eine harmlose Mitteilung an das 
Ministerium wird jedoch nicht erlaubt, und Österreich- 
Ungarn muß wegen dieser kleinlichen, nichtigen und ge¬ 
radezu widerwärtigen Gehässigkeit die ernstesten Vorstel¬ 
lungen machen... Das Ehrgefühl der Monarchie ist nicht 
minder lebendig als das anderer Großmächte, und spielen 
lassen wir mit uns gewiß nicht... Rußland schweigt, ob¬ 
gleich gerade dieses Volk die Selbstverleugnung der öster¬ 
reichisch-ungarischen Monarchie am genauesten verstehen 
sollte... Die serbische Politik drängt ihre wirklich ab¬ 
stoßende zänkische Art selbst dann nicht zurück, wenn die 
Angelegenheit abseits von der Heerstraße der großen Fra¬ 
gen liegt. Das k. u. k. österreichische Außenministerium 
bekommt keine Nachricht aus Prizrend. Ist der Konsul 
etwa tot? Nein! Konsul Prochaska darf seiner Mutter 
schreiben." 

„Wochenlang saß ich", erzählte unser Nachbar weiter, 
„in Prizrend, bis ich eines Tages vom serbischen Kriegs¬ 
hauptquartier - wie es heißt, auf persönliches Betreiben 
Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Alexander - die 
Bewilligung erhielt, aus Prizrend abzureisen und nach dem 
inzwischen von den Serben eroberten Üsküb zu gehen. Das 
heißt: die Stadt hieß nicht mehr Üsküb, dieser türkische 
Name war eben abgeschafft worden. Sie hieß nunmehr 
,Skoplje'. Dort traf ich einen unserer Vertrauensmänner 
und trug ihm auf, an eine Privatfirma in Wien zu telegra¬ 
fieren, daß X - ich gab ihm einen Namen an - in Üsküb 
sei. Die Firma war eine der Anlaufadressen des Ministe¬ 
riums, der Name des in Üsküb Eingetroffenen war mein 
Deckname. Ich glaubte, mit diesem Telegramm die Be¬ 
sorgnisse zerstreut zu haben, die mein Stillschweigen er¬ 
regt haben mußte. Aber stellen Sie sich vor, meine Herren, 
plötzlich bekam ich Telegramme, die ich nicht verstand: 
Sie machten mir nur klar, daß irgendwelche peinlichen Ge¬ 
rüchte über mich herumliefen." 

Ganz recht, Herr Nachbar. Es waren peinliche Gerüchte, 
die über Sie herumliefen, sie erhitzten den friedvollsten 
Bürger und brachten sein Blut zum Sieden. Was Ihnen 
angetan worden war, Herr Nachbar, wagte die dezente 


306 



Presse nur anzudeuten: „Schändliches Attentat gegen un¬ 
seren Konsularvertreter", „Bestialische Grausamkeit... 
„Verstümmelung", „Vergewaltigung". Die etwas weniger 
dezente Presse war etwas weniger zurückhaltend und 
sprach das Wort „Kastrierung" aus. Aber die ausgespro¬ 
chen indezente Presse malte mit krassen Farben, wie Sie, 
Herr Nachbar, von hohnlachenden balkanischen Hammel¬ 
dieben festgehalten wurden, während Ihnen die Zange in 
die Lenden fuhr - ein Akt, mit dem die Täter symboli¬ 
sieren wollten, daß Österreich aus einem maskulinen Wid¬ 
der zu einem neutralen Hammel gemacht sei. 

In einem Punkt aber waren sich Dezente, weniger De¬ 
zente und ausgesprochen Indezente einig, nämlich darin, 
dafj diese der Großmacht angetane Schmach vergolten wer¬ 
den müsse, Auge um Auge, Zahn um Zahn, Hoden um 
Hoden. Auch die Pazifisten streckten ihre Waffenlosigkeit. 
Ihr Führer trat mit allen seinen Titeln („Herrenhausmit¬ 
glied, Hofrat, ord. Professor der Wiener Universität und 
Mitglied des Internationalen Schiedsgerichtshofes im 
Haag") hervor und forderte Sühne für die Gewalttat, die 
kaum ihresgleichen in der neueren Geschichte auf weise. 

Nun hieß es nicht mehr Intervention und Repressalien. 
Nun hieß es Krieg. Der vierte Akt der Komödie um Ihre 
Person, Herr Nachbar, war erfüllt von Massenszenen und 
Schlachtenlärm. Vor dem Reiterstandbild des Prinzen 
Eugen im Wiener Burghof sammelten sich Zehntausende 
von erregten Männern, meist dem gehobenen Mittelstand 
angehörend. Sie sangen das Lied vom Prinzen Eugenius, 
dem edlen Ritter, welcher bekanntlich „wollt dem Kaiser 
wied'rum kriegen Stadt und Festung Beigerad". Seinem 
hehren Beispiel folgend, ruckten die Demonstranten zwar 
nicht gegen Beigerad, immerhin aber vor das Gebäude 
der serbischen Gesandtschaft und in das Geschäftslokal 
eines serbischen Friseurs, das sie kurz und klein schlugen. 
Der Schlachtruf hieß schlicht: „Kastriert die Kastrierer!" 
Wiederholt wurde auch der Ruf „Hoch, Prochaska" aus- 
gestoßen, womit sowohl Sie, Herr Nachbar, als auch der 
alte Kaiser Franz Joseph gemeint sein konnten. 

Der Sprecher der Sozialdemokratie erklärte in den Dele¬ 
gationen, seinen Informationen zufolge sei Ihnen, Herr 


307 



Nachbar, nur einer derTestikel exstirpiert worden, was zwar 
die Roheit der Täter nicht wesentlich vermindere, aber 
ebensowenig Ihre Manneskraft. Die kriegshetzerische 
Journaille übertreibe also wie üblich um fünfzig Prozent. 

Ganz zu zweifeln vermochte niemand an Ihrer Kastrie¬ 
rung, Herr Nachbar. Die Nachricht stammte aus dem 
Augenministerium, und dieses bestätigte sie mit dem be¬ 
rühmten Kommunique: „Das k. u. k. Ministerium des 
Augern ist leider um so weniger in der Lage, der Meldung 
von der Verletzung des Herrn Konsul Oskar Prochaska 
ein Dementi entgegenzusetzen, als die Entsendung eines 
Spezialkuriers zu ihm auf eine Ablehnung stögt, die nur 
dadurch erklärt werden kann, dag die Meldung auf Rich¬ 
tigkeit beruht/' 

„Als mir schlieglich gestattet wurde", erzählte unser 
Nachbar weiter, „mit meiner Vorgesetzten Behörde in Ver¬ 
bindung zu treten, schickte ich ihr einen telegrafischen Be¬ 
richt. Der war einerseits so ausführlich und kam anderer¬ 
seits so verstümmelt an, dag die von vier Beamten vorge¬ 
nommene Dechiffrierung drei Tage und drei Nächte in An¬ 
spruch nahm, wie ich später erfuhr. Graf Berchtold schien 
der Richtigkeit des Telegrammes nicht zu trauen, denn ich 
bekam weiter mysteriöse Anfragen über die Art meiner 
Verwundung." 

Ganz recht, Herr Nachbar, das Augenministerium 
dementierte auch jetzt nicht und hatte gute Gründe dafür. 
Die Volksempörung, die durch die Ausgabe und Bestäti¬ 
gung der Nachricht entfesselt war, hätte sich gegen ihre 
Urheber gewendet. Überdies wäre durch ein Dementi die 
Aktion gescheitert, die das österreichische Ministerium bei 
der serbischen Regierung führte: die Entsendung eines 
österreichischen Ministers nach Üsküb, der sich durch 
Lokalaugenschein von der Intaktheit Ihrer Organe über¬ 
zeugen sollte. Serbien weigerte sich, diese beleidigende 
Reise zuzulassen. Mitten in diesem diplomatischen Schar¬ 
mützel konnte Österreich, obwohl es nun Ihren unzwei¬ 
deutigen Bericht in Händen hatte, ohne Prestigeverlust 
seinen Antrag nicht zurückziehen. Gab es doch bereits 
Truppenaufmärsche an der Grenze, Zusammenstöge von 
Patrouillen und Gewehrgeplänkel. 


308 



Im letzten Augenblick kam es durch Intervention Gro߬ 
britanniens am russischen Hof zu einem Akkord, auf 
Grund dessen das Königreich Serbien dem Abgesandten 
Österreichs - nicht einem Minister, sondern zwei Konsular¬ 
beamten - die Reise zu Ihnen, Herr Nachbar, freigab. 
Der Vorhang ging auf über dem fünften und letzten Akt 

Siegesglocken und Friedensjubel klangen durch Öster¬ 
reich, aber darein mengten sich neue Kriegsfanfaren. Was 
in Wirklichkeit der Intervention Großbritanniens zu dan¬ 
ken war, wurde als das Ergebnis der Kriegsbereitschaft 
dargestellt, die das sonst so friedfertige Volk Österreichs 
und seine energische Regierung gegen das freche Serbien 
kundgetan. Und noch liege der Befund nicht vor, den die 
beiden Vertreter des Außenministeriums vom Besuch bei 
Ihnen, Herr Nachbar, zurückbringen werden. 

„Ich saß eines Morgens in Üsküb", erzählte unser Nach¬ 
bar, „und hatte von meinem gewöhnlichen Frühstück, 
einem Schinkenbrot und zwei Eiern, das Schinkenbrot be¬ 
reits aufgegessen. Eben wollte ich mich an den Rest der 
Mahlzeit machen, als zwei meiner Wiener Kollegen ein¬ 
traten, Konsul Edl und Konsul Rakic. Eine sechstägige 
Reise über die militärisch besetzte Grenze und dann durch 
das serbisch-türkische Kriegsgebiet hatten die Herren ge¬ 
macht, um mich aufzusuchen! Sie waren sehr erstaunt, 
mich unversehrt, bei gutem Appetit und meinen zwei Eiern 
dasitzen zu sehen und zu hören, daß ich ihnen in normaler 
Stimmlage guten Morgen wünschte. Schon am nächsten 
Tage fuhren die Herren nach Wien zurück, und dort wurde 
die Ehre meines Geschlechts von Amts wegen wiederher¬ 
gestellt/' 

Ganz recht, Herr Nachbar. Und zwar war die Verlaut¬ 
barung, mit der die weltbewegende Affäre aus der Welt 
geschafft wurde, recht lendenlahm: „Konsul Edl, der 
gestern in Wien eingetroffen ist, scheint von seiner Mis¬ 
sion vollkommen befriedigt zu sein. Er hob das Entgegen¬ 
kommen serbischer Behörden hervor und fügte hinzu, er 
habe Herrn Konsul Prochaska bei bester Gesundheit in 
Üsküb zurückgelassen." 

„Ich mußte noch ein Jahr in Üsküb bleiben", sagte unser 
Nachbar, „ein ganzes Jahr." 


309 



Ganz recht Herr Nachbar, Sie mußten noch lange blei¬ 
ben, ein ganzes Jahr, obwohl Sie dort unbeliebt waren - 
nein, weil Sie dort unbeliebt waren. Konnte denn Öster¬ 
reich einen Vertreter abberufen, dessen Abberufung die 
Serben verlangten? 

„Schließlich wurde ich doch abberufen und fuhr nach 
Wien." 

Wir hatten die Erzählung unseres Nachbars nicht unter¬ 
brochen, unsere Ergänzungen nur in Gedanken geäußert. 
Jetzt aber mußte ich ihm eine Frage stellen: „Wieso gab 
das Ministerium die Nachricht von Ihrer Kastrierung aus? 
So etwas kann ja nicht einfach erfunden werden?" 

Unser Nachbar lächelte ein diplomatisch sein sollendes 
Lächeln und schwieg vielsagend. 

„Nun ja. Sie können freilich nicht wissen, was sich in 
Wien abgespielt hat", sagte ich. 

„Doch", erwiderte er, in seiner Eigenliebe getroffen, „ich 
weiß es." 

Unser Nachbar schaute sich im Kreise der durchnäßten 
Kaffeehausgäste um, ob nicht etwa jemand zuhöre, und 
erzählte leise: „In Wien habe ich erst erfahren, wie es kam. 
Das Telegramm, das ich durch unseren Vertrauensmann 
auf geben ließ, hatte gelautet: ,stryc dragotin u skoplje # , 
auf deutsch: ,Onkel Karl in Skoplje'. Mit dem Onkel Karl 
war ich gemeint - natürlich stand ein anderer Name im 
Telegramm, aber den kann ich Ihnen nicht verraten. Nun 
mußten einem Telegrafenbeamten die beiden Worte ,u 
skoplje' unverständlich erscheinen. War es doch erst we¬ 
nige Tage her, seit der türkische Name der Stadt Üsküb 
in skoplje' geändert worden war. Dagegen war das Wort 
,uskopljen' jedem Telegrafenbeamten vertraut in einem 
Lande, das von Hammelzucht lebt und jährlich genau vier¬ 
einhalb Millionen Widder zu Exportzwecken in Schöpse 
verwandelt. So setzte der Beamte den Buchstaben ,n' hin¬ 
zu, und Wien bekam das Telegramm mit dem Wort 
,uskopljen'. Die Wiener Firma war nur für meine Meldun¬ 
gen die Anlaufadresse, niemand anderer kannte sie, und 
selbst ich durfte mich ihrer nur im Notfall bedienen. Daß 
ich der - wie sagte ich doch? - ,Onkel Karl' war, wußte 
außer mir nur mein direkter Vorgesetzter. Also war zwei- 


310 



fellos ich selbst der Absender der Nachricht aus Üsküb, 
und da der Text nicht verstümmelt schien, mußte es der 
Absender sein." 

Draußen goß es immer noch in Strömen, jedoch ich be¬ 
hauptete, der Regen habe schon nachgelassen, und ver¬ 
abschiedete mich. 

So schnell wie möglich wollte ich die Sensation nieder¬ 
schreiben. Als ich aber begann, ward mir bewußt, wie 
wenig sensationell diese Sensation im journalistischen 
Sinne war. Wohl gewährte sie einen seltenen Einblick in 
den Mikrokosmos der Diplomatie, in die Frivolität, mit 
der patriotischer Haß entfesselt wird, und in die eitle 
Hartnäckigkeit von Staatsmännern, die einen Irrtum nicht 
eingestehen wollen und lieber so nahe an den Krieg her¬ 
anoperieren, daß ein kleiner Buchstabe ihn auslösen 
könnte. Aber das hat „stets und immer sich begeben", ist 
also ohne Neuigkeitswert. Für die Zeitung ist ein Konsul, 
der weder kastriert wurde noch potent genug war, einen 
Krieg zu zeugen, so uninteressant, wie er mir zuerst er¬ 
schienen war. 

Die Aktualität der Prochaska-Affäre war vorbei. 

Schon ein paar Monate nach ihrer Aufhellung verdun¬ 
kelt sich das europäische Firmament von neuem. Größere 
Ereignisse als die angebliche Verletzung des Völkerrechts 
durch die angebliche Verletzung eines Konsuls sind fällig, 
ein Mordanschlag auf den österreichischen Thronfolger 
zum Beispiel. 



EIN REPORTER WIRD SOLDAT 


Der Journalismus, so sagt man, führt zu allem, wenn 
man ihn verlädt. Ich verlief den Journalismus 1914, um 
Soldat zu werden, und wohin führte er mich? 

Zu Beginn des Weltkriegs, gleich mit den ersten Trup¬ 
pen, ging ich als Korporal der österreichisch-ungarischen 
Armee in die Schwarmlinie. Das wurde mir schwerer ge¬ 
macht als jenen, die sich nicht dazu drängten, weil die mir 
Vorgesetzten Kommandostellen in Heimat und Etappe mich 
als Historiographen (wie der Euphemismus für Reklame¬ 
chef lautet) bei sich behalten wollten. 

Mich jedoch verlangte es nach dem großen Abenteuer, 
und so lag und schoß und rannte ich vor dem Feind. Der 
Feind war zunächst das Königreich Serbien. 

Ich hatte also einen neuen Beruf, wenn auch nur den 
zeitweiligen eines Soldaten. Zum erstenmal sah ich Bege¬ 
benheiten von innen, die wichtiger waren als alle, die in 
der Presse erschienen. Daß nicht die wichtigen, sondern 
die belanglosen Begebenheiten in der Presse erschienen, 
war für mich selbst inmitten des unfaßbaren Grauens ein 
Stoff zum Nachdenken. 

Meine Kompanie hatte Sturmangriff auf die Dammstraße 
von Kolubara gemacht. Die hundertfünfzig Schritte hatten 
mehr als die Hälfte unserer Leute gekostet, Burschen, mit 
denen ich Tag und Nacht beisammen gewesen war, von 
denen ich jeden Gedanken und jede Regung kannte. Mit 
manch einem hatte ich Freundschaft bis zum Tod geschlos¬ 
sen. Heute war der Termin abgelaufen. 

Eine Landwehrkompanie hat uns abgelöst. Wir liegen 
wieder, reduziert, in unserer alten Stellung, die jetzt nicht 
mehr vorderste Linie, sondern Regimentsreserve ist. Noch 
immer bombardiert die feindliche Artillerie das hundert¬ 
fünfzig Schritte breite Maisfeld, dessen Erwerbung uns so 
teuer zu stehen kam. 

Mit dem Essen kommt auch Post zu uns, für mich eine 


312 



Zeitung. Da ich sie auf schlage, wird Fähnrich Frank auf 
einer Bahre vorbeigetragen, Bauchschuß. Ich trete auf ihn 
zu. „Grüß mir Prag." - „Ich komm nicht mehr bis Prag", 
stöhnt er. 

Ich schaue in die Zeitung. „Heeresbericht nördlicher 
Kriegsschauplatz" . . . „südlicher Kriegsschauplatz" . . . 
Leitartikel: „Gegen die Flucht in die Sachwerte". 

Ich führe eine Patrouille zur linken Nachbarkompanie 
und frage dort einen Gefreiten, der abseits seine Notdurft 
verrichtet, nach dem Kompaniekommando. Er weist mit 
der Hand die Richtung. 

Fast gleichzeitig bäumt sich die Erde auf, Schollen sau¬ 
sen mir in den Mund, in die Augen. Da ich wieder sehen 
kann, sehe ich den Rumpf des Gefreiten auf dem Boden, 
aus dem Hals spritzt Blut hoch. Die Granate fuhr durch 
seinen Kopf hindurch ins Erdreich, ein Blindgänger. 

Ich bin wieder in meinem Unterstand, mir zittern noch 
die Glieder, ich bemerke, daß meine Hose mit Blut be¬ 
spritzt ist. Schnell die Zeitung, nur vergessen, auf andere 
Gedanken kommen. 

„Im Nachlaß des Barons Wladimir Schlichtner fand sich 
eine von Fragonard mit einem gewagten Bild geschmückte 
Tabatiere, die begreiflicherweise bei der gestrigen Auk¬ 
tion ..." - „Dem sonntäglichen Wettspiel zwischen ,Sport- 
brüder' und deutscher Fußballklub', die einander bei 
ihrem letzten Zusammentreffen nach erbittertem Kampf 
ein unentschiedenes Spiel lieferten, wird mit um so größe¬ 
rer Spannung entgegengesehen, als ..." 

Sanitäter tragen in einem Zeltblatt einen Verwundeten, 
vor unserem Unterstand legen sie ihn hin, um auszuruhen. 
Ich schaue in sein Gesicht: es ist fahl. Ich berühre seine 
Hand: sie ist kalt. Die Legitimationskapsel wird ihm ab¬ 
genommen, seine Taschen geleert, und er wird hinter den 
Pflaumenbaum getragen, wo die Toten liegen. 

Im Feuilleton: „Um die Firste der Dächer wob das 
Mondlicht einen silbern-bläulichen, zittrigen Schimmer 
und verwandelte die Landschaft in eine Fata Morgana, 
wie sie in den heißen Träumen des Wachens dem Sehn¬ 
süchtigen vor der Seele gaukelt." 

Ein Meldegänger der 12. Kompanie fordert von uns 


313 



Blessiertenträger und Soldaten zum Fortschaffen von 
fünfzehn Toten und fünfundachtzig Verwundeten; die 
Schwarmlinie sei zu sehr geschwächt, als daß ihr Mann¬ 
schaft entzogen werden könnte. 

„Sechster Ziehungstag der 2. Österreichischen Klassen¬ 
lotterie. Je 200 Kronen gewannen folgende Lose.. 

Ein Soldat aus dem Mund blutend, bittet um Wasser. 
Zum Glück ist noch ein wenig kalter Kaffee in der Feld¬ 
flasche. Er trinkt, wankt weiter, wir wischen sein Blut vom 
Flaschenhals. 

„Javazucker fest, 23,6 bezahlt; Silber; 24,62; Rotterdam 
(Öle und Fette) Umsatz 6500." - Aus dem Gerichtssaal: 
„Das Muster einer braven Tochter scheint die vierund¬ 
zwanzig Jahre alte Martha Planer aus Komotau..." 

Der Leichengeruch wird unerträglich. Gott weiß, wann 
die Pioniere kommen werden, um sie zu begraben. 

„Eine Nachricht, die die Verehrerschar von Pauline Ul¬ 
rich, der auch bei uns rühmlich bekannten Heroine des 
Dresdner Schauspielhauses, sicherlich hoch erfreuen wird, 
ist die Verleihung..." - „Morgen wird zum 75. Male, 
fürwahr ein seltenes Jubiläum, die Operette ,Das Musi- 
kantenmädel' aufgeführt..." - „In Fräulein Helene Win¬ 
terfeld, bisher Breslau, scheinen wir nun endlich die Al¬ 
tistin gefunden zu haben, die die schmerzliche Lücke aus¬ 
füllen .. 

Ssss-wum - eine Granate schlägt beim Hilfsplatz ein, 
ssss-wum — eine zweite schon näher bei uns, ssss-wum - 
die dritte beseitigt unsere Latrine. Wir warten auf die 
vierte. 

„Kreuzherrenplatz. Die blonde Dame im grauen Tailor- 
made wird von sie verfolgendem, nicht unbemerkt geblie¬ 
benem Herrn dringendst..." 

Dort links kriecht jemand aus den Strünken des Ku¬ 
kuruzfelds, ich nehme das Gewehr in Anschlag. Ich er¬ 
kenne, daß es der Hornist vom 3. Bataillon ist. Seine Uni¬ 
form ist naß von Blut. Am frühen Moi*gen bekam er einen 
Schuß in den Rücken, blieb bewußtlos liegen, erwachte 
gegen Mittag, kroch stundenlang vorwärts, teils weil er 
nicht die Kraft hatte aufzustehen, teils weil ihm Kugeln 
um die Ohren pfiffen. Seine Wunde hat er sich mit einer 


314 



Wickelgamasche verbunden. Er beginnt zu schluchzen. „So 
allein war ich, so allein ..." Die Blessiertenträger erneuern 
seinen Verband, legen ihn auf ihre Trage. „So allein." 

Wir frieren, und einer sagt: „Schade, daß ich keinen 
Mantel erwischt hab." Wir alle fühlen uns ertappt bei dem 
gleichen Gedanken: gäbe es doch mehr Tote, damit wir 
uns mit ihren Mänteln zudecken könnten. 

„Eine LiebestragÖdie in der Weinberger Handelsschule" 
füllt die Lokalrubrik, hundert Zeilen, an Ort und Stelle 
recherchiert, sehr sentimental. Es handelt sich um den 
Selbstmordversuch zweier Schülerinnen aus Liebe zu einem 
Lehrer. „Eine LiebestragÖdie!" Wenn das Tragödie heißt, 
wie heißt denn das, was wir hier ununterbrochen erleben? 

Das, was wir hier ununterbrochen erleben, heißt Krieg. 
Auch über den Krieg erscheinen Berichte in den Zeitun¬ 
gen, wahrlich genug. Aber alles ist falsch und entstellt. 
Mich beschäftigt die Frage: Hätte ich als Kriegsbericht¬ 
erstatter auch solche Geschichten geliefert? 

Zwischen mich und meinen alten Beruf hat sich eine 
Distanz geschoben. Ich sehe jetzt anders. Mein journalisti¬ 
sches mit meinem soldatischen Auge vereint, ergeben ein 
plastisches Bild der Dinge. 

Etwas Ähnliches wie die „Zeitung", die ich als Kind für 
mich allein verfaßt und gedruckt hatte, ist jetzt mein Ta¬ 
gebuch. Jeden Tag stenographiere ich meine Lebens¬ 
weise und meine Gedanken, die Lebensweise und Gedan¬ 
ken von Hunderttausenden. Stundenlang schreibe ich in 
mein Notizbuch. Die Kameraden spotten: „Schreib das auf, 
Kisch!" Der Satz wird zur ständigen Redensart. Auch wenn 
ich nicht dabei bin, unterstreichen die Soldaten ihre Witze, 
Flüche, Drohungen, Klagen mit einem „Schreib das auf, 
Kisch!". Kisch schreibt auf, wenn der letzte Hosenknopf 
abreißt, wenn das einzige Stück Seife in den Brunnen fällt, 
wenn Blut in den Eßnapf spritzt. Manches schreibe ich 
auf, was ich als Journalist nicht gewußt hätte. Manches 
hätte ich als Journalist auch dann nicht geschrieben, wenn 
ich es gewußt hätte, denn es wäre mir zu belanglos er¬ 
schienen. Manches schreibe ich auf, was ich als Journalist 
nicht hätte schreiben dürfen, die Zeitung nicht gedruckt 
hätte. Mein Tagebuch weiß und darf. Welch ein Unter- 


315 



schied zwischen einem Spezialkorrespondenten und einem 
Soldaten, zwischen Zeitung und Notizbuch, zwischen einem 
Tag, den die Zeitung spiegelt, und einem Tag, im Schüt¬ 
zengraben überlebt. 

Der Heeresbericht meldet kurz und befriedigt; „Unsere 
Südarmee hat ihre Uferstellungen an der Drinamündung 
verstärkt/ Für uns sah das so aus; Am Morgen waren 
wir über die Drina in Serbien eingedrungen, und nachts 
wurden wir wieder zurückgezwungen in die „Uferstellun¬ 
gen". Es war zwei Uhr nachts, als der Rückzug begann. 
Vom linken Flügel aus ging in Intervallen eine Kompanie 
nach der andern zurück. Das Zentrum und der rechte Flü¬ 
gel verstärkten inzwischen ihr Gewehrfeuer, damit die 
Serben das Manöver nicht merken, nicht unmittelbar die 
Verfolgung aufnehmen sollten. 

Um drei Uhr bildete unsere Kompanie den linken Flü¬ 
gel. Wir zogen uns gegen die Drina zurück. Immerfort 
durch Gestrüpp, immerfort mußten wir uns zu Boden 
werfen, Artilleriegeschosse streiften unsere Kappen. Wir 
verloren die Richtung oder glaubten es wenigstens. „Hier¬ 
her!" rief einer. „Nach rechts!" rief ein anderer. Bald war 
alles zerflattert, Gruppen rannten hierhin, Gruppen dort¬ 
hin. 

Wir kamen an einen Fluß, der durch Spiegelung des 
Mondlichts etwas Helle gab. Ist das die Save? Wenn es 
die Save ist, sind wir oberhalb oder unterhalb der Drina¬ 
mündung? Einer will eine Streichholzschachtel ins Wasser 
werfen, um die Stromrichtung festzustellen. „Die Schachtel 
ist zu schade", wehren die Freunde. - „Sie ist ja leer." - 
Aber auch eine leere Streichholzschachtel ist ein Wert¬ 
objekt. So werfen wir eine Feldpostkarte in den Fluß. Sie 
schwimmt nach rechts, wir gehen nach links. Soldaten 
kriechen aus dem Uferschilf und schließen sich uns an, 
andere überholen uns, wieder andere kommen uns ent¬ 
gegen und beteuern, daß wir in falscher Richtung gehen. 
Allerdings, wenn der Fluß, in den wir die Postkarte war¬ 
fen, nicht die Save, sondern die Drina war, entfernen wir 
uns von der Überschiffungsstelle. Aber bald hören wir, 
hören entsetzt, daß wir richtig gehen. 

Ein ungeheuerliches Gedränge saugt uns auf. Soldaten 


316 



werfen Gewehre und Tornister von sich, ziehen ihre Stie¬ 
fel aus. Hunderte stehen im Wasser, um sich in dem her¬ 
überkommenden Ponton einen Platz zu sichern, bevor er 
anlegt Durch Gebrüll und durch Schwenken der Arme 
wollen sie den Ponton veranlassen, bei ihnen anzulegen. 

Andere haben die Absicht, den Strom bis ans österrei¬ 
chische Ufer zu durchwaten. Mit den Armen das Gleich¬ 
gewicht herstellend, stapfen sie vorwärts, eine geschlos¬ 
sene Gruppe. Ihr schließe ich mich an. Weil das Gewehr 
an meiner Schulter mich am Balancieren hindert, stecke 
ich den Kopf in den Gewehrriemen. Wir stolpern über 
Tornister, Brotsäcke und Gewehre, die im Flußbett lie¬ 
gen. Kaum ein Viertel der Strombreite haben wir zurück¬ 
gelegt, als ein verstörter Haufe uns entgegenkommt: es 
geht nicht weiter, der Fluß ist zu tief, die Strömung wirft 
einen um. 

Mit einemmal erhält das Schreien einen gemeinsamen 
Text: „Die Serben sind schon am Ufer!" Tatsächlich ver¬ 
dichtet sich das Pfeifen der Projektile, ein horizontaler 
Regen prasselt los, nicht über unsere Köpfe sausen jetzt 
die Schüsse, sondern ins Wasser. Ins Wasser, in dem wir 
sind. 

Wir hasten nach rechts und zurück, denn nur links, so 
scheint es, sind die Serben. Wer kann, beginnt zu schwim¬ 
men. Fünf Schritte schräg vor mir schwimmt Oberleutnant 
Batek. Ich rufe seinen Namen, aber er hört mich nicht. 
Ich will ihn einholen, da taucht sein Kopf unter und kommt 
nicht mehr zum Vorschein. 

Rings um mich Ertrinkende, gegen den Ertrinkungstod 
sich Wehrende, Jappende, Röchelnde. Der oder jener ver¬ 
sucht, sich den Krallen des Wassers zu entreißen, springt 
hoch, um sich an dem Nichts emporzuziehen. Im gleichen 
Augenblick sinkt er zurück. Manchmal verliert einer den 
Boden, während sein Nachbar noch aufrecht steht; der 
reicht ihm die Hand und rettet ihn. Wenn sich Nicht¬ 
schwimmer an Schwimmer klammern, werden sie verzwei¬ 
felt abzuschütteln versucht. Gemeinsam schlagen sie um 
sich, gemeinsam sinken sie in die Tiefe. 

Plötzlich geht eine Bewegung nach links durch die Mas¬ 
sen, obwohl man links die serbischen Schützen vermutet. 


317 



Aber von dort scheint auch Rettung zu winken. Links fah¬ 
ren drei unserer Pontons dem serbischen Ufer zu, um 
Soldaten aufzunehmen. Mitgerissen eile auch ich hin (so¬ 
weit man eilen kann, wenn das Wasser fast bis zum Hals 
reicht). Einer der Pontons wird von den im Fluß Stehen¬ 
den aufgehalten, bevor er ans Ufer kann. Der Ponton liegt 
quer. Während alle auf der ihnen zugekehrten Seite in 
den Kahn springen, stapfe ich zu der entfernteren, zu der 
dem Österreichischen Ufer zugekehrten, und fasse den 
Bordrand. Noch ein zweiter ist so schlau gewesen und 
hängt schon dort. 

Ich bitte einen im Kahn, mich hineinzuziehen. Er packt 
mich, vermag mich aber nicht über den Rand zu heben, so 
hoch ich mich auch emporziehe. Ein anderer Bootsinsasse 
bemüht sich, meinen Nachbar ins Innere zu zerren, gleich¬ 
falls vergeblich. „Hilf zuerst dem da und dann mir", sage 
ich zu dem, der mit mir beschäftigt ist. 

Er tut es, und mein Nachbar ist drinnen. 

Der Ponton hat sich gefüllt, die Insassen verlangen: 
„Abstoßen, keinen mehr hereinlassen!" Ich rufe meinem 
Helfer zu, jetzt wieder mir zu helfen, aber der denkt nicht 
mehr daran, ebensowenig mein früherer Nachbar, der mir 
seinen Platz im Boot verdankt. 

Unterdessen ist das ganze Fahrzeug einschließlich mei¬ 
ner privilegiert geglaubten Pontonseite von etwa sechzig 
verzweifelten Händen umsäumt. „So können wir nicht ru¬ 
dern", schreien die Pioniere, und das ist das Signal zu 
einem Angriff gegen die Hängenden. Mit Gewehrkolben 
schlägt man auf sie ein, bis sie loslassen. Sie fallen ins 
Wasser, tauchen auf und sinken wieder unter. 

Der Aufgabe, mich vom Bootsrand abzuschütteln, unter¬ 
zieht sich ein Bursch, dessen Gesicht ich niemals vergessen 
werde. Auf seiner Bluse trägt er die papageigrünen Auf¬ 
schläge der Einundneunziger, eine golden glänzende Locke 
schwingt sich zum Auge hin; zu diesem Blond passen die 
Augen, hellblaue große Kugeln, gutmütige Augen, möchte 
man sagen. Diese Augen würdigen die meinen keines 
Blickes, sind nur auf meine Finger gerichtet, die sich ver¬ 
zweifelt an die Brüstung klammern. 

Im Boot kniend, beginnt er meine Hände vom Boots- 


318 



rand zu lösen, so gleichmütig, als schäle er Nüsse. Es ge¬ 
lingt ihm, meine rechte Hand zu öffnen, und er macht 
sich an meine linke. Im gleichen Moment aber habe ich 
mich von neuem mit der rechten Hand festgekrallt 

So geht es also nicht. Einen Augenblick denkt er nach, 
wobei er seine Mütze in den Nacken schiebt, dann faßt 
er mit einer Hand meinen linken kleinen Finger, mit der 
anderen den rechten und versucht, sie zu brechen. 

Während dieser Prozeduren bin ich keineswegs stumm. 
Zuerst flehe ich ihn an, verspreche ihm, ewig dankbar zu 
sein, appelliere an seine Kameradschaft, erkläre ihm, daß 
durch mich das Boot ja nicht umkippen werde. 

Das alles berührt ihn kaum. Schon hat er meinen linken 
kleinen Finger in seiner Macht „Du feiger Hund", brülle 
ich, „ich kenne dich genau. Wenn ich hinüber komme, zeige 
ich dich als Mörder an." 

Verfehlt ebenfalls jede Wirkung. Ich habe ihm den Fin¬ 
ger wieder entwunden, er hebt seinen Fuß, um auf meine 
Hand zu treten, aber der Bootsrand ist zu hoch. Nur ein 
Fußstoß in die Fingerspitzen trifft mich. 

Die im Boot sind wütend, daß ich mich geradezu da¬ 
gegen auflehne, ertränkt zu werden. „Helft mir diesen da 
ins Wasser schmeißen", ruft der Goldblonde. 

Nun will ich nicht weiter lästig fallen, lasse mich los 
und plumpse hinab. Stehen kann ich nicht mehr, das Was¬ 
ser ist zu tief. Ebensowenig vermag ich zu schwimmen. 
Bei jedem Tempo schiebt sich mein Gewehr hoch und gibt 
mir einen Nackenstoß. Den Gewehrriemen über den Kopf 
zu zerren, um mich des Gewehres zu entledigen, gelingt 
nicht. Ich muß Wasser treten, aber die schweren Kommi߬ 
stiefel zerren mich grundwärts. 

Inzwischen hat sich der Ponton gedreht und Fahrt ge¬ 
wonnen. Er ist an einer so tiefen Stelle, daß er keinen 
weiteren Angriff von Fußgängern zu gewärtigen hat. Fast 
fährt er über mich hinweg. Mit letzter Kraft schnelle ich 
mich hoch und packe ihn am Heck. Mein Gesicht presse 
ich an die Bordwand, ich möchte nicht gesehen werden, 
am allerwenigsten von den blauen Kulleraugen. 

In die Pfiffe der Projektile, in das Auf wimmern der 
Getroffenen, in die Schreie, Schreie, Schreie vom Ufer her 


319 



mischen sich jetzt neue Töne, das tiefe Surren von Schrap¬ 
nells. Ihre Füllkugeln dringen ins Wasser und ins Blut. 

Ein Sprengstück - oder sind es mehrere? - saust in 
den Ponton. „Der Boden ist durch! 7 ' - „Zeltblätter, Män¬ 
tel hineinstopfen! Schnell, schnell! Rascher!!" Ich höre 
diese Rufe, ohne etwas zu sehen. Nebenan gleitet ein 
anderer Ponton, ein Artilleriegeschoß schlägt direkt hinein ; 
der Ponton kippt um, ich schaue weg. 

Der unsrige bewegt sich rasch, die Strömung treibt ihn 
ab, einige hundert Schritte nördlich von der Überschif- 
fungsstelle kommt er nahe ans österreichische Ufer. Er 
landet nicht am Ufer, sondern einige Meter davon ent¬ 
fernt. Die Insassen springen heraus, helfen einander mit 
Stoßen und Ziehen über den lehmigen Flußgrund und die 
glatte Böschung. Bevor ich mich von der Hinterwand nach 
vorn gegriffen habe, ist der Ponton leer. 

Ich versuche, an Land zu gehn, das Wasser reicht mir 
bis ans Kinn, die Strömung tut, was sie kann, mich um¬ 
zuwerfen, ich rufe um Hilfe. Einer oder der andere wen¬ 
det den Kopf, aber jeder ist froh, die Böschung erklom¬ 
men zu haben; keiner kehrt zurück. Ich glaube einen 
Kompaniekameraden zu erkennen. „Neumaier!" schreie 
ich, „Neumaier!", aus Leibeskräften. Neumaier fragt zu¬ 
rück: „Wer ruft mich?" - „Ich, der Kisch." Er kommt her¬ 
unter, streckt mir sein Gewehr entgegen, ich fasse es, er 
zieht mich an Land. Der Uferrand ist abschüssig und glit¬ 
schig, an meinen Sohlen klebt der Lehm des Flußgrunds. 
Ich bin am Ende meiner Energie, meine Finger schmerzen 
vom Fußstoß des Kulleräugigen und meine Arme 
vom Festhalten am Boot. Ich verliere das Gleichgewicht, 
falle rücküber ins Wasser. Neumaier springt mir nach, rich¬ 
tet mich auf. Er stellt sich hinter mich, packt mich bei 
den Hüften, stößt mich vorwärts und aufwärts über den 
Damm. 

Boden, Boden unter den Füßen! 

Eine jämmerliche Kolonne trabt längs der Böschung, 
noch jämmerlicher, noch zerlumpter als Falstaffs Lumpen¬ 
pack; nackte Soldaten, Soldaten mit einem Zeltblatt über 
nacktem Körper; Soldaten im Hemd; Soldaten in Unter¬ 
hosen und Soldaten in Uniformresten trotten apathisch und 


320 



ziellos einher, naß und triefend, zähneklappernd vor über¬ 
standener Angst und vor nicht überstandener Kälte. 

Am Straßenrand leere ich meinen Brotbeutel. Als flüs¬ 
siger Brei liegt der Zwieback darin, dazwischen der Tabak 
meiner Zigaretten. Klaffend ist die Blechkapsel in meiner 
Hosentasche geöffnet, mein Name auf dem Legitimations¬ 
blättchen ist ein unleserlicher Fleck geworden. Egal, mag 
man mich als X oder Y begraben. 

Mein Tagebuch war mit Tintenstift geschrieben, nun 
sind die Eintragungen verwischt, davongeschwemmt. Der 
Tintenstift selbst - er steckt zwischen den Seiten - ist 
unbrauchbar geworden, seine Mine hat sich in ein Liquid 
liquidiert. 

Ich starre auf die violette Sauce, die gleichmäßig die 
Seiten des Tagebuchs bedeckt. Kein Wort zu lesen. „Schreib 
das auf, Kisch", hatte mein gesellschaftlicher Auftrag ge¬ 
lautet. Ich hatte das aufgeschrieben, was kein Kriegs¬ 
berichterstatter auf schrieb. Nun aber ist der Zensor ge¬ 
kommen, unbarmherzig hat er alles verlöscht, sogar den 
Tintenstift unschädlich gemacht für künftige Zensurwid¬ 
rigkeiten. 

Beim Gendarmeriehaus treffe ich Neumaier, der sich in 
Ertrinkungsgefahr begeben und alles aufgeboten hat, um 
mich zu retten. Rauchend sitzt er da. „Neumaier", sage ich, 
„laß mich einen Zug aus der Zigarette machen." Unwillig 
lehnt er ab. 

Von unserer Division sind kaum tausend Mann übrig¬ 
geblieben. Dreitausend sind vermißt - erschossen oder 
ertrunken binnen weniger Stunden auf einer winzigen 
Fläche. Das Erdbeben von Messina oder der Tribünen¬ 
einsturz bei der Krönung des Zaren waren harmlose Lo- 
kalfälle im Vergleich mit dem, was sich heute nacht ereig¬ 
nete. Es ist vielleicht die größte Katastrophe des Jahr¬ 
hunderts. 

Ich denke nach, wie ich das Zeitungstelegramm formu¬ 
lieren würde, wenn ich eins absenden dürfte. Auf die Idee 
komme ich nicht, auf die zur gleichen Stunde der Verfas¬ 
ser des Heeresberichts kommt: „Unsere Südarmee hat ihre 
Uferstellungen an der Drinamündung verstärkt." 


21 Kisch VII 


321 



Ein halbes Jahr später wurde ich an der russischen 
Front verwundet, lag im Hospital und kam eines Tages 
wieder ins Bärenhaus. Hier sang mir der kahlköpfige 
Gatte von Hannchen, genannt „Hanka Falschheit", der 
blinde Methodius, die Elegie vom Übergang über die 
Drina. Sitzend, meinen Rücken auf Kissen gestützt, hörte 
ich die zwanzig Strophen des Liedes, zwanzig Strophen, 
die das Echo von Todesschreien ertrinkender Soldaten 
waren. 

„Pure Erfindung", bemerkte mein Bruder. „Kein Wort 
von so etwas stand in den Zeitungen." 



KRIMINALFALL WIE KEINER 


Auch wenn in dem Kriminalfall, von dem ich nun zu 
berichten habe, der Täter verhaftet worden wäre, hätte 
man ihn nicht gerichtlich bestrafen können. Denn in kei¬ 
nem Strafgesetz findet sich ein Paragraph, nach welchem 
er zu verurteilen wäre, obschon er geraubt und wissent¬ 
lich den Tod eines Menschen herbeigeführt hat. Gewiß, 
es scheint unglaubwürdig. Indes, gerade die Nichtstrafbar¬ 
keit stempelt diesen Kriminalfall zu einem so merkwür¬ 
digen. 

Vielleicht ist es auch kein Kriminalfall im engeren 
Sinne des Wortes, weil er ja, wie gesagt, niemanden ins 
Kriminal geführt hat und auch nicht führen konnte. Höch¬ 
stens deshalb kann man von einem Kriminalfall sprechen, 
weil der Held ein Krimineller war und seine Tat der 
Denkweise des Verbrechers entsprang. 

Unser Regimentskommando wußte, daß der junge In¬ 
fanterist Alois Davidek wegen Diebstahls mit Zuchthaus 
vorbestraft war, und das war auch der Grund, weshalb 
er weder einen Ghargengrad noch eine Auszeichnung be¬ 
kam. Beides hätte er reichlich verdient, und zwar von dem 
Tage an, an dem wir eine neue Waffe zu handhaben hat¬ 
ten. 

Diese neue Waffe war die Handgranate. Von ihrer Exi¬ 
stenz wußten wir nichts, bis sie in ein paar hundert Exem¬ 
plaren in unserem Schützengraben anlangte mitsamt einem 
Instruktor, der seine Instruktionen im Eilzugstempo ab¬ 
haspelte, um so schnell wie möglich aus dieser unbehag¬ 
lichen Gegend zu verschwinden. 

Wir hielten die neue Waffe für modernistischen Unsinn. 
Zwischen uns und dem Feind, den Serben, lagen fünfund¬ 
sechzig Meter flaches Feld. Abgebrochene Kukuruzstauden. 
Granattrichter neben Granattrichter, und dazwischen Hü¬ 
gel, aufgeworfen vom Einschuß. Soldatenleichen, die nicht 
geborgen werden konnten. Spanische Reiter, die man hü- 


323 



ben und drüben vor die Gräben geschoben hatte, um dem 
Feind ein Herankommen zu erschweren. Auf diesem Ter¬ 
rain hätte bei Tag jede Figur augenblicklich gesehen wer¬ 
den müssen. Und bei Nacht knatterte das Angstschießen; 
es bestrich den Raum so dicht, daß einer, der sich im 
Dunkeln über den Wall des Schützengrabens hinausgewagt 
hätte, zum Sieb durchlöchert worden wäre, auch ohne ein 
sichtbares Ziel zu sein. Auf eine Entfernung von fünfund¬ 
sechzig Metern konnte niemand die Granate schleudern, 
und sich näher heranzuschleichen schien unmöglich. 

Wir begnügten uns damit, sie in die Richtung des Fein¬ 
des zu werfen, ins Niemandsland. Unseren Vorgesetzten 
war das recht, denn so konnten sie Meldungen über die 
eifrige Verwendung der neuen Waffe erstatten. 

Nur dem Alois Davidek mißfiel die Vergeudung von 
Material. Ich sah ihn einmal vor den Handgranatenver- 
schlägen stehen und sie mit wunschvollen Blicken messen, 
als handle es sich um fremdes Hab und Gut. 

Im Abenddämmer machte er sich an die Handgranaten 
heran. Zuerst trug er zwei der mit Stroh ausgestopften 
Uniformpuppen, die wir oft zum Spaß aus dem Graben 
steckten, an den linken Flügel der Kompanie. Dann warf 
er vor seine Stellung, die am rechten Flügel lag, ein Bün¬ 
del Kukuruzstauden, anscheinend, um nicht gesehen zu 
werden, wenn er aus dem Graben steigen würde. In der 
Tat sprang er ins Vorterrain, und zwar genau im Augen¬ 
blick, da an unserem linken Flügel die Puppen hochgeho¬ 
ben wurden. Sein Sprung blieb unbemerkt, denn der Feind 
konzentrierte das Feuer selbstverständlich auf die beiden 
Ziele. 

Erregt beobachteten wir Alois Davidek, der flach auf 
dem Boden lag. Was, wenn er sich aufrichtet? Aber es 
fiel ihm gar nicht ein, sich aufzurichten, dem Feind seine 
Figur darzubieten. Liegend, den Körper ans Erdreich ge¬ 
preßt, bewegte er sich vorwärts. Das Wort «kriechen" wird 
im Sprachgebrauch oft für „Langsamkeit" verwendet. 
Hier kroch etwas mit der Schnelligkeit eines Salamanders, 
aber es war kein Salamander, sondern Alois Davidek. Er 
jagte dem Feinde im Zickzack zu, die winzigste Deckung 
ausnutzend, bald eine Soldatenleiche, bald ein Hügelchen, 


324 



bald ein Büschel vertrockneter Stauden. Selbst uns, die wir 
ihn nicht aus den Augen ließen, verschwand er zeitweilig 
aus den Augen. 

Wie ein Fassadenkletterer die Senkrechte aufwärts läuft 
und jede Mauerzacke, jedes griff geeignete Ornament und 
jedes Gesimse ausnützt, so nun kletterte Alois Davidek 
auf einer horizontalen Fassade. 

Nachdem er einige Sekunden auf diese Weise liegend 
galoppiert war, buchstäblich „ventre ä terre", verschwand 
er in einem flachen Granatkessel, etwa zwanzig Meter am 
Feind, und aus diesem seinem Kessel sausten nun in ra¬ 
schem Intervall vier Eier in den feindlichen Graben. Um 
die Wahrheit zu sagen, ich sah nur eines fliegen, denn 
im gleichen Augenblick bäumte sich drüben der Boden 
auf, der Schutzwall brach krachend zusammen, seine Be¬ 
standteile wirbelten durch die Luft. 

Bevor sich der Rauch verzog, war Alois Davidek wieder 
bei uns, triefend vor Schweiß. Auch den Rückweg hatte 
er bauchwärts zurückgelegt, weil er, wie er sagte, unsere 
Schüsse mehr fürchtete als die des Feindes, der in diesem 
Augenblick mit sich selbst beschäftigt war. 

Der Regimentskommandeur ließ Alois Davidek rufen, 
schüttelte ihm die Hand, kredenzte ihm ein Glas Wein 
und ein Stück Torte und teilte ihn dem Regimentsstab zu. 
Nur unmittelbar vor Sturmangriffen wurde Alois Davidek 
in die Schwarmlinie beordert. Jedesmal bereitete er seine 
Aktion auf andere Weise vor, einmal zum Beispiel ließ er 
zwei kleine Schweine aus unserer Stellung nach vorne 
jagen, und während die Serben ihnen ihr Augenmerk zu¬ 
wandten, explodierte ihr Schützengraben. 

Eines Tages wurde auch ich zum Regimentsstab beru¬ 
fen, um den Meldungen über unsere Sturmangriffe einen 
ähnlichen Schwung zu verleihen, wie Alois Davidek ihn 
seinen Handgranaten verlieh. Vielleicht war es Alois Da¬ 
videk, vielleicht mir zuzuschreiben, daß unser Regiments¬ 
kommandeur avancierte. Er übernahm ein Brigadekom¬ 
mando. 

An seine Stelle kam ein langer Oberstleutnant, geschnürt 
und parfümiert, in übertrieben eleganter Uniform, Mono¬ 
kel über dem rechten Tränensack und Dünkel in den 


325 



herabgezogenen Mundwinkeln. Unseren Soldaten aus dem 
nördlichen Böhmerwald war es gleichgültig, wer von den 
vielen tausend Stabsoffizieren der österreichisch-ungari¬ 
schen Armee zum Kommando des Regiments bestimmt 
wurde, denn sie kannten ja die hohen Herren nicht. Nur 
gerade diesen Oberstleutnant kannten viele von ihnen. Er 
war nämlich Kontrolloffizier der Waffenfabrik Skoda ge¬ 
wesen, deren Abteilung für Holzbearbeitung sowie die 
Versuchsstellen für Geschütze innerhalb unseres Ergän¬ 
zungsbezirks lagen. Unsere Soldaten hatten, bevor sie noch 
Soldaten waren, durch ihn den ärgsten militärischen Drill 
am eigenen Leib erfahren. Wenn ein Zehntel davon wahr 
war, was sie von der Brutalität des Oberstleutnants gegen 
die männlichen Arbeiter und von seiner Zärtlichkeit ge¬ 
genüber den weiblichen erzählten, so wäre das Unbehagen 
bereits hinreichend erklärt, mit dem sie ihn bei uns auf¬ 
tauchen sahen. 

Für Zärtlichkeiten gegenüber dem weiblichen Ge¬ 
schlecht fehlte es bei uns an Gelegenheit. Um so unge¬ 
hemmter entfaltete er seine diktatorischen Neigungen. Vor 
allem führte er eine neue Ordnung ein. Punkt fünf Uhr 
morgens hatte der Koch mit einem Glas Zitronensaft ans 
Bett des Oberstleutnants gestellt zu sein. Fünf Uhr dreißig 
begann der Oberstleutnant die Inspektion, die zugleich 
sein Verdauungsspaziergang war und ihn bis zu den vier 
Bataillonskommandos, aber auch nicht weiter hinauf¬ 
führte. Er tauchte, wo es nicht gefährlich war, in den 
Unterständen der Telefonisten und Gefechtsordonnanzen 
auf, bemängelte die Lage der Tornister und Brotsäcke 
und befahl, Uniformen und Stiefel zweimal täglich zu 
putzen. 

Außerdem heischte er eine unausgesetzte Straßensäube¬ 
rung. Der Laufgraben, der von der Gefechtslinie zum 
Sanitätshilfsplatz führte, auf dem sich Köche mit tropfen¬ 
den Fahrküchen bewegten, auf dem blutende Verwun¬ 
dete sich schleppten oder getragen wurden - dieser Ein¬ 
schnitt in Erdreich und Kot sollte gereinigt und gepflegt 
werden wie der Kiesweg eines Schloßparks. Fand der 
Oberstleutnant irgend etwas zu beanstanden, so ließ er 
den Schuldigen schnurstracks an den nächsten Baumstamm 


326 



binden. Persönlich achtete er darauf, daß das keine For¬ 
malität blieb, sondern die Stricke tief ins Fleisch schnitten, 

Glock sieben morgens schritt er zu einer sakralen 
Handlung. Für deren Vollzug hatte er sich gleich am 
ersten Tag eine nur für ihn bestimmte Latrine zimmern 
lassen, die an Komfort weit über das hinausging, was die 
„k. u. k, Anweisungen zum Bau feldtechnischer Anlagen" 
vorschrieben. Wohl bestand auch die für den Oberstleut¬ 
nant hergestellte Konstruktion nur aus einer Bank, aber 
diese war so groß und so stabil, daß das ganze Offiziers¬ 
korps gleichzeitig auf ihr hätte Platz nehmen können. 
Überdies war sie poliert und mit einer bequemen Rük- 
kenlehne versehen. 

Uns verdroß die Mißachtung, mit welcher die Latrine 
direkt vor unserem Unterstand aufgerichtet wurde. Wir 
mußten mit der Mehrheit unserer fünf Sinne wahrneh¬ 
men, wie der Oberstleutnant jeden Morgen um sieben 
dort seinen Platz bezog und den Akt zelebrierte mitsamt 
einer eindringlichen Nachmusterung, zwecks welcher er 
sich prüfend über die Rückenlehne beugte. 

Lfnser Unterstand lag am Rande des Laufgrabens, und 
dort sah der Oberstleutnant eines Tages ein paar Papier¬ 
schnitzel auf dem Boden liegen. Wütend herrschte er den 
Alois Davidek an, der sich damit verteidigte, daß eben in 
diesem Moment jemand die Papiere hingeworfen haben 
müsse. „Klaub das Zeug auf", befahl der Oberstleutnant 
seiner ihn begleitenden Ordonnanz, „und trag es zum 
Nachrichtenoffizier!" 

Vom Nachrichtenoffizier erfuhr der Oberstleutnant, daß 
die Papierschnitzel einen an den Infanteristen Alois Davi¬ 
dek adressierten Briefumschlag gebildet hatten. Alois Davi¬ 
dek wurde gerufen, um zu hören: „Du verlogenes Schwein! 
Eine Stunde anbinden! Du sollst an mich denken!" 

Alois Davidek stand auf den Zehenspitzen, den Körper 
mit Stricken an den Baumstamm gepreßt. Seine langen Fin¬ 
ger waren wie aus Gips. Weiß war auch sein Gesicht. Nur 
in seinen Augen war Farbe, sie flackerten, wie ich sie 
noch nie flackern gesehen. 

Sie flackerten noch immer in dem nodi immer weißen 
Gesicht, als er in unseren Unterstand zurückkehrte. Die 


327 



Augen flackerten, aber sahen nicht. Alois Davidek hörte 
auch nicht. Wenigstens gab er mir keine Antwort auf die 
Frage, ob er einen Schluck Kaffee haben wolle. Er sprach 
zu sich selbst. Er zischte sich etwas zu. Ich verstand die 
Worte „so ein Hund", „mu§ krepieren, muß krepieren". 

Die Nacht brach herein, eine der Sternennächte Serbiens, 
die heller sind als der Tag. 

„Willst du dich nicht schlafen legen?" fragte ich ihn 
endlich. 

„So ein Hund", sagte er zu mir oder zu sich, „morgen 
mufj er weg. Schon morgen. Morgen werde ich's ihm be¬ 
sorgen, ich schwöre das beim Leben meiner Mutter." 

Erschreckt setzte ich mich auf. „Du willst ihn er¬ 
schlagen?" 

Die flackernden Augen richteten sich erstaunt auf mich. 
„Was redest du da? Erschlagen? Hältst du mich für einen 
Mörder? Ich bin ein Dieb, verstehst du: ein Dieb." 

Als ich mich wieder hingelegt hatte und er mich wohl 
schlafend glaubte, schnallte er den Feldspaten von seinem 
Tornister los und verschwand aus dem Unterstand. Ich 
sprang auf und sah, wie er sich auf die Erde warf und 
vorwärts jagte im Horizontallauf, den ich von seinen 
Exkursionen mit den Handgranaten kannte. 

Erleichtert merkte ich, daß er nicht die Richtung zum 
Regimentskommando nahm, wo der Oberstleutnant schlief. 
Alois Davidek bewegte sich zur neuen Latrine. Dort, unter 
oder unmittelbar hinter dem Sitzbrett, sah ich ihn, sein 
eigener Schatten, auf dem Boden herumkriechen, den Feld¬ 
spaten hantierend, aber ich verstand nicht, was das be¬ 
deutete. 

Zunächst dachte ich, daß er das Erdreich lockere, damit 
die Bank umfalle, wenn sich jemand darauf setzt. Oder 
wollte er gar die Stützpfeiler der Bank durchsägen? Ich 
war entschlossen, es zu verhindern, denn das mußte ja ans 
Tageslicht kommen. 

Noch stiller und friedlicher als sonst Nächte in der 
Natur sind die Nächte im Krieg. Der Gefechtslärm, das 
ununterbrochene Knattern der Gewehrpatronen und das 
Rollen des Geschützfeuers werden von dieser Stille aufge¬ 
sogen, lösen sich in ihr ohne Rückstand und dienen nur 


328 



dazu, sie zu verstärken. Draußen rückt Artillerie vor, 
ächzen die Achsen, schnauben die Pferde, knallen die Peit¬ 
schen und fluchen die Feuerwerker, und die Soldaten lie¬ 
gen im sanftesten Schlummer. Aber wenn im Zelt nebenan 
jemand zu schnarchen beginnt, fahren die Schläfer wütend 
auf, denn er stört die tiefe lärmende Ruhe. 

Inmitten dieser Stille hätte ich genau gehört, wenn sich 
Alois Davidek an dem Bretterwerk der Latrine zu schaffen 
gemacht hätte. Absolut lautlos kroch Alois Davidek hinter 
dem Sitzbrett herum. Dabei bewegte er die rechte Hand, 
in der er den Spaten hielt. Dann sah ich ihn einige Mais¬ 
staudenbündel, die überall herumlagen, näher an die La¬ 
trine heranschieben. 

Der Morgen kam. Punkt sieben schritt der Oberstleut¬ 
nant wie immer zu seiner morgendlichen Tätigkeit. Ich 
schaute nach Alois Davidek aus, sah ihn aber nicht. So ließ 
ich, dem nichts Gutes schwante, den sitzenden Oberstleut¬ 
nant nicht aus dem Auge, bis er zu Ende war. 

In dieser Sekunde sah ich einen rasend schnellen Sala¬ 
mander in Menschengröße, fest an den Boden geschmiegt 
und sich durch Maisstauden deckend, von hinten an den 
Oberstleutnant heranhuschen, fast unter ihn hin. Ein Feld¬ 
spaten nahm etwas auf, und der Men sehen Salamander ver¬ 
schwand. 

Der Oberstleutnant war inzwischen aufgestanden, drehte 
sich um und neigte sich, die Hände auf die Rückenlehne 
gestützt, hinab. 

Er sah nichts. 

Er beugte sich tiefer vor und sah nichts. 

Er klemmte sein Monokel ins Auge und sah nichts. 

Er nahm das Monokel aus dem Auge, hauchte es an, 
putzte es, klemmte es wieder ins Auge, beugte sich ganz 
tief hinab und sah nichts. 

Neben mir stand der zurückgekehrte Alois Davidek und 
beobachtete den Oberstleutnant, der sich wieder auf die 
Latrine setzte. 

Als der Oberstleutnant schließlich aufstand, resultatlos 
selbstverständlich, wankte er in seinen Unterstand und rief 
nach dem Regimentsarzt. Der rannte herbei, untersuchte 
den Oberstleutnant, verabreichte ein Laxativ und blieb bei 


329 



ihm - mochten die verwundeten und ruhrkranken Sol¬ 
daten unten am Hilfsplatz sehen, wie sie selbst mit ihrem 
Leid fertig würden, ein verstopfter Oberstleutnant hat vor 
laufender Kundschaft natürlich den Vorrang. 

Alois Davidek lag wieder auf dem Anstand. Kaum eine 
halbe Stunde brauchte er zu lauern, bis der Oberstleut¬ 
nant blaß seiner Latrine zueilte. Mit einer Geste, als ob 
es sich um einen Revolver handle, nahm Alois Davidek 
den Feldspaten und zog los. Wieder sah ich ihn, mit sei¬ 
nem Schatten vereinigt, dahinjagen, wieder sah ich ihn die 
Beute schöpfen, mit ihr verschwinden. Als er zurückkam, 
rieb er die Schaufel mit Erdreich ab und ließ Wasser dar¬ 
über laufen, sie hatte das Ihrige getan und wusch ihre 
Hände in Unschuld. 

Drüben stand der Oberstleutnant und straffte sich. Seine 
Bewegung atmete Befreiung, Befriedigung, Glück. Lang¬ 
sam, den Genuß verzögernd, wandte er sich um. 

Und damit waren seine schönen Gefühle zu Ende. Ver¬ 
ständnislos blickte er hinab, fassungslos beugte er sich 
tiefer und starrte regungslos auf das Nichts. Er untersuchte 
seine Kleider und Schuhe, ging um das Sitzbrett herum, 
musterte es genau. Nur das Nichts war überall, nichts als 
das Nichts. 

Einem Kadaver glich er, als er sich zum Regimentsarzt 
schleppte, von ihm ein neues Abführmittel in Empfang 
nahm und sich aufs Feldbett legte. Wie uns eine Ordon¬ 
nanz berichtete, wand er sich in Schmerzen, ein begreif¬ 
licher Zustand, da er zwei Dosen Laxativ im Leibe hatte 
und sonst nichts anderes, wenn auch er und der Regiments¬ 
arzt das Gegenteil glaubten. 

Ein Krankenwagen fuhr vor, um den Oberstleutnant ins 
Divisionsspital zu schaffen. 

Mit welchen Symptomen auch immer man im Divisions¬ 
spital eintraf, man wurde auf Dysenterie untersucht, und 
wer in der Dysenteriebaracke untersucht wurde, steckte 
sich unfehlbar von den Kranken an. Beim Oberstleutnant 
schien die Diagnose Dysenterie von allem Anfang an klar. 
Hatte doch das zweite Laxativ durch die Fahrt im rattern¬ 
den Krankenwagen seine Wirkung getan und mangels 
anderer Masse nur Blut und Wasser zutage gefördert. 


330 



Einige Tage später kam die Nachricht vom Heldentod 
des Oberstleutnants sowie die postmortale Verleihung des 
Eisernen Kronen-Ordens an ihn. In der Zeitung lasen wir 
den Bericht über die Enthüllung einer Ehrentafel in den 
Skodawerken; auch eine Straße sollte nach ihm benannt 
werden. 

Und damit ist meine Geschichte zu Ende, die Geschichte 
eines Verbrechens mit tödlichem Ausgang, das nicht be¬ 
straft werden kann. 



AUSGANGSSTATION 


Ich hatte mir Bücher kommen lassen über die Frage, die 
mich und Millionen anderer Soldaten seit Kriegsbeginn 
beschäftigte: Wie ist unsere Welt umzugestalten in eine 
Welt ohne Kriege, ohne Greuel und ohne Unrecht? Es 
waren zwei Arten von Büchern: die eine Gruppe vertraute 
auf die evolutionäre Entwicklung der Menschheit durch 
harmonische Allmählichkeit der Reformen, die andere 
Gruppe setzte ihre Hoffnung auf einen radikalen Umsturz, 
ähnlich dem, den die Französische Revolution von 1789 
herbeigeführt. Gerne hätte ich diese Werke in Ruhe durch¬ 
studiert. 

Aber mein Dienst in Ungarn erforderte täglich einen 
mehrstündigen Aufenthalt im Eisenbahnzug und ließ mir 
wenig Zeit. Wohl hätte ich während der Fahrt lesen kön¬ 
nen, wenn ich nicht immerfort, immerfort das gleiche Ge¬ 
spräch hätte führen müssen. Es bezog sich keineswegs auf 
Reformierung oder Revolutionierung der Gesellschaft. 

Wäre auch ein Gespräch über diese Fragen mit den mei¬ 
sten Passagieren des Offiziersabteils kaum sehr ergiebig 
gewesen, so hätte es mich wenigstens nicht so weit von 
meinem Thema entfernt. Am liebsten hätte ich freilich 
überhaupt nicht gesprochen, sondern die Bücher gelesen. 
Das erwies sich jedoch als unmöglich. 

Nach Vorschrift mußte sich jeder Offizier oder Offiziers¬ 
anwärter beim Betreten eines Raumes, also auch eines 
Eisenbahncoupes, allen Ranghöheren in deutscher Sprache 
vorstellen. Nur die Ungarn hatten das Recht, sich ungari¬ 
schen Vorgesetzten in ungarischer Sprache vorzustellen. 

In Püspökladany stieg ich in den Zug. Ein Husaren¬ 
major in blauer Uniform saß darin, auf Brustkorb und 
Taille mit Posamenten verschnürt, eine Art Violinschlüssel 
auf den prall anliegenden Hosen und goldene Bärentatzen 
auf den Ärmeln. Wer nicht daran erkannt hätte, daß der 
Major ein Ungar war, hätte es an seinem Schnurrbart er- 


332 



kennen müssen, der parallel zu den Posamenten der Uni¬ 
form verlief und über die Ohren hinausreichte. In stram¬ 
mer Haltung meldete ich: „Herr Major, Kadett-Off iziers- 
stelivertreter Kisch stellt sich gehorsamst vor." 

„Mert nem mondod magyarul?" antwortete der blaue 
Husarenmajor in einem Tonfall, der gutmütig war und 
darauf schließen ließ, daß er mir eine Frage stelle. 

Daraufhin fragte ich meinerseits: „Herr Major befeh¬ 
len?" 

Langsam strich er den Schnurrbart entlang, den ganzen 
Schnurrbart. „Azt kerdezem, hogy mert nem mondod 
magyarul!" Das war kein Fragezeichen mehr, das war ohne 
Zweifel ein Ausrufungszeichen. 

Ich erlaubte mir gehorsamst zu äußern, daß ich nicht 
verstehe. Ich sah sein Erstaunen. Er sagte in ungarischem 
Deutsch: „Habe ich nicht verstanden Ihre Namen. Wie hei¬ 
ßen Sie, Herr Kadett?" 

„Melde gehorsamst: Kisch." 

„Warum also stellen Sie sich nicht vor auf ungarisch?" 

Blieb mir gehorsamst zu wiederholen, daß ich nicht Un¬ 
garisch verstehe. Worauf sein Erstaunen wuchs. „Was? 
Wieso nicht verstehen Sie Ungarisch. Sind Sie doch Ungar!" 

Eine Dosis von Bedauern, ja Zerknirschung meinem ge¬ 
horsamsten Tonfall beimischend, gestand ich, daß ich kein 
Ungar sei, sondern nur ein Prager. 

„Aber Herr Vater hat gewesen Ungar?" 

Nachdem auch diese Frage meiner kleinlauten Vernei¬ 
nung begegnet war, schüttelte der blaue Husarenmajor 
den Kopf: Da werde man im Kasino Augen machen, wenn 
er das zum besten gebe! „Herren werden mir einfach nicht 
glauben. Haben keine Visitkarte zufälligerweise, Herr Ka¬ 
dett?" 

Und dann begann er, mir, der ich auf Eduard Bern¬ 
steins „Voraussetzungen des Sozialismus", auf die Theorie 
des Reformismus neugierig war und gar nicht neugierig 
auf ein Gespräch mit dem blauen Husarenmajor, ausführ¬ 
lich auseinanderzuexplizieren: Kisch sei nämlich ein unga¬ 
rischer Name. Kisch bedeute „klein". Nagy dagegen be¬ 
deute „groß". Und das seien die beiden häufigsten Namen 
in Ungarn. 


333 



Seit ich in Ungarn war, wußte ich das ganz genau, 
hundertmal, tausendmal hatte ich das in allen Varianten 
gehört, mußte aber so tun, als ob ich mit gespannter Auf¬ 
merksamkeit den Enthüllungen lausche. 

„Haben wir zum Bleistift - haha, wollte sagen: zum 
Beispiel..." 

„Haha, haha", mußte ich gehorsamst mitlachen. 

„Haben wir also, bei uns in Satoraljauhely, wo bin ich 
Garnisonskommandant, einen Dichter, was auch heißt 
Kisch. Kisch Josef, und der hat zusammengestellt Theater¬ 
stück für unseren Kinematographentheater. ,Simon Judith' 
ist Theaterstück übergetitelt. Das heißt, meine Tochter, 
was ist in Szegedin auf Lyzeum, hat gelernt, daß Dichter 
Kisch Josef ist schon tot zehn Jahre. Aber versteh ich das 
nicht, weil vor zehn Jahren hat noch nicht gewesen Kine¬ 
matographentheater in Satoraljauhely. Verstehen Sie, Herr 
Kadett, wie kann haben geschrieben Theaterstück, wann 
ist schon tot?" 

Das verstand ich auch nicht, bitte gehorsamst. 

Und der blaue Major fuhr fort, sehr viel Kischs gebe es 
in Ungarn. Auf der ersten Seite jeder Budapester Zeitung 
stehen täglich zwei Inserate von Lotteriegeschäften, gleich 
oben neben dem Titel der Zeitung. Der eine Inhaber heiße 
Kisch und inseriere: „Kisch szerencseje nagy", was ein 
Wortspiel sei, weil es bedeute: „Das Glück des Kleinen ist 
groß." 

Hahaha, hatte ich da wieder zu lachen, denn der blaue 
Husarenmajor lachte so über den Witz und klatschte sich 
so auf die Schenkel, daß ich glaubte, er werde sich die 
Violinschlüssel ins Fleisch schlagen. 

Aber es komme noch besser, keuchte er. Die Konkur¬ 
renzfirma bleibe dem Kisch die Antwort nicht schuldig. 
Diese andere Firma heiße Török und inseriere: „Török 
szerencseje Török." Das bedeute: „Töröks Glück ist ewig" 
und reime sich noch dazu. Darüber lachte der blaue Husa¬ 
renmajor Tränen, die auf Bärentatzen, Prallhosen und Vio¬ 
linschlüssel kullerten. 

Er wollte mir etwas noch Komischeres erzählen, aber ich 
entschuldigte mich, daß ich leider jetzt aussteigen müsse. 
Tatsächlich stieg ich nur aus, um im gleichen Zug ein 


334 



anderes Abteil aufzusuchen. Wohlweislich wählte ich ein 
leeres. Kaum war ich in der Fensterecke installiert, als ein 
blutjunger Rittmeister und zwei uralte Leutnants vom 
Train hereintorkelten. 

Ich stellte mich gehorsamst vor und bekam, wenn auch 
nicht zu verstehen, so doch zu hören: „Ujra valaki, aki 
szegyenli, hogy magyar." 

Der ungarische Feudaladel unterdrückte zwar die in 
seinem Staatsgebiet lebenden Kroaten, Ruthenen, Sieben¬ 
bürger Sachsen und Banater Schwaben, dennoch besagen 
die Ungarn ein gerüttelt Mag von nationalem Verfolgungs¬ 
wahn. So glaubten zum Beispiel die drei angeheiterten 
Train-Offiziere, ich sei ein Ungar, der seine Nation ver¬ 
leugne. 

Als ich das aufzuklären versuchte, hörten sie unwillig 
zu und klärten ihrerseits mich auf: Kisch sei ein kernunga¬ 
risches Wort und bedeute „klein" und der Name Kisch sei 
der verbreitetste Name, zehn Prozent aller Magyaren hei- 
gen Kisch und zehn Prozent heigen Nagy, was wiederum 
„grog" bedeute. Aber es gäbe keinen Nagy in der Welt, 
der nicht ein Ungar sei, und ebensowenig hätte man je 
etwas von einem nichtungarischen Kisch gehört. 

Der letzte Satz war besonders scharf, was vielleicht dar¬ 
auf 1 zurückzuführen war, dag ich die Enthüllung über mei¬ 
nen Namen nicht mit so gut gespieltem Staunen entgegen¬ 
nahm wie vor dem blauen Husarenmajor. 

„Ihre Familie hat sich austrifiziert, wahrscheinlich nach 
1849, als Ungarn niedergeschlagen wurde von den Öster¬ 
reichern und den Kosaken", sagte der blutjunge Train- 
Rittmeister verächtlich, und seine beiden Leutnants nick¬ 
ten dazu mit ihren grauen Köpfen. Dennoch wollte er sich 
seine Diagnose auch von mir bestätigen lassen: „Nicht 
wahr, Herr Kadett, Ihr Grogvater war noch Ungar?" 

Nein, sagte ich, meine Familie lebe schon seit dem fünf¬ 
zehnten Jahrhundert in Prag. 

Er wurde noch schärfer. „Widersprechen Sie nicht, Herr 
Kadett! Ich befehle, dag Ihr Grogvater Ungar war." 

Vorschriftsmägig nahm ich diesen meinen Grogvater be¬ 
treffenden Befehl zur Kenntnis. Damit war noch nicht alles 
vorbei. Die drei unterhielten sich laut über mich, um mich 


335 



“ wenn ich protestieren sollte - dabei zu ertappen, daß 
ich Ungarisch verstehe. Kein Protest erfolgte von meiner 
Seite, und ich wollte eben meinen Eduard Bernstein weiter¬ 
lesen, als mich einer der Leutnants fragte: „Sind Sie viel¬ 
leicht mit dem Bela Kisch in Czinkota verwandt, Herr 
Kadett?" 

Alle drei bogen sich vor Lachen. Der Massenmörder 
Bela Kisch hatte in Czinkota nach und nach ein Dutzend 
Heiratskandidatinnen umgebracht und die Leichen in Zinn¬ 
fässern verlötet. Der Fall hatte vor einiger Zeit alle Zei¬ 
tungen gefüllt 

„Nein, Herr Leutnant", antwortete ich, „ich bin ja kein 
Ungar, und" - nun betonte ich jedes Wort - „der Bela 
Kisch war ein Ungar." 

„Ich habe doch befohlen, daß Sie ein Ungar sind, Herr 
Kadett", schrie der Train-Rittmeister, wütend über meine 
Antwort. 

Weiß Gott, was noch geschehen wäre, wäre nicht der 
Zug soeben in eine Station eingefahren und ein eleganter, 
ordensbesäter Oberstabsarzt eingestiegen. Bald war eine 
Unterhaltung in ungarischer Sprache zwischen den alten 
und dem neuen Insassen des Abteils im Gange. Über mich 
ging sie hinweg. Erst nach der Station, wo die drei Train- 
Offiziere hinaustorkelten, sprach der Oberstabsarzt mich 
an und erfuhr so, daß ich nicht Ungarisch verstehe. 

„Oh, entschuldigen Sie", sagte er, „da liegt ein Mißver¬ 
ständnis vor. Ich hatte bei der Vorstellung verstanden, 
daß Ihr Name Kisch ist." 

Um allem die Spitze abzubrechen, sagte ich, in der Tat 
führe ich merkwürdigerweise diesen kemmagyarischen und 
in Ungarn so häufigen Namen, obwohl meine Familie 
schon seit vielen hundert Jahren in Prag ansässig sei. 

Er erwiderte, das sei wirklich sehr merkwürdig und ich 
hätte ganz recht, wenn ich sage, das sei ein in Ungarn so 
häufiger Name. Aber ich könne mir gar nicht vorstellen, 
wie verbreitet der Name sei, zehn Prozent aller Ungarn 
heißen Kisch, und zehn Prozent heißen Nagy. „Meine 
Frau", sagte er, „ist auch eine geborene Kisch, aber eine 
adlige Kisch, eine Baronin Kisch de Ittebe. Der Onkel 
meiner Frau, Geza Kisch de Ittebe, ist mit Katharina 


336 



Schratt verheiratet. Sie wissen doch, wer Katharina Schratt 
ist?" Ich bejahte mit dem für Mitglieder des Kaiserhau¬ 
ses angebrachten allerhöchsten Respekt, denn Katharina 
Schratt war die Freundin des Kaisers Franz Joseph. 

Aber bürgerliche Kischs gäbe es zum Schweinefüttern, 
sagte der Neffe der Frau Schratt. In seinem Spital habe er 
einmal die Krankenzimmer inspiziert. „Da sehe ich einen 
Mann wachsgelb und ohne Bewegung im Bett liegen. Ich 
fasse seine Hand, sie ist kalt. Natürlich schlage ich sofort 
Krach, das geht denn doch nicht, daß einer stirbt, ohne daß 
man davon weiß, und daß eine Leiche so mir nichts, dir 
nichts herumliegt. ,Kisch', rufe ich nach meinem Regi¬ 
mentsarzt. Und gleich kommt der Kisch gelaufen, alle 
Kischs auf einmal: der Regimentsarzt, der Sanitätsfeld¬ 
webel und zwei Krankenpfleger, die auch Kisch geheißen 
haben. Alle stehen Habt acht vor mir. Und wissen Sie, 
wer noch Habt acht vor mir gestanden hat? Der Tote! Er 
war nämlich gar nicht tot und hat auch Kisch geheißen." 

Der Oberstabsarzt lachte schallend in Erinnerung an die 
Szene, und dann kam noch ein Epilog.* „Der Regiments¬ 
arzt Kisch war der längste Mann, den Sie sich denken 
können: ein Meter zweiundneunzig, und wir hatten einen 
ganz kleinen Assistenzarzt, ein Meter fünfundfünfzig, und 
der hat Nagy geheißen. Das ist doch großartig, nicht wahr? 
Ach so" - er schlug sich auf die Stirn „Sie verstehen 
ja gar nicht, warum das großartig istI Kisch bedeutet 
nämlich auf ungarisch ,klein' und Nagy bedeutet ,groß'. 
Jeden Tag inseriert ein Lotteriegeschäft in allen Budapester 
Zeitungen ..." 

In der nächsten Station mußte ich umsteigen. Gerade vor 
meinem Waggon lief ich dem blauen Husarenmajor, dem 
ich entflohen war, in die Arme. Ich wollte mich ver¬ 
drücken, aber er stellte mich. „Kadett Kisch!" - „Befehlen, 
Herr Major?" - „Wieso Sie kommen in diesen Zug? Zu¬ 
erst Sie lügen, daß verstehen nicht ungarische Sprache, 
trotzdem Sie heißen Kisch, und dann Sie steigen in anderes 
Coupe. Paßt Ihnen nicht Unterhaltung mit Ungarn! Habe 
ich das gleich bemerkt. Ist unerhört!" 

Sein Gesicht war jetzt so blau wie seine Uniform. „Wie 
heißen mit Taufnamen und was ist Nummer von Ihr Regi- 


22 Kisch VII 


337 



ment? Werde ich Anzeige machen wegen respektwidriges 
Verhalten." 

Zur Hölle mit meinem Namen! Ich werde ihn refor¬ 
mieren im Sinne Eduard Bernsteins, dann wird Schluß sein 
mit dem Ärger. Ich muß meinen Namen leicht verändern, 
damit ich im Falle einer Entdeckung behaupten kann, ich 
sei falsch verstanden worden. 

„Herr Oberintendant", sagte ich im neuen Abteil, „Ka¬ 
dett-Offiziersstellvertreter Klisch stellt sich gehorsamst 
vor." 

„Wie heißen Sie?" fragte er, als ob er nicht recht gehört 
hätte. 

Ich erschrak. Kannte er mich vielleicht? Wenn auch: es 
war zu spät. Ich wiederholte: „Klisch, melde gehorsamst." 

„Komisch", sagte der Oberintendant, „wenn Ihnen ein 
Buchstabe fehlen würde, wären Sie ein Ungar." 

Ich nickte höflich und setzte mich, um die Theorie des 
Reformismus weiterzulesen. 

„Sie fragen ja gar nicht, welcher Buchstabe Ihnen feh¬ 
len müßte, damit Sie ein Ungar wären, Herr Kadett." 

Worauf ich mir, innerlich die Zähne knirschend, gehor¬ 
samst die Frage erlaubte, welcher Buchstabe mich daran 
verhindere, ein Ungar zu sein. 

„Der Buchstabe 1, lieber Freund." 

Ich dankte gehorsamst für die Aufklärung und griff zu 
meinem Buch. 

„Interessiert es Sie denn nicht, zu erfahren, was der 
Buchstabe 1 mit Ihrem Ungarntum zu tun hat?" 

„Selbstverständlich interessiert es mich, Herr Ober¬ 
intendant." 

„Also, werde ich es Ihnen sagen, wenn es Sie so sehr 
interessiert. Sie heißen Klisch, nicht wahr? Ohne das 1 aber 
würden Sie Kisch heißen, und Kisch ist ein ungarischer 
Name; und zwar ein sehr häufiger Name. Zehn Pro¬ 
zent ..." 

Auf der nächsten Station stieg ich wieder um. Sie hieß 
Bekescaba, und ich werde sie mir für mein Leben merken, 
denn sie bedeutet eine Ausgangsstation für mich. Es war 
mir klargeworden, daß reformistische Lösungen keine Lö¬ 
sungen sind. 


338 



Im neuen Abteil lag ein fuchsteufelswild aussehender 
Honvedoberst ausgestreckt auf der einzigen Bank und fun¬ 
kelte den Kadetten an, der einstieg, um ihn seiner Einsam¬ 
keit und Schlafmöglichkeit zu berauben. 

„Herr Oberst", meldete ich, „Kadett-Offiziersstellvertre¬ 
ter Weitemeyer stellt sich gehorsamst vor." 

Er stand auf. „Oberst von Kisch", sagte er und reichte 
mir die Hand, „freut mich sehr." Dann setzte er sich still 
in die Fensterecke. 

So. Jetzt konnte ich lesen, aber es war nicht mehr die 
Theorie des Reformismus, die ich las. 



GESUNGENE LOKALCHRONIK 


In allen Lebenslagen, seinen und meinen, singt der 
blinde Methodius. Im Haus hat sich viel geändert. Die 
Firma-Inhaber von „S. Kisch & Bruder" sind 1901 gestor¬ 
ben, das Tuchgeschäft besteht nicht mehr, und auch der 
Messerschmied Kokoschka ist nicht mehr da. Man erzählt 
in unserem Haus, er sei nach Wien übersiedelt, um dort 
sein Söhnchen Oskar als Kunstmaler ausbilden zu lassen. 
Nun ist Herr Rousek Besitzer des Ladens, auf wie lange, 
weiß man nicht. Er hat sich neue Firmenschilder machen 
lassen, „Messerschmied und Schwertfeger" sowie „Cou- 
telerie", damit die vorbeigehenden Franzosen wissen, von 
welcher Art das Geschäft sei, vorausgesetzt, da ß sie das 
fehlende zweite 1 nicht daran verhindert. Herr Rousek ist 
der Lebemann der Straße, immerfort kommen betrogene 
Geliebte, um Lärm zu vollführen und dadurch das ganze 
Haus als Zuhörerschaft auf die Arkaden zu locken. Wenn 
eines von Rouseks Opfern von dannen gezogen ist, hören 
die Arkaden zu, wie nunmehr Frau Rousek ihren Mann 
beschimpft. 

Mit dem Laden des Herrn Kokoschka wurde auch der 
blinde Methodius übernommen, und so geschieht es im 
Dienste des Herrn Rousek, daß er sein steinernes Rad 
surren läßt. Er tappt nicht mehr an klingelnder Bambus¬ 
stange allabendlich ins Blindeninstitut, sondern wohnt im 
dritten Stock bei der Mutter der Hanka, genannt „Hanka 
Falschheit". Sein Wuschelhaar ist zu einem Scheitel geord¬ 
net, so daß es nicht mehr so stark an die Egalisierung der 
Sechser-Dragoner erinnert, und unter seiner Nase sprießt 
ein gepflegter Schnurrbart. 

Nach wie vor singt er von dem, was sich in Vaters 
Tagen und in denen unserer kindlichen Unbewußtheit hat 
begeben einschließlich des Spottliedes gegen Masaryk, das 
später einmal der Zensur zum Opfer fallen wird. Gleicher¬ 
maßen ist seine Chronik der Gegenwart lückenlos, wie ich 


340 



tagtäglich feststellen kann, denn ich wohne noch immer 
im Haus der Goldenen Bären. 

Wo holt er sich die Komplettierung? „Mal von hier, mal 
von da", lacht er. Er unterhält noch Beziehungen zur Blin¬ 
dengemeinde, von der er zur Zeit seines Debüts mit Mate¬ 
rial beliefert wurde, manches singt ihm Hankas Mutter 
vor, die in fremden Häusern arbeitet und in den Wasch¬ 
küchen vieles hört, manchmal kauft Hanka, genannt 
„Hanka Falschheit", ein Eindruckblatt auf dem Markt und 
liest ihm den Text. 

Allerdings hält er mit den Ereignissen nicht gleichen 
Schritt, er humpelt ein beträchtliches Stück hinter ihnen 
her. In mir, der ich die Substrate dieser Lieder im Stadium 
des Entstehens erlebt habe, weckt ihr Vortrag nur Remi¬ 
niszenzen. Nicht gerne höre ich zu, wenn er Moritaten vor¬ 
trägt, an deren Tatort ich so schnell gewesen bin, daß dort 
das Opfer noch im Blute lag. Es schwindet nicht aus mei¬ 
nen Gedanken. So sehe ich t die Magda Novotna vor mir. 
Vorgestern hat sie ihre Stellung beim Selcher Chmel auf¬ 
gegeben, gestern hat sie geheiratet und die Wohnung in der 
Böhmerwaldgasse bezogen, und heute, am Vormittag nach 
der Brautnacht, ist sie von jemandem durch sechs Beilhiebe 
getötet und ihr Kopf in den Kücheneimer geworfen wor¬ 
den. Obwohl ganz Prag der Polizei half, Spuren und Tä¬ 
ter zu finden, fanden sich tausend Spuren und kein Täter. 

Aus diesem mysteriösen Dunkel schöpfte die Nänie, die 
der blinde Methodius anstimmte. Wer ist der Mörder? 
fragte das Lied. Wohl irgendeiner von den Kunden des 
Selcherladens Chmel, antwortet das Lied. Irgendeiner, dem 
der Gedanke unerträglich ist, dag Magda nicht mehr ihm 
Knackwurst und Krenfleisch reichen wird, sondern ihrem 
Gatten und diesen dabei mit ihren großen Augen ansehen 
wird. Diese großen Augen. Als der blinde Methodius mir 
von Magdas großen Augen sang, ahnte er nicht, daß ich 
dabei sah, wie man Magdas Kopf aus dem Eimer zog, das 
Blut herabtropfte und langsam die großen offenen Augen 
sichtbar wurden. 

Auch an die letzte Tat Botscheks denke ich nicht gern 
zurück. Zum Glück ist viel Zeit vergangen, bevor sie zum 
Sang in unserem Hof wurde, sogar der Botschek-Prozeß 


341 



war schon verhandelt worden. Botschek war ein wilder 
Gesell der in der Schweiz und in Italien Einbrüche ver¬ 
übt hatte und schließlich in der Heimat sein Unwesen be¬ 
gann. Man sucht ihn lange, bevor vier Geheimpolizisten 

Binder, Lukesch, Hladik, Pietilety 
Forschten endlich seine Wohnung aus, 

Denn sie kannten seine Freundin Netty, 

Dachten sich: Bei der steckt er im Haus. 

Diese vier Zeilen scheinen einen für die Detektive er¬ 
folgreichen Verlauf der Detektivgeschichte zu versprechen. 
Insbesondere im Interesse des Letztgenannten der vier 
hätte ich das gewünscht Franz Pietilety, wohl der jüngste 
im Detektivkorps, war durch Conan Doyles Romane zu 
seinem Beruf gekommen, der, wie er dachte, ein Spiel 
des Scharfsinns sei. Aber nun sah er sich dazu verwendet, 
Vorladungen zuzustellen, Denunziationen nachzugehen, 
Taschendiebe nach Komplizen auszufragen, und war ent¬ 
täuscht. Oftmals kam er zu mir, sich ernstere krimina¬ 
listische Bücher auszuborgen und sie dann mit mir zu 
diskutieren. Wenn wir bummeln gingen, lud er Verbrecher 
an unseren Tisch, und sie tranken freundschaftlich mit ihm, 
sie hatten den Franzi auch dann gerne, wenn er sie ver¬ 
haftete. Die Kriminellen halten Persönliches und Geschäft¬ 
liches auseinander. 

Gründonnerstag nachts saßen Franz und ich im Cafe 
Montmartre (die Gebildeten sprachen es „Montmartree" 
aus) beisammen, feierten den letzten Faschingstag. Als wir 
auseinandergingen, sagte er mir leise, ich möge morgen 
um acht Uhr früh im Sicherheitsdepartement sein, mög¬ 
licherweise werde ein interessanter Telefonanruf kommen. 
Wirklich kam der Anruf, und ich eilte den davonstürzen¬ 
den Kommissaren nach in Nettys Wohnung. Dort lag 
Franzi Pietiletys weißes Gesicht in seinem roten Blut, der 
Detektiv Lukesch röchelte neben ihm, den beiden anderen 
wurden eben von Ärzten Verbände angelegt, und es war 
Aschermittwoch. 

Botschek selbst, ein älterer, korpulenter und friedlich 
aussehender Mann, saß am Tisch, nur sein zerschossener 
Arm und seine zerschossene Hand hatten seinen Gegnern 


342 



ermöglicht, ihm Handschellen anzulegen. Sein Revolver 
lag verfeuert auf der Erde neben den Opfern. 

Beim Prozeß verteidigte er sich, wie es kein alter Meister 
der Rhetorik hätte besser tun können, aber er ward ver¬ 
urteilt, selbstverständlich, und der blinde Methodius sang: 

Was nützt es ihm, wenn er behauptet. 

Daß die Polizei ihn überfiel. 

Wer gegen Polizei mit Waffen sich verteidigt. 
Verdient nur selten unser Mitgefühl. 

„Nur selten", heißt es in dem Lied, keineswegs „nie¬ 
mals", und diese Einschränkung ist vielleicht nur um des 
Rhythmus willen da, vielleicht, um die polizeifeindlichen 
Gefühle vieler Hörer zu schonen, vielleicht, um dem Helden 
des Liedes die Möglichkeit einer Sympathie zuzubilligen. 

Jene Aktualitäten des blinden Methodius, die mich nicht 
an gesehene Leichname erinnern, rufen journalistische 
Reminiszenzen in mir wach. Da tönt eine Verszeile - ich 
kenne sie ab ovo. Als sie noch Prosa war, hat sie Gefäng¬ 
nispfarrer Hummelhans dem frommen Herrn Adalbert 
Betzek geliefert, der sie seinerseits unserer Börse weiter¬ 
gab. Da tönt eine Strophe - ihr Substrat hat Kollege Wen¬ 
zel Vilde im Gerichtsärztlichen Institut erbeutet. Und jetzt 
eine schmalzige Sentimentalität - Oberleutnant Bacula 
war also mit Recht stolz auf sie. 

Auch von mir rührt etwas Material her, zum Beispiel 
die Ideen zur Strophe vom überschwemmten Großbauern 
von Libesch und vom abgebrannten Müller in Kriptschka 
entstammen meiner geistigen Werkstatt. Läßt sich in der 
Strophe vom verröchelnden Gefängnisaufseher Kautsky 
meine Löwenklaue erkennen? 

Ohne Zweifel, das Bänkel lebt länger als die Zeitung. 
Die ganze Weltgeschichte des Jahrhunderts, soweit ihre 
Flügel unsere Stadt streiften, hat mich (und wie ich hoffe, 
auch meine Leser) der blinde Methodius durch die alten 
Bänkel gelehrt. Auch die Sagen, Gott weiß, wann der 
Räuberhauptmann Babinsky und der Kanonier Jaburek 
gelebt haben, Gott weiß, ob sie überhaupt gelebt haben, 
aber das Volk weiß, daß sie noch heute leben. Unsterblich 
sind sie durch das Lied. 


343 



Auch meine Lokalberichte sind unsterbliche, ewige 
Werke - einen Tag lang. Am nächsten Tag vollzieht der 
Leser an ihnen das Urteil des Vierteilens und Hängens im 
Klosett. Nichts bleibt von ihnen als das, was dem Bänkel¬ 
sänger in den Reim paßt. 

Eines von den Liedern des blinden Methodius ist mir 
zuwider. Es ist ein politisch Lied, pfui, ein garstig Lied. 
Es spielt im Winter 1908, einer Periode von nationalen 
Kämpfen, Straßendemonstrationen, zerschlagenen Fenster¬ 
scheiben, Zusammenstößen zwischen Tschechen und deut¬ 
schen Studenten. Eine Episode — ein Angriff der Menge 
gegen einen Wagen, in dem zufälligerweise die französi¬ 
sche Tragödin Sarah Bernhardt saß - gab der Pariser 
Presse Anlaß, gegen die sonst befreundete tschechische 
Nation heftig Stellung zu nehmen. Die Tschechen repo- 
stierten, indem sie die deutsche Journalistik Prags für die 
Sensationsnachricht verantwortlich machten. Mit besonde¬ 
rer Aggressivität richtete sich die Kampagne gegen den 
alten Herrn Hermann Katz, den politischen Berichterstat¬ 
ter der „Neuen Freien Presse". Diese täglichen Angriffe 
gegen den „jüdischen Urgermanen aus dem tschechischen 
Dorf Nehvizd" zeitigten eine verhängnisvolle Wirkung: 
Hermann Katz, ein unbekümmerter Bohemien, war einer 
Reihe von Geschäftsleuten und Handwerkern seit Jahren 
Geld schuldig und pflegte, wenn die Löcher allzu groß wur¬ 
den, sie mit einem Hundertkronenschein zu stopfen, den 
der Gläubiger gar nicht buchte. Von den Zeitungsnachrich¬ 
ten verhetzt, begannen nun einige der Gewerbsleute die 
Schulden einzuklagen und veröffentlichten diesen „natio¬ 
nalen Schritt" in einer demagogischen Mittagszeitung. Am 
9. November 1908 brachte dieses Blatt eine Liste anderer 
Gläubiger von Hermann Katz mit der Aufforderung, rück¬ 
sichtslos gegen ihn vorzugehen. 

Am gleichen Tag fand eine Sitzung des Stadtverordne¬ 
tenkollegiums statt, zu der ich wie immer als Bericht¬ 
erstatter erschien. Diese Körperschaft war mir zuwider, 
und nicht nur mir, Tschechen und Deutsche mißachteten 
sie gleichermaßen. Kein einziger Kopf, kein einziger Mann 
von nationaler Bedeutung gehörte ihr an, nur wichtig¬ 
tuerische Vettern mit goldenen Uhrketten über dicken 


344 



Bäuchen. Jedermann wußte die Rathauspartei bestechlich, 
und in kurzen Intervallen platzten große Korruptionsaffä¬ 
ren. Die letzte war die der Wasserrohren. Zwei Firmen 
bewarben sich um die Lieferung, eine französische und 
eine deutsche. Der Präsident des Wasserwerk-Ausschusses, 
Reichstagsabgeordneter, Stadtverordneter und was noch, 
trat öffentlich für die Franzosen ein. Privat erschien er 
aber bei der deutschen Firma und erklärte sich bereit, ihr 
gegen eine Millionenprovision den Auftrag zuzuschanzen. 
Wie man diese Stadtväter einschätzte, geht daraus hervor, 
daß nach Schaffung des neuen Staats außer dem opposi¬ 
tionellen Doktor Baxa keiner von ihnen wiedergewählt 
wurde. (Wohl aber ich.) 

Damals, als ich Reporter der „Bohemia" war, interessier¬ 
ten mich nur meine polizeilichen Lokalfälle, und im Stadt¬ 
verordnetenkollegium begnügte ich mich, den Verlauf der 
Sitzung in Kürze und Objektivität zu beschreiben. Den¬ 
noch war ich an jenem Novembernachmittag der Anlaß 
einer üblen Szene, indem der tschechische Ableger der 
radau-antisemitischen Pogrompartei, ein Herr Breznovsky, 
mit zweien seiner Freunde mich hinauszuwerfen ver¬ 
suchte, weil ich der deutschen Journalistik angehöre. Ich 
widersetzte mich mit Worten und, als mich der Stadtver¬ 
ordnete Vanha anpackte, auch tätlich. Das nützte mir 
nichts, denn ich wurde die Treppe hinuntergeworfen. Ich 
kam unten heil an, wogegen in der Sitzung, der ich nicht 
beiwohnte, unter lärmender Erregung mitgeteilt wurde, 
die ärztliche Untersuchung des Stadtverordneten Vanha 
habe ergeben, daß ich ihm wahrscheinlich zwei oder drei 
Rippen gebrochen habe. Das Kollegium beschloß, gegen 
mich eine Gerichtsklage wegen Hausfriedensbruch und 
Öffentlicher Gewalttätigkeit zu erheben. 

In der Redaktion traf ich Herrn Hermann Katz noch 
bedrückter, als er in den letzten Tagen gewesen. Aber 
da ich ihm mein Erlebnis erzähle, gewinnt er sofort seine 
Energie wieder. „Denen will ich's zeigen", ruft er, nimmt 
seinen Kalabreser und rennt in die Nacht hinaus. Kaum 
eine Stunde vergeht, bevor er wieder da ist und zu schrei¬ 
ben beginnt: „Das Prager Stadtverordnetenkollegium ist 
eine so unwichtige Organisation, daß es sich kaum ver- 


345 



lohnt, über ihre Tagungen auch nur ein paar Zeilen zu 
schreiben. Weil aber einige ihrer kläglichen Herren ge¬ 
stern mit Brachialgewalt versuchten, uns von der Bericht¬ 
erstattung auszuschließen, so wollen wir ihnen hiermit zei¬ 
gen, wie genau wir über ihre Verhandlungen interniert 
sind - einschließlich der Geheimbeschlüsse, die in dem 
geschlossenen Teil der Sitzung verfaßt worden sind." 

Am nächsten Morgen wurde ich mit der Nachricht ge¬ 
weckt, Herr Hermann Katz sei in den Moldaufluß ge¬ 
sprungen. Die Stelle auf der Karlsbrücke, von der aus er 
den Selbstmord verübte, hatte er mir oft gezeigt; von dort 
war sein Vorgänger Josef Walter vor vierzig Jahren ge¬ 
sprungen, als er sich einer gegen ihn geführten Kam¬ 
pagne nicht mehr zu erwehren wußte. Herr Hermann Katz 
hatte es ihm nun nachgemacht, aber vergessen, daß die 
Moldau gefroren war, er zerschlug sich Wirbelsäule und 
Gliedmaßen, und man fand ihn sterbend auf blutgeröte¬ 
tem Eis. 

Das Lied, das der blinde Methodius davon singt, ist 
läppisch und chauvinistisch, und es ärgert mich um so 
mehr, weil ich im alten Hermann Katz einen väterlichen 
Freund gehabt hatte. Ich versuche es, den Hof zu vermei¬ 
den, und sicherlich käme ich an einem Sehenden ungesehen 
vorüber, aber der blinde Methodius sieht mich schon in 
dem Augenblick, da ich den Treppenflur betrete. 

„Ich habe etwas Neues", ruft er mir zu. „Vom Windisch- 
grätz." 

„Von wem?" 

„Vom Windischgrätz. Nicht vom alten, dem Kalb. Vom 
jungen." 

Schon stehe ich wieder an seinem Schleifstein. 

Zu diesem Lied haben weder meine Kollegen noch ich 
ein Detail beigesteuert. Obwohl sich die Handlung in der 
Villa des Groebeparks, also abseits von der Straße abge¬ 
spielt hat, wußte die Straße es schon am nächsten Tag, 
die Spatzen pfiffen es von den Dächern und ihnen nach 
die Bänkelsänger. Nur die Zeitungen durften davon keine 
Notiz nehmen, „Beleidigung eines Mitglieds des kaiser¬ 
lichen Hauses", hieß der Paragraph, der die Mitglieder 
des kaiserlichen Hauses davor schützte, daß über ihr 


346 



majestätsbeleidigendes Verhalten eine noch so leise An¬ 
deutung gemacht werde. 

In dem Singspiel, das mir der blinde Methodius vor¬ 
spielt, treten bloß drei Personen auf. Aber was für drei 
Personen! 

1. Ihre Kaiserliche Hoheit Erzherzogin Elisabeth, ein¬ 
ziges legitimes Kind des Kronprinzen Rudolf, Enkelin des 
Kaisers von Österreich väterlicherseits und des Königs von 
Belgien mütterlicherseits. Unter allen katholischen Köni¬ 
gen Europas hätte sich eine solche Enkelin ihren Gatten 
wählen können, aber sie wählte: 

2. Otto von Windischgrätz, einen hellblond-glattgeschei- 
telten Offizier von den Windischgrätz-Dragonern, der als 
Brautgeschenk den Rang eines Rittmeisters und den Für¬ 
stentitel bekam. 

3. Mariechen Ziegler, tausendmal populärer als Ihre 
Kaiserliche Hoheit mitsamt höchstdero Prinzgemahl, da 
sie seit mehr als zwei Jahrzehnten die großen Soubretten- 
rcllen der Operette spielt. So ist sie schon über die reifere 
Jugend beträchtlich hinausgewachsen, aber auf der Bühne 
entwickelt sie so viel Weiblichkeit, daß alle Männlichkeit 
des Parterres baß in Wünschen erstarrt. 

Zerrüttet ist die Liebesehe der Erzherzogin und des 
Fürsten, und bald wird sie geschieden werden. Immerhin 
ist es etwas viel, daß sich der Fürst nicht scheut, Marie¬ 
chen Ziegler nächtlicherweile in die Villa mitzunehmen, die 
er mit seiner kaiserlichen Gemahlin bewohnt. Dieweil 
Fürst und Diva im schönsten Nachthemd beisammen sind, 
kommt, wie das Lied vermeldet, die betrogene Gattin her¬ 
ein, und. jh re Kaiserliche Hoheit 

Schreit: „Das ist ja eine Roheit 1" 

Es kracht aus ihrem Revolver, Mariechen wird in die Hüfte 

getroffen, u nc j s ^ e sc h re it jetzt: „Windischgrätz, 

Hau ihr eine auf den Dez, 

Hau ihr auf den Kopf!" 

Und diese schöne Geschichte durften wir nicht bringen, 
er aber, der blinde Methodius, sieht sein Repertoire von 
der Zensur unbeschränkt. 


347 



Auch andere Vorteile hat er. Er braucht keine Hast zu 
entwickeln, kann Stoffe besingen, ohne dag Revolver¬ 
schüsse oder Beilhiebe sie ausgelöst hätten. Hoch klingt 
das Lied vom Christuslatscher Janatsch, der blondhaarig 
und nackt durch die Stragen wandelt, oder das vom mig- 
glückten Bau des Repräsentationshauses oder das vom 
Bazillus in den Prager Stragenkanälen. Sein Repertoire 
ist eine mächtige Chronik. Meines ist gevierteilt und ge¬ 
henkt. 

Von meinem Repertoire bleibt nur das, was der blinde 
Methodius dem seinen einverleibt, der Nachwelt erhalten. 
Und was verleibt er ein? Nicht mehr als einzelne Zeilen, 
ich darf mich nicht einmal rühmen, dag ich zu einem sei¬ 
ner Lieder das ganze Substrat geliefert habe. 



AUSWÄRTIGE" BERICHTERSTATTUNG 


So nannte man die Berichte, zu denen Eisenbahnfahrten 
erforderlich waren: „Auswärtige Berichterstattung". Seit¬ 
her habe ich fünf Weltteile covered, und so darf ich über 
diese Reisen lächeln, die so kurz waren, dag es gar nicht 
nötig war, von ihrem Ziel aus einen Bericht abzusenden. 
Meist konnte man nämlich gleich zurückfahren und das 
„Telegramm unseres Spezialberichterstatters" am Redak¬ 
tionstisch niederschreiben. Das ersparte die Anwendung 
von Telegrammkürzungen, alles Warten am Schalter, Ver¬ 
stümmlungen und hauptsächlich Telegrammspesen. 

Viele Spalten habe ich auf diese billige Art über „Ereig¬ 
nisse" „telegrafiert", die der Entsendung eines Spezial¬ 
berichterstatters wert befunden waren, also wichtige Ereig¬ 
nisse sein mußten. Ich reiste sehr gerne, denn außer dem 
Vorfall, wegen dessen ich entsandt war, gab es in der Pro¬ 
vinz, in der nicht täglich eine Journalistenmeute die Bege? 
benheiten sozusagen als Embryos dem Mutterleibe entriß, 
immer einen Findling zu finden. War er auch schon einige 
Tage alt - was machte es aus, die Hauptstadt wußte wenig 
oder nichts von seiner Geburt. Deshalb habe ich auch die 
Weekends mit oder ohne Weekend-Freundin außerhalb 
der Stadt verbracht und brachte immer etwas heim. In der 
Wirtsstube von Hassenstein bei Komotau setzte sich ein 
lokalpatriotischer Finanzbeamter zu mir und langweilte 
mich mit der Idee fixe, daß Hassenstein der Schauplatz 
von Goethes „Novelle" sei; ein paar Wochen später er¬ 
wähnte ich diese Theorie in einem Artikel, ein Dozent der 
Germanistik stürzte sich darauf und bewies in einem gro¬ 
ßen Buche, daß sie richtig sei. Bei einem Ausflug in Dux 
hörte ich, daß der Fabrikant Marx vor vierzehn Tagen 
die Grabplatte Casanovas aufgefunden hatte. An einem 
Sonntag, den ich zu ganz anderem Zwecke im Städtchen 
Kladno zu verbringen dachte, sahen wir aus dem Hotel¬ 
zimmer einem Zusammenstoß zwischen streikenden Koh- 


349 



lenarbeitern und Gendarmerie zu, bei dem es vier Tote 
und viele Verwundete setzte. 

Meine Kollegen hänselten mich mit einem Witz: Kisch 
verlangt am Eisenbahnschalter eine Fahrkarte für fünf 
Kronen. «Wohin?" fragt der Beamte. «Das ist egal", ant¬ 
wortet Kisch, „ich habe überall zu tun." 

Bei jedem Vorfall in der Provinz meldete ich mich mit 
dem Vorschlag, hinzufahren. Aber gewöhnlich war es der 
Verlagsdirektor, der es verhinderte. Er haßte die Reise¬ 
spesen, weil er geizig war, und wir haßten ihn, gleich¬ 
falls weil er geizig war. Wo waren die Zeiten hingeraten, 
in denen jeder Redakteur darum gekämpft hatte, als Spe¬ 
zialberichterstatter ausgeschickt zu werden, weil damals 
der Wahlspruch anerkannt war: „Wagen gewinnt." Wer 
heutzutage einen „Wagen" in der Spesenrechnung anrech¬ 
nete, gewann nicht mehr, denn der Verlagsdirektor strich 
ihn weg. 

Der Zeitungskönig Gordon-Bennett soll von Zeit zu Zeit 
seinen Korrespondenten den Auftrag gegeben haben, ir¬ 
gendwohin (er wußte selbst nicht, wohin) zu fahren und 
von dort (über) irgend etwas (er wußte selbst nicht, wor¬ 
über) dreihundert Worte zu depeschieren. Auch ich hätte 
gern einmal den Auftrag bekommen: „There's somewhere 
something in the air, travel to the place and wire three- 
hundred words. Gordonbennet." 

Jedoch, ach, unser Verlagsdirektor war von solcher Ver¬ 
schwendungssucht frei, vornehmlich Reisespesen und Tele¬ 
grammkosten waren ihm ein Greuel, und wenn mein Ideal 
der großzügige Gordon-Bennett war, so war sein Ideal 
der Wiener Journalist Mendel Singer, weil dieser den Re¬ 
kord an Telegrammkürzungen besaß. Als Erzherzogin An¬ 
nunziata in Ischl einen männlichen Erben gebar, gab Men¬ 
del Singer seiner Depesche diese, die wohl kürzeste Form: 
„Annunziata prinzte". (Wäre das Kind ein Mädchen ge¬ 
wesen, hätte er „prinzeßte" telegrafiert.) 

Einmal fand in Trautenau die Stichwahl zwischen den 
Reichstagskandidaten Doktor Eppinger und Karl Hermann 
Wolf statt - wenn man will, kann man sie als ein Vor¬ 
spiel zu der großen Auseinandersetzung zwischen Demo¬ 
kratie und Nazifaschismus werten. Doktor Eppinger war 


350 



Führer der Fortschrittspartei, ein würdiger Mann mit ge¬ 
mäßigt liberalen Grundsätzen. Karl Hermann Wolf, der 
ihm gegenüberstand, war hingegen ein Jüngling mit Sten¬ 
torstimme, Tschechenfresser, Judenfresser, Kapitalisten¬ 
fresser, was ihn nicht hinderte, jüdischen und tschechi¬ 
schen Journalisten insgeheim Notizen zuzustecken und vom 
Kartell der Zuckerfabriken Subventionen für seine Zeitung 
anzunehmen. Er war der Schüler des großdeutschen Ra¬ 
dau-Antisemiten Georg von Schönerer und der Lehrer 
Adolf Hitlers, der am Tag nach der Okkupation Öster¬ 
reichs dem inzwischen gealterten Wolf eine Ehrenpension 
aussetzte. 

Zu dieser Stichwahl sollte ich nach Trautenau fahren, 
und der Verlagsdirektor bewilligte mir nur sechzig Kro¬ 
nen Reisespesen. Hundert Kronen hatte ich verlangt 
Ärgerlich trat ich die Reise an, entschlossen, mich zu rä¬ 
chen. So sandte ich der harrenden Redaktion folgendes 
Telegramm: 

„Um halb elf Uhr nachts erschien Bürgermeister Rauch 
auf dem Rathausbalkon, um das Ergebnis der Stichwahl 
zwischen Eppinger und Wolf zu verkünden. In der auf 
dem Platz versammelten nach Tausenden zählenden 
Menge, die bisher nationale Lieder gesungen hatte und 
mit Zusammenstößen und Ausrufen beschäftigt gewesen 
war, trat atemlose Stille ein. Bürgermeister Rauch verkün¬ 
dete, daß Skrutinium habe mit der knappen Mehrheit von 
hundertvierundachtzig Stimmen das überraschende Ergeb¬ 
nis gezeitigt, daß - hier endet Vorschuß. Kisch." 

Die Erinnerung an ein anderes Telegramm verknüpft 
sich mit einer Grubenkatastrophe im Brüxer Kohlen¬ 
gebiet. Knapp vor sechs Uhr abends kam ich mit einem 
mehrere Seiten langen Bericht, den ich telegrafisch auf¬ 
geben wollte, an den Schalter des Postamtes in Bruch. 

„Das soll ein Telegramm sein?" schrie der Postverwal¬ 
ter, „das ist ja ein ganzes Buch! Es ist ein Viertel vor 
sechs, und ich bin nur verpflichtet, bis sechs Uhr zu am¬ 
tieren. Ich nehme höchstens ein Telegramm von dreißig 
Worten." 

Ohne mit der Wimper zu zucken, schrieb ich auf ein 


351 



neues Telegrammformular: „An Seine Exzellenz Handels¬ 
minister Wien stop Postverwalter von Bruch verweigert 
aus Bequemlichkeit Weiterleitung sozialpolitischen wich¬ 
tigen Berichtes über Grubenkatastrophe stop erbitte sofor¬ 
tige energische Intervention Unterschrift Kisch Bericht¬ 
erstatter der Bohemia." 

Ich legte es dem Beamten hin. „Es sind nur achtund¬ 
zwanzig Worte." 

Er las das Telegramm stirnrunzelnd durch. Eine Weile 
lang dachte er nach, reichte es mir dann zurück und sagte: 
„Wissen Sie was, geben Sie mir lieber das andere." 



KAISERLICH-KÖNIGLICH 

ALLZUMENSCHLICHES 

Ich sehe mich auf dem winzigen Bahnhof der winzigen 
Stadt Brandeis stehen. Der Oktober, der „April des Herb¬ 
stes", kann sich nicht entscheiden, ob er den Schnee als 
Schnee oder als Regen fallen lassen soll. 

Auf dem offenen Perron frösteln die Offiziere von Lo¬ 
thringer-Dragoner Nr. 6, ihren gefütterten Attilas zum 
Trotz, deren schwefelgelbe Aufschläge mich gleichermaßen 
an den Schopf des blinden Methodius wie an die viel¬ 
bunte Kugel unseres Geschäfts erinnern. In lange Edel¬ 
pelze gehüllt, mit blitzenden Ohrgehängen, bilden die 
höchsten Regimentsdamen eine Gruppe. Außer ihnen war¬ 
ten einige schlechtbefrackte Munizipalgrößen und sind 
mehr als ich darum bemüht, ihre Namen auf meinem 
Notizblock verzeichnet zu sehen. 

Die Begrüßungszeremonie gilt einer neuen Dame der 
Garnison. Der Rittmeister Erzherzog Karl Franz Joseph 
kehrt mit ihr von der Hochzeitsreise heim. Ihn kenne ich 
seit fünf Jahren. Auch damals, vor fünf Jahren, als er in 
Prag eintraf, geschah es in trübem und frostigem Wetter. 
Um den Ärmel seiner Uniform schlang sich ein Trauerflor, 
sein Vater war vor zwei Wochen gestorben, und man hatte 
sich recht beeilt, den eben zum zweiten Thronfolger Ver¬ 
waisten aus dem Bereich des kaiserlichen Hofes zu ent¬ 
fernen, bevor er dort Einfluß gewinnen könne. Nach 
Brandeis war er kommandiert worden, einem kläglichen 
Garnisonsort bei Prag. Zweimal wöchentlich sollte sich der 
Prinz auf dem Prager Schloß von Professoren Vortrag 
über Staatswissenschaft erstatten lassen. Sein Erzieher 
oder Kammervorsteher - er hieß zufälligerweise ähnlich 
wie der Garnisonsort: Graf Brandis - war ein liberaler 
Herr, und als ich ihn aufsuchte, um etwas über den Lehr¬ 
plan des künftigen Thronfolgers zu erfahren, stellte, er 
mich sofort seinem Zögling vor. Diesen traf ich dann oft 


23 Kisch VII 


353 



wieder, und zwar an Orten, wo Graf Brandis nicht zu¬ 
gegen war, denn fast allabendlich fuhr der Prinz nach 
Prag, um in die Operette zu gehen und sich nachher 
anderweitig zu unterhalten. Wahrscheinlich bemerkte man 
das in Wien und fürchtete, er gerate seinem Vater nach, 
dem Erzherzog Otto, der es wie Shakespeares Prinz Hein¬ 
rich getrieben hatte. So beeilte man sich, den Sohn jung 
zu verheiraten. 

Unter denen, die die Neuvermählten auf dem Perron 
erwarten, fehlt der Herr des nahen Schlosses Konopischt, 
Erzherzog Franz Ferdinand. Zwar hat er, der Thronfolger 
Nummer eins, sich in den fünf Jahren niemals um den 
Thronfolger Nummer zwei bekümmert, aber man hatte ge¬ 
dacht, er werde mit seiner Frau doch erscheinen, um die 
neue Nichte zu begrüßen. Schon um des Dekorums willen, 
schon um alle Mutmaßungen zu stören. 

Dachte Franz Ferdinand, trotz des Verzichtes, den er 
bei der Eheschließung mit der unebenbürtigen Gräfin Cho- 
tek beschworen hatte, dachte er dennoch daran, seinem 
Sohn Max Hohenberg die Nachfolge auf den Kaiserthron 
zu verschaffen, auf die der Neffe das Anrecht hatte? 

Diese Frage wurde zur Antwort, als die Verlobung 
Karl Franz Josephs verlautbart war. Jedermann hatte kal¬ 
kuliert, die Königstochter eines Großstaates werde ihm 
zur Braut erkoren werden, womöglich eine, die es an 
Schönheit mit Elisabeth, Österreichs letzter Kaiserin, auf¬ 
nehmen könne. 

Und wer war es nun wirklich? Das zwölfte Kind eines 
in Wien lebenden Emigranten, des Herzogs Heinrich von 
Bourbon-Parma. Keineswegs machte der Hinweis, nur eine 
katholische Prinzessin sei in Betracht gekommen, diese 
Brautwahl erklärlich. Erklärlich machte sie der Gesichts¬ 
punkt, daß Erzherzog Franz Ferdinand nur einen Herzog 
Ohneland als Schwiegervater seines künftigen Opfers se¬ 
hen wollte. 

Mit seiner Abwesenheit bei der Empfangszeremonie be¬ 
stätigt Franz Ferdinand nur, was jedermann weiß. 

Der Zug fährt ein. Karl Franz Joseph springt heraus, 
lachend und unbekümmert wie immer, er schaut sich um, 
zwinkert auch mir zu. Auf dem Trittbrett steht Zita, die 


354 



neue Erzherzogin, die junge Frau, und sieht beileibe nicht 
aus, als ob sie es wäre. Ein verlegenes, schmächtiges, 
äußerst blasses, mehr als bescheiden gekleidetes Mäd¬ 
chen, wie aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. In ihrem 
Arm liegt ein übergroßer Blumenstrauß aus fahlen und 
spröden Herbstblumen. Sie müßte es erst lernen, wie man 
lächelt, wenn einem gar nicht nach Lächeln zumute ist. 
Wenn man von nun an statt in Wien in Brandeis leben 
muß, ist einem nicht nach Lächeln zumute. Keine reichere 
Industriellentochter, die einen Kavallerie-Offizier heiratet, 
folgt ihrem Gatten nach Brandeis: Schwiegerpapa ver¬ 
schafft dem Schwiegersohn schon vorher die Versetzung 
in eine anständige Garnison. 

Zum Glück weiß Zita nicht, daß Schloß Brandeis ein 
Strafgefängnis für Mitglieder von Herrscherhäusern ist. 
Vor ein paar Jahrzehnten war eine Dame aus der gleichen 
Familie wie Zita, gleichfalls durch Ehe zur Thronfolgers¬ 
gattin geworden, in Brandeis zu strengem Straf auf enthalt: 
die Herzogin von Berry, Mutter des letzten Bourbonen 
von Frankreich, des „Mirakelknaben". Nachher wurde der 
homosexuelle Bruder Kaiser Franz Josephs hierher ver¬ 
bannt. 

Auf dem Bahnhof ist die zukünftige ständige Gesell¬ 
schaft, der ausschließliche Verkehr der Erzherzogin, ver¬ 
sammelt. Es mustern die Offiziere von Lothringer-Drago¬ 
ner, die sich auf Frauen verstehen und den Geschmack 
ihres erzherzoglichen Regimentskameraden kennen, Ge¬ 
stalt und Gesicht seiner Frau. Es mustern die in Pelze 
gehüllten Regimentsdamen die Kleidung ihres neuen Mit¬ 
glieds. Die Musterung dauert nicht lange, ein Blick ge¬ 
nügt. 

Die Frau des Erzherzogs steht vor den Rednern wie 
ein Schulmädchen vor dem Lehrer. Karl Franz Joseph 
schaut neugierig um sich. Mich streift sein Blick sozusagen 
mit einem Achselzucken der Augen. 

Die Ansprachen, die da gehalten werden, habe ich längst 
in der Tasche. Ich denke nach, was ich als Einleitung 
schreiben werde. Wenn ich könnte, wie ich möchte, würde 
ich schreiben, wie heute und hier auf diesem Vizinalbahn- 
hof klar wird, daß sich dieser unbekümmerte Erzherzog 


355 



mitsamt seinem belanglosen Frauchen widerstandslos um 
sein Herrschaftsanrecht prellen lassen, niemals einen Erb¬ 
folgekrieg beginnen, weder selbst den Thron besteigen 
noch seinen Kindern die Anwartschaft aufs Reich verma¬ 
chen wird. Eine Ehe aus Staatsräson, von der er keinen 
staatspolitischen und auch keinen persönlichen Vorteil zie¬ 
hen wird. Das geblinzelte Achselzucken sagt mir, ich 
werde ihn in den Prager Näditen Wiedersehen, und er wird 
exzedieren wie der tolle Erzherzog Otto, sein Vater, und 
diese zarte Frau wird ihn nicht daran hindern können. 

Selbstverständlich durfte ich nichts dergleichen schrei¬ 
ben, und es war gut so, denn ich hätte mich als schlechter 
Prophet erwiesen. Die Ehe wurde besser als alle Habs¬ 
burgerehen, zwei Jahre später machte die Ermordung 
in Sarajewo den Karl und die Zita zum Thronfolgerpaar, 
wieder zwei Jahre später wurden sie durch den Tod des 
Großonkels zum Kaiserpaar, wieder zwei Jahre später ver¬ 
loren sie Krone und Reich, und wieder zwei Jahre später 
war Exkaiser Karl tot 

Mit König Eduard VII. habe ich mir keine reporteri¬ 
schen Lorbeeren geholt, obwohl - oder weil meine Be¬ 
richte den Weisungen der österreichisdien Behörden nicht 
zuwiderliefen. Es gingen selbige Weisungen dahin, „den 
rein privaten, ausschließlich der Kur gewidmeten. Marien¬ 
bader Aufenthalt Seiner Majestät des Königs von England 
nicht durch politische Exkurse zu stören". Der erste, der 
sich über diese Weisungen der Österreichischen Behörden 
ganz ohne Angst hinwegsetzte, war Seine Majestät der 
König von England in höchsteigener Person. Vor allem 
benutzte er den „rein privaten, ausschließlich der Kur ge¬ 
widmeten Aufenthalt in Österreich" dazu, mit den beiden 
prominentesten Verfechtern eines Krieges gegen. Deutsch¬ 
land (und das hieße, auch gegen Österreich) zu konferie¬ 
ren. Allerdings: kein Wort von dem, was der König in 
der glasgedeckten Veranda des Hotels Weimar mit dem 
französischen Ministerpräsidenten Clemenceau und dem 
russischen Außenminister Iswolski stundenlang besprach, 
wurde der profanen Welt bekannt. Worüber aber konnten 
die drei Führer der Entente cordiale denn verhandeln als 


356 



um die Entente cordiale und die letzten Details der Ein¬ 
kreisung Deutschlands? 

Übrigens bestätigte Clemenceau den Journalisten mit 
den Worten: „Es handelt sich um die Sicherung des Frie¬ 
dens" ausdrücklich, daß es sich um die Sicherung des Frie¬ 
dens handelte. 

Es gab 1908 keine Zeitung der Welt, die das Marien¬ 
bader Pour-parler nicht zum Gegenstand der Leitartikel 
gemacht hätte, und die äußerlichen Daten zu dieser fla¬ 
granten Hinwegsetzung über die Presseanweisungen der 
Wiener Behörden wurden größtenteils Vertretern der Wie¬ 
ner Behörden geliefert, die die Vertreter der Wiener Presse 
soweit informierten, als sie selbst etwas wußten. Außer¬ 
dem waren die großen Kanonen von Fleetstreet hier auf¬ 
gefahren und wurden von britischen Diplomaten geladen, 
die im Hotel „Grünes Kreuz" logierten. 

Gegen die Wiener und Londoner Presse den Konkur¬ 
renzkampf aufzunehmen war für die „Bohemia" unmög¬ 
lich, obwohl Marienbad, in Deutschböhmen gelegen, zu 
den Kerngebieten unserer Abonnentenschaft gehörte. Als 
ich daher im nächsten Jahr ausersehen wurde, eine aus¬ 
wärtige Berichterstattung (zweieinhalb Stunden Fahrt!) 
über den königlichen Badeaufenthalt zu liefern, schärfte 
man mir ein, etwas ganz Originelles zu liefern. Etwas, 
was die Wiener Zeitungen nicht herauskriegen würden. 

Mir schien es vor allem originell/den König absichtlich 
nicht zu Gesicht zu bekommen. Nur autochthone Marien¬ 
bader suchte ich auf, um von ihnen Informationen zu be¬ 
kommen, aber alle fielen, wie ich gleich im voraus sagen 
will, der Selbstzensur unserer Redaktion zum Opfer. 

Was mir das wichtigste schien, war die Frage: Wieviel 
von seinem Körpergewicht nimmt unser hoher Besucher 
jährlich bei uns ab? - nach Marienbad kommen ja die 
Dicken hauptsächlich, um ihre Fülle zu verringern. 

Eduard VII. war seit 1899 zum zehntenmal da. All¬ 
jährlich am 12. August, sobald er das wichtige Regie¬ 
rungsgeschäft erledigt hatte, beim Ascott-Rennen anwe¬ 
send zu sein, übersiedelte er von der Themse zur Kreuz¬ 
brunnenquelle. Am Tag seiner Ankunft daselbst wog er 
ohne Kleider 97 Kilogramm, 2 Dekagramm, bei seiner 


357 



Abreise am 9. September habeat corpus act (das heißt 
nackt) von nur 93 Kilo, 2 Deka. Er verlor also per Woche 
genau ein Kilogramm. 

Arithmetische Aufgabe: Was kostet einen König ein 
Kilo Fleisch, dessen er sich entledigen will? 

Er kommt im Extrazug von Calais nach Eger, von dort 
per Auto nach Marienbad. In seinem Gefolge befinden 
sich siebzehn Personen, deren Zimmerflucht sonst von 
dreißig Gästen bewohnt wird. Für diese Appartements 
und eine Küche werden pro Tag viertausend Goldkronen 
Miete gezahlt. 

Stattlich, fürwahr, ist der Leibkoch dotiert, fünfhundert 
Kronen sind sein Tagesbudget - wie stattlich das ist, 
kann man daraus ermessen, daß an der Table d'hote des 
teuersten Hotels eine Mahlzeit zwanzig Kronen kostet, 
während der Königskoch für die fünfhundert Kronen nur 
Zutaten, Mehl, Gemüse, Gewürze und Früchte einzukau¬ 
fen hat. Das Fleisch naht von England. Allmorgendlich 
mit der neunten Stunde trifft ein Spezialkurier aus dem 
Buckingham-Palace ein mit Schriftstücken des Empires, die 
der persönlich-königlichen Erledigung bedürfen. Ob wirk¬ 
lich immer etwas historisch Wichtiges im versiegelten Ku¬ 
riersack steckt, kann kein Profaner erfahren, aber daß täg¬ 
lich sechs frische Fasanen darinnen sind, erfahre ich von 
berufener Seite. 

An Trinkgeldern zahlt der königliche Purser dem Ho¬ 
telpersonal am Schluß des Kuraufenthalts viertausend Kro¬ 
nen aus, außerdem werden Orden, Hoflieferantendiplome 
und goldene Krawattennadeln mit „G. VII" verteilt, letztere 
an die österreichischen Polizeibeamten, die den Bewa¬ 
chungsdienst versehen. Herr Doktor Ott, der sich für den 
königlichen Patienten eine Waage mit englischen Ge¬ 
wichtsmaßen kommen ließ, erhält alljährlich ein hohes Ho¬ 
norar und einen noch höheren Orden, ohne damit seinen 
Konkurrenten Professor Heinrich E. Kisch einholen zu 
können, der den Weltrekord an Orden hält: neunzig 
Stück. 

Meiner Berechnung nach entsprachen die Kosten eines 
verlorenen Kilo Fleisches dem Preise von über sechzig¬ 
tausend Kilo Fleisch zum Markthallenkurs, und die vier 


358 



abgenommenen Kilo entsprachen demnach fast einer 
Viertelmillion Kilo, welche andere Menschen zunehmen 
könnten. Da aber der König alljährlich nach der Kur einen 
großen Teil des verlorenen Gewichts schnell wiederge¬ 
winnt, so stellt sich die Rechnung noch höher. 

Ritzratz wurde mir das schöne Problem von der Re¬ 
daktion weggestrichen. So etwas sei erstens pure Demago¬ 
gie, und zweitens seien unter denen, die vom britischen 
Ordensregen profitierten, auch unsere Abonnenten. 

Ritzratz! 

Punkt zwei, den ich behandelte, war der Verkehr des 
Königs. An seiner Hoftafel nahmen nicht mehr so aus¬ 
gesprochen politische Profile teil wie im Vorjahr. Zwar 
war Clemenceau wieder da, jedoch nicht mehr als fran¬ 
zösischer Ministerpräsident. Wenn es der König mit sei¬ 
ner vielgerühmten Schlauheit für vereinbarlich hielt, sich 
mit Clemenceau stündlich zu unterhalten, so war das seine 
Sache - jeder aber, der die Berliner Zeitungen verfolgte, 
mugte wissen, dag Clemenceau, der „überalterte Schreier 
und Stürzer, dieses Mal endgültig abgetakelt" wurde und 
„nimmermehr eine politische Rolle spielen werde". (Das 
war sechs Jahre vor dem Weltkrieg.) 

Weit wichtiger war sicherlich der übrige Verkehr des 
Königs. Drei von seinen Freundinnen wohnten wie er im 
Hotel Weimar, was keinesfalls ohne seinen Wunsch, ge¬ 
schweige denn ohne sein Einverständnis der Fall sein 
konnte. Man hätte also, so wie ich es tat, ruhig von drei 
Ladys der Londoner Society berichten dürfen, die gleich¬ 
falls in Marienbad die Kur machten: von der weniger 
schönen als klugen Schauspielerin Mrs. Peter, der hüb¬ 
schen, aber mehr als ungenierten Bierbrauersgattin Mrs. 
„Ale-Porter" (so nannte man sie, ihr richtiger Name klang 
ähnlich: Hall-Walker) und der Französin Mlle. Letellier. 
Eine vierte Dame, Mrs. Chattwin, nannte ich, verschwieg 
aber feinfühlig, wie ich bin, dag sie vom König ein Kind 
hatte. Jeden Morgen um sieben Uhr schritt sie wie zufäl¬ 
lig mit hochgehobenem Rock knapp vor ihrem einstigen 
Freund dem Kreuzbrunnen zu, damit der Anblick ihrer 
Waden, die er wahrscheinlich besonders geliebt, in ihm 
den Wunsch zur Wiederkehr erwecken möge. 


359 



Im Goethe-Haus wohnte eine fünfte Anwärterin auf die 
Liebe des Königs, Sie, Mrs. Graham-Stuart, kam alljähr¬ 
lich vier Wochen vor ihm an, um ihre Schönheit zu pfle¬ 
gen, die Rolläden ihres Zimmers waren tagsüber licht¬ 
dicht heruntergelassen, damit kein Sonnenstäubchen die 
Schneeweiße ihres Teints trübe. 

All dieses Raffinement von England und Frankreich 
verhinderte jedoch mitnichten, daß Böhmen den Sieg über 
das Herz Eduards davontrug. Sie hieß Fräulein Pistl und 
verkaufte Hüte im Laden ihres Vaters in der Kolonnade. 
Drinnen erspähte sie der königliche Blick, schnurstracks 
trat der König ein und kaufte etwas. Irgend etwas. Zu¬ 
fällig war es ein Lodenhut. Der König probierte ihn si¬ 
cherlich länger, als er seine Krone probiert hatte, und 
ließ sich von der Verkäuferin versprechen, sie werde ihn 
persönlich im Hotel Weimar abliefern. Nachher kaufte 
er wieder und wieder, bis auch der letzte der Lodenhüte- 
Ladenhüter verschwunden war. Das geschah sehr zum 
Leidwesen der Familie Pistl, die noch Tausende hätte ver¬ 
kaufen können. Das kam daher, weil der König von Eng¬ 
land die Hüte, die er gekauft hatte, nicht unbenutzt ließ. 
Und bereits einen Monat später trug jeder Gentleman 
einen Lodenhut, auch in den Kolonien, die von der Exi¬ 
stenz Fräulein Pistls ebensowenig wußten wie Fräulein 
Pistl von der Existenz dieser Kolonien. Nur in den afrika¬ 
nischen Negerkraals konnte sich der Zylinder noch be¬ 
haupten. 

Wieso es aber kam, daß die „Ofenröhre" so plötzlich 
zum alten Eisen geworfen wurde und der Lodenhut Anlaß 
zum freudigen Jodeln bekommen hatte, erfuhr niemand, 
denn die Redaktion druckte auch diesen Teil meines Be¬ 
richtes nicht. Sie meinte, er sei indiskret. Dem König aber 
wäre es sicher ganz egal gewesen, denn er führte ja einen 
Wahlspruch, der ihm wie keinem seiner Vorfahren paßte 
und mit dem er allem Verdacht begegnen konnte: Honni 
soit qui mal y pense. 

Am meisten leid tat es mir um den dritten Teil meines 
Artikels, denn dieser sollte mit einer Totschweigetaktik 
brechen, die ungerechterweise verhängt ist über die für 
diesen Weltkurort sehr wichtige und sehr charakteristische 


360 



Institution der überall, selbst im Walde verstreuten Ka¬ 
binen. Nie ward über sie und ihre Hüter gesprochen, und 
selbst die Goethe-Philologie, so wahr sie noch keinen 
Dreck im Leben ihres Opfers vernachlässigt hat, erwähnt 
nirgends das Bretterhäuschen am Waldweg zum Podhorn, 
wohin er täglich seine Schritte lenkte und wo er so fried¬ 
lich saß. Die einzige Goethestätte ohne Gedenktafel. 

Sobald ein leibhaftiger König im Bade weilt, wird Für¬ 
sorge getroffen für den Fall, daß er mal dorthin gehen 
müßte, wohin auch Könige zu Fuß gehen. Eine behörd¬ 
liche Vorschrift schrieb vor, in der Kolonnade habe in 
der Morgenstunde eine Kabine für den König reserviert 
zu bleiben. Niemals benützte er sie, und so kann es der 
Frau Willfling nicht übelgenommen werden, daß sie sich 
angesichts der vielen Kundschaften über die Verordnung 
hinwegsetzte, sie schließlich ganz vergaß. 

Und da geschah«. Und kein Platz war frei. Wie Toll¬ 
wütige stürzten sich die Verantwortlichen nicht nur auf 
die nobelste der Nobelzellen und zwangen eine dort wei¬ 
lende Dame, eilends abzuziehen, sondern auch auf die 
Nachbarkabinette, zwei rechts, zwei links, und leerten sie, 
auf daß der König nicht durch Nebengeräusche gestört 
werde. „Zehn Kronen Strafe", zischte der Kommissar der 
Frau Willfling zu. So schnell die Räumung auch geschah, 
die Zeit genügte, um dem König die Lust zu nehmen. „It 
is gone", sagte er in King's English und wandte den ve- 
spasianischen Hütten den Rücken zu, nur den Rücken. 

Frau Willfling schluchzte, daß es einen Stein erweicht 
hätte, wie denn nicht das Herz des Kommissars. „Gut", 
sagte der Kommissar, „ich erlasse Ihnen die Strafe, aber 
das nächste . . ." 

„Ach Gott", protestierte Frau Willfling unter Tränen, 
„ich weine nicht wegen der Strafe, ich weine ja, weil Seine 
Majestät mich nicht beehrt hat Ich wäre so gern Kammer¬ 
lieferantin geworden." 

An eines dieser Häuschen knüpft sich ein Königswort, 
ein authentisches, denn mir hat es niemand Geringerer 
weitergegeben als Herr Konhäuser, ein Marienbader Ho¬ 
telangestellter, der in England gearbeitet hatte und des¬ 
halb als landeskundiger Butler dem König auf dessen 


361 



Spaziergängen zubeordert war. Den Fall, den mir Herr 
Konhäuser anvertraute, hatte er erlebt, als der König 
eines der Kabinette verließ, die in Marienbad nicht die 
Aufforderung enthalten, die Toilette im Innern der An¬ 
stalt in Ordnung zu bringen. Beunruhigt merkte Herr 
Konhäuser, fünf Schritte hinter dem König gehend, daß 
sich in die Neugierde und den Respekt der dem König 
entgegenkommenden Passanten etwas anderes mische: 
Staunen oder Belustigung. Initiativ verringerte Herr Kon¬ 
häuser die streng vorgeschriebene Respektsdistanz zwi¬ 
schen sich und dem König, ja er überholte ihn sogar. 
Merkte. Flüsterte dem König etwas ins Ohr. 

Dieser schloß mit gespieltem Entsetzen seine Knöpfe. 
„Schnell, schnell", sagte er dabei, „sonst würde allen Gen- 
tlemen der Welt morgen der Hemdzipfel herausschauen." 

Fürwahr, sarkastischer konnte der Diktator der Her¬ 
renmode über seine Untertanen in diesem Reich nicht ur¬ 
teilen. Aber auch dieses schöne Königswort wurde mir 
gestrichen. Der König sollte durch Indiskretionen nicht 
verletzt werden, auf daß er unserem Marienbad und der 
österreichisch-ungarischen Monarchie nicht untreu werde. 

Er aber traute dem Frieden nicht, kam im nächsten 
Jahr nicht mehr nach Österreich, sondern ging nach Vichy, 
dort schlug ihm die Kur nicht an und er starb. 

Alle Diskretion war also vergeblich gewesen. Den Krieg 
aber führte der „längst erledigte" Clemenceau. 

In dieses Kapitel gehört logischerweise das Interview 
mit Anders Zorn, obwohl es in Prag stattfand, also nicht 
einmal in unserem bescheidenen Sinne eine auswärtige 
Berichterstattung genannt werden kann, und obwohl 
Anders Zorn kein gekröntes Haupt, sondern nur ein 
schwedischer Maler war. Dennoch gehört das Interview 
logischerweise hierher, und zwar nicht nur, weil es ebenso 
mißglückt war wie meine Berichterstattung aus Marien¬ 
bad. Es gehört hierher - nun, man wird das ja gleich 
sehen. 

Anders Zorn war im Hotel „Blauer Stern" abgestiegen, 
und der Hotelportier hatte uns das telefoniert, wahrschein¬ 
lich weil er sich dachte, ein Künstler, der das sogenannte 


362 



Fürstenappartement miete, müsse eine besondere Be¬ 
rühmtheit sein. Der Portier hatte recht, wie mir unser 
Kunstkritiker bestätigte, und so zog ich denn aus, den 
Maler Anders Zorn zu interviewen. 

Der Meister empfing mich, wie mir schien, mit einem 
ironischen Lächeln, aber das machte gleich bei meinem 
Eintritt einem aufmerksamen Blick Platz, da ich äußerte, 
er wohne in einem historischen Zimmer, hier sei der Pra¬ 
ger Frieden geschlossen worden. 

„Der Frieden mit Schweden?" fragte Anders Zorn. 

„Nein, der Frieden mit Preußen, 1866. Als die Schweden 
in Prag waren, 1648, wurde der Frieden nicht hier ge¬ 
schlossen, sondern in Osnabrück." 

Ob viele Andenken an die Schweden in Prag seien, 
mischte sich einer der zwei langgewachsenen Herren, die 
gleichfalls im Zimmer waren, ins Gespräch. 

„Die Schweden", erwiderte ich, „besitzen viel mehr An¬ 
denken von den Pragern als die Prager von den Schwe¬ 
den. Ihre Landsleute haben hier ganz schön geplündert, Herr 
Zorn. Aber Sie können auch hier noch allerhand finden." 

Ich sprach vom Brückenturm, vom Monument im Cle- 
mentinum, vom Diorama auf dem Laurenziberg, von der 
Schwedenschanze und vom Wallensteinpalast - die drei 
Herren hörten interessiert zu. Als ich aber erwähnte, 
in Prag lebe auch eine jüdische Familie, die direkt mit 
dem schwedischen Königshaus, den Bernadottes, verwandt 
sei, schienen sie sehr betreten, und einer von ihnen fragte 
unvermittelt, wo sich die Spielplätze der „First Lawn- 
Tennis-Society" befänden. Kurz gab ich Auskunft und 
wandte mich, die beiden anderen Besucher sozusagen bei¬ 
seite schiebend, mit meinen Fragen direkt an Meister 
Anders Zorn. 

Das Interview erschien am nächsten Morgen, es war 
denkbar belanglos. Längst hätte ich vergessen, dafi ich es 
je geschrieben, wenn ich nicht eine Woche später eine 
Stockholmer Meldung gelesen hätte, König Gustav von 
Schweden sei von einer in strengstem Inkognito unter¬ 
nommenen Reise durch Europa zurückgekehrt, auf der ihn 
nur der Maler Anders Zorn und der königliche Kammer¬ 
vorsteher begleitet hatten. 


363 



Teufel! Der eine der beiden Herren, die ich für Besu¬ 
cher von Anders Zorn gehalten hatte, war Seine Majestät 
gewesen! König Gustav wurde damals viel diskutiert, erst 
vor kurzem war er König geworden, der erste König 
dieser Region, der sich nicht mit einem Reichsapfel auf 
zwei Throne setzte, nicht auf den von Schweden und den 
von Norwegen zugleich, sondern nur auf dem von Schwe¬ 
den sag. Die Leitartikel hatten den Antritt seiner Regie¬ 
rung mit Befürchtungen begrüßt, Gustav habe niemals für 
etwas anderes Interesse bewiesen als für Sport 

Nunmehr verstand ich, warum er sich nach der Lawn- 
Tennis-Society erkundigt hatte. Nunmehr verstand ich, 
warum die Herren so betreten waren, als ich erwähnte, 
der König besitze in Prag jüdische Verwandtschaft. Nun¬ 
mehr verstand ich, warum der Maler die Fürstenzimmer 
gemietet hatte. Und nunmehr verstand ich auch das ironi¬ 
sche Lächeln, mit dem Anders Zorn mich empfangen hatte 
- er wollte seinem König einen Spaß vorführen, sich vor 
ihm durch einen Reporter interviewen lassen, der die 
Anwesenheit einer weit prominenteren Prominenz nicht 
ahnte. 

Der Spaß war den Herren gelungen, wie ich mir ärger¬ 
lich eingestehen mußte. 



VOM PAPST PERSÖNLICH 


Von wie vielerlei der blinde Methodius auch singt, just 
die wichtigsten Themen lägt er unbesungen, nämlich jene, 
die in ihrer Bedeutung über den lokalen Bezirk hinaus¬ 
dringen. 

Wenn zum Beispiel der Papst etwas urbi und orbi ver¬ 
kündet, so mag es in Urbe Prag noch soviel Stragenstaub 
aufwirbeln - der blinde Methodius schweigt es tot, be- 
wugt oder unbewugt, weil es sich auch auf den Orbis be¬ 
zieht 

Ich denke, wenn ich dieses feststelle, an die Enzyklika 
Unam Sanctam von 1908 und an ihre Folge: die Wahr¬ 
mund-Affäre. Der Wiener Liberalismus sah in dieser anti¬ 
modernistischen Bulle Pius' X. eine Gefahr für die Wis¬ 
senschaft So bekamen alle Universitätsprofessoren Öster¬ 
reichs von der „Neuen Freien Presse" Telegramme mit 
der Suggestivfrage, wie sie zu diesem Eingriff des Römi¬ 
schen Stuhls in die Freiheit der Forschung stünden; Rück¬ 
antwort bezahlt Wer sich nicht empört genug äugerte, 
sah seine Antwort ungedruckt und war nun empört genug 
über diese Unterdrückung der freien Meinungsäugerung. 
Diejenigen, die überhaupt nicht reagierten, drängte Moriz 
Benedikt, der Herausgeber der „Neuen Freien Presse", in¬ 
dem er seine Prager Korrespondenten zu ihnen entsandte. 
Herr Hermann Katz, der Prager Korrespondent, gab den 
Befehl an mich weiter, und ich bekam nun von den Ur- 
gierten zu hören, dag eine Enzyklika keinen Einflug auf 
den Forschungsbetrieb haben könne und deshalb jeder 
Protest sinnlos sei. Auch das satirische Witzblatt „Simpli- 
zissimus" vertrat diese Ansicht, und mir haften die Schlug- 
zeilen seines Gedichts noch in der Erinnerung: „Man 
nimmt den ganzen Kodex / Und reigt sich daraus Blatt 
für Blatt / Und wischt damit den Podex." 

Ein solcher Indifferentismus mochte für die exakten 
Wissenschaften berechtigt sein, und die „Neue Freie 


365 



Presse" handelte unrecht, wenn sie Mediziner, Techniker, 
Naturforscher oder Mathematiker zur Entrüstung bereden 
wollte. Anders aber war es mit Geisteswissenschaften, 
deren Lehren in Konflikt mit der Enzyklika geraten und 
deshalb von den einflußreichen Klerikalen unterdrückt 
werden konnten. 

Und das ereignete sich sehr schnell. Der Lehrer des 
Kirchenrechts an der Innsbrucker juristischen Fakultät 
Ludwig Wahrmund hatte sich gegen die Enzyklika aus¬ 
gesprochen, und im Nu wurden auf Betreiben des Tiroler 
Erzbischofs Wahrmunds Vorlesungen von der Behörde 
suspendiert. Daraufhin setzte eine Bewegung für Lehr- 
und Lernfreiheit, geführt von Professoren und Studenten, 
in ganz Österreich ein, es gab heftige Debatten und Dro¬ 
hungen im Parlament, eine Ministerkrise und Straßen¬ 
demonstrationen, bis man Professor Wahrmund schließlich 
das Lehramt zurückgeben mußte. Aber aus Innsbruck 
blieb er versetzt und wurde an die Prager Universität 
ernannt. Hier begann nun die Reprise. Die Prager Theo¬ 
logen versuchten mit Hilfe einiger klerikal gesinnter Pro¬ 
fessoren der anderen Fakultäten dem neuangekommenen 
Kollegen die Lehrtätigkeit zu unterbinden. Hierbei stießen 
sie nun auf den Widerstand der zum erstenmal in einer 
Frage einigen Studentenschaft beider Nationen. Die 
Deutschvölkischen waren antiklerikal im Sinne der Schö- 
nererischen Los-von-Rom-Bewegung, die tschechischen Na¬ 
tionalen im Sinne der hussitischen Tradition, die liberalen 
und sozialistischen Teile der Studentenschaft standen 
selbstverständlich für Wahrmund, und die politisch indiffe¬ 
renten verteidigten die Lehrfreiheit an sich. 

Mit ambivalenten Gefühlen nahm die „Bohemia" für 
den Hörerstreik Partei, druckte Für und Wider, wand sich 
und drehte sich. Desgleichen taten übrigens auch die 
Wahrmundgegner: Ohne sich selbst zu exponieren, woll¬ 
ten sie das Blatt beeinflussen, teils gegen Professor Ma- 
saryk, der die Kampagne führte, teils gegen Professor 
Wahrmund, der die Fahne der Bewegung war. Ich selbst 
stand uneingeschränkt auf der Wahrmundseite, was eine 
unwichtige Angabe scheinen mag. Fiel doch die Affäre in 
das Gebiet des Leitartiklers und der politischen Redak- 


366 



tion, es gab da nichts zu recherchieren, und soweit ich 
überhaupt von Redaktions wegen damit zu tun hatte, gab 
ich eine Art Laufburschen ab, der Artikel und Beschlüsse 
abholte. Von jeder wichtigen Einsendung an die Redak¬ 
tion machte ich Masaryk und Wahrmund Mitteilung, da¬ 
mit diese nicht auf das Erscheinen der Notiz warten, son¬ 
dern sofort reagieren konnten. Einmal faßte das Profes¬ 
sorenkollegium einen gegen Wahrmund gerichteten Be¬ 
schluß, den ich aus der Sitzung abholte. Kaum eine Stunde 
später kam der Rektor persönlich und von Hast gerötet 
in die Redaktion gelaufen, um den Abdruck zu sistieren, 
den Beschlußfassern erschienen plötzlich die Angriffe, die 
sie mutig erhoben hatten, nicht aufrechterhaltbar. Ohne 
diesen Rückzieher zu ahnen, hatte ich bereits eine Ab¬ 
schrift hergestellt, um sie, bevor sie noch im Blatt stehe, 
zu Masaryk und Wahrmund weiterzuleiten. Jetzt schickte 
ich sie ihnen mit der Bemerkung, die Angreifer hätten 
Angst vor der eigenen Courage bekommen, der Rektor 
selbst habe sich, um den Akt zurückzuerhalten, in die Re¬ 
daktion bemüht. Dies war eine gute Waffe, leider aber 
berief sich Wahrmund in einer Broschüre ausdrücklich auf 
meine Zeugenaussage, und so durfte ich mich von da ab 
nicht einmal mehr als Bote in der Universitätskanzlei zei¬ 
gen. 

Häufig kamen auswärtige Journalisten nach Prag, um 
Reisefeuilletons zu schreiben, erschienen in der Redak¬ 
tion, und auch ich zeigte manchem die Stadt. Anfangs 1909 
erschien auch ein Italiener, Redakteur des „Osservatore 
Romano", und zwar kam er direkt zu mir, da man ihm 
in Wien so geraten habe. Er war etwas älter als ich, ein 
Mann mit hoher, halbkugelförmig gewölbter Stirn, großen 
Augen hinter starken Brillengläsern und einer dunklen, 
fast olivengrün getönten Gesichtsfarbe. Typischer Italie¬ 
ner, sprach er dennoch gut deutsch, und wir verstanden 
uns schnell. 

Mein Rat, seinen Artikel über Prag mit einer Vision 
auf dem Weißen Berg zu beginnen, wo der Katholizismus 
über das nachhussitische und protestantische Böhmen den 
entscheidenden Sieg davongetragen hatte, mußte ihm, dem 
Vertreter der vatikanischen Zeitung, Wohlgefallen. Ich 


367 



erbot mich, ihn auf das Schlachtfeld zu begleiten und 
nachher zu dem Holzrelief in der St.-Veits-Kathedrale, auf 
dem sich die Ecclesia triumphans über die Flucht des 
Ketzerkönigs und der Seinen erfreut Die Besichtigung 
der Holzschnitzerei wolle er sich für einen anderen Tag 
auf heben, antwortete er, er wohne dem Dom gegenüber 
bei Bekannten. 

Dem Dom gegenüber lagen nur die Paläste der Kirchen¬ 
fürsten. Bei Gott, dachte ich mir, das ist kein schlech¬ 
ter Posten, so für das Organ der Katholität in der Welt 
herumzufahren und bei Bekannten in Schlössern zu woh¬ 
nen. 

Mein Respekt erhöhte sich, als ich mit dem römischen 
Kollegen die Straßenbahn besteigen wollte und er mich 
abhielt: er nahm einen Zweispänner. Oben auf dem Wei¬ 
ßen Berg tobte ein Nordwind und fauchte uns dichte Wol¬ 
ken von Kalkstaub ins Gesicht, als sei es ein patriotischer 
Wind und liebe es nicht, daß der Begebenheit, die diese 
Hügelhöhe historisch gemacht, Publizität gewidmet werde. 
Hier war in der Novemberwoche 1620, in der der Evan¬ 
geliumsabschnitt „Ihr sollt dem Kaiser geben, was des 
Kaisers ist" fällig war, das Heer des Kaisers dem der böh¬ 
mischen Rebellen gegenübergestanden. 

Heute sah man auf dem Schlachtfeld keine Menschen¬ 
seele außer dem römischen und dem böhmischen Zeitungs¬ 
schreiber. Gegen wen richtete sich die Wut des Windes, 
gilt es mir oder gilt es dir? 

Damals, vor drei Jahrhunderten, wurde das Wetter vom 
Karmelitermönch Dominik a Jesu Maria gemacht Ein be¬ 
schädigtes Marienbild schwingend, rief er den Söldnern 
zu, so hätten die von drüben die Heilige Jungfrau ge¬ 
schändet in der Kirche von Strakonitz und nun sei die 
Stunde der Rache gekommen. Diese Stunde der Rache 
dauerte wirklich nur eine Stunde. Nach ihrem Ablauf war 
es zu Ende mit der böhmischen Selbständigkeit und mit 
dem böhmischen Evangelismus. 

Wie toll schlägt der Sturm auf uns ein, mein Kollege 
aus dem warmen Süden tut mir leid, er preßt sich mit 
beiden Händen den Hut in die Stirn, damit er ihm nicht 
wegfliege. 


368 



Gehen wir, setzen wir uns zu einem Glas Bier, dort 
drüben in der Servitenkapelle. 

Wo? 

Dort drüben in der Servitenkapelle. Sie ist keine mehr. 
Der dankbare Kaiser begann ihren Bau nach dem Kriege, 
aber seine mit konfiszierten Millionengütern belehnten 
Adelsherren waren alles eher als dankbar und gaben kein 
Scherflein her. So blieb die Kapelle unvollendet, nur das 
Gemäuer steht und dient als Einkehrhaus. 

Dort sitzen wir also, nachdem uns der nordische Wir¬ 
belwind von draußen vertrieben, und trinken Bier, und 
der Kollege zieht mich in ein Gespräch von Vergangen¬ 
heit und Gegenwart, und er lädt mich ein, ihn doch in 
seiner Heimat zu besuchen, er werde mir die vatikanische 
Stadt zeigen, wie sie noch kein Journalist gesehen. 

Wir kommen auch, weiß der Himmel wie, auf die 
Wahrmund-Affäre zu sprechen. Er polemisiert mit mir, oh, 
nicht etwa, um mich zu einem Proselyten zu machen, nichts 
liege ihm ferner, aber in dieser Sache kämpfe der Frei¬ 
sinn auf der falschen Seite. Wahrmund sei ein Abenteurer, 
der vor Jahresfrist mit der Frau eines Kollegen in Cagliari 
gewohnt und durch seine Lebensweise im ganzen Ort An¬ 
stoß erregt habe, und manches andere sehr Üble lasse sich 
von ihm sagen. Nein, dieser Wahrmund sei durchaus kein 
ehrlicher Gegner des Papstes, sondern habe sich im Ad¬ 
vent 1906 um den Orden „Pro ecclesia et pontifice" be¬ 
worben, und erst nachdem er ihn nicht bekam, habe er 
seine Angriffe losgelassen. 

Als wir uns verabschiedeten, schärfte mir der römische 
Kollege noch ein, gerade als Freigeist müsse man das Für 
und Wider jeder Sache Vorbringen, ich möge das Wider, 
das er mir erzählt, veröffentlichen und ihm schicken, er 
werde es im „Osservatore Romano" abdrucken, das sei 
eine gute Ouvertüre für meinen Besuch in der Citta Vati¬ 
cana. Er hoffe, mich bald in Rom zu begrüßen. 

Schade, Signor, dachte ich mir, als wir uns getrennt hat¬ 
ten, schade, daß Sie mich nicht in Rom begrüßen und auch 
nicht im Vatikan herumführen werden. Schade auch um 
den heutigen Nachmittag, den wir als Zielscheibe des 
rauhen Winds verbrachten. Denn Sie werden nicht von der 


24 Kisch VII 


369 



alten Schlacht schreiben und ich nichts von den angeb¬ 
lichen Ungehörigkeiten des Professors Wahrmund. Dar¬ 
auf aber kam es Ihnen an, Signor, und diese Schlacht auf 
dem Weißen Berg haben Sie nicht gewonnen. 

In Wien, das merkte ich tags darauf, war es ihm gelun¬ 
gen, einiges von dem, was er mir gegen Wahrmund erzählt 
hatte, in die Zeitungen zu lancieren. In Prag erschien nichts 
davon. 

Fast zwanzig Jahre später sah ich in einer Berliner illu¬ 
strierten Wochenschrift das Bild des neuernannten Nuntius 
Pacelli. Ich schaute es lange an, dieses Gesicht kannte ich, 
aber woher? Wie komme ich zu einem päpstlichen Legaten? 
Da erschien es mir plötzlich, als wirble um diese Augen, 
um diese Hornbrille und um diese tiefdunklen Wangen 
ein weißer Wirbelsturm, als werde in diese halbkugelför¬ 
mige Stirn tief und fest ein Hut gedrückt, damit die un¬ 
gebärdige Windsbraut ihn nicht wegreißen und verräte¬ 
risch eine Tonsur enthüllen könne. 

Weltumspannend, fürwahr, diese diplomatische Karriere, 
die sich von dem Beeinflussungsversuch bis zum Bot¬ 
schafter des Päpstlichen Stuhls spannte. Und sie ging wei¬ 
ter, ging so weit, daß selbst die göttliche Vorsehung uns 
beide nicht mehr so zusammenführen könnte, wie uns 
damals das journalistische Interesse zusammenführte. Oder 
ist jemand so gläubig, daß er sich vorstellen könnte, der 
Heilige Vater, den Fischerring auf dem gesalbten Finger 
und die dreifach gestülpte Krone auf dem gesalbten Haupt, 
könnte eines Tages den Stuhl Petri mit einem Stuhl einer 
Wirtsstube auf dem Weißen Berg bei Prag vertauschen, 
damit er beim Bier einen Journalisten zur Änderung seiner 
Stellungnahme bewege? 



VERRAT DER ORDRE DE BATAILLE 


Viel Feind viel Ehr, Österreich-Ungarn hatte viel Feind 
einer davon war Rumänien, so wandte ich mich denn nach 
Schützengraben, Verwundung und Spital gegen Rumänien. 

An der Donau beim Eisernen Tor, in der Stadt Orsova, 
gab's nicht viel zu kämpfen, weshalb ich von dort Artikel 
schrieb. Darüber zum Beispiel, wie gerade in einem Ge¬ 
strüpp vor meinem jetzigen Quartier die ungarischen Re¬ 
volutionäre 1849 die Stefanskrone vergraben hatten, bevor 
sie über die Donau gingen. Auch Buchkritiken verfaßte ich 
ab und zu und allgemeine Feuilletons. 

Eines Tages kam ein Offizier mit Dienstabzeichen zu 
mir und ersuchte mich, ich möge ihm ins Generalstabsbüro 
folgen. Unterwegs bemerkte ich, daß uns zwei Männer 
nachgingen. Mir war nicht gut zumute. Was mochte ich 
wohl angestellt haben? 

Bei meinem Eintritt stand ich vor dem flaschengrünen 
Rücken eines Generalstabsoffiziers. Stramm meldete ich 
mich mit Namen und Rang. Der Rücken antwortete nicht, 
forderte mich nicht einmal auf, aus der Habt-acht-Stellung 
in die Ruht-Stellung überzugehen. Mit seiner Vorderseite 
gab der Generalstäbler vor, die an der Wand hängende 
Karte zu studieren; er betrachtete eben den Kreis, der 
Belgrad bedeutete. 

„Sie befassen sich mit Getreidelieferungen, Herr Ka¬ 
dett?" 

„Wie bitte, Herr Major? Ich verstehe nicht, Herr Major." 

„Mit Brotgetreide also." 

Er drehte mir noch immer die flaschengrüne Kehrseite 
zu, vorne fuhr er fort, die Karte zu studieren. Wenn es 
eine strategische Unternehmung war, die er plante, so war 
es eine von enormer Frontlänge, denn die Vorderseite 
des Hinterkopfes haftete jetzt auf dem Kreis Bukarest. 

„Niemals, Herr Major." 

„Oder vielleicht mit der Lieferung von Brot?" 


371 



Sein Auge war jetzt rechts unten auf der Karte, im 
Kreis Konstantinopel. 

„Niemals, Herr Major." 

Nun wandte er sich um, wobei ich sah, dag er nur 
Hauptmann sei, und nahm ein Papier vom Tisch. „Aber 
mit Brotartikeln befassen Sie sich, Herr Kadett." 

„Niemals, Herr Hauptmann." 

Er trat ganz an mich heran, ich spürte seinen Atem in 
meinen Nasenlöchern. „Was sind überhaupt Brotartikel?" 

„Das weiß ich nicht, Herr Hauptmann." 

„SoLHÖchst interessant! Wissen Sie nicht? Und was be¬ 
deutet das da?" Mit einer triumphierenden, überführenden 
Miene reichte er mir „das da". „Das da" war ein an mich 
gerichtetes Telegramm. Ich verbig das Lächeln und ver¬ 
schluckte mein Aufatmen. Wortlaut der Depesche: „Über 
Tycho schrieb Stein. Soll ich Brodartikel an Bryk schicken? 
Paul." . ' 

„Können Sie mir vielleicht jetzt sagen, was Brotartikel 
sind?" 

„Jawohl, Herr Hauptmann. Mit dem Wort Brodartikel 
ist hier ein Zeitungsartikel über den Schriftsteller Max 
Brod gemeint." 

„So." Pause. „Was ist dieser Paul, der Ihnen da tele¬ 
grafiert?" 

„Journalist in Prag." 

„Auch Schriftsteller, wie?" 

„Jawohl, Herr Haüptmann, Schriftsteller und Journalist." 
r ;,Interessant. Sie sind auch Schriftsteller und Journalist, 
nicht wahr?" 

„Jawohl, Herr Hauptmann." 

„Und warum telegrafiert Ihnen dieser Herr Schriftsteller 
und Journalist Paul?" 

„Er teilt mir mit, dag über den Schriftsteller Brod ein 
Artikel von einem Herrn Stein vorliegt. . ." 

„Von einem Herrn Stein. Das ist wohl auch ein Journalist 
und Schriftsteller?" 

Ich bejahte. 

„Natürlich! Dachte ich mir. Und ..." 

„ . . . und fragt mich an, ob er den Artikel an Herrn 
Bryk schicken kann." 


372 



„Herr Bryk - ebenfalls Journalist und Schriftsteller?" 

Ich bejahte. 

„Na klar! Und worauf bezieht sich der Artikel?" 

„Auf Tycho de Brahe." 

„Ein Journalist und Schriftsteller?" . . 

„Ein astronomischer Schriftsteller aus dem sechzehnten 
Jahrhundert." 

„So. Über den schreibt man jetzt Artikel. Na klar! Im 
zwanzigsten Jahrhundert. Mitten im Krieg. Früher war 
wohl keine Zeit?"- 

,;Der Schriftsteller Max Brod hat über Tycho de Brahe 
gerade jetzt einen Roman veröffentlicht" 

„Warum gerade jetzt? Nach vier Jahrhunderten? Hat er 
früher keine Zeit gehabt?? 

„Das weiß ich nicht Herr Hauptmann." 

„Und Warum telegrafiert man gerade jetzt?" 

„Der Redakteur Paul hat zwei Artikel über das gleiche 
Thema bekommen und fragt an, ob er einen davon an 
eine andere Zeitung schicken soll." 

„Und warum fragt er gerade Sie?" 

„Weil der Artikel von mir ist, den er weiter schicken 
will." 

„Warum will er gerade den Ihren weiterschicken und 
nicht den anderen?" 

„Herr Stein, der den anderen Artikel geschrieben hat 
ist gleichfalls Redakteur der Zeitung. Deshalb hat er die 
Vorhand vor mir." 

Beträchtliche Pause. 

„Wissen Sie nicht, Herr Kadett daß es Militärpersonen, 
sowohl Offizieren als auch Angehörigen des Mannschafts¬ 
standes, unter keinen Umständen , ich wiederhole: unter 
keinen Umständen, gestattet ist, Artikel für die Zeitungen 
zusammenzustellen?" 

„Zusammenzustellen" war in der Militärsprache Syn¬ 
onym für Schriftstellerei; weil die „Aufgaben des Wache¬ 
habenden" und ähnliche Dienstbücher aus den Reglements 
„zusammengestellt" waren, hielt man das „Zusammenstel¬ 
len" für die einzige Art von Literatur.) 

„Melde gehorsamst, Herr Hauptmann, daß ich das nicht 
wußte." 


373 



„Was? Das wußten Sie nicht? Unerhört! Wieso wußten 
Sie das nicht?" 

„Herr Hauptmann, ich lese jeden Tag Hunderte von Sol¬ 
datenbriefen in den Zeitungen, Interviews mit Generälen, 
Artikel von Offizieren, von dekorierten Mannschaftsper¬ 
sonen." 

„Das ist doch ganz etwas anderes. Wie können Sie das 
mit Ihrem Geschreibsel vergleichen?" 

Keineswegs erklärte er mir, warum das doch ganz etwas 
anderes sei, warum sich das mit meinem Geschreibsel 
nicht vergleichen könne. Deshalb konnte ich darauf auch 
keine Antwort geben. 

„Glauben Sie, die österreichisch-ungarische Armee wird 
es dem Herrn Kadetten Kisch überlassen, in die Öffent¬ 
lichkeit zu bringen, was ihm gerade recht ist?" 

„Melde gehorsamst, Herr Hauptmann, daß alle meine 
Briefe durch die Briefzensur gehen und alles, was gedruckt 
wird, durch die Pressezensur." 

„Das ist mir ganz egal. Sie werden das Weitere hören. 
Abtreten." 

So trat ich ab und hörte alsbald das Weitere. Es bezog 
sich allerdings nicht auf Brodartikel, sondern auf eine 
türkische Insel, die still und schön wie ein orientalisches 
Märchen inmitten der Donau lag, „ein friedliches Eiland 
des Islams im Strome der sich bekriegenden Christenheit". 

„Ada Kaleh" hieß diese Insel, ich hatte sie in lyrischer 
Prosa besungen und den Sang an die offiziöse ungarische 
Zeitung „Pester Lloyd" gerichtet. Auch Orsova gehörte zu 
Ungarn und ebenso die Insel Ada Kaleh. Aber mein 
Feuilleton war nicht bis in die ungarische Hauptstadt ge¬ 
langt, unterwegs hatte sich seiner die Briefzensur bemäch¬ 
tigt, und nun sollte es dazu dienen, mir den Hals zu bre¬ 
chen oder wenigstens den militärischen Halskragen. 

In meinem Feuilleton stand nämlich, daß bei Kriegs¬ 
beginn siebenundfünfzig Landstürmer des Königlich Unga¬ 
rischen Honved-Bataillons Nr. 8 hier gemütlich die Wacht 
an der Donau gehalten haben. Dieser Satz wurde als nichts 
Geringeres denn als „Verrat der Ordre de Bataille der 
k. u. k. Armee " qualifiziert und bildete Anklagepunkt Num¬ 
mer eins gegen mich. Ich hätte „solche Mitteilungen er- 


374 



stattet welche Angaben über Zahl und Standort der Trup¬ 
pen beinhalten ..." Wem? Hatte ich etwa diese beinhal¬ 
tende Mitteilung einer fremden Macht erstattet? Nein, der 
Redaktion des Regierungsorganes. Aber konnte der Feind 
nicht daraus richtige Vorstellungen über die Art des 
Dienstbetriebs schöpfen? Nein, auch das nicht, denn es 
hieß in der Anklageschrift weiter; „...geeignet, falsche 
Vorstellungen über die Art des Dienstbetriebs zu er¬ 
wecken." 

Also wurde mir erstens zur Last gelegt, etwas verraten 
zu haben, zweitens, daß dieses Etwas falsch sei. Nicht 
minder schlimm war Punkt zwei. Ich hätte einen Zeitungs¬ 
artikel zusammengestellt, „beinhaltend eine Kritik, die ge¬ 
eignet ist, Offiziere sowie Mannschaft des Heeres lächer¬ 
lich zu machen". 

Der Ptozeß wurde vor dem Garnisonsgericht Temesvar 
anhängig gemacht. So mußte ich nach Temesvar kommen 
und in Temesvar bleiben, um mich zur Verfügung des Ge¬ 
richts zu halten. Obwohl ich auf freiem Fuß war, wurde 
ich auf Schritt und Tritt bewacht und meine Post kontrol¬ 
liert - vielleicht wollte man auf diese Weise herausbekom¬ 
men, ob ich nicht mit anderen Spionen verkehre, die den 
greisen Redakteuren des Regierungsorgans Geheimnach¬ 
richten zur Veröffentlichung mit vollem Namen des Ver¬ 
fassers zusteckten! Über der Untersuchung schwebte der 
Haß von Generalstäblern, die mir übelnahmen, daß ich 
einst einen der Ihren, den Obersten Redl, vor der Öffent¬ 
lichkeit diffamiert hatte - wer weiß, in wessen Diensten. 
Die Auditoren, die mit der Sache befaßt waren, verach¬ 
teten mich als Federfuchser, und der Korpskommandant 
höchstpersönlich soll geäußert haben, man müsse an dem 
Kerl ein Exempel statuieren, damit ihm und seinesgleichen 
ein für allemal die Zeitungsschmiererei vergehe. 

Jedenfalls wurde ich inquisitorisch verhört, man be¬ 
fragte mich nach meinem Verkehr, nach meinen Ver¬ 
mögensverhältnissen und lud Frauen aus Orsova zur Ein¬ 
vernahme vor. Alles wies darauf hin, daß man an mir 
einen zweiten Dreyfus-Prozeß auslassen wollte. 

Um diese Zeit vollführte ein reichsdeutsches Armeekorps 
das, was die Österreicher nicht zuwege gebracht hatten. 


375 



nämlich die Eroberung Serbiens, und Temesvar war der 
Sitz des deutschen Oberkommandos. Im Stabe des Gene¬ 
rals Mackensen befanden sich deutsche und ausländische 
Kriegsberichterstatter, alte Kollegen, ich traf sie täglich, aß 
und trank mit ihnen und mit den Offizieren des Stabs, 
denen ich, wie das üblich ist, als etwas Besonderes im 
Journalistenstande vorgestellt wurde. 

So wohl mir solche Komplimente vornehmlich an Tagen 
taten, an denen ich von den militärischen Untersuchungs¬ 
richtern als Schurke und Schmierer behandelt wurde, so 
wenig wohl tat mein Verkehr den militärischen Unter¬ 
suchungsrichtern, um so weniger, als sie selbst, wie alle 
Österreicher und Ungarn, von den „Preußen" über die 
Achsel angesehen wurden. 

Mit größtmöglicher Beschleunigung wurde das Datum 
des Prozesses angesetzt, der mir Degradierung, Entehrung 
und Kerker bringen sollte. Aber knapp bevor der Termin 
eintraf, traf ein Adjutant des deutschen Armeekommandos 
beim k. u. k. Korpskommando ein, der dieses anwies, mich 
anzuweisen, ich möge bei General Mackensen um die Ge¬ 
währung eines Interviews ansuchen. 

Tableau! Wie konnte man mich wegen Mitarbeit an 
der Presse bestrafen, wenn der Gottsöberste selbst mich zu 
einer solchen einlud. Wie konnte man mich als Schädling 
verurteilen, wenn mich Seine Exzellenz als Nützling emp¬ 
fand? 

So kam es, daß ich plötzlich und knapp vor dem gegen 
mich angesetzten Gerichtstermin ein Urteil zugestellt er¬ 
hielt, gefällt vom k. u. k. Militärkommando Temesvar und 
unterfertigt vom Feldmarschalleutnant Hess m. p. Ein Ur¬ 
teil des Inhalts, daß das Gerichtsverfahren eingestellt sei 
und Seine Exzellenz der Militärkommandant mich im Dis- 
ziplinarwege bestrafe. 

Im Disziplinarweg kann auch ein Kompaniekommando 
einen Kadetten bestrafen, jedoch, es ist wahr, zu einem 
hohen Strafausmaß hat eine solch niedrige Kommando¬ 
stelle kein Recht. Auch das Bataillonskommando züchtigt 
nicht viel empfindlicher, und erst vom Regimentskom¬ 
mando kann man verknackt werden, daß einem Hören und 
Sehen vergeht. Bei der Brigade aber, da stehst du schon 


376 



vor einem Auditor, einem militärischen Berufsrichter, und 
bei der Division gar vor einem Gericht, das schier unbe¬ 
schränkte Strafgewalt hat. Es fällt und vollstreckt - ins¬ 
besondere in Kriegszeiten - Todesurteile nach Überlegung 
und Gutdünken, etwa so, wie man am Morgen seine Kra¬ 
watte nach Überlegung und Gutdünken auswählt. 

Ich aber wurde vom Militärkommando, also von einer 
noch höheren Instanz verurteilt, und zwar - zu nicht mehr 
als zu zehn Tagen Stationsarrest. Und um dieses niedrige 
Strafausmaß von hoher Stelle noch grotesker zu machen, 
war die Anklage wegen der schweren Delikte nicht fallen¬ 
gelassen worden, sondern wurde aufrechterhalten. Als 
Milderungsgrund wurde nur angeführt, daß meine verräte¬ 
rischen und die Wehrmacht herabsetzenden Mitteilungen 
nicht an ihr Ziel gelangten - als ob ich dafür etwas ge¬ 
konnt hätte! So wurde ich denn bestraft, „weil er solche 
Mitteilungen machte, welche Angaben über Zahl und 
Standort der Truppen enthalten und geeignet sind, falsche 
Vorstellungen über die Art des Dienstbetriebs zu erwecken, 
ferner durch Kritik Offiziere sowie Mannschaft des Heeres 
lächerlich zu machen, mit Rücksicht darauf, daß der Brief 
inhibiert wurde, mit Stationsarrest zehn Tage. Genannter 
ist sofort abzulösen und hat zu seinem ErskÖrper" (Ersatz¬ 
körper) „nach Gyula einzurücken. Strafantritt nach Ein¬ 
treffen in Gyula." 

Es hieß „Strafantritt nach Eintreffen in Gyula", denn 
vorläufig mußte ich ja bleiben, um das Interview mit dem 
Höchstkommandierenden zu machen. 




ENTDECKUNGEN IN MEXIKO 




GESCHICHTEN MIT DEM MAIS 

Der mexikanischen Erde verdankt die Welt den Mais, 
ihren großen Ernährer. (Nur der Reis ist ein noch größe¬ 
rer.) 

Der Mais ist eines der Kroninsignien von Mexiko; Krone 
ist die Agave, Zepter ist der Orgelkaktus, und der golden 
erstrahlende Reichsapfel ist der Maiskolben. 

Nirgends tritt eine Ackerfrucht in Städten so sichtbarlich 
in Erscheinung wie der Mais in Mexiko. Das erste, was 
auf fällt, sind die Tortillerias, Bäckereien und Bäckerläden 
zugleich und doch auch keines von beiden. Schaufenster 
und Türen fehlen, so zwar, daß das Lokal zu einer offenen 
Nische der Straße wird. Ein Teil der Arbeit vollzieht sich 
sogar auf dem Bürgersteig: das Scheuern der steinernen 
Reibe „Metate", die Reinigung des eisernen Herds und am 
Abend das Kneten der ausgebrannten Holzkohle zu einer 
Art Briketts. 

Das Innere aber, wenn man bei einem so weit geöff¬ 
neten Raum von einem Innern sprechen kann, ist keine 
Bäcker Werkstatt mit Backofenglut und schwitzenden Ge¬ 
sellen und schürenden Lehrlingen, mit langen Feuerzangen, 
sargähnlichen Trögen und vielstöckigen Brotregalen. 

In den Tortillerias sind nur Frauen am Werk. Vorerst 
kneten sie den aus Kalk und gemahlenem Mais bestehen¬ 
den Teig, die Masa. Es ist der Kalk, der die Schmackhaftig¬ 
keit und die beliebte Helle der Tortilla ausmacht und den 
Esser vor Rachitis schützt; auf Schritt und Tritt sieht man, 
daß die Tortilla den Zähnen guttut - selbst die ältesten 
Mexikaner fletschen ein lückenloses weißes Gebiß mitsamt 
rosarotem Zahnfleisch, wie es bei Brotfressern nur dann 
erstrahlt, wenn es vom Dentisten stammt. 

Ist der Teig durchgeknetet und geschmeidig, dann 
nimmt die Tortillera... Ehe wir weiterschreiben; müssen 
wir den Leser warnen, das Wort Tortillera etwa in Spanien 
so ohne weiteres anzuwenden. In Spanien macht und ißt 


381 



man keine Tortillas, aber es gibt Tortilleras. So heißen 
nämlich dort die lesbischen Frauen. (Als ein Schiff mit spa¬ 
nischen Flüchtlingen in Veracruz landete und mexikanische 
Zeitungen an Bord kamen, starrten die Passagiere ver¬ 
blüfft auf die Überschrift „Streik der Tortilleras". Welch 
seltsames Land, sagten die Neuankömmlinge, wo solche 
Frauen streiken. Verlangen sie kürzere Arbeitszeit, hö¬ 
here Löhne, Kollektivvertrag?) 

Aber wir sind bei den normalen mexikanischen Tortil¬ 
leras, während sie von der Teigmasse einen kleinen Klum¬ 
pen zwischen die Handflächen nehmen. Nun beginnt ein 
weithin hörbarer Arbeitsgang. Der Klumpen wird zu einer 
runden und dünnen Platte gepatscht, die, um noch kreis¬ 
runder und noch dünner zu werden, unzählige Male und in 
hohem Bogen blitzschnell aus der einen Handfläche in die 
andere fliegt. Die Tschinellenschläger der seligen Wiener 
Burgmusik werden von den Tortilleras geradezu an die 
Wand geklatscht - was Wunder, jonglieren doch die Mexi¬ 
kanerinnen schon seit Urzeiten ihr tägliches Brot auf diese 
Art und Weise, wie sollten sie's da nicht besser können als 
ein Soldat mit beschränkter Dienstzeit! 

Kundinnen füllen den Laden, begleiten das Klatschen 
mit ihrem Klatsch, dieweil die Disken die Luft durchflie¬ 
gen. Von Zeit zu Zeit taucht die Tortillera ihre Hände in 
warmes Wasser, um haftengebliebene Teigstückchen ab¬ 
zuspülen. Schließlich hat der Fladen eine fast arithmetische 
Kreisrundheit erreicht. Auf den Comal, die heiße Herd¬ 
platte, kommt nun ein wenig Fett, damit die Tortilla nicht 
klebenbleibe, wenn sie darauf gelegt wird, und sie wird 
darauf gelegt. Leicht angebacken, mit einem schwarzen 
Fleck auf gelbem Fond, frisch und warm, ist sie ein Eier¬ 
kuchen ohne Ei, ohne Salz und ohne Zucker. Die Tortilla 
ist das Brot von Millionen und dient auch als Gabel, Löffel 
und Teller für jene, die zu diesem Brot noch etwas anderes 
zu essen haben. 

Der tägliche Marktbesuch wird mit dem Einkauf der 
Tortillas beschlossen, und aus der Tortilleria läuft die 
Käuferin geradenwegs nach Hause, um die Tortillas noch 
warm auf den Tisch zu bringen. Dort, wo das Backen im 
Haus geschieht, geschieht es während der Tischzeit, und 


382 



ununterbrochen werden aus der Küche neue Tortillas her¬ 
angetragen, auf daß sie so heiß gegessen werden, wie sie 
gekocht sind. 

In den Dörfern regiert nicht die Tortilleria das Straßen¬ 
bild, sondern der Molino de Nixtamal, die Maismühle. 
Kein Dorf, das nicht mindestens einen Laden mit dieser 
Aufschrift und einer kleinen Mühle mit Gasolinmotor hat 
„Nixtamal" ist ein indianisches Wort, das sich in die heu¬ 
tige Zeit Mexikos hinübergerettet hat. (Auch das Wort 
„Tlapaleria" stammt von einem aztekischen Substantiv, 
aber da es in der Aztekenzeit kaum Färb war engeschäfte 
gab, muß es erst später in Geschäftsgebrauch gekommen 
sein. Nixtamal wurde jedoch schon in der prähispanischen 
Zeit zermahlen.) 

Die Frauen der Provinz bringen ihren eigenen Mais in 
den Molino de Nixtamal. Etwas Mais hat auf dem Lande 
jedermann, zumindest ein paar Stauden, die rings um die 
Hütte auf schießen. In den Höfen steht - Wahrzeichen des 
mexikanischen Dorfes - ein viereckiges, schlankes Türm¬ 
chen, aus Maisstroh geflochten: der Cincolote, Speicher 
für Maiskolben. Ein Dach schützt ihn gegen Regen, und 
er steht hoch auf hölzernen Füßen, damit die Ratten nicht 
hinaufkriechen können. 

Dem Cincolote entstammen die Körner, welche die Haus¬ 
frau im Molino de Nixtamal mit Kalk zur Masa vermah¬ 
len läßt. Zu Hause - jeder Küchenherd eine Tortilleria - 
bäckt sie die Tortillas für ihre Familie. Oder auch für den 
Verkauf. Die Tortillas auf den Markt zu tragen ist Alten¬ 
teil der Urahne. Barfüßig, auf den Zehenspitzen, mit ge¬ 
beugten Knien und schnellen kurzen Schritten, den Korb 
auf dem Kopf balancierend, trabt sie seit tausend Jahren 
ihren Marktweg, oft meilenweit. Ein mitleidiges Auto will 
sie mitnehmen. Antwortlos, verständnislos trabt sie wei¬ 
ter, dem Markte zu. Dort hockt sie seit dem ersten jener 
tausend Jahre unbeweglich mitten im stoßenden Gewühl 
vor dem gleichen Korb mit den gleichen Tortillas an der 
gleichen Stelle. Wenn das letzte Stück seinen Käufer ge¬ 
funden hat, trabt sie nach Hause, wie sie gekommen. 

Die Molinos de Nixtamal in den großen Städten sind 
Fabriken, elektrisch betrieben, Aktien- oder Kommandit- 


383 



gesellschaften gehörig. Gegen sie und gegen ihre Mais¬ 
lieferanten richten sich die Vorwürfe der Bevölkerung, 
wenn der Preis der Tortilla steigt. Denn der Preis der 
Tortilla bestimmt das Leben der Massen. 

Bei der Demonstration am Ersten Mai in Mexiko-Stadt 
fällt einem, der die vorige Maifeier in New York erlebt 
hat, zweierlei auf: die agrarische Grundhaltung der mexi¬ 
kanischen Industriearbeiter und die geringe Betonung des 
Interesses am Geldwert. Auf dem Weg zum Union Square 
hatten die New Yorker Kolonnen gegen die Erhöhung des 
Untergrundbahntarifs protestiert. „Five cents is fair 
enough", sie zeigten Tabellen mit unzulänglichen Löhnen, 
und den gemalten Lohntüten standen gemalte Säcke mit 
den Millionenprofiten der Verwaltungsräte gegenüber. Der 
mexikanische Arbeiter, weit schlechter bezahlt, erwähnt an 
seinem Feiertag dergleichen nicht. Er lebt in einem Lande, 
wo die Revolution noch nichts Verjährtes, nichts mythisch 
Verfälschtes ist, sondern eine Gegenwart, der alles Er¬ 
sprießliche oder halbwegs Ersprießliche entstammt. In 
Mexiko rühmen sich selbst Reaktionäre in rasselnden Re¬ 
den mit rollendem R der riesigen Rolle, die sie in der 
ruhmreichen Revolution gespielt haben wollen. 

An der Seite der Landarbeiter haben die Stadtarbeiter 
für Landaufteilung und gegen Leibeigenschaft gekämpft, 
und sie tragen noch immer diese agrarischen Ideale vor 
sich her. Das Porträt des Bauernführers Emiliano Zapata 
reitet über den Beamten der Pfandleihanstalt, „Land und 
Freiheit", verlangen die Metallarbeiter. Und alle, ob sie 
Belegschaften der Petroleumzentrale oder des Elektrizitäts¬ 
werks, ob sie Autobusschaffner, Lehrer, Eisenbahner, Buch¬ 
drucker, Rohrleger, Textilarbeiter, Angestellte der Stier¬ 
kampfarena oder Kinooperateure sind, alle vereinigen sich 
in Banner und Ruf zum Protest gegen den gemeinsamen 
Feind: „Contra los acaparadores del maiz", gegen die Mais¬ 
spekulanten. 

Übrigens bewegt sich die Maidemonstration mitten in 
einem ambulanten Markt von Nahrungsmitteln, und auch 
auf dem dominiert der Mais. In allen Formen bieten ihn 
die Straßenhändler an. 

„Elote" heißt in Mexiko der pure Maiskolben. Gesotten 


384 



oder geröstet wird er von des Straßenkochs glimmenden 
Holzkohlen weggekauft und auf dem Marsch geknabbert. 
Auch die vier Nationalspeisen, Tamales, Enchiladas, Tacos 
oder Quesadillas, kauft und ißt man unterwegs. Die Unter¬ 
schiede zwischen diesen vier Gerichten muß man lernen, 
wenn man Mexiko durchwandert und unter dem wählen 
will, was Garküche und Markt feilhalten. 

1. Tamales: außen Mais, innen Mais. Eingeschlagen in 
ein Maisblatt liegt die mitsamt der Schale geschrotete 
Maismasse; sie ist in Dampf gekocht, oft mit etwas Fleisch, 
und wenn man will - und man will immer -, mit Chile¬ 
pfeffer darin. 

2. Enchiladas: eine gerollte Tortilla, gefüllt mit etwas 
Truthahn- oder sonstigem Fleisch, Gemüse oder weißem 
Käse, gedünstet in Tomatensoße, gespickt mit Zwiebeln. 
Und wenn man will - und man will immer -, mit Chile¬ 
pfeffer. 

3. Tacos: sie sind die mexikanischen Sandwiches, knus¬ 
prige Tortillas mit Frijoles (Bohnen) darin, Gemüse oder 
Fleisch, und wenn man will - und man will immer -, 
mit Chilepfeffer. 

4. Quesadillas: eine Tortilla, mit Fleisch, Wurst, Käse 
oder Flor de Calabaza (Kürbisblüte) gefüllt, in heißem 
Fett gesotten. Und, ob man will oder nicht, immer mit 
Chilepfeffer. 

Jedoch nicht nur gegessen wird der Mais, sondern auch 
getrunken. Der Atole ist ein Getränk, wiewohl er mehr 
an verdünnten Brei oder Grießsuppe erinnert; erzeugt 
wird er aus gequirltem Maismehl und manchmal mit 
Fruchtsaft vermischt. Oder Pozole, eine Suppe aus getrock¬ 
netem Mais, über einem Schweinskopf gekocht, mit rohen 
Zwiebeln und jenen Garbanzos reich versehen, gegen die 
Heines Atta Troll so heftig loszieht. 

Auch zur Alkoholisierung des Volkes trägt der Mais das 
Seine bei, in Mexiko durch den Pulque de maiz, der dem 
gewöhnlichen Pulque in nichts nachsteht, und in Bolivien 
durch die Chicha, deren absonderliche Technologie ihrer 
Beliebtheit keinen Abbruch tut. Den ganzen Tag lang, 
während aller ihrer Beschäftigungen, kauen die boliviani¬ 
schen Frauen frische Maiskörner und spucken sie von Zeit 


25 Kisch vn 


385 



zu Zeit in einen Bottich. Kraft des Speichels löst sich der 
Zuckergehalt und geht in Gärung über, und am Abend 
können sich die Ehemänner das hinter die Binde gießen, 
was die Ehefrauen im Laufe des Tages fürsorglich zu¬ 
bereitet haben. Soviel und noch mehr läßt sich aus dem 
Mais machen, so mannigfaltig läßt er sich genießen. 

Der toltekischen Religion zufolge war Mais der Stoff, 
aus dem der Mensch besteht Aus der Höhle Cincalli, dem 
Haus des Maises, wurden die ungeborenen Kinder auf die 
Mutterleiber verteilt und konnten bloß durch Genuß von 
Mais leben und wachsen. Aber nur Zufall oder eine Gnade 
der Götter war es, wenn die Indios in ihrer Nomadenzeit 
einer Staude von wildem Mais begegneten. Meist mußten 
sie hungern, und auf ihre bange Frage: Wo liegt die Höhle 
Cincalli? gab es nur die Antwort: Das wissen die Götter. 

Jedoch nicht einmal die Götter wußten das, und gerade 
die hätten es besonders gern gewußt. Denn auf Erden 
wurde der Mais „Gras der Götter" genannt, und wenn die 
Menschen erfahren würden, daß die Allwissenden nicht 
wissen, wo ihr eigenes Gras wachse, so wäre es mit religiö¬ 
sem Respekt und Opferwilligkeit vorbei. 

Deshalb betrauten die Götter einen der Ihren mit der 
Investigation. Dieser brachte verhältnismäßig rasch her¬ 
aus, daß die scharlachrote Ameise im Haus des Maises 
verkehre, und zwar nur in der sogenannten Zwinkernden 
Nacht. Die Adresse dieses Hauses konnte der Götterdetek¬ 
tiv lange nicht eruieren. Erst nach zweiundfünfzig Jahren 
der Beobachtung gelang es ihm, in der Zwinkernden Nacht 
die scharlachrote Ameise zu ertappen, als sie aus einem 
Bergspalt kam mit einem ganzen Maiskorn auf der Schul¬ 
ter. Genauso wie es die irdischen Detektive in solchen 
Fällen tun, verkleidete sich der göttliche, er verkleidete 
sich als scharlachrote Ameise und schlüpfte durch die Spalte 
in die Höhle Cincalli, die von unten bis oben gefüllt war 
mit goldenen Körnern. So brachten die Götter den Mais 
zu den Menschen und bewiesen, daß sie wußten, wo er zu 
holen sei. 

Der Mensch wurde nun ein ganzer Mensch. Er brauchte 
nicht mehr umherzuirren, um sein Essen zu finden, er ver¬ 
grub die Körner in die Erde und wartete, bis sie auf- 


386 



erstanden und ihm eine Mahlzeit auftischten. Solcherart 
seßhaft geworden, baute er sein Dach, und aus Hütte und 
Hütte wurde die Gemeinschaft, 

Allerdings, allzu üppig ließen die Götter den Menschen 
nicht werden, er sollte abhängig bleiben von den Göttern. 
Deshalb verknappten sie den Mais, es gab Mißernten und 
Hunger. Die Menschen, nicht gewillt, Hungersnöte gott¬ 
ergeben hinzunehmen, wehrten sich. Sie legten in den fet¬ 
ten Jahren Kornkammern an für allfällige magere Jahre. 

Nachdem die Spanier ins Land gedrungen waren, dran¬ 
gen sie auch in diese Speicher ein und bekamen Erektionen 
von Habgier angesichts des bis zum Dachboden aufge¬ 
schichteten Goldes. Um so heftiger war die Enttäuschung, 
als sie erkannten, daß es nur Körner einer Ackerfrucht 
waren. Wohl sandten sie einige Proben davon nach Spa¬ 
nien, aber der Hof kannte das Korn bereits, denn Columbus 
hatte es mitgebracht, ohne Interesse dafür zu wecken. 
Einige spanische Granden, die es als ein kurioses Kraut in 
ihren Garten pflanzten, ernteten nur das Naserümpfen 
ihrer Damen. 

Zwanzig Jahre nach der Cortezschen Sendung schenk¬ 
ten die Gründer der Stadt Valladolid in Yucatan ihrer 
Patenstadt in Spanien einen Sack mit Mais. Die Stadt¬ 
väter des spanischen Valladolid wußten die Gabe besser 
einzuschätzen. Sie bauten den Mais an, verbreiteten ihn 
über ganz Europa und gründeten eine Produktenbörse, die 
jahrhundertelang dem Maishandel der Welt die Kurse dik¬ 
tierte. 

In manchen Ländern nannte man den Mais «Kukuruz", 
in manchen „Corn". Zumeist aber hieß er «türkischer Wei¬ 
zen", und zwar aus dem gleichen Grunde, aus dem man 
in England den Truthahn «Turkey" nennt. Jene Turkey, 
der wir beides verdanken, liegt in Mexiko. Europa ver¬ 
mochte damals nicht über den Kontinent hinauszudenken 
und identifizierte sich selbst mit dem Weltall. Ferne, exoti¬ 
sche Landschaften konnten nicht anderswo gelegen sein als 
in dem Grenzwinkel Europas: der Türkei. 

Auch nach der Vertreibung der Maisgötter und der Ein¬ 
setzung von Kalenderheiligen kam es in Mexiko zu Mais¬ 
verknappung und Teuerung, ja es kam zu Aufständen 


387 



gegen die „Acaparadores del maiz". Von. einer Maisrevolte 
im Juni 1692 erfährt man, wenn man sich für einen Repor¬ 
ter jener Zeit interessiert, für Carlos de Sigüenza y Gon¬ 
gor a, der sich und seine Zeitschrift „Mercurio Volante" 
nannte. 

Günstlinge des Vizekönigs hatten zu Spekulationszwek- 
ken Mais gehamstert. Vergeblich stand die Bevölkerung 
Schlange vor den Molinos de Nixtamal und vor den Tor- 
tillerias. Es setzte Zusammenstöße mit der Stadtwache, 
und dabei wurde eine Frau von Hellebarden durchbohrt 
Erbittert wälzte sich die Menge zum Schloß, steckte es in 
Brand, und Kollege Carlos de Sigüenza y Göngora, der 
rasende Merkur, läßt durchblicken, daß viele Tote und 
sonstiges Unheil zu beklagen waren. 

- Spekulierende Günstlinge des Vizekönigs gibt es nicht 
mehr,' seit es das Amt des Vizekönigs nicht mehr gibt, 
aber der Mais hat nicht auf gehört, Objekt der Spekulation 
zu sein. Keine Regierung, die nicht versucht hätte, die¬ 
sem Kardinalproblem der Innenpolitik beizukommen. 
Maximalpreise für Mais und Tortillas wurden festgesetzt, 
Anbaugesetze erlassen, Zoll- und Transporttarife regu¬ 
liert; Vorschüsse auf Ernten gewährt und ein Notstands^ 
Speicher für den Distrito Federal, das hauptstädtische Ge¬ 
biet, eingerichtet, worin mindestens 12 000 und höchstens 
25 000 Tonnen lagern für eine dreißigtägige Versorgung. 

Außerdem wird nach Mexiko, das früher Mais expor¬ 
tierte, Mais eingeführt Wegen der frachtgünstigen Nähe 
der nordamerikanischen Maishäfen am Golf von Mexiko 
(Corpus Christi, Houston-Galveston und New Orleans) 
verschwand schon vor Kriegsausbruch der gelbe, an Vita¬ 
min B reiche Plata-Mais Argentiniens fast ganz vom mexi¬ 
kanischen Markt. Statt seiner wird Whitecorn 2, ein wei¬ 
ßer, flachkörniger Mais aus den Vereinigten Staaten, ge¬ 
handelt, und das Wort „Whitecorn number two" kehrt in 
Erlässen und Protokollen immer wieder, ohne daß die 
Tortillera oder gar der Tortilla-Esser eine Ahnung hat, was 
das bedeutet. 

Um so besser weiß man in der Calle Mesones, was 
Whitecorn number two bedeutet.- Calle Mesones ist die 
Straße der Pfeffersäcke, bildlich und konkret. Säcke mit 


388 



Chilepfeffer kommen hierher, liegen hier und gehen von 
hier ab und Säcke mit anderen Gewürzen, mit Nahrungs* 
und Futtermitteln, vor allem mit Mais. Hinter Schaltern 
und an Telefonen spekulieren die Pfeffersäcke in Men¬ 
schengestalt. 

Unbefahrbar ist tagsüber die Fahrbahn der Straße, weil 
Frachtautos und Personenautos sie verstopfen; über kein 
Auto, ja nicht einmal über Schuhwerk verfügen die vom 
Lande herangewanderten Lastträger, die hier löschen und 
laden. 

Was in dieser Straße nicht direkt dem Großhandel mit 
Nahrungsmitteln dient, dient ihm indirekt. Geschäfte mit 
Säcken und Seilen aus Henequen, der Faser von Yucatan, 
Reparaturwerkstätten mit riesigen Reifen für riesige Last¬ 
autos, Tischlereien für Kisten und - eine Spezialität, die 
der sonst ähnliche Straßenzug an den Pariser Markthallen 
nicht kennt - Waffenhandlungen mit Revolvern für Ein¬ 
käufer von Mais. 

Die Calle Mesones ist eine Börse, aber ihre Mitglieder 
sind immerhin der Ware nah. Anders als auf dem Chi- 
kagoer Board of Trade. Dort hört man zwar die Pfeife der 
Börsianer, sieht jedoch keinen Maiskolben. Noch weniger 
sieht man, wie die Maiskolben nach dieser Pfeife tanzen. 
(Filmoperateur, überblenden Sie von den Bewegungen der 
Chikagoer Kurstafel auf die von Hand zu Hand springen¬ 
den Tortillas in der Tortilleria!) 

Zu viele Regisseure und Choreographen sind am Arran¬ 
gement dieses Balletts beteiligt, und der, für den der Mais 
kein Divertissement, sondern Nahrung bedeutet, kommt 
um den Genuß. Aber die Börsenspekulation trägt nicht die 
Alleinschuld daran, daß der Vater unser das Gebet um 
das tägliche Maisbrot nicht erhören kann. Zu den vielen 
Schwierigkeiten ist eine neue getreten. 

Die Vereinigten Staaten von Nordamerika kaufen die 
mexikanischen Arbeitskräfte auf. Sie bieten Tageslöhne 
bis zu acht Dollars und Verträge bis zu neun Monaten, also 
Verdienstmöglichkeiten, wie sie keinem Landarbeiter in 
Mexiko lächeln. Eine Massenübersiedlung über die Grenze 
hat eingesetzt, eine wahre Völkerwanderung. Ganze Di¬ 
strikte Mexikos stehen entvölkert da, weil ihre Bewohner 


389 



auf den Tomaten-, Spinat-, Broccoli- und Obstplantagen 
und bei Reparaturen von Eisenbahngleisen in Kalifornien 
und Texas beschäftigt sind. 

Dem Bauern bleiben keine Arbeitskräfte. So geht er ent¬ 
weder als „Bracero" nach USA, oder er baut statt Mais, 
der ihm nur 325 Pesos per Tonne brächte, zum Beispiel 
Sesam an mit einem Ertragspreis von 1100 Pesos. Alle 
Nutzpflanzen stehen weit höher im Kurs als der Mais, ohne 
den das Volk verhungern müßte. 



EIN VULKAN BRICHT AUS 


Ich sitze auf dem Trittbrett eines Autos, um zu skizzie¬ 
ren, was sich vor mir begibt. Mit grellem Hohn beleuchtet 
das Modell mein Papier. Für dieses Modell gibt es keinen 
Begriff. Es ist kein Lebewesen und lebt dennoch in unaus¬ 
gesetzter Bewegung. Es ist ein geologisches oder ein mine¬ 
ralogisches Ding, jedenfalls anorganisch, und dennoch tobt 
es und faucht es und grölt es und wirft Steine und Spott 
auf mein Papier. 

Heute nachmittag kam ich zu diesem Wesen, das sich 
vor zwei Wochen aus dem Bauch von Mutter Erde zu ge¬ 
bären begonnen hat und sich mit dem losgelösten Teil des 
Körpers hochreckte und immer höher, hundert Meter, zwei¬ 
hundert Meter. Das Neugeborene schrie zum Himmel, sein 
Nabel war entzündet, es spritzte Blut und Galle, es fauchte 
die Atmosphäre voll und schüttete eine Riesenmenge Un¬ 
rat aus sich. 

Dieser Unrat liegt um den entstehenden Berg wie ein 
Mühlstein oder wie die Krempe eines Sombreros. Das Ma¬ 
terial ist Schlacke. Ihre großen, scharfzackigen Stücke drük- 
ken sich aneinander, als wären sie gewebt und geplättet 
zu einem überdimensionalen Sombrero, als wären sie ge¬ 
meißelt zum Mühlstein für Gottes Mühlen. Dick ist der 
Stoff der Krempe, dick der Mühlstein, zwölf Meter dick. 

Ich trat an diese zwölf Meter hohe Lavawand, aber ich 
konnte sie nicht berühren, sie ergriff mich mit ihrer Glut. 
So ging ich denn die Glut ab, Kilometer im Kreise. 
Es klirrte im Gemäuer, rasselte wie Eisenketten, einer 
oder der andere der Mauersteine löste sich und fiel herab. 
Nur als Ganzes und nur allmählich erweitert sich der 
Kreis der Lava, wie ein Wellenring, zehn Meter per Tag 
rückt der Rand vor, immer senkrecht bleibend. Was im 
Wege steht, wird mitgenommen, hohe Bäume verschwin¬ 
den ohne Spur. 

Ich hatte mir Lava als etwas Dickflüssiges, Glasiges vor- 


391 



gestellt einen Strom. Das hier jedoch war plumpes, zak- 
kiges, dunkelgraues Geröll. Nicht einmal entfernt verwandt 
ist es dem Obsidian, der wie ein düsterer Halbedelstein 
dem Durchwanderer mexikanischer Zonen oft entgegen¬ 
funkelt; aus der zu Obsidian erkalteten Lava erzeugten 
die Indios Waffen und Werkzeuge, Idolos und Schmuck - 
aus den Bestandteilen dieser Mauer ließe sich gar nichts 
machen. Sie sind Steine, aus dem ewigen Dunkel des 
Erdenschoßes dem ewigen Hell der Sonne zugeworfen. 
Steil fielen sie nieder, hart neben dem Krater, aus dem sie 
kamen. Aber schon nach einigen Sekunden, mit dem näch¬ 
sten Ausbruch, langten neue Emigranten an, wollten der 
Heimat möglichst nahe bleiben und drängten die Erst¬ 
ankömmlinge zur Seite. Die rückten ab in konzentrischem 
Kreis, Schritt für Schritt, zehn Meter in vierundzwanzig 
Stunden. 

Das Vorfeld des Vulkans und seines Lavakreises ist 
flaches Land, Maisfeld und Kuhweide, hier und da ein 
mit Nadelwald bestandener Hügel, dessen Fuß jetzt auf 
der dem Vulkan zugekehrten Seite zwölf Meter hoch mit 
Lavablöcken bedeckt ist. 

Auf der anderen Seite eines solchen Hügels versuchte 
ich emporzuklettern. Die Steigung war nicht groß, aber 
staubige Asche bedeckte den Hang, so daß ich bis zu den 
Knien einsank. Leicht buddelte ich mich wieder heraus 
und kroch bäuchlings weiter, wobei mir Äste halbverschüt¬ 
teter Bäume hilfsbereit die Hand reichten. 

Von der Höhe konnte ich das Lavafeld übersehen. Block 
neben Block, grau und rauchend, bewegte sich mit unheim¬ 
licher Langsamkeit, ein Ozean aus geschmolzenem Basalt, 
eine Sahara aus halberstarrten Schlacken. Nichts, nichts, 
nichts Menschliches, keine Verbindung zu irgendeinem 
Lebewesen. Jene anderen Wüsten, jene anderen Meere, 
die bislang diesem Geröll Heimat waren, niemals wurden 
sie von einer Karawane durchquert oder von einem Schiff 
befahren, von jener Welt unter der Erdkruste berichten 
nur Theorien und Hypothesen. 

Hier auf meines Hügels Zinnen stand ich in der Höhe 
des Kraters, dem Krater gegenüber. Er erglänzte in über¬ 
irdischer (oder soll ich sagen: unterirdischer?) Beleuch- 


392 



tung. Viel ging darin vor, jedoch es war, als blickte ich 
statt in den mich blendenden Schein in eine schwarze 
Nacht, so wenig konnte ich erkennen. Selbst wenn ich nur 
aussage, daß der Krater als Mulde oben auf dem Berg 
eingebettet liegt, ist diese Aussage falsch. Die Öffnung 
der Erde ist tiefer unten, auf dem verschütteten Maisfeld 
eines Mannes aus der nahen Ortschaft Paricutin. 

Dieser Mann, der Indio Dionisio Pulido, kam vor vier¬ 
zehn Tagen, am Nachmittag des 20. Februar 1943, hierher 
und sah plötzlich, wie seine Ackerfläche auseinanderklaffte, 
sich hochhob, zu qualmen und zu donnern begann, und er 
nahm die Beine in die Hände. 

Von Dionisios Maisfeld blieb nichts übrig, nie wieder in 
aller Ewigkeit wird es ein Maisfeld sein. Denn der Krater 
hat es vollgespien und speit weiter, so daß ein Berg ent¬ 
stand, der ununterbrochen wächst und auf dessen Plateau 
nun der Krater eingebettet scheint gleich einer Mulde. 

Aus dieser Mulde schießt alle vier oder sechs Sekunden 
die Rauch- und Feuersäule ins Firmament. Neunmal nach¬ 
einander sind die Explosionen verhältnismäßig schwach, 
dann kommen vier von mittlerem Grad, dann zwei starke 
und schließlich die stärkste, eine unheimliche, fulminante 
Eruption. Diese Reihenfolge wird eingehalten, wenn auch 
nicht die Intervalle. Manchmal platzt eine starke Detona¬ 
tion rücksichtslos in eine schwache hinein. 

Schon heute morgen und aus einer Ferne von Meilen 
hatte ich, als ich durch den Staat Michoacän hierherfuhr, 
die Rauch- und Feuersäule gesehen. Da war sie freilich 
nur eine Rauchsäule schlechthin gewesen. Auch am Nach¬ 
mittag, als ich bei ihr ankam, schien sie aus Qualm und 
Dampf zu bestehen, ein enormer Blumenkohl aus Rauch, 
in dessen Mitte ein rötlicher Strunk schimmerte. Mit An¬ 
bruch der Dunkelheit wurde es anders. 

Mit Anbruch der Dunkelheit wurde alles hell. Vor al¬ 
lem die Rauchsäule. Die ist jetzt zur Feuersäule geworden. 
Rot springt sie auf, rot ragt sie hoch, rot verschwindet sie. 
Die Flamme, die nachmittags kaum eine Unterströmung 
des wallenden Rauches war, dominiert absolut, und der 
graue Dampf darf nur mehr wie ein Schatten in ihrem 
Innern umher huschen. 


393 



In heißen Farben vollzieht sich ihr Aufsprung, aufregend 
und in wechselvollen Formen. Einmal ist es ein Roß, das 
aus dem Berg heraus sprengt, sich auf bäumt, schnaubt und 
zusammenbricht. Einmal erscheint eine allegorische Statue 
mit einer Fackel in der erhobenen Hand - Symbol, das im 
kosmischen Nu zu einem spurlosen Nichts vergeht. Ein¬ 
mal wächst aus dem Zauberberg eine Palme auf mit brei¬ 
tem goldenem Stamm, goldenem Astwerk und goldenen 
Früchten; ach, der Stamm zersplittert, die Zweige zerbre¬ 
chen, und die Kokosnüsse fallen zu Boden, bevor ich mich 
dessen versehe. Einmal scheint die Feuersäule eine wirk¬ 
liche Säule zu sein, eine barocke Säule mit üppigen Aus¬ 
buchtungen und Windungen, die wie Brüste, Hüften und 
Becken sind, lockend reckt sie sich bis zum Himmel, um 
zu bersten, wenn sie ihr Ziel erreicht Einmal ist sie ein 
Feuerwerk mit steil aufzischenden Raketen und platzen¬ 
den Sprühregenkörperchen, ein Feuerwerk, wie es der 
erste Schloßherr von Versailles nicht erträumte. 

Ununterbrochen keucht es aus dem Krater stoßartig wie 
eine Lokomotive, ununterbrochen schießt eine Batterie, auch 
während die Eruption hochgeht, absackt und erlischt. Wenn 
eine Seeschlacht tobt, wenn Chemikalien explodieren, wenn 
eine bombardierte Stadt zum Flammenmeer wird, wenn 
Hochöfen lodern - ich weiß den Grund. Aber hier? Wes¬ 
halb faucht es und donnert es, warum werden Fels und 
Brand und Asche zuerst himmelan und dann erdwärts 
geschleudert, wer und was schafft da in diesem Schlund, 
wie lange wird das dauern, noch einen Tag oder ein Jahr¬ 
tausend? 

Wäre es für die gärende Unterwelt nicht bequemer ge¬ 
wesen, durch die unergründlich tiefen Schluchten der Ge¬ 
gend, die „Barrancas", oder durch die Kanäle und Trichter 
der schon vorhandenen Vulkane aufzustoßen als durch 
dieses Tal? Warum ward gerade das stille Paricutin aus¬ 
erkoren und darin der Acker des Indios Dionisio Pulido? 

Am Nachmittag sah ich Steine aus dem Krater fliegen, 
die sich unterwegs aus der Rauchsäule lösten und in alle 
Himmelsrichtungen absprangen. Vom Abenddämmer an 
aber sind es Feuerblöcke. Sie fahren dem Sternbild des 
Orion zu, und einen Augenblick lang scheinen sie ihm 


394 



anzugehören. Ist dieser Augenblick vergangen, dann blitzen 
sie sternschnuppenartig auf den Berg hernieder, den vor 
ihnen andere Feuerblöcke geschaffen haben. Viele der 
Sternsteine fallen in den Krater zurück, andere auf den 
Gipfel des Bergkegels und kullern und purzeln von dort 
herab. Als wäre die Basis des Bergkegels in 360 Grad ein¬ 
geteilt, rollt zu jedem Grad von der Spitze eine goldene 
Strähne, dreihundertsechzig Lawinen aus flüssigem Gold. 
Der Berg wird durchsichtig. 

Ich höre die Kanonade nicht mehr, ich spüre den Brand¬ 
geruch nicht mehr, ich fühle die Hitze nicht mehr. Ich 
schaue nur und bin in Visionen verstrickt. 

Tagsüber war der Lavarand eine Mauer aus dunkel¬ 
grauen, blaugrauen Basaltschlacken. Nachtsüber aber ste¬ 
hen die Blöcke in Brand. Ich könnte beeiden, daß ich die 
Grande Corniche vor mir habe: Hellbeleuchtet schiebt sich 
das Casino de la Jetee ins Meer, es brennen in waagrech¬ 
ter, regelmäßiger Kette die Straßenlampen der Promenade 
des Anglais, dann schwingt sich die Lichterkette hügelan 
und hügelab und mündet in der illuminierten Kuppel der 
Spielerkathedrale von Monte Carlo. Dazwischen, von 
Lichtreklamen überwölbt, Bars, Pavillons und Geschäfte 
mit Juwelen und allen erdenklichen Arten von Glanz. Der 
Glanz beleuchtet das Papier, auf dem ich schreibe. 

Vor vierzehn Tagen gab es auf dem Podium dieser Gau¬ 
kelspiele noch wirkliches Leben. Das ist weg für immerdar, 
weg ist das Gras mit Käfer und Wurm, weg das Maisfeld 
mit Feldmaus und Maulwurf, weg der Baum mit Vogel 
und Schmetterling, weg die Weide mit Kuh und Esel. Im 
Umkreis aber, hart am Rand des Ausbruchs, setzt sich das 
Leben fort. 

Vögel schwirren umher, für die es doch eine Kleinig¬ 
keit wäre, sich in eine kühle, von Gedröhn und Geblitz 
nicht gestörte Sphäre zu erheben. Ganz tief fliegen diese 
farbenreichen Vögel, nahe dem aschen bedeckten Erdboden, 
an meinen Knien vorbei, wahrscheinlich suchen sie ihr 
Nest und ihre Familie und finden sich nicht zurecht in der 
total veränderten Gegend. 

Schütter steht der Wald da. Den Bäumen ist in Manns¬ 
höhe ein Stück Rinde ausgeschnitten, das nackte Holz 


395 



schaut heraus, und wenn vom Vulkan her Reflexe auf die¬ 
ses gelbe Gesicht fallen, schneidet es Grimassen. Unheim¬ 
lich ist es, den zuckenden Fratzen ausgesetzt zu sein, ob¬ 
wohl man weiß, daß sie nur Schnitte im Baumstamm sind, 
aus denen das Harz in ein darunter angebrachtes Gefäß 
fließt. 

Ich kenne die Psychologie von Vulkanen nicht. Ist der 
eben erstandene enttäuscht, weil er ein Objekt der Neu¬ 
gierde, des Geldverdienens und der Sensation geworden 
ist? Seit Vulkangedenken ist es noch keinem ergangen wie 
ihm. Man hängt ihm ein Mikrophon vor die Nase, und 
er muß hineinkeuchen, hineinhusten oder hineindonnern 
für die Rundfunkhörer der Kontinente. Man stellt ihm 
einen photographischen Apparat vor die Nase, und jeden 
Anblick, den er profil oder en face bietet, bietet er den 
Abonnenten der illustrierten Weltpresse dar. Man streckt 
ihm eine Filmkamera vor die Nase, und wie er sich räus¬ 
pert und wie er spuckt, wie er sich bewegt, er räuspert 
und spuckt und bewegt sich für das gesamte Kinopublikum 
oberhalb der von ihm mutwillig durchbrochenen Erd¬ 
rinde. 

Außerdem sitzt ihm die Wissenschaft auf der Pelle, be¬ 
äugt ihn, behorcht ihn, fühlt ihm den Puls und mißt ihm 
die Temperatur. Wie oft er vomiert, wie oft er Stuhlgang 
hat, kaum getan, ist es schon in Skalen und Tabellen ein¬ 
getragen - wie ungestört hatte sich das alles im Schoß der 
Erde vollzogen! 

Auf dem Hügel, den ich, bis zu den Knien einsinkend, 
erklomm, haben die Gelehrten ihre Zelte auf geschlagen. 
Zwei der Studenten kenne ich, „vom Harz bis Hellas nichts 
als Vettern", wie Vetter Mephistopheles konstatiert. 

Sie erzählen mir von dem vulkanischen Baby. Sogar die 
Tiefe, der es entstammt, sei festgestellt, festgestellt ohne 
Lot: zweiuriddreißig Kilometer. Das wisse man, weil alles 
emporkommende Material dem Pliozän angehört, der jüng¬ 
sten in jener Tiefe gelegenen Tertiärschicht. Das Klima 
dort unten sei mit 1100 Grad Hitze errechnet, denn bei die 1 
ser Temperatur schmelze der Basalt zu jenen Schlacken, die 
vor uns liegen. Die Lavatrümmer am Bergesfuß bedecken 
zwei Quadratkilometer Boden und bewegen sich pro Tag 


396 



zehn Meter zur Seite und neunzig Zentimeter in die Höhe. 
In den Blöcken seien vier bis fünf Prozent Eisen enthalten. 

Was den Bergkegelstumpf anbelangt, so entwickle er 
sich seit seiner Geburtsstunde geradezu prächtig. Seit ge¬ 
stern wuchs er um viereinhalb Meter, jetzt messe er schon 
zweihundertzwanzig Meter. Seine Basis sei ein fast geo¬ 
metrisch genauer Kreis von fünfhundert Metern Durch¬ 
messer, und der Durchmesser des Gipfelplateaus betrage 
einhundertfünfzig Meter. Die Hänge neigen sich im Win¬ 
kel von fünfunddreißig Grad. 

„Und die Fahne, Kameraden?" 

„Die Fumarole? Sie ist nicht immer gleich hoch, aber 
durchschnittlich tausend Meter. .Bis höchstens sechshundert 
Meter reißt sie Eruptionsgestein mit sich und Asche. Der 
größte der Blöcke hatte vier Kubikmeter." 

Dann erzählen sie mir noch, daß es sich um einen wirk¬ 
lichen Vulkan handelt, woran ich eigentlich nie gezweifelt 
hatte. Ich möge nicht etwa glauben, es sei eine bloße 
Extorsion, eine Aufbäumung des Bodens, wie sie oft von 
tektonischen Beben verursacht wird und in vulkanischen 
Gegenden auch Feuer und Rauch und Stein hochschlagen 
kann. Das sei der erste Vulkan, der seit dem Jorullo in 
Mexiko geboren wurde... 

Der Jorullo liegt kaum zwei Autostunden von seinem 
neuen Brüderchen entfernt. Am 28. September 1759 wurde 
der Jorullo geboren, und einer der Gründe von Humboldts 
Mexikoreise war die Sehnsucht gewesen, diesen jüngsten 
aller Berge von Angesicht zu Angesicht zu schauen. Er sah 
ihn, als der Vulkan vierundvierzig Jahre alt war. In der 
Zwischenzeit war der Jorullo nicht müßig gewesen, die 
Lava war noch so heiß, daß Humboldt seine Zigarre an 
einem der vulkanischen Erdkegelchen, den Hornitos, an¬ 
zünden konnte. In der Gegend lebten noch Augenzeugen, 
die ihm Material für seine Beschreibung der Vulkangeburt 
lieferten. Gern wäre er selbst dabeigewesen, wie Plinius 
beim Ausbruch des Vesuvs, beim Untergang von Pom¬ 
peji. 

Heute hier zu stehen böte Humboldt die Genugtuung, 
seine Theorie vom Vorhandensein einer Vulkanreihe be¬ 
stätigt zu finden. Dieser Theorie zufolge klafft „sehr tief 


397 



im Innern der Erde, zwischen 18 Grad 59' und 19 Grad 12' 
nördlicher Breite, ein Riß, der sich neunhundert Kilometer 
lang vom Osten nach Westen hinzieht und durch welchen 
sich das vulkanische Feuer zu verschiedenen Zeiten von 
der Küste des mexikanischen Golfs bis an die Südsee Luft 
gemacht hat". Ganz nahe von Humboldts Grenzlinie, näm¬ 
lich 19 Grad 21' nördlicher Breite (und 102 Grad 19' west¬ 
licher Länge), ersteht zur Stunde der Vulkan von Paricutin. 

Als solcher, als der „Vulkan von Paricutin" wird die 
Neuschöpfung in die Geographie und in die Vulkanologie 
eingehen, denn Paricutin heißt das Dorf, das er sich als 
Geburtsstätte und ständigen Aufenthalt ausgesucht hat. 
Einhundertfünfundachtzig Bewohner zählt es, durchwegs 
Indios aus dem Stamm der Tarascos. Einer von ihnen ist 
jener Dionisio Pulido, der sein altes, geduldiges Feld so 
unvermutet sich auf bäumen sah und dennoch überzeugt ist, 
daß es gefallen ist, gefallen auf den Nullpunkt des Werts. 

„Zwei Fanegas Mais sind verloren", klagt er und er¬ 
zählt mir, wie sich der Anfang vom Ende vor seinen Augen 
vollzog. Er selbst vermochte sich zu retten, und seine bei¬ 
den Maulesel rannten hinter ihm her, aber was er mit 
Mühe angebaut hatte und eben ernten wollte, die beiden 
Fanegas, also hundertelf Liter Mais, liegen unwiderruflich 
im Bergesinnern. 

„Seit jener Stunde habe ich keinen Bissen gegessen", 
schwört er, und, so unwahrscheinlich das klingt, ich muß 
es ihm glauben. Schwört er doch beim Wundertätigen Bild 
von Parangaricütiro, und er weiß dieses Bild so nahe, daß 
es ihn hören und gleich dasein könnte, um ihn für die 
Lüge zu strafen. Aber wenn Dionisio Pulido auch zehnmal 
schwören würde, daß er seit jener vulkanischen Stunde 
nichts getrunken habe, so würde ich ihm nicht glauben; 
sein Atem riecht deutlich nach dem ortsüblichen Zucker¬ 
rohrschnaps. 

„Zwei Fanegas Mais verloren, und mein Feld für immer 
vernichtet." 

„Dafür sind Sie Besitzer eines Vulkans." 

„Ach, Senor, wem nützt schon ein Vulkan?" 

Ich könnte Dionisio antworten, daß ein Vulkan nicht 
ganz ohne Wert sei. Vor Jahrzehnten hat die mexikanische 


398 



Republik einem General den Popocatepetl zum Geschenk 
gemacht einen Vulkan als Orden! Nach dem Tode des 
Generals wurde der Popocatepetl mit dem Ausrufpreis von 
fünfundzwanzig Millionen Pesos zum öffentlichen Verkauf 
angeboten. Rockefeller beabsichtigte, ihn zur Ausbeutung 
der Schwefelwände zu kaufen, bekam ihn aber nicht. 

Dionisio Pulido könnte seinen Vulkan an Rockefellers 
Erben losschlagen, falls die ihn haben wollten. Aber daß 
er auch dann kein Geld davon hätte, sondern höchstens 
ein paar Flaschen Zuckerrohrschnaps, ist anzunehmen. Er 
hat doch auch nichts davon, daß sein Feld ein Objekt der 
Fremdenindustrie zu werden anfängt. 

In Uruapän, der nächsten großen Stadt, herrscht Kon¬ 
junktur in Mietsautos. Jeder, der einen Lieferwagen hat, 
läßt alle Lieferungen liegen und vermietet sich an Tou¬ 
risten zur Fahrt an den Vulkan; der Fahrpreis steigt schnel¬ 
ler als der Vulkan. Etwa sechsundzwanzig Kilometer ist 
die Entfernung von Uruapän nach Paricutin, der Weg 
führt durch den weglosen Terpentinwald, man fährt sechs¬ 
einhalb Stunden und kommt zerrüttet an. 

Auf dem Vorfeld des Vulkans erstanden Marktbuden aus 
Latten und Reisig, wo Coca-Cola ausgeschenkt wird, Tacos 
verkauft werden und das Fruchtbrot Ate, eine Spezialität 
des Staates Michoacän. Verkäufer sind die Bewohner des 
Fleckens San Juan de Parangaricütiro. Nicht unvorbereitet 
kommen sie in den Handelsbetrieb. Parangaricütiro ist 
ein Wallfahrtsziel, alljährlich, am 19. September, pilgern 
Hunderte von Gläubigen zum Fest des Cristo Milagro. 
Demgemäß sind alle Ortsbewohner gläubige Katholiken; 
in politischer Beziehung gehören sie den Sinarquistas an, 
den Faschisten, die vor allem in den rückständigen Gegen¬ 
den eine kostspielige Agitation entfalten. Übrigens hindert 
das die Bevölkerung nicht, auch begeisterte Anhänger 
eines Demokraten zu sein, des vorigen Präsidenten Läzaro 
Cärdenas. Cärdenas hat ihnen Land gegeben, und die Fa¬ 
schisten versprechen ihnen noch mehr. 

«Wir sind arm", sagen sie, „wir leben von dem, was wir 
selbst anbauen. Bares Geld verdienen wir nur im Sep¬ 
tember bei der Wallfahrt." Sie sind fromm und halten den 
Vulkanausbruch für eine Strafe Gottes. Eine liederliche 


399 



Frau habe mit verheirateten Männern des Ortes Sünden 
begangen. Als die Eruption begann, entflohen die Bewoh¬ 
ner, und nur ein Schock Freiwilliger blieb zurück, um den 
Cristo Milagro zu bewachen. Nach drei Tagen kehrten die 
Flüchtlinge heim in ihre Häuser und errichteten hier oben 
ihre Stände. Die Frauen besorgen den Verkauf, die Män¬ 
ner begleiten die Touristen auf die Hügel rings um den 
Vulkan und bekommen dafür Führerlohn. Mit Stangen 
heben sie Lavasteine aus dem Wall, urinieren darauf, um 
die Glut auszulöschen, und verkaufen dann die solcherart 
abgekühlten Steine den Besuchern. Das 1 Geschäft geht weit 
besser als das am Wallfahrtstag. 

„Nicht schlecht, so eine Strafe Gottes'Vsage ich. 

Sie lachen verlegen, was offenkundig eine Zustimmung 
bedeutet, aber als solche nicht beweisbar ist. 



KOLLEG: KULTURGESCHICHTE DES KAKTUS 


Goethe Cortez Spitzweg 

Stifter Napoleon Humboldt 

Karl May Hebbel Henri Rousseau 


I. Heraldik 

Nicht deshalb, meine Herren, nicht deshalb, weil der 
Kaktus in Mexiko zu Hause ist, hat ihn Mexiko auf sein 
Wappenschild gehoben. Das Emblem war schon da, bevor 
die Azteken ihr Land gesehen. Vom Norden her, sozu¬ 
sagen aus den hyperboreischen Wäldern Amerikas, kamen 
sie gezogen, um die Heimat zu suchen, die Heimat, die ein 
Orakel ihnen verheißen hatte. Lange wanderten sie kämp¬ 
fend kreuz und quer, bis sie im Jahre 1325 das ihnen ge¬ 
lobte Land fanden. Kein Zweifel konnte sich regen, das 
Ziel war genau so markiert, wie in der Prophezeiung an¬ 
gegeben, eine dreigliedrige Opuntie, von zwei entfalteten 
Blüten gekrönt, entsproß dem von Wasser umspülten Fel¬ 
sen, und darauf horstete ein Königsadler mit einer Schlange 
in den Fängen. 

Hier am See, auf Lagunen, Landzungen, Ufern und In¬ 
seln, ließen sich die Wandermüden nieder und nannten 
den Standplatz, wie sie ihn schon in den Träumen ihrer 
Wanderung genannt hatten: „Tenochtitlän", Kaktus auf 
einem Stein. Heute heißt die Stadt „Mexiko". Adler und 
Schlange sind aus der Bannmeile geschwunden, aber der 
Kaktus beherrscht nach wie vor das Landschaftsbild. 

Mexiko trug den Kaktus auf Fahnen, auf Siegeln und 
auf Münzen, und manche indianische Familie ließ, um vor 
dem Vizekönig den Adelsanspruch zu begründen, ihren 
Stammbaum malen, aber nicht als Baum, sondern als Opun¬ 
tie. Wenn Sie das Nationalmuseum besuchen, werden Sie 
im Saal der Kodizes sehen, daß die Glieder der Opuntie, 


26 Kisch VII 


401 



von Natur aus wie Veduten oder Schilder geformt, sich 
weit logischer zur Aufnahme von Namen und Jahreszahlen 
eignen als die auf europäischen Stammbäumen wachsenden 
Linden- oder Eichenblätter. 


II. Bildende Kunst 

Angesichts dieser Tatsachen berührt es fast komisch, daß 
die Maler der Neuen Sachlichkeit, einer Kunstrichtung von 
1920, das Neue ihrer Sachlichkeit durch einen Kaktus aus¬ 
drückten, der in jedem ihrer Interieurs und Exterieurs vor¬ 
kommt. Fast hundert Jahre vor der Neuen Sachlichkeit hielt 
Spitzweg, der altmodisch Verschrullte, den Kakteenlieb¬ 
haber für das altmodisch Verschrullteste seiner Sujets. Des¬ 
halb wohl wagte der Kunsthistoriker Wilhelm Uhde die 
Hypothese, Spitzweg habe, eben von seiner Pariser Reise 
zurück, in seinen beiden Kaktusbildern Deutschland kon¬ 
terfeien wollen: draußen leuchtet die Sonne, grünt das 
Blattwerk und zwitschern die Vögel, während sich der 
alte Magistratsaktuarius dem staubigen Kaktus entgegen¬ 
neigt, der sich seinerseits symmetrisch vor ihm verbeugt. 

„Tu te rapelles, Rousseau, du paysage azteque . . .?" 
ruft ein Gedicht von Guillaume Apollinaire seinem Maler¬ 
freunde zu. Dieser Satz Apollinaires wurde als Beweis da¬ 
für verwendet, daß des Zöllners Rousseau phantastische 
und erfundene Landschaften weder phantastisch noch er¬ 
funden seien, sondern Modellmalerei aus dem Paysage 
azteque. Wahr ist, daß Henri Rousseau als junger Militär¬ 
musiker mit der Interventionsarmee des Marschalls Bazaine 
nach Mexiko gekommen war, und dort mag er die Azteken¬ 
landschaft mit ihren achthundertfünfzig Kakteensorten so 
gesehen haben, wie ein zukünftiger Maler sie sieht. Was 
der närrische Douanier jedoch später malte, hat damit 
nicht mehr zu tun als etwa sein Fußballbild mit einem 
Fußballspiel. Die Pariser Botaniker, von den ratlosen 
Kunsthistorikern zu Hilfe gerufen, konnten nur feststel¬ 
len, daß außer den Agaven keine der Rousseauschen 
Pflanzen in Mexiko wachsen. 


402 



HL Literatur 


Für Adalbert Stifter ist „der Kaktus nicht das letzte 
gewesen, dem ich meine Aufmerksamkeit geschenkt habe". 
Er findet zwar die Blüten „verwunderlich wie Märchen", 
aber nicht bizarr, formensprengend oder gar ungestaltig. 
Im Gegenteil: Sein Gärtner Simon im Kaktushaus schließt 
das Loblied auf den Kaktus und seine Blüten mit dem po¬ 
lemischen Akkord: 

„Es könne nur Unverstand oder Oberflächlichkeit oder 
Kurzsichtigkeit diese Pflanzengattung ungestaltig nennen, 
da doch nichts regelmäßiger und mannigfaltiger und da¬ 
bei reizender sei als eben sie." 

In Mexiko bedürfen die Kakteen keines Stifterschen 
Gärtners, keines Spitzwegschen Aktuarius, keiner Ge¬ 
wächshäuser und keiner zierlichen Blumentöpfe. Allerorten 
im Land wächst der Kaktus und treibt Blüten, die oftmals 
verwelken, ohne ein menschliches Auge entzückt zu haben. 
Daß und in welchen Gestalten er das mittlere und südliche 
Amerika bewächst, hat schon Goethe verzeichnet. Seine 
Kenntnis stammt aus Humboldts „Ideen zu einer Physio¬ 
gnomik der Gewächse", dessen Formulierungen Goethe nur 
stilistisch verändert: 

„Dem neuen Kontinent ist eigentümlich die Kaktusform, 
bald kugelförmig, bald gegliedert, bald in hohen viel¬ 
eckigen Säulen wie Orgelpfeifen aufrecht stehend. Diese 
Gruppen bilden den höchsten" (bei Humboldt: „den auffal¬ 
lendsten") „Kontrast mit der Gestalt der Liliengewächse 
und der Bananenbäume." (Bei Humboldt nur: „Bananen".) 

Nicht nur Goethe, sondern auch Karl May und sogar 
sein Pferd haben Humboldts „Ansichten der Natur" gelesen 
und darin die komplizierte Methode, mit der durstige Huf¬ 
tiere in den Wüstengegenden Amerikas sich „bedächtig 
und verschlagen" das wasserreiche Mark des Melokaktus 
zunutze machen: 

„Mit dem Vorderfuß schlägt das Maultier die Stacheln 
der Melokakteen seitwärts und wagt es dann erst, den 
kühlen Distelsaft zu trinken. Aber das Schöpfen aus dieser 
Quelle ist nicht immer gefahrlos; oft sieht man Tiere, 
welche von Kaktusstacheln am Hufe gelähmt sind." 


403 



Wen kann es wundernehmen, daß Karl Mays ungebär¬ 
diger Hengst den Trick besser beherrscht als alle bedäch¬ 
tigen und verschlagenen Maultiere und ihn gleich am 
Anfang des Romans „Old Surehand" dem Leser vorführt? 

«Hierauf sattelte ich ab und ließ den Hengst frei. Gras 
gab es hier freilich nicht; dafür aber standen zwischen den 
Riesenkakteen Melokakteen genug, die Futter und Saft 
in Fülle lieferten. Mein Rappe verstand es, diese Pflanzen 
zu entstacheln, ohne sich zu verletzen .. 


IV. Geschichte 

Die Pflanze, die Sie hier sehen, meine Herren, eine 
Opuntia cochinellifera, habe ich an der Schlangenpyramide 
am Nordwestrand von Mexiko-Stadt ausgegraben. Ein 
Indioknabe, der dort Idolos anbot, griff diesem Kaktus in 
die Achselhöhle und streckte mir etwas Winziges, Röt¬ 
liches, wie mit Mehl Bestäubtes entgegen und sagte: „Co- 
chenilla." Als er es über der Pflanze zerquetschte, floß Blut, 
so viel, daß dieses eine Opuntienglied aussieht wie rohes 
Fleisch. Von dem Tierchen, dem das Rot entstammt, blieb 
nichts übrig. 

Um der Cochenille willen hat man einst das Gewächs 
gepflegt, das ihre Wohnung war. In der Aztekenzeit mußte 
alles Blut dieser Läuse gesammelt und an die kaiserliche 
Hausverwaltung abgeliefert werden; Stammesfürsten und 
Kriegshelden wurden mit Töpfen dieses Karmins belohnt. 
Jedoch die edelste Sorte, jene, die von jungfräulichen oder 
wenigstens ungeschwängerten Lausweibchen stammte, 
durfte keines anderen Mantel färben als den des Herr¬ 
schers selbst und die kurze Jacke des höchsten Hohenprie¬ 
sters. Wie im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation 
trugen im damals noch unentdeckten Mexiko der Kaiser 
und der Henker ein Gewand vom gleichen Rot In der 
Tat, in Mexiko war der höchste Priester zugleich der höch¬ 
ste Henker und thronte auf dem Schafott, wie in Heines 
„Vitzliputzli" zu lesen: 

Auf des Altars Marmorstufen 
Hockt ein hundertjährig Männlein 


404 



Ohne Haar an Kinn und Schädel, 

Trägt ein Scharlach Kamisölchen. 

Dieser ist der Hohepriester 
Und er wetzet seine Messer .. 

Vergeblich war das Messerwetzen, vergeblich die Men¬ 
schenopfer. Der weiße Feind marschierte heran, um dem 
Kaiser den Purpurmantel vom Leib zu reißen und dem 
Henkerpriester das Scharlach Kamisölchen. Und die Götter 
verhinderten es nicht 

Aber ein schlichter Kaktus, ein Nopal aus der Gegend 
von Cholula, hätte es beinahe verhindert. In Cholula hatte 
Cortez die Bewohnerschaft massakrieren lassen, sechstau¬ 
send Tote binnen drei Stunden - ein Gemetzel, wie es bis 
dahin die Neue Welt niemals erlitten. Nach vollbrachter 
Tat wandten sich die Spanier der Hauptstadt zu, voran 
das Reiterfähnlein. Es war ein sengender Tag, gierig 
schlürften die Kavalleristen die rötlichen Früchte des Ne¬ 
pals von Cholula. 

Unterwegs wird Halt befohlen: „Absitzen! Austreten ¥ 
Aber, Herr des Himmels, was ist das? Es ist Blut, das die 
Reiter urinieren! Tiefrotes Blut! Kein Zweifel, ihre Venen 
sind gerissen - Gottes Strafgericht für die am Indiovolk 
begangenen Greuel und Scheuei. Alle sind blaß und zit¬ 
tern vor Todesangst. Sie rotten sich zusammen, knien 
gemeinsam nieder, beten zu San Jago de Compostella, lei¬ 
sten ein Gelübde, weigern sich, weiter Dienst zu tun. 

Da kommt zu Fuß der indianische Hilfstrupp heran und 
läßt gleichfalls, jedoch ohne sich darüber zu beunruhigen, 
rotes Wasser. Nun erfahren die reuigen Sünder, solches 
sei die Wirkung der Tuna von Cholula, der Frucht, die 
sie gegessen. Keine Strafe Gottes also! Kein Grund zur 
Reue! Erlöst von Skrupeln, setzen die Gottesstreiter ihre 
grausen Kriegstaten fort. 


V. Manufaktur wesen 

Und nehmen das Land mit allem, was da kreucht und 
fleucht. Unter dem, was da kreucht, kreucht die Cochenille 
bald zu hoher Bedeutung hinan. Cortez hatte sie übers 


405 



Meer nach der heimatlichen Halbinsel geschickt, „nur um 
der Wissenschaft willen", wie er zur Entschuldigung be¬ 
tonte. Aber während man in Spanien die Körner von Mais 
und Kakao, die Tomate und die Vanille und die Stücke edel¬ 
ster Jade als wertlos abgetan hatte, erfaßte man sogleich 
den potentiellen Wert dieses Farbstoffs für die Wollwebe¬ 
rei von Barcelona und die Seidenweberei von Valencia. 

Eilends pflanzte man die vermeintlichen Samen in den 
Boden und wunderte sich, daß ihnen kein Gewächs ent¬ 
sproß. Nun heischte man aus Neu-Spanien Sprößlinge. 
Fruchtknollen oder Wurzeln, und solche der Opuntia co- 
chinellifera trafen ein. Aus denen wuchsen in den heiße¬ 
ren Territorien der spanischen Krone, in Algier und auf 
den Kanarischen Inseln, die Kakteen, und auf den Blättern 
fanden sich die winzigen Tuben, prall gefüllt mit dem 
ersehnten Farbstoff. 

Große Plantagen wurden angelegt, sie brachten reichen 
Nutzen, aber immer noch begriff man nicht, daß die Pflan¬ 
zensamen keineswegs Pflanzensamen seien. Als 1703 Mijn¬ 
heer Ruysch unter dem gerade erfundenen Mikroskop 
Leeuwenhoeks die Cochenille leben und sich bewegen sah, 
geschah allgemeines Schütteln des Kopfes. Eine Laus? Wie 
kann eine Laus so edlen Farbstoff liefern? 

Als ich zu Hause meine heutige Vorlesung vorbereitete, 
ließ mir ein in Schweinsleder gebundener Riesenfoliant 
kaum ein Eckchen meines Tisches zum Schreiben frei. Auf 
irdische Maße reduziert, lautet der Titel des Buchs „Mu¬ 
seum Museorum oder Schaubühne aller Materialien und 
Specereyen... Unter Augen geleget von Doctor Michael 
B. Valentini, Franckfurt am Mayn, im Jahre Christi 
MDCCXIV." (Dieses deutsche Werk, das neben vielem an¬ 
deren eine komplette Technologie der Manufakturzeit dar¬ 
stellt, habe ich in Europa jahrelang gesucht und fand es 
- o Witze, die die Emigration mit uns macht - in Me¬ 
xiko.) Noch 1714 ließ sich der Verfasser des gelehrten 
Wälzers nicht ganz durch das Mikroskop überzeugen: 

„Ob nun die Kutzenellen vor einen Saamen oder sonsten 
etwas zu halten seyen? davon sind biss auff den heutigen 
Tag noch verschiedene Meynungen. Einige halten es vor 
einen Saamen, daher es auch die meisten Apothecker unter 


406 



die anderen Saamen stecken und in ihren Catalogis als ein 
Sem. Coccinillae setzen; - teils weilen Coccionella von 
Cocco herkäme und bey den Spaniern ein kleines Korn 
heiße, teils weilen Wilhelmus Piso in seiner ,Historie der 
Brasilianischen Gewächsen 7 eine Art indianischer Feigen 
weitläuffig beschreibet, an welchen die Coccionellen wach¬ 
sen sollen .. 

Valentini zählt die vielen Verwendungsmöglichkeiten 
dieser fragwürdigen Miniaturkörper auf, besonders die 
Tatsache, daß Italien den neuspanischen Kutzenellen die 
Rotfärbung des Glases verdankt. 


VI. Revolutionsgeschichte 

Zweieinhalb Jahrhunderte wahrte Spanien sein Coche¬ 
nille-Monopol und überwachte jedes Schiff, das von den 
mexikanischen Küsten auslief. Auf den bloßen Versuch, die 
rötenden Läuse auszuführen, stand Todesstrafe. Ein Fran¬ 
zose, Thierry de Menonville, wollte es dennoch wagen, um 
seinem eben zur Republik gewordenen Vaterland das kost¬ 
bare Färbemittel zu verschaffen. Im Staate Oaxaca (er 
schreibt „Juaxaca") grub er nächtlicherweile etliche der 
besten Zuchtpflanzen aus und verschaffte sich einige Paare 
der Läuse. Diese Beute brachte er glücklich nach Santo 
Domingo, wo sie gedieh und sich vermehrte, so daß er bald 
ein Faß Cochenille nach Paris senden konnte. 

Und nun erlebte er den Höhepunkt seines Lebens. Die 
Gabe wurde dazu verwendet, der Fahne der französischen 
Republik, der Trikolore, die dem Nationalkonvent 1793 
überreicht wurde, das Rot der Freiheit zu geben. Seine 
Tierchen waren es, die das neue Banner salbten! 

Aber ach, auch der Vernichter der Republik schmückte 
sich mit dem Blut der Cochenille: Es mußte dazu dienen, 
den roten Frack des Ersten Konsuls zu färben. Später ver¬ 
knüpfte sich, wenngleich nur anekdotisch, ein mexikani¬ 
scher Kaktus noch einmal mit dem Namen Napoleons. 

Zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts verpflanzte ein 
britischer Kapitän, Sidney Longwood, die großen Kande¬ 
laberkakteen aus Mexiko auf die damals geschichtslose 


407 



Insel Sankt Helena. Ihn hinderte kein spanisches Gesetz 
an diesem Export, denn Zierpflanzen waren für Industrie 
und Handel wertlos. Auf Sankt Helena schossen sie hoch, 
verzweigten sich von den lotrechten Säulen des Stammes in 
vielarmige Leuchter, ganz so, wie sie sich daheim in Me¬ 
xiko verzweigt hätten, nur mit dem Unterschied, daß sie 
auf Sankt Helena nicht blühten. Erst an dem Maienabend, 
an dem Napoleon starb, entzündeten sich Hunderte von 
Trauerleuchtern, und ihre Flammen waren gelbgrüne Blü¬ 
ten mit roten Spitzen. Es war, als hätten Beleuchter, hinter 
den Felsen versteckt, auf diese Stunde gewartet. Ange¬ 
sichts der unvermutet brennenden Ampeln flüsterten die 
vorbeifahrenden Schiffe: „Er ist tot." 


VII. Industrie 

Die Manufakturzeit endete, die industrielle Revolution 
brach aus, das Maschinenzeitalter und die Massenproduk¬ 
tion setzten ein, und mit ihnen stieg der Preis der mexika¬ 
nischen Cochenille. Und gleichzeitig stiegen Ausbeutung, 
Spekulation und Konkurrenzkampf. Alexander von Hum¬ 
boldt berichtet darüber: 

„Auf der Halbinsel Yucatan wurden allein in einer Nacht 
alle Nopale, auf denen die Cochenillen leben, abgeschnit¬ 
ten. Die Indianer behaupten, daß die Regierung diese ge¬ 
waltsame Maßregel darum ergriffen habe, um den Preis 
einer Ware hinaufzutreiben, deren Eigentum man den Be¬ 
wohnern der Mixteca ausschließlich zuwenden wollte; die 
Weißen hingegen versichern, daß die Eingeborenen aus 
Unzufriedenheit mit dem Preis, den die Kaufleute für die 
Cochenille festsetzten, einmütig das Insekt und die Opun¬ 
tien zerstört haben." 

Mit solchen Mitteln der Produktionsbeschränkung be¬ 
gann das neunzehnte Jahrhundert. Ehe es zu Ende ging, 
waren diese Mittel, wenigstens soweit sie die Cochenille 
betrafen, nicht mehr nötig. Denn das Alizarin - aber das 
ist eine eigene Geschichte, und diese eigene Geschichte er¬ 
zählte mir eine Dame, die einen urspanischen Taufnamen 
sowie einen urspanischen Familiennamen trägt und dahin- 


408 



ter einen urdeutschen Vatersnamen. Dadurch geriet das Ge¬ 
spräch auf ihren Großvater. 

Der kam als junger Mann mit Maximilian von Habs¬ 
burg nach Mexiko und schickte seinem daheim gebliebenen 
Freund, dem Berliner Fabrikchemiker Karl Liebermann, 
eine kleine Schachtel mit Cochenille-Läusen, damit er sie 
analysiere. Er konnte sie per Post als Muster ohne Wert 
senden, zehn Centavos Porto, die Zeiten, da Thierry de 
Menonville beim Schmuggel Kopf und Hals riskiert hatte, 
waren längst vorüber. Drüben verfaßte Liebermann eine 
Abhandlung über die Cochenille und schickte sie dem 
Freund in Mexiko mit einer Widmung, dem Dank für das 
Paketchen, das den Anlaß zu der Arbeit gegeben. Bald 
darauf vernahm man, ein Karl Liebermann in Berlin habe 
die künstliche Cochenille erfunden, die synthetische Her¬ 
stellung des Alizarins. 

Bei diesem Punkt äußerte ich zu der Erzählerin, ihr 
Großvater müsse wohl sehr stolz darauf gewesen sein, 
eine solche Erfindung angeregt zu haben. 

Stolz? Sein Leben lang wurde er die Angst nicht los, 
jemand könnte erfahren, daß durch seine Schuld Mexiko 
eine Wirtschaftskatastrophe von unvorstellbarem Ausmaß 
erlitt. 

Der bedeutendste Ausfuhrartikel war plötzlich außer 
Kurs gesetzt. Während Deutschland mit dem Alizarin Mil¬ 
lionen und aber Millionen erntete und die unbeschränkte 
Herrschaft auf dem Farben Weltmarkt errang, verfielen in 
Mexiko die Nopalerias; die Cochenille-Flotte, die den 
Transport nach Europa besorgt hatte, wurde abgewrackt; 
angesehene Exporthäuser bankrottierten. Wie hätte ein 
Mexikaner - und das war der Großvater der Erzählerin 
inzwischen geworden -, wie hätte ein Mexikaner nicht 
entsetzt sein sollen, dieses nationale Unglück herbeigeführt 
oder zumindest beschleunigt zu haben! Noch seine Enkelin 
bat mich, seinen Namen nicht zu nennen. 

Einen von den Erben jenes Krachs, einen Nachkommen 
des größten Exporthauses für Cochenille, habe ich in der 
Stadt Oaxaca als Beamten des Fremdenverkehrsbüros ge¬ 
troffen. Im Verlauf unserer Bekanntschaft erzählte mir 
Senor Corres von seinem Vater, der in England studierte. 


409 



dort seine eigenen Pferde ritt und als Sohn des Cochenille- 
Königs von Mexiko Ansehen genoß. Bis er eines Tages 
nach Hause fahren mußte - im Zwischendeck. 

Senor Corres, durch Herkunft und Amt dazu berufen, 
informiert zu sein, konnte meine Frage, ob sich irgendwo 
der Rest einer Cochenille-Plantage finden ließe, nicht be¬ 
antworten. Dadurch nicht abgeschreckt, suchte ich das Dorf 
Cuilapan de Diaz auf, das einst ein Zentrum der Cochenille- 
Zucht war und heute ein Weberort ist dessen Sarapes man 
nachsagt, sie seien noch immer mit Cochenille gefärbt. 
Aber ich fand in den Werkstätten nur die Originaltiegel 
einer nordamerikanischen Farbenfabrik. 


VIII. Pharmakologie 

Für immer ist die Cochenille aus dem Exportgeschäft 
ausgeschieden, selbst als Heilmittel gegen Fleckfieber und 
Beulenpest kam sie aus der Mode. 

Auf dem internationalen Medikamentenmarkt wird nur 
noch der Peyote-Kaktus gehandelt, die „Mezcal Buttons", 
der Zauberkaktus, über den ich Ihnen ein eigenes Kolleg 
lesen will. Eine überirdische Funktion wird auch manchen 
anderen Kakteen zugeschrieben, auf welche Sie bei unserer 
Exkursion in den Botanischen Garten von Chapultepec der 
Floricultur Sänchez de la Vega aufmerksam machte. 

Die „Cardon", das heißt Distel, genannte Opuntie hängt 
man in den Dörfern über Tür und Fenster auf, um zu ver¬ 
hindern, daß die Dämonen eindringen und den Kindern 
das Blut aussaugen. In den Handtaschen städtischer Jung¬ 
frauen finden Sie oft die leichtgewölbte Spitze des Kaktus 
Lemaire cereus - ein unfehlbares Amulett gegen das Kin¬ 
derkriegen. Das Totem des Jagdgottes Mixcoatl war ein 
topfförmiger, riesiger Igelkaktus, auf den, wie die Kodizes 
zeigen, die Menschenopfer gelegt wurden, damit sich ihr 
verströmendes Blut in die Gottheit ergieße; heute legt 
man in den Küstengegenden diesen Kaktus auf Wunden, 
die, so klaffend sie auch sein mögen, im Nu vernarben. 

Auch in Europa glaubte man an die Heilwirkung der 
Kakteen. Zum Beweis sei eine Stelle aus Friedrich Hebbel 


410 



hier angeführt, obwohl ich sie vielleicht hätte dort erwäh¬ 
nen sollen, wo ich von den literaturgeschichtlichen Bezie¬ 
hungen des Kaktus sprach. In seinen Tagebüchern erzählt 
Hebbel: 

„In Hamburg auf dem Stadtdeich kommt eines Morgens 
zu meinen Wirtsleuten, den alten Zieses, ein Bauernweib 
mit Gemüse. Sie erblickt auf dem Fenstersims eine Pflanze, 
eine Art Kaktus, setzt ihren Korb beiseite und kniet nie¬ 
der. Dann sagt sie: ,Das tu ich jedesmal, sobald ich diesen 
Baum sehe, denn ihm verdank ich's, daß ich wieder gehen 
und stehen kann; ich war gichtbrüchig wie Lazarus, da riet 
man mir, den Saft seiner Blätter auszupressen und zu trin¬ 
ken, und davon wurde ich wieder gesund/ " 


IX. Ethnographie 

Längst leben die Kakteen in der Diaspora, fast alle auf 
allen Kontinenten, jedoch keineswegs allüberall zu der 
Menschen Freude. In Australien zum Beispiel, wo man die 
Wälder verbrennt, um den Schafen Weideland zu schaffen, 
hat sich ein Kaktus eingenistet, der auf deutsch „Feigen- 
distel" und auf englisch „prickly pear" heißt, obzwar er 
weder mit einer Feige noch mit einer Birne nennenswerte 
Ähnlichkeit hat. Kaum einen Schafzüchter habe ich dort 
gesprochen, der diese Pflanze nicht mit australischen Flü¬ 
chen bedacht hätte, weil sie dem Boden das Gras entzieht 
und mit ihren Dornen die Herden verletzt. „Aber, nur Ge¬ 
duld! Schon haben wir einem englischen Entomologen den 
Auftrag gegeben, einen Wurm zu züchten, der den bloody 
Kaktus auffressen wird mit bloody Stumpf und Stiel, mit 
bloody Haut und Haar." 

In Mexiko hat der Kaktus keine solchen meuchelmörde¬ 
rischen Feinde, wenngleich er auch hier nur ein Unkraut 
ist, insofern ihn niemand anbaut, und er auch hier den 
Tieren Harm tut, die ihm zu Leibe rücken. Neben Orchidee 
und Bougainvillea und Rose steht er als Zierpflanze in 
Ehren und ist als Nutzpflanze unentbehrlich. 

Wie sehr sich des Kaktus und des Menschen Leben 
wechselseitig bedingen, können Sie auf dem Land be- 


411 



obachten. Sie stehen vor einer Hütte, einer wie Hundert- 
tausende, armselig mit armseligem Hof. Der Zaun aber ist 
prächtiger und sichernder als das Gitterwerk einer Villa. 
Grün gerippte, meterhohe Orgelkakteen sind aneinander¬ 
geschlossen zu einer Phalanx, durch die kein feindlicher 
Mensch und kein feindliches Tier zu dringen vermag, 
selbst eine Schlange nicht. Wollte jemand hinüberklimmen, 
flugs bekäme er Stacheldrähte zu spüren, die aus der 
Pflanze wachsenden Widerhaken. 

Die Hütte hinter dem Zaun ist ebenfalls dem Kaktus 
entboren, wenn auch nicht dem gleichen, der den Hof um¬ 
schließt. Als Ziegelsteine und als Schindeln sind die flachen 
ovalen Glieder der Opuntia robusta verwendet, die auch 
alles „hölzerne" Material für den Haushalt beisteuert, denn 
sie wird so hart und unverweslich wie Mahagoni. 

Bei isolierten Indiostämmen tut der Kaktus alle Arten 
von Diensten. Im östlichen Chiapas stricken die Frauen 
mit Hilfe langer weißer Kaktusstacheln, und auf den Berg¬ 
hängen bei Guaymas dient ein Kaktusglied als Kamm und 
Bürste zugleich. Weil wir gerade von Haarpflege sprechen, 
möchte ich Sie darauf aufmerksam machen, daß auf allen 
Märkten Opuntien als Haarwaschmittel verkauft werden. 
Sie schützen gegen das Ergrauen, und mag das Gesicht der 
Indiogreisin noch so fahl sein, ihr glattes und in Zöpfe 
geflochtenes Haar glänzt schwarz wie in ihrem ersten Le¬ 
bensjahr. 

Lieblingsspiel mexikanischer Kinder ist der Stierkampf. 
Über Bürgersteig, Fahrbahn oder Spielplatz tobt ein höl¬ 
zernes Gestell auf Rädern, der Stier. Zwei echte Hörner 
sind seine Waffe, aber zwischen ihnen und an den Flanken 
des Steckenstiers sind Kaktusglieder befestigt, in die der 
kleine Picador die hölzernen Lanzen stößt und schließlich 
der kleine Torero sein hölzernes Schwert. 


X. Gastronomie 

Alle Gänge eines Mittagessens können aus Kaktus be¬ 
reitet werden. Sogar das Fleisch wird von einer saftigen 
Scheibe der Opuntie täuschend vertreten, einer gleichen. 


412 



wie man sie als Salat anrichtet. Dieses Menü aus Kaktus 
wird auf einem Herd gekocht, der mit Kaktus geheizt ist. 

Kaktusfrüchte wie Pitaya und Tuna sind das billigste 
Obst man kann es auf allen Wegen pflücken. An Ständen 
auf der Straße und in Konfitürengeschäften kauft man es 
kandiert als Gefrorenes, als Kompott, als Fruchtsaft, als 
Dulce de Bisnaga. 

In diesem Zusammenhang muß ich wohl oder übel einer 
Sache Erwähnung tun, die nicht eben ins Gebiet der Ga¬ 
stronomie gehört jedoch die Unverwüstlichkeit der Kak¬ 
teen deutlicher dartut als alles andere. Auf der Tiburön- 
Insel im Kalifornischen Meerbusen (zum Staat Sonora ge¬ 
hörig) nähren sich die wilden, starken Seri-Indianer fast 
ausschließlich vom Feigenkaktus, Opuntia ficus indica, 
dessen Früchte sie in der Reifezeit heißhungrig in Un¬ 
mengen verschlingen. Mit dieser Hemmungslosigkeit kon¬ 
trastiert die fürsorgliche Maßnahme, die Resultate ihrer 
Verdauung gut aufzuheben. Das rettet sie, wenn die Saison 
des Mangels heranbricht, vor dem Hungertod. Denn dann 
suchen sie aus den inzwischen hart gewordenen Faeces die 
unverdauten Teile heraus, essen, verdauen und bewahren 
sie von neuem, um sie in der nächsten Hungerzeit wieder 
herauszuholen, zu essen und so ad infinitum. 


XL Hydrologie 

Sie wissen, meine Herren, daß ich gegenwärtig ein Lehr¬ 
buch über Mexiko schreibe, und ich habe es mit einer Ab¬ 
handlung über den Mais begonnen. Denn so wie die Kul¬ 
tur Europas mit dem Anbau von Korn und wie die Kultur 
Asiens mit dem Anbau von Reis zur Welt kam, fängt die¬ 
jenige Amerikas mit dem Zeitpunkt an, da der indianische 
Mensch Mais züchtet und zu diesem Behufe seßhaft wird. 

Vorher muß jedoch dieser Mensch dagewesen sein, wenn 
auch nur als Nomade. 

Wie war er ins Land eingedrungen, ohne zu verdursten, 
wer wies ihm die Richtung durch die Wüstenei zum wil¬ 
den Mais, zum künftigen Bauplatz für Hütte und Dorf? 
Niemand anderer als der Kaktus. Er war's, der den Men- 


413 



sehen hereinführte und eine brache Unendlichkeit zum 
blühenden Lande machte, und ich frage mich, ob ich ihn 
nicht doch dem Mais voranstellen sollte. 

Noch heute, meine Herren, können Sie längs der Step¬ 
penwege Kaktusalleen bemerken, sofern Sie ihnen über¬ 
haupt einen Blick schenken. Meist verzichten diese Kak¬ 
teen auf Blätterwerk und Zierat, sie halten sich gerade, 
senkrecht fast, um den Pfeilen der Sonne so wenig Fläche 
als möglich darzubieten. Manche verhüllen sich sogar mit 
einem Haarbüschel, einem verfilzten Schopf zum Schutz 
gegen Sonnenstich und Sonnenbrand. Abgehärtet, geradezu 
gegerbt ist ihre Haut, um keinen durstenden Sonnenstrahl 
hereinzulassen und kein Tröpfchen Wassers zu verschwit¬ 
zen. Ihre Rippen haben eine raffinierte Form des Wider¬ 
stands, die des Wellblechs, so dafj der anstürmende Sa¬ 
mum ihren Körper wohl biegen, aber nicht brechen kann. 
Von ihren Waffen gegen animalische Feinde haben wir be¬ 
reits gesprochen. 

Sie sehen, meine Herren, daß die Kaktusalleen im Step¬ 
pengebiet die ältesten Denkmäler des Landes sind, älter als 
Gräberfunde oder Knochen vorsintflutlicher Ungeheuer. Nie¬ 
mand hat diese Alleen gepflanzt, sie haben die heutigen 
Wege umsäumt, bevor es die Wege gab. Entlang der Kakteen¬ 
zeile liefen die Tiere, entlang dieser Zeile konnten sie nicht 
verdursten, entlang dieser Zeile folgte ihnen der Jäger. 

Der Wanderer aß die erstaunlich saftigen Früchte der 
Wüstenpflanze und rastete, ich verwende hier Goethes 
Worte, an jenen „Oasen, die die pflanzenleeren Wüsten 
so beleben wie die Orchideen den trockenen Stamm der 
Bananenbäume und die ödesten Felsenritzen". 

Wenn Sie, meine Herren, das Steinplateau von Coahuila 
durchwandern, kann Ihnen jeder Peön die ewige Methode 
zeigen, aus dem vegetabilischen Quell einen Trunk zu tun. 
Er gräbt einen Kaktus aus, spannt ihn zwischen zwei 
Steine und bohrt in die Mitte eine Öffnung. Dann zündet 
er die Pflanze an beiden Enden an, das Feuer treibt alle 
Flüssigkeit dem Loch zu, und diese tropft nun in den dar¬ 
unter gehaltenen Flaschenkürbis oder in die hohle Hand. 
Des dergestalt geschöpften Wassers ist nicht viel, und es 
schmeckt auch bitter - aber für einen Verdurstenden! 


414 



XII. Dialektik 


Vielleicht geht einer oder der andere von Ihnen, meine 
Herren, eines Nachmittags vor irgendeinem Provinzstädt¬ 
chen spazieren, wohl um der Liebe willen. Sie achten nicht 
des staubigen und recht gewöhnlichen Gewächses auf den 
Hügelwellen, das weder Ihnen noch sonst jemandem in 
der Nähe einer Stadt wichtig ist. Sie lassen das Unkraut 
links liegen. 

Aber ein paar Stunden später, in der Abenddämmerung, 
kehren Sie den gleichen Weg zurück und werden auf ge¬ 
schreckt aus Ihren Gedanken oder Ihrer Müdigkeit durch 
Wogen leuchtender Strahlen. Plötzlich ist das staubige Un¬ 
kraut zur Blüte aufgeschossen. 

Sie schämen sich Ihrer Überraschung beim Anblick die¬ 
ser Pracht, hätten Sie doch, Schüler der dialektischen Lehre, 
die Entwicklung des Gegensätzlichen erwarten sollen. Sie 
hätten wissen müssen, daß sich im revolutionären Punkt 
der evolutionären Entwicklung aus dem Elendesten der 
Erde die Blume des Schönen entfalten wird. 



DER NIBELUNGENHORT VON MEXIKO 


Diese Dinge sind alle köstlich, und ich hab 
all mein Lebtag nichts gesehen, was mein 
Herz also erfreuet hat. Denn ich hab darin ge¬ 
sehen eine wunderliche Kunst und hab mich 
verwundert ob der subtilen Ingenia der Men¬ 
schen in fremden Landen. Albrecht Dürer 


1. Wie man den Schatz fand 

Es war der 10. November 1519. Drei Tage vorher war 
Ccrtez mit seiner Truppe in der Hauptstadt Tenochtitlän 
eingezogen, und der Aztekenkaiser Moctezuma II., ebenso 
erschreckt wie gastfreundlich, hatte ihnen das Residenz- 
gebäude seines verstorbenen Vaters zugewiesen, das an 
der Stelle des heutigen Monte de Piedad auf dem Zöcalo 
stand. Die Spanier wollten innerhalb des Gebäudes eine 
Kapelle errichten, und Moctezuma stellte ihnen unverzüg¬ 
lich Arbeitsleute zur Verfügung - er besaß gute Gründe, 
Indios statt dieser Fremden in seinem Haus handwerken 
zu sehen. 

Jedoch die Gäste schnüffeln bereits in den Räumen her¬ 
um, und zur Begründung führen sie an: „Weil wir nun 
einmal von solchem Charakter sind, daß wir alles entdek- 
ken und alles wissen wollen, durchforschten wir, während 
wir nach einem würdigen Platz für den allerheiligsten 
Altar Ausschau hielten, alle Wände und Winkel sehr ge¬ 
nau." 

Dabei finden die so forschungsfreudigen und so gottes- 
fürchtigen Blicke das, was sie in Wirklichkeit suchen. In 
einer Wand scheint eine Türe gewesen zu sein, die erst 
vor kurzem zugemauert und mit Lehm und mit brauner 
Farbe unkenntlich gemacht wurde. Skrupellos legen die 
Soldaten eine Bresche ins Mauerwerk und erstarren vor 


416 



einem Leuchten, das stärker ist als das der Mittagssonne. 
Hier ist der aztekische Nibelungenhort aufgespeichert, die 
Privatschatulle Moctezumas, die seines Vaters und der 
verpfändete Staatsschatz der Nachbarrepublik Texcoco. 

Der brave Soldat Bernal Diaz del Castillo, der später die 
Augenzeugengeschichte der Konquista schreiben wird, ruft 
aus: „Die ganze übrige Welt zusammengenommen kann 
nicht so viele Kostbarkeiten besitzen!" 

Cortez wird geholt. Er schließt die Augen, um nicht 
geblendet zu werden, er preßt die Zähne zusammen, um 
nicht zu schreien. Vor ihm liegt die Erfüllung. Vor ihm 
liegt der Lohn für das tolle Wagnis, für die unerträgliche 
Beschwer. Vor ihm liegt der Ablaß für alle Todsünden, 
begangen unterwegs. Vor ihm liegen der Heiligenschein 
für sein Haupt und der Harnisch gegen Neider und Feinde 
am spanischen Hof. Denn vor ihm liegt: die Gunst der hi¬ 
spanischen Majestät. 

Aber Cortez stürzt sich nicht auf den Fund. Im Gegen¬ 
teil, er läßt die Bresche zumauern, befiehlt allen strengstes 
Stillschweigen. 

Beileibe keine moralische Regung leitet ihn bei diesem 
Befehl, die Beweggründe sind ganz anderer Art. Erstens 
könnte er keine Geschenke von Moctezuma verlangen, 
wenn dieser ihn im Besitz des Schatzes wüßte. Zweitens 
fürchtet Cortez die unheimlich bevölkerte Riesenstadt, in 
die er sich ein ge nistet hat - ein Raub des Krön schätz es 
würde das Fanal sein für den allgemeinen Angriff gegen 
die Räuber. 

Erst nachdem Cortez den Kaiser Moctezuma aus dessen 
Palast in den „seinigen" geschleppt hat, erst unter dem 
Schutz einer solchen Geisel fühlt sich der Spanier sicher. 
Nun wird der Tresor wieder geöffnet. 

Trotz der Bewachung stehlen zwei spanische Soldaten 
je einen Goldpokal, angeblich, weil sie kein Trinkgefäß 
besitzen. Die beiden kleinen Diebe sollen exemplarisch 
bestraft werden, Moctezuma interveniert jedoch für sie, 
um zu zeigen, daß niemand anderer als er der Bestohlene 
sei. „Deinen Landsleuten", sagt er zu Cortez, „steht meine 
ganze Schatzkammer zur Verfügung, mit Ausnahme der 
Gegenstände, die den Göttern gehören." 


27 Kisch VII 


417 



Als aber ein Wachposten den gefangenen Moctezuma 
beleidigt lehnt er es ab, sich für die Milderung der von 
Cortez verhängten Prügelstrafe einzusetzen. „Ich würde 
ebenso verfügen, wenn sich in meinem Haus jemand gegen 
Cortez verginge. Freundschaft, Gastlichkeit und Treue sind 
die heiligsten Pflichten." Damit spricht er nicht nur einen 
Vorwurf gegen die Untreue des Cortez aus, sondern auch 
ein ethisches Prinzip. 

Der gefangene Aztekenkaiser wird gezwungen, auf alle 
seine Staatseinnahmen zugunsten des Königs von Spanien 
zu verzichten und ihm den Vasalleneid zu leisten. Freiwil¬ 
lig fügt Moctezuma als Geschenk an die Madrider Maje¬ 
stät den Kronschatz hinzu. (Den hätte er allerdings von 
Cortez nie zurückbekommen.) Bei dieser Schenkung schärft 
er Cortez ein: „Sorge dafür, dafj in euren Annalen gezie¬ 
mend verzeichnet wird, Moctezuma habe dieses Geschenk 
eurem Herrn geschickt." 

Die Kleinodien werden in die Thronhalle geschafft. Noch 
heller als jenseits der Bresche funkeln und blitzen im offe¬ 
nen Saal die Schätze einzeln und der Schatz als Ganzes. 
Drei Hügel werden aufgeschichtet, ein Hügel aus golde¬ 
nen Körnern, ein Hügel aus goldenen Barren, ein Hügel 
aus Objets d'art. 

Einige Beweisstücke für die kunstgewerbliche Meister¬ 
schaft der Indios hatte Cortez schon heimgesandt, bevor 
die Schatzkammer entdeckt war, und unter denen, die sie 
in Europa bestaunt, waren die beiden kunstverständigsten 
Männer des Zeitalters. Albrecht Dürer schreibt aus Brüssel 
seine Begeisterung über die „subtile Ingenia" der Indianer, 
und Benvenuto Cellini bewundert eine Fischskulptur aus 
Mexiko, die König Karl V. dem Papst geschenkt. Der 
Meistergoldschmied kann sich nicht erklären, mit welcher 
Methode der silberne Fischkörper und sein goldenes 
Schuppenwerk gleichzeitig gegossen werden konnten. 

Ihren Kunstreferaten macht nun der Bericht Konkurrenz, 
den Cortez über die aztekischen Kaiserschätze schreibt. 
Noch höher als der Materialwert sei ihr Kunstwert. „So 
wunderbar und unschätzbar sind sie in ihrer Originalität 
und Sonderbarkeit, dafj keiner der uns bisher bekannten 
Fürsten der Welt Objekte von solcher Qualität besitzen 


418 



kann." Übertreiben darf Cortez in diesem Rapport nicht, 
denn er ist an Karl V. gerichtet, der die Schätze bald er¬ 
halten soll. Wehe Cortez, wenn er im Adressaten zu hohe 
Erwartungen erweckte oder gar dessen Enttäuschung! 

Obwohl Moctezuma mit betonter Ausdrücklichkeit die 
Reichtümer seinem neuen Souverän geschenkt hat, liegt 
den Soldaten des spanischen Königs nichts ferner, als auf 
sie zu verzichten. «Laßt uns gleich teilen", rufen die Lands¬ 
knechte in so entschiedenem Ton, daß sich kein Wider¬ 
spruch erhebt. 

Die Spanier verlangen Gewichte; aber siehe da, die In¬ 
dios, Meister in der Herstellung astronomischer Meßinstru¬ 
mente, kennen dieses Krämermittel nicht. So müssen sich 
die weißhäutigen Kreuzritter dazu bequemen, ihre Waagen 
und Gewichte selbst zu fabrizieren. Inzwischen lassen sie 
von den Goldschmieden der Stadt Atzcapotzalco das Gold 
einschmelzen, mit Ausnahme der Geschmeide, deren Kunst¬ 
wert in die Augen springt. Eiserne Stempel werden her¬ 
gestellt, um die Barren mit dem kastilischen Wappen zu 
punzieren; ein Exemplar dieser Prägestöcke hat sich, o 
Ironie, bis heute in Mexiko erhalten. 

Nicht weniger als 162 000 Goldpesos beträgt der Wert 
des Schatzes, was der Historiker William Prescott vor hun¬ 
dert Jahren einem Betrag von etwa sechseinhalb Millionen 
Dollar oder fast anderthalb Millionen Pfund Sterling 
gleichgesetzt hat. Von diesem Reichtum wird zuvörderst 
ein Fünftel für den König von Spanien beiseite gelegt. 
32 400 Goldpesos. Viel Geld! Soviel nennt damals kein 
Potentat in Europa sein eigen - was Karls V. beide Gro߬ 
väter, Ferdinand von Aragonien und der deutsche Kaiser 
Maximilian, hinterließen, reichte nicht aus, um ihre Begräb¬ 
nisse zu bezahlen. 

Bislang hatten die europäischen Monarchen nur in der 
Alchimie die Hoffnung gesehen, ihre Zivilliste aufzubessern 
oder den Staatsbankrott zu vermeiden. Nach dem Bericht 
des Cortez beginnen sie an eine andere Wunderheilung des 
Finanzwesens zu glauben: an exotische Kronschätze. 

Wie sehr der Schatz des Moctezuma die Fürsten der 
Alten Welt zweieinhalb Jahrhunderte lang beschäftigte, 
geht aus einer Randbemerkung Friedrichs II. von Preußen 


419 



hervor. Er schrieb sie am 12. Mai 1773 auf eine Eingabe, 
die eine staatliche Subvention für die Errichtung einer 
Sammetfabrik in Potsdam verlangte: 

„Ich habe kein geldt und wer kann alle Tage Solche fonds 
zu fabriquen geben? Das kann der Moctezuma nicht ein 
mahl.'" 

Die Landsknechte des Cortez sind keine Fürsten mit 
Sorgen ums Budget. Wegwerfend lächeln sie, als von ihrer 
Beute ein Fünftel für ihren König bestimmt wird. Gebt 
dem Kaiser, was des Kaisers ist, der Rest gehört ja uns, 
gehört uns zu gleichen Teilen, genug, um unser Leben lang 
als Caballeros zu leben. 

Ja, Pustekuchen! Cortez beansprucht gleichfalls ein 
Fünftel, und in der Tat hat er im Feldzug mehr geleistet 
als der König. Ein drittes Fünftel wird als Spesenvergü¬ 
tung abgesondert, teils für Cortez selbst, der sein Ver¬ 
mögen in die Kampagne gesteckt hat, teils für seinen Tod¬ 
feind Diego Veläsquez, den Gouverneur von Kuba. Der 
hätte nämlich das Recht zu einer Klage, die dem Beklagten 
Kopf und Kragen kosten kann. Cortez hat ihm die Flotte 
entführt, um den Piratenzug nach Mexiko selbst zu unter¬ 
nehmen, und diese Flotte hinter sich verbrannt, als er ge¬ 
landet war. Auf solche Delikte steht Tod von Henkershand. 
Nur wenn Cortez aus freien Stücken den Schaden ersetzt, 
kann er vielleicht dem Schafott entrinnen. 

Murrend sehen die Soldaten drei Fünftel der Beute da¬ 
vonschwimmen. Als über das vierte Fünftel verfügt wird, 
geht ihr Ärger in Wut über. Es soll zum Teil nach Veracruz 
gehen, wo ein Detachement zurückgeblieben ist, teils soll 
den Offizieren ein Prämium ausgezahlt werden sowie den 
Artilleristen und Arkebusieren. 

Nur das letzte Fünftel bleibt zur Aufteilung an die 
Mannschaft. Das sind hundert Goldpesos pro Mann, in 
der Tat, ein beleidigend niedriges Honorar für die Er¬ 
oberung eines Dorados, für die verfluchte Bekehrung von 
Heiden. 

Manche lehnen den Schandlohn einfach ab, alle toben. 
Sie toben über Ungerechtigkeit, sprechen von Betrug und 
Unterschlagungen, die von Offizieren vor der Punzierung 
verübt worden seien. Diese Beschuldigung macht sich der 


420 



königliche Schatzmeister zu eigen, es kommt zu einem 
Duell und wäre zu weiteren gekommen, wäre Cortez nicht 
dazwischengefahren. Dazwischen fährt er auch in die Re¬ 
bellion der Truppe, kämpft sie nieder mit der Macht seines 
Wortes. 

Wenngleich widerwillig, kehren die Soldaten zum Dienst 
zurück. Suff und Kartenspiel sind heut wilder als je. Im 
Mondlicht verspielen die meisten das Gold, das ihnen im 
Sonnenlicht zugesprochen ward, die Juwelen werden ge¬ 
tauscht, verschachert oder als Liebeslohn hergegeben. Vier 
Fünftel des Schatzes aber schlafen noch im Palast. 


II. Das Gold flüchtet 

Wie rettet man den Schatz, wenn man flüchten muß? 

Denn flüchten muß man. Die Stadt steht in bewaffnetem 
Aufruhr, das Quartier der weißen Eindringlinge ist be¬ 
lagert, der Kaiser Moctezuma wurde, als er sein Volk be¬ 
schwichtigen wollte, von seinem Volk zu Tode gesteinigt. 

Flüchten muß man. Cortez befaßt sich mit den Schätzen. 
Wie rettet man sie? 

Die Kleinodien, aus denen das Fünftel des hispanischen 
Königs besteht, läßt Cortez einschmelzen und übergibt die 
Barren unter genauen Kautelen den spanischen Kron- 
beamten, als ahnte er, daß ihm dereinst wegen des Schatzes 
der Prozeß gemacht werden wird. Ein Protokoll wird auf¬ 
genommen über die Maßnahmen, den Anteil Seiner Maje¬ 
stät auf der bevorstehenden Flucht besonders zu schützen. 
Unter den Soldaten, Tragtieren und Munitionskarren hat 
Cortez eine Auswahl für den Transport des Schatzes ge¬ 
troffen, die Eskorte in die Mitte des Zuges und sich selbst 
zu ihr eingeteilt. 

Die Soldaten, soweit ihnen von der Beute etwas blieb, 
lassen diese durch die Goldschmiede von Atzcapotzalco in 
Halsketten verwandeln. Unermeßliche Teile des Schatzes 
bleiben auf den Fliesen des Palastes. „Nehmt davon, was 
ihr wollt", sagt Cortez zu seinen Leuten, „eines bedenkt je¬ 
doch: Wer am leichtesten reist, reist am sichersten." Die er¬ 
fahrenen Schnapphähne wissen, wie berechtigt diese Worte 

421 



heute sind. Gefahrvoller als alles bisher wird die Flucht 
sein. Nur verhältnismäßig wenig stopfen sie in ihre Ta¬ 
schen. Mit welchem Blick, mit welchen Gedanken mögen 
sie aus der Türe gehn! Noch ein Griff, und sie wären reich. 

Diese Nacht vom 30. Juni zum 1. Juli 1520 läßt sich an 
wie Schauernächte in den Räuberromanen. Regenmassen 
stürzen nieder, die Berge, die das Tal umschließen, spielen 
Fangball mit den Blitzen und den Donnerschlägen. Aber 
wenn's weiter nichts wäre . .. 

Der Heerbann, der unbemerkt aus der Stadt verschwin¬ 
den wollte, fühlt .sich von unheimlichen Gewalten umzin¬ 
gelt. Augen halten Spalier, Zehntausende, vielleicht hun¬ 
derttausend Augen in unsichtbaren Gesichtern. In dieser 
durchlöcherten Finsternis bewegt sich der Abmarsch auf 
dem Dammweg Tlacopan, der heutigen Calle Tacuba. 

Eine tragbare Brücke ist mitgenommen worden, die über 
die Durchstiche gelegt werden soll. Beim ersten, dort, wo 
heute das Hauptpostamt ist, tut sie ihre Pflicht. Als man 
sie jedoch wieder hochheben will, bewegt sie sich nicht. 
Zu tief hat das Gewicht der beladenen Dreierreihen, der 
Geschütze und eines mit Gold gefüllten Munitionswagens 
die Brücke ins Erdreich gedrückt. 

Und während die Marschkolonne stockt, geht spontan 
die Attacke der Indios los, aus den Kanoes unten, von den 
Dächern oben saust das schwarze Lavaglas der Pfeile und 
Lanzen; Steine, wahre Felsstücke, prasseln nieder, ge¬ 
zackte Schwerter hacken in Schädel, braune Hände würgen 
weiße Hälse. 

Flüchte, wer kann. Aber wohin? Ein Rückwärts gibt es 
nicht, ein Seitwärts gibt es nicht, und das Vorwärts ist 
gespalten in tiefe, steile Abgründe, voll vom Wasser des 
Sees. Um ans andere Ufer zu schwimmen, muß man sich 
des Wamses entledigen, das gegen Pfeile, und des Panzers, 
der gegen Lanzen schützt, nachher der Waffen und schlie߬ 
lich - es geht nicht anders - der güldenen Beute. Klir¬ 
rend fallen die Halsketten und Juwelen auf den Damm¬ 
weg, rollen die Böschung hinab, versinken im Wasser. 

Dem Mammon nach stürzen Mensch und Roß, schon tot 
oder ertrinkend; es fallen achthundertsechzig Mann der 
kastilischen Infanterie, mit ihnen die Kugelbüchsen; sechs- 


422 



undvierzig Kavalleristen, mit ihnen die Pferde; zwanzig 
Artilleristen, mit ihnen die Kanonen; viertausend Indios, 
Hilfstruppen aus der Provinz Tlaxcala. Die andern kom¬ 
men durch, unter ihnen Cortez, der auf seinem Roß über 
das Seeufer hinaussprengt. Als er aber Meldung bekommt, 
wie schwer das Zentrum bedroht ist und damit der Schatz, 
da prescht er durch das Chaos zurück, sein Reitersäbel 
schlägt nach rechts und links, die Angreifer werden von 
Panik ergriffen. 

So verläuft die triste Nacht, die Flucht der Spanier aus 
dem Bezirk des Sees, von den Lagunen und den Inseln, 
nach Nordwesten. Mit den Worten des heutigen Stadtplans 
zu sprechen: durch die Calle Tacuba, hinter dem Palacio 
de Bellas Artes und der Alameda, durch die Straßen 
Hidalgo und Puente de Alvarado nach der Vorstadt 
Tacuba. 

Dreimal macht das abziehende Heer in der Bannmeile 
der Hauptstadt halt. Später, nach ein paar Jahren, werden 
die Spanier an diesen drei Rastplätzen Fundamente aus¬ 
heben für Gedenkbauten und um nach dem unterwegs ver¬ 
lorenen Raub zu graben. 

Erste Haltestelle der Flüchtenden ist die heutige Ecke 
der Avenida Hidalgo und Calle Zarco. Die dort erbaute 
Kirche ist dem heiligen Hippolit geweiht, an dessen Na¬ 
menstag, ein Jahr nach der tristen Nacht, die Aztekenhaupt¬ 
stadt wiedererobert wurde. In der „Kapelle der Märtyrer" 
sind die Gebeine der in der Schauernacht gefallenen Wei¬ 
ßen zusammengetragen worden, jeder im Rest seiner Uni¬ 
form und mit dem Rest seiner Habe - daß nichts vom 
Schatz dabei war, läßt sich annehmen. Bei der Einsegnung 
wurden sie als Märtyrer gepriesen, weil sie während der 
Bemühung starben, die heidnischen Azteken für das ewige 
Seelenheil zu retten - daß von der Bemühung der Mär¬ 
tyrer, den Goldschatz der Heiden für sich zu retten, nichts 
erwähnt wurde, läßt sich gleichfalls annehmen. 

Im Vorgarten der Kirche will eine steinerne Skulptur 
glauben machen, die Terrorherrschaft der Weißen sei die 
Strafe für die Sünden der indianischen Systemregierung 
gewesen: Ein Adler trägt in seinen Fängen einen Melde¬ 
gänger durch die Lüfte, der das rote Staatsoberhaupt vor 


423 



der Weiterführung der bisherigen Politik warnen soll. 
Moctezuma habe jedoch die Warnung dorthin geschlagen, 
woher sie kam, nämlich in den Wind. 

An der Stelle, wo sich der Leutnant Pedro de Alvarado 
auf .seiner Lanze über den Kanal geschwungen haben soll, 
machte die Weltgeschichte einen noch größeren Sprung: 
vom Jahre 1520 bis zum Jahre 1870, von Mexiko nach 
Metz. Auf der Südseite der heutigen Calle del Puente de 
Alvarado steht ein Palast, Hochzeitsgeschenk Kaiser Maxi¬ 
milians an den vierundfünfzigjährigen Bräutigam einer 
sechzehnjährigen Braut; er heißt Francois Achille Bazaine 
und ist Marschall von Frankreich; sie, Carmen de Pefia, ist 
das schönste Kreolenkind in Mexiko. Im Palast feiern sie 
die Brautnacht, die Flitterwochen und die Honigmonde, die 
sie auf der Heimreise über den Ozean und in Frankreich 
fortsetzen, bis der Marschall immer knieweicher und len¬ 
denlahmer wird und schließlich im Deutsch-Französischen 
Krieg nicht mehr die Kraft aufbringt, irgendeinen Befehl 
zum Widerstand gegen die Deutschen zu geben. 

Hernän Cortez und seine Truppen hatten sich von ihren 
mexikanischen Beutemädchen nicht unterkriegen lassen, 
auch auf der Flucht verloren sie weder Knochenmark noch 
Gehirnsubstanz. Weiter zogen sie auf dem aztekischen 
Aquädukt, der durch die heutige Straße Ribera de San 
Cosme bis Chapultepec führte, und zerstörten ihn hinter 
sich, so gut es ging. 

In Popotlan ralliierten sie ihre Reste. Popotlan ist heute 
eine Vorstadt der Vorstadt Tacuba und mit dem Autobus 
vom Zöcalo in ungefähr ebensoviel Minuten zu erreichen, 
wie die fliehenden Cortezianer Stunden brauchten. 

An der Endstation steht der einzige Überlebende jener 
unglückseligen Nacht. Aber Zeuge schweigt, als ob er aus 
Holz wäre, und das ist er auch. Sein Eigenname lautet: 
„Arbol de la noche triste" und sein Familienname: „Ufer¬ 
greis", was eine Übersetzung des indianischen Wortes 
Ahuehuete ist. 

Unser Ufergreis war schon ein Greis, als unter seinen 
Ästen der geschlagene Cortez saß und der Sage nach 
weinte. Vielleicht aber hat Cortez gar nicht geweint, son¬ 
dern im Wurzelwerk dieser Sumpf zeder, deren Wieder- 


424 



findung nicht zu verfehlen war, die Schätze vergraben, die 
er bis hierher geschleppt. 

Ein deutsches Mexikobuch verübelt es den Mexikanern, 
daß sie kein Mitgefühl für den höherrassigen Cortez emp¬ 
finden, die Stätte seiner Trauer nicht genug verehren. 
Wörtlich: „Das heutige, entartete Geschlecht der Mexika¬ 
ner, durch Negerblut verdummt, lacht über das allgemein 
Menschliche. Vor wenigen Jahren brannte man die Zeder 
an. Die Nordamerikaner, welchen das Land über kurz 
oder lang zufallen muß, spotten auch. Traurig hängen die 
Zweige des im Herzen getroffenen Baumes herab. Ein 
Gitter und die Polizei muß ihn schützen." (Dr. Joseph Lau¬ 
terer: „Mexiko, das Land der blühenden Agave einst und 
jetzt".) 

Die Legende von Tacuba erzählt, auf dem Grund des 
Weihers von Zancopinca glitzere der Schatz des Moctezuma 
und verlocke den Fischer oder Schiffer, sei er auch kühl 
bis ans Herz hinan, hinabzutauchen. Die Nixe aus dem 
Weiher von Zancopinca ist zum Unterschied von jener in 
Goethes Fischerballade nicht anonym: es ist Malinche, die 
Geliebte des Cortez. Weil sie ihr Volk verriet, darf sie 
nicht bei den Sternengöttem weilen, sondern muß spuken 
auf ewig im trüben Weiher der Hacienda San Cristobal 
Azpetia. Dort lockt sie in den Tod mit dem Gold, das die 
wahre Triebkraft der Eroberungslust, des Bekehrungs¬ 
eifers und der Frömmigkeit ihrer weißen Freunde war. 


III. Das große Suchen 

Die traurige Nacht währte eine volle Woche, und dann 
erwies sich, daß sie nicht die entscheidende und endgültige 
Niederlage der Spanier war. Am Tage nach dem Abzug 
mußten sie, um sich eine Nächtigungsstation zu sichern, 
das indianische Vorwerk auf dem Hügel von Naucalpan 
berennen; ein paar Jahre später wird es eine bärbeißige 
Zitadelle mit Bastionen sein, als Kirche getarnt und zu 
weiterem ideologischem Schutz mit einer Statue versehen, 
„Nuestra Senora de los Remedios de Mejico". Die zu¬ 
gehörige Legende schreibt die Auffindung der Madonna 


425 



einem getauften Kaziken zu, der sie unter einer Agave 
erspäht und unter seinem Mantel nach Hause getragen 
habe, „so glücklich, als trage er den Schatz des Mocte- 
zuma". 

Uneinnehmbar ragt die fromme Zitadelle noch heute 
über einer unendlichen Landschaft, die auch ohne Krieger 
und ohne Schlachten heroisch ist Kirche und Kloster be¬ 
herrschen von karger Höhe aus die kargen Höhen, die sie 
umringen; kein Baum, kein Strauch hindert den Ausblick 
auf die viele Meilen entfernte Hauptstadt. Ganz nahe der 
Kirche überbrückt ein Renaissance-Aquädukt eine tiefe 
Schlucht. Auf beiden Seiten strebt in Spiralen je ein Was¬ 
serturm dem Himmel zu, jedoch auch diese gewundenen 
Rundtürme verstellen das Blick- und Schußfeld nicht, denn 
ihre Basis liegt tief unter der sakralen Bastion. Ringsum 
klaffen künstliche Erdhöhlen, Unterstände, vielleicht von 
den Spaniern ausgehoben, vielleicht aber von den Revolu¬ 
tionären, die dreihundert Jahre später die Spanier ver¬ 
trieben. 

Anno 1520 vermochten die Truppenreste des Cortez 
diese Höhe ein paar Tage und Nächte zu halten. Aber eine 
Woche nach der tristen Nacht ward ihnen im Tal von 
Otumba eine Schlacht aufgezwungen, eine aussichtslose, 
hoffnungslose Verteidigungsschlacht gegen das ganze Auf¬ 
gebot der Azteken- und Otomi-Indianer, zweihunderttau¬ 
send Mann. 

Fern im Hintergrund, in einer offenen goldenen Sänfte 
stehend, befehligte Cihuaca, der Feldherr der Azteken, die 
Schlacht. Die Übermacht und der Mut seiner Armee hatten 
den Ausgang bereits entschieden; zwanzigtausend waren 
gefallen, zumeist Spanier und ihre tlaskalisehen Partner, 
der Rest von Cortez Truppen kämpfte nur weiter, um sich 
den sicheren Tod so teuer wie möglich bezahlen zu lassen 
und um nicht auf dem Opferaltar geschlachtet zu werden. 

Cihuaca war im Begriff, das Banner zu entfalten mit dem 
Emblem „Der Sieg ist errungen", als sich ein Vorfall er¬ 
eignete, den nur Homer singen könnte. Cortez erspähte 
den Indiomarschall und galoppierte im selben Augenblick 
auf ihn zu, mitten durch die ineinander verbissenen Pha¬ 
langen, ohne sich auch nur durch einen Lanzenstoß oder 


426 



einen Schwertstreich aufzuhalten. Erst am Ziel führte er 
den Lanzenstoß, und ihm folgte der Schwertstreich, der das 
braune Haupt vom braunen Rumpf trennte. Cortez war's 
nun, der die Zielfahne schwenkte, die Azteken sahen das 
Siegessignal in der weißen Hand, und davon jagten sie, 
wie von Dämonen gepeitscht. 

Am Rand der Ebene von Otumba liegen Ortschaften, 
welche heute für heiratslustige Ausländer von einiger 
Wichtigkeit sind, weil die Gemeindevorsteher dort für die 
Trauungszeremonie etwas bescheidenere Gebühren und 
weniger Dokumente verlangen als ihre Kollegen in ande¬ 
ren Bezirken. Dafür müssen freilich die Trauzeugen und 
das ungeduldige Brautpaar oft stundenlang warten. 

Die Sehenswürdigkeiten der Gemeindestube sind rasch 
besichtigt, denn sie bestehen nur aus einem Glasschrank 
mit Pistolen und Projektilen aller Altersklassen, konfisziert 
den Verbrechern oder Gegnern der offiziellen Kandidaten 
bei Gouverneurs- und Parlaments wählen; diese Waffen 
harren ihrer einzelnen oder gemeinsamen Auferstehung, 
eine Scheibe des Schranks ist bereits herausgebrochen. 

Draußen der Marktplatz ist wahrhaftig kein Marktplatz 
der Sensationen - eine Pfarrkirche, ein Kloster, das jetzt 
als Schule dient, der unvermeidliche Musikpavillon, ein 
Laden der Konsumgenossenschaft, ein paar private Ge¬ 
schäfte und eine Pulqueria. Vor dem Ort wächst der Pul- 
que und nichts als der; Quadratmeilen von Agaven, eine 
unendliche Ebene, in der Ferne begrenzt von den berühm¬ 
ten Pyramiden Teotihuacans und von den Silberbergen 
Pachucas, die sich, wie alle Berge Mexikos, in schärferer 
Konturierung vom Himmel abheben als diejenigen Euro¬ 
pas; hermelinweiß und königlich streng überblicken die 
Pulque-Haciendas das von ihnen beherrschte weite Schnaps¬ 
reich. 

Aus Langerweile identifiziert der Trauzeuge die Agaven¬ 
plantagen mit dem Schlachtfeld. Nach scharfem Umher¬ 
spähen bemerkt er links die Hügelwelle, wo damals der 
Feldherr der Azteken statt des Sieges den Todesstreich 
empfangen haben könnte. Neugierig geht unser Trauzeuge 
näher, bis er durch das Spalier der Agavenstauden etwas 
Weißliches schimmern sieht. Es stellt sich als ein un- 


427 



geschlacht aus Steinen gefügtes Kreuz heraus, auf dessen 
Sockel, einem vermörtelten Steinhaufen, einmal eine In¬ 
schrift gewesen sein muß. Lesen kann man sie nicht, wenn 
man nicht zufällig einen Blaustift bei sich hat und mit 
diesem die Vertiefungen entlangfährt. Zufällig hat unser 
Trauzeuge einen Blaustift bei sich, und so ergibt sich ihm 
blau auf grau das Folgende: „Acciön librada entre Cuauh- 
temoc y Hernän Cortez. Julio 7 de 1590". 

Mit der anderen Seite seines Blaustifts, die ein Rotstift 
ist, könnte unser Trauzeuge in dieser Inschrift zwei grobe 
Fehler anstreichen: erstens war an jener Aktion Cuauh- 
temoc, der Nachfolger Moctezumas, nicht beteiligt, und 
zweitens wurde die Aktion nicht am 7. Juli 1590, sondern 
am 7. Juli 1520 geliefert. Wahrscheinlich war der Stein¬ 
metz mit der neuen Zeitrechnung noch unvertraut, und 
sein Auftraggeber kannte den Namen des Feldherrn nicht 
der die erste Feldschlacht der Hemisphäre zwischen Rot¬ 
haut und Bleichgesicht, die letzte Feldschlacht zwischen 
Urzeit und Neuzeit verloren hat. 

Unaufhaltsam konnten damals die spanischen Sieger, die 
bislang in die ferne schiff lose Hafenstadt Veracruz zu 
flüchten gedacht hatten, wieder zur Kapitale ziehen. In 
konzentrischen Kreisen wurden drei Monate lang die Häu¬ 
ser demoliert, der Schutt zur Ausfüllung der Kanäle ver¬ 
wendet der Trinkwasserzufluß abgeschnitten und verhin¬ 
dert daß die Belagerten ihre Leichen begruben, auf daß 
die Pest vollende, was Durst und Hunger begonnen. 

Oft schallte von den Dächern den Belagerern ein Zuruf 
ans Ohr. Er bestand aus zwei spanischen Worten: „oro" 
und „agua". Das sollte besagen, das Gold sei ins Wasser 
versenkt worden. In der stereotypen Wiederholung dieser 
Mitteilung lag nicht nur Hohn der Untergehenden. Die 
naiven Indios hofften, der Eindringling würde abziehen, 
wenn er erführe, die Moctezuma-Schätze seien ihm ver¬ 
loren. Daß es noch andere Motive für seine Eroberungslust 
gab, hatten die Indios nicht bemerkt. 

Am 13. August 1521, dem Tag des heiligen Hippolit, 
fiel die Hauptstadt in den Besitz der Europäer. Die rann¬ 
ten zunächst in den Palast, den sie ein Jahr vorher bewohnt 
hatten, rannten hin, um sich wieder des Schatzes zu be- 


428 



mächtigen. Aber nichts mehr war da, keine Spur davon. 
Soviel man auch fragte und forschte, „oro - agua". Das 
Gold war zu Wasser geworden. 

Die Soldateska schäumte vor Wut, denn die Gier, den 
Schatz wiederzusehen, hatte sie beseelt, hatte sie aller Un¬ 
bill des Lebens und aller Gefahr des Todes spotten lassen, 
hatte sie zu jenen verzweifelten Leistungen auf gestachelt, 
welche man in den Chroniken Heldentaten zu nennen 
pflegt Und nun haben sie ihren Lohn dahin. 

Verdachte und Gerüchte schwirrten durch das Lager. 
Sicherlich habe Cortez den Tesoro für sich beiseite ge¬ 
schafft. „Ein Fünftel ist für den Marschall nicht zuwenig / 
Ein zweites Fünftel nehm ich als König / Ein drittes Fünf¬ 
tel braucht mein Weib ..So sangen die Pasquille, so 
Stands am Morgen auf der Kasernenmauer. 

Der Wille des spanischen Kriegsvolks heischte, dag man 
den gefangenen Aztekenkaiser Cuauhtemoc (Cuautemot- 
zin) hochnotpeinlich nach dem Versteck des Schatzes inqui- 
riere. Angeblich mochte Cortez zunächst nichts davon hö¬ 
ren, hatte er doch eben Cuauhtemoc, dem heldenhaftesten 
seiner Gegner, zugeschworen, dag er sich als seinen ewigen 
Freund betrachte. Als aber auch der königliche Oberrech¬ 
nungsführer Alderete, sozusagen als Sprecher des Madri¬ 
der Hofs, gebieterisch ein Verhör nach den Methoden der 
heiligen Hermandad forderte, lieg Cortez seinen „ewigen 
Freund" und mit ihm den Kaziken von Tacuba in die Fol¬ 
terkammer schleppen. 

Dort fachten die Büttel unter den Fügen der beiden Op¬ 
fer Feuer an. Als der Kazike sein Fleisch brennen fühlte, 
begann er zu stöhnen. Cuauhtemoc verwies ihm solch un¬ 
männliches Zeichen der Schmerzen, der gleichen Schmer¬ 
zen, die er selbst litt. „Glaubst du denn, dag ich mich wie 
in einem Dampfbad fühle?" 

Der Kazike, dem Verbrennungstod nahe, gab schlieglich 
an, das Gold sei in seinem Palast vergraben. Man band 
ihn los und brachte ihn nach Hause. Dort jedoch gestand 
er ein, gelogen zu haben in der Hoffnung, den Tod unter¬ 
wegs, also unter weniger entsetzlichen Qualen zu finden. 

Aus Cuauhtemoc kriegte man nichts heraus als die Mit¬ 
teilung, er habe die Schätze des Moctezuma in den See 


429 



werfen lassen, wo sie niemand bergen könne. Die Folter¬ 
knechte mußten ihn unverrichteter Dinge losbinden. 

Bronzefarben wie er war, beherrscht Cuauhtemoc heute 
die Prunkstraße Mexikos, den Paseo de la Reforma. Auf 
einem Relief des Sockels sieht man seine Folterung, sein 
Besieger und „ewiger Freund" steht dabei, das einzige 
Denkmal für Cortez in dem von ihm eroberten Land. Nicht 
einmal ein Grabmal hat er. Während des Unabhängigkeits¬ 
krieges exhumierten die Spanier seine Gebeine aus der 
Kirche von Jesus Nazareno in Mexiko, und seither kennt 
man weder das Versteck des Cortez noch das Grab des 
Schatzes. 

Cortez und nach ihm andere suchten auf dem Grund 
des Texcoco-Sees, suchten in den Brunnen des Kaiserpala¬ 
stes, suchten in den schwimmenden Gärten von Xochimilco, 
suchten mit Wünschelruten und Spürhunden im urwald- 
lichen Park von Chapultepec und suchten auf dem schwar¬ 
zen Lavafeld Pedregal. Aber bis zum heutigen Tag wurde 
nichts gefunden vom Schatz des Moctezuma. 



INTERVIEW MIT DEN PYRAMIDEN 


Im allgemeinen ist es schwer, ja unmöglich, mit Pyra¬ 
miden ins Gespräch zu kommen. Will man sich aber dem 
Beruf eines PyramidenTnterviewers widmen, dann darf 
man sich durch Unmöglichkeiten nicht abschrecken lassen, 
muß man daran denken, daß eine Pyramide immer etwas 
zu sagen hat, einmal, weil in ihrem Innern eben ein Fund 
gemacht, ein andermal, weil sie, die Pyramide, überhaupt 
erst jetzt entdeckt wurde. 

Solche Entdeckungen sind im Konkurrenzland, in Ägyp¬ 
ten, nicht möglich. Übergangslos richtet sich dort die Pyra¬ 
mide aus der Wüste auf, sie kann ihren Kopf nicht in den 
Sand stecken, so nahe der Sand auch liegt Und sie will 
gar nicht. Ist es doch ihre raison d'etre, sich von der un¬ 
endlichen Horizontale zu lösen, sich aus der Fläche in den 
Raum zu heben. 

Anders in Anähuac, dem Hochtal in Mexiko. Hier ward 
nicht auf Sand gebaut, und der Bauplatz war nicht so glatt 
zu haben. Häufig erhoben sich neben den künstlichen 
Hügeln und Bergen natürliche Pyramiden: Hügel oder 
Berge. Diese Nachbarschaft rettete vielen der künstlichen 
Pyramiden das Leben, als die Anti-Pyramiden-Menschen 
nach ihnen fahndeten, um sie zu demolieren. 

Manchenorts taten schon vor Einlangen der europäischen 
Tempelstürmer die Vulkane das Tarnungswerk, die bargen 
die Pyramiden unter Lava. 


I 

So erging es der Rundpyramide Cuicuilco, welche bis 
jetzt das älteste Bauwerk Amerikas ist. Deshalb ist sie die 
erste, die der Interviewer aufsucht auf ihrem weitläufigen, 
unheimlichen Grundstück von Basaltblöcken und Lava¬ 
stücken am Südrand der Stadt Mexiko, dem Pedregal. 

Zunächst fragt er die Pyramide nach ihrem Alter. Sie 


431 



schweigt Der Kustos, der seine Hütte in ihrem Schatten 
gebaut hat, beharrt darauf, daß seine Pyramide achttau¬ 
send Jahre alt sei. Geologen haben die Lavaschichten ge¬ 
prüft in denen sie steckt, und ihre Aussage widerspricht 
nicht der lokalpatriotischen des Kustos. Achttausend Jahre! 

„Wann hat der Ajusco Sie verschüttet?" fragt der Inter¬ 
viewer in die Höhe hinauf. 

„Es war nicht der Ajusco", faucht es von oben herab. 

Der Ajusco ist der Riesenberg an der Peripherie der 
Stadt Mexiko. Sonntagsziel der Alpinisten (die in Latein¬ 
amerika „Andenisten" heißen, weil hier die Anden immer¬ 
hin näher liegen als die Alpen). Des Ajusco feuerspeiendes 
Vorleben scheint sich noch manchmal zu regen, wenigstens 
melden es Bergsteiger den Zeitungen. Bei dieser Gelegen¬ 
heit wird die Vergangenheit des Ajusco hervorgeholt. 
Schon einmal habe er die Hauptstadt vernichtet, die da¬ 
mals südlich von der heutigen stand. Nichts blieb von der 
Stadt als das Geröll, das sie begrub: der Pedregal, und 
derjenige, der die Tat verübte: der Ajusco. 

Und nun erfährt der Interviewer von authentischer Seite: 
„Nicht der Ajusco." 

„Nicht der Ajusco? Wer sonst?" 

„Der Xitli." Haßerfüllt klingt diese Anklage gegen Xitli, 
den harmlos auf der anderen Seite der Landstraße stehen¬ 
den Hügel. Der also ist es, den sein Ebenbild von Men¬ 
schenhand bezichtigt, er habe sie in siedender Lava zu 
ertränken versucht. 

Viel Galle hat der Xitli in seiner Wut gegen den Prome- 
thidenbau von nebenan gespien - nicht weniger als zehn 
Meter dick ist das Lavafeld rings um die Pyramide. Aber 
sie stand auf einem Hügel, der sieben Meter hoch war, 
und so vermochte der Vulkan die Pyramide kaum bis zur 
Kniehöhe zu verschütten. 

Vielleicht hätten die Einwohner ihren Tempel von die¬ 
ser Fußfessel lösen können - wenn es noch Einwohner 
gegeben hätte. Es gab sie nicht mehr. Sie lagen unter der 
zehn Meter dicken Grabplatte. Wohl waren manche zur 
steinernen Mutter geflüchtet, hatten versucht, ihren Leib 
emporzuklimmen, aber tödlich drangen der Hauch des 
Schwefels und der Qualm des schmelzenden Gesteins hoch 


432 



über die Kegelspitze hinaus. Hätte jemand da oben das 
Ende des Feuerregens überlebt, so wäre er nachher ver¬ 
hungert und verdurstet, denn durch das schäumende Lava¬ 
meer konnte kein Helfer nahen. 

Ehe die Wellenringe der Lava erkalteten und zu den 
schwarzen konzentrischen Kreisen wurden, auf denen man 
sich heute bewegt, vergingen Jahrhunderte, vielleicht Jahr¬ 
tausende. Wie viele? Die Pyramide weiß es, aber nachdem 
sie die Beschuldigung ausgestoßen, daß der Xitli ihr Mör¬ 
der war, hüllt sie sich wieder in Schweigen. 


II 

Des Pyramiden-Interviewers nächstes Ziel ist Teotihua- 
can, denn dieses rangiert der Anciennität nach unmittelbar 
hinter Cuicuilco, obwohl der Altersunterschied viele hun¬ 
dert Jahre beträgt. Teotihuacan hat vom Jahre 250 nach 
Christi bis 750 als religiöses Zentrum bestanden, wie durch 
Korrelation des Maya-Kalenders mit dem des Abendlandes 
festgestellt wurde. Heute ist Teotihuacan die Attraktion 
für den Fremdenverkehr, und wohl deshalb findet der 
Interviewer hier eine weltmännische, freundliche Auf¬ 
nahme. 

Die Sonnenpyramide, eine hochgewachsene Erscheinung, 
fragt nach seinem Begehr, wenngleich sie hinzufügt, allzu 
große Enthüllungen habe sie nicht zu machen, weil ihr die 
Archäologen schon alle Geheimnisse entlockt haben. 

„... oder fast alle", verbessert sie sich. „Immer wieder 
finden sie neue Dinge, oftmals solche, die ich selbst schon 
längst vergessen hatte. Vor ein paar Wochen legte man 
hier Fresken bloß mit Hunderten realistisch gemalter Fi¬ 
guren aus der Welt Tlalocs. Sie müssen wissen, daß Tlaloc 
keineswegs nur Regenmacher, sondern auch der Herr allen 
Wassers war. Ihm unterstanden die Ozeane und die Wol¬ 
ken, die Wassersucht und die Ertrinkungsgefahr, der Durst 
und der Schweiß, die Flüsse und die Brunnen, die Kanäle 
und die Aquädukte, der Tau und das Gewitter, die Fische 
und die Muscheln, die Boote und die Schwimmer, die Was¬ 
serpflanzen und die Wasservögel. 


28 Kisch VII 


433 



Wer unter seinem Zeichen starb, starb unter gutem Zei¬ 
chen, denn Tlaloc regierte ein eigenes Paradies, den lustig¬ 
sten Garten Eden, den Sie sich vorstellen können. Keine 
pausbackigen Engel, keine geflügelten Seelen mit gefalte¬ 
ten Händen, kein Posaunengeblase und Harfengeklimper 
- nein, ein richtiges Lausbubenparadies. Da packen zum 
Beispiel vier Männer einen fünften bei den Gliedmafien 
und werfen ihn in die Luft; haben Sie schon erlebt, dafi 
Dahingeschiedene sich so unseriös benehmen? Haupt¬ 
beschäftigung der Entschlafenen ist es, einen Ballschläger 
in der Hand, sich lachend dem Spiel hinzugeben. Wenn 
einer zu Boden fällt, lacht er, wenn einer duscht oder ins 
Wasser hopst, lacht er erst recht, und die Lieder, die ge¬ 
sungen werden, müssen übermütig sein, nach dem Gau¬ 
dium der Zuhörer zu schliefien. 

Nur einen werden Sie in diesem Totenreich nicht lachen 
sehen, und der ist der Komischste von allen. Mit einem 
Totenzweig in der Hand tritt er über die Schwelle, direkt 
von seiner Beerdigung kommend und noch schluchzend 
über seinen Tod. Schauen Sie sich die Fresken an. Sie wer¬ 
den sie Ihr Lebtag nicht vergessen, auch wenn Sie so alt 
werden sollten wie ich." 

Bei diesen Worten macht sie Anstalten, sich zu verab¬ 
schieden oder, besser gesagt, den Interviewer zu verab¬ 
schieden, denn eine Pyramide, selbst eine sprechende, kann 
ihre Basis niemals verlassen. Der Interviewer aber möchte 
gerne etwas über sie selbst hören. Er nimmt den Schlußsatz 
von ihrem hohen Alter als Stichwort, um sie nach ihrem 
Leben zu fragen. 

„Sie werden es paradox finden", antwortet sie, „wenn ich 
Ihnen sage, dafi eine Pyramide oder eigentlich ein Pyra¬ 
midenstumpf derjenige Körper ist, der am wenigsten von 
sich sieht. Seit meinen ersten Lebensjahren habe ich meine 
schiefe Figur verflucht und mir gewünscht, prismatisch zu 
sein, zum Beispiel ein Turm. Was ich über mich weifi, weiß 
ich zumeist nur vom Hörensagen. Auf meinem Kopf soll 
ein Standbild der Sonne gestrahlt haben, mit einem unge¬ 
heuren Herzen aus purem Gold. Ich kann das weder be¬ 
stätigen noch dementieren. Große Porphyrmassen wurden 
zwar an mir emporgezogen, aber was mit ihnen auf der 


434 



Plattform geschah, davon sah ich nichts. Oberhalb mei¬ 
nes Gipfels beginnt das Reich der Luft - ein fremdes 
Ressort. 

Allerdings habe ich lange genug die Vorgänge auf mei¬ 
nem Gegenüber, der Mondpyramide, beobachten können. 
Auf mir wird es wohl im Gold des Sonnenlichts nicht viel 
anders zugegangen sein wie drüben im Blau des Mond¬ 
scheins. Menschenopfer, geschmückt mit Blumen, stiegen 
hinan, entherzt und dennoch in edler Streckung stürzten 
sie herab. Heutzutage sind es nur Touristen, die rasch und 
neugierig unsere Treppen hinaufgehen. Auf dem Rückweg 
aber, wenn das Abwärts zum Vorwärts wird, packt die 
Besucher der Schwindel. Noch aufgeregt von den blut¬ 
rünstigen Schilderungen des Fremdenführers, ist ihnen 
zumute, als würde ihnen selbst das Herz aus dem Leib 
gerissen und ihre irdische Hülle rolle in makabren Purzel¬ 
bäumen die Stufen hinunter. Aber schreiben Sie diese Be¬ 
merkung nicht auf, sie könnte unserem Fremdenverkehr 
schaden. Es gibt so viel anderes über uns zu schreiben. 
Wir waren die heilige Stadt, in der die Toten zu Göttern 
wurden, wie der Name Teotihuacan besagt. (Das Wort 
,teo' bedeutet ,Gott', seltsamerweise wie im Griechischen.) 
Hunderttausende wallfahrteten hierher, es gab Opferfeste, 
Tempel und Paläste von unvorstellbaren Ausmaßen und 
einer Schönheit, die Sie noch im Trümmerwerk erkennen 
können. Aber das ist ja allgemein bekannt, viel ist 
darüber geschrieben worden/ 


III 

Nicht allgemein bekannt, nicht viel geschrieben worden 
ist über die Pyramide von Tula im Staat Hidalgo. Die 
könnte der Interviewer, zumal wenn er ein Prager ist, die 
„Alt-Neu-Pyramide" nennen. Der Sage nach ward die Pra¬ 
ger Synagoge fertig aus der Erde gescharrt. Nachweislich 
und erst vor vier Jahren geschah solches der Pyramide von 
Tula, und sie tritt dem Interviewer mit der ganzen Naivi¬ 
tät einer Novizin entgegen. 

-»Ich", beginnt sie, „ich war das Heiligtum der Stadt Tula, 


435 



des Staates Tollan und der toltekischen Nation - ich 
glaube, nach eurer Zeitrechnung muß das von 648 bis zum 
elften Jahrhundert gewesen sein. Ich war sehr gut gebaut 
man betete mich an, und auf meinem Leib wurden täglich 
Opfer dargebracht. Meine Tolteken waren gute und beson¬ 
ders tüchtige Leute, Architekten, Mechaniker und Astrono¬ 
men, die den Priestern halfen, von meiner Höhe herab 
kommende Dinge zu verkünden. Nur leider gossen sich die 
Tolteken zuviel Pulque hinter die Binde. 

Um das Jahr 1000 eurer Zeitrechnung verließen sie mich 
und zogen nach Yucatan. Dort hatte man die Spuren ihrer 
Kunstfertigkeit inmitten der Maya-Bauten schon gefunden, 
als man meine Existenz noch bestritt/ 

Die Pyramide beklagt sich über die Zeit ihrer Verlas¬ 
senheit: „Ein anderes Volk kam hier an in unserer ver¬ 
ödeten Stadt Das muß so um 1170 herum gewesen sein. 
Sie nannten sich Chichimeken, ,die aus dem Hundeland', 
und richtige Hundeländler waren sie auch, Barbaren. Für 
mich hatten sie überhaupt kein Auge. Was nicht seit dem 
Abzug des Toltekenvolkes von selbst verfallen war, das 
zerschlugen diese Hundsfötter und verwüsteten die Ge¬ 
gend so, daß von mir keine Spur übrigblieb." 

Hier irrt die Pyramide. Es waren Spuren übriggeblie¬ 
ben in den Kodizes, in den Chroniken und in den Über¬ 
lieferungen. Ihnen sind die Gelehrten des sechzehnten 
Jahrhunderts nachgegangen. Neben anderen Historikern, 
welche die vorspanische Ära erforschten, schrieb der ge¬ 
taufte Indioprinz Alva Ixtli-Xochitl über Tula, das Hof¬ 
leben, die Regierung, das Volk, die Straßen und die Ge¬ 
werbe. Und das wurde sein wissenschaftliches Verhäng¬ 
nis. 

Denn - so entschied die Gelehrtenrepublik im nächsten 
Jahrhundert - es gab kein Tula, hatte nie eines gegeben, 
konnte nie eines gegeben haben. War es doch nirgends ge¬ 
funden worden, soviel man auch gesucht hatte und so viele 
Siedlungen ungesucht aus der mexikanischen Erde stiegen. 
Immer mehr festigte sich die Ansicht, Tula wäre nur ein 
Sagenort wie die Ultima Thule des Vergil oder wie der 
Sonnenstaat des Utopisten Campanella, weil das Wort Tula 
gleichfalls Sonnenstaat bedeutet. Manche Archäologen be- 


436 



haupteten, Tula sei identisch mit Teotihuacan, das trotz 
seiner majestätischen Pracht und Große in keinem Kodex 
erwähnt war. Andere hielten Tula für ein Synonym von 
Cholula, wiedere andere glaubten, die Toltekenstadt sei 
das heutige Dorf Tule, nahe der berühmten Pyramide von 
Mitla. 

Jener Historiker Alva Ixtli-Xochitl wurde aus dem Pan¬ 
theon der Gelehrsamkeit ins Getto der Dichter verwiesen; 
man warf ihm vor, er nehme aus nationaler Verblendung 
die Sage von Tula so wörtlich wie europäische Historiker 
die Sage von Troja, welche doch nur der Phantasie Homers 
entsprungen sei. Dieser Vergleich verstummte erst mit der 
Ausgrabung Trojas durch Schliemann. Aber die Vernei¬ 
nung von Tula verstummte nicht einmal, als 1885 beim 
Städtchen Tula de Allende im Staat Hidalgo eine Pyramide 
ausgegraben oder, richtiger, angegraben wurde. 

Der Mann, der diese Angrabung unternommen hatte, 
war allerdings in Mexiko unbeliebt und verdächtig. Er 
hieß Desire Charnay und hatte sich vor der französischen 
Intervention mit dunklen Aufträgen Napoleons III. in Me¬ 
xiko herumgetrieben; zwanzig Jahre später kehrte er nach 
Mexiko zurück, um auf Kosten des frankoamerikanischen 
Millionärs Lorillard Ausgrabungen zu machen. Seinem 
Geldgeber zu Ehren taufte er eine Ruinenstätte im Gebiet 
der Lacandonen-Indios „Lorillard" - obwohl dieser Ort 
längst bekannt und „Yachtli" benannt war. Bei den Gra¬ 
bungen in Tula de Allende, wo er wahrscheinlich die Auf¬ 
findung von Goldschätzen im Auge hatte, ging Charnay 
laienhaft und rücksichtslos vor, mehr beschädigend als 
findend. Seine Unternehmung, die er in die Wege leitete, 
ohne die mexikanischen Gelehrten zu befragen, mag diese 
in ihrer Ablehnung der Existenz von Tula noch bestärkt 
haben. 

Erst 1940 traten mexikanische Altertumsforscher neuer¬ 
dings mit der Theorie auf, die Hauptstadt Tula habe es 
gegeben und sie sei mit dem Städtchen Tula de Allende 
im Staat Hidalgo identisch. In der Sociedad de Antropolo- 
gia kam es zu heftigen Zusammenstößen, von denen die 
Öffentlichkeit erfuhr. Nun bewilligte die Regierung Geld 
für Ausgrabungen bei jenem Tula, in das der Interviewer 


437 



mit der Eisenbahn aus der Hauptstadt fährt, anderthalb 
Stunden, wenn man dem Fahrplan glauben will. 

Er geht durch Straßen, über den Markt und in die Kir¬ 
che. Obwohl er seine Augen in einen Röntgenapparat zu 
verwandeln versucht und obwohl er mehr weiß, als Be¬ 
wohner und Besucher Tulas bis zum Jahre 1940 gewußt 
hatten, vermag er in diesem Städtchen von zweitausend 
Einwohnern nichts anderes zu sehen als ein Städtchen von 
zweitausend Einwohnern. Weder die Anlage des Ortes 
noch die behauenen Steine und die Figuren aus der Um¬ 
gebung hätten genügen können, in diesem Tula jenes Tula 
zu vermuten. Die archäologische Zone liegt abseits von 
jedem Wege, fern von jedem bewohnten Haus. 

Von Dorfbuben begleitet, steigt der Interviewer hinter 
dem Ausgang des Städtchens hoch, zunächst entlang klei¬ 
ner Maguey-Felder, dann über brüchige Stollen mit Kak¬ 
teen, und schließlich gibt es nicht einmal mehr das. Un¬ 
vermutet steht er vor einem überraschend gegliederten 
hohen Pyramidenbau, der vor einer Sekunde nicht sicht¬ 
bar war. Eine zweite Pyramide nebenan sieht der Inter¬ 
viewer auch jetzt noch nicht, oder vielmehr, er schenkt ihr, 
da er sie für einen gewöhnlichen bebuschten Hügel hält, 
keine Beachtung. 

Die nicht ausgegrabene Pyramide war der Sonne ge¬ 
weiht, die andere, die sich frei erhebende, ist die der 
Mondgötter. Sie allein rechtfertigt die Grabungen, sie 
allein genügt, den Jahrhunderte währenden Gelehrten¬ 
streit zu entscheiden. Mit ihr zugleich wurde aber auch 
eine Reihe anderer Schätze gehoben, welche die Welt in 
Staunen versetzt hätten, wenn die Welt nicht gerade in 
diesen vier Jahren damit beschäftigt gewesen wäre, aus¬ 
gerottet zu werden oder sich gegen die Ausrottung zu 
wehren. 

In weitem Bogen sind die steinernen Schätze vor der 
Pyramide aufgestellt. Dem Interviewer, der in europäischen 
und amerikanischen Gedankengängen befangen ist, huscht 
die Frage durch den Kopf, ob diese Skulpturen nicht ge¬ 
fälscht seien, zum Beispiel die figuralen Basreliefs. Sie sind 
so verdächtig lückenlos. Oder die Mäander. Wie auffal¬ 
lend klar und scharf sie sind! Die fast fünf Meter hohen 


438 



weiblichen Karyatiden, die sogenannten Atlanten. Ihre 
Gesichter, Körper und sogar ihre Gewänder sehen aus, als 
hätte sie ein Bildhauer von heute nach ägyptischen Model- 
len gemeißelt. Die Indianer auf den Monolithen tragen 
ihren Federschmuck ganz anders als auf anderen Reliefs. 

Schnell verscheucht der Interviewer den Verdacht. Fäl¬ 
schungen? Wer sollte hier fälschen und warum? All diese 
Wunderwerke stehen unbewacht auf entlegenem Hügel. 
Ungestört könnte das Ganze auf Lastautos geladen und 
weggeführt werden. Wer sollte ein Stadion fälschen mit 
steinernen Sitzreihen, wer zwei enorme Pyramiden auf¬ 
bauen und eingraben, um sie wieder auszugraben? 

Die Pyramide macht den Interviewer zuerst auf ihren 
Fries aufmerksam. „Haben Sie die Jaguare genau angese¬ 
hen, die Schmetterlinge, die Totenköpfe im Schlangen¬ 
rachen? Zu meiner Zeit war das das Modernste vom Mo¬ 
dernen. Heutzutage wird es nicht mehr getragen, man baut 
ja gar keine Pyramiden mehr. Haben Sie auch andere Py¬ 
ramiden besucht? Sagen Sie aufrichtig, welche ist am besten 
gebaut? ... Ach, Sie schmeicheln mir, heute bin ich nur eine 
Ruine. Mit dieser Wunde, dem Blinddarmschnitt eines 
Pfuschers. Er hat in mich hineingehackt, weil er in meinem 
Bauch eine goldene Glocke vermutete." 

Während Pyramide und Interviewer miteinander spre¬ 
chen, beugt sich von der Plattform ein scharfes Indio¬ 
gesicht lauschend herab. Ist Alva Ixtli-Xochitl gleichzeitig 
mit der Pyramide aus der Erde gestiegen, um sich nach 
vierhundertjähriger Verbannung und Verdammung seine 
wissenschaftliche Ehre wiederzuholen? 


IV 

Der Interviewer soll nunmehr nach Xochicalco. Er ist 
von der Hauptstadt aus achtzig Kilometer nordwärts ge¬ 
fahren, um nach Tula zu kommen, und jetzt soll er über 
die Hauptstadt hinaus weitere achtzig Kilometer nach Sü¬ 
den. Gibt es denn keine näheren Pyramiden? 

Doch. Und zwei von ihnen, die von Cholula und die 
Schlangenpyramide, sind sogar die nächst wichtigen. Aber 


439 



ein Pyramiden-Interviewer muß nach der Chronologie rei¬ 
sen. 

Für die präcortezianische Ära gibt es kaum Jahreszahlen, 
keine Begriffe wie Steinzeit klassisches Altertum, Mittel- 
alter, Renaissance oder dergleichen; Geschichte und Kul¬ 
turgeschichte werden nur nach den Fundstellen eingeteilt 
und benannt. Das einzige, was mehr oder minder feststeht, 
ist die Reihenfolge der Kulturen innerhalb einer Zone, 
und so kann man in Mexiko eine Rundreise durch die 
Zeitalter machen, aus Urgestern nach Heute. Diese Strecke 
fährt der Pyramiden-Interviewer. Seinen Lesern soll es 
nicht so ergehen wie den Touristen in Rom, die sich wun¬ 
dern, daß das Kolosseum verfallener ist als die Peters¬ 
kirche, welche sie doch vorher gesehen haben. 

Nach Tula kommt Xochicalco, denn die beiden Pyrami¬ 
den sind etwa gleichaltrig. Die von Xochicalco erklärt dem 
Interviewer, daß sie ursprünglich nur in stereometrischem, 
nicht aber in religiösem Sinn eine Pyramide war, aus rein 
strategischen Gründen über die Landschaft gesetzt, als 
Zitadelle, als Schanzwerk gegen den Feind. 

Ungeachtet dieses Zweckes gibt es auf dem Mittelplateau 
Mexikos keine andere so reich skulptierte Pyramide. Die 
Ornamente und der Fries sind nicht stilisiert, so wild zün¬ 
geln Schlangen und Flammen auf einer steinernen Staffelei 
wie das, was sie vorstellen: die brennende Lava, die einst 
von feuerspeienden Götterbergen auf den Erdenmenschen 
herniedersprang. 

„Mich hat ein Deutscher berühmt gemacht", erzählt die 
Pyramide, „der Professor Eduard Seler aus Berlin, und ich 
habe ihn berühmt gemacht. Er war eigentlich Sprachfor¬ 
scher und nur nach Mexiko gekommen, um die Dialekte 
der Huasteca zu studieren. Mich lernte er zufällig kennen, 
weil er aus Höflichkeit die Einladung eines mexikanischen 
Archäologen an nahm, der eine Exkursion hierher machte. 
Als Seler über mich schrieb, glaubte man ihm zuerst nicht 
einmal die Illustrationen, Nachher, am Ende des vorigen 
Jahrhunderts, setzte eine Völkerwanderung zu mir ein. 
Jetzt ist es ruhiger um mich geworden, obwohl sich die 
Stadt Cuemavaca da unten zur meistbesuchten Sommer¬ 
frische entwickelt hat." 


440 



V 


Die Schlangenpyramide von Tenayuca, am Nordwest¬ 
rand der Hauptstadt, spricht im Pluralis majestatis, was 
den Interviewer wundert. 

„Sie wollen wissen, was unsere Besonderheit ist?" sagt 
sie. „Obwohl der Zug der Konquistadoren an uns vorbei¬ 
kam und uns genau sah, obwohl der Soldat Bernal Diaz 
uns in seinem Buch erwähnt, hat man uns nicht wieder¬ 
gefunden. Vierhundert Jahre lang haben zuerst die Zeloten 
und dann die Forscher vergeblich nach uns gesucht, die 
wir doch fast in der Hauptstadt standen. Erst 1925 wurden 
wir entdeckt." 

Der Interviewer fragt, wieso man sie nicht früher fand. 

„Nichts ist erklärbar, was die Götter tun. Sie haben der 
Natur befohlen, unserer Wachmannschaft eine Deckung zu 
geben. Wir hatten früher achthundert Mann ..." 

Jetzt sind es, wie der Interviewer gezählt hat, hundert¬ 
achtunddreißig, noch immer ein dichter Kordon um die 
Pyramide, hundertachtunddreißig stämmige Wachposten 
aus dem Gezücht granitner Klapperschlangen. 

„Nach der Götterdämmerung schoben sie Wache genau¬ 
so steinern stumm wie vorher. Keinerlei Aufmerksamkeit 
sollte auf uns gelenkt werden bis zu dem Tage, der uns 
unserem Lebenszweck wiedergeben würde." 

Der Interviewer fragt, was denn dieser Lebenszweck der 
Pyramide gewesen sei. 

„Wir sind nicht eine Pyramide, wenn wir auch von außen 
so aussehen. Wir sind unser acht. Je zweiundfünfzig Jahre 
lang diente jede von uns dem Zweck, dem alle Pyramiden 
dienen: Speere werfen und die Götter ehren. Von unserer 
Höhe herab wurden die Speere gegen den Feind geworfen. 
Dergestalt waren unsere Podeste angeordnet, daß man 
selbst einen nahen, einen emporklimmenden Feind treffen 
konnte, ohne die Freunde in unseren anderen Stockwerken 
zu verletzen. Und die Götter zu ehren war tägliche Funk¬ 
tion unseres Altars. 

Trat aber eine von uns in ihr zweiundfünfzigstes Le¬ 
bensjahr ein, dann wurde ihr Daseinszweck ein anderer, 
ein weit wichtigerer. Die Welt dauerte genau zweiundfünf- 


441 



zig Jahre - es sei denn, daß die Götter ihr eine Verlän¬ 
gerung gewährten. Niemand auf Erden wußte, ob diese 
Gnadenfrist bewilligt werden würde, erst in der letzten 
Stunde des letzten Jahres sollte vom Schlangenaltar auf 
unserem Gipfel das Zeichen erfolgen. Rings um uns lagerte 
Finsternis, denn überall in der Welt waren die Lichter aus¬ 
gelöscht worden. Atemlose Spannung herrschte in der 
Menge, wenn die Priester Steine aneinanderschlugen. Wa¬ 
ren die Götter gnädig, so entstand Feuer. Ein ungeheurer 
Jubel begrüßte es: die Welt wird weiterbestehen! Zum 
Dank wurde über und um die alte Pyramide des alten 
Zeitalters eine neue des neuen gebaut. Somit hat unsere 
Bauzeit insgesamt achtmal zweiundfünfzig Jahre gedauert, 
nach euren Begriffen vom zwölften bis zum sechzehnten 
Jahrhundert/ 


VI 

Mit einer Kerze in der Hand geht der Pyramiden-Inter- 
viewer mitten durch den Leib der Pyramide von Cholula. 
Fünf Kilometer Gänge haben die Archäologen freigelegt, 
enge Gänge, die sich kreuzen und unregelmäßig verzwei¬ 
gen, in die Irre führen wie das Labyrinth von weiland Mi¬ 
notaurus. 

Auch Cholula bildet ein Konglomerat von Pyramiden. 
Aber was in Tenayuca respektvolle Hinzufügungen wa¬ 
ren, sind in Cholula feindselige Akte gewesen. Jeder 
Volksstamm, der Cholula überwältigte, setzte der besieg¬ 
ten Pyramide eine neue auf den Kopf. Und als wäre das 
nicht genug, wurden auch die Innenräume mit Steinen aus¬ 
gefüllt, die Altäre und Statuen zerstört, die Fresken unter 
einer Lehmschicht begraben und sogar das System der 
Korridore unkenntlich gemacht. 

Der letzte und gründlichste Feind, der auf das Sammel¬ 
surium der Tempel seinen eigenen stülpte, war die Kirche. 
Stolz erhebt sich das Santuario de Nuestra Senora de los 
Remedios dort, wo einst die oberste Plattform der obersten 
Pyramide war. Niemand würde vermuten, daß dieser Dom¬ 
hügel Menschenwerk sei, so sehr hat die Natur die Pyra¬ 
midenflächen mit hellem Grün überwuchert und verwischt. 


442 



Von außen gibt es die Pyramide von Cholula nicht mehr, 
die einst die mächtigste der Welt war, fast doppelt so 
breit wie die von Cheops. Von innen jedoch gibt es sie, 
denn eben ist der Pyramiden-Interviewer darinnen, schrei¬ 
tet durch die freigelegten Gänge und längs der Fresken. 

Das Licht in seiner Hand huscht über Heuschrecke und 
Totenkopf, Totenkopf und Heuschrecke, und ängstlich 
merkt der Interviewer, wie die Kerze zusammenschrumpft, 
zum Rückweg kaum mehr ausreichen wird. Aber seine 
Neugierde siegt über die Angst, dereinst hier unten als 
Skelett aufgefunden zu werden. Er tritt in eine Kammer 
ein, in deren Mitte ein großer Würfel aus Lehm steht. Da 
er sein Licht kreisen läßt, sieht er einen hochgewachsenen 
Mann mit bleichem Antlitz und langem weißem Bart vor 
sich. 

„Erschrecken Sie nicht", sagt der Fremde, „ich werde Sie 
zurückgeleiten. Dieser Würfel war früher ein Altar. Man 
opferte hier Blumen, Heuschrecken und Schmetterlinge. 
Menschenopfer galten als Frevel." 

„Wohnen Sie hier?" stottert der Interviewer, nur um 
irgend etwas zu stottern. 

„Ich lebe schon sehr lange hier", antwortet jener. „Eine 
Zeitlang war ich fort, bin aber wieder zurückgekehrt/' 

„Weshalb sind Sie weggezogen, wenn man fragen darf?" 

„Man muß fragen, wenn man den Weg der Weisen finden 
will. Ich war ein Priester in Tula und lehrte meine Gläu¬ 
bigen den Anbau von Mais und Obst, die Künste der Töp¬ 
ferei, des Korbflechtens und des Webens. Meine Kollegen 
mochten das nicht leiden; die Alten eiferten wider mich, 
weil die von mir gelehrten Künste unkriegerisch und wei¬ 
bisch seien, die Neuen nannten alle Opferungen Blasphe¬ 
mie. „Statt Menschenfleisch bringt er uns Schmetterlinge", 
riefen die Priester der Götter, „Statt Geld bringt er uns 
Heuschrecken", die Priester der Kirche." 

„Hat man Ihnen etwas zuleide getan?" 

„Ich zog mich nach Cholula zurück und blieb hier. Zwan¬ 
zig Jahre später wanderte ich zum Meer, von Schülern 
und Freunden begleitet. In Veracruz bestieg ich ein Schiff 
und fuhr davon. Leider mit dem Versprechen, wiederzu¬ 
kehren." 


443 



VII 


Der Pyramiden-Interviewer war einmal ein Kind und 
hatte damals ein Buch mit vielen Bildern, das Orbis Pictus 
hie#. Darin war, wie dem Pyramiden-Interviewer heute 
einfällt, ein Bild des Göttertempels von Mexiko, das er 
mit Buntstiften ausfärbte. Sehr viele Indianer liefen in dem 
Bild herum. Sonst war nichts in dem Bild verständlich. 
Zum Beispiel eine Treppe. Die war nicht in einem Haus, 
wie sonst Treppen sind, sondern führte direkt in die Sonne 
hinein. Und dann gab es Häuser in dem Bild, die man 
nicht mit dem Baukasten machen konnte. Eines sah aus 
wie die Gasanstalt in der Vorstadt, von wo ein direkter 
Schlauch in die Küche lief. Auch eine Schwimmschule war 
in dem Bild, aber es war nicht so sicher, ob es eine 
Schwimmschule war. „Meinetwegen ist es eine Schwimm¬ 
schul e", brummte der Vater des künftigen Pyramiden¬ 
interviewers, als dieser immer wieder fragte. 

Heute könnte der Interviewer jene Pyramide aus dem 
Orbis Pictus selbst fragen - wenn er sie finden würde. Er 
weiß aber, daß er sie nicht finden wird. Denn er hat seit 
dem Orbis Pictus andere Bücher gelesen, auch Mexiko¬ 
bücher, und in denen steht übereinstimmend, daß der Teo- 
calli der Hauptstadt gründlicher niedergerissen wurde als 
alle anderen Tempel im Lande. Kein Sternchen und keine 
Spur sei mehr übriggeblieben, und genau auf der Stelle, 
wo er gestanden, sei die Kathedrale des neuen Glaubens 
aufgerichtet worden. 

Daß die Spanier den Teocalli mit so besonderer Zer¬ 
störungswut behandelten, ist begreiflich. Haß und Rache 
traten zum Glaubenseifer, weil von dieser Pyramide des 
Königs, von diesem König der Pyramiden der Widerstand 
gegen die weißen Heilsbringer organisiert wurde und auf 
ihren Altären Christenmenschen den Heidengöttern geop¬ 
fert worden waren. 

Machtlos und von ferne mußte, wie Heine dichtet, der 
geschlagene Cortez seine gefesselten Mannen hinansteigen 
sehen 

auf den Tempel Vitzliputzlis, 

Götzenburg von rotem Backstein, 


444 



Seltsam mahnend an ägyptisch. 

Babylonisch und assyrisch. 

Kolossale Bauwerkmonstren, 

Die wir schauen auf den Bildern 
Unsers Briten Henry Martin. 

Ja, das sind dieselben breiten 
Rampentreppen, also breit. 

Daß dort auf und nieder wallen 
Viele tausend Mexikaner. 

Diese Rampentreppen leiten 

Wie ein Zickzack nach der Plattform, 

Einem balustradenart'gen, 

Ungeheuern Tempeldach. 

Der Interviewer sucht in der Kathedrale nach einer Spur 
des „kolossalen Bauwerkmonistrums", er hofft, wenigstens 
einen Baustein mit indianischen Zeichen zu entdecken. 
Nichts. Enttäuscht wendet er sich zum Gehen. 

Da tönt es, wie aus dem Innern der Erde: „Hier bin ich", 
und ergänzend: „Der, den du suchst." 

Wo? 

„Geh die Fassade der Kirche entlang gegen Sonnenauf¬ 
gang und dann nach Norden bis zur nächsten Straßen¬ 
ecke." 

Folgsam macht der Interviewer diese Route. Dort, Ecke 
der Straßen Argentina und Guatemala, an einer kümmer¬ 
lichen Umzäunung, späht er zuerst um sich, dann in die 
Höhe. 

„Du mußt nach unten schauen." 

In der Tat: durch die Holzumzäunung sieht er eine 
Baustelle, nein, keine Baustelle, eine Abbaustelle, einige 
Meter unter dem Straßenniveau. Sie ist der freigelegte Teil 
der Pyramidenbasis. Reste der schrägen Wände, steinerne 
Winkel von 45 Grad, ragen wie zerbrochene Zähne eines 
Unterkiefers nach oben. Bruchstücke von Reliefs. Schutt 
aller Zeitalter. Köpfe von Federschlangen. Und ein Mono¬ 
lith, Quetzalcoatl darstellend. 

Der Interviewer dankt der Pyramide, daß sie ihm den 
Weg zu sich gewiesen. 

„Das tat ich, weil du ein Europäer bist. Bei euch drüben 


445 



vollzieht sich zur Stunde das Heil, das ihr uns gebracht, 
an euch selbst. Eure Bauwerke, eure Menschen erleben 
jetzt noch Gräßlicheres, als ich erlebte, obwohl euer Cortez 
nur ein lächerliches und klägliches Zerrbild des unseren 
ist Es ist Zeit, daß wir einen Schreiber hinüberschicken, 
um eure Trümmer zu interviewen." 



„N ICHT 

JEDEM VOLKE WARD SOLCHES GETAN . . / 


Ziemlich schwer hatte es die Mutter Gottes von Guada¬ 
lupe, sich durchzusetzen, denn nur ein alter Indio hatte sie 
erscheinen gesehen, als erster und einziger. Dieser Indio 
war im Alter von fünfzig Jahren auf den Namen Juan 
Diego getauft worden und hatte gleichzeitig den Beschluß 
gefaßt, seine Ehe von nun an in Keuschheit und Enthalt¬ 
samkeit zu führen, sich auf ein quasi geschwisterliches Zu¬ 
sammensein mit seiner Frau zu beschränken. Nach dem 
Tod der bedauernswerten Ehefrau wohnte Juan Diego mit 
seinem Onkel Bernardino, und an diesem sollte sich bald 
die erste christliche Wunderheilung vollziehen, in dem 
Lande, wo bisher nur heidnische gang und gäbe waren. 

Am 9. Dezember 1531, auf dem Weg zur Morgenmesse 
in die kilometerferne Hauptstadt, hört Juan Diego plötz¬ 
lich -seinen Namen: „Hänschen, Hans-Jaköbchen!" Es ist 
am Fuß des Felsens Tepeyac. Hier hatten seine Eltern und 
seine Voreltern und auch er selbst noch vor nicht langer 
Zeit aus dem heiligen Quell der Göttin Tonantzin getrun¬ 
ken und zu ihr um die tägliche Tortilla gebetet. Noch im¬ 
mer wallfahren Indios aus den drei ehemaligen Königs¬ 
städten Tenochtitlän, Tlaxcala und Texcoco, ihrer Taufe 
spottend, insgeheim zu Tonantzin, drehen sich, wenn auch 
nur nächtlicherweile und ohne Trommelwirbel, im alther¬ 
gebrachten Tanz und bringen ihr verstohlen eine Fülle von 
Opfergaben. 

Da das angerufene Hänschen ängstlich seinen Blick zur 
heidnischen Höhe erhebt, steht dort in hellem Schein eine 
dunkle Senora. Sie ruft ihm zu, sie sei die Jungfrau Maria, 
Mutter des wahren Gottes, und wünsche, daß ihr an dieser 
Stelle ein Tempel errichtet werde. 

Geradenwegs läuft Juan Diego in den bischöflichen Pa¬ 
last und wird - hier ist ein Wunder, glaubet nur - vom 
Bischof persönlich empfangen. Aber Bischof Zumärraga 


447 



verspricht nicht, den Wunsch der höchsten Frau unverzüg¬ 
lich zu erfüllen, den Bau der Kirche auf der Stelle in An¬ 
griff zu nehmen. Er sagt dem Boten nur, eine so wichtige 
Sache müsse erst überprüft werden. 

Bedrückt kehrt Juan Diego zurück und berichtet der 
Senora, denn diese steht wieder oder noch immer auf dem 
Felsen Tepeyac, man habe ihm offenbar nicht geglaubt. 
Warum, fügt er vorwurfsvoll hinzu, warum habe sie denn 
ihn, einen so Klein-Kleinen, hingeschickt? Die Senora er¬ 
widert, sie habe wohlweislich ihn gewählt und er möge 
morgen noch einmal zum Bischof gehen. 

Morgen ist ein Sonntagmorgen, und es ist daher noch 
verwunderlicher als das erstemal, daß der barfüßige Indio 
gleich vorgelassen wird. Zumärraga erklärt, er glaube dem 
Boten, gewiß, aber ohne authentisches Dokument könne er 
nichts unternehmen. 

Gefolgt von Spähern des Bischofs (wie dieser später aus¬ 
sagt, damit ihm keine Unterlassung vorgeworfen werde), 
verläßt Juan Diego den Palast. In der Nähe des Felsens 
verlieren die Verfolger seine Spur. So ist er allein mit der 
Senora und wiederholt ihr die Worte des Bischofs und 
dessen Forderung. Daraufhin verspricht sie, ihm am näch¬ 
sten Tag ein unwiderlegliches Beweisstück zu liefern. 

Zur befohlenen Stunde kommt aber Juan Diego nicht an 
den befohlenen Ort; er bleibt den ganzen Montag über 
bei Onkel Bernardino, der in den letzten Zügen liegt. Erst 
am Dienstag, dem 12. Dezember, geht Juan Diego aus, um 
einen Priester mit den Sterbesakramenten zu holen. Weil 
er Vorwürfe der Senora fürchtet, die er gestern warten 
ließ, will er sich auf der anderen Seite des Felsens, am 
Osthang, vorbeischleichen. Dort, wo sich später ein vor¬ 
trefflich geeigneter Bauplatz für die aufzurichtende Kirche 
ergeben wird, tritt die Senora hervor, hört die gestam¬ 
melte Entschuldigung des Indios an und verkündet ihm, 
sie habe eben seinen Onkel geheilt 

Was sie dem Juan Diego dann aufträgt steht wörtlich 
in den kanonischen Akten, wenngleich dort nicht erwähnt 
ist, in welcher Sprache die Worte zu dem Indio gesagt wur¬ 
den: „Und nun besteige diesen Felsen, pflücke die Blumen, 


448 



die du am Gipfel finden wirst, lege sie in deinen Mantel 
und bringe sie mir." 

Juan Diego erklimmt die Steinhöhe, auf der sonst nur 
Kakteen wuchern. Aber siehe da, heute blühen hier Ro¬ 
sen. Er zieht seine Tilma aus, sammelt die Rosen hinein 
und trägt sie zur Senora. Die drückt ihre Hände in den 
Blumenflor und befiehlt ihm, damit zum Bischof zu gehen. 

Zumärraga feiert eben in großem Kreis den Jahrestag 
seiner Ernennung zum Bischof. Da tritt der Indio ein, 
setzt seine Barfüßigkeit auf das spiegelnde Parkett und 
schüttet aus dem Mantel die Rosen mit zugehöriger Le¬ 
gende. Und was sehen die versammelten kirchlichen Wür¬ 
denträger außerdem? Außerdem sehen sie auf der Innen¬ 
seite des Mantels ein farbenprächtiges Bild der Mutter 
Gottes. 

Nichts in dieser Wundergeschichte ist zufällig und ab¬ 
sichtslos. Der Indio versäumt eine ausdrücklich vereinbarte 
Zusammenkunft mit der Heiligsten der Heiligen, und in¬ 
folge dieses Versäumnisses bringt er die Beglaubigung 
gerade am Jubiläumstag des Bischofs bei. Eines solchen 
himmlischen Geschenks bedarf Bischof Zumärraga drin¬ 
gend, denn auf Erden hat er viele Feinde. Die Gelehrten 
unter den Padres werfen ihm vor, daß er Tausende und 
aber Tausende unschätzbarer Bildwerke und Dokumente 
vernichten ließ, die Beweise, daß das unterworfene Az¬ 
tekenreich keineswegs von Kannibalen bewohnt war, son¬ 
dern von Menschen mit erstaunlicher Kultur. 

Erbarmungslos geht Zumärraga gegen jene Indios vor, 
die ihre Tradition nicht so schnell vergessen können, noch 
immer glauben, überirdische Wesen seien imstande, Re¬ 
gen zu machen, Erdbeben zu verhindern, Überschwemmun¬ 
gen zu beenden und Kranke zu heilen. Zumärraga leitet 
persönlich die Verhöre vor dem Glaubensgerichtshof, auch 
gegen Indios, die später als „Menschen ohne Vernunft" 
der offiziellen Inquisition nicht unterstehen werden. Der 
Kazike von Texcoco, der am Scheiterhaufen verschmoren 
muß, ist nur einer von den Blutzeugen für Zumärragas 
unchristliche Eiferei. 

Noch nach seinem Tode wird Zumärraga von priester- 
licher Seite befehdet. In einer Predigt, bei welcher der 


29 Kiuch VII 


449 



Vizekönig und die Mitglieder des königlichen Rates - 
sicherlich nicht zufällig - anwesend sind, greift Fray Bu- 
stamante, Provinzial des Franziskanerordens, das Bildnis 
von Tepeyac an, dem der Name „Guadalupe" gegeben 
wurde, um es dem wundertätigen spanischen Gnadenbild 
dieses Namens gleichzustellen. Die Jungfrau von Tepeyac 
habe ein indianischer Maler namens Marcos Aquino Cipac 
im Auftrag und gegen Bezahlung des Bischofs Zumärraga 
gemalt. Den Indios aber rede man ein, es sei ein Selbst¬ 
porträt der Heiligen Jungfrau, eine vom Himmel stam¬ 
mende Gabe. „Wer da behauptet, daß die Mutter Gottes 
von Guadalupe Mirakel tue", ruft Fray Bustamante mit 
Donnerstimme, „sollte mit hundert Peitschenhieben be¬ 
straft werden, und wer bei dieser Behauptung verharrt, mit 
zweihundert." Auffallender weise schreitet weder die kirch¬ 
liche noch die weltliche Obrigkeit gegen den waghalsigen 
Prediger ein. 

Auch andere bezweifeln die Authentizität der Erschei¬ 
nung, nennen sie ein von Zumärraga ausgehecktes Kon¬ 
kurrenzmanöver gegen die Wallfahrtskirche von Los Re- 
medios, und die Verteidiger der Jungfrau von Guadalupe 
sehen sich genötigt, die profanen Wissenschaften zu be¬ 
mühen. Die Sternwarte von Tacuba erklärt, ohne ein Wun¬ 
der konnte am Morgen des 12. Dezember 1531 auf dem 
Tepeyac-Felsen eine Gestalt unmöglich sichtbar gewesen 
sein. Ähnlich formulieren die Botaniker: Nur ein Wunder 
konnte auf dem Granitboden des Tepeyac-Felsens Rosen 
wachsen lassen. Im siebzehnten Jahrhundert geben Chemi¬ 
ker und Maler das Gutachten ab, das Gemälde sei nicht 
mit irdischen Farben gemalt, denn es hänge seit hundert 
Jahren ungeschützt an der Wand und werde von den Am¬ 
moniakdünsten des nahen Sees umhaucht, ohne Schaden 
zu erleiden. (Jetzt ist der See längst trockengelegt, und 
das Bild hängt unter Glas.) 

Mehr als zweihundertzwanzig Jahre verweigert der 
Päpstliche Stuhl die Anerkennung des Wunders. Erst 1754 
wird sie bewilligt. Eine Delegation aus Neu-Spanien stellt 
eine Kopie des Marienbildes vor Benedikt XIV. hin. Er 
sinkt nicht in die Knie, er spricht nur die Worte: „Non 
fecit taliter omni natione - Nicht jedem Volke ward solches 


450 



getan." Dann ernennt er in einer Bulle die Jungfrau von 
Guadalupe zur Hauptpatronin der neuspanischen Nation. 

Für die Indios war sie es schon vorher gewesen. Und 
blieb es auch weiterhin. Hidalgo, erster Führer der Revo¬ 
lution, wählte die Jungfrau von Guadalupe zur Patronin 
der Unabhängigkeit, der erste Kaiser von Mexiko, Iturbide, 
schuf den mexikanischen Adel als „Caballeros de Guada¬ 
lupe", und der erste Präsident der Republik Mexiko wurde 
es unter dem selbstgewählten Namen Guadalupe. 

Im Unabhängigkeitskrieg stehen die Jungfrau von Gua¬ 
dalupe, die „India", und die Jungfrau von Los Remedios, 
die „Gachupina", auf entgegengesetzten Seiten der Barri¬ 
kade. Die Virgen de los Remedios führt das Heer des 
Vizekönigs, wogegen die Guadalupanerin einen formellen 
Befehl erhält, binnen vierundzwanzig Stunden das Land 
Mexiko zu verlassen. Wo die spanienfreundlichen Trup¬ 
pen ihres Bildes habhaft werden, stellen sie es vor ein 
Peloton und füsilieren es. Ist sie doch die Schutzpatronin 
der Klosterstürmer und Gottesleugner. 

Aber nach der Schlacht findet sich fast auf jedem Leich¬ 
nam, sei er von hüben, sei er von drüben, ein Medaillon mit 
dem Gnadenbild von Guadalupe. Denn an sie glauben alle, 
sie ist das nationale Symbol, sie ist nicht weißhäutig wie 
die Spanier und hat es, anders als die Herrscher Spaniens, 
nicht verschmäht, im Land der Indios zu erscheinen. Der 
Gedenktag dieses ihres Erscheinens ist das Fest von Mexiko. 

Den von Iturbide gegründeten Guadalupe-Orden er¬ 
neuert vierzig Jahre später der Österreicher Maximilian 
und verleiht ihn freigebig an Mexikaner und Europäer, 
welch letztere bafj erstaunt sind, denn sie sind sich keines 
Verdienstes um Mexiko bewufjt. Auch an den Dichter 
Friedrich Rückert schickt Maximilian das Heiligenbild am 
blau-hellvioletten Band, und so liegen im mexikanischen 
Staatsarchiv die Verse eines deutschen Dichters, das Dank¬ 
schreiben Rückerts: 

... ob ich der Gnade würdig bin? 

Nun, wenigstens von Anbeginn 
War zugewandt mein wärmster Sinn 
Der Neuwelt neuem Reich, 

Dem zukunftsreichen. 


451 



Im Zeitraum zwischen der Stiftung und der Erneuerung 
des Guadalupe-Ordens, zwischen Iturbide und Maximi¬ 
lian, die beide wegen ihres Kaisertraumes erschossen 
wurden, erlebte Mexiko den unglücklichen Krieg gegen 
die Vereinigten Staaten. Mexiko hoffte, durch Friedensver¬ 
handlungen zu Füßen der Landespatronin werde der Frie¬ 
den ein guter Frieden werden. Aber der Friedensvertrag 
von Guadalupe entriß Mexiko die reichsten Provinzen, dar¬ 
unter Kalifornien, das sich eben als das Goldland ent¬ 
puppte. Dem Ansehen der Jungfrau tut das keinen Ab¬ 
bruch, und jedermann huldigt ihr an ihrem Fest. 

Nirgends gibt es eine Kirmes von solcher Vielfalt, sol¬ 
cher Buntheit und solcher Traurigkeit. Die Nacht auf den 
12. Dezember knien Zehntausende von Gläubigen vor dem 
Haupttor der Basilika von Guadalupe, warten auf Einlaß. 

Die ganze Nacht lang und pausenlos drehen sich und 
schaukeln sich hinter der Kirche Tanzgruppen mit ernster 
Miene. Die Stoffe der altindianischen Kostüme sind zu¬ 
meist Massenware, und die Instrumente sind keineswegs 
die selbstverfertigten ihrer Ahnen, sondern Mandolinen. 
Nur ein oder der andere Tänzer bewegt einen Ast, von 
welchem Muscheln klirren oder die Schuppen eines Gürtel¬ 
tiers; einst bildeten die Spieler dieses Instruments, die 
Condieros, den Kern der Wallfahrtsmusik. Getanzt wird 
eine balladeske oder epische Handlung, eine Verherr¬ 
lichung des Cid, der die Mauren vertrieb, und des Cortez, 
der die Azteken besiegte. 

Von dort, wo die heilige Senora auf Juan Diego wartete, 
führt ein Treppenweg zu der Höhe, wo Juan Diego Rosen 
vom kahlen Stein pflückte. Am Jahrestag dieser Begeben¬ 
heit ist der Weg.kaum gangbar. Hunderte rutschen auf 
den Knien felsenaufwärts, alte Leute werden von Söhnen 
oder Enkeln von Stufe zu Stufe gehoben. So knien sie sich 
zur Capilla del Cerrito empor und zum wundertätigen Fel¬ 
senfriedhof. 

Rechts und links dieses Weges kampieren auf dem Fel¬ 
senhang, wo immer er Platz dazu läßt, die Pilger. Ganze 
Ortschaften. Kleine Holzkohlenöfen glimmen, in Sarapes 
gehüllt, schlafen Indiomann und Indiokind, während die 
Indiofrau bereits aufgestanden ist, um Tortillas zu backen. 


452 



Unten die Kirche ist von Ständen und Buden umzingelt. 
Händler und Händlerinnen verkaufen die autochthonen 
Besonderheiten ihrer Gegend, und die in der Hauptstadt 
wohnenden Landsleute treffen sich hier; im Glanz seiner 
Uniform steht ein Polizist da und weiß, daß man in sei¬ 
nem Dorf lange von ihr erzählen wird. Gebannt starren 
zwei Verkäuferinnen auf den städtischen Hut eines Mäd¬ 
chens aus ihrem Dorf. Jeder Stand ist Tagung einer Lands¬ 
mannschaft, ein Heimatfest in der Ferne. 

Ost ist Ost und West ist West, aber auf diesem Markt 
kommen die beiden zusammen. Leute vom Atlantik er¬ 
handeln Waren vom Pazifik, der Yaqui-Indio kauft eine 
Kürbisflasche der Otomi, Knaben aus den Ölgebieten na¬ 
schen Fruchtbrot aus Puebla, alle kaufen Bänder, auf de¬ 
nen die Längenmaße von Gesicht und Gestalt des Madon¬ 
nenbildes markiert sind, Farbendrucke mit Szenen aus dem 
Leben Juan Diegos und geweihte Medaillons. 

Wie die Menge ins Innere der Kirche kommt, weiß sie 
selber nicht. Eine unbekannte Macht preßt sie fest in die 
Arme und trägt sie vorwärts, um sie im Kern eines Licht¬ 
kegels äbzusetzen. 

Heller, greller kann es auch im Himmel nicht sein zu 
Füßen der Himmelskönigin. Der von Sierra und Selva her¬ 
beigekommene Indio, der kaum jemals ein Haus von innen 
sah, unmöglich könnte er inmitten dieser Pracht etwas 
anderes empfinden als das, was er empfindet. Er fällt auf 
die Knie und läßt sich bis zum Altar tragen von jener 
Woge. Dazu braust die Orgel, die Glocken klingen, und 
ein vielhundertstimmiger Engelschor singt ein altes Mor¬ 
genlied mit dem Refrain: 

Despierta, mi alma, despierta 
Si acaso dormida estäs,* 

Ya tienen la gloria abierta 
Asömate y la veräs. 

Wenn die Seele erwacht und das Auge entblendet ist, 
erkennen sie den Engelschor als eine Gruppe weißgeklei¬ 
deter Mädchen und schwarzgekleideter Frauen, die vor 
dem Altar knien und ohne Pause ihren Weckruf ertönen 
lassen: 


453 



Wach auf, meine Seele, erwache, 

Falls dich der Schlaf umfängt; 

Schon ist der Ruhm entfaltet. 

Bisher war er verhängt. 

Der Lichtschein läßt die Innenarchitektur im Dunkel, die 
von der Pariser Rue de la Sulpice fix und fertig geliefert 
zu sein scheint, dem Handelszentrum für Kircheneinrich¬ 
tungen. Jedoch das Gold des Altars und der Meßgeräte, 
die Marmortafeln, Mosaiken und Gemälde an den Wänden 
und die Farbenfenster geben den Lichtern ein optisches Echo. 

In der höchsten Höhe des Altars hängt das Bild. Die 
Madonna trägt ein hochgeschlossenes Kleid und darüber 
eine von Sternchen besäte Tunika, die vom Kopf bis zu 
den Füßen reicht. Sie schwebt auf einem ursprünglich wohl 
silberfarbenen, nun aber oxydierten Halbmond, den ein 
Cherub stützt. Die ganze Figur ist von einem Oval aus 
Licht umrahmt, einem Heiligenschein aus hundertdreißig 
Strahlen. Das Gesicht der Indioheiligen ist nicht bronzen, 
sondern ein dunkles Grau, Nase und Mund schmal - kei¬ 
nesfalls hat das Antlitz auch nur das geringste mit dem 
eines Indiomädchens gemeinsam. Deshalb erklärten die 
ersten Apologeten, die etwas Nationales in dem Bild ent¬ 
decken mußten, es stelle die Mutter Gottes als Mischling, 
als Mestizen dar. Daß es damals, zehn Jahre nach dem 
Eintreffen der Spanier, außer Kindern keine Mestizen in 
Mexiko gab, sei ein Beweis für die prophetische Kraft des 
Bildes, für seinen überirdischen Ursprung. 

Verzückt schaut die Menge nach oben, dieweil sie altar- 
wärts geschoben wird und dann seitlich in einen saalarti¬ 
gen Korridor. Obwohl hier kein Neonlicht strahlt, ist es 
so hell wie im Kirchenschiff. Viele hundert Kerzen, bunte, 
geflochtene, modellierte, armdicke und gewöhnliche, bren¬ 
nen vor einer Kopie des wundertätigen Bildes. Die Kopie 
hängt zwar in einem Glasschrein, ist aber nicht so unnah¬ 
bar hoch wie das Original, für das sie die Huldigungen 
entgegennimmt: Alle Vorbeigehenden küssen das Glas oder 
reiben es mit der Handfläche, um diese nachher zum Munde 
zu führen oder an eine der besonderen Benedeiung bedürf¬ 
tige Körperstelle. 


454 



Wer sollte nicht an Wunder glauben, wenn sie hier in 
einer Sprache attestiert sind, die auch der Analphabet ver¬ 
steht. Eine Wand ist ausgefüllt mit bunt gemalten Beglau¬ 
bigungen oder Danksagungen, „Retablos" genannt. Ihre 
Primitivität könnte auch der berühmteste Primitivist mit 
all seiner Technik nicht erzielen. Auf Blechplatten ist die 
Lokalchronik des Volkes verzeichnet, verzeichnet vom 
Volke selbst: Ein Pferd scheut, und die Insassen fallen 
kopfüber aus dem Wagen ... In der Arena stürzt ein Stier¬ 
kämpfer, und schon berühren die Hörner des sichtbarlich 
schnaubenden Bullen seine Brust... Leichengelb, die 
Augen geschlossen, ein Kind im Krankenbett... Banditen 
schießen auf einen Omnibus, die Passagiere springen aus 
den Fenstern... Eine Klapperschlange schlängelt sich an 
Mutter und Kind heran, die am Fluß Wäsche waschen... 
Vor einer Pulqueria liegen Gäste, in deren Brust Messer 
stecken ... Eine Gerichtsverhandlung ... Auf dem Körper 
eines Neugeborenen kriecht ein Skorpion... Ein Eisen¬ 
bahnzug entgleist in hohem Bogen, während die Opfer 
des sich eben ereignenden Unfalls bereits auf dem Bahn¬ 
damm liegen... Ein Boot in Xochimilco kippt um, eine 
Frau und vier Kinder versinken ... 

Aber jedem dieser Ereignisse wohnt die Jungfrau von 
Guadalupe bei, immer in der rechten oberen Ecke und auf 
gelbem Fond. Sie hat den Spender des Bildes im letzten 
Augenblick gerettet, und deshalb spendete er das Bild. 
Die Größe der Gefahr betont eine Beschreibung, die dar¬ 
unter steht und ebenso orthographisch ist wie die Malerei. 
Ein Geretteter schließt seinen Dank mit der Mitteilung: 
„Bei diesem Banditenüberfall kam auch Jose Garcia Jime- 
nez ums Leben, der Vater meiner Frau, und wir erbten von 
ihm vierhundert Pesos.' 7 In Wort und Bild dankt ein Spen¬ 
der dafür, daß ihn der Gedanke an die Heilige von Gua¬ 
dalupe vor einem Meineid bewahrte. 

Oft wird der Text dazu benützt, um dem Feind eins aus¬ 
zuwischen. Der Autor dieses Buches besitzt ein aus einer 
aufgehobenen Kirche stammendes Retablo. Ein Hahnen¬ 
kampf. Der eine Hahn, der gelbe, liegt auf dem Rücken, 
der andere, der schwarze, aber wartet stoßbereit, ob sich 
der Gegner nicht ermannen und gegen ihn wenden werde. 


455 



Der Kampf ist also noch im Gange. Dessenungeachtet 
vollzieht sich inmitten der Arena, vor den Augen des Pu¬ 
blikums, ein Menschenkampf. Augenrollend, zähneflet¬ 
schend, mit einem überlebensgroßen, bluttriefenden Mes¬ 
ser stürzt ein riesenhafter Mann auf einen anderen zu. 
Dieser andere liegt neben, dem Hahn, und in seiner Brust 
klafft eine Wunde. Wir würden um ihn zittern, ahnten wir 
nicht in ihm den zukünftigen Spender des Bildes mitsamt 
dem folgenden Text: „Die Heilige Jungfrau hat mich geret¬ 
tet vor einem Dolchstoß, den mir versetzt hat mein Pate 
Chente Rosales aus Chicoloapan am 9. August 1875. - 
Crescendo Arriaga". 

Allgegenwärtig ist die Heilige Jungfrau. Aber prophy¬ 
laktisch ist es, sie nicht erst zum Erscheinen zu bemühen. 
Darum hängt ihr Bild überall. Das Mädchen hat es über 
dem Bett und verhüllt es nur, wenn dort der Novio zu 
Besuch ist, Freund oder Bräutigam. Den Führersitz im 
Autobus segnet das Heiligenbild, oft umrahmen es Photos 
Von Stierkämpfern, Kinostars oder schöngewachsenen 
Frauen, die es sich bequem gemacht haben. Bei einer Zir¬ 
kusprobe sahen wir, wie ein Bild der Virgen de Guada¬ 
lupe an das Gitter des Löwenkäfigs gehängt wurde. Und 
siehe da, kein Unglück geschah. 

Das sind die kleinen Wunder. Die großen sind in den 
Chroniken und Legendenbüchern verzeichnet. Zum Bei¬ 
spiel die großen Wunder, daß nach Bittprozessionen mit 
Vorantragung des Gnadenbildes all sogleich die Über¬ 
schwemmung oder die Dürre oder das Erdbeben oder die 
Pest verschwanden. 

Zuerst hatten die Indios nur die Taufe angenommen 
und gelernt, das Kreuz zu schlagen, das Paternoster auf 
lateinisch auswendig herzusagen und das Salve Regina, das 
Ave Maria und das Credo nachzusprechen. Dann hörten 
sie von den Wundern und waren, um gleichfalls solcher 
teilhaftig zu werden, zum Glauben bereit. Jedoch von den 
Wunderplätzen ihrer Ahnen ließen sie sich nicht vertrei¬ 
ben, und so mußte Mohammed zum Berge kommen. Jeder 
Göttertempel wurde eine Kirche, jede Opferstätte ein Wall¬ 
fahrtsort, und in der Hauptstadt, unweit der Stelle, wo 
die indianischen Hohenpriester in schauerlicher Schau Men- 


456 



schenopfer dargebracht, taten die Männer der Inquisition 
das gleiche. Auf dem einstigen Wohnsitz der Göttin To- 
nantzin wogt heute auf einem Kirchenfest fromm und 
scheu das Volk, „dem solches getan ward". 

Alle haben die Litanei der „Mananitas" angehört, die 
gläserne Schutzwand geküßt, die gemalten Wunder ange¬ 
sehen, sich bei den trüben Tänzen aufgehalten, kniend den 
Felsen erklommen, vom heiligen Quell getrunken und ge¬ 
nießen jetzt das Kirmestreiben. Aber auch wenn die 
Frauen grelle Tücher erstanden und die Männer ein paar 
Gläser Pulque getrunken haben, fröhlich sind sie nicht. 
Denn sie erhoffen im Diesseits nur ein Wunder aus dem 
Jenseits. 



DAS VERTEILTE BAUMWOLLAND 


Diese Chaussee führt uns dem Problem näher, von dem 
wir schon in Europa gelesen, 1936. „Raub von Regierungs 
wegen!" - „Wird Mexiko bolschewistisch?" 

Für Mexiko bedeutete die Comarca Laguna im Norden 
Mexikos, die sich bald rechts und links von unserer 
Chaussee ausbreiten wird, nicht wie für Europa einen Tum¬ 
melplatz drohender Ausrufungszeichen und besorgter 
Fragezeichen. Für Mexiko war die Laguna Angsttraum der 
Reichen und Hoffnungsstrahl der Armen. In der Tat folgte 
der Aufteilung der Laguna die Übergabe der Henequen- 
Latifundien von Yucatan an die Landarbeiter, die Kollek¬ 
tivierung des Territoriums der Yaki-Indianer, die Zuwei¬ 
sung von Grundbesitz an Peones und schließlich die Natio¬ 
nalisierung der Petroleumquellen. 

Die Enteignung der Latifundien in der Laguna war 
keine Gewaltmaßnahme, sondern die Durchführung eines 
Gesetzes, eine Agrarreform, wenn auch die einschneidend¬ 
ste, die innerhalb des Wirtschaftssystems denkbar war. 
Ist sie geglückt? Nationalökonomen, Beamte und Politiker 
in der Hauptstadt sagen, das Experiment sei kläglich ge¬ 
scheitert, die früher festbesoldeten Taglöhner seien in die 
Zinsknechtschaft der Banken geraten und in Not. Knie¬ 
fällig, so hört man in diesen Kreisen, bitten die neuen 
Besitzer ihren einstigen Herrn, er möge ihren Boden zu¬ 
rücknehmen und sie wieder als Taglöhner einstellen; aber 
der Latifundista verlange, daß die Regierung ihm das Land 
als Ganzes zurückgebe. 

Die Chaussee heißt Carretera Interoceanica, denn sie 
soll vom Pazifik zum Atlantik führen, die Verbindung der 
Weltmeere hersteilen, die zu erleben Goethes Alterswunsch 
war. Goethe dachte an eine Wasserverbindung, an einen 
Durchstich des Isthmus von Tehuantepec. Dieser Isthmus ist 
immer noch nicht durchstochen, Panama hat ihm sozu¬ 
sagen das Wasser abgegraben. Nur eine Bahn verbindet 


458 



im Süden die kurze Strecke zwischen Ozean und Ozean. 
Vom Landweg unserer Chaussee ist der industrielle Strek- 
kenteil bereits fertig, der von der Baumwollstadt Torreön 
über die Montanstadt Monterrey zur Petroleumstadt Tam¬ 
pico. 

Lastautos, beladen mit Maschinenbestandteilen, begeg¬ 
nen uns, Autobusse der Strecke San Pedro-Torreön und 
Sanitätswagen des „Servicio de Higiene Rural y Medicina 
Social de Laguna". Dieser ärztliche Dienst, eine unbestreit¬ 
bare Errungenschaft, ist im Wahlkampf, der eben tobt, 
zu einem Angriffspunkt von seiten der Reaktion gewor¬ 
den. „Wollt ihr euch noch weiterhin euer sauer verdientes 
Celd aus der Tasche ziehen lassen für Ärzte und Sanitäts¬ 
beamte?" Jeder Familienvater zahlt achtundvierzig Pesos 
jährlich, ebensoviel pro Familie zahlt das Gesundheits¬ 
ministerium, anderthalb Millionen Pesos betragen die Ge¬ 
samtkosten für Hospital und Ambulanzen. 

Gestern haben wir in Torreön das Laguna-Hospital ge¬ 
sehen, mit dem Direktor gesprochen, der von den Bauern 
vorgeschlagen und von der Regierung ernannt ist. Die 
Patienten ließen es sich nicht nehmen, uns von Raum zu 
Raum zu begleiten oder vom Bett aus zu erklären. Man 
muß öffentliche Spitäler hierzulande kennen, bettenlose 
Krankensäle und wäschelose Betten, um zu verstehen, wie 
sehr dieses Spital zu den Ausnahmen gehört. Nicht als 
Gnadenempfänger fühlen sich die Insassen hier, sondern 
als Eigentümer. 

Als die Zehntausende von Landarbeitern noch einigen 
Plantagenbesitzern gehörten, hatten sie kein Recht auf 
ein Krankenbett, und ihre Frauen konnten es sich nicht 
leisten, unter ärztlicher Beihilfe zu entbinden. Jetzt ist 
das Baumwolland in achtzehn medizinische Einheiten ein¬ 
geteilt; jede Unidad Medico Ejidal mit ihren Ärzten, Heb¬ 
ammen, Krankenschwestern und Ambulanzwagen betreut 
zehn bis fünfzehn Dörfer. Außerdem ist von Torreön aus 
die Campana Sanitaria unterwegs, um die Wohnverhält¬ 
nisse zu überprüfen, die Schulkinder zu untersuchen, auf¬ 
klärende Vorträge und Kurse zu halten. 

Die Chaussee leitet uns an einem Militärlager vorbei, 
dann an einem Riesensilo und an einer Entkernungsanstalt; 


459 



dieses deutsche Wort klingt weniger romantisch als das 
spanische „despepitadora" und weniger praktisch als das 
englische „gin". Links in der Ferne, von der Chaussee aus 
nicht sichtbar, läuft der Rio Nazas, von der Chaussee aus 
sichtbar ist nur eine platte Steppe. 

Schließlich fahren wir ins Baumwolland ein. Zunächst 
geht es einen Kanal entlang. Nein, es sind zwei Kanäle. 
Sie verlaufen parallel, und ihre Ufer berühren einander 
fast. Sie stammen aus der Zeit der Latifundien. Die Was¬ 
serwege des Herrn sind wunderbar - statt sich mit dem 
Nachbar zu einigen (der allerdings auch der Konkurrent 
und deshalb der Todfeind war), baute er neben dessen 
Fluß einen neuen Fluß hin. 

Neu sind die zementenen Brücken, die über die Kanäle 
führen. Früher waren sie nicht nötig. Luden doch die Pe- 
ones auf der Chaussee in und aus den Wagen und wankten 
mit der Fracht über einen Steg oder durch das einen Meter 
tiefe Wasser des Kanals zum oder vom entlegenen Baum¬ 
wollfeld. Jetzt werden die Lasten von Autos an die Be¬ 
stimmungsstelle gebracht. 

Rechts und links, bis zum Horizont, drängen sich grüne 
Stauden aneinander, so daß man die Pfade nicht sieht, die 
das Buschwerk in Reihen und Querreihen teilen. Aus dem 
kompakten Grün leuchten gelb-violett gestreifte Kugeln: 
die Blüten. Über dem Grün bewegen sich die braunen, von 
Sombreros beschatteten Gesichter der Arbeiter. Wir spre¬ 
chen mit ihnen von der Feldarbeit. 

„Viel Arbeit?" 

„Viel Arbeit! Viel mehr Arbeit als im Vorjahr!" - Jedes 
Jahr hat der Bauer viel mehr Arbeit als im Vorjahr. 

„Es ist heißer als voriges Jahr, und es gibt mehr Baum- 
wollwürmer als voriges Jahr. Sieben Kilo Gift müssen wir 
pro Hektar gegen den roten Wurm streuen. Und außer¬ 
dem noch die Pollen waschen. Viel Arbeit, Senor." 

Den Ejido von tausendzweihundert Hektar bearbeiten 
zweihundert Mann, die Pflücker, die zur Ernte kommen 
werden, nicht eingerechnet. Von jeder Staude werden vier¬ 
zig Kapseln abgepflückt, zwei Kilogramm Wolle per 
Staude; früher hat keine Pflanze mehr als ein Kilogramm 
eingebracht. „Aber wir haben weit mehr Arbeit, und wer 


460 



weiß, ob wir genug Pflücker auftreiben können. Alle gehen 
jetzt über die Grenze als Braceros. Amerika zahlt Dollars." 

„Wie wird die Ernte?" 

„Soso. In diesem Jahr haben wir fünf Prozent mehr 
Fläche angebaut als im Vorjahr." 

„Und die Preise?" 

„Der Baumwollpreis ist um einundzwanzig Prozent ge¬ 
stiegen. Aber wir müssen an den Banco Ejidal unsere 
Schulden abzahlen. Dabei würden wir neue Zuschüsse brau¬ 
chen für Dünger und Maschinen. Hauptsache aber ist das 
Wasser. Ob ,E1 Palmito' es uns bringen wird, das neu aus¬ 
gebaute Wasserwerk...? Davon hängt alles ab." 

„Würden Brunnen nicht genügen?" 

„Mit den Brunnen ist es schwer. Aus Europa kommen 
keine Dieselmotoren mehr und aus Nordamerika keine 
elektrischen. Vor ein paar Jahren hat eine Noria, das ist 
ein Pumpwerk, 35 000 Pesos gekostet, jetzt kostet sie 
80 000 Pesos, wenn sie überhaupt für uns zu haben ist. 
Die Grundherren stellen auf ihren Restgütern noch immer 
neue Brunnen auf." 

„Und warum ihr nicht?" 

„Sie haben mehr Kapital als wir. Für jeden alten Brun¬ 
nen, der im Ejidalgebiet liegt bekamen sie den vollen 
Kaufbetrag als Abfindung, 35 000 Pesos. Sie haben die 
besten Terrains behalten und tauschen ungünstige Par¬ 
zellen gegen günstige ein, weil sie wissen, wo die neuen 
Kanäle verlaufen werden.:; In den sieben Jahren, seit 
wir das Land besitzen, konnten wir Ejidatarios nur drei¬ 
hundert neue Brunnen in der ganzen Laguna anlegen. Ob¬ 
wohl die Latifundistas nur wenige sind und wir so viele. 
Viel zuviel für das Gebiet..." 

Hier liegt eines von den Problemen. Einmal gehörte 
das Land nur einem, dann einigen wenigen und jetzt vie¬ 
len. Aber nur wenn es allen gehören wird, wird die Klage 
wegfallen, die wir eben hören, und die Diskussionen dar¬ 
über, ob Landaufteilung günstig ist. 

Wir schauen über die grünen, mit Gelb und Purpurvio¬ 
lett besprenkelten Kulturen, ungehindert dringt der Blick 
bis zum Horizont. Bevor die Geschichte Mexikos begann, 
war das alles Niemandsland. Das Wild äste auf der La- 

461 



guna, im Rio Nazas schwammen Fische und ernährten 
indianische Nomaden. Manchmal dehnten, vom Norden 
kommend, die Apachen ihre Jagdgründe über diese Prärie 
aus; vielleicht stand da, wo wir jetzt stehen, ein Ahne 
Winnetous und lugte aus nach Feind und Wild. Bis eines 
Tages das Bleichgesicht auftauchte, der Konquistador. 

Ganz Neu-Spanien ward zerlegt in Klostergüter und in 
„Encomiendos" für die spanischen Herren. Der Marques 
Ordinola de Aguayo bekam als Lehen die Laguna mit¬ 
samt den Menschen, die darauf wohnten oder deren er 
sonstwie habhaft werden konnte. Das Getier jagte er zum 
Sport, die Menschen jagte er in die Bergwerke, damit sie 
dort Gold förderten für seine Tasche. 

Am Ufer des Rio Nazas wurde Mais angebaut, und 
markgräfliches Vieh weidete dort. Schon um 1800 gab es 
unter den Peones keinen puren Indio mehr, nur Mesti¬ 
zen - dafür hatten die weißen Gebietsgebieter gesorgt 
indem sie, wie aus den Kirchenbüchern hervorgeht, den 
Indiomädchen Kinder machten. 

Mit dem Sieg der nationalen Revolution war die drei¬ 
hundertjährige Ära der Gachupinos, der Spanier, vorbei, 
vorbei die Herrschaft der Vizekönige und ihrer Vizevize¬ 
könige auf dem Land. Die Zeit für Mexikaner, Weltprie¬ 
ster und Bürger brach heran. Und wenn einer alle drei 
dieser Titel besaß und dazu ein Geschäftsmann war, wie 
der Pfarrer der Stadt Monclova, so konnte er fast die ganze 
Laguna an sich reißen. 

Die nächste Etappe, die der Baumwolle, rief das Finanz¬ 
kapital auf den Plan. Banken aus der Hauptstadt gewähr¬ 
ten den Hacendados Vorschüsse auf die Baumwolle, die 
an die Kattun- und Kaliko- und Barchentfabriken in Elsaß- 
Lothringen oder via Liverpool nach Lancashire abging. 
Bald beherrschten die Banken durch Pächter und Verwalter 
das Gebiet, oder sie verkauften die Parzellen. 

Je reicher die Hacendados wurden, desto mehr Baum¬ 
wolle bauten sie an, je mehr sie anbauten, desto mehr 
Arbeitskräfte und Arbeitszeit brauchten sie, und je mehr 
Arbeitskräfte und Arbeitszeit sie brauchten, desto schlim¬ 
mer ging es den Arbeitern. Das ist schon einmal so, vor 
allem bei Industriepflanzen. Mit dem Industriearbeiter hat 


462 



der Taglöhner auf dem Feld der Industriepflanzen nur das 
gemein, daß er kein Stück Kleinvieh besitzt, um seinen 
Haushalt aufzubessern. Die Baumwollpflanze kann er we¬ 
der roh essen noch vermahlen oder verbacken. Auf ande¬ 
ren Pflanzen Mexikos, der Agave zum Beispiel, wohnen 
Würmer, die ein Genußmittel sind. Aber das auf der 
Baumwolle nistende Gewürm ist kein Genußmittel. Es 
wird verbrannt mit Stumpf und Stiel, damit es im näch¬ 
sten Jahr nicht wiederkomme. Seine Brut kommt freilich 
wieder. 

Überall in der Welt ist der Taglöhner auf den Baum- 
wollplantagen schlecht daran, ob er nun ein Tuareg-Neger 
im Sudan ist oder ein Fellache in Ägypten, ob ein Hindu 
bei Haidarabad oder ein Neger mit amerikanischer Staats¬ 
bürgerschaft in Arkansas. Hier auf der Laguna lebten die 
Peones, illegitime Sprossen der adeligen Bezirksherrscher, 
kaum besser als der Baumwollwurm. Sie besaßen keine Or¬ 
ganisation, sie lasen keine „Hetzschriften" und kannten 
keine „Demagogen". Und dennoch kam es wiederholt zu 
Aufständen, Rebellionen der Verzweiflung. 

In der Laguna war's, wo die allmexikanische Revolution 
von 1910 begonnen hatte. Sie endete siegreich und brachte 
ein soziales Agrargesetz. Aber so absurd es klingt, mit 
diesem Sieg verschlimmerte sich, soweit etwas zu ver¬ 
schlimmern war, die Lage der Laguneros. Zum Beispiel be¬ 
stimmte das Agrargesetz, daß jede Siedlung von soundso 
viel Mann das Recht auf soundso viel Hektar Gemeinde¬ 
land habe, auf einen Ejido. Nun hausten an den Rändern 
der Laguna in Hütten und in Erdhöhlen Peones in einer 
Zahl, die sie zu Ejidos berechtigt hätte. Sie machten diesen 
Anspruch nicht geltend. Jedoch durch die Tatsache, daß 
diese Peones nun ein Anrecht besaßen, besaßen die Grund¬ 
besitzer Grund genug, sie auseinanderzusprengen. List 
und Gewalt, Entlassungen, Räumungsbefehle, provozierte 
Konflikte, Verhaftungen und Erschießungen halfen nichts. 
Erst die mit technischem Raffinement herbeigeführten 
Überschwemmungen trieben die Familien aus Höhlen und 
Hütten. Sechsundzwanzig Jahre lang führten die Hacenda- 
dos auf diese Weise Krieg gegen einen Teil ihrer Arbeiter. 

„Und zum Dank dafür beließ man den Hacendados nach 


463 



der Landaufteilung alle ihre Gutsgebäude", sagt einer aus 
der Gruppe, die sich um uns gebildet hat, „sie behielten 
die neuen Maschinen und die Kleinbahn. Wir können noch 
heute nicht mit ihnen konkurrieren." 

„Wir sind selbst schuld, wir hätten das voraus sehen 
müssen", sagt ein anderer. 

„Du warst doch selbst im Streikkomitee!" 

„Nun ja, wir hatten eben nur das Programm, etwas Land 
zu bekommen. Wie das durchzuführen war, davon verstan¬ 
den wir einen Dreck. Keiner von uns wußte damals, was 
eine landwirtschaftliche Kooperative ist. Sonst hätten wir 
doch vor allem die Cascos verlangt, die Wirtschafts¬ 
gebäude." 

Vor dem großen Streik von 1936 betrugen die Tages¬ 
löhne fünfzig bis achtzig Centavos. Sie flössen zum größten 
Teil in die „Tienda de Raya", den monopolen Kaufladen, 
an dem der Latifundista beteiligt war, obwohl das Gesetz 
das verbot. Während der Pflücke schaffte der Peön mit 
Frau und Kindern in Tag- und Nachtarbeit und brachte es 
im Akkordlohn bis auf dreißig Pesos die Woche. Diese 
Konjunktur genoß er jedoch nur zwei Monate lang. Die 
übrigen zehn Monate verdiente er ein Sechstel, und die 
Familie hungerte und fror in ihrer „Choza". Eine Choza 
ist im Baumwolland geringer als eine Hütte. Ebensowenig 
wie die Baumwolle dem Menschen irgend etwas zur Nah¬ 
rung hergibt, sowenig gibt sie ihm irgend etwas zur Be¬ 
hausung her. Bedient er sich dennoch ihrer Stengel und 
Blätter, dann sieht das Resultat so aus wie eine Choza in 
der Laguna. 

Durchaus nicht so hartherzig ging die Baumwolle mit 
den Großgrundherren der Laguna um. Sie waren - da die 
Petroleum- und die Silbermagnaten in Amerika lebten - 
die reichsten Leute im mexikanischen Reich. Auch sie 
wohnten nicht auf der Scholle, auch sie waren Ausländer, 
verloren aber niemals den Kontakt mit den Mächtigen 
Mexikos. Wann immer es zu Lohnkämpfen in der Laguna 
kam, legten die Latifundienbesitzer den Behörden Lohn¬ 
listen vor, aus denen ersichtlich war, daß ihre Leute sechs¬ 
mal soviel verdienten wie die Mehrzahl der Landarbeiter 
Mexikos. Überflüssig zu sagen, daß es die Lohntüten der 


464 



beiden fetten Monate waren . . . Die Taglöhner erfuhren 
nichts von diesem Beweisstück und konnten nicht aufklä¬ 
ren. 

1935, mit dem Regierungsantritt des Präsidenten Läzaro 
Cärdenas, begannen die Laguneros sich gewerkschaftlich 
zu organisieren und formulierten ihre Forderungen: Kol¬ 
lektivvertrag, ein Peso fünfzig Tageslohn und Anwesen¬ 
heit eines Gewerkschaftsvertreters beim Abwiegen der ge¬ 
pflückten Wolle. 

Die Plantagenbesitzer lehnten alle Forderungen ab, auch 
diese letzte, womit sie den Diebstahl eingestanden, den 
sie an den armseligen Pflückern begingen. 

Auf der Hacienda Manila kam es zum ersten organisier¬ 
ten Streik. Als er auf andere Güter Übergriff, intervenierte 
die Regierung bei den Grundbesitzern. Die aber erklärten, 
daß sie die Löhne um keinen Centavo erhöhen, ja nicht 
einmal eine Gewichtskontrolle der Pflücke zulassen könn¬ 
ten. Sie würden bei der Bewirtschaftung der Plantagen 
nur Kapital zustecken und besäßen keine Geldreserven 
mehr. Jede zu ihren Ungunsten ausfallende Entscheidung 
müßten sie mit der Schließung ihrer Betriebe beantworten, 
was automatisch den Ruin der Baumwollproduktion und 
Baumwollindustrie zur Folge hätte. In diesem Sinn schrieb 
auch die Presse, sprachen die Radiostationen. 

Gleichzeitig aber zogen diese mittellosen Unternehmer 
mit enormen Geldmitteln eine gelbe Gewerkschaft auf und 
lockten mit einem Lohnangebot von sechs bis sieben Pesos 
pro Tag Armeen von Streikbrechern in die Laguna. Viele 
wurden im Flugzeug herangebracht. So geschah es, daß 
während des Streiks um zehntausend Arbeiter mehr be¬ 
schäftigt wurden als während einer normalen Ernte. (Es 
klingt wie ein bösartiger Witz, daß diesen Streikbrechern 
und Mitgliedern der faschistischen „Goldhemden"- und Sin- 
arquisten-Organisationen später bei der Aufteilung Land 
in der Laguna zugewiesen wurde.) 

Die Großgrundbesitzer richteten eine Sendestation für 
die Laguna ein, und fast jedem Peön, ob Streiker oder 
nicht, wurde unentgeltlich ein Radioapparat in die Hütte 
gestellt. Alle sollten, wenn auch in primitiver Form, das 
hören, was konservative Nationalökonomen seit langem 


30 Kisch VII 


465 



schlüssig beweisen wollen: daß in irgendeinem höheren 
Sinn jede Lohnerhöhung nur eine Lohnverminderung be¬ 
deute, in irgendeinem anderen höheren Sinn jede Verbes¬ 
serung der Lebensbedingungen nur eine Verschlechterung 
der Lebensbedingungen sei. Forderungen an den Unter¬ 
nehmer seien ein schimpflicher Mangel an Patriotismus 
und die Folge eines „exotischen", dem Mexikaner wesens- 
und artfremden Materialismus. 

Bevor aber die Radiobatterien dieses Aufklärungswerk 
vollenden konnten, trat den Großgrundbesitzern eine neue 
Macht entgegen, die Industriearbeiterschaft. Aus Klassen¬ 
solidarität und erbittert durch die Machinationen der 
Grundherren, stellten sich die Fabrikarbeiter von Torreön 
auf die Seite der Landarbeiter. Sie verlangten, daß das 
Jahrzehnte vorher erlassene Agrargesetz nun endlich 
durchgeführt, die Laguna aufgeteilt werde. 38 000 Arbeiter 
begannen am 22. August 1936 in Torreon einen Sympathie¬ 
streik. An der Spitze des Streikkomitees stand ein junger 
Arbeiter von indianischem Typ. Kaum einen Lagunero gibt 
es, der morgen bei den Wahlen ins Abgeordnetenhaus 
nicht den Stimmzettel mit dem Namen Dionisio Encina in 
die Urne werfen wird. Denn Dionisio Encina war es, der 
den Kampf um die Laguna zum Siege geführt hat. 

Streikkolonnen kamen auf die Haciendas und verlang¬ 
ten, daß der Latifundista oder sein Vertreter sich sofort 
entferne. Auf dem First wurde die schwarzrote Fahne ge¬ 
hißt, Standarte des Streiks, Warnung an Arbeitsuchende, 
diesen Betrieb zu betreten. 

Motorisierte Militärabteilungen brachten die Grund¬ 
besitzer zurück, holten die Streikfahnen ein und ließen 
eine Wache auf der Hacienda. Gleich darauf kam Dionisio 
Encina mit seinem Streikkommando und einem Maschi¬ 
nengewehr wieder heran, entwaffnete und beurlaubte die 
Wache, wies den Latifundista abermals aus dem Haus und 
hißte die Fahne von neuem. 

Zu Gefechten kam es nur zwischen Streikern und Streik¬ 
brechern, aber es waren große Gefechte mit Toten. Nach 
acht Tagen wurde das Streikkomitee zum Präsidenten der 
Republik in die Hauptstadt berufen. Läzaro Cärdenas bot 
den Laguneros an, im Oktober das Agrargesetz von 1917 


466 



durchzuführen, das heißt, die Comarca Laguna an diejeni¬ 
gen aufzuteilen, die sie bearbeiten, falls der Streik, der 
das Textilwesen, ja die gesamte Volkswirtschaft des Lan¬ 
des gefährde, sofort beendet werde. Die Arbeiter nahmen 
an, und am 3. September 1936 wurde der Streik abgebro¬ 
chen. 

Nun ging es nicht mehr um Löhne und Menschenleben, 
nun war der Besitz bedroht. Die Latifundistas trugen ihre 
Panik eilends in die Welt. Kanzel, Wissenschaft, Radio 
und Presse, einschließlich der nordamerikanischen, wurden 
gewonnen, um Läzaro Cärdenas zum Widerruf seines Wor¬ 
tes zu bewegen und Mexiko vom bolschewistischen Ab¬ 
grund zurückzureißen. Die englischen Eigentümer der bei¬ 
den Latifundien Tlahualilo und Purcell drohten mit der 
Intervention der britischen Regierung. Söhne von Gro߬ 
grundbesitzern stellten sich an die Spitze der faschistischen 
Goldhemden, machten lokale Aufstände und versuchten, 
einen Putsch zu organisieren. 

Andererseits waren die Bauernverbände und Industrie¬ 
gewerkschaften ausnahmslos für die Durchführung der 
Landaufteilung. Läzaro Cärdenas bewies, daß er entschlos¬ 
sen war, dem arbeitenden Mexikaner das zu geben, was des 
arbeitenden Mexikaners ist. Im Oktober kam er nach Tor- 
reön und verteilte ein Terrain von 180 000 Hektar an rund 
30 000 Landarbeiter zu kollektiver Bearbeitung und zu 
kollektivem Nutzen. 

Dreihundert Ejidos gibt es im Kollektivgebiet, im klein¬ 
sten wohnen dreißig, im größten vierhundert Familien. 
Das ist aber bei weitem nicht die ganze Laguna. Die alten 
Grundbesitzer behielten ein Areal von 50 000 Hektar, also 
fast ein Drittel von dem, was die 30 000 Peones für sich 
und ihre Familienmitglieder bekamen. 

Ferner wurden sechshundert Landarbeiter, unter ihnen 
die herangeholten Streikbrecher, mit je einem Grundstück 
von sechs Hektar beteilt, das sie individuell bearbeiten. 
Schließlich gibt es noch 1500 Privateigentümer, jeder von 
ihnen hat etwa zwanzig Hektar Landes, ererbten oder ge¬ 
kauften Besitz. 

Von der Feldarbeit gehen wir zu den Wirtschaftszentren. 
Wir sehen den großen Korral mit Vieh und Pferden. Den 


467 



Schuppen, darin Maschinen gereinigt und repariert wer¬ 
den. Ein Maisfeld des Kollektivs und Gemüsegärten, in 
denen die einzelnen für sich Bohnen und Pfeffer anbauen. 
Das Büro des „Credito", dem die Administration obliegt. 
Die „Tienda", Konsumladen mit Wirtsstube und Billard, 
aber ohne Alkohol. Den Sportplatz, auf dem man „Beisbol" 
spielt, wie die spanische Orthographie diese Segnung aus 
Amerika schreibt. 

Hühner laufen auf der Dorfstraße umher, hinter Hürden 
grunzen Schweine. Wir fragen nach dem Namen der rot 
blühenden Sträucher vor einem Haus. „Higuerilla", ant¬ 
wortet uns die Frau, die am Zaun steht. „Die bringen mir 
hundert Pesos im Jahr." Higuerilla ist Rizinus. 

In einem offenen Schuppen liegen landwirtschaftliche 
Geräte, die im Lauf der letzten Jahre als überholt aus¬ 
rangiert wurden, Gerümpel. Wir haben bei Marx gelernt, 
daß Reliquien von Arbeitsmitteln für die Beurteilung 
untergegangener Gesellschaftsformen ebenso wichtig sind 
wie Knochenfunde für die Kenntnis vergangener Tier¬ 
gemeinschaften. Nicht, was gemacht wird, sondern wie es 
gemacht wird, unterscheidet die ökonomischen Epochen. 
Die Arbeitsmittel dienen sowohl als Gradmesser für die 
Entwicklung menschlicher Arbeitskraft wie auch als An¬ 
zeiger der menschlichen Verhältnisse, unter denen gearbei¬ 
tet wird. 

Was hier auf dem Haufen liegt, war schon überholt, als 
es hier noch in Gebrauch stand. Wir haben vor sechzehn 
Jahren die Neger im Cotton Belt von USA weit modernere 
Apparaturen handhaben gesehen; dort gab es, weil sich 
der Lohnsklave bezahlt machen mußte, keine solchen Holz¬ 
pflüge, keine handbetriebenen Exhaustoren und keine 
Eimer, aus denen der Dünger mit der Hand ausgestreut 
wurde, als ob er Saatgut wäre. 

„Das haben uns die Herren hinterlassen", sagt einer 
unserer Begleiter, „damit sollten wir arbeiten. So hätten 
sie sich unsere Konkurrenz gefallen lassen können." 

Ein anderer stößt mit dem Fuß ins Gerümpel. „Nicht 
einmal die Eisenbeschläge konnten wir gebrauchen." 

Ein dritter; „Selbstverständlich hatten sie auch ganz mo¬ 
derne Maschinen. Aber weshalb sollten sie die alten ver- 


468 




schrotten? Immer gab's noch Winkel, wo sie einen Inva¬ 
liden damit ackern ließen." 

Das schlimmste Erbe waren die Irrigationsanlagen. Mit¬ 
ten in der Bewässerungszeit von 1936 war es nicht erlaubt 
die Kanäle auszubessern. „Wir haben kein Interesse dar¬ 
an", begründeten die Hacendados ihr Verbot, „die nächste 
Ernte wird ja nicht mehr uns gehören. Vorläufig aber hat 
auf unserem Besitztum niemand etwas zu suchen." 

Neben der Rumpelkammer steht die Reparaturwerk¬ 
stätte - Pfähle mit einem Dach aus Brettern. Wir fragen 
die Schmiede, was sie verdienen. 

„Mancher, zum Beispiel der Pedro da, macht zweitau¬ 
send Pesos im Jahr. Aber auch wir verdienen mehr als die 
Baumwollarbeiter." 

„Werdet ihr nicht beneidet?" 

„Am Anfang gab's Neid und Konflikte. Dann hat sich 
herausgestellt, wer für die eine Arbeit geeignet ist und 
wer für eine andere. Übrigens haben wir mehr zu tun als 
die auf dem Feld. Schauen Sie her, was wir alles reparie¬ 
ren: Hufeisen, Machetes (das sind die Sicheln Mexikos), 
Pflugschare, Räder, Kessel, Drehscheiben für den Motor¬ 
pflug, Traktoren. Wir sind sechs Schmiede für unseren 
Ejido." 

In einem mit Pferden bespannten Leiterwagen kommen 
einige Leute vom Feld, ihnen folgt auf einem Lastauto 
eine größere Gruppe. Es ist die Stunde des Schichtwechsels. 
Sie möchten wissen, was der unbekannte Besucher - viel¬ 
leicht ein Wahlagitator? vielleicht ein Investigator der Re¬ 
gierung? - hier will. Alle sammeln sich um uns. 

„Nun, wie ist das Leben hier?" 

„Wie soll's sein, schlecht ist es." 

„Schlecht? Die Baumwolle steht doch gut auf dem Feld, 
der Preis steht gut auf dem Markt." 

„Davon merken wir nicht viel. Wir kriegen anderthalb 
Pesos pro Tag, so oder so." 

„Das ist doch nur ein Vorschuß. Ihr verdient ja am Ver¬ 
kauf der Wolle." 

„Wenn's gut geht. Aber das steht nur auf dem Pa¬ 
pier." 

„Wieso nur auf dem Papier?" 


469 



„Wir haben Schulden vom ersten Jahr, von damals, als 
fast keine Ernte einkam. Wir zahlen dem Banco Ejidal ab, 
und der Banco Ejidal zahlt den Latifundistas ab." 

Sollte es also wahr sein, was uns die Licenciados und 
Politicos in der Hauptstadt gesagt hatten und was wir 
nicht glauben wollten: daß die Baumwollarbeiter durch 
die Aufteilung in Schuldknechtschaft geraten seien? Ande¬ 
rerseits aber sehen die Leute, die uns da umstehen, nicht 
aus, wie sonst der Indio auf Feld und Landstraße aus¬ 
sieht. Nicht hohlwangig, nicht halbnackt. Die Leute, die 
uns da umstehen, gleichen eher dem Industriearbeiter in 
Europa. 

„Ich war gestern in eurem Hospital in Torreon", sagen 
wir. 

„Das Hospital", sagt ein junger Bursche, „das ist ja ganz 
schon. Aber wer kann sich denn gleich ins Hospital legen, 
wenn ihn etwas schmerzt!" 

„Wird denn nicht jeder auf genommen, wenn er krank 
ist?" 

„Und wer soll dann hier die Arbeit machen, wenn alle 
im Hospital sind?" 

„Ich war noch nie im Hospital", sagt eine ältere Frau in 
bösem Ton, als wäre das eine Anklage. - „Ich auch nicht, 
ich auch nicht", rufen andere. 

Wir lassen uns nicht entmutigen. „Die neuen Häuser an 
der Landstraße?" 

„An der Landstraße, das ist es eben. An der Landstraße! 
Fahren Sie mal ein paar Kilometer nach Süden, Senor, da 
werden Sie etwas anderes sehen als Häuser. Da leben die 
Leute in Chozas oder in Höhlen." 

„Werden denn nicht mehr Häuser gebaut? Überall habe 
ich Bauplätze gesehen." 

„Wieviel werden denn gebaut?" höhnt der junge Anfüh¬ 
rer, „nicht einmal ein Viertel von uns hat eine Wohnung." 
- „Und wer eine Wohnung hat, hat keine Möbel", ruft die 
Frau mit dem bösen Ton. 

„Für alle gleichzeitig zu bauen würde wahrscheinlich 
viele Millionen Pesos kosten, allein in der Laguna." 

„Oh, der Banco Ejidal könnte das ganz leicht bezahlen. 
Der verdient Geld genug." 


470 



«Verdient Geld genug, sagt ihr? Der Banco Ejidal ist 
doch eine staatliche Einrichtung, eine gemeinnützige/ 

Gelächter. «Aber die Beamten sind keine staatliche Ein¬ 
richtung, keine gemeinnützige. Die stecken mit den Lati- 
fundistas unter einer Decke, machen Geschäfte mit den 
Vertretern der Maschinenfabriken und mit den Baumwoll¬ 
einkäufern/ 

«Ich habe gehört, daß die Ejidalbank von solchen Beam¬ 
ten gesäubert wurde/ 

„Ja, viele sind hinausgeflogen, aber es sind immer noch 
welche da." 

Unsere Argumente sind verausgabt. Oder haben wir 
nicht doch noch eines? Ein Argument, das zwar kein ökono¬ 
misches ist und nichts mit Baumwolle zu tun hat, aber mit 
der Zukunft und mit dem Fortschritt und vielleicht von 
dem jungen Wortführer nicht so ohne weiteres abgelehnt 
werden kann. 

Wir wenden uns an ihn: „Und die Schulen, die neuen 
Schulen?" 

Er zuckt die Achseln. „Unsere Kinder müssen bei der 
Arbeit helfen. Vor allem bei der Pflücke. Wie können sie 
da an regelmäßigem Schulunterricht teilnehmen? Und wir 
haben nicht genug Lehrer/ 

Resigniert geben wir auf, wir können nicht mehr in un¬ 
serem Optimismus verharren, können nur sagen: „Also 
war's früher besser .. / 

Da verstummt das Murren und Reden im Kreis zu einer 
Stille, die wie ein Aufschrei ist. Als erste findet die Frau 
mit dem bösen Ton ihre Sprache wieder. „Um der Liebe 
des Herrgotts willen", ruft sie, „wie kann der Senor so 
etwas glauben!" Und alle fallen ein: „So haben wir's doch 
nicht gemeint, wie kann uns der Senor so mißverstehen!" 
- „Früher waren wir schlimmer dran als der rote Wurm. 
Jetzt sind wir wenigstens Menschen, je besser die Ernte 
ist, desto mehr verdienen wir." 

„Wieso?" fragen wir. „Ihr kriegt anderthalb Pesos, so 
oder so." 

„Das ist ja nur der Vorschuß, Senor. Bei der Abrechnung 
kriegen wir viel mehr, das haben wir Ihnen doch gesagt, 
Senor." 


471 



„Ihr habt aber hinzugefügt das stehe nur auf dem Pa¬ 
pier." 

„Ja natürlich, wir haben Schulden. Aber die stammen 
noch vom ersten Jahr, von damals, als fast keine Ernte 
einkam, das haben wir Ihnen doch ausdrücklich gesagt, 
Senor." - „Unser Hospital allein", sagt die Frau mit dem 
bösen Ton, „macht uns schon zu Menschen. Früher konnte 
man nicht zum Arzt gehen; wer hatte Zeit und Geld dazu? 
Meine Mutter hat mich in den Stauden geboren, und mein 
Mann ist in den Stauden an Blutsturz gestorben. Jetzt 
gehen wir einfach ins Hospital!" 

„Aber wer macht denn die Arbeit, wenn alle im Hospital 
sind?" 

„Es sind ja nicht alle gleichzeitig krank, Senor. Und mit 
Zahnschmerz zum Beispiel fährt man erst nach Feierabend 
auf die Poliklinik. Außerdem kommen regelmäßig Ärzte 
von der Campana Sanitaria zu uns heraus." - „Und unsere 
Häuser?" ruft einer, „haben Sie denn nicht an der Land¬ 
straße die neuen Häuser gesehen, Senor?" 

„An der Landstraße, ja", provozieren wir, „an der Land¬ 
straße sieht man schöne Häuser. Aber ein paar Kilo¬ 
meter südlich wohnen die Leute noch in Chozas oder in 
Höhlen." 

„Werden denn nicht überall neue Häuser gebaut?" sagt 
einer vorwurfsvoll. „Schon ein Viertel von uns hat eigene 
Wohnungen." 

Wir: „Ein Viertel. Ist denn das so viel?" 

Sie: „Nicht viel? Früher hat kein Landarbeiter eine Woh¬ 
nung gehabt, bedenken Sie das, Senor." - „Für alle Lagu¬ 
neros gleichzeitig Häuser zu bauen würde sechzig Mil¬ 
lionen Pesos kosten. Der Staat kann doch nicht in jedem 
Bezirk sechzig Millionen nur für Häuser ausgeben." 

„Und der Banco Ejidal?" 

„Der Banco Ejidal hat kein Geld dafür. Er bevorschußt 
die Ernte und tätigt die Baumwollverkäufe. Für sich darf 
die Bank nichts verdienen." 

„Aber die Beamten?" 

„Gewiß, es gibt immer noch welche, die für sich Geschäfte 
machen. Aber das hat doch nichts mit dem Bau von Häu¬ 
sern zu tun." - „Haben Sie schon das Estadio gesehen. 


472 



Senor, unseren Beisbolplatz?" ruft die Frau mit dem bösen 
Ton, sie ruft es, als hätte sie ihr ganzes Leben lang nur 
Baseball gespielt und als ob ihr nirgendwo ein Home-run 
so gut gelänge wie auf ihrem Estadio. „Kommen Sie, Se¬ 
nor, ich zeige Ihnen unseren Beisbolplatz." 

Der junge Mann wendet sich an uns und spricht lang¬ 
sam. Er hat ein Argument, das zwar kein ökonomisches ist 
und nichts mit Baumwolle zu tun hat, aber mit der Zukunft 
und dem Fortschritt und vielleicht von uns nicht ohne wei¬ 
teres abgelehnt werden kann: „Wir haben doch jetzt Schu¬ 
len." 

„Nun ja", geben wir zurück, „aber eure Kinder müssen 
doch beim Pflücken helfen, wie können sie da die Schule 
besuchen? Auch habt ihr nicht genug Lehrer." 

„Ja, es ist schlimm, daß die Kinder in der Zeit der 
Pflücke helfen müssen. Das ist vorläufig nicht zu ändern, 
weil immer weniger Saisonarbeiter zu uns kommen, alle 
gehen nach den Vereinigten Staaten als Braceros. Aber 
schließlich verlieren die Kinder nur zwei bis drei Monate. 
Früher gab's weit und breit überhaupt keine Schule. Und 
die Lehrer kommen nach und nach." 

„Also ist es besser als früher?" 

Wer da glaubt, daß sie freudig bejahen würden, kennt 
den Bauern nicht. „Ach Gott", antworten sie achselzuckend, 
„gut ist es nicht." 

Wir fürchten, das Gespräch könnte von neuem beginnen, 
und verabschieden uns. Achtundzwanzig Stunden lang ge¬ 
nießen wir die Heimfahrt nach Mexiko-Stadt in vollen Zü¬ 
gen, will heißen: in vollen Eisenbahnzügen. In Mexiko 
kommen wir wieder mit den Licenciados und Politicos zu¬ 
sammen und erzählen ihnen, was wir in der Comarca La- 
guna gesehen und gehört, von den neuen Maschinen, Häu¬ 
sern, Schulen, berichten davon, daß es besser ist als in 
anderen Bezirken, die wir kennen. 

„Wie naiv Sie sind! Sie kennen Mexiko nicht. Man zeigt 
den Besuchern nur das, was eigens für sie hergestellt 
wurde", sagen die Licenciados und Politicos. 

„Aber wir haben doch mit mehr als hundert Ejidatarios 
gesprochen, und jeder hat uns bestätigt, daß es ihnen heute 
unvergleichlich besser geht als früher!" 


473 



Die Licenciados und Politicos lächeln ironisch. „Die 
Leute sind gut gedrillt. Sie erzählen den Besuchern nur, 
was den Gewerkschaften in ihren Kram paßt. Wehe denen, 
die etwas anderes sagen! Und Sie, Senor, Sie sind darauf 
hereingefallen." 

Das müssen wir doch schon einmal gehört haben? 



MAXIMILIAN VON HABSBURG 
UND KARL MARX 


Zum erhöhten Ostrand der Stadt Queretaro kehrt die 
Muse der Geschichte immer wieder zurück, hartnäckig, 
aus den verschiedenartigsten Anlässen. Dieser ihr Stamm¬ 
platz ist höchstens ein Quadratkilometer groß, eine Kirche 
mit Kloster und Kirchhof, eine kleine Parkanlage und ein 
Markt mit einem Monument haben gerade noch darauf 
Raum. 

Das erstemal fand sich die geschriebene Geschichte am 
24. Juli 1531 auf diesem Quadratkilometer ein, und zwar 
in Gestalt des bekehrten Indios Tapia, der in der Taufe 
den Vornamen Fernando und als Taufgeschenk ein spani¬ 
sches Offizierspatent erhalten hatte. Er kam mit einem 
Heerbann gleichfalls christianisierter Indios herangezogen, 
um die Stadt für König Karl V. zu erobern. Sie hieß da¬ 
mals noch nicht Queretaro, sondern Taxco, was soviel wie 
„Ballspielplatz" besagt und darauf hindeutet, daß die Be¬ 
wohner sportliebend waren. Das erwies sich alsbald. 

Fernando de Tapia schickte dem Kaziken der Stadt die 
Aufforderung, sich zu ergeben. Der wußte, daß die Pfeile 
und Speere seiner Otomi-Indianer wirkungslos an den spa¬ 
nischen Panzern abprallen, daß die Lehmmauern den Ka¬ 
nonen nicht standhalten würden, und er wußte auch, daß 
bisher keine Ortschaft Mexikos ihrer Eroberung entgan¬ 
gen war. Deshalb machte er einen sportlichen Gegenvor¬ 
schlag: die beiden Heere mögen zum Faustkampf antreten, 
waffenlos, Mann gegen Mann, und der siegreichen Mann¬ 
schaft solle als Preis die Stadt zufallen. 

Der Feind nahm die Herausforderung an, und als Ring 
wurde der flache Hügel Sangremal bestimmt, eben jener 
Quadratkilometer am Ostrand der Stadt, von dem wir 
oben sprachen. Am nächsten Tag begann bei Morgenan¬ 
bruch das große Boxen, und erst als die Sonne unterging, 
wurde die letzte Runde geschlagen. Die Söldner Spaniens 


475 



stiegen siegreich aus den Seilen (sofern solche gespannt 
waren). Hätten die ausgeknockten Queretarenser gewußt, 
welches Schicksal ihnen bevorstand, so hätten sie an der 
Seite des Siegers kaum so heiter getanzt, gesungen und 
musiziert. 

An der Stelle dieses Massenboxmatchs ward zuerst ein 
Kreuz aufgerichtet, dann ein Taufaltar und schließlich um 
diesen herum eine Kirche, der Templo de la Cruz, mitsamt 
einem Kloster. 

Aber Klio ließ sich nicht irreführen und kam immer 
wieder auf diesen Ort zurück. Den Spaniern, die die Stadt 
im Faustkampf gewonnen hatten, ging gerade von hier 
aus nicht nur die Stadt wieder verloren, sondern auch das 
ganze riesige Reich Mexiko. 

Inmitten des kleinen Klosterfriedhofs, der einen Teil 
unseres Quadratkilometers ausmacht, steht auf hohem Sok- 
kel ein steingemeißelter Sarkophag. Darin liegt die femme 
veneree der mexikanischen Unabhängigkeitsbewegung, die 
Corregidora Josefa Ortiz de Dominguez. 

Sie war die Gattin des Bürgermeisters von Queretaro, 
aber ihre Stellung als erste Dame der Stadt konnte ihren 
Freiheitssinn nicht bändigen, solange ihr Land in spanische 
Stiefel gespannt war. Sie konspirierte mit den Patrioten 
ihrer Heimatstadt Queretaro, mit denen der Garnisonstadt 
San Miguel el Grande (heute San Miguel de Allende) und 
mit dem Pfarrer des Dorfes Dolores (heute Dolores de 
Hidalgo). Die Vorbereitungen zum Aufstand waren noch 
nicht vollendet, erst in drei Wochen sollte losgeschlagen 
werden. Da, am 15. September 1810, erfuhren der Corre- 
gidor und seine Frau, daß die Verschwörung entdeckt und 
der Befehl gegeben sei, bei Morgengrauen die Beteiligten 
zu verhaften. 

Zwar sympathisierte auch der Corregidor mit den Revo¬ 
lutionären, aber noch mehr liebte er seine Frau. Er fürch¬ 
tete, sie werde versuchen, ihre Freunde zu warnen, und 
sich dadurch selbst an den Galgen bringen. Deshalb ließ 
er sie im ersten Stock des Stadthauses einsperren und 
nahm alle Schlüssel an sich. Wie schlecht kannte er seine 
Frau! 


476 



Die Gefangene dachte nicht daran, sich zu retten und 
ihre Genossen zugrunde gehen zu lassen. Sie klopfte so 
lange auf den Fußboden, bis der Gefängniswärter Ignacio 
Perez aufmerksam wurde, heraufkam und durch das 
Schlüsselloch seine verhaftete Herrin fragte, was sie be¬ 
fehle. Sie befehle, antwortete sie durchs Schlüsselloch, daß 
er, Ignacio Perez, sofort nach San Miguel el Grande reite 
und dem Kapitän Allende bestelle: «Alles verraten!" Wie 
vierzig Jahre vorher Paul Revere von Boston nach Lexing- 
ton, wie zwanzig Jahre vorher der Postmeister Drouet von 
Ste. Menehould nach Varennes geritten waren, um die Re¬ 
volution ihres Landes zu retten, so galoppierte nun Ignacio 
Perez durch Nacht und Nebel. Er überbrachte die Botschaft, 
der Priester Hidalgo läutete die kleine Glocke der kleinen 
Kirche seines kleinen Dorfes, der Kapitän Allende und die 
anderen Offiziere von San Miguel ließen ihre Truppen an- 
treten, und der Kampf um die Unabhängigkeit Mexikos 
begann .. . 

Die Corregidora ist eingeschreint im Herzen Mexikos, 
ihr Bildnis ist auf Münzen geprägt und auf Briefmarken 
gedruckt, und viele Denkmäler sind ihr errichtet. Aber 
das eigentümlichste ist in der Stadt Queretaro, ein Obelisk, 
der ein überlebensgroßes Schlüsselloch trägt, Denkmal 
des Schlüssellochs, durch das die revolutionäre Frau das 
Signal zum Aufflammen der Freiheit flüsterte. 

Hier auf dem Quadratkilometer liegt die Corregidora 
im steinernen Sarkophag. Zuerst hatte die Hauptstadt ihre 
Gebeine besessen, jedoch Queretaro bestand darauf, seine 
berühmteste Mitbürgerin bei sich zu haben. Queretaro be¬ 
kam sie und gleichzeitig die Gebeine ihres Gatten, der die 
entscheidende Botschaft zu verhindern versucht hatte. 

Auf dem unregelmäßig-dreieckigen Winkel zwischen 
Friedhofsmauer und Landstraße wurde ein Park angelegt, 
sein Boden ist kein grüner Rasen, sondern roter Sand und 
Kiesel. Statt Blumen wachsen hier ausschließlich Kakteen, 
strauchförmige, baumförmige, kugelförmige, schlangen¬ 
förmige, orgelpfeifenförmige, je eine Sorte auf je einem 
Beet. Zur Zeit der Blüte tragen die Schlangenkakteen sil¬ 
berne Krönlein wie die Schlangenkönigin im Märchen, die 


477 



Glieder des Nopals sehen wie Malerpaletten aus, und aus 
dem Orgelkaktus blühen goldene Notenköpfe auf, als 
hätten Orgeltöne Gestalt gewonnen. 

Das Kloster ist geschlossen; wenn man es sich öffnen 
lassen will, muß man beträchtliche Zeit mit Suchen und 
Warten verbringen. Schließlich hallt der Schritt des Be¬ 
suchers durch abbröckelnde Korridore und ein verfallenes 
Refektorium. Nachdem in Mexiko die Klöster aufgehoben 
wurden, beherbergte der Bau zunächst eine Schule und 
nachher Soldaten. Wir wollen hoffen, daß die Zeichnungen 
und Schriften an den Wänden nicht aus der Schulzeit, son¬ 
dern aus der Kasernenzeit stammen; unzählbare Frauen 
mit Namen und Adressen sind hier als Huren verflucht, 
wahrscheinlich, weil sie sich dem Fluchenden gegenüber 
nicht als solche erwiesen. 

Im Klosterhof lagert Gerümpel und Schutt, dicht um¬ 
wuchert von stachligem Unkraut. Dazwischen eine zer¬ 
trümmerte Statue. Sie fiel Anno 1867 von einer Kugel, die 
Maximilian galt, dem österreichischen Erzherzog, der nach 
Mexiko gekommen war, um hier mehr als ein Erzherzog 
zu sein, ein Kaiser. Als seine Haupt- und Residenzstadt 
von den republikanischen Truppen des Benito Juärez be¬ 
droht war, übersiedelte er nach Queretaro. 

Wie uns der greise Antonio Ramirez heute früh in seiner 
Apotheke auf dem Marktplatz so genau schilderte, als 
hätte er das gestern abend und nicht vor mehr als siebzig 
Jahren erlebt, kam Maximilian allabendlich um acht Uhr 
ganz allein auf die heutige Plaza de la Independencia. 
„Wir Kinder schlichen hinter ihm her, war er doch der 
Emperador und trug einen langen goldenen Bart, wie es 
ihn bei uns zu Lande nicht gibt. Unruhig ging er die 
Plaza ab und im Kreis um das Beet. Seine Hände hielt er 
auf dem Rücken verschränkt, und die Finger bewegten sich 
ununterbrochen, was uns Kindern hinter ihm teils komisch, 
teils aufregend geheimnisvoll vorkam. 

Eines Morgens bezog die republikanische Artillerie Stel¬ 
lung auf den Hügelkämmen vor der Stadt, aber zu unserer, 
der Kinder, großen Enttäuschung fiel den ganzen hellen 
Tag über kein Schuß. Erst am Abend um acht Uhr begann 


478 



das Feuer mit einer erschreckenden Salve wie aus hundert 
Kanonen. Es richtete sich auf die kleine Plaza, wo die 
Schützen den Emperador vermuteten. Aber die Salve traf 
ihn nicht, sie traf bloß die Statue in der Mitte des Beets, 
schlug ihr den Kopf ab und die Beine. Der steinerne Mann 
lag nun im Rasen, und tagelang umstanden wir ihn und 
glotzten seinen verstümmelten Körper an. Später wurde 
er weggeschafft, ich glaube, er liegt noch im Hof des Mon- 
asterio." 

In der Tat, da liegt er, der Mann, der einen ihm nicht 
zugedachten Schuß empfing. Er hieß Marques de la Villa 
del Villar del Aguila und hatte die Stadt Queretaro, die er 
bewohnte und liebte, vom Wassermangel befreit; vom 
Jahre 1726 bis zum Jahre 1735 dauerte der Bau des Aquä¬ 
dukts, zu dem der Marques 88 000 Pesos aus eigener Ta¬ 
sche beisteuerte, ein weißer Rabe unter seinen spanischen 
Standesgenossen in der Kolonie. 

Von unserem Quadratkilometer blicken wir aufs Tal 
hinab, durch das der Aquädukt unversehrt und auf hoch- 
gestreckten Beinen der durstenden Stadt entgegenschreitet. 

Zu ebener Erde des Klosters ist eine leere Halle, noch 
verfallener als die übrigen Räume. Das war einmal ein 
Stall oder eine Remise. Ein vier Meter breiter Torbogen 
ließ die Wagen ins Freie hinaus. Aus Holzbohlen, die mit 
Eisenklammern verstärkt sind, ist die Türe. 

Durch diese Stalltüre schlängelte sich, geführt vom Ver¬ 
rat, am 15. Mai 1867 die Weltgeschichte in den Kloster¬ 
bau. Das Kloster de la Cruz war jetzt eine strategische 
Schlüsselstellung und eine Festung, darin die Truppen 
Maximilians unter dem Kommando des Obersten Miguel 
Lopez lagerten. 

Miguel Lopez verriet. Nicht weil er etwa seinen aus¬ 
ländisch-kaiserlichen Kriegsherrn gehaßt hätte, verriet er. 
Nicht weil er dessen inländisch-republikanischen Gegner 
geliebt hätte, verriet er. Sondern er verriet, weil er ein 
Verräter schlechthin war. Als Verräter wird er auch von 
den Mexikanern betrachtet. 

Durch die Stalltüre des Klosters ließ er die republikani¬ 
schen Truppen ein, die Kaiserlichen wurden überrumpelt. 


479 



Queretaro eingenommen, und der Wiener Kaiser von Me¬ 
xiko mußte sich ergeben. 

Im ersten Stock ist die Klosterzelle zu sehen, die Maxi¬ 
milian als Gefängniszelle diente von dieser Nacht an. 
Schlafen hätte er nicht können, auch wenn es seine Gedan¬ 
ken zugelassen hätten. Arbeiter waren im Raum, um die 
Seitentür ganz zu vermauern und das Fenster bis zur hal¬ 
ben Höhe. 

Einem meiner Vorfahren, denkt Maximilian, während 
die Maurer Ziegel aufschichten, einem meiner Vorfahren, 
dessen Namen ich trage, ist einmal durch ein Wunder ein 
Ausweg aus der Ausweglosigkeit gewiesen worden. „Kai¬ 
ser Maximilian auf der Martinswand" heißt die Lesebuch¬ 
geschichte. Mich, Maximilian den Nachfahr, wird niemand 
von meiner Martinswand erretten. Mir bringt der Anfangs¬ 
buchstabe meines Namens kein Glück. Meine Misere be¬ 
gann mit Miramare; dort nahm ich die Berufung nach 
Mexiko an. In Mexiko standen nur wenige Männer 
zu mir in meinem Mißgeschick. Die Generale Miramön 
und Mejia sitzen in der Nebenzelle, dem Tod geweiht wie 
ich. 

Der Ehrgeiz meiner Mutter, ihre Söhne auf Thronen zu 
sehen! Bei meinem Bruder Franz Joseph war es ihr wohl 
geglückt, aber Heimat ist nicht Fremde, Österreich nicht 
Mexiko, mein geistesschwacher Onkel Ferdinand nicht Be¬ 
nito Juärez. Einen Benito Juärez kann eine „Erzherzogin- 
Kamarilla" nicht beiseite schieben. 

Und die Madame Montijo, Majestät der Franzosen. Sie 
läßt mich hier im Stich, nachdem sie und ihr Mann mich 
in mein Malheur hineinmanövriert haben. Der Neffe Napo¬ 
leons macht den Habsburger zum Kaiser! Welch eine Iro¬ 
nie! Kein Tropfen vom Blut der Bonapartes rollt in ihm, 
er ist der Sohn des bürgerlichen Herrn Verhuel mit Hor- 
tense Beauharnais, wie jedermann weiß. 

Noch einen zweiten, ebenso legitimen Sohn hatte sie. 
Mit ihrem Stallmeister. Dieser Sohn ist das ärgste M, der 
Miserabelste der Miserablen, Monsieur Morny, Minister 
und Kammerpräsident von Frankreich, in Wirklichkeit 
aber Geschäftemacher, Spieler und Abenteurer. Er hat sich 


480 



mit mexikanischen Staatsanleihen bestechen lassen. Und 
um sie einzutreiben, hat er den Krieg entfesselt. 

Staatsanleihen! Ich wußte nicht, welch ein Betrug da¬ 
hintersteckt. Erst vor ein paar Tagen bekam ich ein Kon¬ 
volut von Zeitungsartikeln aus der Wiener Presse. Sie 
sind aus der Zeit, da die Intervention in Mexiko nur ein 
Projekt war und ich noch nicht einmal im Traum daran 
dachte, daß ich damit etwas zu tun haben werde. Der Ver¬ 
fasser der Artikel hatte schon damals die Männer und die 
Machinationen durchschaut, denen ich nun zum Opfer falle: 
Napoleon den Kleinen, die Mexikaner Marquez und Men¬ 
dez, die Franzosen Morny und Mires. 

Miramön, jetzt mein Leidensgenosse und Zellennachbar, 
hat damals eigenmächtig die Staatsschuld aufgenommen. Er 
quittierte zweiundfünfzig Millionen Dollars und bekam - 
ungefähr vier Millionen. Das saubere Geschäft führte ein 
Bankier in Mexiko durch, der Schweizer Jecker. Er ließ 
Schuldscheine auf die vollen zweiundfünfzig Millionen 
vom Schwindelbankier Mires in Paris emittieren, und Mon¬ 
sieur Mires hat seinerseits den Monsieur Morny mit drei¬ 
ßig Prozent beteiligt. Deshalb werden Kriege geführt! Um 
Profite zu machen, kann ein Jecker Tausende sterben las¬ 
sen und bleibt im Hintergrund. 

Der Mann, der die Artikel in der Wiener Presse schrieb, 
wußte die Ziffern, die ich erst hier erfuhr, schon vor fünf 
Jahren. Ein merkwürdiger Mann, er sieht hinter der gro¬ 
ßen Politik hauptsächlich pekuniäre Dinge, urteilt und 
prophezeit danach. Und er hat richtig prophezeit. Sogar 
von diesem Queretaro schrieb er als von dem letzten 
Schlupfwinkel, wo sich die Reaktion mit Hilfe Mejias und 
einheimischer Banden in den Bergen noch zu halten ver¬ 
mag. Als der Mann das schrieb, wußte ich nicht einmal, 
daß es einen Ort namens Queretaro gäbe und einen Mexi¬ 
kaner namens Mejia. Jetzt liege ich in jenem Queretaro 
neben jenem Mejia in einer Gruft, die man um mich herum 
zumauert. 

Man würde glauben, daß der Verfasser dieser Artikel 
ein internationaler Finanzmann ist. Aber er soll ein So¬ 
zialist sein, ich glaub das nicht. Karl Marx heißt er; solche 
Ratgeber hätte ich gebraucht. Nun ist es zu spät. 


31 Kisch VII 


481 



Ich werde hingerichtet werden. Ich habe ja selbst mein 
Todesurteil unterschrieben; das Dekret, das jeden mexi¬ 
kanischen Republikaner zum Tod verurteilt. Damit habe 
ich den Präsidenten und sein Volk verurteilt Damit habe 
ich die Offiziere und Soldaten von Juärez der Hinrichtung 
ausgeliefert. Jetzt werden sie mit mir das gleiche tun. 

Diese Konjunkturritter in Paris - die Napoleoniden, 
wie sie sich nennen - haben mich fallenlassen, der ich 
wirklich ein Enkel Bonapartes bin. Das wissen freilich we¬ 
nige. Der Herzog von Reichstadt hatte meine Mutter ge¬ 
liebt und ich bin der einzige Sohn des einzigen Sohns von 
Napoleon. Nicht zufällig hat sie mir das Bild mitgegeben, 
auf dem sie mit Napoleons Sohn gemalt ist, und mir ge¬ 
sagt daß ihre Korrespondenz mit ihm im Schloß Buschtieh- 
rad liegt. Aber ich bin kein Erbe von Napoleons Kraft. Ich 
bin selbst schuld an meinem Schicksal, ich bin mein eige¬ 
nes M. Ich bin nur Mittelmaß. 

Ich bin schuld, und vielleicht ist meine Cariota mitschul¬ 
dig. Nein, um Gottes willen, nein, das ist nicht wahr, ich 
will das nicht einmal hier aussprechen, wo mich niemand 
hört nicht einmal in dieser Gruft, in die man mich eben 
einmauert. Ich will nicht daran denken, was höfische Nat¬ 
tern mir ins Ohr zischten, daß Cariota mich betrogen habe, 
daß sie sich Mutter fühlte und hauptsächlich deshalb nach 
Europa abfuhr. Auch der Doktor Basch wollte mir das viel¬ 
leicht sagen, als er, verstört mich um die Erlaubnis bat 
mir eine Privatsache über Ihre Majestät Vorbringen zu 
dürfen. Ich hieß ihn schweigen. 

Und wäre es auch wahr, bin nicht ich der Schuldige? 
Hätte ich nicht wissen müssen, daß man eine junge Frau 
nicht heiraten darf, wenn man ihr nur psychische Liebe zu 
bieten vermag? Durfte ich als Monarch in ein Land kom¬ 
men, wenn ich keine Dynastie schaffen und keine Erbfolge 
beginnen konnte? Der Wiener Hof wußte, daß ich es nicht 
kann, und in Mexiko erfuhr man es, als ich den Knaben 
Iturbide an Kindes Statt annahm, einen Leibeserben, einen 
legitimen Kronprinzen - adoptierte. 

In Maximilians zweitem Kerker, im Kloster Las Teresi- 
tas, dient seine Zelle als Knoblauchmagazin, die Zwiebeln 


482 



liegen darin meterhoch aufgeschichtet und wer dieses Pia- 
teau besteigen wollte, würde vom Duft in die Flucht ge¬ 
schlagen. 

Auch seine dritte und letzte Kerkerzelle fand Maximi¬ 
lian in einem Kloster, in dem der Kapuziner. Vom Kapu¬ 
zinerkloster kam er in die Kapuzinergruft von Queretaro 
nach Wien. 

Auf diesem Wege lag sein Tod. Als er vor die Stadt 
Queretaro auf den Glockenhügel geführt wurde, wufjte er 
nicht, was sich in Europa begab. Seine Cariota sei in 
Europa gestorben, hatte man ihm erzählt; um ihm den 
eigenen Tod leichter zu machen. 

Manet hat die Füsilierung des Kaisers von Mexiko ge¬ 
malt in Wirklichkeit sah sie anders aus. Maximilian stand 
an jenem 19. Juli 1867 nicht zwischen seinen Generalen 
Miramön und Mejia, er hatte Miramön den Mittelplatz 
eingeräumt. Maximilian trug keinen Hut, geschweige denn 
einen Sombrero, das Peloton war kein nonchalant da¬ 
stehendes Soldatenhäuflein, sondern ein formiertes Batail¬ 
lon der Infanterie von Nuevo Leon; keine Mauer war da 
und keine Bäume im Hintergrund. 

Kaum vier Jahre dauerte es, bis alle, die Maximilian im 
Kerker von Queretaro verflucht hatte, vom Schicksal ereilt 
wurden. Die Pariser Kommune machte reinen Tisch. Selbst 
Jecker, den man gar nicht gesucht hatte, entging seiner 
Strafe nicht. Als ein Monsieur Icre in Paris um einen Pafj 
ansuchte, stellte sich heraus, dafj er nicht so heifje; man 
forschte nach seinem Vorleben und erfuhr, dag er Jecker 
sei. Am 26. Mai 1871 wurde er von einem Peloton in den 
Schanzgraben der damaligen Rue de Puebla (heute Rue 
des Pyrenees) geführt und erlitt dort den Tod auf die glei¬ 
che Weise wie vier Jahre vorher sein Opfer Maximilian. 

Das Haus Habsburg hat in Queretaro an der Todesstelle 
Maximilians eine kalte, geschmacklose Grabkapelle er¬ 
bauen lassen, wie sie sich zu Hunderten auf jedem Fried¬ 
hof finden. Die Inschrift spricht nicht vom Kaiser Maximi¬ 
lian, sondern vom «Erzherzog Ferdinand Maximilian", weil 
die Mexikaner seinen Kaisertitel nicht anerkennen. Im In¬ 
nern der Kapelle hängen vergilbte Photos von Maximilians 


483 



Hofstaat Unter dem Bild der Ehrendame Josefa Velardo 
wird rühmend vermerkt daß sie von Nezahualcoyotl ab¬ 
stammt dem König von Texcoco, während unter dem 
Photo des Leibarztes Dr. Samuel Basch die ebenso unwich¬ 
tige Tatsache nicht erwähnt ist daß er mein Großonkel 
war. 

Seine Biographie hat ein anderer meiner Onkel ge¬ 
schrieben, Professor Heinrich E. Kisch, in dem seinerzeit 
viel gelesenen Buch „Erlebtes und Erstrebtes". Als Onkel 
Sami Basch, sagenumwittert, meinen Brüdern und mir von 
Mexiko erzählte, lauschten wir scheu und erregt, wir fühl¬ 
ten die Weltgeschichte durch unser Speisezimmer rauschen. 
Die Erzählung der Szene, wie Onkel Sami zum Kaiser von 
der Kaiserin sprechen wollte und ihm Schweigen geboten 
wurde, war mehr an unsere Eltern als an uns gerichtet 
und wir verstanden nicht, um was es sich handelte. Den¬ 
noch machte sie großen Eindruck auf uns, und ein halbes 
Jahrhundert später, an der Todesstätte Maximilians, steht 
sie mir noch klar vor Augen. 

So viele kriegerische Ereignisse sich auf dem Quadrat¬ 
kilometer in Queretaro abgespielt haben - keinem Feld¬ 
herrn und keinem Kaiser gilt das Denkmal auf dem Markt¬ 
platz vor dem Kloster de la Cruz. Es stellt Venustiano 
Carranza dar, den Präsidenten, der die in Queretaro be¬ 
schlossene Verfassung in Queretaro sanktioniert hat. Ge¬ 
gen Venustiano Carranza ist politisch und menschlich sehr 
vieles einzuwenden, nichts aber gegen die Verfassung, und 
so gilt das Denkmal mehr ihr als ihm. In dieser Konstitu¬ 
tion ist das Recht der Nation auf ihre Bodenschätze fest¬ 
gelegt, das Eigentumsrecht der Bauern auf den von ihnen 
bebauten Boden (Landaufteilung) und der Anspruch der 
Arbeiter auf den Achtstundentag, auf Mindestlohn, auf 
Streik und auf Zusammenschluß in Gewerkschaften. 

Venustiano Carranza selbst hat sich an diese Verfassung 
nicht gehalten, und seine Vertrauensleute zogen aus der 
Umgehung der Verfassung so viel Profit, daß man aus 
dem Hauptwort „Korruption" die Verbalform „carrancear" 
bildete. 

Aber Carranzas Verfassung besteht noch heute zu Recht, 


484 



seine Nachfolger im Präsidentenamt haben sich an sie ge¬ 
halten, und viele Paragraphen wurden durchgeführt. 

Vergebt die Verfassung von Queretaro nicht, scheint das 
Monument von Queretaro zu sagen, dann wird die Zu¬ 
kunft des Landes Mexiko friedlicher sein als die Vergan¬ 
genheit, die sich im Mikrokosmos dieses Quadratkilo¬ 
meters bewegt hat. 



LANDSCHAFT, 

GESCHAFFEN UM DES SILBERS WILLEN 


Bin ich in einer chinesischen Landschaft? In einem von 
Jules Verne erdachten Land im Innern der Erde? Bei der 
Wasserpantomime eines kosmischen Zirkus? Alles, was ich 
sehe, ist unbegreiflich und wird noch unbegreiflicher, da 
ich zu begreifen beginne. 

Hier ist ein See, ein großer See. Brücken schwingen sich 
von einigen Stellen seines Wassers zu anderen Stellen sei¬ 
nes Wassers. Anscheinend sind diese Brücken nur zu dem 
Zweck errichtet, sich zu kreuzen und zu queren. In regel¬ 
mäßigen Abständen, wie aus ornamentalen Gründen an¬ 
geordnet, schäumen und sprudeln und strudeln Gischte auf 
dem Wasserspiegel, der im übrigen glatt ist. Über jedem 
dieser Gischte kreist ein runder Käfig, in dem Affen oder 
Papageien zu schaukeln scheinen. 

Das Ufer geht auf allen Seiten unvermittelt, ohne Rand, 
ganz steil und hoch nach oben wie bei einem Kratersee. 
Auf den -fast senkrechten Hängen stehen Hütten, und von 
unten, vom Ufer, ragen Schlote, denen Gase entfahren, 
über die höchstgelegenen Hütten hinaus. 

Ich bin in der Zyanisierungsanlage von Real del Monte, 
und ich weiß nur, daß die Erze, die dieser mir sinnlosen 
Landschaft wohl einen Sinn geben müssen, auf dem glei¬ 
chen Weg hierherkamen wie ich. 

Dieser mein Weg hat mit dem ersten Spaziergang durch 
die Stadt begonnen. Die Naturschätze des Gebiets von Pa- 
chuca haben die Schicksale von Völkern und Kontinenten 
beeinflußt, und doch ist die Stadt armselig, nicht zu ver¬ 
gleichen mit anderen in Mexiko. Kein Palacio, keine Ave¬ 
nida, kein Park, kein anständiges Trinkwasser. Schlecht 
und spärlich ist die Pflasterung, rings um das Weichbild 
verpesten die Abwässer der Bergwerksanlagen die Luft. 
Schön ist nur die Lage der Stadt, aber was diese Schön¬ 
heit ausmacht, die Häuser auf den Bergeshängen rings 


486 



um das Tal, erweist sich in der Nähe als Stätte trostlosen 
Elends. 

Ich klettere den Förderturm der Grube Loreto hinauf, 
wollte durch die Rundsicht meine Eindrücke aus der Stadt 
ordnen. Ich erkannte die Höfe wieder, die ausgedienten An¬ 
reicherungsanlagen, Haciendas de Beneficio, in denen 
Maultiere sich im Kreis bewegt hatten vom sechzehnten 
Jahrhundert bis zum zwanzigsten. Tag für Tag und Nacht 
für Nacht, Jahr um Jahr, um das Silbererz zu zerbrechen 
und mit Quecksilber zu vermengen. Sorgsam wurde das 
Silber geborgen, achtlos das Quecksilber weggeschwemmt. 
Ringsumher gibt es Ackerböden, die getränkt sind mit 
Quecksilber und vielleicht reicher als die Silbergruben. 
Aber niemand kümmert sich darum. 

Vom Förderturm aus sah ich in das alte massive Haus 
hinein, wo die Bergwerksgesellschaft Real del Monte ihre 
Logiergäste unterbringt, neu eintreffende Ingenieure oder 
inspizierende Beamte. Nicht weit davon: die Ställe für die 
Pferde, die ganze Wälder nach Pachuca schleifen, damit sie 
hier unter der Erde als Verstützung enden. Drüben sind die 
„Cajas", die Bürogebäude der Kompanie. Dort die Koope¬ 
rative der Arbeiter. Am Rand der Stadt liegt die Mae- 
stranza, Reparaturwerkstätte und Einkaufsstelle für das 
Werk. Eingekauft werden Maschinen, Sprengstoffe, Chemi¬ 
kalien, Holz. 

Zur Maestranza gehört der „Bone Yard". Da alles in der 
Gesellschaft, außer den Arbeitern, amerikanisch ist, heißt 
es „Bone Yard" und nicht Gebeinhaus. Rostig und verbeult 
liegt darin die Geschichte des Bergbaus: Hacken und Beile, 
Handbohrer, Drehbohrer, Revolverbohrer und elektrische 
Bohrapparate, Steinbrecher, Pochwerke, Kugelmühlen und 
so fort, Epochen einer Technologie, die sich nur um Zer¬ 
hacken und Zerbohren und Zerkleinern dreht, sich moder¬ 
nisierte, aber im Grund die gleiche blieb. 

In einer der verlassenen Haciendas ward eine angli¬ 
kanische Betstube eingerichtet für die Cornwalliser Berg¬ 
leute, die im vorigen Jahrhundert hier tätig waren, auf der 
anderen Seite ein Freimaurertempel für die Amerikaner, 
die jetzt hier tätig sind. Hinter Real del Monte buckelt 
sich ein Hügel, dessen Gipfel noch grün ist. Oben liegt 


487 



der Friedhof der Protestanten und der Freimaurer, eine 
Krone, geschmiedet aus Steineiche und Nadelbaum. Immer 
waren die Ingenieure und Vorarbeiter Ausländer. Zuerst 
kamen sie vom Erzgebirge her, aus den sächsischen und 
böhmischen Bergwerken, aus Kuttenberg, Pribram, Zinn¬ 
wald, Joachimsthal und Freiberg, aus den Ketzerländern 
der Hussiten und Lutheraner, weshalb ihre Namen in den 
Inquisitionsakten immer wiederkehren. 

Drüben im Westen, schon im Nachbarstaat, auf dem 
Marktplatz von Sultepec, steht seit 1733 ein Bergmann als 
Brunnenfigur - sicherlich das älteste proletarische Monu¬ 
ment auf dieser Hemisphäre. Der alte Kumpel, der übri¬ 
gens ein junger Kumpel ist, steht da mit auf gekrempelten 
Ärmeln und in hohen Stiefeln, wie sie niemals ein Indio 
trug, den Hammer hält er geschultert, den langen Meißel 
fest in der Linken. Mit seiner breiten Nase und seinen 
Locken erinnert er mich an einen Jugendgenossen aus 
Kladno, der von Hitlers Gestapo hingerichtet wurde, und 
immer, wenn ich durch Sultepec komme, grüße ich ihn mit 
„Zdar buh", dem böhmischen Bergmannsgruß. 

Von meinem Aussichtspunkt konnte ich weit übers Land 
schauen, auf Fördertürme anderer Gruben: die „Veta Viz- 
caina", über die Humboldt so viel des Lobes sagte, daß 
sich die ehrwürdige Londoner City in abenteuerliche Spe¬ 
kulationen stürzte; die „Purisima Grande", wo Bartolomeo 
de Medina seine ersten Experimente mit dem Patio-Ver¬ 
fahren begann; die «Santa Gertrudis", die 1879 fallierte, 
für dreitausend Pesos verkauft wurde und aus der die 
neuen Besitzer binnen dreizehn Jahren fünfundzwanzig 
Millionen Pesos scheffelten. 

Ich stieg von der Höhe des Förderturms zur Erdober¬ 
fläche hinab und ging zum Schacht. In einem Sturz, schnel¬ 
ler als die Schwerkraft, fiel ich dem Mittelpunkt der Erde 
entgegen. Dann schritt ich stahlhelmbewehrt die Stollen 
ab, wobei ich mich an die Beschreibung der Silberhütte in 
Heinrich Heines «Harzreise" erinnerte. Ich traf kein Idyll 
an. Kein Zitherspiel hallte von den Silberwänden wider, im 
Stollen wird kein Tisch gezeigt, an dem ein leutseliger 
Herzog inmitten getreuer Bergknappen zechte, hier hau^ 
sen keine Heinzelmännchen, und selbst einem Heine käme 


488 



hier kein zärtlicher Gedanke an des Bergmanns Töchter¬ 
lein. 

Nur die Altäre in den Nischen der Wände, bestrahlt 
papierblumengeschmückt und groß wie Kapellen, könnten 
den, der es wollte, zu romantischen Gedanken bewegen. 
Neben den Heiligenbildern brennen geweihte Kerzen - 
solange die Kerze am Stolleneingang brennt, kann dem 
Spender vor Ort nichts geschehen, ein sicheres Glückauf 
ist ihm verbürgt. 

Früher sei das Kerzengeschäft besser gegangen, klagte 
mir eine Verkäuferin auf dem Weg zur Grube, „die Män¬ 
ner verlassen sich heutzutage mehr auf die Gewerkschaft 
als auf die Jungfrau von Guadalupe". Damit schien die 
Kerzenfrau aussagen zu wollen, daß das sehr dumm von 
den Männern sei. Denn die Gewerkschaft mag für Arbeits¬ 
schutz, für Gasmasken gegen Silikosis und für Verkür¬ 
zung der Arbeitszeit sorgen, aber ist sie denn allmächtig? 
Sie richtet ja nicht einmal gegen das Labor Department 
der Gesellschaft viel aus, das durch gewiegte Juristen, Ar¬ 
beitsrechtler und andere Mittel mit den Vertretern der Ge¬ 
werkschaft die Verhandlungen führt. 

Ich tappte, Grubenlampe am Bauch, Helm auf dem Schä¬ 
del, Bleistift in der Hand, vierhundert Meter unterhalb 
des Tageslichts durch die Irrgänge. Ich suchte nach dem 
Neuen in diesem alten Werk. Gewiß, die Kompressoren 
hatten noch nicht gerattert, als hier Chichimeken und Tol- 
teken nach Silber gruben. Die Dynamitschüsse hatten noch 
nicht gedröhnt in Cortez' Tagen. Unter dem Regime der 
Grafen de Regia brauste noch nicht alle fünfundfünfzig 
Sekunden ein Zug heran mit Kippwagen, die ihre Flanken 
öffnen und einen Darminhalt von fünfeinhalb Tonnen aus- 
schütten, mit einem Getöse, als zerbräche die Erdkugel 
und als krachten ihre Trümmer gleichzeitig in die kosmi¬ 
sche Tiefe. 

Die Leitungskabel, die, geladen mit fünfzig Volt, ge¬ 
fährlich knapp über den Köpfen verlaufen, gab's noch 
nicht, als der Freiberger Bergassessor Humboldt hier ein- 
fuhr, und keine elektrischen Signale leuchteten damals auf. 
Auch bohrte sich der Förderschacht noch nicht einen halben 


489 



Kilometer tief ins Fleisch der Erde. Noch war die unheim¬ 
liche Bahn nicht gebaut, die ohne Menschen durch den 
Berg jagt elektrisch ablädt und sich auf der Drehweiche 
eines Gespensterbahnhofs elektrisch umdreht, um neue La¬ 
dung zu holen. 

Das abgeladene grob gebrochene Erz saust auf laufen¬ 
dem Band seiner Zermahlung zu. So schnell auch die mine¬ 
ralen Passagiere auf ihrer Berg-und-Tal-Bahn vorbeirasten 
an mir, der ich am Rand der Strecke vorwärts balancierte, 
sie fanden noch Zeit, mich zu steinigen, es prasselte nur so 
auf meinen Schutzhelm, und Funke auf Funke versuchte 
meine Augen zu treffen. 

An der Endstation des Rollbandes, bei den Steinbrechern 
und Kugelmühlen, geriet ich vom Steinregen in die 
Schlammtraufe. Alles war in Schlamm eingehüllt: die mo¬ 
torisierten Monstermühlen, der Fußboden, auf den sie 
montiert sind, das Röhrenwerk, das sie mit Erz füttert, 
die Leitern und Stiegen, die auf die Plattformen hinauf¬ 
führen, und vor allem die Menschen, die hier arbeiten. 
Schlamm, Schlamm und wieder Schlamm, Schlamm-Men¬ 
schen und Schlamm-Maschinen auf Schlammboden. 

Drinnen in den Eingeweiden der stählernen Schlamm¬ 
ungetüme krachte es ohne Pause. Was Jahrmillionen lang 
auf dem Bergesgrund als Felsenmauer, als einziges Stück 
dastand, „fest wie Erz", ward vor kaum einer Stunde aus¬ 
einandergehackt, und nun müssen die Teile des Ganzen, 
Ich gegen Ich, aufeinander losschlagen, um sich noch mehr 
zu verstümmeln. Keine der unter kannibalischem Brüllen 
ratternden Brechmaschinen begnügt sich mit der ihr zu¬ 
gemessenen Verkleinerung; sie speit das halbzerbissene 
Produkt in den Schlund der Nachbarmaschine, welche das 
Kauwerk fortsetzt und sich in die nächste übergibt, bis 
alles pulverisiert ist und nur ein gelber Schleim übrig¬ 
bleibt 

Ich war benommen von diesen letzten Szenen des Sil¬ 
berdramas, von der auf dem laufenden Band und von der 
auf dem Schüttelboden, ich war benommen, das gestehe 
ich ein. Ich hatte kaum Zeit, darüber nachzudenken, ob 
all das neu sei oder ewig alt. War es nicht schon immer 
so, daß man - wenn auch freilich nicht mit solchen Moto- 


490 



ren, solchem Stahl und in solcher Dimension - das Erz 
zerschlug, zur Schütte und zur Mühle brachte und ver¬ 
schlammte, um Silber herauszuholen. 

Was ich heute und hier sah im „Fortune Level", dem 
vierten oder fünften Stockwerk, spielte sich vor fünfzig 
Jahren im sechzig Meter höher gelegenen Geschoß ab, und 
zur Zeit, als Heine in die Silberhütte einfuhr, sah es hun- 
dertzwanzig Meter zu meinen Häupten genauso aus wie 
im Harz. Die Produktionsmittel haben sich modernisiert, 
die Arbeitsbedingungen verschärft und die Profite erhöht 
- aber das sind Unterschiede bloß in Ausmaßen und 
Quantitäten. Es gibt nichts Neues unter der Erde. 

Nur dieser See ist neu, dieser chinesische See mit den 
nirgendwohin führenden, sich kreuzenden Brücken, mit 
den Gischten in regelmäßigen Abständen. 

Die geometrische Anordnung der Gischte hilft meinem 
verwirrten Blick, sich zu entwirren. Es ist ein künstlicher, 
sicherlich ein zweckdienlicher See, und er setzt sich aus 
riesigen Zisternen zusammen. Ihre Tangenten sind die 
Brücken, und ihre Zentren sind die holzvergitterten Treib¬ 
räder, die ich für Volieren oder Affenkäfige hielt und die 
den Wirbel machten. 

Eine der Zisternen trägt über ihrem Mittelpunkt keinen 
rotierenden Käfig, sondern ein Haus. Ein Haus aus Holz 
und Glas. Ich gehe hinüber in dieses Haus aus Holz und 
Glas, das Kanzleigebäude und Kommandobrücke zugleich 
ist, die Betriebsleitung der Zyanisierungsanlage. Der 
Kanzleichef oder Kapitän erklärt mir, wie das Gestein aus 
der Grube fährt, die Leidensstationen bis zu dem Augen¬ 
blick, da dem erzenen Leib die silberne Seele entschwebt 

Begonnen hat die Zyanuration schon in jenen wackeln¬ 
den Kugelmühlen, in denen ich Felsen knacken hörte und 
wo eine Sintflut von Schlamm alles überströmte. Dort drin¬ 
nen, so lerne ich nun, schlagen nicht nur Mangan und Stahl 
und eiserne Birne und motorisch betriebene Stampfen und 
rotierende Pocheisen auf das Erz ein, sondern auch chemi¬ 
sche Mittel helfen bei dieser Folterung. 

Die zwanzig metallenen Rundtürme am Ufer des Sees, 
jeder sieben Meter im Durchmesser und zwanzig Meter 


491 



hoch, nehmen das zerpochte und geschlämmte Erz in her¬ 
metischen Gewahrsam. In den Bergwerksanlagen aller Welt 
heißen diese Riesenzylinder „Pachuca-Tanks". Respektvoll 
schaue ich auf sie, die Stammväter des Geschlechts, die 
den Namen Pachuca über Meere und Berge trugen. Eine 
andere mexikanische Silberstadt, Parral, ist Taufpatin der 
Parral-Pumpen; überall beherrschen mexikanische Aus¬ 
drücke die Montanistik, „Patio", „Arrastra" und „Cazo" sind 
in Amerika wie in Europa Benennungen von Verfahren. 

Mit ausgestrecktem Arm erläutert der Ingenieur sein 
Wasserreich. Täglich schluckt der See 3700 metrische Ton¬ 
nen Erz, aus denen das Silber zu lösen ist. Wie wenig Sil¬ 
ber, ein halbes Kilogramm auf eine metrische Tonne! Und 
wieviel Arbeitskräfte und wieviel Arbeitsgänge und wie¬ 
viel Maschinen und Ingredienzien sind dazu nötig. Den¬ 
noch kann die US Smelting and Refining Company in Salt 
Lake City (USA), der jetzt Real del Monte y Pachuca 
(Mexiko) gehört, ganz schöne Dividenden ausschütten von 
dem, was täglich in den See geschüttet wird. 

Die eisernen Schwimmtanks, die zusammen den See 
ergeben, haben die gleiche Tiefe, aber verschiedene Auf¬ 
gabenkreise. In den Primärtanks schwabbelt Schaum, der 
aussieht wie ein riesiges Gehirn, und schwimmt von dort 
in die Sekundärtanks hinüber, um fünfzig Stunden lang 
mit Zyankali ausgelaugt zu werden. Dadurch löst sich das 
Silber. Wie aber kriegt man es aus der Flüssigkeit? In 
den Filtertanks saugt eine Vakuumpumpe die Lösung, die 
so dünn ist, daß ein Laie sie für pures Wasser halten 
würde, durch 1117 Filterblätter, bis alles Unflüssige in 
ihnen geblieben ist. Zinkstaub wird beigemengt und wie¬ 
der entzogen, welch letztere Gelegenheit das Zyankali dazu 
benützt, gemeinsam mit dem Zinkstaub das Weite zu su¬ 
chen - ihre Verbindung mit dem Silber hat sie allzu vielen 
Strapazen ausgesetzt. Zurück bleibt das Silber und - Gold. 
Des Goldes ist wenig in der Silbermine, wenigstens ver¬ 
hältnismäßig. Aber wie man sagt, deckt das bißchen Gold, 
das sich täglich in den Filterblättern findet, die ganzen 
Kosten des Bergwerksbetriebes, so daß der Gewinn an rei¬ 
nem Silber der reine Gewinn wäre. 

Das Gold mit dem Silber zusammen, so wie es aus dem 


492 



Zyanisierungsprozeß hervorgeht, wirkt noch nicht so ver¬ 
lockend, wie es sollte. Es sind Klumpen schwarzen Kotes, 
die von neuem durch Filterpressen gejagt werden müssen, 
wobei der Rest der Feuchtigkeit ausscheidet. Der feste 
Rückstand wird mit Borax und Zink in dem Ofen des 
Schmelzraumes gebraten, bis der Braten gar ist. Dieser 
Braten aus Gold und Silber ist aber noch immer ungenie߬ 
bar für den Magen der Finanz. Zum Glück ist die Raffine¬ 
rie nahe mit ihrem Salpeter und ihrer Elektrolyse, durch 
die sich schließlich goldenes Gold und silbernes Silber von¬ 
einander trennen. 

Der See lächelt nicht und ladet nicht zum Bade. Wenn 
man schon schillerisch sprechen will, muß man sagen, es 
rast der See und will sein Opfer haben. Bereitwillig erläu¬ 
tert der Ingenieur, warum der See rast. Weil das Zyankali 
nicht die Kraft hat, ohne Luftzufuhr Silber und Gold aus 
dem Schlamm zu losen, gibt es Flügelpumpen und Kom¬ 
pressoren, und aus ihnen schießt die zusammengepreßte 
Luft durch Röhren in die Tanks. 

... und will sein Opfer haben. Manchmal, an heißen 
Tagen, senkten sich durstige Vögel auf den See herab. So 
viel Wasser! Kaum aber hatten sie ihren Schnabel genetzt, 
fielen sie tot in den See, gefällt vom Zyankali. Seither 
scheint es sich in der Vogelwelt herumgesprochen zu ha¬ 
ben, daß diese Wässer gesundheitsschädlich sind. Nur vor 
kurzem kam eine Taube an Tank Nummer sieben, wahr¬ 
scheinlich eine ortsfremde, verirrte Taube. Nach kaum einer 
Minute fischte man sie heraus, sie war schon tot. 

Ich frage, warum überall Vorschriften hängen, Rettungs¬ 
gürtel zu tragen, und Anweisungen für Erste Hilfe. 

Das müsse so sein, erklärt der Ingenieur, damit kein 
Vorwurf erhoben werden kann, wenn etwas passieren 
sollte. Aber es sei noch nie etwas passiert. „Sehen Sie, hier 
habe ich auch eine Apotheke, auch nur so. Drei Gegengifte 
für den Fall einer Vergiftung: Eisensulfat, Kaliumhydroxyd 
und Magnesiumoxyd - zum Donnerwetter, da liegen ja 
leere Schachteln! Da hat ein Dummkopf jemandem ein 
Mittel gegeben und nachher die leeren Schachteln wieder 
in die Apotheke gesteckt." 

Aus sechstausend Mann besteht die Belegschaft von 


493 



Real del Monte. Davon sind nur ein paar hundert in der 
Zyanisierungsanlage beschäftigt bei Mischungs- und Rei¬ 
nigungsarbeiten. Die Chemie braucht weit weniger 
menschliche Arbeitskraft als die Mechanik und arbeitet 
gründlicher. In den vierhundert Jahren, seit Real del Monte 
in Betrieb steht ist niemals so restlos extrahiert worden 
wie jetzt. Aus dem Erz, das in die Tanks kommt kann 
kein Atom Silber verlorengehen. 

Und in Zukunft? 

In wenigen Jahren wird Real del Monte erschöpft sein. 



LIEBE UND LEPRA 


Ein Strauß langstieliger weißer Gladiolen schmückt ihre 
Brust zu ihren Seiten brennen Kerzen, zu ihren Füßen 
halten zwei Frauen die Totenwacht. Nur der Teint unter¬ 
scheidet die Tote von den Lebenden: das metallische Pur¬ 
purrot der Leprakranken, im Tode wird es abgestreift. Auf 
zwei Arten bringt die Lepra um, sie erwürgt oder sie trifft 
ins Herz; die Erwürgten werden blau, die anderen blaß. 
Die typischen Knoten im Gesicht der toten Frau vor dir 
liegen auf fahlem Fond. 

„Sie muß sehr alt gewesen sein", meinst du zum Arzt. 

„Vor einem Jahr hat sie hier ein Kind geboren", ant¬ 
wortet er. 

„Lebt ihr Mann auch hier?" 

„Sie war ledig und hat sich mit einem unserer Patienten 
zusammengetan. Im vorigen Monat haben wir ihn ent¬ 
lassen." 

„War er geheilt?" 

„Jedenfalls nicht mehr ansteckend. Lepra tuberosa, ein 
leichter Fall, geschlossene Wunden. Er war übrigens ein 
hübscher Mensch." 

Du schaust auf die Tote. 

„Was er an ihr fand, wissen wir nicht", sagt der Arzt 
„Vielleicht schrauben sich hier die Ansprüche herab, viel¬ 
leicht gefällt einem das, was einem ähnlich ist." 

„Ist das Kind tot?" 

„Warum tot? Lepra vererbt sich nicht. Selbstverständ¬ 
lich wurde der Säugling der Mutter gleich weggenommen 
und wie alle Kinder von Leprakranken nach Tlalpan ge¬ 
bracht ins ,Preventorio para hijos de leprosos'. Vor einigen 
Tagen kam eine Mitteilung aus Tlalpan, daß es dem Kind 
gut geht" 

Die Ehe zwischen Leprösen ist vom Gesetz verboten. 
Aber kein Gesetz kann die Liebe verbieten. Am Rand des 
staatlichen Lepraheimes von Zoquiapan, innerhalb des ein- 


495 



gezäunten Areals, stehen Hütten aus Lehm; sie wirken noch 
elender gegenüber den offiziellen Pavillons mit den blitz¬ 
blanken Zementmauem und den wohlgepflegten Gärten. 
In diesen Pavillons leisten weißgekleidete Pflegerinnen 
den Kranken Gesellschaft, manche mit einem Tuch über 
der Nase, aber sichtbaren, geschminkten Lippen, manche 
mit unverschleiertem und deshalb mehr geschminktem Ge¬ 
sicht. Im Küchenhaus bereiten nicht-leprakranke Köche das 
Essen zu. 

Hüben, vor den kahlen Hütten, blüht statt eines Gartens 
der Abraum, und Myriaden von Fliegen umsdhwirren ihn. 
In jeder Hütte sitzt ein Kranker neben einer Frau, die ihm 
ähnlich sieht, sie bäckt ihm Tortillas und brät ihm Tacos. 
Drüben in den Pavillons wird den Patienten der Saft der 
indischen Chaulmoograpflanze injiziert oder in Gelatine¬ 
kapseln eingegeben. Hüben in den Lehmhütten rauchen die 
Kranken die Droge des Vergessens, Marihuana. 

So primitiv handgemacht die Hütten sind, sie besitzen 
ein Industrieprodukt, um das sie jeder Hüttenlose benei¬ 
det: ein Vorhängeschloß. Wenn die Hütte leer ist, hängt 
das Schloß draußen, ist sie besetzt, hängt es drinnen. Nachts 
hängt es immer draußen, denn schlafen müssen alle in den 
Pavillons, die Frauen extra, die Männer extra, selbst Ehe¬ 
paare leben nachts getrennt. 

Da du in den großen Saal der Bettlägerigen eintrittst, 
richtet sich im Bett neben der Eingangstür ein Kranker 
auf und starrt dich an, als fühle er das Beleidigende dei¬ 
nes Grausens und wolle sich dafür rächen. Seine Augen 
sind gegen dich gezückt, es lodern in ihnen Haß, Wut und 
Verachtung, die sich steigern, während er dich mustert. 
Alles an dir mißfällt ihm total. Gleich wird er aufspringen 
und dich tödlich verwunden. Die Waffe hat er zur Hand: 
seine Hand. Er braucht dich nur zu berühren. Daß du sein 
Ziel bist, verhehlen seine Augen nicht. 

„Er ist blind", bemerkt der Arzt zu dir, „den ganzen 
Tag starrt er so ins Leere. Viele sind blind, der junge Chi¬ 
nese dort ist auch blind!" 

„Diese Chinesen auch?" fragst du, auf zwei deutend, die 
miteinander von Bett zu Bett Schach spielen. 

„Das sind keine Chinesen, sie sind Indios. Die Krank- 


496 



heit verstärkt nur ihren mongolischen Typ, sie zieht die 
Augenwinkel hoch, läßt die Brauen ausfallen und das Haar 
und verbreitert die Nase." 

Im Saal der Frauen hockt eine am Bettrand und zupft, 
da sie dich herankommen sieht, hastig ihr Kleid herunter, 
das hochgerutscht war. Ihr Gesicht ist das eines Pekineser¬ 
hündchens, von der Nase sind nur die Nasenlöcher geblie¬ 
ben. Verlegen lächelt sie, ob du nicht doch etwas von 
ihrem Bein gesehen. 

An jedem Bettgestell baumelt ein Rosenkranz, auf je¬ 
dem Nachttisch steht ein gerahmtes Heiligenbild, an den 
Wänden hängen viele, immer der gleiche Heilige. „Sankt 
Lazarus", erklärt mir ein Kranker, der meinem Blick folgt, 
„Sankt Lazarus hatte Lepra und wurde vom Tode er¬ 
weckt." 

Sicherlich glauben das alle ringsumher, und es tröstet 
sie, daß die Heilung der Lepra möglich ist, nämlich ebenso 
möglich wie die Erweckung vom Tode. Aber es ist gar 
nicht der auferstandene Lazarus, der hier hängt, sondern 
ein anderer Lazarus, ein Leprakranker, dem die Auf¬ 
erstehung verweigert wurde, wie das Evangelium Lukas' 
erzählt. 

Auch das Porträt eines Missionars grüßt dich von der 
Tünche der Wand her. Dieses Porträt kennst du. Es ist dir 
unvergeßlich aus einem schauerlichen Schaufenster in New 
York, das die Passanten an ihren Nerven in den Laden zu 
zerren versucht, in die Geldsammelstelle einer Mission. 
Die Gesichter und Gliedmaßen, die du hier im Lepraheim 
in natura vor dir hast, sahst du dort photographiert und 
vergrößert, und in der Mitte, von einem Heiligenschein 
aus Neonlicht umrahmt, hing das Bild dieses Missionars, 
des Paters Damien, genannt Hero-Martyr, der freiwillig 
das Los der Aussätzigen auf der Sandwich-Insel Molokai 
teilte. 

Im Lepraheim bedarf es keiner Missionare. Hier behan¬ 
deln Ärzte und Krankenschwestern, was zu behandeln ist. 
Es ist viel zu behandeln, aber nicht viel zu helfen. Was 
kann man machen mit drei- bis vierhundert Wunden auf 
einem Körper, der noch dazu nur das Fragment eines Kör¬ 
pers ist, ein eiterndes Skelett. Arzt und Schwester reinigen 


32 Kisch VII 


497 



die Wunden, schmieren etwas Chaulmoograpomade dar¬ 
auf und verbinden mit dünnen Gazestreifen. 

Du gehst durch Säle und an Sälen vorbei. Eine Bibel¬ 
stelle kommt dir in den Sinn: Die Aussätzigen einer bela¬ 
gerten, hungernden Stadt - war es nicht Samaria? - be¬ 
schließen einen Ausfall. Begründung: „Lassen sie uns am 
Leben, so bleiben wir am Leben, töten sie uns, nun, so sind 
wir tot." Du hast dir diese Worte gemerkt, weil sie dir 
wie ein Inbegriff der Gleichgültigkeit erschienen, eines 
alttestamentarischen „je m'en fiche". 

Jetzt, angesichts der Leprösen, versteht du es anders, 
verstehst, daß das Leben im Aussatz kein großer Einsatz 
ist und daß die Aussätzigen von Samaria nicht viel getöte¬ 
ter werden konnten, als sie schon waren. Aus dem Schutz¬ 
wall dieser Erwägung brachen sie vor, und das Heer der 
Belagerer jagte mit gesträubtem Haar davon, als rücke 
der ganze Heerbann der Ägypter und Hethiter an. So ward 
Samaria entsetzt durch Entsetzen. 

Die Waffenwirkung der Lepra hat auch in der Geschichte 
Mexikos ihre Rolle gespielt. Wann immer sich das Volk 
gegen die spanische Herrschaft erhob, schickten die Vize¬ 
könige Lepröse und Banditen, Leprosos und Leperos, ge¬ 
gen die Aufständischen zu Felde. Es gibt noch heute ge¬ 
nug Lepröse in Mexiko, wenn sie auch nicht mehr zu sol¬ 
chen Aktionen herangezogen werden. Mindestens 26 000 
der Staatsbürger sind leprakrank. In allen Ländern, wo 
es tropische Feuchtigkeit, Armut und Rückständigkeit 
gibt, gedeiht diese Krankheit, auf dem Balkan, in Latein¬ 
amerika, vor allem in Asien und Afrika. Vier bis fünf 
Millionen menschlicher Wesen behaften unseren Erdball 
mit Lepra. 

Im Schatten einer Hütte sitzt ein Liebespaar. Es scheint 
ihnen peinlich zu sein, daß du sie überraschst, aber sie lösen 
die ineinander verschlungenen Hände nicht, welche die 
Fluida ihrer Liebe zur Einheit schließen. 

„Ja", sagt der Arzt, der deinen Blick auf die liebenden 
Hände mißversteht, „ja, diese Finger sind typisch für Le¬ 
pra anaesthetica: verkrümmte Muskeln, Verknotungen an 
den Gelenken, blechglänzende Haut. Vollkommen abge¬ 
storben, ohne jedes Gefühl." 


498 



Und voll Gefühl streicheln und küssen einander die 
Finger der beiden Liebenden. 

Die langgestreckten Gebäude, auf denen die Aufschrift 
„Ambulantes" steht, sind nicht Ambulanzen, sondern ent¬ 
halten die Wohnräume derer, die sich frei bewegen kön¬ 
nen. Im Garten tragen die Kranken schwarze Sonnenbril¬ 
len, die ihrem Antlitz noch das letzte nehmen, was an 
Menschenantlitz erinnert. 

Die Ärzte bedauern, daß die Patienten nicht beschäftigt 
werden; eine industrielle oder landwirtschaftliche Arbeit 
auf dem weiten Terrain der Anstalt, das sich fast bis zu 
den Vulkanen und Schwefelquellen der Puebla-Berge hin¬ 
zieht, würde Verdienst und Lebensinhalt geben. Freilich, 
Betriebskapital wäre vonnöten. „Das Lepraheim der Ver¬ 
einigten Staaten verfügt über ein Budget von tausend Dol¬ 
lars pro Tag", sagt der Arzt, „ein solcher Betrag muß bei 
uns für Wochen reichen. Dabei ist das amerikanische Insti¬ 
tut - es liegt in Carville, Louisiana - nicht größer als 
unseres." 

Größer, das größte Leprahospital der Welt ist Culion 
auf den Philippinen. Es beherbergt fünf- bis sechstausend 
Kranke aller Nationalitäten. Auch das wird von den USA 
erhalten. Hier in Mexiko sind nur ebensoviel Hundert 
interniert, zwei Drittel Frauen, ein Drittel Männer sowie 
einige Kinder, für die eine Schule da ist. 

Ein Indiomädchen, das neben anderen Frauen auf einer 
Treppenstufe strickt, ruft herüber; „Doktorchen, was ist 
mit meiner Entlassung? Ich soll doch im Mai heiraten! 
Mein Bräutigam drängt auf Hochzeit." 

„Weiß er, daß du hier bist?" 

„Wie denn nicht! Er schreibt mir ganz ungeduldig aus 
Mazatlän. Wann wird meine Hochzeit sein, Doktorchen?" 

Vor dem Kinderpavillon spielen Kinder mit einem Hund. 
Ein Knabe wickelt sich die Binde vom verschwärten Bein. 

„Läuft der Hund nicht manchmal aus der Anstalt?" 

„Er gehört gar nicht zur Anstalt", antwortet der Arzt, 
„aber er kann niemanden anstecken. Auf kein Tier lassen 
sich Leprabazillen übertragen, nicht einmal auf Menschen¬ 
affen. Man sagt, daß Teppiche Bazillenträger sind, aber 
das ist niemals bewiesen worden. Unsere Kranken haben 


499 



oft Urlaub, um nach Hause zu gehen. Auch Tuberkulöse 
und Syphilitiker sind ansteckend und verkehren doch, wo 
sie wollen." 

Der Hund, abgeneigt, sich zum Sprung über eine auf- 
gespannte Binde zwingen zu lassen, versucht seine Künste 
an dir, er springt an dir hoch. Vielleicht hat er Hunger. 

„Sie brauchen keine Angst zu haben, selbst wenn er 
beißt. Nicht einmal von Mensch zu Mensch läßt sich Lepra 
so einfach injizieren. Kennen Sie den Fall Arning?" 

Auf Wunsch des skandinavischen Gelehrten Arning 
hatte ein zum Tode Verurteilter die Einwilligung gegeben, 
sich Leprabazillen einimpfen zu lassen, falls er begnadigt 
werde. Alsbald zeigten sich in der Umgebung der Impf¬ 
stelle typische Lepraknoten. Ein Kollege Arnings, Dr. Da¬ 
nielsen, hatte sich selbst jahrelang Lepragewebe implantiert, 
ohne daß sich ein Symptom zeigte. Nun hätte Arnings 
Experiment das Gegenteil, die künstliche Übertragungs¬ 
möglichkeit, bewiesen - wenn sich nicht nach Publizierung 
dieses Resultats herausgestellt hätte, daß zwei Geschwister 
und ein Onkel des Versuchspatienten an Lepra litten. 

„Einer meiner Kollegen, heute schon ein alter Herr", 
erzählt der Arzt weiter, „erreichte gleichfalls die Begnadi¬ 
gung eines Verbrechers, der sich zu Lepraexperimenten 
bereit erklärte. Der Mann hatte einen Doppelraubmord 
verübt, und weder die Tat noch der Täter wären je ent¬ 
deckt worden, wenn sich die Geliebte des Mörders nicht 
anderweitig verliebt hätte. Sie zeigte ihn an und sagte bei 
der Gerichtsverhandlung gegen ihn aus. Mein Kollege nahm 
monatelang im Zuchthaus Experimente an dem Mann vor. 
Plötzlich entsprang er, und man hörte erst wieder von ihm, 
als er seine frühere Geliebte und ihren jetzigen Mann 
ermordete. Nur um diesen Racheplan auszuführen, hatte 
er die Lepraversuche der Hinrichtung vorgezogen." 

„Toll!" 

„Es kommt noch toller. Eines Abends wurde mein Kol¬ 
lege im Flur seines Hauses von dem Entsprungenen an¬ 
gesprochen. Er sei bereit, sein Wort zu halten. Falls ihn der 
Arzt zu weiteren Experimenten brauche, würde er sich der 
Behörde stellen." 

Während dir diese Geschichte erzählt wird, kommst du 


500 


an Gebäuden und Nebengebäuden vorbei, siehst dir die 
Laboratorien an und die Mikroskopieranstalt und die 
Pharmazie und die zahnärztliche Abteilung. 

In einem Zimmerchen des Pavillons de los Ambulantes 
liegt ein Mann angekleidet auf dem Bett und liest. Dem 
eintretenden Arzt winkt er mit einer Handbewegung zu, 
wie man einen Freund begrüßt Als aber du hinter dem 
Doktor hereinkommst, springt der Mann auf, nötigt dich, 
Platz zu nehmen, bietet dir Zigaretten an. Er ist schlank 
und groß, leicht angegraut, ein gutaussehender Mann, ob¬ 
wohl seine Züge zu einem Löwengesicht in pathologischem 
Sinn verbreitert sind: plattgequetschte Nase, verdickte 
Stirnhaut, wulstige Augenbrauen und wulstige Lippen. 

Die Wände der Kammer sind bis an die Decke hinauf 
mit Büchern verkleidet, auf den Regalen stehen Kunst¬ 
gegenstände. Dein Blick schweift die Büchertitel entlang, 
bleibt an einem haften: „Le Roi Lepreux". Der Hausherr 
sagt: „Das Buch hat nichts mit meiner Krankheit zu tun, 
der Titel ist metaphorisch. Übrigens ist es nur ein Unter¬ 
haltungsroman." 

„Ich kenne Pierre Benoit." 

Von da an spricht er französisch. Das Gespräch wendet 
sich einem holzgemalten Wappenschild zu. Unter dem 
Emblem ist ein von Philipp III. unterfertigter Adelsbrief 
in altkastilischer Sprache, der dem Adressaten die Titel 
eines Marquez de San Diego und Duque de Valladolid 
verleiht. 

„Das ist auch kein Kunstwerk, nur ein Erbstück", ent¬ 
schuldigt er sich. 

„Sind Sie ein Herzog von Valladolid?" 

„Um Gottes willen, nein. Meine Ahnen haben die Titel 
schon vor hundertdreißig Jahren abgelegt. Unsere Fami¬ 
lientradition ist republikanisch, für die mexikanische Un¬ 
abhängigkeit. Sehen Sie, hier ist etwas, worauf ich wirk¬ 
lich stolz bin." Er holt ein verblaßtes Tableau hervor, ein 
Photo von Benito Juärez, umgeben von Photos seiner Mi¬ 
nister. „Dieser da ist mein Großvater, er war Innenmini¬ 
ster unter Juärez, kämpfte gegen Maximilian." 

Du fragst ihn über sein Leben. Er wendet sich an den 
Arzt: „Weiß der Herr, wer ich bin?" 


501 



«Ich habe ihm erzählt, daß Sie der berühmteste Schau¬ 
spieler Lateinamerikas sind, aber Ihren Namen habe ich 
nicht genannt." 

„Nicht der berühmteste Schauspieler, nur ein ziemlich 
bekannter, und auch das ist gewesen." Er sagt das lächelnd, 
ganz ohne Resignation, und fügt deutsch hinzu: „Dem 
Mimen flicht die Nachwelt keine Kränze." 

„Nun, vorläufig brauchen Sie keine Kränze der Nach¬ 
welt, noch ist die Mitwelt da." 

„Wo? Hier etwa? Verehrter Freund, ich bin gestorben 
und bin's zufrieden, es ist ein ganz angenehmes Totsein 
hier. Deshalb möchte ich Sie bitten, wenn Sie etwas über 
Ihren Besuch hier schreiben sollten, nennen Sie mich Ro- 
drigo Rodriguez oder sonstwie. Zwei Tage nach meiner 
Entlassung von hier können Sie über mich schreiben, was 
Sie wollen." 

„Warum nicht am ersten Tage nach der Entlassung, Don 
Rodrigo?" 

Er lacht. „Ich möchte auch nicht, daß am Tag nach mei¬ 
nem Tod Besucher zu mir kommen. Ich habe zu Lebzeiten 
genug Kränze gehabt." 

Auf deinen Wunsch zeigt er dir ein paar seiner Bühnen¬ 
bilder. Orest, Romeo ... Auf einem Photo ist er als Adler¬ 
ritter Cuauhtli, Prinz von Texcoco, dargestellt, in indiani¬ 
scher Tracht mit Lanze und Federschmuck. 

„Das ist eines von den wenigen guten Dramen aus der 
mexikanischen Geschichte. ,Der Sonnenpfeil' heißt es und 
ist von Mediz Bolio." 

„Don Rodrigo", sagst du und schaust auf ein Jugend¬ 
bildnis des Schauspielers mit dem reinen Gesicht und der 
schmalen Nase, „darf ich etwas fragen ..." 

„Ich weiß", unterbricht dich der Schauspieler mit dem 
unklaren, verunstalteten Gesicht und der plattgedrückten 
Nase, „ich weiß, was Sie fragen wollen. Aber da ist nichts 
weiter zu antworten, als daß es von einer Frau war. Das 
habe ich bei meiner Übersiedlung hierher angegeben, und 
mehr kann ich Ihnen auch nicht sagen." 

„Wußten Sie, daß sie krank war?" 

„Ich liebte sie, das ist alles." 

„Und wußten, daß sie Lepra hatte?" 


502 



„Als ich sie zu lieben begann, wußte ich das nicht/ 

„Sie haben es also erst später erfahren?" 

„Ich hatte um sie geworben, und sie hatte mich zurück¬ 
gewiesen, was einem Schauspieler selten widerfährt, ins¬ 
besondere einem, dessen Rollenfach jugendliche Liebhaber 
sind. Einmal kam ich zu ihr und fand sie ganz verstört. 
Der Arzt hatte bei ihr Lepra konstatiert, in ihrer Familie 
war diese Krankheit wiederholt vorgekommen. Sie 
schluchzte, jetzt konnte sie nicht mehr mein sein, selbst 
wenn sie wollte. Von diesem Tag an lebten wir zusammen. 
Ich war noch sehr jung damals/ 

„Lebt sie noch?" 

Er schweigt. Etwas scheint ihn mehr zu bewegen als der 
Preis, den er für jene Liebe noch heute abzahlt „Eines 
Tages ließ mich der Direktor des Theaters rufen und riet 
mir, mich von meiner Freundin zu trennen, sie schade mir, 
betrüge mich in schlechter Manier, mache mich zum Ge¬ 
spött der Stadt. Ohne Abschied zu nehmen, fuhr ich nach 
Buenos Aires, von wo ich seit langem Engagementsange¬ 
bote hatte. Meine Freundin und ich haben einander nie 
geschrieben. Als ich zwei Jahre später nach Mexiko zurück¬ 
kam, erfuhr ich, daß sie gestorben war/ 

„Und Sie selbst fühlten sich krank?" 

„Nicht im geringsten. Ich dachte längst nicht mehr dar¬ 
an, daß meine Freundin jemals geglaubt hatte, Lepra zu 
haben. Zehn Jahre lang spielte ich hier in Mexiko. Auf 
einmal begann ich an Mattigkeit zu leiden, an Empfin¬ 
dungslosigkeit der Muskeln und Gliedmaßen und bekam 
Flecken auf der Haut Der Arzt verschrieb mir eine Diät 
und empfahl Luftveränderung. Als ich von ihm fortging, 
überquerte ich den Paseo de la Reforma, und mitten auf 
der Fahrbahn begegnete ich einem einstigen Mitschüler, 
der Arzt geworden war. Er blieb so starr stehen, daß er 
fast überfahren worden wäre. ,Du bist krank', sagte er zu 
mir. Ich erschrak über den Ton, und er tat nichts, meine 
Unruhe zu zerstreuen, wollte aber nicht auf meine Frage 
antworten, was meine Krankheit sei. Er riet mir dringend, 
nach San Antonio, Texas, zu fahren, dort werde mir 
Dr. Enrique Gonzalez die Diagnose genau stellen. 

Ich hatte am nächsten Abend Vorstellung, aber ich war 


503 



so erregt, daß ich sofort nach Texas fuhr. Dr. Gonzalez, 
wie ich bald erfuhr, der größte Lepraspezialist, sagte mir, 
als ich bei ihm eintrat, daß ich Lepra habe. 

Nach Mexiko zurückgekehrt, kündigte ich mein Engage¬ 
ment, packte meine Lieblingsbücher und ein paar Anden¬ 
ken und zog hier ein. Niemand weiß, wo ich bin, niemand 
kommt zu mir, und ich wünsche auch keine Besuche. Ich 
fühle mich nicht im mindesten bedauernswert und will 
auch nicht bedauert sein." 

Obwohl er sagt, daß er keine Besuche wünsche, läßt er 
dich nicht fortgehen, findet immer wieder ein neues Ge¬ 
sprächsthema. Du hast dich schon wiederholt verabschie¬ 
det, wobei er die Hand -hinter den Rücken legte, um dich 
nicht in Versuchung zu bringen, sie zu ergreifen. Endlich 
stehst du mit ihm auf dem Korridor, und er lädt dich ein, 
zur Aufführung eines Stücks „La mujer alegria" zu kom¬ 
men, das er mit den Kranken einstudiert hat. Du fragst 
nach dem Namen des Autors, er kann sich nicht erinnern, 
und der Arzt, mit dem er wohl einmal über den spanischen 
Nobelpreisträger Benevente gesprochen haben mag, be¬ 
merkt: „Ist es nicht von Benevente?" 

„Um Gottes willen, Doktor! Jacinto Benevente ist doch 
ein Dichter, der wunderbarste Dramatiker spanischer Spra¬ 
che, aber ,La mujer alegria' ist ein billiges Unterhaltungs¬ 
stück von irgendwem. Bitte, kommen Sie noch für einen 
Augenblick in mein Zimmer." 

Drinnen zieht er ein Bühnenstück Beneventes aus dem 
Regal, „Nicht alle Kinder Evas sind Kinder Adams", und 
liest einige Stellen daraus vor. 

„Sie müssen mir versprechen, es zu lesen." Er streckt 
dir die Hand entgegen, auf daß du ihm deine Zusage be¬ 
kräftigst 

„Oh, entschuldigen Sie, daß ich Ihre Hand gedrückt 
habe. Aber wenn ich von meinem alten Beruf spreche . . 



MINERAL 

DER MOTORISIERTEN MENSCHHEIT 


Es war einmal eine Prinzessin, die hieß Mica und lebte 
tief im Berge drinnen. Bei ihrer Geburt waren die Feen 
vollzählig an ihrer Wiege erschienen, und jede hatte ihr 
eine Gabe gespendet, so daß es im ganzen Reich, dem Mi¬ 
neralreich, kein Wesen gab, welches ihr gleichkam an Fülle 
edler Eigenschaften. 

Schlanker und biegsamer als die Fee selbst, die ihr 
Schlankheit und Biegsamkeit verliehen hatte, war Mica 
dennoch nicht schwächlich. Im Gegenteil, die hauchdünne 
Prinzessin setzte allen Elementargewalten so viel Wider¬ 
standskraft entgegen, daß sich die bärbeißigen Blöcke aus 
Fels und Erz daran ein Beispiel nehmen konnten. Glut und 
Feuer vermochten ihr nichts anzuhaben, selbst wenn sie 
sie jahrelang umzüngelten, nicht einmal heiß wurde sie im 
lodernden Feuer. Im Wasser rostete sie nicht. Frost machte 
ihre zarte durchsichtige Haut nicht rauh. Keine Säure 
war imstande, ihr ein Fleckchen in den klaren Leib zu 
ätzen; und ein Blitz, so nahe von ihr er auch einschlug, sah 
sich um jegliche Wirkung betrogen. Dabei war Mica schön 
wie Blumentau, mochte sie nun ein schwärzlich schimmern¬ 
des Gewand tragen oder ein goldenes oder ein perlmutter¬ 
nes oder eines mit mattem bernsteinfarbigem Fond. 

Der Mensch, der, von ihrem Gleißen verführt, geil auf 
sie zustürzte, stieß einen Fluch aus, als er erkannte, daß 
sie kein Edelstein und kein Edelmetall sei, sondern nur 
Katzengold oder Katzensilber, ganz gewöhnliches Marien¬ 
glas, Moskowiterglas, schäbiger Glimmer, Alkali-Tonerde- 
Silikat. Höchstens nahm er ein paar Stück mit, um sie in 
den Ofen als Fenster einzusetzen. Durch solche Fenster¬ 
scheiben, die nicht zerspringen, teilte sich die Kohlenglut 
als Licht dem Raume mit, und man konnte auch in den 
Ofen sehen, was freilich eine mehr oder minder überflüs¬ 
sige Sache war. 


505 



Eines Tages aber begann draußen, außerhalb des Ber¬ 
ges, das Geschlecht der Menschen sich die elektrische Kraft 
der Natur nutzbar zu machen und entdeckte, daß hierzu 
Prinzessin Micas Hilfe vonnöten sei. Von Stund an hörte 
das Märchen auf, ein Märchen zu sein, und Schön Mica 
ward zu einer Ware, zu einem Verkaufsgegenstand oder 
zu einem Handelsartikel oder wie ihr sie sonst nennen 
wollt - nur Prinzessin dürft ihr sie nicht nennen, wenn ihr 
euch nicht das Hohngelächter der Männer zuziehen wollt, 
die mit ihr zu tun haben. 

Einige dieser Männer holen mit Spaten und Hacke, mit 
Lufthammer und Sprengstoff die Mica aus dem Berges- 
innern, tun also jene Arbeit, ohne die keine weitere mög¬ 
lich ist. Deshalb führen sie auch das elendeste Leben. Im 
mexikanischen Staat Oaxaca führen sie es an schwer zu¬ 
gänglichen Stellen. An einigen dieser Stellen läuft zwar 
nunmehr der Panamerican Highway vorbei, aber das nützt 
den Männern im Micaberg nichts. Denn sie stammen nicht 
aus New York oder aus Buenos Aires, sondern meistens 
aus irgendeinem Dorf, das an keiner Straße liegt, am aller¬ 
wenigsten am Panamerican Highway. Und wäre auch das 
Dorf so bequem mit dem Arbeitsplatz verbunden, was 
würde es dem Indioarbeiter nützen? Kein Indioarbeiter hat 
ein Auto, und die Leute, die Autos haben, nehmen darin 
keine Indioarbeiter mit. 

So wohnen die Arbeiter nicht in ihrem Dorf, sie wohnen 
am Arbeitsplatz, wo es noch primitiver ist als zu Hause. 
Manch einer, der neu Angeheuerte zum Beispiel, schläft 
bei der Exprinzessin Mica, was ein rauhes Liebeslager ist, 
auch wenn er seinen Sarape auf dem Boden des Stollens 
ausbreitet. Wer länger hier ist, richtet sich ein Hüttchen 
auf und deckt es mit Stroh, ein Obersteiger vielleicht mit 
Dachpappe. Nicht von Pappe jedoch ist das Baumaterial 
(oder soll man Baum-Material sagen?) dieser Elendshüt¬ 
ten. Es ist aus dem Holz der edelsten Bäume, die hier 
überall wachsen, und aus dem die irdischen Standesgenos¬ 
sinnen der Prinzessin Mica höchstens ein Schmuckkästchen 
besitzen. 

Kleiner ist die Hütte als das Auto, das an ihr vorüber¬ 
fährt, und das Gärtchen hinter ihr ist noch kleiner als die 


506 


Hütte. Nur wenig Mais und Bohnen gibt es her, und es 
läßt sich nicht vergrößern, denn der Boden ist der harte 
Stein, darin die schöne Mica liegt. 

Einst, als sie noch Prinzessin war und weltliche Wünsche 
hegte, zeigte sich Mica manchmal draußen auf der Erd¬ 
oberfläche, wie um zu sagen: „Nimm mich hin." Jetzt 
scheint sie von Hinnahme und Hergabe genug zu haben, 
sie verbirgt sich tief. 

Dadurch bekommt die Micaförderung einen Charakter 
des Suchens, des Aufspürens, der Jagd, vor allem in dem 
durch Erdbeben in Unordnung gebrachten Boden Mexikos. 
Hier streckt sich die Mica nicht als Ader oder als Flöz 
hin, sie lagert nicht immer im gleichen Muttergestein, ja 
nicht einmal in der gleichen geologischen Schicht. Mal im 
Vulkanischen, mal im Sedimentären, sitzt sie in Taschen, 
die miteinander weder in mineralogischer noch sonstwie 
logischer Beziehung stehen. 

Vom Nordpol bis zum Südpol sind alle verwertbaren In¬ 
halte der Erde, die Erze, Öle und Minerale, errechnet oder 
geschätzt - wieviel Mica es gibt, weiß man jedoch nicht, 
und ebensowenig weiß man, ob es nicht morgen oder über¬ 
morgen mit ihr zu Ende sein wird. Schwerlich verbirgt sich 
die Mica vor der Weltwirtschaftsstatistik, viel wahrschein¬ 
licher ist es, daß sie den konkreten Spaten des konkreten 
Bergmanns fürchtet, der sie bloßlegen will. 

Daß sie im Berg ist, weiß man. Durch Erdveränderungen, 
Wasserabflüsse und Regen geraten Splitter an die Ober¬ 
fläche und verraten dem, der es wissen will, daß er sich 
über Mica befindet. Nichts aber verrät ihm, an welchen 
Stellen sie steckt Denn sie steckt unten so angeordnet wie 
Rosinen im Napfkuchen, das heißt: gar nicht angeordnet. 
Beim Kuchenessen schneidet sich der eine Schnitte nach 
Schnitte ab, ohne auch nur eine einzige Rosine zu erha¬ 
schen, der andere hat ihrer viele gleich in der ersten 
Scheibe. Von außen her kann man nicht sehen, wo die Ro¬ 
sinen im Kuchen stecken und die Mica im Berg. 

Kreuz und quer muß der harte Kuchen geteilt werden. 
Kein anderes Bergwerk auf Erden ist so unregelmäßig, so 
formlos, so anarchistisch wie das der Mica. Es kennt nicht 
die geometrischen Begriffe von Ebene und Gerade, der 


507 



Außenhang ist in Höhlungen und Risse dergestalt zer¬ 
sprengt, daß er aufgehört hat, Wand zu sein, und selbst die 
Stollen und Schächte krümmen sich. Das Röhrenwerk, das 
die Preßluft aus dem Bretterhaus der Motoren und Kom¬ 
pressoren zu den Maschinenhammern führt, stellt ein wah¬ 
res Wirrsal dar. 

Die bohrenden Arbeiter stehen nicht auf gleicher Höhe 
und bilden keine Reihe noch sonst eine ersichtliche Kon¬ 
stellation. Einige drücken ihre Bohrer nur vierzig Zenti¬ 
meter tief ins Hangende, während andere das Bohrloch vier 
Meter tief ins Liegende treiben. Auch das Quantum des 
Dynamits wechselt: manchmal wird nur eine Patrone ver¬ 
senkt, manchmal drei bis vier; mehr aber niemals, denn 
ein zu starker Schnitt in den Leib des Berges würde das 
Organ verletzen, auf das es die Operatoren abgesehen ha¬ 
ben. 

Mit der Sprengung ist die Formlosigkeit des Felsens in 
eine andere Formlosigkeit verwandelt. Die wird nun ab¬ 
gesucht. Es kann sein, daß aus der neuentstandenen Fas¬ 
sade ein Micabündel hervorglitzert. Es kann auch sein, daß 
irgendwo das fahle Gesicht des Feldspats auftaucht und 
verräterisch zwinkert, des alten Leibwächters der Mica, 
hinter dessen Rücken sie sich zu verstecken pflegt. Es kann 
schließlich auch sein, daß entlang der ganzen Bruchstelle 
weder die Prinzessin noch ihr ungetreuer Beschützer sicht¬ 
bar werden noch sonst ein Anzeichen dafür, daß sie hier 
residiert. 

Haben aber ihre Verfolger die Mica erreicht, so wird sie 
mit Respekt, Vorsicht und Zartheit entführt. Mit einer me¬ 
tallenen Spachtel, der „Barrena", hebt man sie aus ihrem 
Bett, wenn es nicht genügt, sie mit der Hand zu heben. 
Dann setzt man sie in die Sänfte, die freilich nur ein eiser¬ 
ner Grubenhund ist, und geleitet sie in ihr neues Heim, 
welches freilich nur der grobgezimmerte Lagerraum des 
Bergwerks ist, und hernach hoch zu Roß, welches freilich 
nur ein mageres Maultier ist, zur Landstraße, wo der Wa¬ 
gen wartet, ach, Prinzessin, keine Hofkalesche, nur ein 
Lastauto. 

Nächster Sejour ist die Großwerkstätte, die nicht zu die¬ 
sem Zweck gebaut ist. Vorbei sind die Glanzzeiten von 


508 



Oaxaca. Als es der Umschlagplatz vom Pazifik zum Atlan¬ 
tik war, standen manchem Fuhrwerksbesitzer zweitausend 
Maulesel und Hunderte von Karren in seinem Stall. In 
Übersee harrten Textilstoffe, blaß vor Erwartung, auf die 
Cochenille, die Färberlaus von den Kakteen Oaxacas. Am 
Wege lagerten Männer, um Warentransporte zu überfal¬ 
len; wenn sie vor der Obrigkeit in die Berge flüchteten, 
konnten sie eine Goldmine entdecken und dann als reiche, 
das heißt ehrenwerte Bergwerksbesitzer in der Stadt 
Oaxaca Bürgerrecht erwerben. 

Aus dieser Konjunkturperiode stammen die Paläste. Ihre 
Portale waren breit genug, die größten Karossen zu emp¬ 
fangen; im Patio, dem maurischen Hof, sprudelte ein 
Springbrunnen, und die Gäste vergnügten sich paarweise 
hinter blütenschwerem Gesträuch. Massiv und ebenerdig 
sind die Gebäude, denn bei einem Erdbeben wäre ein obe¬ 
res Stockwerk eingefallen; die wenigen Häuser in Oaxaca, 
die eine erste Etage haben, wirken wie Wolkenkratzer. 

In ein solches Patrizierhaus fährt die Mica nun ein nach 
jahrhundertelanger Residenz im Bergesinnern. Kein Patri¬ 
zierhaus mehr, ein Betrieb. Schön Mica ist im Sortierraum. 
Sie zittert Wozu sortiert man mich? Wozu schneidet man 
meine Ränder und Zacken weg, wozu wägt man mich, 
was wird mit mir geschehen? 

Auf dem Kamin steht ein riesiger Micakristall, der 
wohl seine vierzig Kilo schwer ist. Wenn ich von ihm auf 
meine eigene Zukunft schließen dürfte, hätte ich Hoffnung, 
gleichfalls heil zu bleiben. Aber sicherlich ist mein hoch¬ 
aufgeschossener Verwandter da nur als Abnormität, als 
Ausnahme zur Schau gestellt. Oh, wär ich doch auch so 
groß! Aber ich bin klein, und dennoch beschneidet man 
mich, teilt mich in Pakete von zwei Kilogramm ein und 
bringt mich in den Hof. 

Der Hof ist voll von Tischen. Frauen sitzen um sie her¬ 
um, auch unter den Arkaden arbeiten Frauen und Mädchen. 
Nur am steinernen Rand des Springbrunnens, in dem 
längst kein Wasser mehr spielt, sitzen Männer. Sie schlei¬ 
fen Messer, Messer für Frauen und Mädchen, die mit ver¬ 
mummten Gesichtern auf die neugeschliffenen Waffen und 
auf neue Beute warten. 


509 



In der Luft glitzert und glimmert es wie von winzigen 
Libellen. Um dieser Partikelchen der Mica willen hängt 
die behördliche Anordnung an der Wand, daß das Tragen 
von Masken obligatorisch ist. Um dieser behördlichen An¬ 
ordnung willen tragen die Mädchen und Frauen eine Binde 
aus Gaze über Mund und Nasenlöchern. Um dieser Binde 
willen hängt der behördlichen Anordnung ein Plakat gegen¬ 
über. Es stammt von den Unternehmern und bezeichnet 
sowohl Masken wie Binden als überflüssig und arbeits¬ 
hemmend. Die Tätigkeit an der Mica sei vollkommen un¬ 
schädlich. Bei der Arbeit an Quarzen oder anderen Kristal¬ 
len zementieren sich die Mineralstäubchen in der Lunge 
und verursachen Verhärtung und Zerstörung der elasti¬ 
schen Gewebeteile. Mica aber sei unlöslich und könne da¬ 
her, auch wenn sie geschluckt wird, keine Silikosis hervor- 
rufen. 

Daß die Micaarbeiter unverwundbar seien, könnte hier 
kein Plakat behaupten, denn es gibt unter den zweihundert¬ 
fünfzig Frauen kaum eine, die nicht an drei, vier Fingern 
der linken Hand einen Verband oder ein Pflaster trägt. Sie 
verletzen sich mit dem spitzen grifflosen Messer in ihrer 
Rechten, wenn es eine Haarbreite abseits fährt von dem 
Mineral, das sie in der linken Hand halten, um es parallel 
zu seiner Basis in Blätter zu spalten. Mit der Geschwindig¬ 
keit eines Weberschiffchens saust das Messer gegen die 
Mica oder eben eine Haarbreite daneben. Eine Haarbreite 
bedeutet ein großes Ausmaß in diesem Betrieb, ist doch 
ein Blatt oft nicht dicker als das Zweihundertstel eines 
Millimeters, weit dünner als Seidenpapier. 

Der Meßapparat, der an jeden Arbeitstisch geschraubt 
ist, mißt die Dicke des fertigen Arbeitsprodukts auf Bruch¬ 
teile eines Millimeters genau. Ebenso genau wird die ge¬ 
spaltene Mica gewogen und hernach zum Gewicht des Ab¬ 
falls addiert, der während der Arbeit in ein Kästchen im 
Schoß der Arbeiterin fällt. Zusammen muß das so viel Ge¬ 
wicht ergeben, wie das Rohmaterial hatte, das der Arbeite¬ 
rin am Morgen zugeteilt wurde, zweihundertfünfzig 
Gramm bis zwei Kilo. Der gleichen Kontrolle werden 
auch die Heimarbeiter unterzogen. Denn Einkäufer aller 
Art treiben sich im Micagebiet umher und finden ihren 


510 



Weg nicht nur zu Bauern, die beim Pflügen auf Glimmer 
stoßen, sondern auch zu den Bergleuten auf der Grube, zu 
den „Micaelas", den Arbeiterinnen in der Werkstatt, und 
zu den „Destajös", den Heimarbeitern, die das Rohprodukt 
von der Fabrik zugewiesen bekommen. 

Dreier Sorten von Mica bedarf die Industrie. 

Nummer eins heißt „Block". Das ist eine Tafel, je grö¬ 
ßer, um so besser. Sie kann zwanzig Quadratzentimeter 
groß und einige Millimeter dick sein, ohne fürchten zu 
müssen, daß ihr das Messer der Micaela in den Leib 
fährt, um sie zu spalten. So, wie er ist, geht der Block zu 
General Electric oder zu Westinghouse, wo ein einziger 
Arbeitsgang genügt, aus ihm das Endprodukt für elektri¬ 
sche Maschinen zu stanzen. 

Nummer zwei heißt „Buch". Wie jedes andere Buch be¬ 
steht es aus Blättern, aus fünfundzwanzig bis hundert Blät¬ 
tern. Freilich sind sie nicht aus bedrucktem Papier und 
nicht vom Buchbinder gebunden, sondern aus blanker Mica 
und mittels einer gewöhnlichen Papierklammer zusammen¬ 
gehalten. In den Motorenwerken von Nordamerika wer¬ 
den die Blätter in die elektrischen Apparate gelegt, um 
darin das zu isolieren, was zu isolieren ist. 

Nummer drei, das „Splitting", ist weitaus die dünnste 
Mica. Sie wird nicht in der Form verwendet, in der sie 
von hier versandt wird, ihr steht noch eine Transsubstan- 
tiation bevor. Drüben in USA, in der Bostoner Micanit¬ 
fabrik, werden die Splittings sorgsam übereinandergelegt, 
mit Schellack verbacken und hydraulisch gepreßt. Aus dem 
solcherart entstehenden Micanit, Kunstglimmer oder „built- 
up Mica" lassen sich die hundert Formen für hundert Arten 
von elektrischen Apparaturen schneiden, sogar Röhren, 
runde und eckige. Wo immer sich im aller engsten Raum 
eines Motors Hochspannungen gegenüberstehen, einander 
provozieren, stellt sich die zarte Mica zwischen die feind¬ 
lichen Nachbarn und verhindert, daß sie mit verheerenden 
Blitzen aufeinander losgehen. 

Kein Radio spricht, kein Röntgenapparat sieht ohne ihre 
Hilfe, ohne ihre Hilfe fährt kein Flugzeug und kein elek¬ 
trisches Bügeleisen hin und zurück. Ohne sie würde kein 
Dauerweller der Kundin im Friseursalon und kein Tank 


511 



dem Feind ein Haar krümmen. Die Mica ist es, die die 
Zündkerze im Motor und die Platten des Kondensators vor 
Unbill bewahrt. Ohne ihre isolierende Tätigkeit hätte sich 
die Elektroindustrie ganz anders entwickelt. Wenige Stoffe 
gibt es, deren Versiegen so schwere Wirtschaftsstörungen 
her vorrufen würde wie das Verschwinden der Mica. 

Erschwert wäre vor allem der motorisierte Krieg. Die 
Zeitschriften für Bergbau und für Elektrizität betonten 
schon im Frieden die Wichtigkeit von Mica für das 
Kriegspotential. Sorgfältig sind diese Artikel in den Ar¬ 
chiven der Micagesellschaften aufbewahrt, und es ist be¬ 
lehrend, sie im Krieg nachzulesen. 

«Der Rückgang der deutschen Kriegsleistung in den 
Jahren 1916 bis 1918 ist fast ausschließlich auf Mangel an 
Mica zurückzuführen", stellt ein englischer Fachmann 1939 
im „Mining Journal" fest, fügt aber anerkennend hinzu, 
daß Deutschland nunmehr enorme Käufe von Bengal-Mica 
zu fairen Preisen tätige. Der englische Fachmann kam 
nicht mehr 'dazu, nachzutragen, daß ein paar Monate nach 
Erscheinen seines Artikels England bombardiert wurde 
dank dieser von Deutschland zu fairen Preisen enorm ge¬ 
kauften britischen Mica. 

Um die gleiche Zeit fühlten die Japaner ihre Bezugs¬ 
quellen im indischen Bihar und im französischen Mada¬ 
gaskar bedroht. So schufen sie in Oaxaca mit Hilfe von 
Mittelsmännern, die ihnen auch bei der Beschaffung von 
Quecksilber Vorspann leisteten, die „Turu Mining Com¬ 
pany", die erste mexikanische Produktionsgesellschaft für 
Mica. Darüber hinaus betätigte sich Japan im Jahre 1940 
in solchem Maße als Einkäufer auf dem Markt von USA, 
daß mittlere und kleinere amerikanische Firmen vom ame¬ 
rikanischen Micabezug ausgeschaltet wurden. Bis eines 
Tages der japanische Einkäufer die Flottenbasis Pearl Har- 
bour aus heiterem Himmel kaputt schlug. 

Als die Erschließung neuer Micagruben in Sibirien ge¬ 
meldet wurde, beruhigte die Fachpresse Europas und Ame¬ 
rikas ihre' Leser mit dem Argument, daß die Russen sogar 
unfähig seien, ihre alten Bergwerke in Betrieb zu halten. 
Die gleichzeitige Erfindung russischer Wissenschaftler, 
synthetische Mica herzustellen, wurde einerseits als übliche 


512 



Sowjetpropaganda kommentiert, andererseits als Beweis 
dafür, daß die Sowjetunion nicht genug natürliche Mica 
besitze. Im Russisch-Finnischen Krieg ergänzte die Fach¬ 
presse die allgemeine Voraussage vom Debakel der Roten 
Armee mit dem Gutachten, daß die Russen nicht imstande 
seien, einen längeren Krieg zu führen, weil sie sich nicht 
auf dem Weltmarkt mit Mica eingedeckt haben. 

Nun, der Krieg ist ein längerer Krieg geworden, und im 
Krieg wie im Frieden, in der sowjetischen wie in der übri¬ 
gen Welt, auf Erden, in den Gewässern und in den Lüften 
nimmt die Mica führend daran teil. Hat auch der größere 
Teil der Menschheit den Namen Mica noch nie gehört, so 
steht dennoch dieser Name in der Rangliste der strategi¬ 
schen Stoffe vor Gummi, Zinn und Petroleum. Jeder Ver¬ 
such, die Mica aus USA zu entführen, wird als qualifizier¬ 
ter Hochverrat bestraft. 

Die Verlustliste der Mica ist nicht so groß wie die des 
anderen Kriegsmaterials. Denn im abgestürzten Flugzeug, 
im gestrandeten Panzerkreuzer, im bombardierten Kraft¬ 
werk oder in der zerfetzten elektrischen Lokomotive blei¬ 
ben, wenn nichts heil bleibt, die Micabestandteile heil und 
können wieder verwertet werden. 

Und weil also Schön Mica nicht einmal bei diesen Kata¬ 
strophen gestorben ist, so lebt sie noch heute. 



AGAVENHAIN IN DER KASCHEMME 


I 

Nichts auf Erden entwickelt sich so prächtig und endet 
so schimpflich wie die mexikanische Agave. Und nur um 
dieses schimpflichen Endes willen wächst, blüht und ge¬ 
deiht die Agave, Maguey genannt, im zentralen Hochland 
Mexikos. Ihre riesenhaften smaragdenen Rosetten krönen 
die Triften, säumen die Felder, bedecken die Hänge, 
schmücken die Gärten, verhindern die Wüsten, Wüsten zu 
sein, und erfreuen sich eines ästhetischen Lebens bis zu 
jenem schimpflichen Ende. 

Aus der Mitte der Agave schießt ein schlanker und leuch¬ 
tend hellgrüner massiver Kegel auf, hoch und höher. Ihn 
umgeben und schützen gleichfarbene und gleich große, 
meterhohe Attrappen, halbkreisförmig gebogen, so daß 
auch sie von ferne für Kegel gelten könnten. Genau wie 
der Schaft enden sie oben in schwarzen Helmspitzen; ver¬ 
mittels dieses vegetabilischen Horns machte man einst 
Baumzweige zu tödlichen Speeren und Lanzen. 

Was wir den Schaft nennen, dieses Bündel der fest zu 
einem Kegel gewickelten gepreßten Zentralblätter, nennen 
die Indios das Herz. Auch jene Attrappen, die den Schaft 
umringenden Blätter, betrachten ihn als ihr Herz, nach 
welchem es die Götter gelüstet und das herausgeschnitten 
werden soll, wie es ehedem mit den Herzen der Menschen 
geschah. 

Wenn es soweit ist, muß nicht nur das Herz sterben, 
sondern die ganze Pflanze mit Saft und Kraft, weshalb die 
großen Blätter wie eine Leibwache von Pistoleros darauf 
achten, das Herz wohl zu schützen. Nach acht Jahren, so¬ 
bald die Zeit des Blühens, die Stunde der Gefahr naht, 
richten sie sich drohend zu voller Höhe auf und schließen 
sich noch fester zusammen, damit der Feind jeden von 
ihnen für den Kegel halte, der ihr Herzstück ist. 


514 



Nützt alles nichts. Ungeschreckt und ungetäuscht schiebt 
sich der Mensch mitten durch den Schutzwall und schnei¬ 
det mit sicherer Hantierung den Schaft entzwei. Der klappt 
zusammen, sinkt zu Boden. Aber der Mörder fällt nicht 
gleich über sein Opfer her, beeilt sich nicht, die Beute da¬ 
vonzuschleppen. Herzlos schreitet er von dannen, nachdem 
er die Todeswunde mit einem Maisblatt bedeckt hat, um 
die Insekten an der Einkehr in diese Pulqueria zu verhin¬ 
dern. 

Ihr wißt nicht, was eine Pulqueria ist? Nun, auch die 
Agave weiß es noch nicht. Vorläufig sind wir bei dem Saft, 
der aus der Blätterkrone der klaffenden Todeswunde zu¬ 
strömt. Um dieses Saftes willen werden auf dem Rancho, 
dessen Herrenhaus weiß vom Hügel schimmert, zehntau¬ 
send, zwanzigtausend in militärischen Reihen angeordnete 
Exemplare der Maguey, der Agave atrovirens Karw., ge¬ 
hegt und gepflegt. Um dieses Saftes willen sind Hunderte 
von Arbeitern, die „Tlachiqueros", auf dem Agavenfeld 
bemüht, und um dieses Saftes willen kehren sie immer 
wieder an den Ort der Tat zurück. Nunmehr ohne Mord¬ 
waffe. 

Ihr neues Werkzeug gleicht jenen auf Glanz polierten 
Holzkeulen, wie sie Schauturner oder Jongleure durch die 
Luft wirbeln. Auf den Märkten Mittelmexikos gibt es 
Stände mit Bergen solcher vermeintlich polierter, ver¬ 
meintlich hölzerner Keulen, die von den Käufern lange 
und mit prüfend eingekniffenen Augen gemustert werden. 
Es sind aus gehöhlte Flaschenkürbisse, dazu bestimmt, der 
Agavenquelle den Saft zu entsaugen. 

„Aguamiel", Honigwasser, heißt die Flüssigkeit im jet¬ 
zigen, ungegorenen Zustand und schmeckt erfrischend, zu¬ 
mal wenn sie mit dem Saft einer Kaktusfrucht vermischt 
ist. Solches ist aber nicht der Sinn der Agavenwirtschaft, 
ihr Sinn ist, aus dem Honigwasser Alkohol und aus dem 
Alkohol Ware zu machen. Zu diesem Ende kauft ein armer 
Indio für zehn Pesos eine Agave vom Bauern, an dessen 
Feldrain sie wild wuchert, und zu diesem Ende läßt der 
reiche Ranchero seinen Agavenbesitz pflegen. 

Die Pflege erstreckt sich hauptsächlich auf Würmerjagd, 
eine Arbeit, die sowohl der Pflanze wie dem Jäger zu 


515 



Nutzen gereicht: der Pflanze, weil sie von Würmern befreit 
wird, und dem Jäger, weil er um die Würmer bereichert 
wird, die Nahrung und Leckerbissen sind - Mahlzeit! 
In Restaurants und auf der Strage kann man „Gusanos 
de Maguey" kaufen, und um den Handel von der Saison 
unabhängig zu machen, gibt es sie auch in Konserven¬ 
büchsen. Vorzuziehen sind die frischen Würmer, knusprig 
gebacken und warm schmecken sie beinahe wie Gänse¬ 
grieben. 

Dreimal täglich kommt der Tlachiquero zur sterbenden 
Agave, saugt mit dem Flaschenkürbis am frühen Morgen, 
in der sengenden Mittagsglut und im beginnenden Abend¬ 
dämmer. Monate hindurch, wenn's gut geht, ein halbes 
Jahr lang - so lange also vermag ein Wesen ohne Herz 
zu leben, so lange dauert es, ehe die Lebenssäfte verströmt 
sind. Erstaunlich viel, vier bis acht Liter pro Tag, im gan¬ 
zen bis zu zwölf Hektoliter, werden aus einer einzigen, 
auf fast wasserlosem, vulkanisch-steinigem Brachland wu¬ 
chernden Pflanze geschöpft. 

Unter Dach und Fach geschieht die Höherentwicklung, 
will sagen, die Alkoholisierung. Binnen Tagesfrist wird 
dort der Pflanzensaft zu gegorenem Most, der klare und 
geruchlose Honigtrank zum trüben Pulque. Fragt man, 
welche Hefe diese rasend schnelle Metamorphose bewirkt, 
so bekommt man viele Antworten, aber keine Antwort. 
Wer's weifj, sagt nichts, wer's nicht weiß, behauptet, 
Hundedreck vollziehe das Wunder. Wir kennen solche Mär¬ 
chen von überallher, in der französischen Champagne zum 
Beispiel wird gerne erzählt, es sei Urin, was dem Kognak 
den goldenen Glanz verleihe, und Alphonse Daudet 
schreibt in einem Brief aus seiner Mühle, der weltberühmte 
Chartreuselikör habe seine Blume nur bewahrt, solange 
der alte Abt die getragenen Socken in den Destillations¬ 
bottich warf. 

Aber wir glauben den poetischen Geschichten nicht, auch 
dann nicht, wenn sie von den Produzenten geleugnet wer¬ 
den. Ein Indio schwört uns, bei ihm werde die ganze Pul- 
quechemie von dem Schweinefell besorgt, darin er den 
Aguamiel vom Felde heimtrage. 

In den Haciendas kann kein Schweinestall mitwirken. 


516 



denn dorthin wird der Agavensaft in Fässern gebracht und 
aus ihnen in die Tinacales geschüttet. Das sind Kuhhäute, 
die wie Hängematten auf Pfählen hängen. Durch das Ge¬ 
wicht ihres Inhalts dehnen sie sich zu überirdisch großen 
trächtigen Ichthyosauriern. Mehr als zehn Hektoliter ge¬ 
hen in eine Kuhhaut. 

Die haarige Außenseite ist nach innen gekehrt, und viel¬ 
leicht sind es die Körperhaare der verstorbenen Kuh, wel¬ 
che die mystische Wandlung des Honigsees in einen Pul- 
quesee vollziehen. Keinesfalls ist es jenes Ferment, von 
dem die Böswilligen sprechen, in den gefüllten Riesen¬ 
kühen müßte sich die Notdurft ganzer Hundemeuten ein¬ 
flußlos verlieren. Auch würde ein solches Ingredienz nicht 
passen zu der noch heute respektierten Heiligkeit des Rau¬ 
mes : Wer immer bei den Tinacales einkehrt, nimmt an der 
Schwelle den Hut ab, als träte er in eine Kirche oder in 
einen Tempel der Pulquegötter. 

Ewig und sichtbar schwimmt in alten Haciendas eine 
dieser Gottheiten in dem See aus werdendem Pulque. Oft 
wechselt die Flüssigkeit, selten wechselt die Kuhhaut, nie 
wechselt der schwimmende Gott. Er ist aus rotem Holz und 
war einst unter dem Namen Cuapatli ein vollberechtigtes 
Mitglied der Mythologie. Jetzt heißt er Palo de Pulque, 
Pulquestock, und nicht das kleinste Menschenopfer dankt 
ihm dafür, daß er sich an der Alkoholisierung beteiligt, er 
soll froh sein, daß man den Hut zieht, wenn man bei ihm 
eintritt. 

Die chemische Hauptarbeit allerdings leistet nicht er, 
sondern ein alter und durchgegorener Pulque, voll von 
„Semilias", Gärungspilzen und Bakterien, der Mutterpul- 
que. In einem versperrten Raum harrt er der neuankom- 
menden Honigwässer, um an ihnen die Wirkung zu üben, 
die an ihm längst geübt ward. 

Auf eigener Eisenbahn rollt der Trunk den Kehlen der 
Außenwelt entgegen. Diese sehr schmalspurige Kleinbahn 
trägt in allen Haciendas den gleichen Fabriknamen: „De- 
cauville Aine", der in uns die wehmütige Erinnerung an 
ein anderes Erzeugnis der Firma weckt, an die Waggons 
der Pariser Metro. Das engbrüstige Schienenpaar mündet 
in der nächsten Station der öffentlichen Eisenbahn, wo eine 


517 



Zuggarnitur bereitsteht, die Fässer aufzunehmen. Täglich 
treffen aus den Staaten Hidalgo, Tlaxcala, Mexiko und 
Puebla je zwei Züge in Mexiko-Stadt ein mit insgesamt 
300 000 Litern Pulque. 


II 

In der Stadt Mexiko hält ein Konsortium die Pulquever- 
teilung in der Hand, welche die andere wäscht. Verschnitte 
und Verfälschungen werden diesem Konsortium nachge¬ 
sagt, aber nicht nachgewiesen, am allerwenigsten der Was¬ 
serzusatz, weil in der Regenperiode der Aguamiel schon 
vom Feld her gewässert ist. Wie dem auch sei, die Kon¬ 
sorten machen ihren Schnitt. Für einen Liter Pulque, des¬ 
sen Einstandspreis „frei Waggon", das heißt ab Hacienda, 
einen Centavo beträgt, zahlt der Indio ab Theke seiner 
Kneipe zwanzig Centavos. Auch wenn man davon die 
Steuer und den Marazo abrechnet, einen pfefferminzhalti¬ 
gen Fusel, den der Wirt dem Pulque beisetzt, bleibt das 
eine respektable Profitrate. 

Von den Budiken aller Welt unterscheiden sich die Pul- 
querlas dadurch, daß sie nur eine einzige Sorte von Ge¬ 
tränk ausschenken. Nicht weniger als 826 Pulquerias gibt 
es, der amtlichen Statistik zufolge, im Bereich der Stadt 
Mexiko. 

Die Lokale haben romantische Namen: „Zur Wollust vor 
dem Tode", „Ich fühle mich wie ein Flieger", „Die Rose an 
den Rieselfeldern", „Freudentränen der Agave", „Paradies 
des Arbeiters", „Los diablos en la talega", zu deutsch etwa: 
„Die Teufel in der Zwickmühle". Eines heißt: „Der Sohn der 
Leda", obwohl unseres Wissens der Schwanerei der Leda 
zwar die schöne Helena entsproß, jedoch kein Sohn. 

Zwei schwingende Bretter bilden den Eingang zur Pul- 
queria, damit der Gast beim Hinaustorkeln nicht gegen den 
harten Widerstand einer Tür knalle. Falls es richtige, ge¬ 
schlossene Türen gäbe, wäre bei den häufigen Prügelsze¬ 
nen kein Hilferuf draußen hörbar, und die Polizei käme 
noch öfter erst nach vollbrachtem Totschlag auf den Schau¬ 
platz. 

Oder sind die schaukelnden Eingangsbretter eine Spe- 


518 



kulation auf die Schüchternheit des Indios vom Lande, der 
sich kaum trauen würde, eine fremde Tür aufzuklinken? 
Von diesem Gesichtspunkt aus wäre es am besten, das Lo¬ 
kal ganz offenzuhalten, ohne Tür und ohne Brett. Der 
Wirt will jedoch die Vorbeigehenden nicht Zusehen las¬ 
sen, wenn er Hose und Hemd der Gäste pfändet oder wie 
sie den genossenen Pulque mitten im Gastlokal abschlagen. 
Keine Pulqueria besitzt eine Toilette; glücklicherweise son¬ 
dert der Mexikaner wenig Harn ab, nicht wie der Euro¬ 
päer 1500 bis 2000 Kubikzentimeter pro Tag, sondern nur 
800, höchstens 1200. 

Frauen dürfen nicht in die Pulqueria, ganz ausgeschlos¬ 
sen. Ganz ausgeschlossen aber sind auch sie nicht von den 
männlichen Genüssen; neben dem Eingang, am Schalter¬ 
fenster „para las mujeres", machen sie ihren Kauf, den sie 
nach Hause tragen oder stehend konsumieren, freilich nur, 
solange sie Bargeld haben, denn Kleid und Leibwäsche 
können sie auf offener Straße nicht als Pfand hingeben. 

Pulquerias gab's schon in der Mythologie, sie waren im 
Nachthimmel etabliert, und nach vollbrachtem Tagewerk 
trafen sich dort die Götter. Wie man im Codex Vaticanus 
nachzählen kann, verfügte die Agavegöttin Magayel über 
einen Pulque-Ausschank von vierhundert Brüsten. Vier¬ 
hundert an der Zahl waren auch die Pulquegötter, die in 
Kaninchengestalt den Mond bewohnten, jeder zuständig 
für eine andere Art von Rausch. 

Bei den Tarasco-Indianern kümmerte sich ein Gott nur 
darum, daß es den irdischen Zechern nicht ergehe, wie es 
ihm ergangen. Er war im Rausch aus allen Himmeln ge¬ 
fallen, hatte sich ein Bein gebrochen und hinkte seither. 
Ein anderer Unsterblicher mußte sterben zur Strafe für 
Gewohnheitssuff; aber nach sieben Jahren wurde er wie¬ 
der zum Leben erweckt, ein Vorgang, der das Gemein¬ 
same von Rausch und Tod symbolisiert, Besinnungslosig¬ 
keit und Wiederauferstehung. 

Selbst Guetzalcoatl, der gute der beiden Obergötter, be¬ 
trank sich eines Tages mit Pulque, den ihm der böse der 
beiden Obergötter durch einen medizinischen Dämon unter¬ 
schieben ließ. Das war der Sündenfall. Quetzalcoatl ver¬ 
schwand beschämt, und gerade als man die Zeit für ge- 


519 



kommen hielt daß er seinen Rausch ausgeschlafen haben 
und wiederkehren könnte, traf - bleichgesichtig und spitz¬ 
bärtig wie Quetzalcoatl - der Konquistador ein, und es 
gab das verhängnisvolle Quiproquo. 

In der Kunstgalerie von Mexiko hängt ein großes und 
kitschiges Gemälde. Ein Indianermädchen kredenzt dem 
Toltekenkönig einen goldenen Pokal. Was der Pokal ent¬ 
hält, was dieser Szene vorausging und was ihr folgte, ist 
aus dem Bild nicht zu ersehen, aber jedermann weiß es aus 
der Sage: Der Vater des Mädchens hatte eine Feldmaus 
beobachtet, die an dem Schaft einer Agave knabberte und 
sich hernach wohlig auf der Erde wälzte. Nun kostete auch 
der Beobachter, fand den Trank königswürdig, schickte 
sein schönes Töchterlein damit zum König, und wir sind 
im Bilde. Hinter und nach dem Bild geruhte Seine Majestät 
Gabe und Geberin zu genießen, er soff und liebte sich zu 
Tode, und sein Volk, das er des Getränks teilhaftig werden 
ließ, ging mit ihm schmählich und heiter zugrunde. 

Diese Trinkerlegende diente den Azteken, die nach den 
Tolteken das Tal Anähuac besiedelten, zur Warnung. Bei 
den Azteken durften nur Männer von über siebzig Jahren 
Pulque trinken, denn diese konnten an ihrer Zeugungs¬ 
kraft nicht viel einbüßen und nicht mehr die bei den Tol¬ 
teken üblich gewesenen Exzesse mit Müttern, Töchtern und 
Enkelinnen treiben. 

Weil diese Einschränkung auf religiöser Grundlage er¬ 
folgt war, beeilte sich die spanische Herrschaft, sie als 
heidnisch und abergläubisch aufzuheben, mit dem Erfolg, 
der in den Pulquerias und um die Pulquerias herum er¬ 
sichtlich ist Verblödung, Verarmung, Verbrechen - meist 
Totschlag ohne Motiv. 

Erst die Revolution erklärte dem Pulque den Krieg und 
zerstörte die Tinacales; 1915 ergossen sich im Distrikt von 
Apam (Hidalgo) und nachher in allen Agavegebieten von 
den Hügeln herab Ströme in die Täler, Ströme von Pulque. 
In Peralvillo, dem Elendsbezirk der Hauptstadt, stürzten 
die Patrouillen des Revolutionsgenerals Alvaro Obregön 
die für die Pulquerias bestimmten Wagenkolonnen um und 
zerschlugen die Fässer. Von allen Seiten rannten die Be¬ 
wohner herbei und warfen sich zu Hunderten in die Pfüt- 


520 



zen. „Ojalä, jefecito", riefen sie den Soldaten zu, „kämet 
ihr doch alle Tage, um Pulquechen auszugießen!" 

Menschen, die aus Ländern der Weinrebe oder der Hop¬ 
fenranke stammen, können auch in soundsovielter Genera¬ 
tion nicht begreifen, was dazu verlockt, in den Städten 
Pulque zu trinken. Sein Geschmack spottet jeder literari¬ 
schen Beschreibung, weshalb wir diejenige Karl Mays hier¬ 
hersetzen: 

„Was das Trinken anbelangt, Senor, so könnte gesorgt 
werden. Darf ich Euch etwas anbieten?" 

„Hm", schmunzelte er, „etwa Pulque?" 

„Wie kommt Ihr auf dieses Getränk?" 

„Ich habe mein Glas noch drüben in der Venta stehen." 

„Es schmeckte Euch nicht?" 

„Oh, es schmeckt, aber wie. Ein Gemisch von Alaun, 
Süßholz, Aloe, Kupfervitriol, Salmiakgeist, Holunderbee¬ 
ren und Seifenwasser würde wohl ähnlich schmecken." 

Schwerlich wird diese Formel einer chemischen Nachprü¬ 
fung standhalten, aber wahr ist, daß das trübe Gesöff kein 
ungetrübtes Entzücken bereitet. Selbst seine notorischen 
Anhänger leugnen, seine Anhänger zu sein, und sprechen, 
wenn sie Pulque meinen, von „Wasser". Auf den Kloster¬ 
gütern gab es für die Fronarbeit der Peones keine andere 
Prämie als Wasser, welches Pulque war. Und noch heute 
gilt es als ungeschriebenes Arbeitsgesetz, auf dem Feld, 
am Bau oder in der Werkstätte für besondere Leistungen 
eine Lage Pulque zu fordern: „Para el agua, patron?" 

Die Bierindustrie bekämpft den Pulque, ist jedoch sorg¬ 
sam darauf bedacht, daß ihre Agitation nicht in Antialko¬ 
holismus ausarte. Prompt ripostieren die Volksfreunde 
vom Pulquevertrieb. In ganzseitigen Inseraten und wis¬ 
senschaftlichen Artikeln antworten sie mit ähnlichen Ar¬ 
gumenten, wie sie seinerzeit von den Bierbrauereien in 
den Vereinigten Staaten gegen die Prohibition ins Treffen 
geführt wurden: Der Pulque fülle die Kassen der Steuer¬ 
ämter und Eisenbahnen - beschäftige Tausende von Ar¬ 
beitern - rette in wasserarmen Regionen die Bevölkerung 
vor dem Verdursten und vor dem Typhus - enthalte Vita¬ 
mine, die vor Rachitis schützen — und fördere die Ver¬ 
dauung der fast unverdaulichen Nationalkost. 


521 



Gegenangriffe auf das Bier hat der Pulque nicht nötig, 
das Bier kann ihn nicht verdrängen, weil er weit billiger 
ist. Viel eher wird ihm die Landaufteilung den Garaus 
machen. Denn Pulqueindustrie ist an Extensivwirtschaft 
gebunden, sie lohnt sich nur mit Zehntausenden von Aga¬ 
ven auf dem Feld und ebenso vielen Sprößlingen in der 
Almasiga (Agavenbaumschule), mit einem Heer geschulter 
Tlachiqueros und einer beziehungsreichen kaufmännischen 
Verwaltung. Ein reicher Hacendado konnte ruhig acht und 
mehr Jahre abwarten, bis die Pflanze erntereif wurde, weil 
auf seinem Gebiet jeden Tag genügend Magueys den Tag 
ihrer Reife feierten, den Tag ihres Todes. 

Nun aber sind die meisten Plantagen aufgeteilt auf die 
Tlachiqueros, die bisher pro Tag einen Peso Lohn und eine 
Naturalzulage von sechs Litern Pulque bekommen hatten. 
Auf eigenem Land bauen sie an, was sie brauchen, Boh¬ 
nen, Mais und Agaven. Schenken die Agaven mehr aus, 
als die Kehle faßt, wird der Überschuß einer Einkaufs¬ 
gesellschaft oder einem Händler verkauft. 

Immerhin ist mit freiem Auge noch nichts von einer 
Pulqueknappheit zu merken. Verbringt man zufälliger¬ 
weise eine Nacht auf der Unfallstation „Cruz Verde", so 
sieht man, wie sich die Agave am Menschen rächt. Die 
Mehrheit aller Patienten sind Pulqueopfer. 

Einer, der unter ein fahrendes Auto geriet, stöhnt in 
dem Bett, in dem vor kurzem Leo Trotzki starb. Auf dem 
Operationstisch, mitten im wild belebten Raum, wird die 
Gehirnoperation an einem vorgenommen, den seine Zech¬ 
kumpane im weiten Bogen aus der Pulqueria „Zum ewigen 
Frieden" warfen. Etwa zehn, die auf der Straße hingefallen 
und mehr oder minder schwer verletzt sind, liegen auf dem 
nackten Fußboden. 

Andere zehn taumeln auf dem Korridor herum, Kran¬ 
kenwärter versuchen, ihnen einen auf einem Stock befestig¬ 
ten, mit Kampfer getränkten Wattebausch unter die Nase 
zu halten. Die schaukelnden Gestalten wenden den Kopf 
ab und stoßen den Stock mit Bewegungen von sich, die bei 
allen identisch sind - ein Ballett widerspenstiger Gestal¬ 
ten. 

Auf dem Hof sind jene, die bereits behandelt wurden 


522 



und nunmehr das Haus verlassen sollen. Sie denken aber 
gar nicht daran. So besinnungslos sind sie denn doch nicht, 
auf die Straße hinauszugehen zu neuen Fall- und Unfall¬ 
möglichkeiten und zu den Polizisten. Sie weigern sich, sie 
werfen sich auf die Erde. Kaum ist es den Wärtern gelun¬ 
gen, einen zum Aufstehen zu bringen, so reißt er sich los 
und läuft verblüffend schnell auf die andere Seite des Hofs, 
und das Personal, das ihn eben mühselig hochgebracht hat, 
muß ihn nun wieder niederzwingen. 

Die Aufnahmekanzlei liegt im Hochparterre. Zehn oder 
zwölf Stufen führen von zwei Seiten hinauf, so daß der 
kleine Treppenvorbau dreieckig ist. Ins Innere dieses 
Dreiecks flüchtet einer der Gejagten und füllt es aus, hin¬ 
gestreckt wie eine Grabfigur im Dom. Von der Seite her 
können die Verfolger nicht an ihn heran, gegen ihren 
Frontalangriff schützt er sich erfolgreich, indem er ihnen 
entgegenkotzt. 

Ist das, fragen wir, ist das ein rühmliches Ende für den 
Saft der edlen Agave? 



FRAGEN, NICHTS ALS FRAGEN 
AUF DEM MONTE ALBAN 


Wenn das kein Weltwunder ist, was ist dann eines? 

Gibt es irgendwo auf der Welt einen Berg, der uns 
phantastischere Dinge über sich aussagt und uns mehr 
Beweisstücke für die Wahrheit dieser Aussagen liefert als 
der Monte Alban nahe der Stadt Oaxaca? 

Und gibt es einen Erdenfleck, der sich gleichzeitig in so 
absolutes Dunkel hüllt und uns ohne Antwort läßt auf alle 
Fragen? Überwiegt in uns das Entzücken oder die Ver¬ 
wirrung? 

Diese beiden Gemütsbewegungen auseinanderhaltend, 
fragen wir zunächst nach den Gründen unseres Entzük- 
kens. 

Ist es dieser Raumkomplex, dessen Umrisse Ausblicke 
ins Unendliche sind? Oder sind es die Pyramiden, die aus- 
sehen wie Prunktreppen in die Innenräume des Himmels? 
Oder ist es der Tempelhof, der - kraft unseres Vorstel¬ 
lungsvermögens - erfüllt ist von vieltausend Indios in un¬ 
gestümen Gebeten? Oder ist es das Observatorium, dessen 
ins Mauerwerk eingeschnittener Auslug mit dem Meridian¬ 
kreis den Winkel Azimut bildet? Oder ist es der Blick auf 
ein Stadion, wie es Europa seit der römischen Antike bis 
zum zwanzigsten Jahrhundert nicht gebaut hat, hundert¬ 
zwanzig steinerne, schräg aufsteigende Sitzreihen? 

Ist es das System, Hunderte von Grüften so anzuordnen, 
daß der Raum kein Friedhof wurde, kein Grab ein anderes 
störte? Sind es die bunten Mosaiken, die Fresken mit ihren 
Figuren, Szenen, Symbolen und Hieroglyphen? Oder ist 
es die Tatsache, daß das ganze Erdreich ringsum eine 
Glyptothek ist? Überall fand und findet man Skulpturen, 
teils Büste, teils ganze Figur, teils mit verzerrtem Gesicht, 
teils mit hoheitsvollen Gebärden, und allesamt vollendet 
modelliert bis ins filigrane Detail. Oder die Tonbehälter, 
Opferschalen von edler Schwingung, Urnen von geometri- 


524 



scher Geradlinigkeit vierfüßig und im Innern eines jeden 
Fußes eine Schelle, die um Hilfe klingelt, wenn ein Frevler 
sie davontragen will, 

Oder ist es der Schmuck? War es denn nicht der 
Schmuck, der die Kunde von den Ausgrabungen auf dem 
Monte Alban in die Welt trug? War es nicht der Schmuck, 
der zu den falschen Meldungen Anlaß gab, der lang ge¬ 
suchte „Schatz des Moctezuma" sei gefunden im Grab sei¬ 
nes Nachfolgers, des Königs Cuauhtemoc? Verblaßte nicht 
auf der New Yorker Weltausstellung die Schau der histori¬ 
schen und modernen Goldschmiedekunst vor dem Schmuck 
vom Monte Alban? 

Ein kleiner Teil dieses Schatzes leuchtet in einer Vitrine 
des Nationalmuseums von Mexiko. Um die Mehrheit der 
Funde ist das Museum der Stadt Oaxaca geradezu herum¬ 
gebaut, ein Wallfahrtsort für die an Kunst, Kunstgewerbe 
und Kulturgeschichte Interessierten. 

Wer hätte „Wilden" zugetraut, Bergkristalle mit solcher 
Präzisionstechnik zu schleifen, zwanzigreihige Halsketten 
mit 854 ziselierten, mathematisch gleichen Gliedern aus 
Gold und Edelsteinen zu verfertigen? Eine Brosche stellt 
einen Ritter des Todes dar, den Lucas Cranach nicht apo¬ 
kalyptischer entworfen hätte. Kniebänder, dem englischen 
Hosenbandorden ähnlich. Ohrgehänge, wie aus Tränen und 
Dornen gewoben. Kopfschmuck - eine Tiara, würdig eines 
Papstes über alle Päpste. Geflochtene Ringe zur Zier der 
Fingernägel. Bracelets und Armspangen mit bauchigen Or¬ 
namenten, Mantelschließen und Agraffen aus Jade, Türkis, 
Perlen, Bernstein, Korallen, Obsidian, Jaguarzähnen, Kno¬ 
chen und Muschelschalen. Eine Goldmaske, über deren 
Wangen und Nase eine Trophäe aus Menschenhaut skulp- 
tiert ist. Ein Tabakbehälter aus goldgetränkten Kürbis¬ 
blättern. Fächer aus den Federn des Quetzalvogels - wel¬ 
che byzantinische Kaiserin, welche indische Maharani, wel¬ 
che amerikanische Multimillionärin besaß je zu Lebzeiten 
so prächtiges Geschmeide, wie es viele dieser Indios noch 
im Grabe trugen? 

Ja, der Schmuck ist vielleicht der Hauptgrund für unser 
Entzücken. Der Schmuck ist jedoch nicht die Ursache des 
anderen, des stärkeren Gefühls, das uns auf dem Monte 


525 



Alban überfällt des Gefühls der Verwirrung. Verständnis¬ 
los blicken wir umher, suchen vergeblich Antwort auf un¬ 
sere Fragen: 

Wie konnte sich diese über dem Tal manifest aufgebaute 
heilige Stadt wie konnte sie sich so verbergen, daß man 
sie erst nach vierhundert Jahren fand? Wie konnte das 
Versteck bewahrt werden, das nicht durch unwegsame Mei¬ 
len von der Stadt Oaxaca getrennt war, sondern innerhalb 
der gleichen Bannmeile lag? Amerikanische Bergingenieure 
in Oaxaca erzählten uns, sie hätten jahrelang auf dem 
Monte Alban nach Wild gejagt ohne zu ahnen, daß sie 
über etwas anderes pürschten als über eine bewaldete 
Kuppe. 

Haben aber nur Vegetation und Erdreich und Getier, die 
sich über die Stadt kauerten, sie bis zum zwanzigsten Jahr¬ 
hundert getarnt? Mußte nicht vor allem der Mensch an die¬ 
sem Meisterstück der Hehlerei beteiligt sein? 

Wieso führt dieser Berg nicht wie alle anderen in Me¬ 
xiko seinen indianischen Namen? Haben ihn die spanischen 
Landsknechte deshalb Monte Alban genannt weil er sie an 
die Albaner Berge nahe jenem katholischen Rom erin¬ 
nerte, das sie genauso gründlich geplündert hatten wie 
später das heidnische Mexiko? Was ist denn dem römi¬ 
schen und dem mexikanischen weißen Berg gemeinsam 
außer der Tatsache, daß beide nicht weiß sind? Warum 
haben die Indios diesen irreführenden spanischen Namen 
angenommen, statt den alten Namen „Tigerberg" weiter zu 
gebrauchen? War es die Scheu, die heilige Stätte eitel zu 
nennen? War es Angst die Habgier und Zerstörungswut 
der Feinde auf den Wohnsitz der Himmlischen und die 
Schätze der Toten hinzulenken? 

Niemals jagten die Göttergläubigen und ihre Nachkom¬ 
men dort oben auf dem Plateau der versunkenen Tempel¬ 
stadt, kein Pfad führte hinauf, kein Köhler holte Holz aus 
dieser Gegend, kein Schäfer weidete seine Herde auf die¬ 
sem Hang, kein Cochenille-Züchter baute in der Nähe sein 
Dach. 

Unten herrschte der Markgraf des Tals von Oaxaca, 
identisch mit dem Eroberer Neu-Spaniens, gierig und 
schlau herrschte er, ward aber dennoch geprellt. Cortez 


526 



starb ohne Ahnung davon, daß auf seinem Grund und Bo¬ 
den Reichtümer vergraben seien, weit kostbarer als der 
Schatz Moctezumas. 

Wer aber waren die Völkerstämme, die vor Cortez zu 
Füßen des Monte Alban gelebt? Wer waren die Bauherren 
und die Architekten dieser heidnischen Kathedralen? Wo¬ 
her kam das Material der Kleinodien und Mosaiken? Wor¬ 
aus wurden die Farben für die Fresken gemischt? Woraus 
waren die Werkzeuge der Steinmetzen? Und worin be¬ 
stand - diese Frage hat der größte Goldschmiedekünstler 
Europas, Benvenuto Cellini, aufgeworfen, als er ein mexi¬ 
kanisches Schmuckstück sah - worin bestand die Werk¬ 
methode der Juweliere, der Prozeß des „Verlorenen Wach¬ 
ses"? 

Wie ist es zu erklären, daß manche Urnenfigur eine 
ägyptische Sphinx, eine andere den vogelköpfigen Gott Rä 
darzustellen scheint und daß die Reliefs auf der „Galerie 
der Tanzenden" teils im assyrischen Stil, teils mit negroi¬ 
den Typen gestaltet sind? Wieso? Weshalb? Woher? 

Unter Führung des Schliemann von Mexiko, des Pro¬ 
fessors Alfonso Caso, exhumierten die Archäologen diese 
Stadt, die ungeahnter als Troja war. Sie haben jeden Mei¬ 
ßelhieb und jeden Bruchteil einer Hieroglyphe registriert 
und fast zu jedem Scherben seine Fortsetzung gefunden. 
Sie bewiesen, daß die ältesten Arbeiten aus der Epoche der 
„Basketmaker" stammen, deren Existenz aus Funden im 
Südosten der Vereinigten Staaten von Nordamerika fest¬ 
gestellt wurde. Auch mit einem Völker stamm, dessen 
Kunstbetätigung sich auf die Darstellung infantiler Köpfe, 
des „Babyface", beschränkt, hatten die Monte-Albäner 
(oder wie immer sie hießen) vielleicht etwas zu tun. Wes 
Stammes aber waren jene Korbflechter und die Bildner des 
„Babyface"? Waren sie Olmeken? Waren sie die Urbewoh¬ 
ner Amerikas? Waren sie Mongolen oder Eskimos, die zu 
Schiff zwischen Eisschollen oder zu Fuß über eine verschol¬ 
lene Landzunge von Asien her über kamen? Leute von At¬ 
lantis, herangerudert aus dem Sagenland? Gehörten sie gar 
zu den verlorenen Stämmen Israels? 

Über die Olmeken wissen wir, daß sie vom Gummiland 
an der Küste des Golfes kamen, daß sie sich tätowierten. 


527 



ihren Schädel kahl schoren, die Zähne feilten und schwärz¬ 
ten, Nasenringe trugen, die Knaben beschnitten, die Ge¬ 
sichtshaut des getöteten Feindes über die eigene spannten, 
Sünden beichteten, Ball spielten, die Sodomie legal aus¬ 
übten und einen Kalender mit Jahren zu achtzehn Mona¬ 
ten besaßen. Nur eine einzige Frage, die die Olmeken be¬ 
trifft, ist bisher noch umstritten, die Frage nämlich: Haben 
die Olmeken überhaupt existiert? 

Nach den Olmeken kamen beglaubigtere Völkerstämme. 
Zunächst die Zapoteken. Waren sie es, die die göttliche 
Stadt auf dem Monte Alban bauten? Haben sie sie wieder¬ 
erbaut oder nur umgebaut? War das vor Christi Geburt, 
war das Jahrhunderte nach Christi Tode? In Asien und 
Europa sind geschichtliche Ereignisse auf Tag und Stunde 
bestimmt, und wir kennen die Namen der Baumeister von 
Babylon, der Silberschmiede von Mykene und der Stein¬ 
metzen an den frühmittelalterlichen Münstern. In Mexiko 
jedoch ist die Zeit, die bei uns Neuzeit heißt, noch Gegen¬ 
stand der Archäologie, und selbst hier, inmitten dieser Rie¬ 
senanlage wohlerhaltener Kunstwerke, läßt sich kaum das 
Jahrtausend ergründen, dem sie entstammen. 

Wie ein Schülerwitz klingt es, wenn gesagt wird, daß 
die Zapoteken am Ende ihres Aufenthalts das Gebiet ver¬ 
lassen haben. Aber selbst diese banale Selbstverständlich¬ 
keit - ist sie in vollem Maße richtig? Noch heute ist die 
Landschaft rings um den Monte Alban von Zapoteken 
besiedelt, die nur zapotekisch sprechen. Es war also bloß 
ihre Herrschaft, die stürzte, als der neue Völkerstamm 
einbrach, die Mixteken. Von nun an verwendeten diese den 
Berg viele Generationen lang als Festung, als Sportplatz, 
als Sternwarte, als Pantheon und vor allem als Kultstätte. 
Welcher Art von Religion aber waren die Tempel geweiht? 
Was war zum Beispiel für ein Gott ihr Gott Xipe-Totic, von 
dem wir eine Statue finden mit hohem Kopfputz, Hais¬ 
und Gürtelschmuck, einen Stab in der Rechten, den Kopf 
des Feindes an den Haaren in der Linken haltend? Wer 
waren die Partner seines göttlichen Geschäfts? 

Wer und was waren vor allem jene Irdischen, die noch 
nach ihrem Tode ganze Volksvermögen am Leibe trugen? 
Fürsten oder Priester? Heilige oder Helden? Tyrannen oder 


528 



Märtyrer? Wir berühren ein Skelett und fragen: Wessen 
Leib hast du einst gestützt? Es schweigen die Gebeine, 
es schweigen die Geschmeide, und sogar die zur Mittei¬ 
lung hingemalten Hieroglyphen - „7 Türkis", „4 Tiger, 
3 Schlange", „3 Affe, 13 Tod" - was geben sie an? Wenn 
das Daten sind, nennen sie den Geburtstag des Toten, den 
Tag seines Todes oder den seiner Beerdigung? Und wüßte 
man's auch, was nützte es, da man den Kalender jener 
Völker nicht mit dem heutigen synchronisieren kann? 

Einigen Anzeichen zufolge haben die Mixteken noch 
vor dem Einbruch der Spanier ihr Heiligtum verlassen, 
aber kein Anzeichen gibt Antwort auf die Fragen: Aus 
welchem Grund räumten sie den Platz? Waren es innere 
Wirren, Konflikte mit den unterjochten, aber unbotmäßigen 
Zapoteken? War es ein äußerer Krieg, waren es Mißernten 
und Hungersnot und Seuchen? War es der Verfall der Re¬ 
ligion, oder was war es sonst? 

Gibt es wirklich keine genaue Angabe, keine Jahreszahl 
in der Geschichte dieses Vineta auf dem Bergesgipfel, gibt 
es nichts, was sich präzis aussagen und ohne Fragezeichen 
hinsetzen ließe? 

Doch: im Jahre 1522 unterwarfen die von Cortez aus¬ 
gesandten und von Sandoval befehligten zweihundertfünf¬ 
zig Soldaten das Gebiet des heutigen Oaxaca, und seither 
ist den Indios von der Macht und von der Kultur, deren 
Beweise uns der Monte Alban aus seinem Schoße reicht, 
kein Deut mehr geblieben. Das steht außer Frage. 



AN DER KRÄUTERBUDE 


Sie ist auf dem Markt leicht zu finden: die Bude, an 
der ich stehe, die ist es. 

Aber ich bin durchaus nicht allein, die Schar der Käufer 
ist erstaunlich. Arzneigläubiges Volk! Voll von Apotheken 
sind die Städte und jede Apotheke voll von Kunden, es 
fehlt keine der europäischen und amerikanischen Patent¬ 
medizinen, und wenn sie zum Beispiel wegen des Krieges 
nicht im Original ankommen, so stellen die in Mexiko 
ansässigen Ungarn sie noch originaler her. 

Zahllos die Häuser, an deren Tor ein Zettel mit dem 
Wort „Inyecciones" hängt. Die Preisliste klebt daneben: 
Subcutäneo 20 Centavos; intramuscular 50 Centavos; intra- 
venoso 75 Centavos. Ob man nun Zahnschmerz, Durchfall, 
Plattfuß, Asthma oder Amöben hat, man tritt ein und läßt 
sich irgendeine Einspritzung machen von demjenigen, der 
die Tür öffnet. Auf dem Land oder in den Vorstädten ver¬ 
schleißen die Curanderos, die indianischen Krankenbehand¬ 
ler, Mixturen, Pasten, Emulsionen und Infusionen. 

Dennoch bleibt für die Kräuterbuden eine Klientel übrig, 
die nicht geringer gewesen sein kann, als es für Mexiko 
noch kein Europa gab und keine pharmazeutische Indu¬ 
strie. Von der Kiste, die als Verkaufstisch dient, fletscht 
ein Krokodilkopf seine Zähne oder der Panzer eines Gür¬ 
teltiers seine Schuppen - mystische Symbole, Branchenzei¬ 
chen und Mittel der Anlockung. Das gab's auch bei uns da¬ 
heim, der ausgestopfte Gorilla vor der Apotheke auf dem 
Prager Ringplatz hat mich in meiner Kindheit bis in die 
Träume verfolgt. 

Heute kann mich kein totes Krokodilgebiß und kein 
Schuppenpanzer aufregen. Was mich aufregt, ist die Bude 
an sich. Dieses Warenlager stammt weder direkt noch in¬ 
direkt aus Fabriken oder Laboratorien. Die Lieferanten 
sind fast ausschließlich Dorffrauen und Dorfkinder. Seit 
Generationen gehen sie zu bestimmten Jahres- und Tages- 


530 



Zeiten auf die Arzneisuche. Im Mondscheinlicht oder Wol¬ 
kenbruch steigen sie barfüßig über Felsenhänge, durchwan¬ 
dern, den Blick auf den Boden geheftet, die Steppen, stö¬ 
bern im Geröll von Ruinen, schleichen zu Schlangennestern, 
wühlen im Schwemmsand an der Meeresküste oder im 
Schlamm der Sümpfe oder scharren Wurzelwerk aus. Nach¬ 
her trotten sie meilenweit zum Markt, um ihre Beute an 
den Mann zu bringen. Wie und wann haben die Ahnen der 
Lieferantin und jene des Markthändlers einander kennen¬ 
gelernt? Das wissen die Götter, die es damals noch gab. 

Hier in der Kräuterbude liegen nebeneinander Gräser, 
Wurzeln, Muscheln, Baumrinde, Steine, Pulver, Hölzer, 
Spinnen, Samen, Salamander, Öle - ein Sammelsurium he¬ 
terogener Landschaften und Naturreiche. In diesem Arznei¬ 
schatz der Primitiven glaubten einst die Europäer alle 
Panazeen gegen alles Gebrest vereinigt, und oft mit Recht. 

Von einem langen hellbraunen Bündel weiß ich, daß es 
die Sarsaparille ist, und ich weiß auch, daß sie auf bota¬ 
nisch „Smilax ornata" heißt und auf deutsch „Stechwinde". 
Ich frage nach dem Preis und runzle, wie sich's gehört, 
die Stirn, als ich höre, es koste vierzig Centavos. Darauf¬ 
hin reicht mir die Händlerin ein kleineres Päckchen für 
dreißig. Dreißig Centavos ist der Preis von drei Straßen¬ 
bahnfahrten. 

Ich erinnere mich eines kleinen Zimmers in einem weit¬ 
läufigen Gebäude, in dem ich wegen des mächtigen Mauer¬ 
werks vor sechs Jahren saß, dieweil deutsche und ita¬ 
lienische Bomben vom spanischen Himmel fielen. In jenem 
Zimmer, Tausende Meilen von hier, hatte vor Jahrhunder¬ 
ten der weltliche Herrscher der katholischen Welt gesessen. 
Noch steht sein Lehnstuhl dort, aus dem er sich nicht 
rührte. Durch eines der beiden Fenster konnte er, ohne auf¬ 
zustehen, in die Kirche sehen, der Messe hinter die Kulis¬ 
sen. Philipp II. betete um Heilung von seiner quälenden 
Gicht. Wie seine Krankheit war auch das einzige Linde¬ 
rungsmittel gegen sie ein Erbe vom Vater. Karl V. hatte 
die Eroberung Amerikas als einen Gotteslohn für sich be¬ 
trachtet, denn durch sie war er in den Besitz der Sarsa¬ 
parille gekommen. Nun wartete sein Sohn auf die Sarsa¬ 
parille, lugte durch das Fenster, das auf die Landstraße 


531 



ging, noch inbrünstiger als auf das Allerheiligste. Wann 
immer ein aus Veracruz kommendes Schiff in einem spa¬ 
nischen Hafen einlief, mußte zuerst das Paket mit den 
Wurzeln ausgeladen und in gestrecktem Galopp dem Herrn 
im Eskorial gebracht werden. 

Ich zahle die dreißig Centavos und frage nach Guajaka. 

Auf einer Insel im Zürcher See lag ein Todfeind der ka¬ 
tholischen Kirche zu Bett, befallen von einer vielleicht we¬ 
niger schmerzenden, aber um so tückischeren Krankheit. 
Ulrich von Hutten litt an Syphilis und bereitete sich zum 
Sterben. Da erhielt er aus den neueroberten Provinzen 
jenseits des Ozeans einige Stückchen Harz und Holz. Aus 
geheimnisvollen Gründen und auf geheimnisvollem Weg 
hatte sie einer der spanischen Muttergottesstreiter dem 
verruchtesten Muttergottesleugner gesandt. „Guajaka" 
heiße die Substanz, schrieb der Absender, und sie helfe, 
als Tee gekocht, unfehlbar gegen Lustseuche. 

„Fünfzig Centavos", sagt die Verkäuferin. 

Ulrich von Hutten trank die Infusion, es verschwanden 
sowohl die Ekzeme der Lues wie der Quecksilberausschlag, 
und er fühlte sich geheilt. Dankbar verfaßte er ein Buch 
über die rettende Arznei; „De Guajaci medicina et morbo 
gallico." 

Sarsaparille und Guajaka waren nicht die einzigen Na¬ 
turstoffe aus Mexiko, die in Europa Mirakelheilungen voll¬ 
brachten. Aus der Rinde des Tamahaca-Baums machte man 
einen Wunden- und Wunderbalsam. Maniok, das den In¬ 
dianern der Karibischen Inseln (von dem Wort „Kariben" 
kommt „Kannibalen") einst das Menschenfleisch würzte, 
wurde in Europa äußerlich gegen Hautausschläge, inner¬ 
lich gegen Magengeschwüre, Krebs und luetische Entzün¬ 
dungen verordnet. Aus der Gegend von Jalapa, das kaum 
jemand in Europa kennt, stammt die Jalapa-Wurzel, die 
viele in Europa kennen, vor allem die Hartleibigen. Elemi, 
das balsamische Ölbaumharz, schloß augenblicks klaffende 
Wunden und öffnete augenblicks verhärtete Geschwüre. 
Noch mehr vermochte Sassafras: vor dieser Pflanze flüch¬ 
tete das Zipperlein mit gelenken Beinen, die Syphiliskran¬ 
ken durchströmte gesundes Blut, und auf den glättesten 
Glatzen sprossen Locken. 


532 



Wie weit der Glaube an die neuspanischen Pflanzen ging, 
beweist die Auferstehung des Rizinus. Schon im Altertum 
der Alten Welt hatte er großes Vertrauen genossen. Um 
sich von Verstopfung zu befreien, tranken ihn die Grie¬ 
chen kalt, empfahl ihn Herodot warm. Nach und nach aber 
geriet der Rizinus in den Nachtstuhl der Vergessenheit. 

Im achtzehnten Jahrhundert war eine mexikanische 
Pflanze namens Higuerilla höchst modern, welche die 
menschlichen Därme so geschwind leerte wie Herkules den 
Stall des Augias. Erst als die Arzneikundigen feststellten, 
daß das neue Purgativ mit dem alten ehrlichen Rizinus 
identisch sei, wurde der Rizinus unter seinem alten ehr¬ 
lichen Namen wieder eingeführt. 

Heute wächst der Rizinus nicht mehr bloß wild, sondern 
wird angebaut, gedüngt und gepflegt. Hunderttausende 
Sträucher. Dabei deckt die mexikanische Produktion nur 
einen verschwindenden Bruchteil dessen, was die USA ein¬ 
nehmen, um die Verdauung ihrer Bürger und die Beweg¬ 
lichkeit ihrer Flugzeugmotoren zu regeln; nicht weniger 
als 113 Millionen Pfund Rizinusöl zu sechzehn Dollar per 
Pfund importieren sie. 

Vom sechzehnten bis zur Mitte des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts wurde der europäische Arzneischatz von der Bota¬ 
nik Neu-Spaniens beherrscht. Dann aber wich sogar in 
Mexiko die Ära des Wunderglaubens an die Kräuter der 
akademischen Pharmakologie. 

1854 erkrankte in Mexiko die Sängerin Henriette Son- 
tag, Abgott der Kunstwelt. Sie erkrankte an Cholera, ge¬ 
gen welche die mexikanische Volksmedizin eine heilende 
Infusion kannte. Besorgte Bewunderer holten einen renom¬ 
mierten Kräuterkenner vom Lande, aber die Ärzte ließen 
ihn nicht ans Krankenbett. Am 17. Juni 1854 schwand Hen¬ 
riette dahin, die in der Sprache der Romantiker „Sonntag 
der Götter" hieß. Um die Panik über das Wüten der Cho¬ 
leraepidemie nicht zu erhöhen, wurde die Abendvorstel¬ 
lung abgehalten, und General Santa Ana, Präsident der 
Republik, applaudierte begeistert einer Sängerin, die für 
die tote Henriette eingesprungen war. 

Der meines Wissens letzte Bericht über die Mirakel 
mexikanischer Naturheilkunde findet sich in den Memoi- 


533 



ren des armlosen Musikers, Artisten und Menschenfreunds 
Untan. Er war vor seinem Auftreten in Guadalajara so 
schwer erkrankt, da§ die Ärzte ihm den sofortigen defini¬ 
tiven Abschied vom Podium befahlen, ja die Hoffnungs¬ 
losigkeit seines Zustandes andeuteten. In seiner fast selbst¬ 
mörderischen Verzweiflung akzeptierte Untan die Hilfe 
eines einheimischen Thaumaturgen und seiner Arznei. Dar¬ 
aufhin fiel er in einen Schlaf, aus dem er nach drei Tagen 
gesund erwachte und seine Gastspielreise ohne Beschwer¬ 
den fortsetzen konnte. 

Eine schwangere Indiofrau kauft ein Büschel schwarzen 
Bilsenkrauts für zehn Centavos. Da sie endlich weggeht, 
erklärt mir Don Severino, Besitzer der Bude, der Tee aus 
diesem Bilsenkraut sei gut für die Entbindung. Die Wöch¬ 
nerin verfalle in einen Schlaf, in dem sie keine Wehen 
verspürt, und wache erst auf, wenn das inzwischen ange¬ 
kommene Kind danach verlangt, ein Säugling zu werden. 

Don Severino zeigt mir ein Bündel von besserer Quali¬ 
tät und rät mir, es zu kaufen. Ich? Ich werde doch nicht 
in die Wochen kommen? Er flüstert mir zu, sein Kraut sei 
gut gegen jede Art von Wehen und Sorgen. „Man ist tot, 
solange die Sorgen währen, und man lebt wieder, wenn 
sie weg sind." 

Vor ein paar Tagen habe ich den Brief einer Bekannten 
aus London erhalten. Sie hat ihr erstes Kind geboren, sie 
beschreibt, wie schön und leicht das im Mondscheinsanato¬ 
rium vor sich ging; ihr einziger Schmerz wäre der Ge¬ 
danke gewesen, dafi nicht alle Frauen im Schlaf gebären 
können. 

Don Severino verlangt für das Paket achtzig Centavos, 
aber das Büschel, das die Indiofrau für zehn kaufte, tut's 
wahrscheinlich auch. Wie lange vor den Mondscheinsana¬ 
torien mögen die Indios solche Linderungsmittel gekannt 
haben? 

Kühe und Kuhpocken lernten die Indios erst durch die 
Europäer kennen, kaum aber hatten sie sie kennengelernt, 
fanden sie auch die Schutzkraft der Kuhpocken gegen Men¬ 
schenblattern heraus, lange vor der ersten Impfung durch 
den Engländer Edward Jenner, dessen Name in Mexiko 
über allen Impfstationen steht. Schon lange, ehe Hahne- 


534 



mann die Homöopathie entdeckte, wußten die Mexikaner, 
daß man dem Gift einer Schlange mit dem Gift der glei¬ 
chen Schlange begegnet und der Körperhitze mit Körper¬ 
hitze. Und Schnupftabak war in Mexiko ein Heilmittel, 
mindestens ein halbes Jahrtausend bevor ihn der Wiener 
Professor Wagner-Jauregg wieder dazu machte. 

Auf dem Kräuterstand von heute gibt es die gleichen 
Medikamente wie einst, denn schon damals gab es die 
meisten Krankheiten, die es heute gibt Dennoch ist's 
schwer vorstellbar, daß sich Häuptling Falkenauge, Held 
der Wildwestromane unserer Kindheit, wegen Bindehaut¬ 
entzündung die Augen mit Tomatensaft einreiben ließ. Daß 
der Fliegende Pfeil geplagt war von Asthma (als Neihiot- 
zaqualizti dem Indianer leicht zu merken). Daß der Stam¬ 
mesvater Fruchtbarer Eber gegen Impotenz behandelt 
wurde. Daß der Comanche Büffelkeule auf dem Kriegspfad 
an Furunkulose litt. Daß Winnetou Hämorrhoiden hatte 
und seine Schwester sich aus dem Wigwam einer Curan- 
dera folgenvertreibende Mittel holte. 

Nicht nur Internistik und Arzneien gab es, sondern auch 
Chirurgie und Instrumente. Die Chirurgie war entwickel¬ 
ter als die europäische, was keineswegs so erstaunlich ist, 
wie es scheint. Konnten doch die medizinischen Priester ihr 
anatomisches Studium im Innern des lebendigen, noch 
funktionierenden Körpers betreiben, während sie das Men¬ 
schenopfer vollzogen. 

Mit dem gleichen Lavastein, mit dem die Priester töte¬ 
ten, operierten sie und stachen den Star, ließen sie zur Ader 
oder machten Schröpfungen. Zwischen Schienen aus Maha¬ 
goni renkten sie Gliedmaßen ein. Narkotisiert wurde mit 
Tabaksaft oder mit den Giften von Schlangen, Schwäm¬ 
men und Kakteen; und selbst ein Mitglied der sonst so 
harmlosen Familie der Salamander, die giftige Krusten¬ 
eidechse, steuerte ein Narkotikum bei. 

Manche Krankheit wurde im Bad oder nach dem Bad 
ausgetrieben, teils durch Ingredienzien, die man dem Was¬ 
ser beimengte, teils durch Prügel, die sich der Patient mit 
Maisstauden verabreichte, ähnlich wie es Russen und Ost¬ 
juden mit Birkenruten tun. Fast neben jeder Hütte im 
Indiodorf sieht man das Schwitzbad Temazcali, einen Sarg 


535 



oder Backtrog aus Lehm, in dem der Badende sich nicht 
bewegen kann. 

Eben kommt ein Großmütterchen, um Don Severino den 
Inhalt ihres Korbes zu verkaufen. Ihre Füße sind so 
schwarz von Schlamm, daß man glauben könnte, sie habe 
Stiefel an; sicherlich kommt sie von weit, weit her. Sie 
bringt Maniok, und Don Severino bezahlt ihr achtzig Cen¬ 
tavos. 

Daß das Medizinalgeschäft aus Götterhänden in irdische 
Hände überging, war nicht so schlimm für die Volks¬ 
gesundheit. Wären nur auch die Mißstände verschwunden, 
die mit dem Götter glauben verbunden waren! 

Die Götter straften die Sünder mit Krankheiten, selbst 
wenn die Sünde unbewußt verübt wurde, zum Beispiel 
wenn jemand im Dunkel auf eine heilige Pflanze pißte. 
Einer solchen Ätiologie entsprach ein Heilverfahren voll 
von Aberglauben. Gewisse Kräuter durften nur an gewis¬ 
sen religiösen Tagen gepflückt werden, die Klopfgeister 
des Puls- und Herzschlags wurden mit Trommelwirbel ani¬ 
miert und die Dämonen, die sich in den Bahnen des Bluts, 
der Atmung oder des Stuhlgangs herumtrieben, mit 
Schreien und Stampfen verjagt. An Krankenlagern gab es 
lärmende Zeremonien und erregende Tänze. Amulette 
wechselten von ansteckenden Körpern auf gesunde hin¬ 
über. Im Regen oder in Pfützen hielt man Gottesdienste 
für den Wassergott Tlaloc ab, und Gichtkranke mußten in 
Wind und Zugluft beten, da ihr Leiden von den Windgöt¬ 
tern verhängt war. An den letzten fünf Tagen des Jahres 
wurde, weil es Unglückstage waren, jede Behandlung von 
Kranken eingestellt. 

Starb eine Frau im Kindbett, so kam sie automatisch in 
den glücklichsten der Himmel - ein schönes Religions¬ 
gesetz, das aber zu Leichtsinn der Wöchnerinnen Anlaß 
gab, denn sie wollten sich diese Chance der Seligwerdung 
nicht entgehen lassen. 

Wer von einem Skorpion gestochen ist, muß tanzen, um 
geheilt zu werden. In der an Palästen des Kolonialstils 
reichen Stadt San Miguel de Allende hat sich eine Gruppe 
von Mariachi (Musikanten) in dieser mexikanischen Abart 
der Tarantella spezialisiert. Einer von ihnen, den ich dort 


536 



kennenlernte, erzählte mir, sie würden oft geholt, und ge¬ 
rade vorgestern hätten sie einem vom schwarzen Alacran 
gestochenen Mädchen sechs Stunden lang den Takt auf¬ 
gespielt. Das Mädchen tanzte ununterbrochen und sank 
dann, schweiggebadet vor Erschöpfung, zusammen. Ge¬ 
stern sei es schon gesund gewesen. Er summte mir die 
Melodie vor, sie klang wie Trommelwirbel im Urwald. 

Auch Prophylaktika des Aberglaubens gibt es gegen 
Skorpione und giftige Spinnen, so zum Beispiel einen herz¬ 
förmigen Kiesel, den man den Kindern um den Hals hängt. 
Vor Vampiren braucht man sie nicht zu feien, denn gerade 
die saugen kein Blut, wie der Mexikaner weiß, weil er 
keine Gruselromane von Hanns Heinz Ewers liest. Das 
Ojo de Venado (wörtlich: Hirschauge; dinglich: Obstkern) 
bewahrt die Kinder vor dem bösen Blick. Gegen diesen 
götzendienerischen Fetisch haben die Missionare und ihre 
Amtsnachfolger weidlich gewettert und dargetan, daß ge¬ 
gen bösen Blick nur ein geweihtes Medaillon helfe. Erfolg 
dieser Aufklärung: im Kinderdispensaire ist die Hälfte der 
Babys nur mit dem heidnisch-indianischen Amulett be¬ 
hängt, die andere Hälfte trägt zwei - das geweihte Me¬ 
daillon ist auch dabei. 

An das „Versehen der Schwangeren" glaubte man schon 
unter der Götterherrschaft. Noch heute geht auf dem Land 
keine Schwangere bei Mondwechsel aus dem Haus, um sich 
- besonders an Wegkreuzungen - nicht an Dämonen zu 
versehen. Nach der Entbindung mußte die Wöchnerin vier¬ 
zig Tage lang jede Waschung unterlassen, um die Dämo¬ 
nen nicht zu verärgern. Das steht gleichfalls noch in Gel¬ 
tung, wenn auch nicht für die Arbeiterinnen in den Städten, 
die weder vierzig Tage feiern können noch an die Schutz¬ 
kraft von Nichtwaschungen glauben. Aber ein Amulett aus 
Milchstein tragen sie doch auf der Brust, damit die Milch 
nicht versiege. 

Am Kräuterstand gibt es eine nichtmedizinale, räumlich 
von der medizinalen nicht getrennte Abteilung mit Weih¬ 
rauch, Haarwasch-, Zahnputz-, Insektenpulver, Lack, Gerb¬ 
stoff, BrennÖl, Aromatika für Schnäpse und Kaugummi. 

Damit mochte ich's genug sein lassen und nur noch eines 
Handelsartikels Erwähnung tun, eines steinernen Topfes, 


537 



den ich auf dem Markt von Ixmiquilpan für zwei Pesos 
hätte kaufen können. Ich erkannte ihn sofort: Es war der 
Lapis mexicanus, einstmals eine internationale Berühmt¬ 
heit Destillationsapparat und Refrigerator mit magischen 
Wirkungen. Im siebzehnten Jahrhundert hatte in Blois der 
Jesuitenpater de Märtel ein Traktat über diesen mexikani¬ 
schen Filter verfaßt, später hat Doktor Schatz in Straßburg 
die medizinischen Wirkungen des Steins gepriesen, und 
schließlich war die Sehnsucht nach seinem Besitz allgemein 
geworden. 

Der Marquis de Louvois, der für Ludwig XIV. ein Rie¬ 
senheer ausrüstete und ganze Länder ausraubte, starb, ohne 
den einzigen Gegenstand, den er für sich ersehnte, erlangt 
zu haben oder weil er ihn nicht erlangt hatte: den „mexi¬ 
kanischen Stein des verlängerten Lebens". Die Gelehrten 
behaupteten, es handle sich um „Schwämme, als welche an 
etlichen Orten des Mexicanischen Meer-Busens, ohngefähr 
100 Clafter unter dem Wasser an den Felsen wachsen, und 
von selbsten in der Luft erhärten; deren größte Stücke 
werden von den Spaniern, nicht ohne gröbliche Unkosten, 
auss America an das Suder-See gebracht, und von dar nach 
Japponien in Schiffen geführet, allwo diese Art Steine, all¬ 
sonderlich wann sie groß und dick sind, sehr hoch gehalten 
und dem Golde gleich verkauftet werden, indem sie der 
gäntzlichen Meynung sind, daß diese zu Stein gewordenen 
Schwämme eine Krafft das Leben zu verlängern, empfan¬ 
gen hätten". 

Die Töpfe aus Lapis m., in denen das eingefüllte Wasser 
kristallklar und eiskalt wird, kommen noch heute auf den 
Markt, freilich nicht mehr „dem Golde gleich verkauftet". 
Es scheint vielmehr, als ob der Indio, so viele Mittel gegen 
seine Leiden er auch am Kräuterstand einkauft, für die 
Verlängerung seines Lebens höchstens zwei Pesos übrig 
hat. 



DER MENSCH IM KAMPF DER HÄHNE 


Hundert bis dreihundert Personen faßt die Arena der 
Hahnenkämpfe, die der Säerkämpfe viele Tausende. Aber 
kein Dörfchen ist so klein, daß nicht eine Plaza de Gallos 
darin wäre, während es eine Plaza de Toros nur in den 
Städten gibt. In den Städten ist der Hahnenkampf verbo¬ 
ten, weil er ein Glücksspiel ist. Auf dem Land, wo er ein 
Unglücksspiel für die Bauern bedeutet, ist er erlaubt. 

Um der Gerechtigkeit willen sei zugegeben, daß auch 
in der Stadt auf Hähne gewettet wird; häufig melden die 
Morgenblätter, daß bei Razzien außer einem Dutzend Spie¬ 
ler ein paar Hähne auf die Wachstube abgeführt wurden. 
Bei anderen verbotenen Spielen ist die Entdeckungsgefahr 
geringer. Würfel lenken nicht durch Krähen die Aufmerk¬ 
samkeit von Nachbarschaft und Polizei auf sich, Roulette¬ 
kugeln pflegen kein Federwerk umherzuwirbeln, und Spiel¬ 
karten bluten nicht, so daß man, falls die Polizei par ha- 
sard eindringt, alles ableugnen kann. Das ist nicht so 
leicht, wenn Flaumfedern als schwerwiegende Beweisstücke 
auf dem Tisch des Hauses liegen. Dennoch nimmt man das 
Risiko in Kauf, erwischt zu werden. Es muß also im Hah¬ 
nenkampf ein Element enthalten sein, das in keinem leb¬ 
losen Spielzeug enthalten ist. Und wer den nicht bluten¬ 
den, glattrasierten und lautlosen Kampfhahn erfindet, kann 
im Nachtleben der mexikanischen Städte sein Glück ma¬ 
chen. 

Im Dorf ist Kikeriki kein Hilferuf der dem Tod geweih¬ 
ten Hähne, keine Denunziation des Hasardspiels, denn 
hier krähen die Hähne immerdar, von Sonnenaufgang bis 
Sonnenuntergang, friedliche Hähne und solche, die zum 
Pläsier der Menschen ihr Leben zerfleischen, wobei die 
Obrigkeit sozusagen die Kerze hält. 

Wegweiser pfeilen die Richtung zur „Plaza de Gallos", 
damit Ortsfremde die Arena finden, welche von außen eine 
Scheune ist wie andere auch. Nur ein Schalter neben dem 


539 



Tor läßt erkennen, daß der Eintritt in diese Scheune Geld 
kostet. Frauen zahlen halbe Preise. In der Nähe der Haupt¬ 
stadt geht die Galanterie der Galladores freilich nur so 
weit, daß die Damen mit ihrem Billett den nächstteuren 
Platz benützen dürfen. 

Innen hat die Scheune ihren rustikalen Charakter ver¬ 
loren, innen sieht sie aus wie ein Boxring oder eine Rin¬ 
gerbox auf dem Rummelplatz. Zwei Stock hoch schlingt 
sich der plump gezimmerte Zuschauerraum im Kreis: Par¬ 
terre und Galerie, Stühle und Bänke für die Menge. 

Ein Mann am Manegenrand hat eine Geldschatulle vor 
sich und eine gewöhnliche Kaufmannswaage. Auf ihr wer¬ 
den die Hähne gewogen, bevor sie antreten. Das Wiegen 
dient nur der Feststellung der Gewichtsklasse, und es 
macht nichts aus, wenn der eine Hahn etwas weniger wiegt 
als der andere, ihm wird kein Ballast angehängt wie einem 
Rennpferd. 

Der Betrieb ist eine Volksszene, gemalt von Hogarth. 
Nichts Heutiges läßt sich entdecken, weder Eisenkonstruk¬ 
tion noch Zement sind für den Tribünenbau verwendet. 
Kein Pressephotograph oder gar Filmoperateur schwirrt 
auf dem photogen!sehen, filmischen Schauplatz umher, kein 
Berichterstatter ist da. Dieser Sport bedarf der Reklame 
nicht, das Haus könnte nicht gefüllter sein mit Menschen 
und Spannung. 

Am Büfett hinter den Bänkereihen werden Tacos und 
Enchiladas verkauft, auch mit Geflügelfleisch gefüllte. Das 
aber ist nicht das Fleisch der Hähne, die eben den „Tod 
am Nachmittag" erleiden. Solch prompte Ausschlachtung 
bleibt der Stierkampfarena Vorbehalten. Dort wird der 
Stier, dessen Lebenslauf am Morgen in allen Zeitungen be¬ 
schrieben und bebildert war - der Stier, dessen Kraft und 
Mut dreißigtausend Menschen zu lebensgefährlichem En¬ 
thusiasmus hinriß - der Stier, der einen vergötterten To- 
rero auf seinen Hörnern auf spießte -, dort wird er fast 
im Augenblick, da er den Todesstoß empfängt, an Ort 
und Stelle vom Fleischbeschauer gestempelt, vom Metz¬ 
ger zerschnitten und vom Publikum gekauft. Nach Ge¬ 
wicht gekauft, als ob er ein anonymes Stück Rindfleisch 
wäre. 


540 




Mit einem Hahn im Arm kommt ein Mann in die Ma¬ 
nege und legt ihn auf die Waagschale. Wie segnend wölbt 
er seine Hände oberhalb des Tiers, um es am Wegfliegen 
zu verhindern. Allzuweit käme es nicht, denn ihm sind 
die Flügel gestutzt. „Die Flügel gestutzt" ist nicht die ein¬ 
zige Metapher, die hier keine Metapher ist. Dem Hahn 
wurde auch der Kamm geschoren. Würden die Hähne ein¬ 
ander den Kamm ausreißen, dann flösse das Blut über die 
Augen und nähme ihrer blinden Wut das Ziel. 

Mag auch der Schwanz der Stolz des Hahnes sein, beim 
Kampf ist er hinderlich - weg mit den Schwanzfedern. 
Nur eine bleibt als Steuerruder. Solcherart halbnackt, wirkt 
er weit kleiner, als sonst Hähne wirken. Ritz-ratz wird ihm 
auch der Sporn abgeschnitten, dieses Stümperwerk einer 
Natur, die von moderner Waffentechnik nichts versteht. 
Kein Blut fließt bei der Beschneidung, der Sporn ist ja 
nur Hornhaut, aber schmerzhaft ist, wie der Widerstand des 
Hahnes beweist, die Operation doch. Wehre dich nicht, 
Hahn, sieh her, schon kriegst du Ersatz, eine Spornpro¬ 
these, gefertigt von Menschenhand. Zwei stählerne Säbel¬ 
chen werden einem Etui entnommen, und der Schiedsrich¬ 
ter prüft sie genau. Er prüft, ob sie einander gleich sind 
und Genüge tun dem „Reglamento para el juego de gal¬ 
los", dessen erste Ausgabe von Amts wegen schon in Druck 
gelegt wurde, als es im Königreich Neu-Spanien nur eine 
einzige Druckerei gab. Der Hahn, der das Reglamento 
nicht gelesen hat, glaubt sicherlich - da er doch zwei Beine 
hat -, er werde beide Säbel bekommen. Aber nur einer 
wird ihm angeschnallt am Knöchel, wo der Sporn war von 
der Stunde an, in der die Sonne dem Hahn das erste Kike¬ 
riki entlockte. 

Nun darf der Hahn ein bißchen umherstolzieren. Er wirft 
das Bein wie ein eben ausgemusterter und besäbeiter Fähn¬ 
rich, der bei jedem Schritt befürchtet, daß sich Säbel und 
Beine ineinander verwickeln. 

Inzwischen aber entspinnt sich in der Arena ein Men¬ 
schenkampf. Verglichen mit ihm, wird der Kampf um 
Leben und Tod der Hähne nur ein harmloses Nachspiel 
sein. 

In die Manege stürzt eine Meute Tollwütiger und jagt 


541 



mit einer sich steigernden Schnelligkeit mit einem sich 
steigernden Bellen im Rund: die Corredores, Buchmacher, 
ihrer fünfzehn. Gekleidet sind sie in übertrieben helle An¬ 
züge, sie tragen keine Sombreros, sondern städtische Hüte, 
und auf jedem Hut steckt eine Nummer. Welche Typen! 
Andernorts würde man sie für Schlepper von Nachtlokalen 
halten, für Zuhälter, für Ausrufer vor Jahrmarktsbuden 
oder Chapper am Tandelmarkt. 

Einer der fünfzehn hat Tabes, aber zwei Krückstöcke 
verhelfen ihm, rasanter als seine Kollegen im Zirkusrund 
zu kreisen. Einer trägt einen schwarz gewichsten Schnurr¬ 
bart inmitten einer Gesichtsrose, die ihn noch aufgeregter 
erscheinen läßt. Drei oder vier, betonte Schönlinge mit 
grellen Krawatten und pomadisierten Scheiteln, richten 
ihre Wettangebote ausschließlich an Damen. Einer ist ein 
ganz weißhäutiger Mestize, ungewöhnlich groß, unförmig 
dick, unermeßlich plattfüßig; all diesen Handicaps zum 
Trotz entwickelt er ein Tempo, das dem des Tabetikers 
nicht viel nachgibt. 

Da fast jeder zum Wetten entschlossen ist, kommt es 
nicht darauf an, das Publikum als Ganzes zu animieren. 
Jedem der Buchmacher kommt es darauf an, daß der ein¬ 
zelne bei ihm und nicht bei einem anderen die Wette ab¬ 
schließe, von der ihm drei Prozent zufallen. Es gibt kein 
zentrales Wettbüro, wo die Wetten eingezahlt und die Ge¬ 
winne ausbezahlt werden, das Publikum wettet gegenein¬ 
ander. Jemand bietet eine Quote, und nun muß der Buch¬ 
macher einen finden, der das Angebot annimmt. 

Im Laufe ihres Laufs zeigen die Corredores mit einem 
Finger bald auf den, bald auf jenen und dann immer wie¬ 
der auf sich. Die gleiche Geste machen die in den Städten 
Australiens bettelnden Buschneger, nur haben die Busch¬ 
neger nichts zu bieten, wogegen die Hahnenkampf-Buch¬ 
macher zum Beispiel „Silva dreißig zu fünfzig" zu bieten 
haben. Das bedeutet, daß derjenige, welcher dreißig Pesos 
auf den Hahn des Senors Silva setzt, im Fall des Sieges 
fünfzig Pesos bekommen wird. 

Die Geldscheine oder ein Nicken nebst Fingerzeichen, 
das barem Gelde gleich ist, fliegen kreuz und quer durch 
die Luft, sichtbare Summen und unsichtbare Unsummen. 


542 



Aufgefangen werden sie von den Corredores. Die notieren 
nichts, sie nicken einfach mit dem Kopf, der ihr Kassabuch 
ist, ihre Registrierkasse und ihre Rechenmaschine. 

Es wächst die Hast des Corredors, es wächst sein Eifer. 
Die Willigen hat er schon in der Tasche, jetzt gilt's, die Un¬ 
schlüssigen zu packen und schließlich gar die zum Nicht¬ 
wetten absolut Entschlossenen. Er bietet und drängelt und 
springt von einem zum andern und heult so laut, daß die 
krähenden Hähne ihre eigene Stimme nicht hören. 

In den ersten Reihen sitzen schwerwiegende Männer 
mit Paketen von Geldscheinen vor sich, Rancheros, Ge¬ 
treidehändler, Habitues des Hahnenkampfs. Sie sind ein 
besonderes Ziel, erstrebt, umworben, umringt, belagert. 
Man flüstert ihnen Tips ins Ohr oder brüllt ihnen zu. Das 
alles dauert so lange, bis durch das Megaphon an etwas 
erinnert wird, was man beinahe vergessen hätte: den Hah¬ 
nenkampf. „Der Hahn des Senors Silva aus Cuautitlän und 
der Hahn des Senors Echegaray aus San Bartolo treten an. 
Die beiden Senores Besitzer haben dreihundert Pesos ge¬ 
geneinander gewettet." 

Ein Pfiff als Startzeichen, der Hahnenkampf beginnt, 
und der Börsenkampf sollte zu Ende sein. Jedoch weder 
die ungeduldigen Rufe des Megaphons, „Orden, Corre- 
dores" — „Zur Ordnung, Makler", noch die Präludien des 
Hahnenkampfes sind imstande, die Finanzoperationen jäh 
abzubrechen. Wohl ist den Corredores vorgeschrieben, in 
diesem Augenblick die Bahn zu verlassen, nicht vorge¬ 
schrieben aber ist ihnen das Tempo. So weichen sie denn 
nur langsam, verzweifelte Rückzugsgefechte liefernd, in¬ 
dem sie mit dem Schrei „Quien da?" - „Wer gibt?" noch 
Abschlüsse erfechten. Als letzter zieht sich der arme Tabes¬ 
krüppel zurück, und während er sich auf seinen Krück¬ 
stöcken wie ein Stabhochspringer über die Manegenbrü¬ 
stung schwingt, schmettert er seinen Schlachtruf: „Silva 
vierzig zu sechzig! Quien da?" 

Repräsentiert durch den grünen Hahn des Senors Silva, 
tritt das Dorf Cuautitlän gegen den roten mit weißen Flek- 
ken an, der die Gemeinde San Bartolo ist. 

Da sind sie in persona, die beiden gefiedert-entfiederten 
Gladiatoren, auf die jedermann im Rund einen Teil seines 


543 



Vermögens gesetzt hat. Keine Spannung, kein Ausruf be¬ 
grüßt sie, ja nicht einmal ein Blick streift sie, weder ein 
hoffender noch ein fürchtender, noch ein prüfender. Es 
scheint, als habe man nur aus Laune auf den einen oder 
den andern gesetzt, so willkürlich etwa, wie man oft in 
Monte Carlo auf Rouge oder Noir setzt, auf Pair oder Im¬ 
pair. Jedenfalls werden die Wetten mehr vom Steigen und 
Fallen der Odds bestimmt als von den Hähnen. Vorsichtige 
Spieler setzen auf den Favoriten, kühnere ziehen den Out¬ 
sider vor, der zwar die kleinere Chance hat, aber den grö¬ 
ßeren Gewinst bringen kann. 

Theoretisch kennen Männer mit Hahnenverstand ihren 
Favoriten ab ovo und sogar ante ovo; sie haben schon 
seinen seligen Vater gekannt und wissen, welche Schulbil¬ 
dung der Sohn genossen hat. Auf Ranchos, die als Hege¬ 
höfe und Trainingsplätze für Kampfhähne berühmt sind, 
werden sie von Jugend auf mit irritierender Nahrung und 
exaltierenden Injektionen gefüttert. Dort muß Hähnchen 
auf dem Reck turnen, um den Kopf nicht zu verlieren, 
wenn dieser nach unten hängt oder sich dreht. Dort wer¬ 
den ihm Muskeln und Sehnen gelockert und der Körper 
massiert. Dort tritt er gegen Sparringpartner an, denen 
wohlweislich eine Art Boxhandschuh über den Sporn und 
über die Schnabelspitze angelegt wird, so daß der künftige 
Kampfhahn alle Partner erledigt, ihm der Kamm schwillt 
und er sich von nun an für unbesiegbar hält. Aber weist 
nicht sein künftiger Kampfgegner einen ähnlichen Pedigree 
auf, genießt er nicht die gleiche Erziehung? 

Vorläufig ruhen beide im Arm ihrer Züchter. Beileibe 
aber liegen sie dort nicht, um gehätschelt und geschützt 
zu werden wie einst unter den Fittichen von Mutter Gluck¬ 
henne. Solche Gefühle von Friedlichkeit im Hahnenherzen 
aufkommen zu lassen, daran hat der Züchter durchaus 
kein Interesse. Im Gegenteil. Er erlaubt einem fremden 
Manne, mit einem fremden Hahn sich dem seinigen zu 
nähern, mit einem Hahn, der heftig vorstößt. Dieser rei¬ 
zende Mann hieß im elisabethanischen England „Cock- 
teaser", Hahnenreizer, und der Ausdruck ging auf Frauen 
über, die es mit Männern ebenso machen, ohne die Ab¬ 
sicht, sich nachher zu stellen. Der Kampfhahn möchte den 


544 


Provokateurhahn anspringen, wird jedoch von Menschen¬ 
hand verhindert. Es genügt, daß er in Rage gerät, die Be¬ 
tätigung dieser Rage hat er gegen den Partner aufzuspa¬ 
ren. 

Ist er wirklich bis auf den Siedegrad des Zorns erhitzt? 
Für alle Fälle reißt ihm sein Herr und Gebieter noch ein 
paar Flaumhaare aus, zwickt ihn in den Bürzel, beißt ihn 
ins Rückgrat, schwingt ihn in der Luft und schlägt zuletzt 
das Kreuz über ihm, auf daß das Tier gottgefällig und 
gottgesegnet sei im Streit für die gute Sache. 

Das Kreuz ist geschlagen, es ist soweit. Die Besitzer, in 
der Sprache des Hahnenkampfs „Soltadores" - „Loslasser" 
genannt, treten aufeinander zu, jeder mit seinem Hahn im 
Arm, damit die beiden, die einander umbringen sollen, 
vorher Bekanntschaft schließen. Die Hähne reagieren, wie 
gewünscht, sie blitzen einander Mordgelübde entgegen. 
Gut, gut! 

Sie werden auf den Boden gestellt, aber die Hand des 
Herrn hält sie an ihrem Hintern fest. Die beiden Hähne 
können nichts anderes tun als aufeinander zustreben, sie 
strecken sich zu übernatürlicher Länge aus wie Reitpferde 
vor dem Ziel, bilden zusammen einen unterbrochenen hori¬ 
zontalen Strich. 

Dies ist der Moment, in dem die heulenden Derwische 
der Buchmacherei verstummen, nachdem sie mehr als fünf¬ 
zehn Minuten geheult. Dies ist der Moment, in dem die 
Kombattanten, jeder auf einer anderen Seite der Arena, 
von den Loslassern losgelassen werden. 

Nicht im Hahnentritt nähern sie sich, sie schnellen auf¬ 
einander zu, schwingen sich übereinander hinweg, einmal, 
zweimal, aber da der eine landet, überfällt ihn der andere 
von hinten, eine blitzartige Umdrehung erfolgt, und im 
gleichen Augenblick sind sie ineinander verzahnt, verhakt, 
verbohrt. 

Blutend und verblutend martern sich bis zum letzten 
Pulsschlag zwei Angehörige der gleichen Art und des glei¬ 
chen Geschlechts. „... des gleichen Geschlechts", das ist es! 
Nebenbuhlerschaft des Männchens gegen das Männchen, 
Sexualneid. Hast du, Hahn, denn nicht Hennen genug zur 
Umarmung? Gönnst du keinem andern den kaum eine 


35 Kisch VII 


545 



halbe Minute währenden Genuß der Liebe? Merkst du 
nicht daß der Mensch deine Instinkte mißbraucht? Nie¬ 
mand anderer als er hat durch Beißen, Zwicken, Rupfen 
und Schütteln deine Wut geschürt, damit du sie an einem 
ebenso absichtlich gequälten Artgenossen ausläßt. Warum 
willst du morden und dabei selbst gemordet werden? Nun, 
du willst und er will, und so müßt ihr. 

Auf dem Erdboden und oberhalb des Erdbodens voll¬ 
zieht sich das Gemetzel, vollzieht sich mit Griffen, Stößen, 
Kratzen und Schlägen. Der Schnabel hämmert dem Feind 
in die Weichen, aufs Schädeldach und gegen die Augen. 
Säbelhiebe sausen, Flügelreste umklammern den Gegner. 

Die Partner, verbissen, gehen in die Luft. Denn sie ver¬ 
gessen oder bedenken nicht, daß ihnen die Flügel gestutzt 
sind, und glauben noch immer, fliegen zu können. Und der 
Glaube verleiht Flügel. Senkrecht heben sie sich vom Erd¬ 
boden, ein Klettern, wobei der eine Hahn dem andern als 
Stange dient. Aneinander klimmen sie hoch. 

Dort oben sind sie zunächst ein Doppeladler, indivisibi- 
liter ac inseparabiliter, ein durch Zauberei lebendig ge¬ 
wordenes Wappentier mit Köpfen, die sich furios gegen¬ 
einanderrichten, mit Schnäbeln, von denen der eine den 
anderen pickt, und mit zwei Beinpaaren, die einander Fu߬ 
tritte geben und metallene Schwerthiebe. Durch die Luft 
sausen Feder und Flaum. Die zusammengewachsenen Zwil¬ 
linge rotieren um eine nicht vorhandene Achse. Und da! 
Da entsteht die Achse wirklich. Sie ist rot und scheint sich 
aus einer Pfütze zu erheben. In Wahrheit aber führt die 
flüssige Linie von oben nach unten in die Mitte der Blut¬ 
lache, sie immer mehr und mehr vergrößernd. 

Auf der oberen Spitze der Linie dreht sich ein Wetter¬ 
hahn in Wirbelwind und Schneesturm. Plötzlich fällt ein 
Auge hernieder. Ihm nach klatscht alsbald das Doppel¬ 
wesen in die aufspritzende rote Brühe. Aber noch ist es 
keineswegs gewillt, als Suppenhuhn zu enden, es teilt sich 
in seine beiden Bestandteile, die einander jetzt noch mehr 
hassen als vor ihrem Aufstieg in die Sphären. Wie beses¬ 
sen rücken sie vor, legen los mit Schnäbeln und Säbeln, mit 
Hieb und Stich, mit Schlag und Stoß, mit Griff und Dreh, 
boxend, fechtend und ringend. Bis der eine auf den Rük- 


546 



ken fällt und alle viere von sich streckt, die freilich nur 
zweie sind. 

Er ist nur halb tot, nicht ganz tot. Aus der Rückenlage 
hebt ihn sein Besitzer und trägt ihn fürsorglich, fast zärt¬ 
lich auf die andere Seite der Manege. Unterwegs schon 
lüftet der menschliche, fast zärtliche Chef seinem Hahn die 
Flügel, sieht nach, ob sie nicht einen Herzstich oder einen 
Lungenstich verbergen. Mit diagnostischem Blick betrach¬ 
tet er die Schädeldecke. Um nicht selbst von dem Säbelchen 
verletzt zu werden, faltet er die Hahnenbeine sorgsam 
unter dem Hahnenbauch. 

Dreizehn Kämpfe bietet der Nachmittag mitsamt dem 
Abend, da Petroleumlampen das Schlachtfeld beleuchten. 
Dreizehn Kämpfe und jeder mit Pausen, und jede Pause 
mit seltsamen Wiederbelebungs- und Dopingversuchen 
des Züchters. Er öffnet dem Hahn den Schnabel, fährt mit 
dem Finger tief in den Schlund. Dann nimmt er den Kopf 
des Hahns in den Mund, hält ihn zwischen den Lippen 
fest und streckt den Hals des Tieres. Massageschläge auf 
die Flanken. Wunden saugt er aus, preßt mit Zähnen und 
Fingern die Wundränder zusammen. Schließlich läßt er den 
Bürzel in seinem Mund verschwinden. Lutscht er, beißt er, 
bläst er Chilepfeffer hinein? - Nur der Gott der Alektryo- 
machien mag wissen, was sich hier begibt. 

Der dermaßen behandelte Hahn tritt wieder an, greift 
wieder an, solange seine Kraft dauert. Manchmal versucht 
einer der Partner zu entweichen, jagt die Peripherie ent¬ 
lang mit Todesangst im Blick, sofern er noch einen Blick 
hat, denn bestenfalls haben Verfolger und Verfolgter zu¬ 
sammen nur noch drei Augen. 

Liegt einer endgültig auf dem Boden, so triumphiert der 
Triumphator nicht; er trompetet kein Halali und stolziert 
keine Siegesrunde, wie es Menschen im analogen Fall tun. 
Ruhig und blutbetupft steht er neben dem sterbenden Gal¬ 
lier, halb abgewendet, als wolle er nicht sehen, was er 
angerichtet. Nur wenn das Opfer noch eine Zuckung 
macht, dreht er sich ihm zu und gibt ihm den Gnadenstoß. 
Ex! 

Während des Gemetzels unterhielten sich die Zuschauer 
miteinander, aßen Tacos und tranken Pulque. Nur hie und 


547 



da warfen sie einen Blick hinüber, um festzustellen, wie 
sich ihr Einsatz gegen den Gegeneinsatz halte. 

Bei anderen Tierkämpfen gellen den Kampftieren be¬ 
feuernde Zurufe entgegen. Aber den Hähnen, bei denen es 
nicht sinnloser wäre als bei Stieren, Pferden oder Grey¬ 
hounds, gilt kein Geschrei. Wer wird einem Würfel, einer 
Roulettekugel, einer Spielmarke oder einem Lotterierad 
seine Wünsche, seinen Befehl und seine Mißbilligung Zu¬ 
rufen? Der Hahn ist nur ein Utensil des Spiels. 

Nicht immer kann das so gewesen sein. Wie Pferd und 
Rind waren auch Hahn und Henne von den Spaniern in 
Mexiko eingeführt worden. Um wieviel schöner, um wie¬ 
viel gelenkiger, um wieviel stolzer war der Hahn als der 
eingeborene Truthahn. Die gleichzeitig mit den Hähnen 
importierten Hahnenkämpfe ließen die Indios glauben, daß 
göttliche Krieger im Federschmuck einen Streit ausfechten, 
den eine noch höhere Gottheit entscheide. Vertrauten doch 
diesem Urteilsspruch der Götter selbst die weißen Gebie¬ 
ter und verspielten oft Haciendas mit Tausenden von See¬ 
len im Hahnenkampf. 

Im Circo de Gallos von Tlalpan saß Tag für Tag der 
Vizekönig Iturrigaray, herrschte von dort über ganz Neu- 
Spanien, und je nachdem, ob er gewann oder verlor, war 
er gnädig oder ungnädig. An einem Sommertag von 1808 
stürzte einer seiner Beamten mit der „Gazeta de Madrid" 
herein: Revolution in Spanien, Invasion durch Napoleon, 
Thronentsagung des Königs. «Das ist das Ende unserer 
Herrschaft", sagte der Vizekönig und setzte auf den näch¬ 
sten Hahn. Allerdings waren gute Hähne im Spiel, dar¬ 
unter vier malaiische, wahre Raubvögel, eben mit dem Ku¬ 
rier angekommen. 

Auch die Republik wurde von der Hahnenkampfarena 
aus regiert, als der General Santa Ana Diktator war. Gum¬ 
mikauend saß er tage- und nächtelang an den Hähnen, und 
die Schlachten gegen Landsleute und gegen die Amerika¬ 
ner waren ihm nur störende Unterbrechungen der Hahnen¬ 
kämpfe. Seine Lieblingsgladiatoren waren die krumm- 
schnabeligen Aseelhähne aus Westindien, denen er vor 
ihrem Antritt in die haßfunkelnden Augen sah, um zu 
wissen, wer siegen werde. 


548 



Heutzutage werden keine Kampfhähne mehr importiert, 
einheimische tun's auch. Sobald einer mit seinem Sterben 
das Resultat der Wetten anzeigt, tritt ihm sein fürsorg¬ 
licher, fast zärtlicher Besitzer auf den Hals, auf da§ er 
besser ausblute, und die Buchmacher stürzen von neuem 
in die Arena, kassieren die Verluste ein (ganze Bündel von 
Geldscheinen) und zahlen die Gewinne aus (ganze Bündel 
von Geldscheinen). 



GESCHÄFTSREISE 


Warst du einem eben angekommenen Amerikaner bei 
seinen sprachlichen Schwierigkeiten behilflich oder hast 
du ihn sonstwie kennengelernt so schlägt er sich plötzlich 
auf die Stirn. Ihm ist eine Eingebung gekommen, wie sie 
vor ihm noch niemand hatte. 

Er lädt dich zu einer Reise durchs Land ein, nach To- 
nalä, nach Tlaquepaque und sonstweichen Orten, die er 
aufzählt. Sein Trip geschehe zum Vergnügen, zur Erholung 
und um etwas zu sehen von der Welt, und er will dich 
mitnehmen, auf seine Kosten natürlich, weil du ein so 
netter Kerl bist. 

Naiv fragst du, warum er gerade nach Tlaquepaque will 
und nach Tonalä, das seien doch keine Touristenziele? Well, 
antwortet er, er könnte bei dieser Gelegenheit einige Ge¬ 
schähe abschließen, aber das sei nicht so wichtig. 

Er hatte sich eingebildet, spanisch zu sprechen, weil er 
sich das erste Heft eines spanischen Lehrkurses gekauft 
hat, in Mexiko aber merkte er, daß seine Kenntnisse und 
ein Taschenwörterbuch nicht genügen, die Geschäfte durch¬ 
zuführen, die der Zweck seiner puren Vergnügungsreise 
sind. Wohl könnte ein in Mexiko ansässiger Kommis¬ 
sionär die Einkäufe besorgen, aber der kennt erstens 
den ganz besonderen Geschmack nicht, den die Kunden 
der Firma haben, und zweitens würde er Provision ver¬ 
langen. 

Da, als die Kalkulation am höchsten ist, bist du am 
nächsten, ein Sitz in seinem Auto kostet nichts, und ein 
Hotelzimmer in den kleinen Städten kostet, von der Dol¬ 
larwährung aus gesehen, fast auch nichts. Gerührt von sei¬ 
ner eigenen Hochherzigkeit, stellt er dir die Frage: „Is it 
allright with you?" Und wenn du nichts Besseres zu tun 
hast oder gerade in jene Gegenden willst, ist es allright 
mit dir. 


550 



Eigentlich gibt es nur drei Staaten in Mexiko, wo man 
Heimarbeit en gros einkauft: Oaxaca, Michoacan und 
Jalisco. 

Eigentlich gibt es in den drei Staaten nur eine Sorte, 
um derentwillen der ausländische Einkäufer die mexikani¬ 
schen Provinzstraßen nicht scheut; diese Sorte führt in der 
New Yorker Warenkunde die offizielle Bezeichnung: „Tin- 
ne ff". 

Du rollst mit deinem Chef zunächst der Stadt Oaxaca 
zu. Dort war er schon vor einer Woche und allein. Wie er 
dir unterwegs erzählt, hat er dort nichts ausgerichtet, aber 
das war, bei Gott, nicht seine Schuld. Nicht im Traum 
konnte ihm einfallen, dort Schwierigkeiten zu finden. Sah 
doch in Oaxaca sein langjähriger Lieferant Gallardo Gal- 
legos, und der hatte erst vor ein paar Wochen der Firma 
geraten, einen Einkäufer hinzuschicken. 

„Ich komme mit meinem Auto in Oaxaca an und frage 
im Touristenbüro, wie ich zu Gallardo Gallegos komme. 
Wissen Sie, was man mir sagt? Man sagt mir, Gallardo 
Gallegos sei im Gefängnis. Man sagt es mir auf englisch, 
damit ich meinen Ohren traue. Aber ich traue meinen 
Ohren nicht, fahre ins Hotel und frage dort, wo ich Gal¬ 
lardo Gallegos treffen könnte. ,Der ist im Gefängnis', sagt 
mir der Hotelier, ,wegen Mord.' " 

Dein Amerikaner hat sich noch nicht von diesem Mi߬ 
geschick erholt. „Ich reise schon fünfzehn Jahre in den 
Staaten, aber das ist mir noch nicht passiert, daß ein Kunde 
im Gefängnis sitzt. Und wenn, dann sitzt er wegen Kon¬ 
kurs oder irgendeiner Wechselgeschichte, aber nicht wegen 
Mord." 

Er erzählt dir noch eine zweite Episode: „Ich bin hart¬ 
näckig, müssen Sie wissen, ganz Amerika kennt mich als 
stubborn. Also fahre ich nicht gleich weg. Ich denke mir, 
vielleicht ist die Sache mit Gallardo Gallegos ein Finger¬ 
zeig Gottes, daß ich direkt bei den Handwerkern einkau¬ 
fen soll, da erspare ich den Zwischenhändler. Der Hotelier 
gibt mir einen Mann mit, und der fährt mich nach einem 
Töpferdorf, Coyotepec oder Coyoacän heißt es - hier in 
diesem Land heißen ja alle Orte gleich, Guadalajara und 


551 



Guadalupe und so weiter... Wir sind also in diesem Nest 
Coyotepec oder wie immer es heißt. Wissen Sie, was die 
Weiber dort machen?" 

Ja, du weißt es. Sie machen die Cäntaros, die eisen¬ 
grauen Kugelgefäße, die du so liebst. 

„Sie machen dort ganz runde Töpfe, kugelrund, ob Sie's 
glauben oder nicht. Sogar unsere alte Erdkugel ist oben 
und unten flach, damit sie der Herrgott im Notfall irgend¬ 
wo aufstellen kann. Aber diese Töpfe sind nirgends ab¬ 
geplattet, niemand kann sie hinstellen. Wie soll man so 
etwas im amerikanischen Haushalt verwenden?" 

So wie sie im mexikanischen Haushalt verwendet wer¬ 
den, könntest du antworten. Ein Topf in Kugelform, den 
man an einem Strick in den Brunnen hinabläßt, füllt sich 
sofort und richtet sich senkrecht auf, ohne die Hälfte des 
Wassers zu verlieren. In der Stube hängen die eisenfarbe- 
nen Cäntaros von der Wand oder von der Decke. Man 
trinkt" daraus beim Essen, ohne sich bücken oder aufste¬ 
hen zu müssen, den Mescalschnaps und das Wasser, das 
sich darin besonders kalt hält. Auch können in keiner Vase 
Blumen so schön wirken wie in diesen Eisenkugeln aus Ton. 

Das alles könntest du antworten, aber du sagst nur, daß 
es keine Ständer gäbe, auf die man die runden Töpfe stel¬ 
len kann. 

„Das ist Nonsens", erfährst du. Kein Amerikaner würde 
eine Kanonenkugel als Vase benutzen, keine Amerikane¬ 
rin würde ihre Wasserflasche im Wohnzimmer auf hängen, 
kein Amerikaner trinke aus einem schmutzigen Fußball. 
„Als man mir das Zeug gezeigt hat, hab ich mich umge¬ 
dreht und bin weggefahren." 

Jetzt fährt er wieder hin, geheilt von seiner Idee, di¬ 
rekt beim Töpfer einzukaufen. Deine Aufgabe soll es sein, 
einen neuen Lieferanten zu finden. 

„Vielleicht kann uns Gallardo Gallegos einen empfeh¬ 
len", sagst du. 

Dein Chef schaut dich kopfschüttelnd an. „Wo wollen 
Sie Gallardo Gallegos finden? Glauben Sie denn, daß er 
gerade in Oaxaca eingesperrt ist? Und daß man so mir 
nichts, dir nichts hingehen kann? Ich wollte einmal jeman- 


552 



den in Sing Sing besuchen, da habe ich vorher ein Gesuch 
machen müssen mit meiner ganzen Lebensgeschichte, mit 
den Gründen meines Besuchs - nein, ich möchte nicht wo¬ 
chenlang in Oaxaca bleiben." 

In Oaxaca dirigierst du das Auto direkt zum Gefängnis. 
Dort ist gerade Hofstunde, und als du einen Wärter fragst, 
ob etwa ein gewisser Gallardo Gallegos hier in Haft sei, 
ruft er durchs Fenster: „Don Gallardo Gallegos! Kunden 
sind da, Gringosl" 

Don Gallardo erscheint im Straßenanzug, freut sich, 
euch zu sehen, fragt, ob er euch ein Frühstück anbieten 
dürfe, und führt euch, von niemandem begleitet, in sein 
Büro hinauf. Sein Büro ist auf dem Korridor, zwei Tische 
mit je einer Schreibmaschine; die eine bedient er selbst, 
die andere ein Häftling, den er in Dienst genommen hat. 
Dann führt euch Don Gallardo in seine Zelle, die als Wa¬ 
renlager eingerichtet ist, und erklärt euch Novitäten und 
Preise. 

„Wie gehn die Geschäfte, Don Gallardo?" fragst du. „Re¬ 
gulär", antwortet er, „in mancher Beziehung sogar besser 
als draußen. Man wird hier nicht so abgelenkt." 

Im Auftrag deines Chefs fragst du ihn, warum er ein¬ 
gesperrt ist. 

„Ach, eine blöde Geschichte, nicht der Rede wert. Ich 
sitze mit ein paar Freunden im Nachtlokal, und wir trin¬ 
ken ein paar Gläser, wie das schon so ist. Da fängt ein 
Ranchero Radau an wegen eines Mädels an unserem 
Tisch, ein widerlicher Bursche, mit dem ich schon oft an¬ 
einandergeraten bin. Er zieht den Revolver, wir natürlich 
auch, und plötzlich fällt er tot um. Man behauptet, ich 
habe ihn erschossen. Ich war's aber nicht, es war einer 
meiner Freunde, den ich nicht belasten wollte. So bekam 
ich fünf Jahre aufgebrummt... Man muß mich hier mei¬ 
ner Arbeit nachgehen lassen, sonst würden fast alle Töpfer 
der Umgegend arbeitslos. Ich habe sogar im Gefängnis 
eine Töpferwerkstatt eingerichtet und kann Ihnen jetzt 
prompter liefern als früher, vor allem laufende Ware." 

Die laufendste dieser laufenden Ware ist eine Oaxaca- 
Vase, die aussieht, als habe jemand an ihrer Öffnung eine 
Farbentube nach der anderen und neben der anderen aus- 


553 



gedrückt. Da alle Farben des Spektrums beim Hinunter¬ 
triefen mitgemacht haben und nachher die Vase auf Hoch¬ 
glanz glasiert wurde, ist sie ein beseligendes Schmücke- 
dein-Heim-Schmuckstück für jedermann, und Ihrer ge¬ 
schätzten Bestellung ehebaldigst entgegensehend, kauft 
dein Amerikaner drei Waggons dieser Majolikavasen und 
einen Waggon ebensolcher Töpfe, Kannen, Teller, Aschen¬ 
becher und Nippsachen. 

Befriedigt über die Geschäftsgebarung im Zuchthaus, 
fährt er noch am gleichen Tage mit dir nach der Haupt¬ 
stadt zurück. 

Das nächste Mal fährst du mit deinem Chef nach Urua- 
pan, weil er Lackwaren einkaufen will. Aber es stellt sich 
heraus, daß die Lackwaren aus der Stadt Uruapan nicht 
die sind, die er sucht. Er sucht weit buntere und billigere. 
Die gibt es in den Dörfern der Umgebung, in Paracho 
und Quiroga. 

Zweck und Rohmaterial der Waren aus der Stadt Urua- 
pän und der Waren aus ihrer Umgebung sind einander 
gleich: Holzteller oder Servierbretter, runde und ovale, 
Charolas und Bateas. Das Holz stammt aus den harztrie¬ 
fenden, terpentinhaltigen Waldungen, die gegenwärtig von 
der Lava und dem Rauch des Vulkans Paricutin erfüllt 
sind. Den Lack, schwarz, glänzend und unzerstörbar, lie¬ 
fern wilde Bienen und eine Blattlaus namens Aje. Mit die¬ 
sem Insektenprodukt, das in Leinöl und animalischen Flüs¬ 
sigkeiten aufgelöst ist, wird der Teller grundiert, getrock¬ 
net und mehrmals wiederlackiert. Dann werden in den 
Lackfond alte mexikanische Motive geschnitten, und auf 
diesen Ausschnitten verreibt der Arbeiter mit dem Dau¬ 
men eine Farbe nach der andern in wochenlanger Arbeit. 
Aber ewig wie der einfarbige Grund bleibt das ihm tief 
eingefügte Bunt. Froh grüßen die Blumen von den Beeten, 
ein Zierat sind die auf schwarzen Fond geklöppelten 
Spitzen. 

Jedoch der Masseneinkäufer braucht Massenware, und 
die kann man aus Quiroga und Paracho weit billiger und 
greller beziehen. Dort wird der Fond nicht ausgeschnitten, 
sondern das farbige Sujet, je farbiger, desto besser, ein- 


554 



fach aufgemalt häßliche Klatschrosen, hellblaue und knall¬ 
rote, kitschige Frauenköpfe, stilisierte Agaven. Dein Chef 
kann sich hier mit jeder Art von beblümter Holzware ver¬ 
sorgen: mit Schöpflöffeln und Kakaoquirlen, Gartenstüh¬ 
len und Salzfässern, Bücherbrettern und Stopfeiern, Spa¬ 
zierstöcken, Leuchtern und was nicht noch. 

Keineswegs freut sich der Großhändler bei eurem Ein¬ 
tritt. Er fürchtet Vorwürfe, weil er die Bestellung vom 
27. September vorvorigen Jahres und die vom 4. Januar 
vorigen Jahres nicht ausgeführt hat, von nichtbeantworte- 
ten Mahnbriefen ganz zu schweigen. Er beginnt mit Aus¬ 
reden. Die zwei Waggons mit den bestellten Waren seien 
schon fertiggestellt gewesen, aber drei Gros grüner Kin¬ 
dersparkassen hätten ihm gefehlt, und so habe er das 
Ganze nicht abgeschickt, er liebe Ordnung. Was die ande¬ 
ren Orders betrifft... es sei jetzt so schwer, Waggons zu 
bekommen . . . Und schreiben . .. durch die Kriegszensur 
sei der Postverkehr so unregelmäßig ... Und .. . 

Man glaube aber nicht, daß der Großhändler seine Ware 
ungern verkauft. Im Gegenteil, er verkauft sie sehr gern, 
wenn auch nicht so gern, daß er den Verkauf in Bürokra¬ 
tie oder gar in Arbeit ausarten ließe. Frachtbriefe, Fak¬ 
turen, Zollvorschriften, Laderaumbeschaffung, Buchführung 
und Korrespondenz erscheinen ihm seltsamerweise höchst 
langweilig. Er läßt die Ware von Heimarbeitern herstel- 
len, und es wäre ihm am liebsten, wenn der Detailhänd¬ 
ler mit einem Lastauto ankäme, aufladen würde, was er 
braucht, bezahlen und dorthin fahren würde, wo der Pfef¬ 
fer wächst - das heißt, wo der Pfeffer nicht wächst. In 
Alexiko wächst er. 

Du hast deinen Amerikaner in den Sattel gesetzt, und 
er weiß jetzt schon, wie Dutzend und Gros auf spanisch 
heißt. Er hat sich daran gewöhnt, daß viele Items keine 
Warenbezeichnung und keine Warennummer haben; des¬ 
halb beschreibt er in seinem Bestellbrief jedes Stück mit 
präzisen Charakterisierungen wie „highly colourful" oder 
„most decorated" und gibt die Größen an, die er mit dem 
Zollstab genau gemessen hat. Dabei sieht er voraus, daß 


555 



die Maße bei der Ablieferung ja doch nicht stimmen wer¬ 
den, die verfluchte Handarbeit soll der Teufel holen. 

Inzwischen hast du Zeit dich in den Magazinen der be¬ 
malten Gipsfiguren umzusehen, zu lustwandeln in Schrek- 
kenskammern des internationalen Kitschs. An Hunderten 
von pfeilbewehrten Amors mit Psyche vorbei läufst du 
Spießruten; Hunderte von Napoleons mustern dich unter 
ihrem Zweispitz; ein muskulöser Barbar raubt vor deinen 
Augen hundertmal die gleiche Sabinerin; Gretchen er¬ 
schauert hundertmal beim Anblick Mephistos; dem geilen 
Pan gelingt es hundertmal, das zappelnde Nymphlein zu 
entführen; hundertmal rennt Don Quijote die Windmüh¬ 
len an, ohne zu merken, daß sie nicht die Phalanx der 
Feinde sind; hundert Colleonis reiten finsteren Blicks an 
dir vorbei, und hundert nackte Schlangenbändigerinnen 
bieten dir ihre Reize dar. Auch der Humor will durch 
Quantität wirken, aber dir Humorlosem erscheinen hundert 
kackende Männer nicht witziger, als wenn's nur ein ein¬ 
ziger wäre. 

Die Sujets für den inneren Markt sind nicht minder 
vom Geschmack der Zeitläufte verdorben, wenigstens jene, 
die in Massen gehandelt werden. Du willst dich eben von 
ihnen abwenden, als dir einfällt, daß du hier vielleicht die 
Themen für ein Mexikobuch finden könntest. So schreitest 
du denn dein künftiges Inhaltsverzeichnis ab. 

Die Marterung Cuauhtemocs durch Cortez. - Der Ka¬ 
lenderstein der Azteken. - Der Adler mit Schlange und 
Kaktus, das Wappen des Landes. - Die Sage vom Berg 
Popocatepetl und seiner Geliebten Iztaccihuatl. - Die 
China Poblana, die eine chinesische Piratensklavin war 
und dann geachtet in der Stadt Puebla lebte. - Pater Hi¬ 
dalgo, die Glocke läutend zum Aufruhr gegen die Spanier. 
- Benito Juärez, das aztekische Indiogesicht. - Porfirio 
Diaz mit silbernem Schnurrbart und goldenen Orden. - 
Emiliano Zapata, der Bauernführer, mit dem das Land für 
die Aufteilung des Landes kämpfte. - Läzaro Cärdenas, 
der den einheimischen Bauern Boden gab und den frem¬ 
den Trusts das Petroleum nahm. - Cantinflas, ein Volks¬ 
komiker, mexikanischer Chaplin. 

Dann anonyme Gestalten aus den autochthonen Arbeits- 


556 



Prozessen: Gondolieres von Xochimilco, dem Gefild 
schwimmender Gärten. Tlachiqueros, die der Agave mit 
Hilfe eines Kürbis das Honigwasser entsaugen. Chicleros, 
die in den Urwäldern Kaugummi fördern. Maultiertreiber. 
Lastträger, turmhoch bepackt mit Tongefäßen oder Kör¬ 
ben. Tortilleras. Mariachi, die Straßenmusikanten. Fröh¬ 
liche Friedhofsszenen am Totensonntag. 

So. Nun brauchst du diese Themen nur auszuführen, 
und dein Buch ist fertig. 

Von Guadalajara und vom Staat Jalisco, dessen Haupt¬ 
stadt Guadalajara ist, singen viele Lieder. Sie hämmern 
auf dich ein und wiegen dich in der Vorstellung, Jalisco 
sei ein Phäakenland, wo du dich nie aufregst, und in 
Guadalajara blühe ununterbrochen das Glück. Hast du aber 
das Unglück, wissen zu wollen, wovon und wie die Mas¬ 
sen dieser Stadt, der zweitgrößten des mexikanischen Rei¬ 
ches, leben, so klingen andere Lieder in dein Ohr. 

Peripherie und Umgebung leben fast ausschließlich von 
Heimarbeit, und der Großteil der Produkte geht ins Aus¬ 
land. Was einst Handwerk war, ist zwar immer noch 
Handarbeit, aber nicht mehr individuell und unabhängig. 
Sie wird im Auftrag des lokalen Großhändlers geleistet, 
der ohne Fabrik und ohne Verpflichtung zu Taglohn und 
Arbeitsschutz all das erzeugen läßt, was der Auslands¬ 
markt von ihm verlangt. Dieses Manufakturwesen in der 
Epoche industrieller Produktionsweise muß mit der indu¬ 
striellen Produktionsweise Schritt halten, sie sogar über¬ 
bieten. 

In der Vorstadt Tlaquepaque wirst du in jedem Haus 
den gleichen Zustand finden: Arbeitsvolk ohne Raum. 
Auf der steilen Stiege, im engen Flur, in Küche und Kam¬ 
mer und auf dem winzigen Hof drängt sich eine Beleg¬ 
schaft von Männern, Frauen und Kindern, Mitglieder 
einer Familie, verstärkt durch die Nachbarschaft. 

Die erste der Werkstätten, in die du mit deinem Chef 
kommst, ist eine Silberwerkstätte. Er kauft alles das, was 
schon fertiggestellt im Schrank liegt, das, was noch 
schwarz und heiß der letzten Politur harrt und was noch 
im ersten Arbeitsgang steckt. Du siehst Acht- und Neun- 


557 



jährige, die mit der Traktolinflamme hantieren, das Silber 
schmelzen und zu Fäden ziehen, feilen und knüpfen, den 
Staub einatmen und die Ware putzen, filigranste Filigran¬ 
arbeit. 

Mit Menschen vollgepfropft sind auch die Stuben, in 
denen Huaraches entstehen, Sandalen, geflochten aus Strei¬ 
fen von schlecht gegerbtem und daher stinkendem Leder. 
In Häusern anderer Straften knüpft man netzartige Vor¬ 
hänge oder dicke Wollteppiche. Anderswo werden Matten 
aus Bast geflochten und wieder anderswo Gartenmöbel 
mit Ziegenleder bespannt und mit Farbe bestrichen. 

Dort, wo Glas verarbeitet wird, sind die Räumlichkeiten 
nicht so patriarchalisch, und angesichts der offenen Feuer 
und Kessel hast du den Eindruck, in einer Fabrik zu sein. 
Aber welch eine anachronistische Fabrik! Die Glashütten 
auf den böhmischen Bergen um Gablonz, wo ein alter Mei¬ 
ster mit gleichaltrigen Gesellen den Blasebalg tritt und die 
Formen schneidet, sind moderne Industrieanlagen gegen 
die Glasbläsereien hier. 

Vasen, Gläser und Karaffen wachsen aus dem Mund 
des Arbeiters, sein Schoft ist die Drehbank, und seine 
Hände sind die Drehscheibe. Auch in dieser Halle voll 
Flammen und Gluten arbeiten Kinder. Um dir ihr Können 
vorzuführen, blasen sie eine Zigarettenspitze, die sie zu 
einem Knoten schlingen, solange das Glas heift ist, und 
überreichen sie dir, eines Gegengeschenks gewärtig. 

Dominierend in Tlaquepaque sind die Töpfereien. In 
dieser Stadt findest du sie in Haus und Hof, die sich von¬ 
einander nur dadurch unterscheiden, daft das Haus gedeckt 
und der Hof ungedeckt ist. Alles ist Lehm, der Arbeits¬ 
platz, das Arbeitsmaterial und das Arbeitsprodukt Selbst 
die Hände und das Gesicht des Arbeiters sind triefender 
Lehm. Von dem aus Lehm gebauten und zum Brennen des 
geformten Lehms dienenden Trockenofen wird eben Suppe 
gebracht - sie sieht aus, als konnte man aus ihr irdene 
Gefäfte kneten. Du gehst durch die Gassen, und ununter¬ 
brochen begleitet dich das Geräusch von Handflächen, die 
auf Lehm klatschen, Tlaquepaque, Tlaquepaque. 

Stolz zeigt dir der Häuptling eines solchen Töpfer¬ 
stamms seinen Sohn, einen etwa Zwanzigjährigen, der im 


558 



vorigen Monat sein hunderttausendstes Schweinchen voll¬ 
endet hat das heißt die hunderttausendste irdene Spar¬ 
kasse. Er habe sich vorgenommen, es auf eine Million zu 
bringen. 

„Glauben Sie", fragst du deinen Amerikaner, „daß die¬ 
ser ehrgeizige Jüngling den Rekord machen wird? Wird 
nicht vorher eine Maschine konstruiert werden, die das 
Quantum seines Lebensziels in ein paar Tagen hersteilen 
kann?" 

Machen Sie sich keine Sorgen! Die Maschine wird nicht 
geboren werden. Denn keine Maschine ist so billig wie 
diese Leute. 



INDIODORF UNTER DEM DAVIDSTERN 


Stockdunkel war die Nacht und ziemlich kühl dazu, als ich 
heute aufstand, um Punkt sieben in Venta Prieta zu sein. 

Von diesem Dorf und seiner jüdischen Bewohnerschaft 
hatte ich schon in der Stadt Mexiko etwas läuten gehört 
aber ich wußte nicht, wo es liegt und hatte auch den Na¬ 
men vergessen. Da fuhr ich vorgestern zufällig nach Pa- 
chuca, der Silberstadt und las bei Kilometer 83 (von der 
Hauptstadt aus gerechnet) an einem Ortseingang „Venta 
Prieta". War das nicht der Name? Ich stieg aus, fragte un¬ 
sicher nach den Juden. Die Befragte zeigte mit dem Fin¬ 
ger. „Dort der Caballista ist einer von ihnen." 

Der Kabbalist? Weit und breit war niemand zu erblik- 
ken, der als Ziffern- und Zeichendeuter, als Kenner der 
Kabbala in Betracht kommen konnte. Nur ein Bauer stieg 
eben ganz unmystisch von einem Pferd. Mir ging ein Licht 
auf: Pferd heißt „Caballo", also wird „Caballista" ein Rei¬ 
ter sein. Ich ging auf ihn zu, fragte, und er antwortete: An 
jedem Samstag um sieben Uhr morgens sei Gottesdienst. 

Sieben Uhr ist keine angenehme Stunde. Aber was 
half's? Ich sprang im nachtschlafenden Morgengrauen aus 
den warmen Federn von Pachuca, um dem kühlen Sabbat 
entgegenzugehen. Ich machte mich, wie ich gestehen muß, 
auf etwas Groteskes gefaßt, war ein wenig ironisch ge¬ 
stimmt. Ein altes Chanson ging mir durch den Kopf, das 
in den Zeiten harmloser Jargonkomik im Schwang gewe¬ 
sen ist: Mit indianischem Federschmuck, in ostjüdischen 
Schläfenlocken, in der Kriegsbemalung der Apachen und 
mit dem Gebetkragen, den man in der Synagoge trägt, 
sprang der Wiener Komiker Eisenbach auf die Brettlbühne 
und schmetterte: 

„Mein Vater war ein klaaner 
Jüdischer Indianer, 

Meine Mutter, tief in Texas drin. 

War eine koschere Gänslerin .. 


560 



Als ich in Venta Prieta ankam, kam ich zu früh. Einige 
Indios oder Mestizen, von anderen Indios oder Mestizen 
durch nichts unterschieden, standen in Leinenhosen, Hemd 
und Sandalen im Novembernebel herum. Einer, untersetzt 
und in einen rotwollenen Sarape gehüllt, war Senor En¬ 
rique Tellez, der Vorsteher der Judengemeinde, an den 
ich mich zu wenden hatte, um authentische Auskünfte zu 
bekommen. Außerdem ist Senor Tellez der vermögendste 
Mann im Dorf, was an sich noch keinen Reichtum bedeu¬ 
tet. 

Venta Prieta besteht aus hundertfünfzig Menschen und 
dementsprechend wenig Häusern. Zwei Drittel der Ein¬ 
wohner sind Otomi-Indios, wenn auch nicht mehr reinras¬ 
sig. Sie arbeiten in den Bergwerken von Real del Monte, 
bebauen die Maisfelder hinter dem Dorf oder züchten „Ha- 
vadas", Perlhühner, die gleich ihren Besitzern Produkte 
von Rassenmischung sind. 

Nur auf der einen Seite der Landstraße stehen Häuser, 
sie sind aus Adobe, Straßenkot und Pferdedreck zusam¬ 
mengeklatscht. Das einzige Steingebäude ist die Schule. 
Auf der anderen Seite der Landstraße dehnt sich grenzen¬ 
lose Ebene: Militärlager und Flugplatz für eine Neben¬ 
strecke nach Guajutla in der Gegend von Tampico. Ein 
Kasernenblock schimmert aus der Ferne herüber. 

„Das dritte Drittel", sagt mir Senor Enrique Tellez, 
„sind wir Juden, siebenunddreißig Erwachsene. Wir sind 
nur eine große Familie oder eigentlich zwei miteinander 
verschwägerte, die Tellez und die Gonzalez." 

„Sind Sie schon lange hier?" 

„Kaum zwei Generationen. Früher lebten wir in Zamora, 
im Staat Michoacän. Dort brach vor vierzig Jahren ein 
Judenpogrom aus, die Leute bemächtigten sich meines 
Großvaters mütterlicherseits, Roman Gison hieß er. Sie 
verlangten von ihm, daß er sich taufen lasse und seinen 
alten Glauben verhöhne. Als er sich weigerte, nähten sie 
ihn in eine Kuhhaut und legten ringsherum Feuer an. Die 
Kuhhaut schrumpfte zusammen und zerdrückte auf diese 
Weise meinen Großvater. Alle Juden flüchteten aus Za¬ 
mora. Mein Vater fand diesen Rancho hier, der zu einer 
entfernten Hacienda gehörte. Der Boden ist ganz trocken. 


36 Kisch VII 


561 



nur spröde Schollen. Aber mein Vater kaufte ihn, weil hier 
sonst keine Häuser standen - er wollte nicht mehr in einer 
Stadt oder auch nur in einem Dorf leben." Don Enrique 
deutet hinter sich. „Da bin ich geboren." 

„Da" ist ein Haus, nicht minder verfallen und vernach¬ 
lässigt als die anderen, aber größer. In regem Verkehr be¬ 
wegen sich Lebewesen in und aus dem Hof, Perlhühner, 
Kinder, ein Pferd und viele Hunde. Während der Unter¬ 
haltung, die Don Enrique und seine Gruppe mit mir füh¬ 
ren, steckt eine schwarze Kuh ihren Kopf aus dem Tor, 
blökt von Zeit zu Zeit, wie um vor mir zu warnen, und 
wagt sich nicht aus dem Hof, als hege sie in ihrem Euter 
tiefes Mißtrauen gegen mich. 

Ich schaue auf meine Uhr. Don Enrique sagt: „Der Got¬ 
tesdienst wird bald beginnen; sehr pünktlich sind wir nicht. 
Die Frauen müssen noch das Frühstück für ihre Männer 
zurechtmachen, die zur Arbeit gehn." 

„Arbeiten sie am Samstag?" 

„Das geht nicht anders." 

„Wie können sie da am Gottesdienst teilnehmen?" 

„Deshalb haben wir dreimal Betstunde, wir kommen in 
drei Schichten." 

„Halten Sie selbst den Gottesdienst ab, Senor Tellez?" 

„Nein, ich versteh nicht viel davon. Unser Rabbi ist ein 
Abessinier 

„Ein Abessinier? Wie kommt ein Abessinier nach Me¬ 
xiko?" 

„Er lebt als Bäcker in Pachuca. Ein junger Mensch, der 
sich sehr für Religion interessiert und die Bibel kennt. Er 
liest sogar hebräisch. Gleich wird er dasein." 

Don Enrique zählt auf, welche religiösen Gebräuche die 
Gemeinde einhält. Sie fasten am Jom Kippur - „am 
Ayuno mayor", übersetzt er mir, damit ich's verstehe. 
Ostern essen sie Mazzes — „galletas de la semana santa", 
übersetzt er, was ich meinerseits mit „Waffeln der heiligen 
Woche" übersetzen würde. 

„Auch das Neujahrsfest feiern wir und fasten am Jahres¬ 
tag der Tempelzerstörung. Wir essen kein Schweinefleisch. 
Geflügel und Vieh schlachten wir koscher." 

Ich frage, ob Zirkumzision vor genommen wird. „Ja, aber 


562 



wir haben keinen Beschneider hier. Wir bringen die neu- 
geborenen Knaben nach der Hauptstadt zum Senor Klip¬ 
per." Bei Gott auf diesen onomatopoetischen Namen hört 
der Beschneider von Mexiko. 

Neben der schwarzen Kuh, die noch immer aus dem 
Toreingang mißtrauisch zu mir herüberschaut steht ein 
blonder Norwegerjunge, etwa vier Jahre alt, und sieht 
ebenso mißtrauisch zu mir herüber. 

„Komm her", ruft Don Enrique dem Norwegerjungen 
zu. Aber statt zu gehorchen, jagt der Judenbub davon. 
„Das ist mein Neffe", sagt Onkel Heinrich, „ich wollte, er 
soll Ihnen seinen Namen sagen." 

„Wie heißt er denn?" 

„Er heißt Reubeni. Alle unsere Kinder haben Namen 
aus dem Alten Testament: Elias, Abraham, David, Saul die 
Knaben, und die Mädchen heißen Rahel, Rebekka oder 
Sara. Wissen Sie, daß auch die Witwe von Francisco Ma- 
dero ,Sara' heißt?" 

Ich hatte schon in Mexiko gehört daß die Märtyrer der 
nationalen Freiheit, die Brüder Francisco J. und Gustavo 
Madero illegale Juden gewesen seien, und ebenso die in 
New York lebende Witwe, eine geborene Perez, was ein 
typischer Name der spaniolischen Juden ist. Die Brüder 
Madero sind nicht die einzigen großen Männer, denen jü¬ 
dische Abstammung nachgesagt wird, die Inquisition hat 
viele Opfer, um sie herabzusetzen, als „judaizante" be¬ 
zeichnet „zum Judentum neigend". Selbst der Vater der 
Nation, der Pfarrer Miguel Hidalgo, steht als „judaizante" 
in den Inquisitionsakten. 

„Unsere Kinder", fährt der Gemeindevorsteher fort, 
„gehen in die allgemeine Schule. Haben Sie schon die 
Schule gesehen? Die ist schön, nicht wahr? Vor ein paar 
Jahren verlangten die ,Cristeros' (eine kleriko-faschistische 
Bewegung), daß Venta Prieta eine Kirche bekomme. Dar¬ 
auf wandten sich die Dorfbewohner - hier leben meist 
Bergleute, und alle sind gewerkschaftlich organisiert, also 
keine Antisemiten - an die Regierung, man möge ihnen 
lieber eine Schule geben, weil das Dorf bereits eine Kir¬ 
che habe. Daß es eine jüdische Kirche war, haben sie nicht 
gesagt. Wir bekamen die Schule, unter dem Präsidenten 


563 



Ortiz Rubio wurde sie eröffnet. Einer unserer Jungen, der 
Saul Gonzalez, geht übrigens in die Schule des Militär¬ 
lagers drüben. Am Flugplatz arbeitet auch einer von uns, 
er hat zuerst als Mechaniker ausgeholfen und dann die 
Pilotenprüfung gemacht." 

Don Enriques Wissen über die Geschichte der Juden in 
Mexiko beschränkt sich darauf, daß er den Namen Car- 
bajal kennt, des Portugiesen, den Philipp II. nach Neu- 
Spanien schickte, um die aufständischen Küstengebiete am 
Golf zu pazifizieren. Luis Carbajal der Ältere brachte hun¬ 
dert Marannen-Familien mit, und von diesen leiten die 
mexikanischen Juden ihre Herkunft ab. Sie verehren je¬ 
doch vor allem seinen Neffen „Carbajal el Mozo", der mit 
Mutter und Geschwistern in den Verliesen der Inquisition 
gemartert wurde, sich aber vom mosaischen Gesetz nicht 
abbringen ließ. Am 5. Dezember 1596 stand er mit seiner 
ganzen Familie auf dem Scheiterhaufen, fünfundvierzig 
Juden; in diese Zahl sind die Toten nicht eingerechnet, 
deren Gebeine aus dem Friedhof gescharrt worden waren, 
und nicht die Flüchtlinge, die man nur in effigie verbren¬ 
nen konnte. Auch ein Deutscher stand auf dem Gerüst, als 
unbekehrbarer Lutheraner war er in den Kerker der In¬ 
quisition geworfen, aber dort von Carbajal - zum Juden¬ 
tum bekehrt worden. Luis Carbajal el Mozo und die Sei- 
nigen gingen als unbußfertige Juden in Flammen auf. 

Von seiner eigenen Generation weiß Don Enrique mehr 
zu erzählen: „In Michoacän hatten wir einen Rabbi, der 
war nicht bartlos, wie die Indios sind, sondern trug einen 
großen, silbernen Bart, die Bauern nannten ihn ,Bischof 
der Juden". Manchmal fuhr er zu anderen Judengemein¬ 
den, um zu predigen. In unserer Umgebung gibt es keine 
Judengemeinde außer uns. Die nächste ist zwei Stunden 
Eisenbahnfahrt von hier, in San Agustin de Zapoctla, 
einem Dorf im Staat Mexiko. - Ah, da kommt unser 
Rabbi. Hola, Etiope!" 

Der angerufene Äthiopier tritt auf uns zu, in der Hand 
trägt er ein sorgfältig mit Bindfaden umwickeltes Paket. 
Weil ich es weiß, stelle ich sofort fest, daß er ein typischer 
Falascha aus Abessinien ist. Im Judenchristentum der Fa- 
laschas scheint die jüdische Tendenz zu überwiegen, denn 


564 



im Ausland werden die Falaschas meist Juden, in Haar¬ 
lem = New York sah ich ihre große Synagoge, und nun 
treffe ich hier einen Rabbi aus ihrem Stamm. 

Er heißt Guillermo Pena, ist kaum dreißig Jahre alt, in 
Mexiko geboren und versteht nur wenige Worte Kuara, 
der Falascha-Sprache. Guillermo Pena lebt mit seinem Va¬ 
ter in Pachuca, wo er soviel Brot bäckt, wie er selbst aus¬ 
tragen kann, demnach nicht viel. So hat er Zeit, im Selbst¬ 
unterricht Hebräisch zu lernen und die Bibel zu lesen. An 
jedem Samstagmorgen kommt er nach Venta Prieta, ohne 
Vergütung, hält den Gottesdienst ab und gibt Religions¬ 
unterricht. Dieser Rabbiner ist ein schüchterner, verlegener 
Mensch, der mir nicht gerne Rede steht und froh ist, als 
ich seiner wiederholten Aufforderung folge, in den „Jar- 
dincito" einzutreten. 

Mit „Jardincito" ist das von roten Ziegeln umgebene 
Gärtchen gemeint und auch das Bethaus darin. Es mag 
höchstens vierzig Personen fassen. Von der Decke der Bet¬ 
stube baumelt eine Spirituslampe. Ein ärmliches Pianino in 
der einen Ecke, in der andern eine Schultafel, mit hebräi¬ 
scher Kursivschrift bekreidet, und als zweites Lehrmittel 
ein ramponierter Globus zur Veranschaulichung der bibli¬ 
schen Geographie. Drei Vasen aus Spiegelsplittern, Pa¬ 
pierblumen darin, sollen das Pianino verschönern. 

Auf der bestickten Decke des Altartisches steht eine 
Kerze (statt eines siebenarmigen Leuchters), ein Glas (statt 
eines goldenen Bechers), und statt einer pergamentenen, 
handgeschriebenen Thorarolle liegt ein Foliant: Altes und 
Neues Testament in spanischer Sprache, herausgegeben 
von der Bibelgesellschaft. Wahrlich, dieses Buch paßt von 
keinem Standpunkt aus hierher; weder anerkennt die Ju¬ 
dengemeinde das Neue Testament, noch hat die Bibel¬ 
gesellschaft das Buch deshalb gedruckt, damit es den Ju¬ 
den behilflich sei, in ihrem Glauben zu verharren. 

Getünchte Wände. Eine ist mit einem Davidstern be¬ 
malt; ihn halten zwei Löwen mit mähnenumwallten Köp¬ 
fen und nackten Körpern. Ferner sind, in Ermangelung 
wirklicher Armleuchter, zwei solche an die andere Wand 
gemalt, aber - wennschon, dennschon - ihre Postamente 
und die Kerzen sind mit allerhand Emblemen verziert. An 


565 



der Frontwand dominiert das „Höre, Israel" auf hebräisch 
und spanisch: „Oye, Israel, el eterno es nuestro dios, el 
eterno uno es." 

Don Guillermo hat ängstlich meine Musterung der Fres¬ 
ken verfolgt, und da ich nach dem Maler frage, erwidert er 
ein zaghaftes „ich", dem er hinzusetzt: „Ich bin Bäcker, 
Senor." 

„Die Bilder sind sehr schön, insbesondere die hebräi¬ 
schen Schriftzeichen", nickte ich leutselig und sehe sein 
afrikanisch dunkelbraunes Gesicht erröten. „Ich bin Bäk- 
ker, Senor", flüstert er wieder. 

Don Guillermo ist vielleicht kein Maler, aber er ist 
auch nicht bloß ein Bäcker. In erster Linie ist er ein Prie¬ 
ster, wie man erkennt, wenn er liebevoll sein Bündel auf¬ 
schnürt und dessen Inhalt ausbreitet, Gesangsnoten und 
Gebetbücher, mit vielen Lesezeichen versehen. Dann 
kommt aus einem Säckchen ein weißer Schal hervor, der 
den Rabbi sofort umhalst, und ein Käppi, das sich ihm auf 
den Hinterkopf schmiegt. 

Die versammelte Gemeinde besteht aus dreizehn Men¬ 
schen mosaischer Konfession, also um drei mehr als die 
vorgeschriebene Mindestzahl. Dennoch machen die drei¬ 
zehn kein gebetberechtigtes Kollegium aus, weil Frauen 
und Kinder nicht zählen. Aber kann Jehovah das so ge¬ 
nau nehmen in Mexiko, wo die Seinen jahrhundertelang 
furchtbaren Drohungen und milden Lockungen standhiel¬ 
ten? 

Von Hütte zu Hütte hatten sie einander die Parole zu¬ 
geraunt: „Lasset uns beten", mit der Angabe, wo und wann. 
Nur im Dschungel war Raum für den Gottesdienst. Auf 
dem Weg dorthin konnte man von Pfeilen getroffen oder 
von Sbirren der Inquisition gefaßt werden, man konnte 
in den Krater stürzen oder zerfleischt werden von wilden 
Tieren. Kam nun einer nicht an, vielleicht der zehnte, 
sollten da die neun unverrichteter Glaubensdinge ausein¬ 
andergehen? „Ach was, lasset uns beten", sagten sie und 
taten es. Und weil Jehovah damals durch die Finger sah, 
so ist in Mexiko ein Minjen auch dann ein Minjen, wenn 
weniger als zehn Männer versammelt sind. 

Heute sind vier Männer da. Außerdem vier Frauen 


566 



oder Mädchen. Diese sind es, die das Altartuch mit Blu¬ 
men und Bibelsprüchen bestickt haben, und nun unter¬ 
brechen sie mit Gesang die eintönig gemurmelten Texte 
der Gebete. Die Kinder singen mit, unter ihnen der vor 
mir davongelaufene norwegisch-jüdisch-indianische Reu- 
beni Tellez und der neunjährige Saul Gonzalez, der in die 
Militärschule geht, ein zukünftiger mexikanischer General. 

Der Gottesdienst war einfach, aber im Grunde ein Sab¬ 
batgottesdienst wie anderswo auch. Am Schluß stellte sich 
die Gemeinde vor dem Altartisch auf zum Totengebet. 
Dieses Gebet dürfen Kinder nicht sprechen, bevor sie 
durch die Konfirmation in die Religionsgemeinschaft auf¬ 
genommen sind. Hier aber traten zwei Knaben, wahr¬ 
scheinlich Waisen, gleichzeitig mit den Erwachsenen vor 
- eine andere der Ausnahmen, die Gott für das Dorf 
Venta Prieta in Mexiko bewilligt hat. 

Auch ich trat vor, schloß die Füße aneinander und sprach 
nach, was der Rabbi uns vorsprach, nur die Namen seiner 
Toten fügt jeder Betende selber ein. 

Mein Vater und meine Mutter waren in Prag geboren, 
lebten dort, starben dort und sind dort begraben. Niemals 
konnte ihnen in den Sinn kommen, daß einer ihrer Söhne 
den Totenspruch für sie in einer Gruppe von Indios spre¬ 
chen werde, im Schatten der silbertragenden Berge von 
Pachuca. Meine Eltern, die ihr Leben im Bärenhaus der 
Prager Altstadt verbrachten, ahnten nicht, daß ihre Söhne 
einmal aus dem Bärenhaus verjagt sein würden, nach Me¬ 
xiko der eine, nach Indien der andere und die beiden, die 
dem Hitlerterror nicht entfliehen konnten, in unbekannte 
Stätten unvorstellbaren Grauens. Meine Gedanken schwei¬ 
fen weiter. Verwandte, Freunde, Bekannte und Fremde, 
Opfer Hitlers, alle haben Anspruch darauf, daß ihrer im 
Totengebet gedacht werde. 

Ein Zug von Millionen. Frauen und Männer, die sich 
zeit ihres Lebens darum gesorgt, ihre Familien zu ernäh¬ 
ren und ihre Kinder zu nützlichen Mitgliedern der mensch¬ 
lichen Gesellschaft zu machen; Angestellte und Arbeiter, 
die sich im Schweiße ihres Angesichts ihr Brot verdienten; 
Ärzte, die Tag und Nacht bereit waren. Leidenden zu 
helfen; Menschen, die bemüht waren, die Wahrheit zu 


567 



verbreiten und die Lage ihrer Mitmenschen zu verbessern; 
Gelehrte, die der Wissenschaft lebten; Künstler, die dem 
Leben Schönheit geben wollten; Kinder, die sich ihre Zu¬ 
kunft so wunderbar träumten ... alle Arten von Menschen, 
lebensfrohe und sentimentale, gute und schlechte, starke 
und schwache. 

Unübersehbar, unaufhörlich ist ihre Reihe. An kalten 
Fratzen vorbei, wanken sie dem Ziele zu. Dort steht es, 
ein rauchender Bau. Alle wissen, was dieser Bau bedeu¬ 
tet, woraus der Rauch besteht, der aus dem Schlot auf¬ 
steigt. Es ist die Todesfabrik, sie fabriziert Leichen. Mit 
welchen Gedanken bewegt sich diese Armee der dem 
Mord Geweihten diesem Ziele zu? Keine Hoffnung mehr, 
keine Hoffnung mehr für sich, für ihre Kinder, für ihr 
Angedenken, kaum Hoffnung mehr auf Rache, auf Be¬ 
strafung des Massenmords. Sie müssen sich in das Tor 
schieben, sie müssen sich entkleiden, sie müssen in die 
Kammer gehen, wo ein fürchterliches Gas sie erwürgt, 
verbrennt, auflöst. Aus dem Schlot steigt Rauch. 

Unübersehbar ist die Kolonne, sie zieht dahin, als hätte 
es nie eine Menschheit gegeben, als hätte es nie einen 
Sinn der Menschheit gegeben, niemals das Streben, mehr 
Brot, mehr Recht, mehr Wahrheit, mehr Gesundheit, mehr 
Weisheit, mehr Schönheit, mehr Liebe und mehr Glück in 
die Welt zu bringen. 

Als letzter trete ich weg vom Altar, zu dem ich mich 
vor einigen Stunden so gut gelaunt aufgemacht hatte. 



MEXIKOFORSCHUNG BEI DEN NAZIS 


Seit die Nazis die deutsche Wissenschaft gleichschalteten 
und jede Lehrkanzel jeden Forschungssitz zu einem elek¬ 
trischen Stuhl machten, tappen ganze Wissensgebiete vor¬ 
sichtig zwischen diesem Leitungsdraht und dem Stachel¬ 
draht 

Eines unrühmlichen Todes starb der deutsche Zweig der 
Mexikoforschung, deren Vater ein Deutscher gewesen war. 
Aber er, Alexander von Humboldt, steht in Nazideutsch¬ 
land, wenngleich man seinen Namen außenpolitisch aus¬ 
wertet, innenpolitisch nicht hoch im Schwange. Denn er 
bestritt, daß es minderwertige Menschenrassen gäbe, und 
war, horribile dictu, ein Freund und Lobpreiser der Ju¬ 
den. Humboldt hatte seine Mitarbeiter und Kollegen 
hauptsächlich in Frankreich geworben; in Frankreich wuchs 
dann die Völkerkunde Amerikas zu einer mächtigen Dis¬ 
ziplin heran mit der „Societe Ethnologique", der „Revue 
d'Anthropologie", den internationalen Kongressen und 
staatlich geförderten Expeditionen. 

Auf deutscher Seite wurde nach Humboldts Tod das 
Stoffgebiet Mexiko meist den Gelehrten anderer Fächer 
überlassen oder Amateuren. So war es ein Germanist, 
E. W. Förstermann, der als Direktor der Kgl. Sächsischen Bi¬ 
bliothek die dort befindliche Maya-Handschrift entzifferte; 
Karl von Scherzer war Buchdrucker und österreichischer 
Konsul, bevor er auf das linguistische Studium Mittelame¬ 
rikas hingelenkt wurde; der Dresdner Alphons Stübel 
reiste aus Gesundheitsrücksichten nach den Tropen, wo 
er sich zunächst für Vulkanistik interessierte und dann der 
Urgeschichte zuwandte; als Militäringenieur kam Teobert 
Maler mit Kaiser Maximilian nach Mexiko und erforschte 
die Ruinenstätten von Yucatan; Paul Ehrenreich, der die 
Gemeinsamkeiten in der Kulturmythologie der nord- und 
südamerikanischen Indios feststellte, war eigentlich Brasi¬ 
lienforscher; Wilhelm Reiß aus Mannheim und Karl von 


569 



Fritsch aus Weimar waren Geologen gewesen und F. Ratzel 
ursprünglich Reiseberichterstatter der „Kölnischen Zeitung". 

Auch Eduard Seler (1849 bis 1922), mit dem Deutsch¬ 
land wiederum die Führung in der internationalen Mexi- 
kanistik zurückgewann, war kein Forscher von Haus aus. 
Er hatte das Leben seiner Jugend als Lehrer gefristet und 
unternahm erst als Vierzigjähriger seine berühmten Rei¬ 
sen zum Pyramidenhügel von Xochicalco und zu den Hua- 
steca-Indianern von Veracruz. Professor wurde er, als 
Joseph Florimond Loubat, französischer Gelehrter, würt- 
tembergischer Gesandter, amerikanischer Millionenerbe, 
päpstlicher Herzog und internationaler Mäzen, einen 
Lehrstuhl für amerikanische Volks-, Sprach- und Alter¬ 
tumskunde an der Berliner Universität stiftete. 

In den Vereinigten Staaten von Nordamerika wuchs in 
den letzten Jahrzehnten das Interesse an der archäologi¬ 
schen und ethnographischen Ergründung des südlichen 
Nachbarlands zu dominierender Höhe. Internationales 
Zentrum der Mexikanistik wurde das Smithsonian Institut 
in Washington, und unter dessen Mitarbeitern traten 
Bindestrichamerikaner, wie der Deutsche Franz Boas, der 
Tscheche Alesch Hrdlicka und der Pole Bronislaw Mali- 
nowski, führend hervor. Malinowski, der 1943 starb, ist 
der Begründer der funktionalistischen Schule in der Ethno¬ 
graphie. 

In Deutschland waren nach Eduard Selers Tod zwei 
große Mexikanisten geblieben: Walter Lehmann, bahn¬ 
brechend als Erforscher indianischer Sprachen, und Kon- 
rad Theodor Preuß. Preuß war der erste, der die Religions¬ 
geschichte zur Grundlage völkerkundlicher Studien machte; 
seine Entdeckungen in der Provinz Nayarit (1908), seine 
Deutung des aztekischen Kalendersteins und seine Studien 
über indianische Riten brachten ihm die Anerkennung bei¬ 
der Hemisphären. 

Sowohl Konrad Theodor Preuß wie Walter Lehmann 
waren von der gleichen fortschrittlichen Gesinnung be¬ 
seelt wie ihr Lehrer und Amtsvorgänger am Berliner Völ¬ 
kerkunde-Museum, Eduard Seler. Beim Antritt Hitlers 
wurden sie aus dem Amt gejagt. Wer hatte sie denunziert, 
die beiden Männer, die politisch niemals hervortraten und 


570 



deren freiheitliche Anschauungen nur ihren Berufskollegen 
bekannt waren? 

Abteilungsdirektor des Berliner Völkerkunde-Museums 
war und ist Herr Walter Krickeberg. Er blieb im Amt, 
denn er hatte flugs sein Mäntelchen nach den Winden des 
Führers gehängt. In Laienkreisen ist Herr Krickeberg be¬ 
kannt durch einen Band Aztekenmärchen, den er für die 
Diederichssche Serie „Märchen der Weltliteratur" heraus¬ 
gegeben hat, eine Popularisierung wissenschaftlicher For¬ 
schungen. Im Vorwort dieser Kompilation gibt Krickeberg 
zu, daß sein Buch, soweit es nicht auf den von Walter Leh¬ 
mann gemachten Entdeckungen verschollener mexikani¬ 
scher Handschriften fußt, den von Konrad Theodor Preuß 
bei den Cora-Indianern Mexikos gesammelten Mythen ent¬ 
stammt. Und seine Apotheose schließt Krickeberg folgen¬ 
dermaßen : 

„Zum Schluß ist es mir eine angenehme Pflicht, den Her¬ 
ren Professoren K. T. Preuß und W. Lehmann, die mich 
durch Überlassung von gedrucktem und handschriftlichem 
Material, das mir sonst nicht erreichbar gewesen wäre, bei 
der Abfassung dieser Arbeit unterstützt haben, an dieser 
Stelle meinen verbindlichsten Dank auszusprechen." 

In der Nazizeit saß der bedankte Professor Konrad 
Theodor Preuß in seiner Berliner Wohnung und schuf an 
einem Werk, das als Handbuch, Lehrbuch und Enzyklopä¬ 
die der modernen Völkerkunde gedacht war; die Materien 
und Kapitel wurden von den Kapazitäten der einzelnen 
Fachgebiete bearbeitet, so die Rechtskunde von dem Erfor¬ 
scher primitiver Rechtszustände Leonhard Adam, der ur¬ 
sprünglich das Lehrbuch herausgeben sollte. Das funda¬ 
mentale Werk erschien 1937 im Verlag Ferdinand Enke, 
Stuttgart, und Herr Krickeberg schrieb eine Anzeige - 
„Anzeige", o doppelsinniges Wort! 

Es war eine Polizeianzeige, erstattet auf dem nicht mehr 
ungewöhnlichen Wege eines wissenschaftlichen Organs 
(Zeitschrift für Ethnologie, S. 464-466). Darin bringt An¬ 
zeiger, der vor dem Professor Preuß soviel gekatzbuckelt 
hatte, der Gestapo zur Kenntnis, daß Professor Preuß nicht 
auf dem Boden der nationalsozialistischen Weltanschauung 
stehe, Preuß mache sich die „historische Betrachtungsweise 


571 



in der Völkerkunde" nicht zu eigen, das heißt jene, die 
beweisen muß, daß nur die teutonischen Stämme in der 
Welt etwas zu sagen haben. Darüber hinaus, fährt An¬ 
zeiger Krickeberg fort, bejahe Preuß sogar die Gegner 
dieser Betrachtungsweise, indem er „ausländische Funktio- 
nalisten oft und mit Anerkennung zitiert". 

Herr Krickeberg benützt seinen Spitzelbericht zu der 
Klage, daß es die Völkerkunde in Deutschland „nicht ganz 
leicht hat, sich neben ihren mehr im Vordergrund des all¬ 
gemeinen Interesses stehenden Schwesterwissenschaften, 
Rassenkunde und Urgeschichte, zu behaupten, obgleich 
auch sie sich mit dem vollen Einsatz ihrer Kräfte in den 
Dienst der großen völkischen Ideen stellt". 

Fürwahr, die Völkerkunde hat es mitnichten so leicht 
wie die Rassenkunde. Diese stellt auf Wunsch des Rassen¬ 
amts einfach fest, daß die jüdische Großmutter des Pg. 
Soundso serienweise rassenschänderische Ehebrüche mit 
arischen Herrentypen begangen habe, wodurch der Pg. 
Soundso mitsamt seiner Sippe als unanfechtbare Edelmen¬ 
schen in Ordnung gehen. Die Ethnographie fußt auf we¬ 
niger fluktuierenden Begriffen, als es Blut und Sperma 
sind: auf baulichen, bildhauerischen und folklorischen Rea¬ 
lien. Und all die müssen übergangen werden, wenn die 
NSDAP = Ausländsabteilung Gutachten darüber wünscht, 
daß ganze Völker aus Untermenschen bestehen. Mit Be¬ 
rufung auf solche Gutachten verbietet dann zum Beispiel 
die deutsche Gesandtschaft in Mexiko die Eheschließung von 
Deutschen mit Mexikanerinnen oder ordnet, falls die Ehe 
bereits geschlossen ist, die Scheidung an, „es sei denn, daß 
Sie die Unterlagen dafür aufbringen, daß indianische Blut¬ 
mischung in der Familie Ihrer Frau (Braut) nicht existiert 
oder seit dem Jahre 1800 nicht mehr vorgekommen ist". 

Wie, so dachte Herr Krickeberg, gerät man in die Nähe 
der beneideten Rassenkunde und „mehr in den Vorder¬ 
grund des allgemeinen Interesses"? Wie kann man den 
bereits aus dem Amt herausdenunzierten größeren Kol¬ 
legen auch aus der Publikationsmöglichkeit und nötigen¬ 
falls aus dem Leben hinausdenunzieren, um auf diese 
Weise zum einzigen, also zum ersten Mexikanisten 
Deutschlands zu werden? Das kann man so: 


572 



„Unverständlich ist ja nur, daß im Preußschen Buch ein 
nichtarischer Ethnologe, nämlich L. Adam, zweimal zu 
Worte kommt und einer völkerkundlichen Schule (dem 
Funktionalismus) der Vorzug gegeben wird, deren Führer 
B. Malinowski gerade aus dieser wissenschaftlichen Ein¬ 
stellung heraus ein ausgesprochener Gegner des heutigen 
nationalsozialistischen Deutschlands ist." 

Als Konrad Theodor Preuß dies las, wußte er, was er zu 
gewärtigen hatte. Er hörte sich schon von einem unifor¬ 
mierten Gorilla angeschrien. „Funktionalismus, was? Du 
Schweinehund!" (Faustschlag.) „Ich werde dir das Zitieren 
von Ausländern schon austreiben. Wirst keinen Mali¬ 
nowski mehr loben, du Bolschewik!" (Stahlrutenhiebe.) 

Aber die Aussicht auf das Verhör im Kolumbiahaus ent¬ 
setzte Preuß weniger als die unfaßbar feige Schurkerei, 
die ein Schüler und Fachkollege zu begehen vermocht 
hatte. 

Bevor die Schergen der Gestapo den Professor Konrad 
Theodor Preuß holen konnten, holte ihn der Tod. „Herz¬ 
schlag", stand in den Zeitungen, und es ist möglich, daß 
der Meuchelmord wirklich durch Herzschlag begangen 
wurde. 

Im „Archiv für Anthropologie" (1938, S. 298) versuchte 
Professor Thurnwald eine „Ehrenrettung" des berühmten 
Kollegen, wenn auch nur eine, die im Dritten Reich mög¬ 
lich ist. Thurnwald schrieb, Preuß sei kein Antinazi ge¬ 
wesen und Herr Krickeberg nicht immer ein Nazi. Er 
(Krickeberg) habe in seiner Zeitschrift die Buchkritiken 
von einem Juden (Gerhard Neumann) schreiben lassen, der 
zum Beispiel ihn (Thurnwald) abfällig kritisierte. Kricke¬ 
berg habe den Arier Bronislaw Malinowski als Juden- 
stämmling bezeichnet, um mit dieser Behauptung Profes¬ 
sor Preuß erledigen zu können. Und das Schlimmste! 
Krickeberg habe sich früher mit Katholiken, sogar mit 
katholischen Priestern, abgegeben und der „Volksfront, 
einer von Pater W. Schmidt geleiteten Schule" angehört. 

Was Krickeberg darauf antwortet (Zeitschrift für Ethno¬ 
logie, Band 70, S. 119-124), ist bisher auf keine Kuhhaut 
gegangen, geschweige denn in ein wissenschaftliches Organ. 
Er, der eben den Professor Preuß durch eine Gesinnungs- 


573 



Verdächtigung in den Tod getrieben hat beschwert sich, 
daß gegen ihn „geradezu eine Gesinnungs Verdächtigung" 
erhoben werde. Dabei entfährt ihm auch das Eingeständ¬ 
nis, daß sein Haß gegen Juden nicht so tief sitzt wie sein 
Haß gegen begabtere Kollegen, die Konkurrenz. Wörtlich: 

„Es lag für mich auch nicht der leiseste Grund dazu 
vor, für Herrn Thurnwald in die Schranken zu treten, 
selbst wenn ich gewußt hätte, daß der absprechende Kri¬ 
tiker ein Jude war. Denn ..." 

Ja, was ist denn dieses „Denn"? Warum wäre denn Rit¬ 
ter Krickeberg nicht „in die Schranken getreten"? Er klagt 
den Himmlerschen Heerscharen das Folgende: 

„Denn bis 1933 war noch nicht viel von einer Abnei¬ 
gung Thurnwalds gegen eine jüdische Wissenschaft zu 
merken." 

Nach dieser neuerlichen Denunziation folgt ihre Be¬ 
gründung: In Thurnwalds Zeitschrift habe es früher jüdi¬ 
sche Mitarbeiter gegeben, „die schon am Namen als solche 
zu erkennen sind". Ferner seien „recht wohlwollende Be¬ 
sprechungen von Werken typisch jüdischer Geisteshaltung", 
darunter von Büchern des Soziologen Franz Oppenheimer, 
des Sexualforschers Magnus Hirschfeld und so weiter in 
Thurnwalds Zeitschrift erschienen. 

Krickeberg entschuldigt seine Behauptung von der jü¬ 
dischen Abstammung des Professors Bronislaw Malinowski 
damit, daß dieser die Einleitung zur Arbeit eines Emi¬ 
granten geschrieben habe, nämlich des früheren Kölner 
Museumsdirektors Julius E. Lips, „der Malinowski aus¬ 
drücklich als seinen Freund bezeichnet". Herr Krickeberg, 
der aus Spitzelrapporten über die politische Tätigkeit von 
Professor Lips und anderen ins Ausland geflüchteten Ge¬ 
lehrten informiert ist, verhöhnt Thurnwald, „welcher alle 
diese Dinge nicht zu kennen scheint". 

Durch den Vorwurf, der „Volksfront, einer von Pater 
W. Schmidt geleiteten Schule" angehört zu haben, gerät 
Herr Krickeberg in panische Angst, denn mit dem Begriff 
„Volksfront" ist in Nazideutschland nicht zu spaßen. „Ich 
habe nie einer klerikal-marxistisch-liberalen Volksfront 
angehört", schreit Krickeberg, „niemals!" 

Wäre Krickeberg ein Mann und Wissenschaftler, dann 


574 



hätte er antworten müssen, daß Pater Schmidt Herausgeber 
der Wiener Zeitschrift „Anthropos" war und die von ihm 
geleitete Missionsschule Sankt Gabriel in Mödling bei 
Wien eine Reihe von mutigen Forschungsreisenden heran¬ 
gebildet und ausgesandt hat Statt dessen stammelt Kricke¬ 
berg, seine Vergangenheit sei ihm von allen, „die unser 
Verhalten im Leben und Beruf kennen, Partei- und Dienst¬ 
stellen eingeschlossen", verziehen worden. 

Die Vorgesetzten Partei- und Dienststellen verzeihen 
ihm auch diesmal. Begleitet von einem Bonner Professor 
namens Trimborn, der die Sprache der peruanischen Inkas 
mit dem zackigen Jargon der SS vertauscht hat, darf Herr 
Krickeberg Ende 1939, mitten im Krieg, zum 26. Inter¬ 
nationalen Amerikanistenkongreß über See fahren. In Ver¬ 
tretung Deutschlands. In Vertretung Deutschlands nach 
Mexiko, dessen Bevölkerung von der Naziwissenschaft als 
Untermenschen doppelter Artgattung bezeichnet wird, 
a) weil sie braunhäutige Wilde und b) weil sie durch fort¬ 
gesetzte Blutmischung zu einer Bastardrasse geworden 
seien. 

Die mexikanischen Kongreßmitglieder fragen Kricke¬ 
berg, woran denn ihr Freund, der gelehrte Freund ihres 
Landes, woran denn Konrad Theodor Preuß gestorben sei. 

Krickeberg setzt eine Miene tiefer Trauer auf und ant¬ 
wortet: „Herzschlag." 



VERWIRRUNGEN EINER KAISERIN 


Im Zusammenhang mit der geistigen Erkrankung von 
Cariota, geborene Prinzessin von Belgien und verehelichte 
Erzherzogin von Österreich, sind eine Reihe von Giften 
beschuldigt worden, den Irrsinn herbeigeführt zu haben. 

Der Motive für ein Attentat gab es so viele, daß die 
Tat geradezu als übermotiviert bezeichnet werden muß. 
Cariota bereitete ihre Abreise aus Mexiko im Sommer 1866 
vor, zu einem Zeitpunkt demnach, da das Kaisertum ihres 
Gatten Maximilian hoffnungslos geworden, der Abzug sei¬ 
ner französischen Hilfstruppen beschlossene Sache und 
nahezu das ganze Land auf die Seite von Benito Juärez 
getreten war. Schon vorher war die Ausschaltung der Aus¬ 
länderin, die ihren schwächlichen Gemahl zum Ausharren 
aufstachelte und den Bürgerkrieg verlängerte, für die Me¬ 
xikaner ein Ziel gewesen, aufs innigste zu wünschen. Wie 
wünschenswert erst mußte ihre Ausschaltung sein, als sie 
sich zur Fahrt über den Ozean rüstete, um fremde Heeres¬ 
kräfte für eine neue blutige Intervention gegen das mexi¬ 
kanische Volk zu werben! 

Die Verabreichung des Giftes dürfte kurz vor der Ein¬ 
schiffung erfolgt sein. Jedenfalls wird das erste Symptom 
in Puebla konstatiert, wo Cariota auf der Fahrt in den 
Hafen Veracruz übernachtet. In Puebla weckt sie mitter¬ 
nachts ihre Dienerschaft und begibt sich in deren Beglei¬ 
tung zum Haus des ehemaligen kaiserlichen Präfekten, der 
jetzt dieses Amt in Veracruz bekleidet. Cariota läßt sich 
das leerstehende Haus aufsperren, läuft durch alle Räume 
und kehrt in ihr Logis zurück, ohne eine Aufklärung über 
diesen merkwürdigen Besuch zu geben. Drei Tage später, 
am 13. Juni 1866, schon auf der Landungsbrücke des Schif¬ 
fes „Imperatrice Eugenie", bemerkt sie die französische 
Flagge auf dem Mast. Cariota eilt zur Hafenleitung und 
verlangt im Ton höchster Erregung die Einziehung dieser 
Fahne und die Hissung der mexikanischen. Nachdem die- 


576 


sem Wunsch entsprochen wird, fährt sie aus Mexiko ab. 
Für immer. 

Heftigere Wirkungen zeigen sich zwei Tage nach Car- 
Iotas Landung auf europäischem Boden. Während ihrer 
Zusammenkunft mit Napoleon III. hören Besucher des 
Parks von Saint Cloud ihr gellendes Schreien und verste¬ 
hen die Worte: „Sire, Sie haben mich vergiften lassen." 
Als sie am 27. September vom Papst in Audienz empfan¬ 
gen wird, wiederholt sie die Beschuldigung gegen Napo¬ 
leon. Tags darauf fährt sie abends im Vatikan vor, schickt 
den Kutscher weg, stürmt die Treppe hinauf, wirft sich 
Pius IX. zu Füßen und fleht ihn an, sie im Vatikan schla¬ 
fen zu lassen, da sie nur hier vor den von Napoleon ge¬ 
dungenen Mördern sicher sei. Alle Versuche, Cariota mit 
Güte oder Gewalt zu entfernen, scheitern an ihrem Wider¬ 
stand, und schließlich wird ihr ein Bett in den Bibliotheks¬ 
saal gestellt. Die Akten über diesen Vorfall melden, Car- 
Iota sei die einzige Frau, die jemals im Vatikan genächtigt 
habe. Bei der ärztlichen Untersuchung ihres Zustandes er¬ 
gibt sich, daß Cariota schwanger ist 

Schwangerschaftspsychose? Sie wird zuerst nach Mira- 
mare und dann in ihr Schloß Bouchoute bei Brüssel ge¬ 
bracht. Der streng moralische Hof ihres mätressengeseg¬ 
neten Bruders Leopold II. von Belgien billigt Cariotas an¬ 
deren Umständen den mildernden Umstand zu, daß sie 
in Mexiko mit einem Rauschmittel vergiftet und im Zu¬ 
stand der Umnachtung vergewaltigt worden sei. Man hofft, 
ihre Psychose werde gleichzeitig mit der Schwangerschaft 
enden. 

Die Geburt des Kindes erfolgt am 12. Januar 1867. In 
dem zehn Jahre vorher geschlossenen Ehevertrag war die 
Erbfolge von dem Gesichtspunkt aus geregelt worden, daß 
Maximilian unheilbar zeugungsunfähig sei. Dennoch be¬ 
rät man jetzt, ob man das Neugeborene als legitimen Sohn 
Maximilians ausgeben soll, der in Mexiko sitzt und von 
der Entbindung nicht benachrichtigt wird. Schließlich wird 
entschieden, das Kind nicht Maximilian, aber auch nicht 
nicht Maximilian zu nennen. Man tauft es „Maxim". Es 
wird einem Notar Weygand an der belgisch-französischen 
Grenze zur Adoption übergeben und nachher in ein fran- 


37 Kisch vn 


577 



zösisches Militärinstitut gebracht; der Brüsseler Hof zahlt 
Schulgeld und Apanage. Ein halbes Jahrhundert nach sei¬ 
ner Geburt, im ersten Weltkrieg, wird Maxim Weygand 
Chef des französischen Generalstabs. Zu dieser Zeit lebt 
seine Mutter noch und noch immer im Irrsinn. Es ist also 
keine Schwangerschaftspsychose gewesen. 

Anklagen und Beschuldigungen. Das Schicksal des kai¬ 
serlichen Körpers, der sechzig Jahre lang in den Haupt¬ 
städten und Badeorten Europas umhergeht, beschäftigt 
diesen aus Höfen und Hofgeschichten bestehenden Erdteil 
intensiv, und um das Kaiserpaar entsteht eine Literatur, 
die fast durchwegs Aristokraten zu Verfassern hat. Außer¬ 
dem beeilt sich jeder, der einmal in Mexiko war oder et¬ 
was von Mexiko gehört hat, Antwort auf die Frage zu 
geben, welcher geheimnisvollen Droge das gekrönte Haupt 
zum Opfer gefallen sein mochte. 

Am häufigsten wird Marihuana beschuldigt. Marihuana 
hat weit zurückreichende Vorakten. Ihren Namen aber 
führt sie erst seit der Cortezianischen Ära, wie daraus her¬ 
vorgeht, daß er sich aus zwei christlichen Taufnamen zu¬ 
sammensetzt: aus Maria und Juana. Sie ist die Vergifterin 
Mexikos, sie wird trotz aller polizeilichen Maßnahmen 
verkauft, insbesondere auf dem Markt im Barrio Juan Po- 
lainas (nahe der Schießschule an der Straße nach Puebla). 
Sie ruft neun Prozent der Auto Unfälle hervor und fast 
dreißig Prozent aller Verbrechen. Sie begnügt sich nicht 
damit, die „Crujia de los viciosos", die Sektion der Toxi- 
manen, zur besetztesten Abteilung des Zentralgefängnis¬ 
ses zu machen, sondern dringt auch auf raffinierte Arten 
in die Kerkerzellen. Andere Stimulantia, wie Morphium, 
arabischer Haschisch, Äther, Kokain oder Heroin, gehen 
auf reiche Kundschaft aus, Marie-Hannchen aber gibt sich 
billig her und an jedermann. 

Sie ist ein Kind des Hanfs, dessen Anbau in Mexiko 
verboten ist, damit er der Hennequenfaser keine Konkur¬ 
renz mache. Dennoch wird der Hanf angebaut, macht der 
Hennequenfaser keine Konkurrenz und würde sich sehr 
wundern, daß man ihn zur Gattung der Textilpflanzen 
zählt. In Mexiko ist er eine Genußpflanze. 

Meist wächst er hinter Wänden von Maisstauden illegal 


578 



heran. Die weiblichen Blüten werden zerrieben und ge¬ 
raucht; sie bewirken sozusagen eine Betäubung bei Be¬ 
wußtsein. Kein Berauschter glaubt, daß seine Halluzinatio¬ 
nen Wirklichkeit seien, aber er erfreut sich ihrer, weil er 
sich sonst nicht einmal ein so bescheidenes Ausmaß von 
Glück vorzugaukeln vermöchte. In seiner Leich tbeschwingt- 
heit kann er sich nicht vorstellen, daß selbst eine Küchen¬ 
schabe ohne Marihuana von der Stelle käme, und singt 

deshalb: T , , . 

„La cucaracha, la cucaracha, 

Ya no puede caminar, 

Porque no tiene, porque le falta, 
Marihuana que fumar." 

Wenn man den Berauschten aus seinen Wach träumen 
weckt, wird er rabiat, imstande, einen Mord zu begehen. 
Für eine Herrscherin aus Herrschergeschlecht kann jedoch 
das bescheidene Gaukelspiel von Marihuana keine beson¬ 
dere Gemütserregung bedeuten, geschweige denn sie in 
unheilbaren Wahnsinn stürzen. Marihuana, Sie sind frei¬ 
gesprochen ! 

Ein gewisser Camotillo (Beruf: Batate) wurde ebenfalls 
beschuldigt, die Vergiftung der Kaiserin verübt zu haben. 
Zuzutrauen wäre ihm das schon, denn er hat gerichts¬ 
bekanntermaßen wiederholt, vorsätzlich und mit taug¬ 
lichen Mitteln Lähmungen des Nervensystems herbeige¬ 
führt, insbesondere politische Gegner und Liebesrivalen in 
unheilbare Geisteskrankheit mit tödlichem Ausgang ver¬ 
setzt. Raffinierterweise scheidet dieser Giftstoff nach voll¬ 
brachter Tat aus, so daß er weder während der Krankheit 
noch nach dem Tode des Opfers festzustellen ist. 

Der indianischen Medizin zufolge tritt der Tod so 
viele Tage nach der Verabreichung von Camotillo ein, als 
zwischen Ausgrabung des Knollens und seinem Genuß ver¬ 
gangen sind. Das heißt: wer Camotillo frisch aus der Erde 
ißt, stirbt auf der Stelle, wer ihn aufbewahrt hat, lebt, nach¬ 
dem er ihn eingenommen, noch so lange, wie die Lagerfrist 
währte. (Chemische Untersuchungen ergaben, daß sich in 
der Tat die Giftstoffe allmählich verflüchtigen, sobald der 
Knollen ausgegraben ist.) Aber es gibt keine Batate, die 
sich sechzig Jahre lang halten würde, so lange, wie sich 


579 



Cariota nach der Vergiftung am Leben hielt. Auch ist nichts 
davon bekannt, daß bei ihr eines der Symptome von Ca- 
motillovergiftung zutage getreten wäre, weder Herzschwä¬ 
che noch Entzündung der Darmschleimhäute. Freispruch 
für Camotillo I 

Gegen Ololiuqui, das „Kraut der rollenden Augen", 
spricht seine Vergangenheit. Ololiuqui, eine Abart des 
Pfeilkrauts, wurde früher als Rachegift oft benutzt, um 
lebenslänglichen Irrsinn zu verursachen. Die Vergifteten 
sahen mit ihren rollenden Augen, von denen die Pflanze 
ihren Namen hat, Begebenheiten der Zukunft voraus, wes¬ 
halb Ololiuqui zur Salbung der Könige das Seine beitragen 
mußte. Der Herrscher sollte mit hellseherischen Kräften 
begabt werden. Das Rezept der aztekischen Krönungssalbe 
(wie es im Kodex Ramirez steht) enthält alle Ingredienzien 
einer Hexenküche, so daß man versucht wäre, es ins my¬ 
stische Versmaß der faustischen Blocksberghexe zu über¬ 
setzen. Aber im Rahmen eines kriminalistischen Berichts 
ist der Prosawortlaut angebracht: „Man mische Tabak mit 
lebenden Spinnen, Skorpionen, Kröten und Tausendfü߬ 
lern zusammen, zerstoße das alles mit einem Mörser und 
vermenge es vermittels eines Quirls. Dann setze man den 
gemahlenen Samen von Ololiuqui bei, den man sonst ver¬ 
wendet, um Verlust des Verstandes herbeizuführen. Die¬ 
sem Gemengsel füge man schwarze und behaarte Würmer 
bei, deren Haut allein giftig genug ist, knete es mit Ruß 
und koche es in Töpfen, stelle es an die Altäre der Götter, 
wodurch es zur göttlichen Mahlzeit wird, und salbe damit 
den Fürsten, damit er nunmehr vor Giften geschützt sei 
und mit Dämonen verkehren könne." 

Eine Phiole aus Fleisch und Blut, Mädchen als Gift¬ 
waffe ~ diese teuflische Idee hat Maupassant einmal ge¬ 
habt: Eine Französin schenkt im Krieg von 1870 vielen 
deutschen Offizieren ihre Gunst und ihre Krankheit. Diese 
Methode hat das indianische Mexiko von Staats wegen 
angewendet. Schöne Mädchen wurden von frühester Kind¬ 
heit an mit allmählich steigenden Dosen von Blutgiften 
infiziert und, wenn sie mannbar waren, in kostbaren Ge¬ 
wändern, mit Schmuck, Geld und Dienerschaft in die Resi¬ 
denz feindlicher Stämme geschickt. Gelang es dem Gift- 


580 



mädchen, einen Häuptling zu verführen, so starb er unter 
gräßlichen Qualen. 

Ein Mittel zur Erzeugung von Scheintod, das Xomilxi- 
huitl, brachte Sir Walter Raleigh am Ende des sechzehnten 
Jahrhunderts (1595) nach England, wo die in Amerika be¬ 
reits entdeckten Wunderelixiere die Hoffnung auf Verlän¬ 
gerung des Lebens hervorgerufen hatten. Aber wozu gab 
es eine Droge zur Erzielung des Scheintods, des unheim¬ 
lichsten Zustands, in den ein Mensch verfallen kann? Und 
wenn das Erwachen aus dem freiwilligen Scheintod unter¬ 
bleibt? Diese Fragen bewegten Shakespeare, als er Romeo 
zu voreiliger Verzweiflung verdammte. Die Wirkung von 
Xomilxihuitl ist es, die der Klosterbruder Lorenzo schil¬ 
dert, da er Julia die Droge einhändigt: 

Dann rinnt sogleich ein kalter matter Schimmer 
Durch deine Adern und bemächtigt sich 
Der Lebensgeister. In dem gewohnten Gang 
Ist jeder Puls gehemmt und hört zu schlagen auf. 
Kein Odem, keine Wärme zeugt von Leben. 

Der Lippen und der Wangen Rosen schwinden 
Zu bleicher Asche. Deiner Augen Vorhang 
Fällt, wie wenn der Tod des Lebens Tag verschließt. 
Ein jedes Glied, gelenker Kraft beraubt. 

Wird steif und starr, wie tot erscheinen. 

Als solch ein Ebenbild des dürren Todes 
Sollst du verharren zweiundvierzig Stunden 
Und dann erwachen ... 

Oder auch nicht. Die Odds für das Wiedererwachen ste¬ 
hen fünfzig zu fünfzig. 

Auf der Pazifikseite wurden am Abend des Ostersonn¬ 
tags 1932 in der Bai von Topolobampo, der „Tränke des 
Tigers", einige Kisten mit Schnapsflaschen angeschwemmt. 
Der Alkohol war mit Xomilxihuitl versetzt - vielleicht 
zum Schutz gegen Diebstahl durch die Schiffsmannschaft 
oder vielleicht, um die Küstenbevölkerung zu betäuben und 
solcherart eine geheime Landung von ostasiatischen Ein¬ 
wanderern, Schmugglern oder Spionen zu ermöglichen. 
Yaqui-Indianer, die sich dort vom Fischfang mehr schlecht 
als recht ernähren, liefen aus der Umgebung herbei und 


581 



tranken das Strandgut bis zur Neige leer. Am Ostermontag 
starben zwölf an Tetanus, und dreißig lagen wochenlang 
im Hospital fast ohne Atmung und Herztätigkeit. Die 
Mehrheit aber, über hundert Personen, die sicherlich dem 
Inhalt der Flaschen nicht minder eifrig zugesprochen hat¬ 
ten, erhob sich nach Ablauf der shakespeareschen zweiund¬ 
vierzig Stunden, am Aschermittwoch, aus ihrem Tode und 
wandelten kerngesund weiter durchs Dasein. Dieses wider¬ 
spruchsvolle Resultat des Saufgelages am Meeresufer 
konnte die Yaqui-Indianer nicht überraschen. Sie wissen 
seit eh und je, daß die gleiche Dosis von Xomilxihuitl den 
einen umbringt und dem andern wohl bekommt, und ru¬ 
fen es deshalb als Gottesurteil an. - Kaiserin Cariota 
wurde aber nicht getötet, kein Symptom von Starrkrampf 
ist an ihr beobachtet worden, und so sei hiermit auch die 
Untersuchung gegen Xomilxihuitl eingestellt. 

Gewisse Liebestranke kommen für die Täterschaft in 
Betracht, da sie sowohl Verrücktheit wie jenen Zustand 
verursachen, in welchem eine Verführung Cariotas erfolgt 
sein könnte. Aus der kriminologischen Untersuchung muß 
man aber, um sich nicht im Unendlichen zu verlieren, jene 
Liebesmittel ausscheiden, die sozusagen zum Hausgebrauch 
gehören. Vor allem die auf den Märkten feilgehaltenen 
Kräuter „para hacerse querer" - „um geliebt zu werden". 
Diese aphrodisiakischen Mittel werden in den unteren 
Volksschichten genausoviel verwendet wie in den gehobe¬ 
nen. Nebenbuhlerinnen teilen sich, wenn sie miteinander 
befreundet sind, ihre Bezugsquellen unfehlbarer Liebes¬ 
pillen mit, nicht aber die Adresse der Modistin. 

In den Dörfern werden gefährlichere Aphrodisiaka nach 
Rezepten zusammengebraut, die der Curandera von ihren 
Urahnen mündlich überliefert sein sollen. Wehe der Käu¬ 
ferin, wenn das stimmen würde. Denn gegen die Elixiere 
der mexikanischen Vorzeit müssen, wie aus den Berichten 
der Missionare hervorgeht, alle Pastilles galantes, alles 
Kantharidin und alles Yohimbin geradezu pure Mutter¬ 
milch gewesen sein. 

Besonders reizend, in jedem Sinn des Wortes, scheinen 
die Colorines aufzutreten, die Korallenbohnen. Allerdings 
schlägt ihre Wirkung oftmals ins Gegenteil um; bei allzu 


582 



starker Dosis wird der Mann für die Frau und die Frau 
für den Mann überflüssig. Dieses Faktum brachten die 
Beichtväter des achtzehnten Jahrhunderts ihrem bischöf¬ 
lichen Vorgesetzten mit einer kanonischen Frage zur 
Kenntnis: Ist für die reichliche Anwendung dieser roten 
Bohnen (im Hinblick auf die dadurch hervorgerufene 
Unterlassung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs) die 
Absolution zu erteilen, dagegen jenen, welche geringere 
Dosen eingenommen haben, die Absolution zu verweigern? 
Ist es nicht schlimmer, wenn Frauen und Mädchen von 
diesem Samen des Teufels nur ein kleines Quantum ein¬ 
nehmen? Denn dann laufen sotane Frauenzimmer, von 
Nymphomanie befallen, umher, nach Männern suchend, 
egal ob Knabe oder Greis, und sterben in Sünde und Toll¬ 
wut. Nach starker Dosis hingegen erfolgt nur Selbstbefrie¬ 
digung. 

Das Gift der Erkenntnis können wir ein Liebes- und 
Wahnsinnsmittel nennen, das verdächtig ist, den Sünden¬ 
fall im Paradies veranlaßt zu haben. Die Hornschlange 
Mazacönatl lieferte das Gift, das in der Bibel fälschlich 
dem Apfelbaum der Erkenntnis zugeschrieben wird. Bei 
den Indios wurde dieses Schlangengift unaufgeklärten Kin¬ 
dern vor ihrer Brautnacht in die Mahlzeit gemischt, aber 
nur in kleinen Dosen. Wer größere nahm, endete in Saty- 
riasis und Wahnsinn. 

Eine Razzia durch ganz Mexiko ist nötig, um nach dem 
Gift zu fahnden, das Cariotas Geisteskrankheit auf dem 
Gewissen hat. Dabei muß man taktisch zu Werke gehen, 
die Kräuterkundigen zuerst nach Gegengiften fragen und 
dann erst das Gespräch auf die Gifte lenken, gegen die 
diese Gegengifte helfen. 

Die anerkannteste Kräuterkundige von Mexiko ist Dona 
Carmelita, ihr Puesto auf dem Markt von Oaxaca ein Wall¬ 
fahrtsziel. Käufer umlagern den Stand, die Augen auf Ver¬ 
käuferin und Regale geheftet, als läge dort das Zauber¬ 
mittel, das im nächsten Augenblick ihr Leiden bannen 
werde. (Dieses Leiden kann auch eine erfolglos Geliebte 
sein, ein gefährlicher Nebenbuhler oder eine ungetreue 
Ehefrau.) Im Innern der Bude tummeln sich mehr Kinder, 
als darin Platz haben, Dona Carmelitas Enkel und Kinder, 


583 



welche letzteren die jüngsten sind - Beweisstücke dafür, 
daß sich die Alte in der Tat geheimer Naturkräfte zu be¬ 
dienen weiß. 

Das Vertrauen Dona Carmelitas erwirbt man, indem 
man von jedem Nervenheilmittel ein Spezimen kauft und 
bar bezahlt. Nach und nach rückt sie mit einigen ihrer 
Wißtümer heraus, zum Beispiel damit, daß sie ein psychia¬ 
trisches Allheilmittel namens Lachinole besitze. Diese 
Pflanze, als Tee gekocht, wird dem Patienten zwanzig Tage 
lang eingeflößt, und er, der noch am neunzehnten Tag voll¬ 
kommen verrückt gewesen, sei am zwanzigsten vollkom¬ 
men normal. Nur gegen eine einzige Art von Geisteskrank¬ 
heit helfe der Lachinoletee nichts, nämlich gegen jene, die 
von Vergiftung mit Toloachi herrührt. 

Mit dem europäischen Tollkraut hat Toloachi mehr als 
die erste Silbe gemeinsam. Tollkraut wird nicht auf Märk¬ 
ten verkauft, und auch der Handel mit Toloachi ist ver¬ 
boten. Deshalb versichert uns Dona Carmelita, daß sie es 
nicht auf Lager habe, das heißt: eigentlich habe sie es 
doch auf Lager, aber nur die Blätter, und selbst die gebe 
Dona Carmelita in sehr geringen Mengen ab, ausschlie߬ 
lich für hygienische Waschungen, Bei innerem Gebrauch 
sei Toloachi, insbesondere seine Samenkörner, so gefähr¬ 
lich, daß eben keines von den Anti-Irrsinnsmitteln dagegen 
helfe. 

War es vielleicht Toloachi, was die Emperatriz Cariota 
eingenommen hat? 

„Nein", sagt Dona Carmelita, „von Toloachi wird man 
nur vorübergehend verrückt. Erst wenn man sich den Ge¬ 
nuß angewöhnt, wird man für immer loco. Dann tanzt man 
auf den Straßen wie ein Affe, und alle Leute bleiben stehen 
und lachen. Die Emperatriz ist auf einmal vergiftet wor¬ 
den, durch eine einzige Dosis von Gift." 

Welches Gift mag das wohl gewesen sein? 

So harmlos die Frage auch gestellt ist, Dona Carmelita 
erschrickt. Ob wir gekommen seien, sie darüber auszu¬ 
fragen? Ob wir vielleicht gehört haben, daß sie darüber 
etwas wisse? 

Nein, wir beschäftigen uns mit Naturheilkunde, mit Arz¬ 
neipflanzen. 


584 



Allmählich erfahren wir, was sie weiß. Cariota sei zu 
einer Kräuterfrau in der Hauptstadt gegangen und habe 
nach einem Mittel gefragt, um ein Kind zu bekommen. Sie 
war verkleidet und tief verschleiert. Aber die Kräuterfrau 
erkannte sie, und weil sie eine Patriotin war, eine Anhän¬ 
gerin von Benito Juärez und Todfeindin der ausländischen 
„Emperadores" (so, „die Kaisers", nannte man Maximilian 
und Cariota), gab sie ihr Gift. 

Welches Gift? 

Doha Carmelita schweigt. 

War es ein Samen? 

Doha Carmelita schüttelt den Kopf. 

War es eine Batate? Eine Rinde? Eine Blume? 

Doha Carmelita schüttelt den Kopf. 

War es ein Schlangengift? 

„Nein", sagt Doha Carmelita, „es war Teyhuinti, ein 
Pilz." 

Ein Pilz? Haben Sie den, Doha Carmelita? 

„Es gibt keine Teyhuinti in Oaxaca." Ein Mehr an Aus¬ 
kunft liefert Doha Carmelita nicht. 

An anderen Stellen erfahren wir, dag Teyhuinti, „das 
Fleisch der Götter", in verdünntem Zustand ein Tonikum 
sei und in unverdünntem dauernden Irrsinn hervorrufe . .. 
Es lägt den Körper unbeschädigt, im Gegenteil, der Ver¬ 
giftete wird oft hundert Jahre alt bei voller physischer 
Gesundheit. Zu Beginn des Rausches gerät der Vergiftete 
„fuera de casa", was wörtlich und sinngemäg „aus dem 
Häuschen" bedeutet. Er fühlt seine Kräfte erhöht, wird 
streitsüchtig, gebärdet sich kraftmeierisch, „dem werd ich's 
schon zeigen", „noch heute geh ich direkt zum Bischof. . ." 
Wenn man eine Kaiserin ist, kann man sich wohl nur ent- 
schliegen, es dem Kaiser von Frankreich zu zeigen oder 
zum Papst zu gehn. 

Nach dem Abklingen des Rausches bleibt ein halbes 
Jahr lang die Erregung mitsamt dem ungehemmten Drang, 
die Kräfte mit Höhergestellten zu messen. Der Vergiftete 
fängt Händel an, indem er sich wirklicher Anlässe bedient 
und sogar logischer Argumente. Nachher tritt harmlose 
Verblödung ein, mens insana in corpore sano. („Teyhuinti 
son los hongos que producen enajenaciön mental definitiva 


585 



sin causar la muerte", sagt Fernando Ocaranza in seiner 
„Historia de la medicina en Mexico".) 

Die geistesstörende Wirkung gewisser Pilze scheint frü¬ 
her einmal nicht nur der Medizin in Mexiko bekannt ge¬ 
wesen zu sein, sondern auch in Europa, worauf die Wiener 
Redensart hindeutet: „Der hat narrische Schwammerln ge¬ 
gessen." 

Cariota, die in normalem Zustand von den Geschehnis¬ 
sen in Mexiko vielleicht physisch gebrochen worden wäre, 
überlebte die Erschießung ihres Gatten um mehr als sech¬ 
zig Jahre. Doch konnte sie über die historischen Begeben¬ 
heiten in dem exotischen Land, in dem sie eine verhäng¬ 
nisvolle Rolle gespielt, ebensowenig etwas aussagen wie 
über das meuchlerische Verbrechen, dem ihr Geist zum 
Opfer fiel. 



ZUM GEBURTSTAG 
DES FEUERSPEIENDEN BERGS 


Heut ist der 20. Februar 1944, und ich bin wieder am 
Vulkan, an dessen Wiege ich vor einem Jahre stand. Daß 
ich heute hier Geburtstagsvisite mache, ist der Laune einer 
lieben Freundin zuzuschreiben, honni soit qui mal y pense. 
Was mich anbelangt, so hasse ich Geburtstage und ähnliche 
Sentimentalitäten, insbesondere datumsmäßig festgelegte, 
und mir schwant, daß ich durch das Wiedersehen meinen 
ersten, einen überwältigenden Eindruck zerstören werde. 

Eigentlich berechtigt mich nichts zu solcher Vorahnung. 
Die Zeitungen berichten nur Günstiges über die Entwick¬ 
lung des vulkanischen Kindes. Es gedeihe geradezu präch¬ 
tig, betonen sie um so eindringlicher, je einträglicher es 
sich für den Fremdenverkehr erweist, nun speie es nicht 
mehr bloß aus einem einzigen Krater, sondern aus fünfen, 
es schreie mit weit, weit kräftigerer Lunge, und der Unrat, 
den es um sich her gemacht, sei ins Ungemessene gewach¬ 
sen, bravo. 

Schon die Stadt Uruapän finde ich ziemlich verändert 
vor, manche neue Industrie ist entstanden, deren Schorn¬ 
stein raucht: der Vulkan. Zuallererst fällt dem Wiederkeh¬ 
rer eine Art organisierter Kinderarbeit auf. Jungens, die 
vor einem Jahr noch unverdorben waren und keine andere 
Zukunft für sich erwarteten als die ihrer Väter, haben seit¬ 
her entdeckt, daß sich auf leichtere Weise mehr Geld ver¬ 
dienen läßt. Sie versuchen die Autos aufzuhalten, die in 
die Stadt einfahren, und selbst wenn ihnen das nicht ge¬ 
lingt, schwingen sie sich auf den Wagen. 

Vom Trittbrett des meinigen bietet mir ein solcher Auf- 
geschwungener an, was er anzubieten hat: sich selbst als 
Führer, ein robustes Taxi, das mich billiger als alle ande¬ 
ren zum Vulkan bringen wird, einen besonderen Som¬ 
brero mit herabfallender Krempe, der das Gesicht vor dem 
Lavastaubregen schützt, und einen hochgeschlossenen Over- 


587 



all der das gleiche für den Körper besorgt. Ferner emp¬ 
fiehlt er mir ein mit Sprungfedermatratzen versehenes Ho¬ 
tel, wo ich mit meiner Dame, honni soit qui mal y pense, 
warm duschen könne, wenn wir nachts vom Vulkan heim¬ 
kommen, trotz des besonderen Sombreros und trotz des 
hochgeschlossenen Overalls bedeckt mit Lavastaub. Auch 
für die Beschaffung von Vulkanphotos steht mein ungebe¬ 
tener Fahrgast zu Diensten sowie für den Einkauf von Ko¬ 
dakfilmen und für die Entwicklung eigener Aufnahmen. 

Aber das alles ist, wie ich bald erfahre, nichts Beson¬ 
deres mehr. Seit Jahresfrist haben sich alle Einkehrhäuser 
in moderne Hotels verwandelt; aus den Nachbarstädten 
übersiedelten Taxis nach Uruapän; neue Werkstätten mit 
Schaufenster für die einheimischen Lackarbeiten sind ent¬ 
standen; Souvenirs gibt's allerorten; und die Preise haben 
ein Verhältnis mit dem Dollar angefangen. 

Bei Anbruch der Nacht kommt das bestellte Taxi vor 
das Hotel. Der Weg zum Vulkan ist weit besser als da¬ 
mals, da Lastautos im nächtlichen Terpentinwald einander 
die Kotflügel wegmassierten, die Räder im Sand oft nicht 
eingreifen konnten und in der Luft zappelten wie gestran¬ 
dete Fische. 

Nur der geisterhafte Eindruck, den der Wald im Staub 
der Lava und im Licht der Reflektoren machte, ist der glei¬ 
che geblieben. Das Licht und der Staub ergeben ein irreales 
bläuliches Weiß. Man glaubt über Schnee zu fahren. 
Bäume und Sträucher stecken in diesem Schnee und ver¬ 
renken ihre Gliedmaßen. Denn es wächst sich schlecht im 
Lavastaub, und es atmet sich schlecht in vulkanischer Glut, 
und in der Nacht, da auch Strauch und Baum Ruhe und 
Dunkelheit brauchen, macht der Bergeindringling Krach 
und Stunk und feuerspeit dazu. Einige Bäume sind bereits 
tot, und ihre Stämme liegen hingestreckt auf dem Boden, 
andere stehen noch auf ihren Wurzeln, sehen jedoch aus, 
als ob auch sie es nicht mehr lange treiben werden. Von 
den Näpfen, die einst an den Baumstämmen befestigt wa¬ 
ren und das herabtröpfelnde Harz auffingen, ist keiner 
mehr da. Wer nicht mehr Saft und Kraft hat, hat auch kein 
Harz, geschweige denn genug, um davon abgeben zu kön¬ 
nen. 


588 



Bereits im Tageslicht, als wir in Uruapän einfuhren, 
wollte meine Freundin es sich nicht ausreden lassen, daß 
am nächsten Kilometerstein ein Wolkenbruch auf uns 
lauere, so finster runzelte sich das Firmament Jetzt, zu 
sonnenlichtloser Stunde, blinzeln die Sterne nur fahl und 
klein durch den Staubvorhang. Die Feuersäule, die ich vo¬ 
riges Jahr an jeder Biegung der Strecke aufspringen sah, 
zeigt sich heute an keiner Biegung mehr. 

Das Auto geht durch das Dorf San Juan Parangaricü- 
tiro, die Häuser haben keine Fenster und keine Tür nach 
der Straße hinaus. Nur in den Hof, der oft gar nicht um¬ 
zäunt ist, führt eine Holztüre, eine sozusagen symbolische, 
denn sie besteht aus zerbrochenen Latten mit mehr Zwi¬ 
schenräumen als Latten. Aber sie ist mit einem breiten 
Dachstuhl gedeckt, dessen raison d'etre so unklar ist wie 
die der Türe selbst. Vielleicht dient dieses Dach als Hüh¬ 
nersteige, vielleicht pflegen die Hausbewohner bei Regen¬ 
wetter darunter zu stehen, um mit den Nachbarn zu spre¬ 
chen, was man in Orten, in denen es Fenster gibt, vom 
Fenster aus tut 

Fensterlosen Häusern sieht man nicht an, ob in den 
Stuben Licht ist, und da wir keinem Menschen begegnen, 
könnte die Behauptung von der Evakuierung des Dorfes 
stimmen. Sie stimmt nicht, wir finden die Bewohnerschaft, 
und zwar schier vollzählig, am Dorfrand, der mit dem 
Lavarand zusammenfällt. Hier haben sich Handel und 
Wandel vergrößert, hier herrscht jetzt das Verkehrsleben 
eines Knotenpunkts. 

Für die Autos ist hier Endstation, für die Reittiere Kopf¬ 
station und für die Passagiere Umsteigestation vom Auto 
in den Sattel. Alles ist genau geregelt. Einer nach dem an¬ 
dern kommen die Pferdebesitzer an die Reihe, ihre Koppel 
zu vermieten, meist Maulesel. Soweit Pferde da sind, wa¬ 
ren sie nie zum Reiten bestimmt gewesen, sondern dazu, 
mit Eseln Maultiere zu zeugen. Alles Nähere über den 
Zeugungsprozeß erklärt mir der zehnjährige Indioknabe 
Sebastiano, dieweil er meinen Maulesel begleitet, erklärt 
es mit dem Zynismus eines nazistischen Kassenwarts und 
im Ton eines Pariser Schwanks. 

Mein Reittier sei hier im Ort geboren, wo es eine Maul- 


589 



tierzucht gibt weltberühmt in der ganzen Umgebung. Ein 
Maultiergestüt mit Hengsten und Stuten, darunter einem 
Pferdehengst genannt „El Hermoso" - „Der Fesche", und 
einer Pferdestute „La Hermosa", deren beider Hauptfunk¬ 
tion es ist als Lockspitzel der Libido zu dienen. Pferd und 
Esel hegen nämlich solchen Abscheu gegeneinander, daß 
sie sich nicht miteinander paaren. 

So etwas hat man - den Nürnberger Gesetzen zum 
Trotz - bei Menschenrassen noch niemals beobachten kön¬ 
nen, woraus eben hervorgeht, daß alle Menschen - den 
Nürnberger Gesetzen zum Trotz - ab ovo der gleichen Art 
sind. Aber die Nürnberger Gesetze kennen den wissen¬ 
schaftlichen Unterschied zwischen Arten und Rassen nicht 
und verfügen, daß sich die Menschen wie Esel und Rösser 
oder gar wie Nazis benehmen sollen. 

Wenn eine Pferdestute von einem Eselhengst beschlagen 
werden soll, so führt man ihr nicht gleich den Bräutigam 
vor, sondern läßt zunächst den Pferdehengst Hermoso vor 
und hinter ihr auf und ab spazieren. Nachdem er ihr Ge¬ 
fallen und sie seines sichtlich erregt hat, verbindet man 
ihr die Augen, und sie gibt sich dem Feschen hin; der aber 
ward inzwischen gegen einen Eselhengst ausgetauscht, und 
auch der tut es nur mit verbundenen Augen. 

Mich dergestalt aufklärend, trottet Sebastiano barfüßig 
neben mir her. Erst als ihm der Boden allzusehr unter den 
Füßen brennt, schwingt sich Sebastiano hinter mir in den 
Sattel. So hoch bedeckt ist die Erde mit herangewehtem 
heißem Sand, daß mein Maultier bis zu den Knien einsinkt, 
bis zu meinen Knien nämlich. 

Ich kann die Silhouette meiner Freundin nicht erken¬ 
nen, die knapp neben mir einherreitet. Sie sitzt trotz ihres 
engen Kleides im Herrensattel auf einem richtigen Pferd, 
aber ich sehe nichts von ihr, so dunkel ist es, und die 
Feuersäule des Vulkans reicht nicht bis zu unserer Kaval¬ 
kade. 

Das Maultier sucht im vulkanischen Nebel seinen Weg 
und findet ihn, muß es ihn doch allnächtlich mehrere Male 
tappen, einsinkend in den Staub und stolpernd über Baum¬ 
wurzeln. Es kann sich nicht darum kümmern, was sich 
oberhalb seines Kopfes an Hindernissen in den Weg stellt. 


590 



so zum Beispiel querwachsende Bäume, schräg gestürzte 
Stämme; mit denen würde der Kopf des Reiters im Dunkel 
unfehlbar zusammenprallen, wenn es nicht die Warnung 
des Reitburschen gäbe. „Neige den Kopf, Senor", ruft Se- 
bastiano und berichtet mir, während ich tief gebeugt unter 
dem horizontalen Balken durchreite, daß gerade vor vier¬ 
zehn Tagen ein Amerikaner mit zerschlagenem Schädel 
vom Pferd gefallen sei. „Wir mußten ihn hinuntertragen", 
sagt Sebastiane, „er liegt in Uruapän, und zwei Medicos 
aus Nordamerika sind bei ihm." 

Ich frage Sebastiane, ob unser Weg noch mehr solcher 
Hindernisse bringen werde. 

„Si, como no - ja, wie denn nicht", ruft Sebastiano in 
einem Ton, als hätte er mir etwas höchst Erfreuliches zu 
verkünden, „noch viele, viele!" 

Demütig beugen wir unser Haupt vor dem Schicksal 
und kommen mit unzerbrochenen Schädeln auf der Höhe 
des vorgelagerten Berges aus Lavastaub an, dem Endpunkt 
des Rittes. Von hier erst sehen wir den Vulkan. Er ist in 
Tätigkeit, er brennt und raucht, und meine Freundin schaut 
erregt und schweigend empor. 

Ich schweige gleichfalls, ich verrate nicht, welcher Art 
mein Staunen ist, denn ich will das Schweigen und Staunen 
meiner Freundin nicht stören. 

Hier aber, wo es niemand hört, kann ich es sagen, daß 
ich maßlos enttäuscht bin. Vom alten und von den neuen 
Kratern, angeblich fünfen, sehe ich keinen - sie liegen 
wahrscheinlich auf dem jenseitigen Abhang. Der Berg 
selbst ist schwarz wie jeder andere Berg zu nächtlicher 
Stunde, das sich bewegende Gold, aus dem er im Vor¬ 
jahr zu bestehen und immer wieder neu zu erstehen schien, 
ist jetzt erkaltet und entfärbt. Nur auf dem Gipfel brennt 
eine Stadt, die aussieht wie Toledo. 

Rotglühende Trambahnen fahren aus dem Zentrum. 
Aber in einer Felsengipfelstadt laufen Straßenbahnen nur 
kurze Strecken und in gemessenen Abständen. Gleich sind 
sie an der Peripherie, entgleisen dort und stürzen den 
Hang hinab, dessen Abschüssigkeit nur erkennbar ist, so¬ 
lange die Waggons brennen. Oben jedoch wütet weiter die 
Feuersbrunst, verursacht von einem Fliegerangriff. Brand- 


591 



bomben werden herabgeworfen, Flugabwehr schient hin¬ 
auf, und kraft der Flammensäulen erblickt man Qualm¬ 
säulen. 

Die lodernde Stadt ist - so denke ich - der Grund für 
meiner Freundin sprachloses Staunen. Mich aber vermag 
sie (die lodernde Stadt) nicht in Erregung zu versetzen. 
Was ist das im Vergleich mit den Phantasien aus Licht und 
Flamme, die mir im vorigen Jahr hier in nächster Nähe 
geleuchtet haben. 

Nun ist selbst die Nähe beseitigt. Der Berg ist nicht nur 
in die Höhe gewachsen, sondern auch in die Breite, und 
rings um ihn streckt sich immer mehr und mehr der See 
der Lava, an dessen Ufer für den Besucher das Weiter¬ 
gehen aufhört. Voriges Jahr war dieses Ufer ein senkrecht¬ 
steiler Felsenrand, und die Blöcke glühten noch von der 
Tiefe des Geheimnisses, aus der sie kamen. Seither wurden 
sie immer weiter fortgedrängt, und heute liegen sie, ab¬ 
gekühlt, sehr weit vom heißen Schoß der Mutter Erde. 

Kilometerfern ist die Spitze des Vulkans. Die mit Staub 
geladene Luft täuscht nicht nur optisch, sie ist auch schuld 
daran, daß die Bomben über Toledo so matten Tones ber¬ 
sten, wenigstens im Vergleich zu den Donnerschlägen, die 
mich vor einem Jahr durch ihren Schall zersprengen woll¬ 
ten. 

Ich taste mich zu meiner Freundin. „Nun?" 

Sie schrickt zusammen. „Sehen Sie, wie er sich wehrt?" 
Und zitternd fügt sie hinzu: „Es nützt ihm nichts. Da rollt 
er hinab." 

„Wer?" 

Sie versteht nicht, daß ich nicht verstehe. Was sie vor 
sich erschaut, ist eine Pyramide, von der Natur zu ihrer 
alten Bestimmung erweckt. Meine Freundin sieht dort 
oben die Fackeln und Brennholzbündel der Tempeldiener 
huschen, sieht aus den Weihrauchkesseln die Schwaden 
hochsteigen, sieht rotröckige Hohepriester die Obsidian¬ 
messer gegen die Brust des Opfers zücken, ihm das Herz 
herausreißen und den fieberglühenden Körper die Treppe 
hinabstoßen ... Dazu dumpfer Klang von Trommeln und 
rauchendes Blut, und der unersättlich gierige Moloch ver¬ 
spritzt Eiter, Geifer und Schleim. 


592 



„Entsetzlich", murmelt meine Freundin, „dag es das 
noch gibt!" 

Nein, das gibt es nicht mehr. Aber vielleicht war das 
einstmals so - die Pyramide eine künstliche Nachbildung 
des Vulkans, die Zeremonien auf dem Gipfel eine Dar¬ 
stellung der Vorgänge bei der Eruption. 

Freilich, vor einem Jahr, im ohrenbetäubenden Don¬ 
nern und Toben, hätte kein Beschauer den Vergleich ziehen 
können mit irgendeiner noch so unmenschlich mensch¬ 
lichen Handlung, Das vulkanische Kind hat sich nicht, 
wie es bei seiner Geburt versprach, ins Unermeßliche ent¬ 
wickelt, sondern zu etwas, das mit anderem vergleichbar 
ist. 

Ich wecke meine Freundin aus ihrer Vision von Blut 
und Tod. 

Wir schwingen uns in den Sattel. Zu dem meine Steig¬ 
bügel haltenden Sebastiane äußere ich meine Enttäuschung 
über die Entwicklung des Vulkans. Sebastiane ist weder 
überrascht noch betrübt. „Ja, wie denn nicht", ruft er aber¬ 
mals, und abermals in dem frohen Ton, in dem er mir auf 
dem Hinweg lebensgefährliche Hindernisse zugesagt hat, 
„die amerikanischen Professoren meinen, er wird nicht alt 
werden. Und was nachher aus unserem Dorf werden wird, 
quien sabe - wer weiß das?" 

So wird denn der Feuerberg, der heut vor einem Jahr 
wie ein Meteor aufgetaucht war, dereinst wie ein Meteor 
verlöschen. Wann, Sebastiano? Ich sehe den Gefragten 
nicht, die Feuersäule beleuchtet nicht den Hang aus Staub, 
den wir emporgeklommen sind und nun wieder hinab¬ 
klimmen, auf dem Abweg geht es schneller, und ich muß 
noch mehr aufpassen vor den in meiner Kopfhöhe quer¬ 
liegenden Balken. 

Wahrscheinlich zuckt Sebastiano die Schultern auf meine 
Frage, wie lange es der Vulkan noch machen wird. „Viel¬ 
leicht tausend Jahre", sagt er, „vielleicht noch weniger. Wer 
weiß das?" 

Jetzt bin ich's, der unsichtbar die Schultern zuckt und 
auf die hierzulande ewige Frage des „Quien sabe" die hier¬ 
zulande ewige Antwort gibt: „Vamos a ver" - „Werden ja 
sehen." 


38 Krsch VII 


593 



Meiner Freundin sage ich nichts von der trüben Dia¬ 
gnose über die vulkanische Opferpyramide. Bedeckt und 
gefüllt mit Lavastaub, reiten wir zum Auto und fahren, 
dieweil sie dankbar meine Hand hält, ins Hotel, beni soit 
qui mal y pense. 



BONANZA ODER DIE PRINZEN DER 
GLÜCKLICHEN STRÄHNE 


Ihr werdet abgerollt längs eines Films, der steht. Zuerst 
ist alles dunkel, nur monotone Schläge sind hörbar. Indios 
hacken sich tiefer in den Felsengrund. Dann klaffen Ein¬ 
gänge zu Stockwerken hell auf. Es sind abgebaute Stollen, 
der Film zeigt sie in Betrieb. Aus den Felsen wird Mate¬ 
rial losgebrochen für den Schmuck der Fürsten: Silber, 
Iztac, Teocuitla, „der weiße Dreck der Götter". Ihr seht, wie 
die weißen Götter des Drecks ins Land eindringen und 
mehr Indios in die Mine jagen. Zur Schnelligkeit gezwun¬ 
gen durch Knuten, zur Ausdauer gezwungen durch Ketten, 
müssen sie unvorstellbare Erzmengen fördern. 

Dennoch arbeiten Arm und Hacke den weißen Herren 
zu langsam. Don Jose de Sardaneta y Legaspi benutzt 
Pulver, um die Wände zu zersprengen, und Bartolome de 
Medina lockt mit quecksilbernem Köder das Silber aus den 
Erzen hervor. Nun geht's schneller. Aus dem pazifischen 
Hafen Guaymas wird keine andere Ware verschifft als 
Silber, und aus dem atlantischen Veracruz segelt die Sil¬ 
berflotte nach Europa. Immer größer und zahlreicher wer¬ 
den ihre Einheiten, immer stärker sind ihre Konvois mit 
Mörsern und Kanonen bestückt, denn im Karibischen Meer 
lauern Bukaniere, die wildesten der Seeräuber. Die Silber¬ 
flotte landet in Spanien. Spaniens Glanz steigt, und sein 
Gewerbefleiß sinkt, sinkt in den Verfall. Wozu arbeiten? 
Zahlen doch Neu-Spaniens silberglitzernde Berge die Herr¬ 
schaft über die silberglitzernden Meere. Aus den Gruben 
der Kolonie fließt das Geld für die Armada wie Wasser 
durch ein Rohr. 

Neidisch schauen Europas Potentaten auf Hispaniens 
Segen. Der Große Kurfürst läßt seine Orlogflotte von der 
Havel nach Veracruz navigieren, um Silber zu kapern. Für 
die Könige von England denken Isaac Newton, sonst mit 
kosmischen Dingen befaßt, und Disraeli, noch nicht Prime- 


595 



Minister, darüber nach, wie man mit dem Silber Mexikos 
die Navy und die Currency Englands decken könnte. Na¬ 
poleon I. will England mit Hilfe von Silberbarren im Wert 
von 350 Millionen Franken besiegen, die in Mexiko für 
ihn greifbar sind. Wäre blo§ nicht die englische Flotte, die 
die Häfen blockiert! Napoleon schickt seinen Finanzberater 
Ouvrard an den Londoner Hof und bietet dem Feind eine 
Beteiligung an, wenn er den Transport durchlasse. Aber 
Albion ist doch nicht Krämer genug, um seine Existenz ge¬ 
gen Prozente zu verkaufen. 

Die spanische Krone zahlt nicht einmal für die Fracht. 
Der Besitzer des Erzgangs Viscaina schickt ein Segelschiff 
voll schieren Silbers nach Madrid und erhält dafür einen 
ebenso königlichen wie billigen Preis: der bürgerliche 
Glücksritter wird königlicher Graf, und für die nächste Sen¬ 
dung wird er gar Marques. Da ihm ein Erbprinz geboren 
wird, läßt er den Weg von seinem Haus zum Taufbecken 
mit Silberquadern pflastern, in einem Jahr, in dem zu 
Mexiko dreimalhunderttausend Menschen Hungers sterben. 

Ihr seht, wie der Bergherr, besorgt um das markgräf¬ 
liche Geschlecht, als dessen Ahnherr er sich fühlt, seine 
Bergleute tiefer in die Tiefe treibt, auf daß sie dort für 
ihn und seinen neugeborenen Erben eine neue Glücksader 
aufschließen, eine „Bonanza". 

Obertags seht ihr die Beneficias, wo das Erz bearbeitet, 
und die Casas de Moneda, wo das Produkt geprägt wird 
zu Peseten oder zu Krönungsmedaillen für den jeweiligen 
neuen König von Spanien. Ein königlicher Kontrolleur 
kontrolliert Zahl und Gewicht der Münzen, wer aber kon¬ 
trolliert den Kontrolleur? 

Wohin auch immer ihr wandert, ihr rollt an dem Silber¬ 
band vorbei. Fast jeder der Palazzi in der Hauptstadt ist 
einst das Pied-ä-terre eines Bonanzaprinzen gewesen. Das 
Barockgebäude des Grafen San Mateo de Valparaiso erkor 
sich Iturbide nach seiner Kaiserkrönung zur Residenz, nach 
ihm wohnten berühmte Gäste dort: der Thronprätendent 
Don Carlos de Bourbon, um den die Karlistenkriege ent¬ 
brannten; der sagenumwobene Stierkämpfer Mazzantini; 
und auch Lord Cowdray, der erste Bonanzaprinz eines 
neuen Edelprodukts, des mexikanischen Petroleums. 


596 



So kurz der Sejour eines Bonanzaprinzen in der Resi¬ 
denzstadt der Vizekönige ist, rauschend muß es zugehen 
und fürstlich. Dazu bedarf sein Palast eines Portals, weit 
genug, die breitspurigsten Karossen einzulassen, es muß 
Prunksäle und Prunktreppen geben, Gärten mit Liebeslau- 
ben und viele Doppelhimmelbetten mit silbernem Balda¬ 
chin. 

Gegenüber dem Nationalpalast und ihm an Lage, Pracht 
und Größe ebenbürtig, steht das Leihamt „Monte de Pie- 
dad", errichtet vom Silbergrafen de Regia und nachmaligen 
Silbermarkgrafen de San Cristöbal. 

Den massiven Bau und den Betrieb der montanistischen 
Schule „Mineria", drei Millionen Peseten, zahlt das Korps 
der Silberfürsten mit der linken Hand. Sie brauchen ge¬ 
schulte Fachleute, weil sich die zwecks Entdeckung neuer 
Bonanzas herbeigeholten Wünschelrutengänger und Gei¬ 
sterseher nicht bewähren. Zwei Mitglieder der jüdischen 
Familie Carbajal sind unter den mystischen Hilfskräften; 
Alonso Carbajal de Mendoza und Moises de Solariel sollen 
mit Hilfe der Kabbala das Silber des Distrikts Guanajuato 
in Gold verwandeln. 

„Vor Ort" prunken die Magnaten der Unterwelt nicht 
immer so ungehemmt mit ihrem Reichtum. Allzu nahe 
klingt das bedrohliche Klirren der Sklavenketten, die aus 
teurem Eisen sind und nicht aus Silber. 

In Taxco zeigt euch der Film das erste Wohnhaus des 
Grubenherrn de la Borda. Wahrlich, kein Tuskulum, viel¬ 
mehr eine Burg von der Art, die man „bärbeißig" nennt 
und „angstschlotternd" nennen sollte. Schmucklos, fast fen¬ 
sterlos blickt die Fassade auf den Stadtplatz, die andere 
Front des Hauses fällt, um zwei Stockwerke bereichert, 
den Bergabhang hinab; Notausgänge gehen nach allen 
vier Seiten. Ringsum helle Kolonialhäuser mit hängenden 
Gärten und von Strauch und Blüte umwucherten Ter¬ 
rassen. 

Wie das dumpfe, von der idyllischen Stadt umgebene 
Mauerwerk den Bergherrn vor irdischen Feinden, sollte 
die Kirche ihn vor der Ungunst des Himmels bewahren. 
Gold, Silber und Edelgestein blitzten vom Altar, tönten 
aus der Orgel, leuchteten von der Kuppel und aus den 


597 



Barockrahmen der Heiligenbilder. Silberne Klöppel in sil¬ 
bernen Glocken läuteten schmeichelnd dem Himmel zu. 

Jose de la Borda ist kein Franzose, wie die Historiker 
meinen, sondern ein Bergmann aus Alt-Spanien, dem in 
Neu-Spanien der Silberblick lächelt. Im achtzehnten Jahr¬ 
hundert gilt er als der „reichste Mann unter der Erdober¬ 
fläche". Unzweifelhaft ist er es unter und auf der Ober¬ 
fläche seiner Stadt und ihrer Umgebung. Aber er fühlt sich 
hier weder sicher noch glücklich. Deshalb baut er sein 
Lustschloß unten im Tal, in dem viele Meilen entfernten 
Cuernavaca. Dort demütigt er die Natur noch mehr, als es 
Louis XIV. in Versailles getan, er verbannt aus seinem 
Park die Blumen, pflastert die Gartenwege und sogar die 
Beete. Ein Wunder, daß er die Bäume stehenläßt. 

Der Film zeigt euch nun Joseph de la Borda gealtert 
und verarmt. Beim Erzbischof in der Hauptstadt bettelt 
er um einen der Pokale, die er einst der Kathedrale von 
Mexiko geschenkt. Statt des Pokals erhält er den Rat, von 
der Kirche in Taxco die ihr gestiftete Monstranz zurück¬ 
zufordern und dem Erzbischof zu bringen, der sie gut zu 
bezahlen verspricht. 

Dabei ist der Erzbischof keineswegs monstranzenlos. 
Hatten ihm doch die Bonanzaprinzen, und an erster Stelle 
der damals noch reiche de la Borda, ein Allerheiligstes ge¬ 
spendet, das den Größenrekord unter allen Allerheiligsten 
der Katholität hielt. Die goldene Sonnenscheibe, andert¬ 
halb Meter im Durchmesser, war mit 4587 Diamanten, 
2794 Smaragden und 523 Rubinen besetzt. Später, die 
Bordas sind schon ausgestorben, geht der himmlische 
Schmuck den Weg alles Irdischen, und zwar innerhalb 
einer Woche des Jahres 1861, als eine Eskadron der fran¬ 
zösischen Interventionsarmee mit ihren Pferden in der 
Kathedrale einquartiert ist. Seit jener Woche wird die 
Monstranz vermißt, vermißt die „Zypresse", ein riesenhaf¬ 
tes Altarstück aus getriebenem Silber, vermißt die Me߬ 
geräte im Wert von einer halben Million Pesos. Wieder¬ 
gefunden wurde nur ein Gemälde von Murillo. 

Das Altargitter hatte schon der Präsident Santa Ana 
eingeschmolzen, ebenso wie die Wandbekleidung der Wall¬ 
fahrtskirche Los Remedios; diese Tapezierung war im 


598 



Auftrag von Cortez gebosselt worden, vom Rest des Sil¬ 
bers, aus dem er eine Haubitze für den Weihnachtstisch 
des spanischen Königs gießen ließ. 

Anderes ging in den Bürgerkriegen verloren, überall im 
Lande verschwand, was golden und silbern war, und so 
bildet heutzutage das Interieur der Kirchen einen kahlen 
Gegensatz zur üppigen Architektur. Nur wenn es wahr ist, 
daß zum Bau der Bergwerkskirche San Cayetano in Guana- 
juato die Ziegel und der Mörtel mit Silberstaub angemacht 
wurden, ließe sich aus der Kirche noch Silber holen. 

Bei einer Kunstauktion in Mexiko findet ihr die Fort¬ 
setzung des Films. Versteigert wird „eine Klistierspritze 
aus reinem Silber, ein Kilogramm schwer, mit Elfenbein¬ 
spitze und dem geprägten Wappen des Grafen M., sowie 
eine Kohlenschaufel und ein Nachttopf, ebenfalls aus Sil¬ 
ber und mit dem gleichen Emblem. Ausrufpreis fünfhun¬ 
dert Pesos". 

In der Silberstadt Parral, im Haus des letzten Bonanza- 
prinzen, seht ihr seinen Jugendtraum, ein Klavier zu be¬ 
sitzen, maßlos verwirklicht: sechzig Klaviere. Die riesigen 
Teppiche seines Palastes weisen Schnitte auf und blutige 
Flecken. Der Bonanzaprinz veranstaltete nämlich zu Hause 
Hahnenkämpfe, seine Hähne kämpften und verbluteten 
auf Perserteppichen. 

Der Film führt euch mitten in eine Jagdszene mit 1540 
Treibern, denn man schreibt das Jahr 1540. Jagdherr 
ist der Besitzer der Grube „La Valenciana", Ehrengast der 
Vizekönig Mendoza. Auf der unbewohnten und unbenann¬ 
ten Ebene werden Pavillons auf gerichtet, wo die Gäste 
zechen und tafeln können. Nach dem Halali von Jagd und 
Schmaus fahren sie in Kaleschen nach Hause. Aber die 
1540 Indios haben keine Kaleschen, und ihre heimatlichen 
Jagdgründe sind unendlich fern und kärglich. So bleiben 
sie bei den Getränke- und Speiseresten in den Jagdhütten. 
Bis auf den heutigen Tag besteht die Siedlung, die die 
Indios vor vierhundert Jahren bezogen. Sie heißt Cazadero 
(Jagdgehege) und ist eine Eisenbahnstation im Staat Hi¬ 
dalgo. 

Ihr seht und hört die Glocken einer Bergwerkskirche 
schwingen. Sie läuten nicht vergebens. Die Gemahlin des 


599 



Bonanzaprinzen tritt aus ihrem Palast um zur Sonntags¬ 
messe zu gehen. Sie trägt den hohen Kamm und den Spit¬ 
zenschleier spanischer Edelfrauen und einen Schmuck, des¬ 
sen sich keine Königin zu schämen hätte. Vierundzwanzig 
Ehrendamen, auch sie in Glanz und Gala, bilden an ihrer 
Seite bewegliches Spalier, hinter ihr schreitet das weib¬ 
liche Hofgesinde, einige hundert Frauen. 

Der Grubenherr reitet an der Spitze seiner Leibgarde. 
Die ist aus einer Wache gegen Silberschmuggel entstanden. 
Zwar arbeiten die Bergleute nackt, aber in Tuben, die 
dem Darm angepafjt sind, geht so viel Konterbande aus 
der Mine ans Tageslicht, dafj der Marktpreis des Silbers 
gedrückt wird. 

Den Arbeitern in den After zu schauen war nicht die 
einzige Funktion der Bergwerkspolizei. Vor allem sollte 
sie Transporte vor Überfällen schützen und wurde so im¬ 
mer mehr zu einer militärischen Truppe. Ihre aus Gems¬ 
leder geschnittene Uniform strotzt von Aufputz; Knöpfe, 
Sporen, Epauletten, Sattelbeschlag, Sturmband- und Gür¬ 
telschnallen sind silbern. 

Solch stolze Wehr reizt die Wegelagerer erst recht. Wo 
sie können, greifen sie die Gecken an, liefern ihnen regel¬ 
rechte Schlachten, bei denen die Garde-du-Corps zumeist 
den kürzeren ziehen. 

Eine Episode von 1832 bildet einen Film im Film, ro¬ 
mantisch und charakteristisch. Auch dann noch charakte¬ 
ristisch, wenn einige Szenen des Drehbuchs der Volks¬ 
phantasie und andere dem klassischen Kolportageroman 
„Los Bandidos de Rio Frio" von Manuel Payno entlehnt 
sein sollten. 

Ihr seht erregten Betrieb vor dem Theater, hinter den 
Kulissen, auf der Bühne und im Zuschauerraum. Eine ita¬ 
lienische Stagione gastiert in Mexiko. Ihre Sängerinnen 
werden von der jeunesse doree oder, besser gesagt, der 
jeunesse argentee lärmend umschwärmt. Unter den An¬ 
hängern der Sopranistin Marietta Albini steht der Silber¬ 
graf de Regia an erster Stelle, die Verehrer der Altistin 
Adela Cesari haben den Grafen de la Cortina zum ideo¬ 
logischen Führer, und beide Parteien bekämpfen einander 
mit Theaterskandalen, Zeitungsartikeln und Provokationen. 


600 








Abschiedsvorstellung. Der Vorhang fällt nach der 
Schlußarie der Oper „Fra Diavolo", Beifall und Pfiffe für 
und gegen die Cesari und die Albini, Prügelszenen. Schlie߬ 
lich einigen sich die Parteien in dem stürmischen Wunsch, 
die beiden Divas mögen schwören, bald wiederzukommen. 
Die Grafen tragen ein Bild der Madonna von Guadalupe 
auf die Bühne, die Sängerinnen knien nieder und leisten 
den Eid. Plötzlich der Ruf: „Die Räuber von Rio Frio wer¬ 
den euch ermorden!" Tränen, Bitten. Der Graf de Regia 
tritt an die Rampe; im Hinblick auf die Umtriebe der 
Wegelagerer werde sein Bergwerksmilitär die göttliche 
Marietta begleiten, nicht nur bis zum gefährlichen Rio 
Frio, sondern bis zum Schiff in Veracruz. Jubel bei den 
Albinisten, Protest bei den Cesaristas. Der Graf de la 
Cortina erhebt sich in seiner Loge und erklärt, er habe 
seine Truppe beordert, an der Seite der Cesari nach Vera¬ 
cruz zu reiten. 

Solchermaßen doppelt gesichert, rollen die Wagen des 
Ensembles davon, rechter Hand und linker Hand von ge¬ 
schniegelter, bis an die Zähne bewaffneter Gardekavallerie 
begleitet. Bis Rio Frio ... 

In Rio Frio werden sie von maskierten Banditen über¬ 
fallen, die nach kurzem Gefecht die Begleitmannschaften 
in die Flucht schlagen. Nun tritt der Räuberhauptmann 
Everisto recte Agustin Lorenza an den Wagenschlag, lüf¬ 
tet höflich die Maske und lädt die Theatergesellschaft ein, 
ihm und den Seinen im Wald eine Oper aufzuspielen. Das 
Ensemble entschließt sich zu „Fra Diavolo", weil die Re¬ 
quisiten noch beisammen sind. Die reiche Natur des Wal¬ 
des wird mit der billigen Unnatur von Dekorationen dra¬ 
piert, und die Räuberoper geht vor dem Räuberpublikum 
in Szene. Zwar legen sich die Darsteller des komischen 
Banditenpaars Beppo und Giacomo Reserve auf, um die 
Sympathie der Hörer nicht zu verlieren, zwar tut - aus 
entgegengesetzten Gründen - die Darstellerin der Zerline 
in der Entkleidungsszene das gleiche, aber die Bandidos 
de Rio Frio sind so entzückt, daß sie vor lauter Begeiste¬ 
rung ihre ganze Munition in die Luft verschießen. Die 
Vorstellung zieht sich lange hin, und so nächtigen En¬ 
semble und Publikum im Walde. 


601 



Am Morgen geben die befriedigten Räuber ihren Gä¬ 
sten das Geleit zu den Kutschen. Die fahren ab und finden 
knapp vor der Stadt Puebla die Begleitmannschaft wieder, 
die sich gesammelt hat und ihre Schützlinge mit unver¬ 
mindert martialischem Gehaben nach Veracruz bringt. Mit 
Silberbarren statt mit Silberstimmen in den Wagen wäre 
die Reisegesellschaft nicht so unberaubt davongekommen. 

Man muß kein Berufsbandit sein, um silbernen Lok- 
kungen zu unterliegen. Ihr seht den königlich spanischen 
General Agustin Iturbide hoch zu Roß. Er reitet den 
Insurgenten entgegen, er hat den Auftrag, die mexika¬ 
nische Unabhängigkeitsbewegung niederzuwerfen. Unter¬ 
wegs soll er einen Transport von einer halben Million neu¬ 
geprägter Peseten beschützen und tut das, indem er ihn 
für sich beschlagnahmt. Dann schließt er in Iguala mit den 
Revolutionären einen Vertrag, durch den Mexiko unab¬ 
hängig wird, macht sich zum Kaiser und entfaltet mit dem 
geraubten Silber den notwendigen höfischen Prunk. 

Auch wer sich keinen Beschützern in die Hand gibt und 
seine Schätze selbst hütet, ist nicht vor Raub gefeit. Dona 
Maria de Rodriguez, Besitzerin des Bergwerks. Dona 
Maria im Gebiet von Huacal, erscheint im Film. Seit Jah¬ 
ren hat sie alle Barren ihres Silbers zu sich nach Hause 
schaffen lassen. Ihr Palast, so groß er auch ist, hat kaum 
noch Platz für den Schreibtisch, von dem aus sie den Be¬ 
trieb dirigiert, kaum noch Platz für das Bett, in dem sie 
schläft. Nie verläßt sie ihr Haus, das mit einer Doppel¬ 
türe aus schwerem Eisen verschlossen ist. Die Fenster sind 
mit eisernen Queren gesichert. 

Dona Maria will mit ihren Schätzen nach Kastilien zu¬ 
rückkehren. Eines Tages übergibt sie die Bergwerksanlage 
ihrem Bruder, läßt bei Nacht und Nebel alles Silber in 
Kisten verpacken und auf vierzig Maulesel laden, je zwei¬ 
hundert Pfund auf jeden, zusammen vier Tonnen. Ihre 
ältesten Vertrauensmänner aus dem Werk nimmt sie zum 
Schutz mit, sie selbst läßt die Kolonne nicht aus den 
Augen, und wirklich kommt alles unversehrt in der Haupt¬ 
stadt Mexiko im Palast des Vizekönigs an. Der übernimmt 
und quittiert die Schätze und lagert sie im Beisein der Be¬ 
sitzerin im Staatstresor ein. Befreit atmet sie auf. Zum 


602 





erstenmal seit Jahren kann sie ruhig schlafen. Aus ihrem 
ruhigen Schlaf erwacht sie nicht mehr. Ist sie ermordet 
worden? Wer dürfte es wagen, den Vizekönig eines Mor¬ 
des zu beschuldigen! Nicht einmal die Erben wagen es, 
und der Film zeigt nur, wie man sie morgens als Leiche 
findet. Ihr seht weder die Tat noch den Täter. 

Ja, nicht immer bringen die Glückssträhnen aus Silber 
und Gold ihren Eigentümern das Glück. 1847 fährt der 
Schweizer Suter, mit mexikanischen Vollmachten und dem 
Titel eines mexikanischen Commandante versehen, nach 
dem Pazifik, in den Umkreis von Caliente Fornalla, dem 
„Heißen Ofen", und läßt sich dort, im Urwald California, 
als Farmer nieder. Ein Jahr später gehört dieses mexikani¬ 
sche Land den Vereinigten Staaten von Nordamerika, fast 
gleichzeitig findet sich dort Gold und fast gleichzeitig eine 
Armee von Goldsuchern aus aller Welt. Die verjagen den 
wackeren Schweizer, töten seine Kinder, betrachten sein 
Vieh als jagdbares Wild und verwüsten seine Felder und 
Betriebe. Suter verhungert auf den Stufen des Kapitols 
von Washington, wo er - o Irrer! - jahrelang und hart¬ 
näckig eine Entschädigung für ganz Kalifornien verlangte. 

Der Film zeigt vierzehn Straßenräuber, die durch 
Schluchten und über Höhen vor den Gendarmen fliehen. 
In einer Grotte am Wendekreis des Krebses sind sie end¬ 
lich geborgen. Es ist eine Grotte mit silbernen Wänden. 
Der Operateur blendet über auf das moderne Bergwerk 
von heute, das zu Ehren der vierzehn Banditen noch im¬ 
mer „Real Catorce" heißt. 

Der Mauleseltreiber Juan Rayas findet die Grube „La 
Valenciana". Ihr dürft euch nicht wundern, wenn ihr seht, 
wie ihm das Diplom mit seiner Ernennung zum Granden 
von Spanien überreicht wird, denn die „Valenciana" lie¬ 
ferte binnen fünf Jahren mehr Silber, als es bisher in der 
ganzen Welt gab. Juan Rayas ist ein findiger und ge¬ 
schäftstüchtiger Mann. Den Bau der Kirche neben seinem 
Bergwerk zahlt er nicht mit seinem Silber, sondern mit 
dem, was ihm von seinem Silber fehlt. Ihr seht ihn mit 
dem Pfarrer verhandeln und wie tags darauf der Pfarrer 
seine Beichtkinder auf klärt, daß ihnen die glückliche Rück¬ 
kehr aus den Gefahren des Schachts nur dann gewährlei- 


603 



stet sei, wenn sie allwöchentlich ein Stück Silbererz zum 
Kirchenbau spenden. Solche Stücke sind in der Gegend 
leicht zu finden, allenfalls auch in der Grube, von wo sie 
illegal zum Pfarrer getragen werden. Das eben ist dem 
Granden recht, braucht er doch für die aus der Mine ge¬ 
schmuggelten Klumpen keinen Akkordlohn zu zahlen und 
kann sie nachher dem Pfarrer zum Gestehungspreis ab¬ 
kaufen. 

Durch Barrancas im Staat Chihuahua klettert ein Indio, 
sich argwöhnisch umsehend, ob ihn niemand beobachte. 
Er schleicht hinab nach der Stadt Parral, zur Bauhütte auf 
dem Platz, wo eine Kirche gebaut wird. Dort reicht er 
dem Bauführer ein faustgroßes Stück Gold. „Willst du noch 
immer nicht sagen, wer du bist?" fragt ihn der Kaplan, 
der in der Hütte steht. - „Niemals werde ich das sagen", 
erwidert der Indio und verschwindet unter noch größeren 
Vorsichtsmaßregeln. So erscheint und verschwindet er an 
jedem Sonnabend von 1590 bis 1610, zahlt mit seinem 
Gold alle Löhne für die Bauarbeiter. Da die Kirche voll¬ 
endet ist, läßt ihn die spanische Obrigkeit verhaften und 
martern, um herauszukriegen, wo die geheime Goldgrube 
stecke. „Ich will den Weißhäutigen nicht noch mehr Reich¬ 
tum und den Dunkelhäutigen nicht noch mehr Elend brin¬ 
gen", antwortet er auf alle Fragen, und mit diesem Satz 
stirbt er in der Folterkammer. 

Was die Indios aus den Stollen zutage förderten, ge¬ 
hörte den Bonanzaprinzen, was sie als Lohn bekamen, war 
der Kirche. Wurden Lasten und Qualen unerträglich, dann 
flüchteten die Sklaven in die Berge oder lehnten sich gegen 
ihre Peiniger auf, und dann waren es diese, die flüchten 
mußten. Die Grubenherren von Baroyeca, einem schwer 
zugänglichen Berg werks di strikt an der Westküste, wurden 
einmal vier Wochen lang in der Kirche belagert. So erklärt 
sich das Festungsbarock der alten Kirchen und Klöster, 
erklärt sich das Bollwerk des Herrn de la Borda in Taxco, 
erklärt sich, weshalb die Alhöndiga in der Silberstadt Gua- 
najuato zur Bastille Mexikos wurde. 

Anfang des neunzehnten Jahrhunderts: Ihr seht einen 
jungen Mann in Radmantel und hohen Schuhen vor einem 
gewaltigen Haus in Guanajuato vom Pferd springen. Ihn 


604 





empfängt der Hausbesitzer, der zugleich der Grubenbesit¬ 
zer ist der Graf von Rul. Der Gast heißt Alexander von 
Humboldt war in Deutschland Bergwerksassessor und 
Geologe und erbittet vom Gastgeber, in die Gruben ein- 
fahren zu dürfen. Das darf er. Er lobt, daß die Arbeit eine 
freie ist, das heißt, die Knappen freizügig sind, was er 
sonst nicht überall gefunden hat. Aber wie sind die Ar¬ 
beitsbedingungen ! 

Zusammengepfercht in engen Stollen, arbeiten die In¬ 
dios in einer Glut von vierunddreißig Grad, während drau¬ 
ßen das Thermometer im Winter tief unter Null steht. 
Humboldt fragt sich, wie ein Mensch solche Temperatur¬ 
unterschiede aushalten kann. Wie sind Kinder mit einer 
Last von fünfzig Kilogramm auf dem Rücken und Erwach¬ 
sene mit hundertfünfundzwanzig Kilogramm imstande, 
sechs Stunden lang in dieser Hitze 1800 Stufen auf- und 
abzusteigen? Entsetzt hört Humboldt, daß die Arbeiter, 
welche die Sprengungen machen, selten über ein Alter von 
fünfunddreißig Jahren hinauskommen. 

Zwanzigstes Jahrhundert: Ein Mann - der könnte ich 
sein - wandert durchs Land, vorbei an Fördertürmen, 
Schmelzwerken, Zyanidanlagen, und fragt überall, wem 
der Betrieb gehöre. Zumeist bekommt er ein Achselzucken 
der Unwissenheit zur Antwort. Wo er eine akustische Ant¬ 
wort bekommt, klingt sie wie „Asarco", und wie „Kannit- 
verstan" klingt, was der Wanderer brummt. 

Sicherlich ist Asarco kein Familienname. Es gibt keine 
Bonanzaprinzen mehr, so tief und zusammenhängend auch 
die Spuren ihres Wirkens noch heute in Mexiko erkenn¬ 
bar sind. 

Von der Konquista an, der technischen Erschließung der 
ersten Gold- oder Silbergrube, war es keine Staatsbürger¬ 
tugend, zu arbeiten. Die Arbeit war Zuchthauszwang und 
Tod. Dagegen war Glück eine Staatsbürgertugend, und 
zwar die belohnteste, das Glück, eine ergiebige Ader zu 
finden. Vermochte der Finder seine Bonanza mit mörderi¬ 
schen Methoden aufzuschließen, so nannte er alle erdenk¬ 
liche Privatmacht sein eigen und dazu mehr gesellschaft¬ 
liche Macht als die höchste Beamtenschaft und der höchste 
Klerus. Die waren ja nur deshalb nach Neu-Spanien ent- 


605 



sandt, um dem König Silbergeld, beziehungsweise dem 
Papst Peterspfennige zu schicken; zur Erfüllung dieses 
Auftrags konnte nur der verhelfen, der aus den Lotterie¬ 
losen im Erdenschoß den Haupttreffer gezogen. Der Bon- 
anzaprinz war Staatsoberhaupt de facto, denn er konnte 
den Beamten mehr Silber bieten als die Staatskasse. 

Der Mann im Film fragt nach der Bedeutung des Wor¬ 
tes Asarco und findet schließlich heraus, daß es die An¬ 
fangsbuchstaben von American Smelting and Refining 
Company sind. Diese Kompanie wiederum ist der Deck¬ 
name für den Guggenheim-Konzern, welcher die Silber¬ 
förderung in Mexiko innehat und alles Silber nach USA 
transportiert. 

Dort wird das Silber, Hunderttausende von Tonnen, aus 
finanzpolitischen Gründen in den Kellerverliesen von Fort 
Westpoint, N.Y., eingelagert, tief in der Erde, der es ent¬ 
rissen wurde mit Mühe und Not. Dort endet der Film, 
einer von denen, die man im Kino nicht zu sehen be¬ 
kommt. 





WIRTSCHAFTLICHES FEUILLETON 
ÜBER TORREÖN 


Es steht noch nicht im Meyer, 

Es steht im Brockhaus nicht. 

Es tritt aus meiner Leier 
Zum erstenmal ins Licht. 

Christian Morgenstern 

Das Baumwollzentrum Torreon steht nicht im Meyer, 
während der Meyer (Ausgabe 1908) in Torreön steht, wo¬ 
durch ich erfahren habe, daß Torreon nicht im Meyer steht. 
Über Coahuila, den Bundesstaat, dessen wichtigste und 
größte Stadt Torreön bei weitem ist, wird in Meyers Kon¬ 
versationslexikon sehr viel ausgesagt, andere Städte dieses 
Staates werden lobend erwähnt. Torreön jedoch mit keiner 
Silbe. 

Alles in Torreön dreht sich um Algodön. Es ist wie in 
Alexandria. Nur verwenden in Alexandria die Araber nicht 
das arabische Wort „al goton", sie sagen englisch „cotton", 
die Anglisierung von „goton". 

Das deutsche Wort geht auf den bis ins achtzehnte Jahr¬ 
hundert verbreiteten Irrtum zurück, Baumwolle sei die 
Wolle des skythischen Lamms, das auf Bäumen wachse. 
In Rußland reisende Europäer hatten es mit eigenen 
Augen gesehen. Was sie gesehen hatten, waren aber Em¬ 
bryos von Widdern. Die Bauern, die sich schämten, un¬ 
geborene Tiere aus dem Mutterleib zu schneiden, logen 
den Fremden vor, der kleine Widder (Baranetz) sei bei 
ihnen zulande eine Baumfrucht. In Wahrheit war das Lok- 
kenfell nicht zum Verspinnen oder Verweben ausersehen, 
sondern dazu, ein Pelzmützchen zu werden oder Teil eines 
Persianermantels. 

Jedenfalls wächst im Gebiet um Torreön die Baumwolle 
nicht als Tier auf den Bäumen, sie wächst als Pflanze auf 


607 



Erden, und das Saatgut kommt aus Memphis. Dadurch 
scheint mein Gefühl, in Alexandria zu sein, noch mehr 
gerechtfertigt. Leider erfahre ich, daß es sich nicht um das 
ägyptische Memphis, vielmehr um Memphis im Staat Ten¬ 
nessee, USA, handelt, welches unägyptische Memphis ein 
Monopol hat auf die Samen der bei Torreon angebauten 
Baumwollsorten. 

Selbstverständlich wird der Leser die Frage stellen, die 
ich stelle: Warum verwendet man denn nicht die eigenen 
Kerne als Saatgut? 

Ich erfahre, daß das nicht geht. Die Pflanzen würden 
sich miteinander kreuzen, und diese Inzucht ergäbe De¬ 
generation. Deshalb wird die Saat aus den Samenzüch- 
tereien von USA bezogen, wo die besten Stauden für die 
Zucht ausgesucht werden, „true to type" kultiviert, die 
Blüten in Musselin oder Zellophan eingepackt und die Be¬ 
fruchtung unter Kontrolle durchgeführt. 

Beziehen nur die mexikanischen Felder die Saat aus der 
Züchterei? 

„Nein, alle Baumwollfelder der Welt. Sogar die ameri¬ 
kanischen." 

Aber in der Sowjetunion sah ich vor fünfzehn Jahren, 
wie Baumwollfelder angelegt wurden. Und die Russen hat¬ 
ten damals sicherlich keine Samenzüchtereien. 

„Die haben wahrscheinlich jahrelang experimentiert. Die 
müssen sich nicht beeilen, weil sie keine Konkurrenz und 
keinen Export haben. Die verbrauchen ja alle Baumwolle 
für ihr eigenes Volk." 

Viele der hiesigen Firmentafeln habe ich schon in Alex¬ 
andria gesehen. Die Baumwollexporteure „Anderson, Clay- 
ton & Co.", „McFadden" und „William Woodworth" be¬ 
herrschen im nördlichen Mexiko wie im nördlichen Afrika 
und außerdem im südlichen Nordamerika die lokalen 
Märkte, die zusammengenommen identisch sind mit dem 
Weltmarkt. Auch die Verkaufsstellen für Pflückmaschinen 
und Entkernungsmaschinen, für Mittel zur Schädlingsver¬ 
tilgung und für Kunstdünger tragen hier wie dort die glei¬ 
chen Firmennamen. 

Überdies gibt es, damit ich's nicht vergesse, das Heer 


608 


der Menschen, welche die Baumwolle pflanzen, pflegen 
und pflücken. Das spielt sich außerhalb des Weichbildes 
von Torreon ab, in der Laguna. Dort fließt der Nil namens 
Rio Nazas. Dort bewegen sich die Pumpen, die den arabi¬ 
schen Namen „noria" führen, während die Araber sie schon 
längst „wells" nennen. Und dort arbeiten die hiesigen Fel¬ 
lachen, die Ejidatarios. 

Der Name Laguna scheint darauf hinzuweisen, daß dort 
Wasser ist. Aber so etwas von Nichtwasser, so etwas von 
Dürre und Trockenheit! Wasser gibt es nur, wenn. - ein¬ 
mal im Jahr - der Rio Nazas außer Rand und Damm 
gerät und alles überschwemmt, manchmal, wie 1917 und 
kurz nach meinem Besuch in der Laguna, 1944, in kata¬ 
strophalem Ausmaß, Menschen und Vieh ertränkend, Fel¬ 
der, Straßen und Speicher vernichtend. Nachher kehrt der 
Fluß, als wäre nichts geschehen, in sein Bett zurück. Auf 
dem Weg dorthin läßt er seinen Unrat hinter sich, und 
darauf wächst die Baumwolle im Schweiße des Angesichts 
von hunderttausend Laguneros. 

Der Bahnhof Torreön ist dem Hafen von Alexandria 
ähnlicher als einem Bahnhof. In Lagerhäusern, vor hy¬ 
draulischen Pressen und an Baumwollballen schallt der 
Lärm von Geschäftskonflikten und neuen Abschlüssen. Ob¬ 
wohl der Krieg den europäischen und den japanischen 
Markt ab ge schnitten hat, herrscht Konjunktur. Denn 
einerseits braucht der Krieg Schießbaumwolle und ande¬ 
rerseits Watte in unvorstellbaren Mengen, von Uniformen 
ganz zu schweigen. 

Erstaunlich ist es, an Ort und Stelle zu sehen, welche 
Industrien (außer dem Textilwesen) der kleine Baumwoll- 
strauch schafft und welchen Einfluß er auf Weltwirtschaft 
und Weltpolitik ausübt. 

Als eine der ersten erschien die Seifenindustrie. Ein 
Amerikaner namens John Brittingham aus San Louis, Mis¬ 
souri, erbaute auf dem Boden der Laguna und eines lang¬ 
fristigen Kontrakts eine riesige Seifenfabrik. 

Bis dahin hatten die Egrenieranstalten die Baumwoll- 
faser nur deshalb entkernt, weil die Kerne den Verspin¬ 
nungsprozeß hinderten. Die Kerne selbst. Tausende von 


39 Kisch VII 


609 



Tonnen, wurden verbrannt oder tief in die Erde versenkt. 
Nicht einmal als Dünger durften sie verwendet werden, 
denn sie galten als Gift für Mensch und Tier. 

Nun kam Mr. Brittingham und bot fünfzehn Pesos per 
Tonne für das wertlose und gefährliche Abfallprodukt. 
Wie vorteilhaft für die Baumwollherren von Torreon, und 
wie vorteilhaft erst für Mr. Brittingham. In Amerika hätte 
ihn das zur Herstellung benötigte Baumwollsamenöl zwölf¬ 
mal soviel gekostet, wie in Mexiko die ganze Seife ko¬ 
stete. Mr. John Brittingham war nicht mehr Mr. John 
Brittingham, sondern Senor Juan Brittingham, er ver¬ 
kaufte seine Seife in Mexiko und schlug den amerikani¬ 
schen Seifenimport aus dem Felde. 

Um die Jahrhundertwende wollte der mexikanische Fi¬ 
nanzminister Limantour die äußere Schuld Mexikos konso¬ 
lidieren. Eine Pariser Bankengruppe war dazu bereit, und 
dafür erhielt die französische Konkurrenz des schwedischen 
Nobeltrusts das Dynamitmonopol für Mexiko. Die So- 
ciete Centrale de Dynamite, deren Präsident Paul Clemen- 
ceau war, Bruder des Oppositionsführers Georges, errich¬ 
tete ihre Dynamitfabrik bei Torreön. 

Warum bei Torreön? 

Bei Torreön war erstens die Baumwolle und zweitens 
die Seifenindustrie. Das Öl der Baumwollkerne ergibt nicht 
nur Fettsäure für die Seife, sondern auch Glyzerin für das 
Nitroglyzerin. Um sich in transportables Dynamit zu ver¬ 
wandeln, bedarf das Nitroglyzerin eines Beiprodukts, und 
dieses ist wiederum Baumwolle, eine kurzstaplige, die mit 
Salpeter und Schwefelsäure zu Schief 3 baumwolle wird. 

Die Fabrikanlagen außerhalb der Stadt sind selbst eine 
Stadt, die Stadt Dinamita. Heute gehört sie nicht mehr 
den Franzosen. Die haben in die innermexikanischen Zwi¬ 
stigkeiten Dynamit hineingetragen und gingen um 1913 
mit den reaktionären Staatsstreichplänen in die Luft. 

Jetzt wird die Stadt Dinamita von den Dupont de Ne¬ 
mours beherrscht, die außer ihrem französischen Adels¬ 
namen das amerikanische Bürgerrecht besitzen und die 
Hoheitsrechte über die Chemie von USA. In urheberrecht¬ 
lichem Sinn ist die Dinamita nicht das Werk der Dupont 
de Nemours, womit die Familientradition fortgesetzt wird. 


610 



Auch der Stammvater der Dynastie war nicht der Urheber 
seiner chemischen Entdeckungen in urheberrechtlichem 
Sinn. Während der Französischen Revolution war er mit 
den chemischen Formeln seines Freundes Lavoisier nach 
Amerika gesegelt und hatte auf Grund dieser Formeln 
Schießpulver gemacht und auf Grund dieses Schießpulvers 
Dollarmillionen. Als Amerika in den ersten Weltkrieg ein¬ 
trat und unter dem Alien Property Act auch die Patente 
der deutschen IG-Farbenindustrie beschlagnahmte, wurde 
Dupont der größte chemische Konzern der Welt. Unter an¬ 
derem übernahm er das Sprengstoffgeschäft der amerika¬ 
nischen Länder. 

Von Torreön aus wird das Dynamit den Bergwerken 
ganz Mexikos zugeleitet. In einem der Dörfer der Laguna 
ist die Schule nicht nach Emiliano Zapata, Pancho Villa 
oder einem anderen der bekannten Bauernrevolutionäre 
benannt sondern nach dem „Heroe de Nacozari". Ich frage, 
wer das war, und höre: 

Es war einmal eine Zugsgarnitur, bestehend aus Loko¬ 
motive und drei mit Dynamit beladenen Waggons. Sie 
hielt auf dem Bahnhof von Nacozari, einer Bauern-und- 
Arbeiter-Siedlung im Staat Sonora, und ein Eisenbahner, 
Jesus Garcia, stand daneben. Die Achsen waren so heiß 
gelaufen, daß, wie Jesus Garcia plötzlich bemerkte, das 
Schmieröl brannte. In der nächsten Minute mußte die La¬ 
dung explodieren und die Ortschaft vernichten. Anstatt zu 
fliehen, schwang sich Jesus auf die Lokomotive, gab Voll¬ 
dampf und sauste mit dem Zug los. Eine Minute später 
fuhr er mitsamt der Fracht in den Himmel, aber die Be¬ 
wohner Nacozaris waren gerettet. Jesus Garcia ist der 
Heroe von Nacozari. 

Damit, daß die Baumwollkerne aus dem Abfalleimer 
geholt und zu einer in Silberpapier eingewickelten Seife 
wurden, ist das Aschenbrödelmärchen noch nicht zu Ende. 

Seit den Tagen Mr. Brittinghams hatte sich der Baum¬ 
wollanbau überall so erhöht, daß die Seifenfabriken nur 
einen Bruchteil der Kerne verdauen konnten. Der Rest 
häufte sich zu Halden. Da kamen die Italiener auf die Idee, 


611 



ihrem Olivenöl unauffällig das Öl aus den Baumwollker- 
nen beizusetzen. Nach den ersten Versuchen nahm Italien 
immer mehr und mehr Kerne ab, Schiffsladungen, jahre¬ 
lang. 

Bis eines Tages die Amerikaner erfuhren, daß das aus 
Italien nach Amerika importierte Olivenöl fast zur Gänze 
aus dem Öl amerikanischer Baumwollkerne bestehe. 

Wie war das möglich? Hat denn das Baumwollsamenöl 
nicht einen Beigeschmack, der es ungenießbar macht? 
Kaum war diese Frage gestellt, fuhren schon Industrie¬ 
spione nach Italien und insbesondere nach Triest, wo die 
größten Ölfabriken waren. 

Sie erkundeten das Verfahren. Wenn man Baumwollöl 
mit kaustischer Soda und nachher im Vakuum mit Dampf 
behandelt, verliert es seinen Geruch und kann mit Oliven¬ 
öl verschnitten werden, ohne daß es von diesem zu unter¬ 
scheiden ist. 

Sehr gut, Baumwollöl konnte also zum Kochen und Bra¬ 
ten verwendet werden. Aber zum Backen? Nein, dazu 
taugte es nidit. Zum Backen brauchte man Fette von höhe¬ 
rem Schmelzpunkt Schnell erfanden die Chemiker die Hy- 
drogenisierung: Sie setzten den ungesättigten Glyzerin¬ 
verbindungen der Fettsäure Nickelstaub zu und nachher 
Wasserstoff. Dadurch wurde ein höherer Schmelzpunkt er¬ 
reicht - die Revolution des Backofens. Alsbald ließ sich 
mit Pflanzenbutter, vegetabilischem Schmalz und Marga¬ 
rine backen, was es zu backen gab. 

In Amerika entstanden grandiose Ölmühlen, gegen die 
sich die italienischen verstecken können, und während in 
Krisenzeiten die Baumwollfaser verbrannt wurde, blieben 
die Baumwollkerne wertbeständig. 

Wären bloß nicht Aschenbrödels Töchter gewesen, die 
Linters, die winzigen Härchen auf dem Kern. Für die Ver¬ 
spinnung waren sie nidit zu brauchen, und das Öl ver¬ 
darben sie auch. Mit komplizierten Maschinen mußten 
diese Flaumhaare sorgsam abgesagt und abgesaugt wer¬ 
den zu dem einzigen Behufe, weggeworfen zu werden. 

Jedoch auch Aschenbrödels Töchter blieben nicht unent- 
deckt, feierlich wurden sie auf den Warenmarkt geholt und 


612 






spielen heute eine große Rolle. Die Linters sind eine Zellu¬ 
losequelle mit Verwendungsmöglichkeiten, die voneinan¬ 
der so verschieden sind wie Damenstrümpfe von Explosiv¬ 
stoffen und Matratzenfüllung von Kunstseide. 

Auf dem Lintersthron von Torreön, der sozusagen eine 
explosive Matratzenfüllung und einen kunstseidenen 
Überzug hat, sitzt seit fünfundzwanzig Jahren Mr. Pe- 
gram-Dutton, ein Engländer von überdimensionaler Länge. 
Als ich sein Büro betrat, welches gleichzeitig das Konsulat 
des Königs von Großbritannien ist, kam er (selbstverständ¬ 
lich der Konsul) zu mir heraus, deutete mit dem Daumen 
auf sein Arbeitszimmer und flüsterte: „Gerade sind zwei 
Herren aus dem Ministerium drin. Ich will mein Bestes 
tun, daß es nicht lange dauert." 

Es dauerte nicht lange. Wir sitzen nun in seiner Woh¬ 
nung, und er erzählt mir, die beiden Herren hätten Linters 
im Ausfuhrregister erwähnt gefunden und wollten erstens 
wissen, wie hoch man sie im neuen Tarif für Exportzölle 
einsetzen solle, und zweitens, ob man Linters nicht in Me¬ 
xiko selbst verwerten könnte. 

Mr. Pegram-Dutton hatte vor einem Vierteljahrhundert, 
als er, ein junger Heimkehrer aus dem ersten Weltkrieg, 
im Baumwollhafen Liverpool konditionierte, eine Anstel¬ 
lung nach Torreön angenommen. Von Torreön wußte er 
damals nur, daß es in dem Lande liege, wo ein Berg Popo- 
catepetl heißt. 

„Steht Torreön nicht in der British Encyclopaedia?" 
frage ich. 

„Damals? Nein, was denken Sie! Heute steht es selbst¬ 
verständlich darin." 

Ich fange an, mich für den Meyer zu schämen. Jedoch 
Mr. Pegram-Dutton besitzt die neueste Ausgabe der Ency¬ 
clopaedia, wir schauen unter Torreön nach, und siehe da, 
es gibt kein Torreön. 

„Nun", sagt Mr. Pegram-Dutton, „eigentlich ist Torreön 
erst seit 1936, seit der Cärdenasschen Bodenaufteilung an 
die Baumwollarbeiter zu dem geworden, was es jetzt ist. 
Innerhalb dieser acht Jahre hat sich die Einwohnerzahl um 
mehr als ein Drittel erhöht, und es sind in dieser Zeit 
mehrere tausend Häuser gebaut worden." 


613 



Ich frage, wieso das mit der Bodenaufteilung Zusam¬ 
menhängen soll. 

„Die Großgrundbesitzer waren Ausländer, Spanier zu¬ 
meist, die entweder in Mexiko-Stadt lebten oder gar in 
Madrid, wo sie ihre Gewinne investierten oder ausgaben. 
Früher besaß ein Hacendado bis zu 75 000 Hektar, heute 
sind 150 Hektar das gesetzlich festgelegte Maximum. Al¬ 
lerdings ... hat er rechtzeitig sein Vermögen auf Frau und 
Kinder überschrieben, so besitzt er mit seiner Familie drei- 
oder viermal 150 Hektar. Aber auch das ist nur ein Bruch¬ 
teil seines ehemaligen Eigentums. Um nun den alten Profit 
herauszuholen, hat er Intensivbewirtschaftung eingeführt 
und vor allem seinen Absentismus aufgegeben, das heißt, 
er lebt nicht mehr ferne von der Scholle, sondern auf ihr, 
sein eigener Verwalter. Natürlich schimpfen die ehemali¬ 
gen Hacendados über die Aufteilung, unter vier Augen ge¬ 
stehen sie aber zu, daß sie sich nicht sehr zurücksehnen 
nach der Unübersehbarkeit ihrer Ländereien und nach dem 
Ärger mit den Peones und ihren Forderungen, die oft sehr 
unangenehm waren. Sie verstehen?'" 

Ich verstehe, obschon ich zum erstenmal das Eingeständ¬ 
nis höre, daß durch die Landaufteilung die „Beraubten" 
nichts verloren und die Stadt einen ungeahnten Auf¬ 
schwung erlebte. Ich könnte so etwas niemals aussprechen, 
ohne mir den Vorwurf plumpester Propaganda zuzuziehen. 
So frage ich denn: „Darf ich das als Ihre Meinung zitieren, 
Mr. Pegram?" 

„Sie können ruhig schreiben, daß ich das gesagt habe", 
sagt der britische Konsul, „aber fügen Sie, bitte, hinzu, 
daß ich im Prinzip ein Gegner der Bodenpolitik von Cär- 
denas bin." 

Im Gespräch mit dem Direktor von „Insecticidas y Fer- 
tilizantes" wird mir ganz schwindlig von den Ziffern, mit 
denen er herumwirft, von den Quantitäten der Baumwolle, 
die durch Kapselwurm, Rotwanze und andere Insekten 
zugrunde gehen. Noch höher sind die Ausgaben für Ge¬ 
genmittel. Denn diese Gegenmittel werden zu Dollarprei¬ 
sen aus USA importiert, wiewohl Mexiko die chemische 
Gegenwehr selbst bewaffnen könnte. Der Krater des Popo- 


614 


catepetl, welcher schon den Konquistadoren seinen Schwe¬ 
fel für ihre Munition darbot, besitzt sicherlich heute noch 
genug davon, um alles Ungeziefer auf weiter Flur zu ver¬ 
gasen. 

Der schädlichste Schädling ist der „Gusano rosado", der 
rosafarbene Wurm, Pectinophora gossypilas. Dem ist im 
Grunde nur durch einen Wettlauf beizukommen: man muß 
sich bemühen, die Pflanze zur Blüte zu bringen, bevor sich 
die Motte entwickelt. 

Von einem anderen Schädling, dem Boll-Weevil, spricht 
der Direktor nicht anders als vom „Mister Boll-Weevil", 
womit er andeutet, daß dieser Unglückswurm den Yankees 
zu verdanken sei. Aber zufällig fällt mir ein Lied ein, das 
die nordamerikanischen Baumwollarbeiter im Cotton Belt 
singen und das den Boll-Weevil einen Landfremden nennt, 
einen Ausländer aus - Mexiko. 

The Boll-Weevil is a little bug 
From Mexico they say. 

He came to try the Texas soil 
And thought he'd better stay 
Just looking for a home. 

Just looking for a home. 

Um mich in keine Debatte über Rassen- und Fremden¬ 
haß einzulassen, steuere ich mein Gespräch aus dem Fahr¬ 
wasser der Insecticidas in das der Fertilizantes. 

Nun ja, mit den Düngemitteln sei es wie mit der Schäd¬ 
lingsvertilgung. Mexiko ist eben kein Industrieland und 
muß teuer einführen, was es billig herstellen könnte. Von 
den Erzeugnissen Mexikos gehen die meisten ins Ausland 
ab, auch solche, die Mexiko selbst benötigt. Zum Beispiel 
die Ölkuchen, Rückstände der gepreßten Baumwollsamen. 
Dieses Ölhaltige, leichtverdauliche Viehfutter wird nicht 
auf den Triften Mexikos, sondern auf denen Skandina¬ 
viens verdaut. Für Mexiko bleibt ein Dreck, das heißt, 
nicht einmal der, obwohl das Land natürlichen Dünger 
brennend braucht. 

Wohl nennt Mexiko ein ganz besonderes Düngemittel 
sein eigen, und noch dazu eines, für das die USA lockende 


615 



Preise bieten: Bat Guano, Fledermausexkrement Seit den 
Nächten des Diluviums hausen in den Bergeshöhlen von 
Durango, Coahuila und Chihuahua Generationen von Fle¬ 
dermäusen und machen dort das, was sie gegessen haben. 
Selbst die phantasiebegabtesten dieser Fledermäuse ka¬ 
men nie auf den Gedanken, daß das Resultat ihrer Not¬ 
durft dereinst von der nordamerikanischen Agrikultur 
heiß begehrt sein werde. 

Ich frage den Direktor von „Insecticidas y Fertilizan- 
tes", ob er auch Dreck am Stecken, das heißt Bat Guano 
auf Lager habe. Der Direktor wundert sich einerseits, daß 
ich schon von diesem Artikel wisse, fügt aber andererseits 
hinzu, daß jetzt auch die Neunmal weisen der Bürokratie 
davon erfahren haben. Durch ein Bundesgesetz wurde das 
Bat Guano neben Gold und Petroleum in die Reihe der 
Bodenschätze eingereiht, welche Eigentum der Nation sind 
und ohne behördliche Bewilligung nicht ausgebeutet wer¬ 
den dürfen. Aber vorläufig bekämen Privatfirmen kein 
Schürfrecht auf den Dreck der Fledermäuse. 

Im Gebiet von Torreon gibt es Primärindustrien, die 
nichts mit der Baumwolle zu tun haben, höchstens mit 
dem wegen der Baumwolle entstandenen Straßen- und 
Eisenbahnnetz. Guayule zum Beispiel. Sicherlich steht auch 
Guayule noch nicht im Meyer und auch im Brockhaus 
nicht und tritt aus meiner Leier zum erstenmal ins Licht, 
und zwar in Gestalt eines Strauches. 

Guayule fängt zu wachsen an, wo die Baumwolle zu 
wachsen aufhört. Auf diesem Randgebiet der Botanik ist 
der Boden noch brüchiger und dürrer als auf dem Baum¬ 
wollfeld, und die Erdfläche schwingt sich zu Hügelwellen 
auf, zu Bergen. Wild sproß dort der Guayule-Strauch. Die 
Indios der Vorzeit machten Gummibälle aus dem Pflanzen¬ 
saft. Manchmal riß ein vorbeireitender Vaquero (die mexi¬ 
kanische Version des Cowboys und wie alle Amerikaner 
ein Gummi-Kauboy) ein Stück der Pflanze ab und schob 
es zwischen die Zähne. 

Nun zerkaut der Krieg, der allen Gummi der Welt in 
sein Gebiß schiebt, auch den Guayule. Der ist nicht ganz 
reiner Gummi, denn er enthält zwanzig Prozent Harz. 


616 



Aber für viele Gummifabrikate ist er gut genug und be¬ 
sonders dafür, dem synthetischen Gummi beigesetzt zu 
werden. In Torreon gibt es eine Fabrik zur Bearbeitung 
von Guayule, sie gehört der „Mexican Rubber Co.", die, 
wie schon der Name „Mexican" besagt, nichts mit Mexiko 
zu tun hat, sondern eine amerikanische Gesellschaft mit 
holländischem Kapital ist. Nur das Rohmaterial stammt 
aus Mexiko und wird zu mexikanischen Arbeitslöhnen 
manipuliert für „Euzkadi", „General Popo" oder andere 
Firmen, welche die mexikanischen Pseudonyme nordameri¬ 
kanischer Gummikonzerne sind. 

Torreöner Freunde fragen mich, ob ich das älteste Bau¬ 
werk der Stadt sehen will. Gewiß, ich will. Meine Augen 
sind müde von den Neubauten, sie möchten etwas aus 
vergangenen Epochen sehen, eine Pyramide oder wenig¬ 
stens einen massiven Bau aus der Kolonialzeit. 

So lasse ich mich zum ältesten Bauwerk führen. Es steht 
in der Altstadt und ist ein Türmchen, das auch so heißt - 
Torreön - und dem ganzen Umkreis den Namen gab. Auf 
Quadratmeilen ist dieses Türmchen mitsamt der Hacienda, 
die daran lehnte, der einzige menschliche Wohnsitz ge¬ 
wesen. Das Türmchen ist etwa sechzig Jahre alt. 

In den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts waren 
die Grundstücke dieses Gebiets von den Firmen „Agustin 
Gutheil" und „Rapp, Sommer & Cia." erworben worden, 
deutschen Banken in der mexikanischen Hauptstadt. Sie 
schickten Andreas Eppen, den Sohn eines Emigranten aus 
Fürth in Bayern, als Verwalter auf die Parzellen. Dort 
stellte er sich den festen Turm hin, um den nach und nach 
die Baumwolle eine große Stadt baute, eine vielsprachige 
Stadt. 

Im Zentrum von Torreön hört man fast ebensoviel Eng¬ 
lisch wie Spanisch. Mit dem französischen Sprengstoffwerk 
kamen merkwürdigerweise zumeist Italiener herüber, weil 
die „Societe Centrale de Dynamite" eine Filiale in Avi- 
gliana bei Turin besaß, wo die Arbeiter billiger zu haben 
waren. Von den Franzosen kehrten viele nach Frankreich 
zurück, die Italiener blieben. Sie haben sich von Anfang 
an mit Seidenraupenzucht befaßt und ihren Wein angebaut. 


617 



Später machten sie teils mit Weinbau, teils mit der Um¬ 
wandlung von Baumwollöl in Olivenöl ihr Geschäft. Eine 
geschlossene Kolonie in Torreon bilden die Chinesen, 
ihnen gehören die Lebensmittelläden. 1911 gab es einen Po¬ 
grom, dem dreihundert Chinesen zum Opfer fielen. In der 
Textilbranche sind die Franzosen führend. Vertreter aller 
Nationen hatten sich in Torreon zu vorübergehendem 
Aufenthalt eingerichtet und blieben ständig. 

Da ich in den Zug einsteige, um wegzufahren, läuft je¬ 
mand den Perron entlang und ruft meinen Namen. Herr 
Utulnik aus Nimburg in Böhmen. Seine Frau war heute 
in Torreön und hatte in der Botica Europea gehört, ein 
Tschechoslowake sei hier und reise um elf nach der Haupt¬ 
stadt zurück. Diese Sensation hatte sie ihrem Mann tele¬ 
foniert nach seinem Rancho, fern der Stadt und nahe dem 
Wendekreis des Krebses. Herr Utulnik raste im Auto los, 
um den Landsmann noch zu erwischen und mit ihm ein 
paar tschechische Worte zu wechseln. Durchs Waggonfenster 
erzählt er mir, daij er schon zwanzig Jahre in Torreon 
ansässig sei. Zuerst habe er hier eine Prager Selcherei 
betrieben, hernach kaufte sein spanischer Schwiegersohn 
eine Baumwoll-Hacienda. Die aber wurde aufgeteilt, nur 
hundertfünfzig Arbeiter könne er noch beschäftigen. 

Die Türen werden zugeklappt. „Wie schade, Lands¬ 
mann", ruft er herauf, „wie schade, daß Sie schon weg¬ 
fahren." 

„Nun", rufe ich hinab, „in Mexiko werden wir mehr 
miteinander reden können." 

„Ach", ruft er, „ich war noch nie in der Hauptstadt." 

„Noch nie in der Hauptstadt?" rufe ich. „Wie ist das 
möglich?" 

„Solange ich Fleischer war, hatte ich nicht genug Geld, 
und jetzt habe ich nicht genug Zeit. Seit dieser Landauf¬ 
teilung kann ich mich nicht mehr vom Rancho rühren." 

Bei diesen Worten, die aussagen, wie der Absentismus 
der Grundbesitzer ins Gegenteil umgeschlagen hat, fährt 
mein Zug aus Torreön ab. 



WAS IMMER DER PEYOTE SEI... 


... ob ein Gott oder ein Teufel oder Gott und Teufel 
zugleich - jedenfalls ist er gut getarnt. Zerrumpelt und 
verrunzelt steht er auf meinem Fensterbrett. Ganz ohne 
Stacheln und Grannen und Dornen. Offenkundig will er 
harmloser scheinen, als seine Nachbarschaft: Seht her, ich 
bin der einzige Kaktus, der keine Waffen trägt. 

Auch durch die Vielfalt seiner Namen tarnt er sich. Bo¬ 
tanisch heißt er Lophophora Williamsii oder Ariocarpus, 
pharmakologisch ist er und sein Extrakt Pellonium oder 
Anhalonium Lewinii, die Drogenhändler führen ihn als 
Mescal Buttons (etwa: Schnapsknöpfe), und die Indios, die 
weder botanisch noch pharmakologisch noch kommerziell 
verstehen, nennen ihn Peyotl oder Peyote, so wie er von 
ihren Vätern genannt wurde und von ihren Vorvätern. 
Denn der Gebrauch und die Verehrung dieses Kaktus 
reicht, dem gelehrten Missionar Bernardino Sahagün zu¬ 
folge, mehr als zweitausend Jahre zurück. 

Vor zweitausend Jahren ahnten die Ur-Indios noch nicht, 
daß sie, wenn sie Peyote genossen, eine Todsünde begin¬ 
gen. Sie erfuhren es erst, als die Missionare ins Land ka¬ 
men und sich nicht genug empören konnten über den Aber¬ 
glauben, eine Pflanze für einen Gott zu halten, welche doch 
offensichtlich ein Teufel war. „Und selbst wenn sie Gott 
wäre", sagte der Priester zu den Indios, denen er die Ho¬ 
stie verweigerte, „kann man denn den Leib Gottes essen?" 

Daß der Peyote magische Kräfte besitze, glaubten auch 
die Spanier. Doktor Francisco Hernändez meldet 1570 dem 
König Philipp II., dessen Leibarzt er ist, der Peyote sei 
imstande, strategische Enthüllungen zu machen. Er verrate 
denen, die ihn essen, wann, wo und wie der Feind angrei¬ 
fen werde und welches Wetter in der Schlacht bevorstehe. 

Anno Domini 1626 hält Fray Jacinto de la Serna den 
Genuß von Peyote für die heidnische Art der Kommunion. 
„Es steht fest, daß die Indianer, indem sie Peyote einneh- 


619 



men, einen Pakt mit dem Satan schließen." Deshalb wird 
jedem Missionar auf die Reise nach Neu-Spanien das „Ma¬ 
nual para administrar los Santos Sacramentos" mitgegeben, 
das Bartolome Garcia verfaßt hat. Bevor einem Indio das 
Sakrament der Taufe, der Beichte, der Ehe oder der Letz¬ 
ten Ölung erteilt wird, müssen ihm die Fragen gestellt 
werden: „Hast du Peyote gegessen?" - „Hast du anderen 
Peyote gegeben, um Geheimnisse zu erfahren. Gestohlenes 
oder Verlorenes wiederzufinden?" 

Der Indio kalkuliert: Es gibt keinen Gott außer dem 
christlichen Gott, das ist richtig. Aber richtig ist auch, daß 
der Peyote ein Gott ist, ein, wie wir am eigenen Leib 
erfahren haben, sehr mächtiger Gott. Also ist Peyote der 
christliche Gott. 

Gegen diese Logik war nichts auszurichten, und es kam 
zu dem üblichen Kompromiß zwischen Heidentum und 
Christentum. Im achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert 
war selbst der kollektive, mit Zeremonien verbundene Ge¬ 
nuß von Peyote keine Sünde mehr. In den Vereinigten 
Staaten ist der Peyotekult als christlicher Gebrauch an¬ 
erkannt, und die Peyotegemeinden sind eine „chartered 
sect" im Sinn der Federalgesetze unter dem Namen „The 
Native American Church". Die Indianerkirchen von Ne¬ 
braska, Iowa und Kansas erklären allerdings den Peyote 
als „vegetal incarnation of the Holy Ghost", eine wahrhaft 
mystische Formulierung, denn eine pflanzliche Fleischwer¬ 
dung ist nicht leicht vorstellbar. 

Ein alter Missionsort im mexikanischen Staat Coahuila 
heißt „El Santo Nombre de Jesus Peyote", und einige In¬ 
dianerkirchen sind der „Mutter Gottes von Peyote" ge¬ 
weiht. Auf den Altären liegen Kruzifix und Bibel neben 
einem großen Peyote, dem Allerheiligsten. Die zwölf Teile 
eines Fächers aus Adlerfedern, mit dem das heilige Feuer 
geschürt wird, sind Sinnbilder der zwölf Apostel. Ein Erd¬ 
wall um die Kirche bedeutet den Kalvarienberg. Ein Topf 
mit Peyotesaft ersetzt das Taufbecken. Mit dem Ritus, den 
die Eucharistie für die Verabreichung von Brot und Wein 
vorschreibt, werden Peyote und Wasser genossen. Die 
christlichen Festtage feiern die Indianer mit den Gebräu¬ 
chen ihrer Ahnen. 


620 



In mondblauen Nächten, die ein längst abgeschaffter, 
aber nicht vergessener Kalender bestimmt, ziehen Indios 
trommelwirbelnd aus ihren Dörfern, um den Gott Peyote 
zu suchen, ihn aus der Gefangenschaft zu erlösen, in der 
ihn ein Hirschgott hält. Wenn sie den Hirschgott mit Pfeil 
und Bogen erlegt haben, befreien sie den Peyote aus dem 
Kerker des Erdbodens und führen ihn heim in rituellem 
Triumph. 

Einst war der Peyotesaft ein Kriegsmittel gewesen, ein 
gütiges Kriegsmittel selbst für den Feind, denn die in 
Peyote getränkten Pfeile betäubten ihn nur. Wurde der 
Gefangene die Opferpyramide aufwärts geführt, dann 
spürte er keinerlei Todesangst, und die Extraktion seines 
Herzens vollzog sich sozusagen in Narkose. 

Für den Freund aber war die Gottheit noch mehr, sie 
vertrieb ihm Hunger und Durst während des Feldzugs, 
verlieh ihm Kampfesfreude, schenkte ihm Ausdauer in 
der Schlacht und nahm ihm bei einer Verwundung jeden 
Schmerz, oh, gutes Gift. 

Vorbei sind die Stammeskriege mit dem Pfeil, dem Bo¬ 
gen, durch Gebirg und Tal, vorbei die Menschenopfer, 
vorbei der Aberglaube, dag es gegen Hunger und Durst 
eine andere Remedur gäbe als Essen und Trinken. Aber 
noch immer wird nördlich vom Wendekreis des Krebses 
in heiligen Nächten der Peyote geerntet. Er gilt den Indios 
als Arznei der Arzneien, bei ihnen ist das Wort „Medizin" 
mit dem Wort Peyote identisch. 

Diese Droge ist allmächtig, sie heilt gegensätzliche 
Krankheiten. Einerseits vertreibt sie Mannesschwäche, an¬ 
dererseits wirkt sie gegen Sexualgelüste. Sie fördert Kin¬ 
dersegen und hilft gegen unerwünschte Liebesfolgen. Sie 
beseitigt Erregungszustände ebenso wie Apathie. Dies und 
andere Wunder beeiden die Indios. 

Bei den mitternächtlichen Zeremonien wird den Sterben¬ 
den ein Scheibchen der gedörrten Peyotekrone in den 
Mund gelegt und mit dem zwölfgliedrigen Adlerfächer der 
Rauch der sakralen Flamme entgegengewedelt, auf dag 
der Tod entweiche. 

Für die Peyotegläubigen in den dürren Hochsteppen 
von Nordmexiko ist dieses Mittel gegen Schmerz und Tod 


621 



leicht erhältlich. Sie wissen, wo und wann man es auf¬ 
suchen darf. Schwerer haben es die Glaubensgenossen der 
Nachbarstämme, die müssen Einkäufer ins peyotegeseg- 
nete Gebiet senden und zwanzig bis fünfundzwanzig Cen¬ 
tavos für ein Pfund der Kaktusköpfe zahlen. 

Aber nicht nur an den Konsumenten wird die Gottheit 
verkauft, sondern auch an den Zwischenhandel, der in 
Nuevo Leon sitzt und seinerseits den Großhandel in der 
Grenzstadt Laredo (USA) beliefert. Die Peyotefirmen ver¬ 
sorgen nicht weniger als vierunddreißig nordamerikanische 
Indianerstämme bis hinauf nach Kanada. Sechs Dollar 
werden für tausend Köpfe der Pflanze bezahlt. Sowohl 
der Peyotekaktus wie die vier Alkaloide, die er enthält 
(Anhalonin, Meskalin, Anhalodin und das besonders gif¬ 
tige Lophophorin), sind in den Bundesgesetzen Nordame¬ 
rikas als erlaubte Narkotika angeführt. 

Und da nun mal weiße Hände im Peyotegeschäft drin¬ 
nen sind, so liefern sie auch fürs weiße Geschäft, und der 
Gott oder Teufel Peyote wird nach Europa geschickt, um 
dort die Segnungen des Schmerzvergessens einschließlich 
verzückter Räusche zu spenden. 

So pur jedoch, wie die Indianer die Panazee schlucken, 
so pur kann sie der Europäer nicht vertragen, er würde in 
Starrkrampf verfallen, wahrscheinlich in einen, aus dem 
es kein Erwachen gibt. Nur mit Antidoten gemischt und 
in winzigen Dosen dürfen Mescal Buttons eingenommen wer¬ 
den, wenn sie als zeitweiliges und nicht als endgültiges 
Schlaf- und Beruhigungsmittel ihre Wirkung tun sollen. 

Ich habe mit zwei abenteuerlustigen Freunden einen 
Aufguß von Peyote getrunken, um aus eigener Erfahrung 
die Wirkung schildern zu können. Aber alles, was ich aus 
eigener Erfahrung schildern kann, ist, daß wir alldritt das 
große Kotzen bekamen. 

Ein paar Tage später hörte ich, ein österreichischer Psy¬ 
chiater, dessen Untersuchungen über Rauschgifte in der 
Peyoteliteratur zitiert sind, mache in Mexiko Peyoteexperi- 
mente an sich selbst. Ich war neugierig, was der Fachmann 
der Pflanze entlocken werde. Aber er, durch jahrelange 
Selbstversuche mit Giften geschwächt, starb kurz darauf 
ganz plötzlich. 


622 



An Europas Universitäten wurden Versuche teils mit 
synthetischen Peyotepräparaten, teils, wie in den Vor¬ 
worten zu den Büchern „Der Mescalinrausch" von Kurt 
Bering er und „Le Peyotr von A. Rouhier erwähnt ist, mit 
der Pflanze selbst gemacht; die Exemplare stammten vom 
tschechoslowakischen Konsul in Mexiko, dem gleichen, 
der mir die Pflanze zu meinem kläglich mißglückten Ex¬ 
periment stiftete. Auf den psychiatrischen Kliniken von 
Paris und Heidelberg sind die Experimente besser gelun¬ 
gen. Die Versuchspersonen erfuhren die seltsamsten Ver¬ 
änderungen ihrer Sinnesfunktionen: Die Gesamtpersön¬ 
lichkeit spaltete sich, und die fünf Sinne verschmolzen mit¬ 
einander, so daß der Trunkene Farben hörte, Geräusche 
sah, Empfindungen roch und Gerüche greifen konnte. 

Wer dieses Gottes voll ist (oder dieses Teufels), schwelgt 
in szenenreichen Märchenwelten, erlebt das Aufleuchten 
vielfarbiger Fluiden und ihre Vermählung in einem Braut¬ 
bett vibrierender Lichtfülle. Stilisierte Feuerbrände um¬ 
zingeln seinen Körper, ohne ihm wehe zu tun. 

Alle künstlichen Paradiese aus Opium und Haschisch, 
die uns Thomas de Quincey, Baudelaire und Gautier dich¬ 
terisch rekonstruierten, müssen vor denen des Mescalin- 
rausches verblassen. Wenn man die Protokolle über die 
klinischen Experimente und die Selbstschilderungen der 
Versuchspatienten liest, so versteht man, daß die Indios 
den Peyote für einen Gott und die Missionare ihn für den 
leibhaftigen Gottseibeiuns hielten, versteht man, warum 
sich die Kranken in ihrem Schmerz und die von ihrer Ge¬ 
sundheit gelangweilten Gesunden dem Peyote verschrei¬ 
ben. Beiden hilft er, dieweil er nicht nur Gott und nicht 
nur Teufel ist, sondern Gott und Teufel zugleich. 



DER HAFEN DER SEERÄUBER 


Auf meinen Reisen begegnete ich oftmals Bekannten, 
die an der eben von mir passierten Stelle steckengeblieben 
waren. Einen Mitschüler traf ich als Sträfling in Sing Sing 
an, einen Regimentskameraden als Fischer in Tadschiki¬ 
stan, einen Fußballkollegen als Toilettenmann des Kasinos 
von Monte Carlo, und so und überall. 

Auch mit indirekten Bekannten kam ich so zusammen, 
mit Verwandten und Freunden von Freunden, mit Men¬ 
schen, die ich aus Büchern kannte oder vom Hörensagen. 
Manchmal lebten sie, manchmal fand ich ihren Namen auf 
dem Ortsfriedhof. In dem Garnisonstädtchen Gyula 
tauchte mir Albrecht Dürer der Ältere und sein Geburts¬ 
haus auf, ganz unvermutet, denn ich hatte nicht gehört, 
daß der Vater des deutschen Meisters ein Ungar gewesen. 

Eine Herberge im Kaukasus ... Dort erzählte mir der 
Portier, ein Alkoholkopf und ehemaliger Kommissar der 
Ochrana, er habe einmal, in den achtziger Jahren, den 
kleinen Bruder des Zarenmörders Uljanow freigelassen, 
den künftigen Lenin. „Ich habe geglaubt", lallte er, „der 
Junge wird uns nicht gefährlich werden .. 

Auf meiner Fahrt nach dem Hafen Campeche im Süd¬ 
ostwinkel des Golfs von Mexiko denke ich, daß ich dort 
gewiß keinen Lebenden und keinen Toten treffen werde, 
den ich kenne. Ich werde also, durch nichts abgelenkt, 
in diesem geschichtslosen, bekanntenlosen Campeche den 
Chicle studieren, um dessentwillen ich hinfahre. 

Da ich aber durch die Stadt gehe, finde ich sie auf See¬ 
seite und Landseite eingeschnürt in bärbeißige Wälle mit Zin¬ 
nen, Schießscharten, Bastionen und Wachtürmen; sie spä¬ 
hen nach allen Graden der Windrose. Demnach hat dieser 
Ort sein Leben doch nicht so friedlich und sorglos ver¬ 
bracht, wie ich gedacht hatte. Von welcher Großmacht, 
frage ich mich, drohte diesem weltenfernen Wasserwinkel 
soviel Gefahr? 


624 



Nun, das ist leicht zu erfahren: Piraten sind es gewesen, 
denen diese Festungswerke Angst und Schrecken einjagen 
sollten. Piraten! Als Junge waren sie meine Lieblings¬ 
helden. In meinen Mannesjahren kaperten sie mich von 
neuem, ich wollte ein Buch schreiben über sie und die 
Zeitgebundenheit ihrer Taten. 

Die Zeit, an die sie gebunden waren, war die Zeit der 
neuen Kolonialwaren. Spanien betrachtete diese Produkte, 
einschließlich der Arzneien, als sein gottgegebenes Mono¬ 
pol und wollte nichts davon ans Ausland verkaufen. Jedoch 
gerade im Ausland war ein mächtiges Manufakturwesen 
entstanden. Flandern, Frankreich, England wollten die 
Textilfasern und Färbemittel Westindiens, vor allem Bau¬ 
holz (Campeche-Holz), Cochenille und Indigo mit Gewalt 
haben, erstens, weil sie sie brauchten, und zweitens, um 
das habgierige Imperium Spanien zu schwächen. Dies war 
die Außenpolitik des aufstrebenden Bürgertums in Europa. 

Seine Innenpolitik war der Kampf gegen den Feudal¬ 
adel, dessen Vorrechte und Willkür. Immer deutlicher 
wurde ersichtlich, daß das Geld Sieger bleiben werde über 
die Wappen und Schwerter. Mancher Junker verließ das 
väterliche Schloß und ging, sofern ihn Tatendrang beseelte, 
über die See, auf die See. 

Mein Buch über die Seeräuber blieb ungeschrieben, weil 
es keinen Ort und keine Stelle gab, wo ich recherchieren 
konnte. Ihr Tatort war das Meer. Die Vorbereitung zur 
Schlacht, die Aktion der Enterhaken und Enterbrücken, die 
Brandgranaten, das Gemetzel an Bord, das Versenken der 
Schiffe - all das war, kaum vollbracht, zu Wasser ge¬ 
worden. Wie sollte ich auf der Meeresfläche feststellen, 
welchen shakespeareschen Szenen sie einst als Bühne ge¬ 
dient? 

Daß das Festland mitwirkte an den blutigen Wasser¬ 
pantomimen, hatte ich in meiner Knabenzeit nicht. beach¬ 
tet, und später fand ich die Nebenschauplätze auf dem 
Land unwichtig und zu entlegen. Ich vergaß sie und fuhr 
deshalb in Campeche mit dem Gedanken ein* dort keinen 
bekannten Namen anzutreffen. 

Und nun begegne ich hier den schwimmenden Räubern 
abermals. Diesmal werden sie mir nicht entrinnen, und 


40 Kisch VII 


625 



sollte dabei auch meine Chicle-Reportage in die Binsen 
gehen I 

Ich fange im Museum an. Hier gibt es eine eigene Ab¬ 
teilung „Pirateria" mit Schiffs ge schützen und ihrer steiner¬ 
nen Munition, mit Resten und Modellen von Galeonen, 
mit Stahlstichen von Schlachten und Schiffsexplosionen. 
Auf einem kolorierten Seestück sieht man, wie die Flottille 
des Flibustiers Lorenzillo die Stadt Campeche angreift. 
Ein anderes ist ein Genrebild: der Korsar Rock Brasiliano 
befehligt eine sadistische Auspeitschung. Mehr als ein 
Dutzend Porträts aus der Heldengalerie der Wasserwege¬ 
lagerer hängen an der Wand, und ich feiere ein Wieder¬ 
sehen mit vertrauten Gestalten. 

Glanzstück der Ausstellung ist ein Steuerruder. Man 
konnte es als einen meisterhaften Bronzegug bezeichnen, 
wenn sich nicht bei näherer Betrachtung herausstellte, dag 
es aus Edelholz geschnitzt ist. Es stellt einen Windhund 
in gestrecktem Galopp dar. Eine Schlange umschlingt ihn, 
ringelt sich seinem Kopf zu. Vor Angst hat sich der vier¬ 
beinige Laokoon in eine drei Meter lange Horizontale ver¬ 
wandelt, er hofft, durch die Entfaltung rasender Geschwin¬ 
digkeit der Schlange entlaufen, aus seiner eigenen Haut 
schlüpfen zu können .;; 

Das Korsarenschiff, von dieser Skulptur gesteuert, wurde 
in der Nähe von Campeche auf See gerammt und ver¬ 
mochte sich, seinem dahinjagenden Windspiel zum Trotz, 
nur langsam bis zur Mündung des Rio Viejo zu schlep¬ 
pen. Dort, beim Dorfe Palizada, sank es auf den Flug¬ 
grund. 

Vor einer Vitrine mit gefälschten Maya-Skulpturen 
erfahre ich, dag die Falsifikate von einem ortsansässigen 
Antiquitätenhändler stammen. Ich suche ihn auf, und Don 
Agostino bietet mir Raritäten an, die nach seiner Versiche¬ 
rung samt und sonders persönlicher Besitz der Bukaniere 
gewesen waren. „Sehen Sie, Senor, dieses preiswerte Ter- 
zerol trägt das Monogramm H. M.; der Seeräuber Henry 
Morgan hat damit mehr Spanier erschossen, als je ein 
Mensch Spanier erschog." 

Mit der erwarteten Ehrfurcht umspanne ich Morgans 
Mordwaffe, aber ich weig, dag seine Hinterlassenschaft 


626 



kostbarere Stücke enthält. Vor siebzehn Jahren fuhr ich 
als Leichtmatro.se durch die Karibische See, an Cocos Is¬ 
land vorbei. Die Mannschaft stand auf Deck und schaute 
sehnsuchtsvoll auf die Insel. Dort liegt der Schatz Henry 
Morgans vergraben und wurde nie gefunden, die Prisen 
seiner Prisenfahrten, Edelsteine, Perlen, Goldbarren. Und 
ich sollte mich mit einem Terzerol begnügen? 

Don Agostino hat noch allerhand anderes aus der Pi¬ 
ratenzeit. Diese zierlichen Brandbomben zum Beispiel, aus 
Eisen gegossen. Oder diese Spitze eines Enterhakens. Oder 
dieser spanische Säbel da, in den Griff ist eine Madonna 
graviert. „Wie Sie sehen, wurde sie wegzukratzen ver¬ 
sucht. Der Erbeuter, ein englischer oder holländischer Lu¬ 
theraner, mochte jedenfalls die Heilige Jungfrau nicht. - 
Sehen Sie dieses rostige Dolchmesser mit den bogenförmi¬ 
gen Scharten auf beiden Seiten der Klinge?" Ja, ich sehe 
es. Ich weiß aus meiner Jugendzeit, daß der Freibeuter, 
wie er im Buche steht, mit der linken Hand das Pistol ab¬ 
schießen, in der Rechten den Krummsäbel schwingen und 
den Dolch im Munde halten muß, dieweil er ja „bis auf 
die Zähne bewaffnet" ist. Aber niemals hatte ich bedacht, 
wie er den Dolch im Munde festhält. Nun weiß ich es: 
Für die Zähne waren eben die Scharten da, eine sehr 
praktische Idee der Seeräuber oder - des Antiquitäten¬ 
händlers. 

Authentischeres Monument aus den seeräuberischen Zeit¬ 
läufen ist der Festungsgürtel, gebaut von 1636 an, ein 
Jahrhundert lang und mehr. Ganz Campeche ward zur 
Zitadelle, selbst der Fischgeruch konnte nicht hinaus und 
ist noch heute da. 

Um zu atmen, spazierten die Bürger, sofern kein An¬ 
griff zu gewärtigen war, auf die Alameda hinaus. Diese 
ist eines der typischen Glacis, wie sie zur Zeit des Roko¬ 
kos auch in den befestigten Residenzstädten Europas ent¬ 
standen, halb Baumgarten und halb Steinmetzarbeit, halb 
Korso und halb Reiterschau. 

Wenige Schritte von der Alameda, im Falle eines Alarms 
also gleich zu erreichen, erhob sich die Umwallung der 
Stadt, ein Sechseck, kilometerlang und neun Meter hoch. 
Ich gehe das Sechseck entlang auf dem Parapett, auf dem 


627 



einst Schildwachen patrouillierten. Ich erklimme die 
Türme, aus deren Luken Fernrohre kreisten. Ich steige die 
Rampen empor, auf denen einst Kanonen und Lafetten 
hinauffuhren zu den Bastionen. 

Wo die Kasematten waren und die Besatzung gewohnt 
hatte, wohnen heute Soldaderas, Soldatenfrauen und Ge¬ 
liebte mit zahllosen Kindern. Durch ein paar Palmen¬ 
zweige ist jede Kasematte symbolisch in Wohnungen ge¬ 
teilt. 

Vom Dach der Türme spähe ich über Meer und Stadt. 
Die See geht hoch und nieder und tut als hätte sie nichts 
gesehen. In der Stadt unter mir sind die Tatorte aus der 
Seeräuberzeit geblieben. 

Dort an der Hafenstraße, aus der eine Mole ins Wasser 
vorstößt, pflegten die Freibeuter lautlos in lautloser Nacht 
zu landen und schwärmten aus in den Schlaf der Bürger. 
Dort drüben auf dem großen Platz zwischen Kirche und 
Regierungshaus schlossen sie ein Karree und verkündeten 
unter Trommelwirbel: Jeder Bürger habe zuerst, bei To¬ 
desstrafe, seine Waffen abzuliefern, nachher, bei Todes¬ 
strafe, seine Juwelen, und dann, bei Todesstrafe, sein 
übriges Hab und Gut. Am gründlichsten hauste der eng¬ 
lische Kapitän William Parker, dessen die Campecher 
Chroniken als „Guillermo Parque" gedenken. Er ließ im 
Jahre des Heils 1597 Haus für Haus ausrauben, alle Spi¬ 
rituosen austrinken und beorderte schließlich, bei Todes¬ 
strafe, sämtliche Frauenspersonen von dreizehn bis zwan¬ 
zig Jahren auf den Marktplatz. (Um sich von ihnen Essen 
kochen zu lassen, dachte ich als Knabe.) 

Vor dem Bollwerk San Carlos, in dem ich den Soldaten¬ 
kindern Taschenspielertricks zeige, wurde einmal ein Gal¬ 
gen gezimmert. Die höchsten Bäume der Gegend waren 
dafür geopfert worden. Morgen sollte einer auf ihnen 
hängen, der einen weithin gefürchteten Namen trug, wie¬ 
wohl er seinen richtigen Namen nie verriet; die Schiffer 
und Küstenbewohner kannten ihn nur als Bartholomäus 
den Portugiesen. 

Bartolome Portugues war 1663 während einer Brand¬ 
schatzung Campeches von einer herankommenden spani¬ 
schen Flottille geschlagen und gefangengenommen worden. 


628 



Nun lag er im Bunker einer Fregatte, gebunden an Hän¬ 
den und Füßen mit unzerreißbaren Stricken aus Henequen. 
Vom Strand her, just von der Stelle, wo ich eben bin, 
drangen Axtschläge an sein Ohr, und er wußte, man zim¬ 
mere seinen Galgen. Wütenden Auges sah er sich in sei¬ 
nem Gefängnisloch um. 

Da lagen nur leere Tongefäße für Wein und Bündel 
von Werg. Bartolome schob sich an dieses Zeug heran 
und stopfte das Werg in die bauchigen Töpfe. Dann 
zwängte er sich und sie aus dem Bullauge, hielt sich im 
Wasser an ihnen, den schwimmenden Gefäßen, mit seinen 
gefesselten Händen fest und steuerte, mit gefesselten Fü¬ 
ßen, ans Ufer. Hier rieb er sechs Stunden lang seine Hand¬ 
fessel an der Kante eines Felsens. Als endlich die unzer¬ 
reißbaren Seile aus Henequen rissen, konnte er ostwärts 
wandern, wo er in versteckter Bucht eine Gruppe seiner 
Berufskollegen wußte. Er bewog sie zu einem Überfall auf 
Campeche, aus dem die spanische Flottille wieder abgese¬ 
gelt war. Gestern hatte die Stadt geweint, weil Bartolome 
entwichen war, heute weint sie, weil er wiederkam. 

Nächster Punkt meines Rundgangs ist das Regierungs¬ 
gebäude, darin die Ratsherren gar häufig mit Seeräuber^ 
abwehr befaßt waren. Wohl die seltsamste Tagung fand 
dort statt, als man das Jahr 1708 schrieb. Im Innern des 
Landes Campeche und auch in der Stadt lagen sich welt¬ 
liche und kirchliche Obrigkeiten in den Haaren, die Situa¬ 
tion glich einem Bürgerkrieg. Von außen aber drohte noch 
schwerere Gefahr. Der tollkühne Seeräuber Barbillas 
kreuzte vor der Reede und hatte bereits, gleichsam im Ge¬ 
sichtskreis der Festungsartillerie, eine gewaltige Brigan¬ 
tine erbeutet. 

Da entstiegen plötzlich am hellichten Tage zwei Män¬ 
ner einem Ruderboot. Des einen Körper war ein Prisma 
und sein Kopf ein Würfel, den ein riesenhafter Schnurr¬ 
bart in zwei Hälften teilte. „Barbillas", flüsterten die Fi¬ 
scher im Hafen und glaubten sich selbst das Wort nicht, 
das sie flüsterten. Der andere sah wie ein Grande aus, und 
in der Tat, es war Seine Exzellenz Don Fernando Meneses 
Bravo de Saravea, vom spanischen König mit diktato- 
rialen Vollmachten entsandt, um sowohl den Streit der 


629 



Behörden zu beenden als auch dem Piratenwesen für im¬ 
mer und ewig den Garaus zu machen. 

Knapp vor dem Ziel war die Fregatte, auf welcher der 
neue Gouverneur mit seinem Stabe und seiner Familie 
gen Campeche fuhr, von Barbillas gekapert worden, und 
der Seeräuberhäuptling verlangte ein Lösegeld von 14 000 
Goldpeseten. Aber der Gefangene hatte so viel Geld nicht 
bei sich. So beschlossen Räuber und Gouverneur, gemein¬ 
sam in die Stadt Campeche zu rudern, nachdem sie ein¬ 
ander je einen Eid geleistet. Schwur des Gouverneurs: Ich 
will das Geld ohne Hintergedanken auftreiben. Schwur des 
Barbillas: Falls ich zur vereinbarten Stunde nicht an Bord 
zurückkehre, werden die Angehörigen des Gouverneurs 
mit Teer begossen und langsam verbrannt; außerdem wird 
Campeche zu Wasser und zu Lande angegriffen und ein¬ 
geäschert werden. Dann ruderten sie los. 

Aufregung herrscht in der eilig einberufenen Ratsver¬ 
sammlung. Der Alkalde und die Regidores, Bürgermeister 
und Ratsherren, wollen sich einerseits bei dem künftigen 
Diktator in gute Gnade setzen, andererseits finden sie die 
Summe unerschwinglich; sie weisen auf die Ebbe in der 
Staatskasse hin und auf die besonders günstigen Chancen 
für einen Widerstand. 

Aber da wohnen, wider alles Recht und Gesetz, der Sit¬ 
zung zwei Männer bei, die nicht ernannte Stadtväter sind, 
und mischen sich in die Debatte. Der Rechteckige mit dem 
Riesenschnurrbart begründet die Höhe des Lösegelds mit 
den Kosten und Risiken seines Unternehmens. Der neue 
Gobemador vertritt den Standpunkt, daß die Höhe des 
Lösegelds seinem Rang entspreche. 

Die beiden siegen über das Ratskollegium, das Löse¬ 
geld wird bar bezahlt, Barbillas rudert zurück und sendet 
am nächsten Tag die Angehörigen des Gouverneurs nach 
Campeche. 

Hinter dem Regierungsgebäude führt der Festungswall 
weiter und wird nach einigen Schritten zur Rückwand einer 
langgestreckten Markthalle. Lebende Riesenschildkröten, 
Guacamos, liegen einzeln oder übereinandergeschichtet auf 
dem Boden, einige sind an die Wand gelehnt. Alle strek- 
ken dem Marktbesucher ihre fetten nackten Bäuche ent- 


630 



gegen. Wie zwergisch verkrüppelte Arme und Beine hän¬ 
gen die Flossen an beiden Seiten des Körpers und zeigen 
durch krampfhaftes Flattern an, daß sie einem lebendigen 
Wesen zugehören. 

Eine Schildkröte nach der anderen wird aus dem Stapel 
gezerrt, der Schlächter versetzt ihr mit dem Messerknauf 
einen betäubenden Schlag auf den Kopf, durch schneid et 
die Gurgel, trennt Arm- und Beinflossen vom Leib und 
hämmert den Brustpanzer los. Nun ist die Anatomie klar¬ 
gelegt, blau, hellrot und violett verzweigen und kreuzen 
sich Därme, Muskeln und Adern innerhalb der metergro¬ 
ßen Rückenschale. 

Der abgeschnittene Kopf wird in eine Ecke geworfen 
und das Herz auf einen Tisch gelegt. Es schlägt weiter, 
und ich warte auf seinen Tod. Aber da sich der Herzschlag 
nicht einmal verlangsamt, wende ich mich dem Schildkrö¬ 
tenhandel zu. Schildkrötenklein, Flossen, Leber und Gela- 
tina, ein Stück Mark aus dem Brustpanzer werden ver¬ 
kauft oder ein Fläschchen Schildkrötenöl, das den Schwind¬ 
süchtigen als vorletzte Ölung dient. Weggeworfen wird 
der moosbewachsene Rückenpanzer, der eine Austernschale 
in hundertfacher Vergrößerung ist. 

Die Riesenschildkröten sind kein Material für das Schild¬ 
pattgewerbe, es sind die kleinen, braun und gelb gespren¬ 
kelten Carey-Schildkröten, die ihren durchscheinenden 
Panzer den Schnitzern liefern. 

Ohne Unterlaß stoßen von den Zinnen der alten Fe¬ 
stungsmauer Aasgeier in die dachlose Markthalle herab, 
gehen mephistophelischen Schrittes auf dem blutigen Fu߬ 
boden hin und her, picken sich ein Stück aus dem Assorti¬ 
ment der Schildkrötenleiber und jagen im selben Augen¬ 
blick feige auf ihre Zinnen zurück. Anders die Schmei߬ 
fliegen: träge und unbekümmert hocken sie in Mengen 
auf ihrer Beute. 

Ich schaue wieder auf den Tisch - und noch immer, ob¬ 
wohl zwei Stunden vergangen sind, pochen die Schildkrö¬ 
tenherzen. Es scheint, als trenne sich ein Herz, das länger 
als andere Herzen einem Lebewesen angehörte, auch 
schwerer vom Leben. 

„Wie lange lebt eine Schildkröte?" Mit dieser Frage an 


631 



die Männer am Verkaufstisch unterbreche ich meine Bio¬ 
philosophie. 

„Wir verkaufen keine, die älter ist als hundert Jahre." 

„Und wie erkennt man, daß sie nicht älter ist?" 

„Die älteren zeigen Zeichen von Senilität, können die 
Gliedmaßen kaum noch bewegen. Die Fischer, die von den 
Schildkröteninseln bei Venezuela und Jamaica herüber¬ 
kommen, bringen uns keine so alten Tiere." 

„Wie alt kann eine Schildkröte werden?" 

„Zweihundert Jahre", sagt einer, und der andere: „Drei¬ 
hundert Jahre." Ein dritter spricht die häufigste Phrase 
Mexikos: „Quien sabe, wer kann das wissen?", aber er 
spricht sie wahrlich mit mehr Berechtigung aus, als sie all¬ 
gemein gebraucht wird. Wer kann wissen, wie alt Schild¬ 
kröten werden? 

Jedenfalls sind sie, und das verdoppelt mein Interesse, 
jedenfalls sind sie Zeitgenossen der Seeräuber. Sie kom¬ 
men, wie ich eben hörte, von den Inseln bei Jamaica. Dort 
diente die Isla de las Tortugas den Seeräubern als Flotten¬ 
basis, Depot und Verkaufsplatz der Beute, als Rekrutie¬ 
rungsstelle, Ersatzformation und vor allem als Vergnü¬ 
gungspark. 

Dorthin kamen die Korsaren siegreich oder verlustreich 
für kurze Zeit, und dorthin kamen auch die trächtigen 
Schildkrötenweiber. Auf der Isla de las Tortugas müssen 
sich Seeräuber und Schildkröten getroffen haben. 

Sagt, Schildkröten, was wißt ihr von der Seeräuberzeit? 
Saht ihr ineinander verdolchte Menschen zu euch hinab¬ 
stürzen? Saht ihr himmelhoch brennende Schiffe, hörtet 
ihr, wie sie krachend und zischend in eure Tiefe sanken? 
Vernahmt ihr sich kreuzende Kanonenschüsse, kamt ihr 
an Menschen vorbei, die tot und doch noch mit wildem 
Blick auf dem Meeresgrund saßen? 

Erzählt mir von den Piraten, den Freunden aus meiner 
Jugendzeit, auf deren Spuren ich hier so unvermutet stieß. 



DER KAUGUMMI, 

ERZÄHLT VOM ENDE BIS ZUM ANFANG 


Zum erstenmal begegnete mir der Kaugummi als ein 
Auswuchs auf meiner Hose, irgendein Mitpassagier hatte 
ein Stück Kaugummi zu Ende gekaut und nachher auf mei¬ 
nem Deckstuhl bestattet, von wo der Leichnam auf meine 
Hose kam. Das war auf meiner ersten Überfahrt nach New 
York. Drüben sah ich dann allüberall Gummi-Kau-Boys, 
und auch die Girls kauten in allen Lebenslagen. 

Nächste Station war eine Untergrundbahnstation, wo ich 
ein Centstück in den Automaten schlitz stopfte, ein Dentyne 
empfing oder ein Beachnut, ein Spearmint oder ein Double 
Mint und selbst zu kauen begann und wiederzukauen. 

Unvermeidliche Folge war, daß ich eine Exkursion in 
die Kaugummifabrik von Long Island unternahm, wo ich 
beschämt sah, wieviel Mühe sich die „Shewing Gum Com¬ 
pany" meinetwegen und meinesgleichen wegen machte. 
Dort war es voll von Trommeln, von so großen Trommeln, 
daß selbst Tambourmajore aus Gigantengeschlecht auf 
ihnen keinen Wirbel zu schlagen vermöchten. Deshalb 
trommelten sich diese Trommeln selbst, wirbelten umein¬ 
ander und verübten ein Geratter, welches jedes Trommel¬ 
fell zu sprengen drohte. Ihre Inhalte aus Gummi rieben 
sich aneinander, nahmen süße und wohlriechende Ingre¬ 
dienzien auf, wurden hydraulisch gepreßt, automatisch zer¬ 
schnitten, elektrisch verpackt und motorisch davongefah¬ 
ren, dieweil die Trommeln weiter wirb eiten. 

Viele, viele und ereignisreiche Jahre nach jenen Zusam¬ 
menkünften mit dem Kaugummi begegnete ich ihm in 
einem Lande von weit gemächlicherer Art wieder, in Yuca¬ 
tan. Bei einem Spaziergang auf der Mole des Hafens Pro- 
greso sah ich, wie große und schwere Ballen in Barkassen 
geladen wurden. „Henequen?" fragte ich, denn ich hatte 
gelernt, daß Henequen, der Sisalhanf, das einzige Ausfuhr¬ 
produkt Yucatans sei. 


41 Kisch vn 


633 



„Nein, Herr", antwortete der Bootsführer, „das ist Chicle. 
Drüben ankert die ,Georgia', die bringt zweimal im Monat 
Chicle nach New Orleans oder nach Tampa in Florida. 
Freilich, soviel Chicle haben wir nicht wie unsere Nach¬ 
barstaaten Campeche und Quintana Roo. Bei uns gibt es 
dafür mehr Henequen." Das aber wußte ich schon. 

Ein paar Tage später geschah es, daß ich in Merida, 
der Hauptstadt Yucatans, mit einigen Freunden durch die 
63. Straße ging, als uns vier Männer entgegenkamen, von 
denen dreien je ein Arm fehlte. Vielleicht wären sie mir 
weniger aufgefallen, wenn alle vier einarmig gewesen wä¬ 
ren, denn in diesem Fall hätten sie Insassen eines Inva¬ 
lidenhauses oder einer chirurgischen Klinik sein können. 
Aber der vierte, der Zweiarmige, schien zu beweisen, daß 
es sich nicht um eine Gruppe von obligatorischer Ein- 
armigkeit handle. Ich verabschiedete mich eilig von mei¬ 
ner Gesellschaft und folgte den fünf Armen. 

Sie betraten den Flur des Hauses Nummer 455, auf 
dem eine Firmentafel „Mexican Exploitation C." sagte. 
Links war die Tür zu einem großen Büroraum geöffnet, 
aber von den Beamten kam keiner heraus, und von mei¬ 
nen Männern ging keiner hinein. Sie setzten sich auf eine 
Bank, redeten miteinander in Maya-Sprache und in feind¬ 
seligem Tonfall. 

Nach etwa einer halben Stunde trat ein älterer Beamter 
in die offene Tür, klappte eine Barre hinab, wurde dadurch 
zu einem Richter, und die vier Leute wurden zu zwei Par¬ 
teien, je einem Contratista und einem Capataz. Daß dem 
so war und was diese Worte bedeuten, erfuhr ich erst spä¬ 
ter. Die eine Partei führte Klage darüber, daß Bäume ihres 
Gebietes von der anderen Partei bearbeitet worden seien, 
der Beamte sprach ein Urteil, und zwei der Arme verlie¬ 
ßen, den Rechtsspruch offensichtlich als Unrechts Spruch 
empfindend, das Haus. 

Nun wandte sich der Richter an den fünften, welcher ich 
war. Aus der Verhandlung war mir nicht hervorgegangen, 
was die Mexican Exploitation exploitierte, ob Menschen, 
Bäume oder sonstwas, aber ich vermutete, daß es sich um 
Chicle handle, und so sagte ich, ich möchte gerne etwas 
über Chicle erfahren. Erschrocken antwortete er, er sei 


634 



nur ein mexikanischer Angestellter einer amerikanischen 
Firma und dürfte keine Auskünfte erteilen. Außerdem 
gäbe es in Yucatan überhaupt keinen Chicle oder nur sehr 
wenig, nur in den äußersten Randgebieten des Landes. 
Wenn ich etwas erfahren wolle, müsse ich nach Campeche 
fahren oder nach Quintana Roo. Dort werde mehr Chicle 
produziert als hier, viel, viel mehr. 

Ich wandte ein, in Merida werde doch Chicle gehandelt 
und mich interessiere auch der Handelsverkehr. 

„Ach Gott", antwortete der Beamte, „was ist das schon 
für ein Handelsverkehr bei uns! Wir sind nur da, weil es 
hier Banken gibt, das ist der einzige Grund. Da müssen 
Sie mal nach Campeche, da werden Sie sehen, was Chicle- 
Handel ist! Dort können Sie die allerinteressantesten Sa¬ 
chen erfahren. Jeden Morgen fährt ein Zug ab, und mit¬ 
tags sind Sie dort. Ein sehr bequemer Zug, wirklich. Soll 
ich Ihnen Abfahrtszeit und Ankunftszeit auf schreiben?" 

Meinen Wunsch, den Chicle wenigstens zu sehen, 
konnte er nicht gut abschlagen, und wir gingen - die bei¬ 
den von der Gerichtsverhandlung übriggebliebenen Männer 
schlossen sich an - in den Lagerraum hinüber. Unterwegs 
fragte ich den einen, wo er seinen Arm verloren habe. 

Statt seiner erwiderte der Beamte: „Wissen Sie, im Ur¬ 
wald gibt es sehr viele Gefahren, giftige Moskitos, manch¬ 
mal stürzt ein Baum, oder ..." 

Ich sah unsere beiden Begleiter lächeln und ergänzte: 
„... oder Konflikte unter den Chicleros, nicht wahr?" 

„Ja, Senor, das kommt oft vor", antwortete der Ein¬ 
armige und blinzelte. 

„Was geschah mit dem, der Sie verletzt hat?" 

„Bei Zusammenstößen greift die Polizei ein", sprang der 
nicht gefragte Beamte wieder ein, und die beiden anderen 
grinsten über die Idee eines Kommissariats im Dschungel. 

„Wurde er eingesperrt?" fragte ich. 

„Er war schon tot, als man mir den Arm abnahm." 

Eifrig lenkte der Beamte meine Aufmerksamkeit auf 
einen Block, den er von einem Stapel nahm: „Hier haben 
Sie den Chicle." 

Ich hätte ihn für einen Ziegel aus Lehm gehalten. „Das 
ist eine Marqueta, fast zehn Kilogramm. Fünf Marquetas 


635 



sind ein Quintal, genau gesagt sedisundvierzig Kilo¬ 
gramm. Die Arbeiter im Walde rechnen nur nach Mar- 
queta und Quintal. Unser Handelsgewicht ist ein Fardo 
oder sieben solcher Blocks. In Campeche könnten Sie weit 
mehr davon sehen." 

„Was sind das für Pfannen?" fragte ich und wies in die 
Ecke. 

„Darin wird der rohe Chicle gekocht." 

„Hier im Magazin?" 

„Nein, natürlich im Urwald." 

„Und wieso sind die Pfannen hier?" 

„Wir geben sie den Mannschaften in den Wald mit, viel¬ 
mehr unseren Contratistas." 

„Sind die Contratistas Ihre Angestellten?" 

„Sehen Sie, Senor, das alles können Sie wirklich besser 
in Campeche erfahren. Es gibt eine Eisenbahn, in sechs 
bis sieben Stunden sind Sie dort.. 

So war ich eines Tages in Campeche, einer Stadt an der 
Bucht von Campeche, einem Untergolf des Golfs von Me¬ 
xiko. Sie hat viel erlebt im Lauf der Zeiten, und das 
merkt man ihr an, äußerlich und innerlich. Das Korsaren- 
tum und mehr noch der Kampf gegen das Korsarentum 
haben dem Stadtbild den Stempel eingebrannt. Für die 
Piraten-, Kaper- und Sklavenschiffe der Karibischen See 
war die Bucht von Campeche, weil sie abseits von den 
Wegen der Christlichen Seefahrt lag, ein sicheres Gewäs¬ 
ser, ihr Hafen ein lockendes Ziel. Reiche Bürger saßen 
dort. Man konnte sie brandschatzen, ihnen Beute verkau¬ 
fen oder sie zwingen, prominenten Gefangenen Lösegel¬ 
der vorzustrecken. Mit Vorliebe fielen die Seeräuber über 
die Holzlager her und schleppten Campeche-Holz davon, 
das in Flandern und England als Färbemittel und Möbel¬ 
material so hoch im Preis stand wie Gold. 

Wenn das so weiterging, mußte Spanien um seine 
Herrschaft über Westindien und die Antillen zittern. Des¬ 
halb maß man der Stadt Campeche einen Panzer an aus 
drei Meter dicken Steinmauern mit Türmen und Festungen 
und legte eine martialische Garnison hinein. All das ist 
noch da, und die Garnison bläst unentwegt Signale, wenn 
ich schlafen will. 


636 



In den alten Bastionen und Kasematten stehen Hütten, 
erbaut aus Palmenzweigen und bewohnt von „Soldaderas", 
zu denen die Gatten nach getanem Kasernendienst zwecks 
Familienlebens kommen. Ein Teil der Festungsmauer dient 
als Wand für den Fischmarkt; von den Zinnen und 
Schießscharten halten Aasgeier Auslug nach den Fischen 
und Schildkröten, die hier geschlachtet werden. 

Gerade als ich in Campeche ankam, sollte, wie alljähr¬ 
lich, die Konjunktur einsetzen. Denn es war die Zeit, da 
die Chicleros nach achtmonatiger Urwaldarbeit und Ab¬ 
stinenz heimkehren und entbehrte Genüsse nachholen wol¬ 
len. Diesmal aber brachten sie wenig Geld mit, und so 
war's nichts mit Branntwein und Weib. Es hatte nicht ge¬ 
regnet, es war nicht genug Chicle abgeflossen. 

Im Cafe Principal fragte ich einen Tischnachbarn, wo 
das Verbandslokal der Contratistas sei. „Biegen Sie bei der 
Kathedrale rechts ein", sagte er, „es ist in der Straße dort." 

„Auf der rechten oder auf der linken Seite?" fragte ich. 

„Jesus!" rief er so laut, daß ich erschrak. Was hatte denn 
in meiner Frage gelegen, das ihn veranlaßte, den Heiland 
anzurufen? Aber es war nicht der Heiland, sondern sein 
Namensvetter am anderen Ende des Cafes, den mein Nach¬ 
bar rief und aufforderte, mich zu den Contratistas zu be¬ 
gleiten, ich sei ein Fremder. 

Jesus nahm mich in seine Obhut, und ich beschloß, ihm 
ein Trinkgeld von zwanzig Centavos zu geben. 

„Ich gehe ohnehin in das Büro", sagte Jesus unterwegs, 
„ich habe dort zu tun " 

Worauf ich überlegte, daß ein Trinkgeld von zwanzig 
Centavos zuwenig sei. Chicle steht an vierter Stelle der 
Ausfuhrstatistik Mexikos, und wenn jemand mit einem 
solchen Produkt zu schaffen hat, kann ich ihm selbst für 
einen geringen Dienst nicht weniger als fünfzig Centavos 
anbieten. 

„Haben Sie mit Chicle zu tun?" fragte ich zur Sicherheit. 

„Ja, mein Herr, ich bin ein Contratista." 

Müßte ich ihm nicht einen Peso geben? Meine Frage 
wurde zur Antwort, als ich an der Türe des Büros nicht das 
schlichte Wort „Contratistas", sondern das pompöse „Pro¬ 
ductores de Chicle" angeschrieben fand. 


637 



Jesus stellte mich dem Bürochef vor, der mir sagte, alle 
Informationen stünden im „Diario Oficial", dem Amtsblatt 
der Republik. Und er reichte mir den letzten Jahrgang. 

Alljährlich dekretiert der Präsident der Republik Me¬ 
xiko, welche Chicle-Gebiete im Lauf des Jahres angezapft 
werden dürfen. Der Urwald ist Staatseigentum, Territorio 
Nacional; auf privaten Besitzungen wächst der Chicle- 
baum (Chico Zapote, lateinisch: Achras Sapota) nur ver¬ 
einzelt. 

Ich lese die Dekrete und studiere eine enorme Land¬ 
karte; sie sieht aus wie das Projekt eines Villenviertels, 
aber das Gebiet, das sie darstellt, soll niemals besiedelt 
werden. Vierecke, jedes mit dem Namen eines Contrati- 
stas bedruckt, zeigen die Einteilung der Arbeitsgebiete. 
Die Mannschaft eines Contratistas darf nicht mehr als 
50 000 Hektar bearbeiten, das ist das staatlich festgelegte 
Maximum. Jesus beugt sich mit mir über den Urwald. 

„Welches ist Ihr Gebiet?" frage ich ihn. 

Er zeigt auf ein großes Quadrat, wo sein Name und 
die Ziffer 50 000 gedruckt sind. 

„Sie haben das Maximum?" Ich überlege, dafj bejahen¬ 
denfalls ein Peso Trinkgeld entschieden zuwenig wäre. 

„Ricardo Neveras hat ebensoviel", spricht Jesus milde, 
„er beschäftigt fast fünfhundert Chicleros. Aber 50 000 
Hektar sind nicht soviel, wie Sie glauben, wir einhundert¬ 
sechzig Contratistas von Campeche müssen ja innerhalb 
der Saison vier Millionen Kilogramm einbringen." 

Sache der amerikanischen Einkaufsgesellschaften (wie 
jener Mexican Exploitation in Merida, in die ich den drei 
einarmigen Männern gefolgt war) sei es, die Contratistas 
zu bevorschussen und ihnen die Ware abzukaufen, 330 Pe¬ 
sos pro Quintal. Davon bezahle der Contratista seinen Ar¬ 
beitern 126,50 pro Quintal. 

„Mehr als hundert Prozent Gewinn", bemerke ich, „nicht 
schlecht bei ein paar tausend Quintales." 

Jesus, der Bürochef und ein dritter Anwesender fangen 
zu seufzen an. 

„Bedenken Sie doch unsere Ausgaben, Senor. Fünfund¬ 
siebzig Pesos pro Quintal zahlen wir an Steuern. Und der 
Transport! Noch vor kurzem dauerte es fünf Wochen, ehe 


638 



zwanzig Mulas zwei Tonnen Chicle aus dem Wald zur 
Verladestelle brachten. Jetzt geht es per Flugzeug, jedes 
kann fünfhundert Kilogramm mitnehmen. Wir müssen der 
TAMSA (Transportes Aereos Mexicanos, SA) und der 
Chicle Linie Alfredo d'Argence sechzig Centavos pro Kilo 
zahlen. Zum Glück haben wir unsere eigenen Flugzeuge. 
Unser Verband hat drei, unser Mitglied Ricardo Neveras 
vier, und Ihr Freund Jesus hier hat drei." 

„Was machen Sie mit Ihren Aeroplanen, Don Jesus, 
wenn die Saison vorbei ist?" 

Der Mann, dem ich vor einer Weile ein Trinkgeld von 
zwanzig Centavos anbieten wollte, antwortet, er mache 
viele Geschäftsreisen. Manchmal fliege er mit Frau und 
Kindern über den Sonntag nach Miami hinüber. 

„Wollen Sie in die Vereinigten Staaten zurück, Senor?" 
fragt er mich, „ich lasse Sie gerne hinüberbringen." 

Die beiden anderen sind bemüht, mir weiter auseinan¬ 
derzusetzen, wie groß ihre Risiken und Ausgaben sind. 
Alles hänge davon ab, ob es in den Vereinigten Staaten 
genügend Zucker für die Kaugummifabrikation gäbe, und 
davon, wieviel Chicle die Amerikaner vom Malaiischen 
Archipel beziehen. 

Das Schlimmste aber sei die Gewerkschaft. „Sie hat uns 
einen Kollektivvertrag mit den Chicleros aufgezwungen. 
Und nicht nur mit den Chicleros. Auch mit den Frauen, 
die in den Sammelstellen kochen und waschen, müssen 
wir einen Vertrag schließen und sogar mit den Maultier¬ 
treibern und den Leuten, die an der Waage stehen." 

„Haben die eigene Gewerkschaften?" 

„Nein, das ist es eben. Sie gehören zur Gewerkschaft 
der Chicleros. Sagen Sie selbst, sind Köchinnen oder Maul¬ 
tiertreiber Chicleros? Aber das machen die Gewerkschafts¬ 
leute, um mehr Mitgliedsbeiträge zu kriegen, und wir 
haben nicht einmal bei unseren eigenen Leuten etwas zu 
sagen." 

Ich mochte ein Exemplar des Kollektivvertrages sehen. 
Bedauernd schütteln sie den Kopf, der Kollektivvertrag 
sei streng vertraulich, und es sei verboten, ihn aus der 
Hand zu geben. Ich verabschiede mich, drücke dem Herrn 
Jesus besonders dankbar die Hand. 


639 



Am nächsten Tag gehe ich ins Gewerkschaftshaus, ohne 
daran zu denken, daß der 5. Februar ist, nationaler Feier¬ 
tag. Niemand ist im Büro. Da jedoch ein Teil des Hauses 
als Sanatorium für Gewerkschaftsmitglieder dient, finde 
ich einige Kranke und Besucher auf dem Hof. Gleich ist 
ein Gespräch im Gang. 

Ein Alter, in dessen Gesicht der Urwald sproßt, drängt 
die anderen zur Seite. „Ihr Grünschnäbel, was wißt ihr 
davon, wie es früher war! Der Patron und der Capataz - 
das ist der Vorarbeiter, Senor - setzten das Gewicht unse¬ 
res Chicle nach Gutdünken fest und zogen uns vom Lohn 
ab, was sie wollten. Wem's nicht paßte, wurde weggejagt, 
vor allem, wenn der Contratista sein Kontingent erfüllt 
sah. Weggejagt.. . Aber kein Mensch kann allein aus dem 
Urwald heraus." 

„Wie kam ein so Entlassener dann nach Hause?" 

„Er mußte den Patron, mit dem er eben den Krach hatte, 
kniefällig um die Erlaubnis bitten, von der nächsten Fahr¬ 
gelegenheit mitgenommen zu werden. Oder er mußte tage¬ 
lang irgendwo an der Brecha lauern." 

„An der Brecha?" 

„Die Brecha, Senor... das kann man gar nicht so leicht 
erklären... Wissen Sie, der Urwald ist wie eine Gefäng¬ 
nismauer, von allen Seiten schließt er einen ein. Wenn 
keine Brecha da wäre, müßte man ersticken vor Angst. 
Sie ist eine Schneise, ein Pfad zwischen den Bäumen und 
den Pantanos, den Morästen, sie führt mitten durch die 
Schlingpflanzen wie ein Tunnel. Die Brecha wird mit Mes¬ 
sern geschnitten und muß immer wieder neu geschnitten 
werden, denn sie wächst schnell zu. Wer die Richtung ver¬ 
liert, ist selbst verloren." 

„Wozu lauerte man an der Brecha, wenn man entlassen 
war?" 

„Ja, richtig. Man wartete Tage und Nächte auf einen 
Maultiertransport, der den Chicle aus dem Wald brachte. 
Die Treiber nahmen den Mann mit, wenn er ihnen dafür 
bei den Maultieren half." 

„Konnte man nicht im Nachbargebiet Arbeit finden?" 

„Kein Entlaufener oder Entlassener wurde aufgenom¬ 
men, das hatten die Contratistas unter sich ausgemacht. 


640 



Man konnte höchstens über die Grenze gehen, die Landes¬ 
grenze meine ich. In Guatemala fand man immer Arbeit. 
Ich selbst war dreimal drüben." 

Das Wasser im Dschungel ist Regenwasser, und Men¬ 
schen und Maulesel trinken es zumeist ohne Schaden; aber 
oft, wenn es keinen Regen gibt, steht es zu lange im 
Tümpel und wird faulig. Die kleine Mücke, Mosca chi- 
ciera, verbeißt sich ins Ohr der Arbeiter. Die Moräste 
schicken dem Menschen das Schwarze Erbrechen auf den 
Hals. Von den Schlangen sind die Cuatronarices, die Vier¬ 
nasen, die ärgsten; früher verlor man unfehlbar das Bein 
oder den Arm, wenn man gebissen wurde, es dauerte 
mehrere Tage, bevor man an ärztliche Hilfe herankam. 
In den Schlingpflanzen verwickeln sich die schwerbepack¬ 
ten Maulesel, stürzen oft und brechen sich die Glieder. Die 
Bäume sind dem Flugzeug feind. Nirgends kann es eine 
Notlandung machen. 

„Wissen Sie, Senor, was draußen das einzige Ungefähr¬ 
liche ist?" fragt der Alte mit den Urwaldstoppeln im Ge¬ 
sicht und antwortet selbst auf seine Frage: „Ungefährlich 
sind nur die Raubtiere. Wir hören nachts Tiger brüllen 
und Jaguare, aber sie kommen nie in die Hütten. Nur ein¬ 
mal ist ein Kamerad abends unter dem Zapota-Baum ein¬ 
geschlafen und gleich darauf erschreckt aufgefahren: et¬ 
was war auf ihn gesprungen, ein Tiger. Aber der hatte es 
wahrscheinlich unabsichtlich getan und war im gleichen 
Augenblick weg. Mein Freund hatte beide Hosenbeine 
zerrissen und blutete ein wenig, das war alles." 

Einige Tage später spreche ich mit Maximiliane Banos 
Suärez, dem Gründer und Sekretär der Chiclero-Gewerk- 
schaft Seine Gewerkschaft habe es schwerer als alle ande¬ 
ren, sagt er, weil sie nicht aus Lohnarbeitern besteht, son¬ 
dern aus Akkordarbeitern mit schwankenden Einnahmen. 
Sie arbeiten nur in der Saison, ohne begrenzten Arbeitstag 
und ohne vorgeschriebenes Pensum, und zwischen Arbei¬ 
ter und Arbeiter gäbe es große Unterschiede. „Normaler¬ 
weise verdient ein Chiclero in den acht Monaten etwa tau¬ 
senddreihundert Pesos. Doppelt soviel kann ein ,Buen 
machete' verdienen, der Mann mit dem guten Messer, 
jedoch auch der Buen machete ist nicht immer ein Buen 


641 



machete. Es kommt auf die Bäume an, und sein Verdienst 
hängt auch .. 

.. hängt wohl davon ab, ob es in den Vereinigten Staa¬ 
ten genügend Zucker gibt und ob die Amerikaner nicht 
zu viel Chicle vom Malaiischen Archipel beziehen?" frage 
ich, mein bei den Contratistas erworbenes Wissen verwer¬ 
tend. Aber meine Frage erweist sich als fehl am Ort. 

„Das interessiert den Chiclero nicht, nur den Contra- 
tista. Wenn die amerikanischen Kompanien weniger be¬ 
stellen, so engagiert er eben weniger Chicleros. Aber der 
Chiclero zapft immer, soviel er zu zapfen vermag. Wieviel 
er zu zapfen vermag, hängt nicht allein von ihm ab, son¬ 
dern ..Diesmal unterbreche ich nicht mehr durch eine 
vorlaute Bemerkung darüber, wovon es abhänge. 

.. sondern vom Regen. Wenn es zuviel regnet, fließt 
mehr Wasser als Harz in die Recogedora und in den 
Chivo. Die Recogedora ist ein kleiner Sack, der unten am 
Baumstamm angelehnt, und der Chivo ist ein großer Sack, 
in den der Inhalt der Recogedora geschüttet wird. Der 
Chivo faßt dreiundzwanzig Kilogramm, die muß der Schnit¬ 
ter meilenweit zu den Hatos tragen, den Wohnhütten, und 
dort stellt sich oft heraus, daß er mehr Wasser geschleppt 
hat als Chicle. Aber wenn's nicht regnet, bringt der Chic¬ 
lero überhaupt nichts zu den Hütten, weil das Harz nicht 
vom Stamm abfließt. Der beste Schnitt ist nach dem Re¬ 
gen. Auf vielen Bäumen verharschen die Schnitte nach ein 
paar Jahren vollständig. Die Rinde erholt sich, aber manche 
Bäume sterben nach dem ersten Abzapfen. Deshalb ver¬ 
fügt die Regierung, daß jeder Zapota-Baum acht Jahre 
lang in Ruhe gelassen werden muß. Das ist schon gut, 
aber nun muß der Chiclero tagelang suchen, bevor er eine 
ergiebige Baumgruppe im erlaubten Gebiet findet. Jetzt 
haben wir durchgesetzt, daß der Chiclero für jeden Tag, 
den er mit dem Baumsuchen verbringt, sechseinhalb Pe¬ 
sos bekommt" 

Wenn der Baum ausgesucht ist, wirft der Chiclero sei¬ 
nen Lasso über einen Ast und zieht sich empor, zehn 
Meter, zwanzig Meter oder noch höher. Mit Steigeisen 
den Stamm zu besteigen ist verboten, damit die Rinde 
nicht beschädigt wird. Das Seil bleibt oben auf dem Ast 


642 



hängen und wird an den Stamm gebunden; der Chiclero 
sitzt in der Schlinge, sein Vorne kehrt er dem Baum zu 
und stützt sich mit den Füßen gegen den Stamm. Er schnei¬ 
det den Buchstaben V in die Rinde, ein V unter das andere; 
aus der Spitze des V tropft das Harz in das nächstuntere 
und schließlich in den an den Baum gelehnten Sack. 

Dieses Harz ist noch lange kein Chicle, obwohl ich sei¬ 
nerzeit in der Kaugummifabrik von Long Island den Chicle 
für das Rohprodukt hielt. Abends, in den Hatos, beim 
Licht der Gasolinlampe wird das Harz verkocht in jenen 
Pfannen, nach deren Sinn ich bei der Mexican Exploitation 
in Merida gefragt. Es muß „bueno de punto" gequirlt und 
gemischt werden, um möglichst feuchtigkeitsfrei zu sein. 
Gepreßt in hölzerne Mulden, erhärtet es dann zu jenem 
Ziegel, der mir bei der Mexican Exploitation als „Mar- 
queta" vor gestellt wurde. (In meinem Wörterbuch heißt die 
Übersetzung von Marqueta „der Klumpen, Jungfernwachs", 
aber ich weiß nicht, welche Art von Wachs Jungfern ha¬ 
ben.) 

„Unsere Gewerkschaft zählt sechstausend Mitglieder", 
sagt mir ihr Sekretär, „wenn ein Unternehmer mehr Ar¬ 
beiter braucht, als er unter unseren Mitgliedern finden 
kann, darf er andere anwerben, die aber sofort in die Ge¬ 
werkschaft eintreten müssen. Schon für diese Klausel des 
Kollektivvertrages allein müßten uns die Unternehmer 
dankbar sein. Früher engagierten und bevorschußten sie 
nämlich Leute, die sich oft gar nicht zur Arbeit einfanden 
oder bei der ersten Gelegenheit davonliefen. Heutzutage 
weiß jeder Chiclero, daß er mit dem Verlust seiner Zu¬ 
gehörigkeit zur Gewerkschaft auch jede Arbeitsmöglich¬ 
keit verliert. Vorarbeiter und Chiclero beziehen den glei¬ 
chen Akkordlohn. 126 Pesos, 50 Centavos für den Quintal, 
aber der Vorarbeiter erhält außerdem eine Prämie von 
drei Pesos für jeden Quintal, den die unter seiner Aufsicht 
stehenden Arbeiter machen. Mauleseltreiber, Hilfsarbeiter 
und Frauen haben festen Lohn." 

„Könnte ich den Kollektivvertrag für einen Augenblick 
einsehen?" frage ich schüchtern, weil mir dieser Wunsch 
im Unternehmerverband abgelehnt worden ist. 

„Selbstverständlich. Ich gebe Ihnen ein Exemplar mit. 


643 



Auch einige aus alten Zeiten, damit Sie sehen, wieviel sich 
geändert hat" 

Diese alten Zeiten sind nicht sehr alt, nicht älter als das 
Gummikauen in Amerika. Von dem, was vorher war, gibt 
es nur vage Überlieferungen. Einmal habe es unaufhörlich, 
unaufhörlich geregnet, wochenlang stand der Waldboden 
unter Wasser, die Gummisammler kletterten auf die Bäume 
und wohnten da oben gemeinsam mit Wildkatze, Affe und 
Schlange, so lange, bis sie alle verhungert waren oder ver¬ 
durstet. Wann das war? Vor hundert Jahren oder vor zwei¬ 
hundert, wer weiß? Der Zapota-Baum war damals schon 
da. 

Ja, der Zapota-Baum war schon da, er war schon in 
jener grauen Vorzeit da, als die Mayas bauten. In den 
Palastruinen von Chichen Itzä sind die Pfosten aus Za- 
pota-Holz nicht minder gut erhalten als die Steine. Die 
Holzfäller schöpften die Gummimilch teils zur Herstellung 
von Bällen, teils als Kaumittel. Wohl staunten die Spanier, 
als sie die Mayas ihre Kinnbacken immerfort bewegen 
sahen, aber kein Spanier machte es ihnen nach. 

Erst mit General Santa Ana fing es an, dem Manne, der 
sein Leben damit verbrachte, abwechselnd Präsident oder 
Präsidentschaftskandidat von Mexiko zu sein. In letzterer 
Eigenschaft saß er so um 1860 herum in den Vereinigten 
Staaten, unentwegt Chicle kauend. Dies brachte Santa Anas 
amerikanischen Sekretär, einen Mr. Adams, auf die Idee: 
Könnte man nicht mit diesem Zeug die Vorteile von Kau¬ 
tabak und Kandis vereinigen? Mr. Adams holte sich Chicle 
aus Mexiko und eröffnete eine Werkstatt. 

Das war der Anfang, und ich schließe. 



DIE FETTEN UND DIE MAGEREN JAHRE 
DER STRICKE 


Es liege sich - theoretisch - der Fall denken, dag je¬ 
mand mit einem Fallschirm mitten in Yucatan landet, ohne 
etwas von Yucatan zu wissen. Er fragt nach dem Weg 
irgendwohin, zum Beispiel nach der Hauptstadt, und man 
zeigt ihm die Richtung. Sie führt ihn durch eine Pflanzung. 

Unser Jemand fühlt sich beklemmt von der Einförmig¬ 
keit und Unendlichkeit der Landschaft vor ihm, hinter ihm 
und neben ihm. Wohl erspäht er ein schmalspuriges Eisen¬ 
bahngleis, das parallel mit ihm läuft, jedoch das ist nicht 
imstande, ihn zu beruhigen. „Gewig", sagt er sich, „gewig, 
diese Schienen führen irgendwohin. Aber kann dieses Ir¬ 
gendwohin nicht ein unbewohnter Kreuzungspunkt in der 
grünen Einöde sein? Und wohin soll ich mich von dort 
wenden? Entlang der Schienen komme ich vielleicht gar 
nicht zur Endstation, sondern zu einer Anfangsstation! Ir¬ 
gendwohin, wo die Fracht in die Waggonets geladen wird 
oder früher einmal geladen wurde. Hätte ich wenigstens 
einen Kompag mitgenommen!" 

In dieser Stimmung kann unser Jemand keine Schönheit 
in der ihn umgebenden Ebene entdecken. Er glaubt sich - 
wenn anders er wirklich so ahnungslos ist, wie wir ihn 
hier darstellen - in eine der Magueyplantagen auf dem 
Zentralplateau Mexikos versetzt. Aber wäre er auch bota¬ 
nisch so ungebildet, die schnapsspendende Agave ameri- 
cana von der faserspendenden Agave rigida nicht unter¬ 
scheiden zu können, so mügte er dieser enormen Plantage 
ansehen, dag sie das Rohmaterial für eine weit seriösere 
und mächtigere Industrie als die des Pulque liefert. 

Unvermutet taucht ein Mann auf mit einem zerfransten 
Strohhut, einem wenig Vertrauen erweckenden Anzug und 
einer Flinte, die er auf unseren Jemand anlegt und die 
immerhin losgehen kann. Der Mann ist ein Feldhüter. 
Nach einem kurzen Verhör, das er anstellt, sagt er unse- 


645 



rem Jemand, daß dessen Richtung die richtige Richtung 
sei, und begleitet ihn sogar ein Stück Weges. 

Um die Wahrheit zu sagen (insofern unser Jemand und 
unser Feldhüter überhaupt eine Wahrheit darstellen), ist 
der Begleiter ein wortkarger Mensch. Aber was bedarf 
unser Jemand jetzt noch eines Gesprächs? Ihm genügt das 
Vorhandensein einer menschlichen Gestalt in der bisher 
menschenlos geglaubten Grenzenlosigkeit. Nun schaut sich 
unser Jemand freier um und bemerkt mehr Spuren unmit¬ 
telbarer menschlicher Tätigkeit als vorher. In den Strün¬ 
ken klaffen helle Wunden - ein oder das andere Agaven¬ 
blatt muß hier vor kurzem abgeschnitten worden sein, 
vielleicht erst heute. Von den noch unversehrten und fröh¬ 
lich weiterwachsenden Blättern jeder Staude tragen zwei 
oder drei je ein Kreidezeichen. Der Feldhüter, durch den 
neugierigen Blick unseres Jemand veranlaßt, bricht das 
Schweigen und erklärt brummend, die Kreidestriche seien 
Todesmale. Sieben Jahre lang dürfe sich niemand an der 
Pflanze vergreifen, möge sie auch noch so ergiebig sein, 
erst nach ... 

Woran ergiebig? denkt unser Jemand, aber er unterläßt 
die Frage, weil er sich schämt, den Zweck der Plantage 
nicht zu kennen. 

.. nach Ablauf von sieben Jahren", vollendet der Feld¬ 
hüter fünf Minuten später seinen Satz. „Dann stehen die 
Blätter stark und fest auf dem Strunk." (Da er dabei auf 
eine der Riesenananasse klopft, weiß unser Jemand, daß 
Ananas und Strunk identisch sind.) „Nun dürfen sie ge¬ 
erntet werden. Aber glauben Sie, Senor, daß jetzt nach 
Belieben geerntet, alles abgeschnitten werden darf?" 

Was soll unser Jemand darauf antworten? Er könnte 
entrüstet ablehnen, daß er glaube, alles dürfe nun auf ein¬ 
mal ratzekahl-radikal abgeschnitten werden. Damit würde 
er sich als Fachmann auf dem Gebiet auf spielen, auf dem 
er sich zwar befindet, von dem er aber nicht weiß, was 
für ein Gebiet es ist; seine Hochstapelei müßte sich bald 
als solche entpuppen. Er könnte auch antworten, daß er 
allerdings an eine jähe, blitzartige Ernte glaube. Damit 
würde er sich als Idiot hinstellen und vielleicht die mensch¬ 
liche Begleitung verlieren. So begnügt er sich damit, zwei- 


646 



feind die Achseln zu zucken und den Fragenden fragend 
anzusehen. 

„Nein", verkündet der Feldhüter nach weiteren fünf Mi¬ 
nuten und deutet auf die Kreidemarkierungen. „Nur an 
die Blätter, die der Vorarbeiter bezeichnet, darf die Sichel 
heran. Zwei Blätter von jeder Staude schneidet man auf 
einmal, im ganzen sechs bis neun Blätter innerhalb eines 
Vierteljahrs. Sonst würde die Pflanze eingehen." 

Vorsichtig fragt unser Jemand: „Was geschieht mit den 
abgeschnittenen Blättern?" 

Aber er erfährt den Zweck der Pflanzung noch lange 
nicht. Was er erfährt, ist nur die Tatsache, daß der Schnit¬ 
ter mit einem zweiten Arbeiter die abgeschnittenen Blät¬ 
ter zu je fünfzig bündelt und auf die Feldbahn verlädt. 

„Und wohin fährt die Feldbahn?" fragt unser Jemand 
geradeheraus, um endlich zu wissen, ob das Ziel eine Spi¬ 
ritusbrennerei, eine Spinnerei, eine Zuckerfabrik oder 
sonstwas sei. 

„In die Finca selbstverständlich", antwortet der Feld¬ 
hüter und fügt, um ganz erschöpfend zu sein, hinzu: „Di- 
rektenwegs in die Finca." 

„Nun, wohin denn sonst als in die Finca?" sagt unser 
Jemand. 

Finca ist der Gutshof. Dorthin kommt er schließlich, da 
er dem schmalbrüstigen Geleise folgt. Im offenen Schup¬ 
pen rattert eine Maschine und nimmt die Ladung der Wag- 
gonets auf. Nun glaubt sich unser Jemand am Ziel seiner 
Neugierde angelangt und fragt und hört den Namen der 
Maschine: La Desfibradora. 

Aha! Desfibradora bedeutet Entfaserin. Also, schließt un¬ 
ser Jemand messerscharf, wird hier das Blatt von der Faser 
befreit, weil diese überflüssig ist. „Jetzt weiß ich wenig¬ 
stens, daß es sich nicht um eine Textilpflanze handelt." 

Befriedigt ob dieser, wenn auch negativen Bereicherung 
seines Wissens, tritt er an die Maschine heran, die - oft 
und primitiv repariert - in ihrem Schuppen keucht. Unser 
Jemand, ihr zuschauend, muß erkennen, daß seine Kon¬ 
klusion falsch war: nicht die Faser ist überflüssig, sondern 
alles andere. 

Weder das Blatt noch sonst ein Grün rollt über die 


647 



Walzen und durch die Kämme, nur das faserige Mark. 
Auch dieses ist im Nu nicht mehr als solches erkennbar, 
es schwebt als unendliche Welle von flachsblondem Mäd¬ 
chenhaar davon. Dag es keine Haare sind, merkt unser 
Jemand wohl, aber er gibt sich einem neuen Irrtum hin, 
hält die blonden Wellen für das Fertigprodukt. Als er der 
Maschine seine Hochachtung bezeugt, wird er von den 
Arbeitern belehrt, dag die Desfibradora im industrielosen 
Yucatan konstruiert worden und für das industrielose 
Yucatan ausreichend gewesen sei. Jetzt aber habe ihr 
letztes Stündlein geschlagen. Maschinen eines neuen Sy¬ 
stems, geeignet, die Quantität der Erzeugung um achtzehn 
Prozent, die Qualität um fünfzehn Prozent zu erhöhen, 
würden aus England eingeführt. 

Rechts und links von der alten Entfaserin fällt eine Art 
Werg ab, „Sosoc" genannt, und wird, so, wie es ist, in 
Bündel verpackt und exportiert. 

Das Hauptprodukt aber kann keineswegs mir nichts, 
dir nichts die Finca verlassen. Im Hof findet unser Je¬ 
mand das Mädchenhaar wieder, vieltausend Schöpfe blag¬ 
goldenen Mädchenhaares. Jeder Schopf flattert und leuch¬ 
tet von einem der tausend Perückenständer. 

Arbeiter und Arbeiterinnen schreiten auf und ab und 
prüfen, ob die Mädchenhaare schon lufttrocken sind, neh¬ 
men sie bejahenden Falles vom Ständer, kämmen sie und 
ordnen sie nach Länge und Dichte. Zu unserem Jemand, 
der interessiert zusieht, äugern die Arbeiter, es herrsche 
gutes Wetter und gutes Wetter sei gut. In der Zeit des 
Norte, der Seestürme, dauere das Trocknen ewig, oft 
müsse die Fiber drei- bis viermal nachgetrocknet werden. 

Draugen, vor dem Tor, erheben sich Berge vertrockneter 
Riesenananasse, die Postamente der vernichteten Agave, 
nun zu nichts mehr gut, als verheizt zu werden. Diese 
Berge sind nur ein Bruchteil von dem, was nach der Ernte 
zurückbleibt und alljährlich im Mai auf den Feldern ver¬ 
brannt wird. So grog ist die Glut der Brände, dag man 
sie in der fernen Hauptstadt Merida verspürt und zu die¬ 
ser Zeit nicht auf die Strage geht. 

Unser Jemand folgt den Karren mit den Mädchenhaaren, 
die in die Halle der Finca fahren und sich in die hydrau- 


648 



lische Presse entleeren. Dort fügen sich die Strähnen knir¬ 
schend zu einem Würfel, den im Augenblick der Würfel- 
werdung eine Haut aus Sackleinen umgibt. „Das ist eine 
Paca, hundertvierundneunzig Kilogramm. So wird der 
Henequen verschickt." 

Henequen! Endlich, endlich weiß unser Jemand, was er 
durchwandert und beobachtet hat. „Henequen!" frohlockt 
er in sich hinein. 

Ach, er frohlockt nicht lange in sich hinein, denn er 
wird darüber aufgeklärt, daß der verpackte und verschiffte 
Henequen kaum eine Woche lang Henequen heißt. Die 
amerikanische Schiffsbesatzung, die ihn nach New Orleans 
bringt, und die Schauerleute, die ihn drüben löschen, ken¬ 
nen das Wort Henequen kaum. Sie und ganz Nordamerika 
kennen nur „Sisal Hemp" - „Hanf aus Sisal", denn einst¬ 
mals ging aller Henequen aus einem yukatekisehen, in¬ 
zwischen längst versandeten Hafen namens Sisal ab. 

Ebenso verliert das Bündel mit dem exakten Gewicht 
von hundertvierundneunzig Kilogramm bei der Überque¬ 
rung des Golfs von Mexiko die Bezeichnung Paca. Auf 
amerikanisch heißt es „bale", wird nach Pfund gewogen 
und steht nicht mehr mit hundertacht Pesos, sondern mit 
dem weit höheren Betrag von vierzig Dollar im Preis. 

Aus Henequen, der athletischsten der Textilpflanzen, 
macht man Seile und Taue und Stricke. Vermittels ge¬ 
flochtenen Henequens hoben die antiken Mayas ihr Bau¬ 
material, Quader auf Quader, in die höchsten Höhen und 
schufen dergestalt ihre himmelan ragenden Pyramiden. 
Die moderne Welt, erhaben über solch sinnlosen Luxus, 
verfertigt zum Beispiel aus Henequen die Trossen, mit 
welchen man die mühselig versenkten Kriegsschiffe müh¬ 
selig wieder an die Meeresoberfläche emporzerrt. 

Henequen bildet die Monokultur: ein Volk, ein Land, 
eine Fiber! Unendlich ferne Völker, die ebensowenig von 
Yucatan gehört haben wie Yucatan von ihnen, werden in 
Kriegszeiten abhängig von Yucatan und Yucatan von 
ihnen. Den größten Wohlstand erlebte Yucatan, als Eu¬ 
ropa den Kriegsjammer von 1914 bis 1918 erlebte. Um 
so katastrophaler wirkte sich nachher der Weltfrieden aus, 
das ganze Land war arbeitslos und hungerte. 


42 Kisch VII 


649 



Da wurde aus Chicago ein lockendes x^ngebot gemacht. 
Mister MacCormick von der Harvester Machine Com¬ 
pany, dessen Maschinen allen Weizen Amerikas bündeln, 
wollte die Henequen-Gebiete Yucatans aufkaufen, das 
heißt den ganzen Staat. Die Lockung war groß, und noch 
größer MacCormicks Drohung, von nun anstatt Hene- 
quen Manila-Hanf zu verwenden oder die Tampico-Faser 
Ixtle, die zwar gleichfalls aus Mexiko, jedoch vom fernen 
Festland herstammt. Aber die Staatsmänner konnten doch 
unmöglich das ganze Land ans Ausland verkaufen. 

Ein sozial gesinnter Mann namens Felipe Puerto Car- 
rillo wurde Gouverneur von Yucatan, und es gelang ihm, 
die Dinge zum Besseren zu wandeln. Er vereinigte alle 
Henequen-Unternehmer und Arbeiter zur großen Produk¬ 
tivgenossenschaft und verschaffte ihnen Friedensaufträge. 
Außerdem organisierte Felipe Puerto Carrillo ein moder¬ 
nes Unterrichts wesen, machte die Provinz zum vorbild¬ 
lichen Schulstaat innerhalb der mexikanischen Union. 

Aber die Konterrevolution de la Huertas griff auf Yuca¬ 
tan über. Felipe Puerto Carrillo wurde gefangengenommen 
und mit seinen beiden Brüdern bestialisch umgebracht. 
Nicht ümgebracht werden konnte sein Werk, sein Anden¬ 
ken ist gepriesen, ein Denkmal steht ihm vor dem Volks¬ 
haus in Merida, im ganzen Land heißen Straßen und 
Plätze nach ihm. 

1939 trat die Welt abermals in den Krieg. Der Gouver¬ 
neur Novelo Torres schloß einen Vertrag mit der Ameri¬ 
can Defense Supply Corporation, dem zufolge Yucatan 
innerhalb von drei Jahren anderthalb Millionen Ballen 
Stricke im Werte von 37 800 000 Dollar zu liefern hat. 
Neuerlicher Aufschwung. Jedoch die Zeiten nach 1918 
steckten den Yucateken noch in den Gliedern, und um eine 
Wiederkehr der Not von damals zu verhindern, schuf die 
Regierung das „Fomento de Yucatan". Es besteht im 
Grunde aus den Maßnahmen, die der biblische Josef sei¬ 
nem Herrn empfahl: die Aufspeicherung von Lebensmit¬ 
teln. Wie einfach liest sich das in der Bibel! In der rauhen 
Wirklichkeit des kapitalistischen Heute ist die Remedur, 
die Josef vor schlug, nicht so leicht durchzuführen, denn 
Demagogen schüren den Widerstand gegen das Fomento. 


650 



Was? Sollen wir, weil wir endlich wieder etwas verdie¬ 
nen, den Ankauf von Nahrungsmitteln für den ganzen 
Staat bezahlen, sollen wir uns sieben Centavos von jedem 
mühsam erarbeiteten Kilogramm Henequen abziehen las¬ 
sen, damit in Yucatan Ackerbau und Viehzucht geschaffen 
werden? 

Die Millionäre des ersten Weltkrieges eignen das Faser¬ 
land nicht mehr so unbeschränkt wie in der Prosperität 
nach 1914, denn im Jahre 1936 wurde das Henequen-Land 
aufgeteilt Aber hier war die Umstellung von Privatbetrieb 
zur Kollektivbearbeitung noch schwieriger als in den 
Baumwollgebieten der Laguna, weil die Entfaserungs¬ 
maschinen, die Feldbahnen, die Verschiffungsanlagen und 
die Lieferungsverträge mit den nordamerikanischen Be¬ 
ziehern ganz in den Händen der alten Besitzer blieben. 
Im staatlich kontrollierten Verband sind sowohl die Ar¬ 
beiter der Kollektivgüter wie die Privateigentümer orga¬ 
nisiert. 

Dort, im Haus der Henequeneros finden wir unseren 
Jemand, den wir fast vergessen hatten. Auf der Finca 
hatte er, um sich nicht abermals in der Unendlichkeit zu 
verlieren, nach der besten Gelegenheit gefragt, in die 
Hauptstadt zu kommen, und wurde eingeladen, sich auf ein 
Lastauto zu setzen. Dieses brachte Fracht und ihn direkt 
in das Verbandsgebäude, und zwar zu einem amerikani¬ 
schen Herrn namens Sterling, der dort im Parterre des 
Hinterhauses an seltsamen Apparaten hantiert. 

Mister Sterling ist wohl der einzige, der in diesem mit 
Henequen befaßten Hause wirklich Henequen in die 
Hand bekommt. Die anderen arbeiten, wie in einer Bank, 
mit Geld und Papieren, während Mister Sterling in sei¬ 
nem Laboratorium die Materialprüfung besorgt. Seine 
Waagen wägen nicht, sondern zeigen nur an, bei welcher 
Belastung eine Henequen-Faser kaputtgeht, seine Streck¬ 
maschinen strecken nicht, sondern zeigen nur an, bei wel¬ 
cher Zugkraft ein Henequen-Strick reißt. Seine Apparate 
sind inquisitorisch und gewalttätig. 

Von den übrigen Räumen aus wird aller Henequen ver¬ 
waltet und bevorschußt; die Maschinenkäufe, die Arbeit 
auf den Plantagen, an den Entfaserungsmaschinen, die 


651 



Transporte zur Finca und zum Lagerhaus, das dasteht wie 
ein Wolkenkratzer mitten im Meer, am Ende der Mole des 
Hafens Progreso. 

Beladen mit Produktionsziffern und Gewinnziffern, zieht 
unser Jemand aus dem Hause. Heute morgen im Hene- 
quen-Hain hat er noch nichts von Henequen gewußt, und 
jetzt scheint ihm, als ob er zuviel davon wüßte. Unser 
Jemand geht durch die Stadt Merida und glaubt durch 
das Weberviertel von Lyon zu gehen. Aus den Häusern 
dringt das Geklapper hölzerner Maschinen auf die Straße, 
weht der Wind Wölkchen von Abfall hinaus. Aber anders 
als in Lyon wird in Merida nicht Seide, das aristokratische 
Gespinst, verarbeitet, sondern der proletarische Henequen. 

Neugierig schaut unser Jemand in die Werkstätten, fühlt 
sich hineingezogen und steht unversehens inmitten einer 
mechanischen Seilerei. Da erkennt er die Pacas wieder. 
Vor wenigen Stunden hat er auf der Finca zugesehen, wie 
sie brutal zusammengepreßt und mit Sorgfalt geschlossen 
wurden. Jetzt sieht er, wie sie ohne Sorgfalt aufgerissen, 
maschinell die' Strähnen flachsblonden Mädchenhaars ge¬ 
flochten werden. Schon ist der Zopf zweihundertsechzig 
Meter lang, und dennoch wird er noch zu strecken ver¬ 
sucht. Schließlich schießt er aus der Maschine wie ein 
Strahl in einen Wagen, der davonrollt, wenn er voll ist. 
In Reih und Glied ist eine Kompanie von leeren Spulen 
formiert, bereit, sich einwickeln zu lassen, mit neunzig 
Meter per Spule. 

Alle Arbeiter atmen unter Taschentüchern, denn wie 
Schneegestöber wirbelt der Abfall durch die Werkstatt; die 
Maschinen, die Treibriemen und die Rahmen der Web¬ 
stühle sind voll davon. In der von den Flocken durchwir¬ 
belten Hitze erzeugen die vermummten Seiler die Stricke, 
die nördlich des Golfs, das heißt in Nordamerika, „binder 
twine" heißen. 

Von den Garnen und Stricken bleibt vieles im Lande, 
um verschiedenartig umgestaltet zu werden. Unser Je¬ 
mand findet sie als Sandalen, als Teppiche, als Polster¬ 
füllung wieder und als Peitschen, als Springschnüre für 
Mädchen und Boxer und auch als kunstvoll verzierte Da¬ 
menhandtaschen und Untersätze. 


652 



Vor allem aber als Hängematten. Von deren Vielfalt ist 
unser Jemand am meisten überrascht. Die echte Hänge¬ 
matte, jene, in der sich der indische Sahib schaukeln läßt, 
jene, die auf dem Promenadendeck des Dampfers zum 
Takt der Meereswellen tänzelt (die Hängematten, die der 
Matrose in der Mannschaftskajüte purrt, sind zumeist nur 
aus Segeltuch), oder jene, die der Forscher im Dschungel 
aufhängt, um nachts vor dem Schlangengezücht geschützt 
zu sein, die echte Hängematte ist aus Henequen von Yuca¬ 
tan. „Hamaca" hieß die Hängematte schon bei den Mayas, 
daraus entstand das englische „hammock", und das deut¬ 
sche „Hängematte" ist nur eine sinngemäße Umgestaltung 
von Hamaca. 

Ganze Dörfer knüpfen Hängematten. In den Wohnun¬ 
gen gibt es kein Bett, nur Schlaf netze, und für einen Gast, 
der zu jeder Stunde willkommen ist, sind Haken in die 
Wand geschlagen, auf daß er dort sein geknotetes Schau¬ 
kelbett aufhänge. 

Unser Jemand kennt Hängematten, er hat oft in welchen 
geschlafen, aber bevor er sich durch das Marktgetriebe 
von Merida drängte, ahnte er nicht, wieviel Varietäten es 
gibt von diesen Netzen: billige für vier Pesos und teuere, 
die fünfzig und achtzig Pesos kosten, graue und dreifar¬ 
bige, ganz kleine mit Spitzenbesatz für begüterte Wickel¬ 
kinder und ganz große für sechs unbegüterte Erwachsene, 
grobe und solche, deren Netzwerk zarteste Muster zeigt 
wie eine Stickerei oder schimmert wie Moiree. Die Ha- 
maca Matrimonial geben die Eltern der Braut als Aus¬ 
stattung mit, als Brautbett, Wochenbett und Totenbett. Ein 
rauhes Netz hängt der Henequenero neben seinem Ar¬ 
beitsplatz auf und findet, nachdem er sein schweres Tage¬ 
werk im Henequen getan, auch seine Nachtruhe im Hene¬ 
quen. 



DIE VANILLE-INDIANER 


Die letzte Autobusstation vor meinem Ziel, wahrhaftig, 
sie sieht anders aus als mein Ziel. Dieser Ort war noch 
vor ein paar Jahren keiner, hatte aber, ehe er einer war, 
das Glück, Fundstelle von Petroleum zu werden, die ergie¬ 
bigste von Mexiko, eine der ergiebigsten der Welt „Poza 
Rica", die reiche Pfütze. 

Der Autobus hält etwa eine halbe Stunde im Campa- 
mento Poza Rica. Die Tankstelle ist mit Wagen verram¬ 
melt, und die Passagiere können betrachten, wie ein aus 
dem Schoß gefallener Reichtum aussieht. Da drängen sich 
aneinander, ineinander und übereinander Holzbuden, die 
aus zerfallenen Holzbuden von anderswo zusammengena¬ 
gelt sind. Jeder dieser Bettler des Bauwesens dient tags¬ 
über als Marktbude oder Schenke, nachtsüber als Schlaf¬ 
stelle. Steif spazieren Aasgeier mitten durch die Men¬ 
schenmenge, Hunderte von Aasgeiern, auch sie Nutznießer 
des Petroleumglücks. Gesättigt und faul, bücken sie sich 
kaum nach einem fetten Speiserest, die noch gesättigteren 
und fauleren hocken oben auf den Buden, fast hätte ich 
geschrieben: auf den Dächern. Aber es gibt keine Dächer. 

An der Peripherie blitzen silbern Bohrtürme und Reser¬ 
voire. Wo die Menschen wohnen, blitzen nur Reflexe auf 
den Pfützen, die das Campamento in eine Überschwem¬ 
mungslandschaft verwandeln. Klapperdürre Kinder mit 
vorspringendem Bauch und arme Hunde wälzen sich in 
diesem flüssigen Schmutz oder machen hinein, was übri¬ 
gens auch Erwachsene tun. 

Indios, Mestizen, Weiße und Neger kamen aus den 
toten Häfen des Golfs hierher, als die Kunde vom großen 
Glück sie erreichte, in Poza Rica sei Taglöhnerarbeit zu 
finden, ja man baue sogar eine Raffinerie. 

Rechts und links, vorne und hinten, auf der Erde und 
aus senkrechten Rohren lodern Flammen, tagaus, tagein. 
Alles Erdgas wird verbrannt. Mit der Glut der Tropen 


654 



mischt sich die Glut dieser ewigen Feuersbrünste. Wenn 
Hydrokarburat seinen Gestank mit dem einer nichtkanali- 
sierten, feuerumzüngelten Siedlung der Tropen verbündet, 
sind Kloakengase im Vergleich damit purer Levkojenduft 

Niemals, denke ich, niemals wird meine Nasenschleim¬ 
haut diese Orgie des Gestanks los werden, niemals, denke 
ich, wird die höllische Häßlichkeit des Campamento von 
Poza Rica von meiner Netzhaut verschwinden, niemals .. . 

Niemals? Kaum zwanzig Minuten nach der Abfahrt 
kann ich mir nichts mehr davon ins Gedächtnis zurück¬ 
rufen, Wohlgerüche und Schönheit dringen auf meine Sinne 
ein. So abrupt und unlogisch wechselt alles in den Tropen. 

Tabak und Gummi wachsen durcheinander, Pfeffer und 
Zuckerrohr, Kokosnüsse und Tamarinde. Zwanzig vonein¬ 
ander ganz verschiedene Arten von Grün. Und die Düfte! 
Einst habe ich ihr Gegenteil erlebt, das war im Campa¬ 
mento von Poza Rica, du lieber Gott, wie lange ist das 
her! 

Ich fahre ein in Papantla, der Hauptstadt des Vanille¬ 
lands, sonnenhell, freundlich, auf Hügeln erbaut, von Hü¬ 
geln umgeben. Stolz zeigt man mir in der Gartenanlage 
auf dem Stadtplatz eine Vanillepflanze. Sie sieht recht kläg¬ 
lich aus; eine zweite, die im Garten eines Vanille-Expor¬ 
teurs wächst, soll besser instand sein. 

An der Station sitzen Indiomänner aus dem Stamm der 
Totonaken. Ihre Frauen gehen mit Einkäufen vorbei, alle 
barfüßig, weiß gekleidet, weißer Musselinrock, weißer 
Spitzenschal; die Mädchen tragen rosa Blusen und im 
Haar ein buntes Band und Blumen. 

Sie wohnen in „Congregaciones", Dörfern im Urwald 
ringsumher, nicht mehr wie in grauer Vorzeit in glanz¬ 
vollen Städten. Selbst von der antiken Hauptstadt Zem- 
poala, die das spanische Heer beim Einmarsch für eine 
Stadt aus getriebenem Silber hielt, gibt es kaum eine Spur 
mehr. Nur die zaubermärchenhafte Pyramide Tajin träumt 
im Walde, und von alten Gebräuchen ist noch der Tanz 
der Flieger erhalten, eine halsbrecherisch-akrobatische 
Kunst, die alljährlich am Fronleichnamstag vorgeführt 
wird. 

Die Totonaken haben eine Vergangenheit, aber keine 


655 



Geschichte, nur einmal traten sie weltentscheidend auf den 
Plan. Das war 1519 im Lager des Cortez, nahe der Stadt 
Veracruz, die noch nicht gegründet war und auch gar nicht 
gegründet werden sollte. Im Gegenteil, Cortez war eben 
dabei, Anker zu lichten, um von seiner aussichtslosen Kam¬ 
pagne nach Kuba zurückzusegeln, obwohl dort der Galgen 
seiner harrte. Da kam eine Abordnung der Totonaken und 
bat um Hilfe gegen den Aztekenkönig, der ihr Land unter¬ 
worfen hatte und Jünglinge und Mädchen für seinen Op¬ 
feraltar forderte. Sie stellten Cortez fünfzigtausend Mann 
zur Verfügung, und damit begann die Eroberung Mexi¬ 
kos, bei der mit den besiegten Stämmen auch die sieg¬ 
reichen Totonaken historisch ausgerottet wurden. 

Erbittert darüber, daft sie, die durch ihren Feind Mocte- 
zuma die halbe Freiheit verloren hatten, nun durch ihren 
Freund Cortez der ganzen beraubt wurden, gaben die To¬ 
tonaken ihre Städte und Tempel dem Verfall preis und 
zogen sich in den undurchdringlichen Urwald zurück. Dort 
pflanzen, pflegen und pflücken sie die Vanille und verkau¬ 
fen die Frucht an die Weiften, ohne aber ihren vierhundert 
Jahre alten Haft gegen die Weiften aufzugeben. 

Noch älter als ihr Haft ist die Vanille. 

Die Vanille, die Schwarzblume, wuchs im Gebiet der 
Totonaken und sonst nirgendwo, lange bevor sich die 
europäischen Potentaten und deren Meisterköche eine so 
köstliche Spezerei auch nur träumen lieften. Zusammen mit 
dem Kakao, der gleichfalls ihr Ureigentum war, hatten die 
Indianer die Vanille geschlürft. Vanille ohne Kakao nah¬ 
men sie nur um der aphrodisiakischen Wirkung willen 
oder als Medizin gegen Frauenkrankheiten. 

Damals wuchs die Schwarzblume auf den Jagdgründen 
der Totonaken wild, damals wie heute eine Liane, die sich 
wurzellos an fremde Bäume schmiegt. Denn sie ist, nehmt 
alles nur in allem, ein Luftikus, ein Parasit. Daran ändert 
die Tatsache nichts, daft sie eine geborene Orchidee ist. 
Zu der Eigenschaft dieses Parasiten, nützlich zu sein, 
kommt heute die nicht minder merkwürdigere hinzu, land¬ 
wirtschaftlich gezüchtet zu werden. 

Zu Füften irgendeines Baumes, auf dem der Pfeffer 
wächst oder hoch der Lorbeer steht, werden zwei Steck- 


656 



reiser von Epidendrum vanilla eingepflanzt oder einfach 
an den Stamm gebunden. So, und jetzt schmarotze mal 
tüchtig! 

Der angesteckte Stengel tut, wie ihm geheißen. Er 
schlängelt sich um den ihm zugewiesenen Baumstamm 
hoch und höher und beginnt vom vierten Lebensjahr an 
Blütentrauben zu treiben. Dann greift wieder der Mensch 
ein, denn er verläßt sich nicht darauf, daß launische Winde 
oder flatterhafte Insekten die männlichen und weiblichen 
Organe der Vanille rechtzeitig zusammenfügen. Eile ist 
vonnöten. Die Blüte, die nicht innerhalb von zwanzig 
Apriltagen den Liebesgruß empfängt, empfängt ihn nie. 
Auch dann nicht, wenn der potentielle Geschlechtspartner 
im gleichen Kämmerchen wohnt, wie bei der Vanille, die 
ein Zwitter, ein Hermaphrodit ist. Die männlichen Sper- 
matozoiden und die weiblichen Eizellen kommen aber 
nicht zusammen, dieweil ein Häutchen sie voneinander 
trennt. 

So helfen denn Totonakenmädchen nach. Genauer als 
Schmetterlinge und schneller als die einheimische Wespe 
namens Avispa negra oder die Biene Melipona lösen Mäd¬ 
chenfinger in den ersten Morgenstunden jener zwanzig 
Apriltage das Jungfernhäutchen von vier Blüten jeder 
Traube; sie legen den Samen in vier Samenscheiden, die 
Vaginula oder Vainila, mit welchem Wort, ihrer Form 
wegen, auch die Frucht benamst ist und schließlich - welch 
ein frivoles Pars pro toto - die ganze Pflanze. 

Nachdem die Frucht geboren ist, bleibt sie an der Mut¬ 
terbrust und entwickelt sich zunächst (bis zum August) 
bloß in die Länge und nachher (bis zum November) in 
die Breite, wobei sie stramm und fleischig wird. Erst vom 
Mondwechsel des November an ist die Pflücke erlaubt, und 
dann mündet alles, was an Schoten in den Wäldern der 
zehntausend Vanille-Indios entstand, in die Höfe der drei¬ 
ßig Vanille-Industriellen. 

Die erste Phase des Vanille-Welthandels steht unter dem 
Zeichen der Angst vor dem Betrogenwerden. Mißtrauen 
Nummer eins richtet sich gegen alles, was Mensch ist, ein¬ 
schließlich des Stammesbruders in der Congregaciön. In¬ 
folge dieses Mißtrauens sind die Vainilales, die Pflanzun- 


657 



gen, durchwegs Kleinbetriebe geblieben. Keine ist größer 
als drei Hektar, damit sie vom Auge des Besitzers über¬ 
blickt und nicht zum Tummelplatz von Dieben werden 
kann. 

Aber Mißtrauen Nummer eins ist nichts gegen Mi߬ 
trauen Nummer zwei, dasjenige, das sich gegen jedweden 
Weißen richtet. In der Jahreszeit, da die kostbare Schote 
aus dem heimatlichen Wald hinabgeschafft wird in den 
Dschungel der Geschäfte, verwandelt sich der Frieden der 
Atmosphäre in Lug und Trug. „Tiempo de vainila - 
tiempo de mentira." 

Ist unten in Papantla, Guluerrez Zamora oder San Jose 
Acanteno der Preis ausgehandelt und - ich greife dem 
Verlauf der Ereignisse etwas vor - die Ware abgeliefert, 
so wird der Erlös unter allerhand Vorsichtsmaßregeln ein¬ 
kassiert. Nie holt der Pflanzer selbst das Geld ab, denn 
er fürchtet einen Raubüberfall. Zunächst läßt er es beim 
Händler, nach ein paar Tagen erst schickt er einen Sohn 
oder Verwandten oder, das ist noch unauffälliger, einen 
Arriero hinab, der in Betreuung der Maultiere in Ehren 
ergraut ist. Der soll das Geld abholen - nein, beileibe 
nicht das ganze Geld, nur einen Teil davon. Von ferne 
und durchs Dickicht, parallel zum Wege schleichend, beob¬ 
achtet der Pflanzer seinen Boten, ob diesem keine Gefahr 
droht. 

Scheck, Bankkonto - das gibt es nicht. Auch Papiergeld 
wird nicht angenommen, nur klingende Münze. Aber so viel 
Silbergeld, wie die Vanille-Käufe erfordern, besitzt nicht 
einmal die Bank. Dieser Tatsache verdanken die Chauf¬ 
feure der Autobusstrecke Mexiko-Tuxpan einen lukra¬ 
tiven Nebenberuf: in der Hauptstadt Silberpesos aufzutrei¬ 
ben und nach Papantla mitzubringen. Davon bekommen sie 
ein halbes Prozent, was manchmal bei einer einzigen Fahrt 
mehrere hundert Pesos ausmacht. (Eine ähnliche Erschei¬ 
nung fand ich in Yucatan, wo den Pflanzern und Arbeitern 
des Henequen wöchentlich zwei Millionen Pesos in Silber 
ausgezahlt werden müssen.) 

Die Vanille-Pflanzer vergraben ihr Geld, und manch 
einer stirbt unversehens, ohne seiner Familie die Schatz¬ 
stelle gezeigt zu haben - der Waldboden, der die Vanille- 


658 



Reichtümer aufsprießen läßt, nimmt den Erlös in gemünz¬ 
tem Silber wieder an sich. 

In Matten gepackt und auf Maultieren schaukelnd, be¬ 
wegt sich das Ergebnis der Pflücke der Stadt zu. Was man 
eben im Wald aufpackte, wurde dort nach Miliares, je 
tausend Stück, gezählt, was man unten ablädt, wird nach 
Pfunden (zu je vierhundertsechzig Gramm) gewogen; ein 
Mauleselchen schleppt zwei bis drei Miliares, das sind 
siebzig Kilo, im Wert von etwa tausend Pesos. 

Ablieferungspunkt sind die Beneficios, die Veredelungs¬ 
anstalten. Spiegelglatt und rein gefegt bieten sich ihre 
Höfe dar und ebenso die Wärmekammern des Hofgebäu¬ 
des. Drinnen wird die Vanille gleich nach ihrer Ankunft 
auf Espigueras und Camillas gebettet, Lagerstätten aus 
Zedernholz, das zwar teuer, aber auch glatt ist und daher 
die Schote nicht zerkratzt. (Jener Baum, an dem die Va¬ 
nille zeit ihres Waldlebens schmarotzt hat, ist nicht gut 
genug, ihr nun als Unterlage zu dienen; dereinst wird auch 
er gefällt und zu Kistenbrettern gehobelt werden für den 
Versand seiner Exuntermieterin.) 

Nach der Trocknung und Entwässerung (zweiundsiebzig 
Stunden bei sechzig Grad) folgt ein langwieriger und kon¬ 
tinuierlicher Arbeitsgang, dessen Produktionsmittel die 
Sonne ist. Mehrere Stunden lang wirkt sie auf die Schoten 
ein, die zu Tausenden im Hof auf blitzblanke Binsenmat¬ 
ten gebreitet sind. Auf daß sie bei dieser Siesta nicht ge¬ 
stört oder gar gekidnapped werden, schießt das Personal 
des Benificios Salven von Erstickungsgasen gegen das 
Geschwader des heranschwirrenden Feindes, die Aasgeier. 
Denn auch die Aasgeier lieben Spezereien, würden viel¬ 
leicht gerne auf Kadaver verzichten, wenn man sie an die 
Vanille heranließe. 

Nachdem sie ihr Sonnenbad absolviert hat, werden die 
Schoten für mindestens vierundzwanzig Stunden in den 
Schatten gelegt. Fünfzehn- bis achtzehnmal wiederholt sich 
diese Prozedur, wobei die Vanille ihre Flüssigkeit aus¬ 
schwitzt. 

Im Hauptgebäude der Fabrik sind Fachleute am Werk. 
Allein in Papantla gibt es dreihundert Spezialarbeiter der 
Vanille-Veredlung, sie bilden ein Syndikat und beziehen 


659 



gestaffelte Löhne. Die Tendedores ordnen und trocknen 
und packen; sie haben fünf Pesos pro Tag. Die „Officiales" 
tun heikle Arbeit; obwohl sie ihre Hände mit Alkohol 
waschen, nehmen sie die Schoten nur mit der Pinzette auf, 
um jede einzeln zu prüfen und zu behandeln; ihr Taglohn 
beträgt sieben Pesos. Der Meister, nach dem Unternehmer 
der Höchste im Betrieb, erhält neun Pesos, er muß auch 
am Sonntag seine Vanille kontrollieren. Sieben Monate 
lang, von November bis Mai, wird gearbeitet. 

Schmerzliche Nebenerscheinung dieser Arbeitsprozesse 
ist die Gewichtverminderung der Ware. Je sieben Kilo 
grüner Vanille ergeben nur ein einziges der veredelten. 
In Madagaskar genügen vier Kilo grüner Pflanzen zur 
Herstellung eines Fertigkilos, weil die Natur Afrikas der 
Vanille mehr Konsistenz schenkt. Aber mit dieser Erklä¬ 
rung will sich Mexiko nicht zufriedengeben und grübelt, 
wie man es auch hier erreichen könnte, für drei Kilo Han¬ 
delsvanille weniger als einundzwanzig Kilo Rohvanille 
zu benötigen. 

Von Arbeitsgang zu Arbeitsgang werden die Schoten 
glänzender und trockener und dichter. Für mich Laien 
sieht ein Stück wie das andere aus; ein Schnürsenkel von 
schokoladenbrauner Farbe und mit der faltigen Haut von 
Rosinen. Und da ich schon Schokolade und Rosinen zur 
Parallele heranziehe, ziehe ich auch Feigen heran: das In¬ 
nere der Vanille-Schote ähnelt dem der Feige mit ihrem 
Mus und ihren zahllosen Körnchen. 

Trotz dieser scheinbaren Gleichheit gibt es hier fünf 
Sorten, voneinander durchaus verschieden, sowohl was die 
Länge und die Farbe als auch den „Tacto" anbelangt, das 
heißt, ob sich die Vanille trocken oder fleischig anfühlt. 
Und jede Sorte wiederum wird als Ganze (Entera) oder 
als Geschnittene (Picadura) gemarktet. 

In zinnenen Büchsen, die mit paraffiniertem Papier 
liebevoll ausgelegt und in Holzkisten verstaut sind, reist 
die Vanille via Laredo ins New York Warehouse, wo sie 
ihre afrikanische Schwester La Bourbon treffen und mit 
ihr zum Preiskampf antreten wird. 

Wie auch immer dieser Kampf ausfallen wird, der Preis 
ist für die Heimat der Vanille unerschwinglich. Das Land 


660 



Mexiko behält von seiner Vanille fast nichts für den eige¬ 
nen Haushalt; im Jahre 1941 zum Beispiel, als 261 000 
Kilogramm die Bahnfahrt von Papantla nach New York 
machten, blieben kaum zweitausend Kilo zu Hause. Selbst¬ 
verständlich liegt ein solches Restchen unter dem Bedarf, 
und das Vanille-Defizit des Vanille-Exportlandes wird 
durch Import minderwertiger Vanille aus dem Konkur¬ 
renzland Tahiti gedeckt sowie durch synthetische Vanille, 
der geschworenen Todfeindin der echten. 

Weit mehr als die Hälfte der Weltproduktion liefert in 
Zeiten des Friedens Madagaskar. Dorthin kam die Vanille 
1850 auf dem Umweg über den Pariser Jardin des Plantes; 
die Franzosen hatten sich aus der Gegend von Papantla 
und Misantla einige Pflanzen geholt, in Paris botanisch 
untersucht und in ihren afrikanischen Kolonien angepflanzt. 
Dank diesem Experiment werden auf dem Seychelles-Ar- 
chipel und auf Madagaskar über vierhundert Tonnen jähr¬ 
lich geerntet, und das französische Imperium steht sowohl 
an der Spitze der Vanille-Produktion wie des europäischen 
Vanille-Groghandels. Aber den Terminhandel kann die Va¬ 
nille nicht leiden. Sie widersetzt sich ihm mit dem starken 
Mittel des Schwachen, mit ihrer leichten Verderblichkeit. 
1924 half sie dem normalen Markt, den Vanille-Corner 
zum Scheitern zu bringen, den die Firma „Demair freres" 
in Marseille hervorgerufen hatte; das Fracasso kostete die 
Brüder fünfzig Millionen Francs. 

Im Konsum sind die Nordamerikaner aller Welt voran. 
Sie beziehen, sofern es der Krieg und der eingeschränkte 
Schiffsverkehr mit Afrika und sofern es Regengüsse, Dürre 
oder die Nordwinde im Golf von Mexiko nicht verweh¬ 
ren, fünfundsechzig Prozent der Welternte, wovon sie et¬ 
was reexporderen, meist in Form von Vanille-Essenz. Die 
anderen Länder kaufen nur so viel, dag ihre Schokoladen¬ 
fabriken nicht stillestehen und die Hausfrauen ihre Pud¬ 
dings machen können. 

Für Kaugummi und Eiscreme, die beiden Rekordgenüsse 
des Yankee, liefern das wichtigste Ingredienz die Toto- 
naken, die in vierhundert Jahren nicht aufgehört haben, 
die Weigen zu hassen. 


661 



DIE PETROLEUMLEITUNG 


I 

Wer aus dem Golf von Mexiko der Hauptstadt zufährt, 
wird meilenlang von einem Rohr begleitet. Vor den 
Städten verkriecht es sich, hinter ihnen taucht es wieder 
auf; besonders dort, wo Wege oder Kanäle sind, kommt 
es ans Tageslicht. Auf den Landkarten ist es nicht ein¬ 
gezeichnet. 

Bevor das mexikanische Öl in mexikanischen Volks¬ 
besitz überging, war es unter vierzehn Tochtergesellschaf¬ 
ten der drei Weltkonzerne auf geteilt, der „Royal Dutch 
Shell" Deterdings, der „Standard Oil" Rockefellers und 
der „California Sinclair Pierce Oil Company" Harry Sin- 
clairs. Eine dieser vierzehn Töchter, „El Aguila" oder „Me- 
xican Eagle Petroleum Co.", besaß sechzig Prozent des 
mexikanischen Erdöls; in ihrem einstigen Palais in der 
Hauptstadt amtieren jetzt „Petröleos Mexicanos" (PE- 
MEX). In der Halle steht die Büste von Cärdenas, denn 
er ist es gewesen, der am 18. März 1938 das Öl seinem 
Lande wiedergegeben hat. 

Damit endete ein in der Sozialgeschichte einzigartiger 
Kampf; auf der einen Seite stand ein Land, auf der ande¬ 
ren die allmächtige Dreifaltigkeit des Petroleum-Welt- 
monopols. 

Als Lohnkonflikt hatte es begonnen. Im Zeitraum von 
1934 bis 1937 waren die Haushaltungskosten um 88,96 Pro¬ 
zent gestiegen, während die Lohnsätze nur um 30 bis 
40 Prozent erhöht wurden. Ein mexikanischer Ölarbeiter 
bekam im Durchschnitt 4,86 Pesos pro Tag, kaum ein Vier¬ 
tel von dem, was in Amerika ein Arbeiter der gleichen 
Gesellschaft verdiente. Dabei war die Förderungsrate des 
amerikanischen Arbeiters geringer als die des Mexikaners, 
der allerdings an reicher sprudelnden Ölvorkommen arbei¬ 
tete. 


662 



Die Arbeiter verlangten einen Kollektivvertrag .mit vier- 
zigstündiger Arbeitswoche, Lohnerhöhung, Urlaubsrecht 
und Verbesserung der Arbeitsbedingungen, Forderungen, 
die abgelehnt wurden. Die Belegschaften stellten die Ar¬ 
beit ein, die Gesellschaften appellierten an den Staatlichen 
Schlichtungsgerichtshof gegen den Streik, und das Ge¬ 
richt entschied, dag die Streikenden an ihre Arbeitsplätze 
zurückzukehren und bis zur Urteilsfällung an diesen aus¬ 
zuharren haben. Das geschah. Dann erging das Urteil. Ein 
Teil der Arbeiterforderungen wurde abgewiesen, jedoch 
eine Verbesserung der Arbeitsbedingungen vorgeschrie- 
ben, die sechsundzwanzig Millionen Pesos jährlich geko¬ 
stet hätte - einerseits eine hohe Summe, andererseits ein 
Bruchteil der Dollarprofite. 

Wenn man den Einspruch der Gesellschaften gegen diese 
Entscheidung liest, so glaubt man sich in den Londoner 
Juristenbezirk versetzt, wo vielhundertjährige Kastanien¬ 
bäume vor vielhundertjährigen Gebäuden in vielhundert¬ 
jähriger Ruhe wachsen. Dort könnte ein alter, sehr ehren¬ 
werter Kronjurist mit gründlicher Kenntnis von Paragraphen 
und Präjudizfällen, der aber noch nie etwas von Sozio¬ 
logie, Arbeitsrecht oder dergleichen Laienwerk gehört, den 
Rekurs vertagt haben. Nach formal juristischer Einleitung 
kommt er auf das zu sprechen, was den Ölmagnaten 
besonders am Herzen liegt, auf die Freiheit der Arbeit. 
Wo sei die Freiheit der Arbeit, wenn zum Beispiel der 
Arbeitgeber gezwungen wird, Inländer als Assistenten aus¬ 
ländischer Fachleute anzustellen? Ist es Gleichheit und 
Gerechtigkeit, wenn die Höhe des Unternehmergewinns zur 
Grundlage des Lohntarifs gemacht wird? Gilt nicht glei¬ 
ches Recht für alle, für arm und reich? 

Das Oberste Gericht von Mexiko wies den Rekurs ab, 
und als die Ölgesellschaften beschlossen, sich dieser Ent¬ 
scheidung nicht zu fügen, kam es zu ihrer Enteignung. 
Gleichzeitig wurde das mexikanische Volk über die mög¬ 
lichen Folgen dieser Magnahme aufgeklärt und gegen 
zukünftige Interventionsversuche mobilisiert. Der erste 
Appell erging von Vicente Lombardo Toledano. Lombardo 
Toledano hat in der internationalen Gewerkschaftsbewe¬ 
gung kaum ein Pendant. Ein Arbeiterführer, der Professor 


663 



der Philosophie, ehemaliger Gouverneur, Goethe-Kenner, 
Botaniker und Archäologe ist; seine Volksversammlungen 
sind Universitätskurse, und seine Popularität verdankt er 
seiner Autorität. In jener Petroleumrede legte er alle Mög¬ 
lichkeiten von Propaganda und Lüge dar, mit denen das 
Ölkapital versuchen werde, die öffentliche Meinung Mexi¬ 
kos zu spalten, und entlarvte auf diese Weise Verrat und 
Bestechung, bevor es zu Verrat und Bestechung kommen 
konnte. 

Den anderen Appell an das Volk richtete Präsident Lä- 
zaro Cärdenas selbst. Er beantwortete zunächst den Vor¬ 
wurf der Undankbarkeit, den die Ölgesellschaften erhoben 
hatten: Ist das der Dank dafür, dag wir mit unserem Ka¬ 
pital die gigantischste Industrie von Mexiko aufgebaut 
haben? „Euer Kapital?" rief ihnen Cärdenas durchs Radio 
zu. „Euer Kapital ist der Reichtum der Ölvorkommen ge¬ 
wesen, die der Nation gehören und euch gesetzwidriger¬ 
weise überlassen wurden! Euer Kapital sind die Privile¬ 
gien, die euch gewährt wurden, die Steuer- und Zollver¬ 
günstigungen! Von diesem Kapital habt ihr Milliarden¬ 
interessen bezogen und einen kleinen Bruchteil in eure 
Betriebe investiert. Und dafür sollen wir euch dankbar 
sein?" 

Nicht minder scharf wandte sich Cärdenas gegen die 
Schuldigen im eigenen Land, die aus Schwäche, Ignoranz 
oder Eigennutz den Versuchungen der unermeßlich mäch¬ 
tigen Unternehmer nicht zu widerstehen vermochten. 

Die Quellen des mexikanischen Reichtums sind zu Quel¬ 
len des mexikanischen Elends geworden, sagte Cärdenas. 
In den wenigsten Orten des Ölgebiets gibt es ein Spital, 
Trinkwasser, eine Schule, ein Kulturzentrum oder einen 
Sportplatz. Nicht einmal eine Gasanstalt existiert, denn 
die Gesellschaften erlauben nicht, daß die Millionen von 
Kubikmeter nutzlos entweichenden Gases verwertet wer¬ 
den. Wem wäre nicht die erregende Zweiteilung aufgefal¬ 
len, die in den Petroleumbezirken herrscht? Komfort für 
das ausländische Personal - Jammer und gesundheitswid¬ 
rige Behausungen für das mexikanische. Kühlanlagen und 
Schutz gegen tropische Krankheitserreger für die ersteren 
- Teilnahmslosigkeit und eine meist nur mit Widerwillen 


664 



gewährte ärztliche Hilfe für die letzteren. Hungerlöhne 
und vernichtende Arbeitsbedingungen für unser Volk. 

Jedes Produktionszentrum besitzt eine Betriebspolizei 
zum Schutz der privaten, egoistischen und oft ungesetz¬ 
lichen Interessen. Diese bewaffneten Organisationen, ob 
sie nun von der Regierung autorisiert sind oder nicht, tra¬ 
gen Schuld an Mißbräuchen, Ausschreitungen und Mord¬ 
taten, begangen im Auftrag oder im Interesse der Gesell¬ 
schaft, in deren Dienst sie stehen. 

Nur mit wenigen Worten geißelte der Staatspräsident 
die „hartnäckige und bösartige Einmischung der Ölgesell¬ 
schaften in innere Angelegenheiten der Nation". Nur mit 
wenigen Worten - denn um dieses Thema zu erschöpfen, 
hätte er die Geschichte Mexikos seit Beginn des zwanzig¬ 
sten Jahrhunderts erzählen müssen. 

Von den Tagen an, da Porfirio Diaz dem englischen 
Ingenieur der Tehuantepec-Bahn Weetman Pearson, nach¬ 
mals Lord Cowdray, und dem amerikanischen Ölhändler 
Edward L. Dohenny die Konzessionen auf das mexikani¬ 
sche Erdöl verliehen hatte, war Mexiko die Walstatt eines 
Krieges zwischen Großbritannien und Nordamerika. Bei 
jedem Aufstandsversuch gossen entweder die Vereinigten 
Staaten oder die Vereinigten Königreiche oder beide zu¬ 
sammen ihr Öl ins Feuer. Dollar und Pfund Sterling wa¬ 
ren immer zur Stelle. 

Gelegentlich, wenn es den Ölmagnaten in den Plan 
paßte, wurden sogar fortschrittliche Bewegungen gegen 
reaktionäre unterstützt. So fühlte sich zum Beispiel die 
Standard Oil (Amerika) durch die an die Pearson Oil 
Company (England) gewährten Konzessionen in den Öl¬ 
feldern von Tehuantepec geschädigt. Deshalb half sie dem 
freiheitlichen Francisco J. Madero, die vierzigjährige 
Diktatur von Porfirio Diaz zu stürzen. Was freilich den 
amerikanischen Botschafter Lane Wilson nicht hinderte, 
bald darauf in Washington gegen Madero und „his al¬ 
most confiscatory tax placed on the oil products at Tam¬ 
pico" aufzutreten, den Staatsstreich des Reaktionärs Vic¬ 
toriano Huerta zu unterstützen und zuzulassen, daß der 
volkstümliche Präsident Madero und der Vizepräsident 
Pino Suärez im Gefängnis erschossen wurden (23. Februar 


43 Kisch VII 


665 



1913). Das Verhalten Lane Wilsons an diesem Tag ist in 
Mexiko nicht vergessen. 

Cärdenas schloß das Kapitel der Interventionen, die auf 
den Wellen des Öls herangeschwommen waren, mit der 
Enteignung. „Die ausländischen Gesellschaften sind nicht 
gewillt, das Urteil unseres höchsten Gerichts anzuerken¬ 
nen. Sie bauen darauf, daß sich ihre Macht als stärker 
erweisen wird als die Würde und Unabhängigkeit Mexi¬ 
kos, das großzügig seinen Naturreichtum in ihre Hände 
gelegt hatte. Die Enteignung wurde angeordnet und den 
Gesellschaften die volle Bezahlung ihres Eigentums von 
Staats wegen zugesichert." 

Die Großmächte des Öls räumten ihre Gaststätte keines¬ 
wegs in Ruhe und Frieden. Die Betriebe sollten arbeits¬ 
unfähig gemacht werden, damit Mexiko genötigt sei, die 
Rückkehr der alten Besitzer zu erflehen und sich ihnen 
bedingungslos zu unterwerfen. Niemand sollte zurückge- 
lassen werden, der sich im Betrieb auskannte. Den mexika¬ 
nischen Beamten wurden höher bezahlte Stellungen in 
USA angeboten. Inhaber der „Puestos de Confianza", die 
Vertrauensleute der Gesellschaften, blieben mit dem alten 
Gehalt auf der alten Gehaltsliste der alten Besitzer, wenn 
sie sich bereit erklärten, unter der neuen Leitung nicht 
weiterzuarbeiten. Noch heute gibt es in Mexiko solche 
Exvertrauensleute, die ihr Direktoren- oder Chefinge¬ 
nieursgehalt weiterbeziehen. Verträge, Adressen, Rechnun¬ 
gen, Pläne, chemische Formeln mit den zugehörigen 
„Know how", Lohnlisten und Akten wurden verbrannt oder 
mitgenommen. 

Das Furioso der Weltpresse erscholl nicht gegen die 
Saboteure, sondern gegen jene, welche die Sabotage sabo¬ 
tierten. Die Ablehnung der Arbeiterforderungen durch die 
Ölgesellschaften wurde als moralische Tat gepriesen. Ein 
amerikanischer Wirtschaftsführer erklärte: „. . . aber so 
weit darf die Arbeiterfürsorge denn doch nicht gehen, daß 
man mexikanischen Arbeitern Harems einrichtet, ihnen 
Polopferde kauft und Luxusreisen um die Welt bezahlt, 
wenn sie es wünschen." Die entrüsteten Zeitungsleser mu߬ 
ten glauben, die Ölarbeiter Mexikos hätten Harems gefor¬ 
dert und Polopferde und Luxusreisen. In Wahrheit hatten 


666 



sie eine Fahrkarte zum Urlaubsort innerhalb Mexikos ver¬ 
langt den Bau von Sportplätzen und Krankenbehandlung 
für Gattin und Kinder, soweit es sich um dauernde, wenn 
auch nicht immer legale Ehen handelte. 

Schon während des Konflikts hatten die Ölgesellschaf¬ 
ten ihre Goldreserven aus den mexikanischen Banken ge¬ 
zogen, und nach der Nationalisierung der Betriebe stieß 
der internationale Valutenmarkt den Peso auf fünfund¬ 
vierzig Prozent seines Werts hinab. 

In einer fast ultimativen Note verlangte der nordameri¬ 
kanische Staatssekretär Cordeil Hüll, daß das mexikani¬ 
sche Ölproblem einem internationalen Schiedsgerichtshof 
zur Entscheidung vorgelegt werde, widrigenfalls... Der 
Senator von North Carolina, Reynolds, forderte im Kon¬ 
greß von Washington als Entschädigung die Abtretung 
von Baja California an die Vereinigten Staaten. Einige 
Persönlichkeiten, die seinerzeit den amerikanischen Staats¬ 
präsidenten Harding im mexikanischen Petroleum ertränkt 
hatten, traten für bewaffnete Repressalien gegen Mexiko ein. 
Wallstreet gab eine Mexiko-Sondernummer des „Journal of 
Commerce" heraus, reich an Tabellen, Bildern und national¬ 
ökonomischen Artikeln, die allesamt darzutun versuchten, 
daß Mexiko eine Gefahr für die Landesverteidigung von 
USA darstelle und unfähig sei, sich selbst zu verwalten. 

Im Staat San Luis Potosi bereitete sich eine Bewegung 
zum Sturz von Cärdenas vor. Ihr Führer, der General Sa- 
turnino Cedillo, war aus dem Ausland mit Waffen und 
Munition versorgt worden, von einigen Waffensorten, 
Tanks und Schützengrabenkanonen, besaß er mehr als die 
mexikanische Armee. Sein Generalstabschef war der deut¬ 
sche Nazi und Oberst Ernst Freiherr von Merck. Aus sei¬ 
ner gutgesicherten Villa in Coyoacän, der Gartenvorstadt 
Mexikos, genauer gesagt, aus seinem mit dem Hitlerbild und 
Hakenkreuzornamenten dekorierten Arbeitszimmer leitete 
er die strategischen Vorbereitungen der Cedillo-Rebellion. 

Ein Deutscher anderer Art, mein verstorbener Freund 
Alfredo Miller-Fortmiller aus Hannover, legte dem Baron 
das Handwerk. Alfredo erschien in der Merckschen Fe¬ 
stung mit einem Emigrationsbeamten und wurde selbst als 
solcher angenommen. Baron Merck wies sofort das Original 


667 



jenes Dokuments vor, mit dem er in den fortschrittlichen 
Kreisen Mexikos als Nichtnazi aufzutreten versuchte: ein 
Telegramm Gustav Noskes an Leutnant Ernst Freiherrn 
von Merck, der Dank für die Dienste, „die Euer Hochwohl¬ 
geboren bei der Bildung der freiwilligen Formationen ge¬ 
leistet haben", das heißt jener Freikorps, welche 1918/1919 
die deutsche Republik an die Reaktion auslieferten. 

„Noske war Sozialdemokrat, Sie wissen?" sagte Baron 
Merck zu Alfredo Miller. Dieser wußte. Auch sein jetziger 
Chef, Saturnino Cedillo, erklärte Baron Merck, sei kein 
Faschist und kein Nazi. „Er stimmt bloß mit einigen der 
Sachen nicht überein, die Cärdenas macht." 

„Zum Beispiel mit der Ölenteignung", sagte Alfredo. 

„Zum Beispiel mit der Ölenteignung", wiederholte Ba¬ 
ron Merck und fügte hinzu: .. glaube ich." 

Alfredo behielt einen Brief, der bewies, daß Baron 
Merck gemeinsam mit dem deutschen Botschafter für Ce¬ 
dillo arbeitete. Nach der Veröffentlichung des Briefes ver¬ 
ließ Baron Merck das Land und war beim Ausbruch des 
Aufstandes, für den er die Pläne geliefert hatte, nicht 
mehr in Mexiko. Im Rebellengebiet erschien Cärdenas und 
leitete die Niederwerfung. 

Ein internationaler Boykott gegen mexikanisches Petro¬ 
leum setzte ein. Mexiko versank fast in der Sintflut seines 
Öls. Gleichzeitig aber bewarb sich Japan darum. Es war 
bereit, den Mexikanern eine Rohrleitung quer durchs Land 
zu legen, von den Bohrlöchern am Atlantik bis auf die 
japanischen Schiffe im Pazifik. Italien bot den Bau von 
Tankschiffen an. Nazideutschland, vertreten durch eine 
Gruppe amerikanischer Spekulanten, wollte die gesamte 
Ölproduktion Mexikos für vierzehn Millionen Pesos kau¬ 
fen und dafür Rechenmaschinen, Nähmaschinen und Werk¬ 
zeugmaschinen liefern. Vielleicht waren es diese Unter¬ 
händler aus neutralen Ländern selbst, die - soweit es 
die Verhandlungen nicht gefährdete - in die Welt lan¬ 
cierten: Seht, das bolschewistische Mexiko verhandelt mit 
den Nazis! 

Das „bolschewistische Mexiko"! „Mexiko, der neue Sitz 
der Kommunistischen Internationale." Auf diesen Grund¬ 
ton waren die politischen Angriffe gestimmt. Antifaschi- 


668 



stische Flüchtlinge aus den von den Nazis besetzten Ge¬ 
bieten Europas wurden bei Behörden und in der Presse 
denunziert. Den einen wurde vorgeworfen, sie hätten den 
Überfall Rußlands auf das arme Finnland gutgeheißen; 
den anderen (einschließlich des Schreibers dieses Buches), 
daß sie die Agenten der GPU seien. Die Trotzkisten, die 
so lange nichts zu melden gehabt hatten, hatten jetzt viel 
zu melden. Täglich eine Enthüllung: „Ein Stalinist in Me¬ 
xiko eingetroffen!" 

Um diese Zeit lief die Amtsperiode des Präsidenten 
Cärdenas ab, General Almazän, ein Gegner der Ölenteig¬ 
nung, kandidierte mit dem Programm: „Wenn die Lösung 
des Petroleumkonflikts nicht durch die gegenwärtige Re¬ 
gierung endgültig erfolgen und ich gezwungen sein sollte, 
die diesbezüglichen Verhandlungen weiterzuführen, werde 
ich dafür Sorge tragen, daß diese Verhandlungen zu einer 
freundschaftlichen und loyalen Vereinbarung gelangen. 
Diese wird auf der Grundlage des Rechts und der Gleich¬ 
berechtigung, unter Berücksichtigung der Souveränität Me¬ 
xikos und der Völkerrechtsnormen erfolgen und den na¬ 
tionalen Interessen sowie den berechtigten Interessen der 
Petroleumgesellschaften und der Arbeiterschaft dieses In¬ 
dustriezweiges entsprechen." 

Gewählt wurde nicht Almazän, sondern Manuel Avila 
Camacho. 

Inzwischen führten die Ölgesellschaften den Kampf um 
die Ablösungssumme weiter. Auf Grund der Steuererklä¬ 
rungen war der Wert der Unternehmungen mit fünfzig 
Millionen Dollar errechnet und diese Summe als Ablösung 
festgesetzt worden. Gegen diese Einschätzung protestierten 
die Ölfirmen so heftig, daß sie offen bekannten. Zoll¬ 
betrug, Bücherfälschung und Steuerhinterziehung begangen 
zu haben. Sie hätten ihre Einkünfte niedriger angegeben, 
als sie in Wirklichkeit waren - weil das in Mexiko so 
üblich sei. Als Abfindung verlangten sie vierhundertfünf¬ 
zig Millionen in bar, dann hundertzwanzig. 

Mitten in die Preisverhandlungen platzte 1939 der Krieg 
Deutschlands gegen England und 1941 gegen USA. Nun 
brauchte man das boykottierte Öl und die Bundesgenos¬ 
senschaft Mexikos, und der Konflikt wurde erledigt, wäh- 


669 



rend Mexiko noch mit der Wiederinstandsetzung der Öl¬ 
anlagen beschäftigt war. 

Die „Öl-Presse" hatte es leicht gehabt, zu prophezeien, 
Mexiko werde nicht imstande sein, Produktion und Trans¬ 
port aufrechtzuerhalten. Besaß es doch weder ein Genug 
an Kapital noch an intakten Maschinen, noch an Verkehrs¬ 
mitteln. Mexikos einziges Tankschiff „San Ricardo" lag in 
Alabama, USA, auf Trockendock. 

Aber durch große Opfer der Arbeiterschaft wurde die 
billige Prophezeiung zuschanden. Mexiko fördert sein Öl 
selbst, wie es vorher die Fremden getan, und schafft Ein¬ 
richtungen, wie es vorher die Fremden nicht getan, weil 
die Entwicklung der einheimischen Industrie außerhalb 
ihrer Interessen lag. 

Mexikanisches Rohöl und seine Derivate waren ins Aus¬ 
land geschickt worden, vor allem nach Balik Papan in 
Niederländisch-Indien und nach Curacao, den beiden Pe¬ 
troleumhauptstädten der Welt, und kamen dann zum Teil 
nach Mexiko zurück. Warum dieser enorme Umweg? In 
Curacao und Balik Papan wurden die Ölprodukte so weit 
veredelt, daß sie der internationalen Spezifikation und da¬ 
mit dem internationalen Preistarif entsprachen, Mexiko 
selbst besaß keine Anlagen, die sein Öl hinreichend ver¬ 
edeln konnten. 

Die einzigen im Lande hergestellten Fertigprodukte 
waren Asphalt und Gasöl. Und heute? Heute gibt es Ga¬ 
solin mit höherem Oktan für Autos und sogar für Flug¬ 
zeuge, weißes Gasolin für Industrien, Kerosin für Öfen, 
Paraffin für Kerzen, Schmieröle für Maschinen. 

Den Binnentransport besorgt der Oleodukt. Er mündet 
in der Raffinerie von Atzcapotzalco. Dort, am Nordrand 
der Hauptstadt, war in der präcortezianischen Zeit der 
Sklavenmarkt gewesen, und dort wohnten die Goldarbei¬ 
ter, bei denen die spanischen Soldaten ihren Anteil am 
Schatz des Moctezuma einschmelzen ließen. Später war 
Atzcapotzalco ein Armenvorort, und heute, nach dem Aus¬ 
bau der Petroleumleitung und der Raffinerie, wird es 
mehr und mehr zum neuen Industriezentrum des haupt¬ 
städtischen Distrikts. 


670 



II 


In Begleitung eines Gewerkschaftlers von STPRM 
Sindicato de Trabajadores Petroleros de la Repüblica Me- 
jicana, fahre ich hin. Unterwegs entschuldigt er sich, daß 
er nicht Englisch könne, obwohl er aus Tampico stamme. 

Was hat Tampico mit der englischen Sprache zu tun? 

„In Tampico wurde sehr viel englisch gesprochen. Ins 
Hotel Imperial, ins Hotel Inglaterra, in die Restaurants 
Bristol, Palace Grill und die übrigen besseren Lokale ver¬ 
irrte sich selten ein Mexikaner. Als mein Vater vor vierzig 
Jahren in Tampico zu arbeiten begann, bekam er seinen 
Tageslohn in Dollarcents, und damit bezahlte die Mutter 
ihre Einkäufe. Wenn ein Mexikaner, ein Politiker oder 
ein General oder ein Spekulant, in den Barrio de la Union 
sumpfen ging, ins weltbekannte Nachtleben Tampicos, so 
zahlte er unverhohlen mit den Dollars oder Pfunden, die 
er eben in der Direktion geerntet hatte." 

Ich frage mit Interesse, ob der Barrio de la Union noch 
bestehe. 

Er bestehe noch, Tampico sei ja eine Industriestadt mit 
fast hunderttausend Einwohnern und ein Hafen. „Aber 
schottischen Whisky und internationale Mädchen gibt's 
nicht mehr im Barrio de la Union, und vor allem fehlen 
die anglo-amerikanisehen Gäste, die nicht wußten, wohin 
mit ihren Pfunden und Dollars." 

Das tägliche Leben Tampicos war primitiv. Erst als die 
Ölkonflikte begannen, errichteten die Ölkompanien Schulen 
für Arbeiterkinder. Wiederholt wurden die Aktiengesell¬ 
schaften gebeten, englischen Sprachunterricht für Erwach¬ 
sene einzurichten oder technische Fortbildungskurse, es 
kam aber nie dazu. 

„Wir hatten zwar Gewerkschaften", sagt der Gewerk¬ 
schaftler, „aber sie waren nicht zu einem Gewerkschafts¬ 
verband zusammengeschlossen. Jedes Ölfeld, jede Raffi¬ 
nerie, jede Transportstelle hatte eine Extragewerkschaft. 
Sie vertrat ihre Mitglieder nur vor ihrer Betriebsleitung. 
Einunddreißig solcher Arbeiterorganisationen gab es. 
Ihnen entsprechen heute die einunddreißig Sektionen der 
zentralen Gewerkschaften. In den ersten Jahren nach der 


671 



Nationalisierung war die Lage der Arbeiter sehr schwer. 
Aber jetzt erstehen überall Arbeiterkolonien, Kliniken, ins¬ 
besondere für die Behandlung von Sumpffieber und Tu¬ 
berkulose. Wir haben einen Aquädukt, der bringt Trink¬ 
wasser von Tancol nach Ciudad Madero, über anderthalb 
Millionen Pesos hat er gekostet. Trockenlegungen wurden 
durchgeführt, Deiche gebaut und sehr viele Schulen." 

Der Gewerkschaftler schnuppert und verlöscht seine Zi¬ 
garette. „Hier riecht es wie in meiner Heimat." 

Es riecht nach Petroleum. 

Wir fahren durch ein Tor, auf dem „Petröleos Mexica- 
nos" steht, fahren durch einen Park, dessen Bäume metal¬ 
lische Gestänge sind und dessen Beete runde, birkenfar- 
bene Reservoire. Im Kanzleigebäude fragt man mich, was 
ich sehen will. Ich möchte den Oleodukt sehen. 

Den habe noch niemand zu sehen verlangt. Es sei auch 
gar nichts zu sehen. Die Mündung eines Rohrs - das sei 
alles. 

Einer der Beamten schlägt sich auf die Stirn. „Wir kön¬ 
nen Ihnen den Ingenieur vorstellen, der den Oleoducto 
gebaut hat. Er wird Sie hinführen und Ihnen alles er¬ 
zählen." 

So kommt denn ein bescheidener Mann heran und be¬ 
teuert gleich, daß er den Oleoducto nicht gebaut habe. 
Aber er sei bei den Contratistas angestellt gewesen, bei 
der ausländischen Firma Martin <6 Circuit; der war es 
übertragen, das Rohrnetz von Tuxpan bis Mexiko-Stadt 
zu erweitern. 

„Ich habe nur den Bau der Pumpstationen geleitet", sagt 
der Ingenieur, „das Terrain verläuft nämlich nicht hori¬ 
zontal, geschweige denn abwärts. Wenn dem so wäre, 
würde man keine Pumpwerke brauchen. Das Terrain 
steigt, und sogar sehr steil. Das Ölfeld von Poza Rica, im 
Staat Veracruz, wo der Oleoducto beginnt, liegt nahe der 
Küste, nur dreißig Meter über dem Meeresspiegel. Aber 
es war schwer, das Rohr zu legen, wegen der Hurrikane 
des Golfs und der Überschwemmungen. Hinter der Küsten¬ 
ebene hört das Überschwemmungsgebiet auf, aber leider 
auch die Ebene. Unser Oleodukt muß ein ganzes Gebirge 
überklettern, die Sierra de Puebla, und um diese Steigung 


672 



zu überwinden, haben wir sieben Pumpstationen gebaut. 
Die höchste liegt der Hauptstadt am nächsten. Das ist die 
Pumpstation Cima de Togo. Dort wird das Rohöl zwei¬ 
hundert Meter hochgehoben, bis auf 2800 Meter Meeres¬ 
höhe. Die Stadt Mexiko liegt nur 2247 Meter über dem 
Meeresspiegel, und so braucht das Öl von dort an keine 
Pumpe mehr. Mit eigener Schwerkraft rinnt es bis zu die¬ 
sem Punkt." 

Bei diesem Punkt bleibt mein peripatetischer Lehrer 
stehen und weist mit der Hand auf eine Pfütze. „Das ist 
die Mündung. Hier endet der große Oleodukt Mexikos. 
Tagtäglich bringt er dreitausend Kubikmeter Chapopote 
hierher" (in Mexiko verwendet man für Rohöl noch immer 
dieses indianische Wort), „19 000 Barrels werden binnen 
vierundzwanzig Stunden in unserer Raffinerie verarbeitet. 
Stellen Sie sich vor, wieviel Tankwaggons und Tankautos 
früher für den Transport nötig waren." 

Ich schaue auf die Mündung. Wäre ich hier allein vor¬ 
beigekommen, so hätte ich diesen Sumpf kaum bemerkt, 
auf dem ein paar irisierende Reflexe spielen. Zwei, drei 
dicke Röhren kreuzen sich über der Pfütze, an ihrem 
Rand steht eine Hütte mit einer Pumpe. In den vier Rich¬ 
tungen der Windrose, zweihundert Schritte entfernt, erhebt 
sich je ein aluminiumglitzerndes Reservoir. Diese vier Rie¬ 
sen werden von den Röhren oberhalb der kleinen Pfütze 
mit Rohöl gespeist und geben es an die einzelnen Ver¬ 
arbeitungspunkte der Raffinerie weiter. 

Ich mache nun, die Einfahrt des Rohöls in die Raffinerie 
begleitend, meinen Rückweg. Am Kaspischen Meer habe 
ich Raffinerien im Bau und anderswo Raffinerien in Be¬ 
trieb gesehen. Was mir hier neu ist, sind zwei Tanks, die 
nicht in Silberfarbe leuchten, sondern - ein in Fabriken 
sonst nicht üblicher Farbensinn - ein knallrotes und ein 
himmelblaues Dach haben. Daß diese Tanks irgend etwas 
zu tun haben mit der durch die ganze Raffinerie laufenden 
Rohrleitung, die einen ebenso knallroten und einen ebenso 
himmelblauen Hahn hat, habe ich mir schon gedacht. Nun 
frage ich. 

„Das ist die Foamite-Anlage", antwortet der Ingenieur, 
„die beiden buntgedeckten Tanks sind für die Foamite- 


673 



Mischung da, und die beiden Röhren führen zu allen Re¬ 
servoiren und zu allen Destillationsanlagen, um dort eine 
Feuersbrunst zu löschen, wenn sie ausbrechen sollte." 

Durch die beiden Röhren fließen zwei verschiedene Flüs¬ 
sigkeiten, erklärt der Ingenieur, die sich an der Brand¬ 
stelle miteinander zu Schaum vermischen; dieser Schaum 
bedeckt im Nu den extensivsten Brandherd, entzieht ihm 
den Sauerstoff und verhindert das Feuer, neuen Sauerstoff 
aufzunehmen. 

Außerdem gibt es Feuerwehrstationen mit Pumpen, 
Sandkästen, Löschapparaturen, Leitern, Hacken und allen 
anderen Feuerlöschmitteln mit Ausnahme von Wasser - 
Wasser ins Ölfeuer würde soviel bedeuten wie Öl ins 
Feuer zu gießen. In der ganzen Raffinerie herrscht Rauch¬ 
verbot, wohl das einzige Rauchverbot im Lande, das wirk¬ 
lich befolgt wird. 

Tag und Nacht wird das Chapopote aus den Reservoiren 
elektrisch den Destillationsanlagen zugeführt. Selbst wenn 
der elektrischen Kraft die Kraft ausgehen sollte, gäbe es 
keine Erholungspause, denn Dampfmaschinen stehen pa¬ 
rat, um einzuspringen. 

Erste Station auf meinem Marsch entlang des Rohöls 
ist die Heizanlage. Dort muß es zunächst in die Feuer¬ 
kammer und durch ein Labyrinth von Röhren rennen, in 
denen ihm das Leben heiß gemacht wird. 

Erhitzt kommen Chapopote und ich in der Destillations¬ 
anlage an, zu Füßen eines metallenen Rundturms. Ich bleibe 
draußen, das vorgewärmte Rohöl läuft ein und steigt em¬ 
por. Im Ölturm geht es zu wie im sozialen Leben der 
Menschen. Gemeinsam strömen die Massen ein, nach und 
nach aber spaltet sich die Einheit, immer schwieriger wird 
es, aufwärts zu kommen. Die Stockwerke sind voneinander 
durch perforierte Platten getrennt, je höher das Stockwerk, 
desto kleiner die Löcher, desto schwerer der Aufstieg. 
Fünfzehn Etagen. Auf jeder macht eine andere Fraktion 
schlapp, sie ist am Ende ihrer Kraft angelangt, wutzischend 
braust sie noch einmal auf, kühlt sich aber schnell ab. 

Die Fraktion, die auf der Strecke bleibt, wird abge¬ 
schleppt, zu ihren unterschiedlichen Bestimmungen. Ganz 
unten sind die Rückstände, gerade gut genug, verheizt 


674 



oder zur Asphaltierung verwendet zu werden. Nur was 
den Gipfel des Turms erreicht, kann sich alsbald in noch 
höhere Höhen und weitere Weiten schwingen - eben 
schwebt ein Flugzeug über der Raffinerie, als wollte es die 
Geburtsstätte seiner Treibkraft grüßen. 

Das Öl ist nun kein Rohöl mehr, sondern Gasolin und 
Kerosin. In besonderen Raffinierungsanlagen wird es mit 
aktiver Erde, mit Schwefel und Chemikalien jener Ver¬ 
edelung ausgesetzt, die früher im Ausland besorgt wurde. 

Ich münde mit dem Petroleum in der Distribuidora, 
einem Hafen auf dem Festland, einem Hafen, in dem alle 
Arten von Verkehrsmitteln liegen, nur Schiffe nicht. Die 
Passagiere der Tankautos und Zisternenwaggons sind 
waagrechte Zylinder. Lokomobilen, Lokomotiven, Schie¬ 
nen. Die Waggons werden an Eisenbahnzüge oder Stra¬ 
ßenbahnen gekoppelt, fahren in ferne Fabrikhöfe. Autos 
bringen das Öl zu den Tankstellen und zu den kleineren 
Industrien des hauptstädtischen Bezirks. Gasbomben wer¬ 
den zu je vierzig Stück in Autos geladen, um die Haus¬ 
halte zu beliefern. Ich wende mich an den Gewerkschaft¬ 
ler, den ich innerhalb der Raffinerie vernachlässigt habe, 
mich mehr der Führung der Rohre und des Ingenieurs 
an vertrauend. 

„Früher gab es kein Gas, nicht wahr?" 

„Was, kein Gas?" Er lacht. „In Tampico brannte das 
Gas nicht nur nachts, sondern den ganzen Tag. Sogar das 
Meer hatte Gasbeleuchtung, damit die Fische sich nicht 
verirren." 

Er erklärt, wie das kam: „In den dreißiger Jahren wurde 
in den Raffinerien der Crackingprozeß eingeführt, und es 
gab einen Überfluß an Gas. Damals verlangten die Ge¬ 
meinden, daß ihnen Gas zum Kochen abgegeben werde. 
Aber die Gesellschaften hatten weder Verteilungsanlagen 
noch Lust, solche einzurichten. Sie stellten lieber in jeder 
Raffinerie ein riesiges senkrechtes Rohr auf und verbrann¬ 
ten darin das Gas. Wie eine rote Fackel beleuchtete das 
Gas den Himmel des Staates Veracruz und das Wasser des 
Golfs von Mexiko. Die Bevölkerung hatte nichts davon. 
Seit der Nationalisierung ist das anders. Das Gas von 
Poza Rica wird nach Tampico geleitet, dort komprimiert 


675 



und in Tankwagen hierhergebracht. Hier die Gasanlage 
mit den Schläuchen füllt die Bomben. Vierzig Prozent des 
Gaskonsums wird von hier aus gedeckt." 

Wir kommen wieder an einem Raffinerie türm vorbei, 
und da mir gesagt wird, dieser sei der größte, steigt in 
mir der Wunsch hoch, selber hochzusteigen. Halb zum 
Spaß trete ich auf die unterste Leitersprosse und klimme 
dann die nächsten hinauf, an der Außenwand des Turms, 
darin sich das Rohöl in verschiedene Stoffe verwandelt. 
Von der Tiefe des Rohöls und des Asphalts klettere ich 
zur Hohe von Kerosin und Gasolin, ohne selbst leichter 
oder gar gasförmig zu werden und ohne etwas anderes 
zu sehen als den Aluminiumanstrich des Turms. Schlie߬ 
lich bin ich an der Endstation angelangt, und auf der Höhe 
kommt mir der tiefe Gedanke, die genialste Erfindung sei 
doch die normale Treppe, bei deren Besteigung man keine 
Schwielen auf der Handfläche bekommt und keine Schmer¬ 
zen in den Armmuskeln. 

Von der Plattform aus sehe ich die Schlangenpyramide 
von Tenayuca. Ich sehe die wunderverheißende Kirche der 
Indios, „Virgen de Guadalupe", an der der Oleodukt vor¬ 
beiführt. Ich sehe vizekönigliche und andere Haciendas, 
die gleichzeitig Festung, Kirche, Kloster, Landwirtschafts¬ 
betrieb und Liebesnest waren. Dann schaue ich auf die 
Industriestadt zu meinen Füßen, rauchende Fabriken und 
Fabriken im Bau. Sie scharen sich um die Raffinerie, die 
ihnen Blut zuleitet. 

Ich blicke senkrecht hinab, um die Mündung des Rohrs 
zu suchen, das das Öl und die Arbeit hierhergeführt hat. 
Zwischen den vier Reservoiren entdecke ich endlich die 
Pfütze. Innerhalb des Quadrats, das die vier Tanks um 
sie bilden, sproßt Unkraut. Wie ein Schindanger sieht der 
Platz aus, der wie ein Siegespark aussehen sollte. 



DER KASPAR HAUSER UNTER DEN 
NATIONEN 


Das ist das Verwirrende und Erregende dieser Welt: 
das Dunkel, aus dem sie kommt. 

Nichts von dem, was war, ist mehr, fast alles, was nicht 
war, ist jetzt 

Man ziehe irgendeine europäische Hauptstadt zum Ver¬ 
gleich und Gegensatz heran. In Rom, in Paris, in Prag 
standen seit Jahrtausenden die Häuser mit Selbstverständ¬ 
lichkeit auf festem Grund und Boden, wie sie auch heute 
dort mit Selbstverständlichkeit auf festem Grund und Bo¬ 
den stehen. Immer gab es Straßen, auf denen man ging und 
fuhr, aber nicht ruderte oder schwamm. Allüberall in den 
Städten der Alten Welt gab es seit dem frühen Mittelalter 
im Grunde die gleichen Begriffe, die es heute gibt. Man 
zählte in Münzen, trug Hose und Schuhe, bearbeitete Hof 
und Feld, eignete Geflügel und Hund, schlief in Betten, ritt 
auf Pferden, schrieb mit Buchstaben und Ziffern, rechnete 
mit Maßen und Gewichten, wie man's heute tut. 

In Europa und in Asien lag und liegt der Garten vor 
dem Haus als Garten da und schwimmt nicht auf dem 
Wasser. Inseln sind von der Natur und nicht von Men¬ 
schenhand geschaffen. Ebensowenig von Menschenhand ge¬ 
schaffen sind auf den älteren Kontinenten die Berge; die 
Schöpfung hat sie ins Tal gesetzt, keineswegs wurde auch 
nur ein einziger Berg durch Fromme und Sklaven von 
unten auf in Pyramidenform hinangeschichtet zur größeren 
Ehre der Gottheit. 

Für ewig gilt in Europa der Kalender, zum Unterschied 
von Alt-Mexiko, das an die Ewigkeit des Irdischen nicht 
geglaubt hatte. Und alles galt ihnen als irdisch, sogar die 
mächtigen Götter. Die lebten früher als Schlangen und 
Ameisen und Kakteen auf Erden, wenn ihnen nicht zu¬ 
gedacht war, sich als Gestirne auf dem Himmel herumzu¬ 
treiben. Auch litten sie Durst, und nur das Blut geopfer- 


677 



ter Menschen stillte ihn. All das bis zu dem Tage, da die 
Götter selbst geopfert wurden, ohne sich zu wehren. Da 
hörten ihre Gläubigen auf, ihre Gläubigen zu sein, und 
wandten sich dem Glauben der Göttermörder zu, so gute 
oder schlechte Christen werdend, wie es jene und ihre 
Ahnen seit Tausenden von Jahren waren. 

Von einem Tag auf den anderen wurden Tradition, Ge¬ 
schichte und Dynastie zerbrochen, weggeworfen, verbrannt, 
von einem Tag auf den andern wechselte alles, Sprache 
und Glaube, Staat und Familie, Hautfarbe und Sitte, Na¬ 
men und Gebärde, Waffe und Erwerb, Gebrauch und Ge¬ 
setz, das Menschenreich und das Tierreich. 

Wie der Jüngling Kaspar Hauser aus kerkerhafter Fin¬ 
sternis plötzlich ins Leben trat, welches er bisher noch 
niemals erblickt hatte, so staunte Mexiko, als es sich der 
weißen Menschheit gegenübersah. Wie Europa den aus 
dem Geheimnis ins Leben getretenen Jüngling anstaunte, 
so staunte dieses Europa, als es sich der „Neuen Welt" 
gegenübersah. 

So eingebildet wie die Weißen waren die Roten nicht, 
sie hielten sich keineswegs für die seit ewig erbeingeses¬ 
sene, für die einzige lebensberechtigte und herrschaftsberu¬ 
fene Menschenart. Sie sahen die Bärtigen und Blaßhäutigen 
nicht als minderwertig an. 

Auch Kaspar Hauser glaubte nicht, als er mit Menschen 
zusammenkam, er habe sie gefunden, sie seien seine Find¬ 
linge. Obwohl er bislang ohne sie ausgekommen war, 
glaubte er nicht, mehr zu sein als sie. Er trat ihnen mit 
scheuem Respekt entgegen. 

Die Indianer traten dem Cortez gleichfalls mit scheuem 
Respekt entgegen, leider. Ihnen schien er der gute Gott 
Quetzalcoatl zu sein, der einst dem Lande entschwunden 
war, aber versprochen hatte, wiederzukehren. Nun war er 
also wiedergekehrt, und siehe da, die steinernen Bildnisse, 
die man allerorten dem Quetzalcoatl gestellt hatte, erwie¬ 
sen sich als verblüffend ähnliche Porträts von Cortez. (Im 
Basler Museum für Völkerkunde steht eine Quetzalcoatl-Sta- 
tue, zu der der Konquistador Modell gesessen haben könnte, 
wenn sie nicht lange vor ihm geschaffen worden wäre.) 

Ohne dieses Äußere hätte Cortez dort Widerstand er- 


678 



weckt, wo er dank dieses Äußern Waffenhilfe und Gehor¬ 
sam erweckte. Er wurde der umgekehrte Don Quijote, 
der Ritter von der glücklichen Gestalt, und seine Don-Qui- 
joterien endeten mit siegreichem Ruhm. Wo er Windmüh¬ 
len zu berennen glaubte, fand er ein feindliches Heer und 
besiegte es, wo er eine Kuhmagd umarmte, erwies sie sich 
als das geborene Ritterfräulein, und sie verhalf ihm zu 
Triumphen. 

So rasch auch die Indios erkannten, daß sein Äußeres 
sie betrogen hatte, daß er alles eher als der Heiland sei 
- es war zu spät. Man soll eben nicht voreilig Mythen 
schaffen. Besser als die Indios verstand die Kirche sich 
aufs Timing. Erst als Cortez sein Werk bereits vollendet 
hatte, verkündete sie von der Kanzel und auf Flugblättern 
den Mythos: Ein Fingerzeig Gottes sei es, daß zur glei¬ 
chen Stunde, da in Deutschland Martin Luther geboren 
wurde, in Spanien Ferdinand Cortez zur Welt kam, um 
der Mutter Gottes und dem Papst so viele Seelen zuzu¬ 
führen, als ihnen jener Erzketzer entrissen. 

In ungeheurem Ausmaß ist die Konquista geglückt, die 
Kolonisierung, die Kapitalisierung, die Pauperisierung, die 
Bürokratisierung und die Demoralisierung, kurzum, die 
Europäisierung. Der Heide ward zum Kirchengänger, der 
Wilde zum Bergmann, der Jäger zum Kaufmann, die Na¬ 
tur zum Rohmaterial, der See zum Festland, die Pyrami¬ 
den zum Touristenziel, die Götzen zum Handelsobjekt und 
die Hauskunst zum Ausfuhrartikel. Die Städte besitzen 
Kathedralen und Paläste altspanischen Stils, und die übri¬ 
gen Gebäude sind neutral, wie Häuser in Städten der übri¬ 
gen Welt. 

Du kommst im Eisenbahnzug an, nimmst Autobus, Stra¬ 
ßenbahn oder Taxi und fährst ins internationale Standard¬ 
hotel, als wäre hier nicht noch jüngst ein See gewesen 
mit Lagunen und Dammwegen. Du begegnest Menschen 
mit Allerweltskleidern und Allerweltsgesichtern und kannst 
dir überhaupt nicht vorstellen, daß hier einst Moctezuma 
mit meterhoher Federnpracht auf dem Haupt in goldener 
Gondel spazierenfuhr. Dennoch würdest du, käme er jetzt 
des Weges, nicht so sehr über ihn staunen wie er über 
dich, der Kaspar Hauser mit der Kaiserkrone. 


679 



Und gar, wenn du auf einem Pferde säßest! Bevor die 
Spanier ins Land kamen, kannte man weder Pferd noch 
den Haushund. Seither ist der Mexikaner fast zum Zen¬ 
taur geworden, der „Charro" gilt mehr als Chevalier, Ca¬ 
ballero und Ritter zusammen und trägt diese Würde auch 
dann zur Schau, wenn er mal zu Fuß gehn muß; seine 
Tracht ist die schwarze, prall anliegende Hose mit einer 
Lampasse aus runden Silberknöpfen, ein silberbesticktes 
Lederjäckchen und Sporen, so groß wie Zahnräder einer 
Turmuhr. Wer kennt nicht die Reiterkünste des mexika¬ 
nischen Charros. Mexiko, das einst die Pferde des Cortez 
für Hirsche aus der Götter weit ansah und sich bei ihrem 
Wiehern in den Staub warf, rangiert heute im internatio¬ 
nalen Pferdepolo-Turnier unmittelbar hinter England. 

Unweit vom Golffeld erstreckt sich der grandios mo¬ 
derne Turfplatz, „El Hipodromo de las Americas". Dieser 
Plural von Amerika hat seinen Sinn. In Agua Caliente, an 
der Grenze von Kalifornien, stehen Turfplatz und Kasino 
bloß im Dienst eines einzigen Amerika, dem der Yankees. 
Dorthin kommen sie, um mit ihren Freundinnen das Week¬ 
end ehelich zu verbringen, ohne durch heimatliche Gesetze 
und Presseneugier bedroht zu sein. Besonders in den Jah¬ 
ren der Prohibition wimmelte Agua Caliente von Inko¬ 
gnitogästen aus Hollywood. Gambier und Gangster, denen 
in USA polizeiliche Schwierigkeiten bei ihren Wetten und 
Spielen gemacht werden, fühlen sich auf mexikanischem 
Rennbahnboden behaglicher, und hier war's, wo das austra¬ 
lische Wunderpferd Phar Lap ungehindert und ungesühnt 
ermordet werden konnte. Auf dem Rennplatz von Mexiko- 
Stadt ist das ganz anders. Hier wetten alle Amerikas mit, 
Südamerika, Mittelamerika und Nordamerika. Hauptsäch¬ 
licher aber Mexiko selbst, das nicht, wie viele glauben, 
zu Mittelamerika gehört, sondern zu Nordamerika. Mexi¬ 
kos Minister, Gobernadoren, Generale und gewisse fremde 
Gäste von der Art König Carols von Rumänien setzen auf 
die Pferde, die es vor des Cortez Tagen noch nicht gab. 

Auch über die Hunde würde König Kaspar Hauser 
nicht wenig staunen. Vor seiner Entmachtung und seinem 
Tode gab es nur zwei Arten von Hunden, den kurzbeini¬ 
gen, schmackhaften Ixcuintle, den man auf der Jagd er- 


680 



legte, und den stummen Techichi, den man fing, kastrierte 
und gemästet auf den Markt brachte. So lange dienten 
Ixcuintle und Techichi dem Indio als jagdbares Wild, bis 
sie ausgerottet waren. Statt ihrer bürgerten sich Haus¬ 
hunde, Schoßhunde und Jagdhunde aller Arten ein und 
erlebten schließlich eine unerklärliche Dekadenz. Nachts 
geht es in den Straßen der Stadt Mexiko zu wie einst in 
Konstantinopel, Hunde beherrschen das Nachtleben, in Ru¬ 
deln sprengen sie durch die Straßen, zu zweit werfen sie 
die Abfalleimer um, sich des Inhalts leichter bemächtigen 
zu können, einzeln schließen sie sich dem erstbesten Pas¬ 
santen an, in der Hoffnung, er werde sie nach Hause mit¬ 
nehmen und dem bisherigen Hundeleben von Hunger und 
Obdachlosigkeit entreißen. Auf dem Lande durchwühlen 
sie, ein schauerlicher Anblick, die Friedhöfe. 

Alle Rassen sind dabei, bloß der Ixcuintle und Techichi 
nicht, im Zoologischen Garten von Chapultepec lebt der 
letzte einheimische Hund. So steht es mit allem mexika¬ 
nischen Urgetier. Mit dem Quetzal-Vogel zum Beispiel, 
dessen Gefiederpracht als Hoheitszeichen der Göttlichkeit 
und Königlichkeit galt; er emigrierte über die Grenze und 
durchfunkelt jetzt die Lüfte über der Nachbarrepublik 
Guatemala. Der mexikanische Kaspar Hauser in seiner Fe¬ 
derkrone müßte den Zoo aufsuchen, um das Getier zu fin¬ 
den, das er einst gekannt. Der deutsche Moctezuma fände 
daheim in Nürnberg alles genau so wieder, wie er es bei 
Lebzeiten gekannt, die Straßen, die Burg, die Häuser, den 
Lebkuchen, das Bratwurstglöckle, das Gänsemännchen ... 

Der indianische Doppelgänger des deutschen Kaspar 
Hauser zog ein schlimmeres Los als der deutsche Kaspar 
Hauser. Der indianische Kaspar Hauser wurde nicht ganz 
zu Tode ermordet, er lebt noch, aber wie einer, der's nicht 
vergißt, daß man ihm von einem Tag auf den andern die 
Freiheit nahm, den Glauben, die Sprache, die Frauen und 
Töchter und sogar das Tageslicht, indem man ihn an unter¬ 
irdischen Bergwerkswänden anschmiedete. Dreihundert 
Jahre schmählichster Sklaverei. 

Dreihundert Jahre lang gab es für die Sklaven keinen 
anderen Kontakt mit dem Kontinent, der sie unter solchem 
Triumphgeheul entdeckt hatte, als den behördlichen. Drei- 


44 Kisch VII 


681 



hundert Jahre lang identifizierten die Mexikaner Europa 
mit Spanien, kopierten spanische Kirchen und hängten Ko¬ 
pien spanischer Bilder hinein, feierten Geburtstage und 
Jubiläen von spanischen Königen, die sie niemals gesehen, 
lernten von spanischen Nationalhelden, lasen Cervantes, 
spielten die Dramen von Tirso de Molina, tanzten spani¬ 
sche Tänze, erhitzten sich an der Tauromachia, girrten mit 
der Gitarre die Serenade, bauten Garbantos an, die man 
in Spanien, aber nicht in Mexiko aß, hielten sich an spa¬ 
nisches Hofzeremoniell und schwangen den Fächer wie in 
Sevilla. Noch in meiner Jugend sang man in Europa ein 

In Mechiko, in Mechiko, 

Da macht man mit dem Fächer so ... 

Das war so ziemlich alles, was das außerspanische 
Europa seit der romantischen Epopöe des Cortez vom 
eroberten Festlande wußte. Aber als dieses hermetische 
Fabelland dennoch von der Französischen Revolution er¬ 
fuhr und nun in Aufstand und Volkskrieg seine Unabhän¬ 
gigkeit errang und nun nicht mehr das Königreich Neu- 
Spanien, sondern die Republik Mexiko war, da regnete es 
Interventionen aus aller Herren Ländern, von aller Länder 
Herren. Frankreich, England, Spanien, Nordamerika, wie¬ 
der Frankreich und ein österreichischer Erzherzog lande¬ 
ten, schlugen Schlachten, verstümmelten das Land und ver¬ 
suchten, ihm ihre Herrschaft aufzuoktroyieren. Wirtschaft¬ 
lich gelang es ihnen. Die Eisenbahn, die Industrien, die 
Häuser neuer Villenviertel oder Vororte, die Fischereien, 
das Telefon, die Straßenbahnen, die Elektrizitätsanlagen, 
die Pharmazien und ihre Produkte, die Versicherungen und 
vor allem alle mineralen Erdschätze gehörten dem Aus¬ 
land oder gehören ihm noch, direkt oder indirekt. 

Die Schokolade und der Kakao, die Vanille und der 
Chicle, der Tabak, alle diese und andere Produkte, deren 
Urheimat Mexiko ist und die hier noch heute in großem 
Maße erzeugt werden, der Thunfisch, das Obst, der 
Gummi, die Mica und das Erdöl und das Silber gehen 
fast zur Gänze ins Ausland - all das als Rohprodukte wie 
aus einer Kolonie oder als Halbfabrikate aus einer Halb¬ 
kolonie. Die Endprodukte kommen, mit den Schutzmarken 


682 



renommierter Fabriken versehen, zurück in Form von Kon¬ 
serven, Autoreifen, Zigaretten, Textilwaren, Konfekt, Kau¬ 
gummi oder - Dollars. 

Als Mexiko noch den Spaniern gehörte, wurden die 
wirtschaftlichen Restriktionen einfach mit Gesetzen und 
Polizeimaßnahmen durchgeführt. Alles, was irgendeiner 
spanischen Industrie, insbesondere einem Kronregal in 
Neu-Spanien, Konkurrenz machen konnte, wurde brachial 
vernichtet. Anbauflächen, Zucht von Tierfarben, Weinberge, 
Spiritusbrennereien und was nicht noch. 

Heute ist nicht mehr Spanien der Diktator, sondern der 
Welthandel. Alles und von allerorts wird geliefert, sogar 
die Heiligenbilder in häßlichem Buntdruck und die kit¬ 
schigen Kalender beziehen die Indios, die einst das Un¬ 
vergänglichste und Kühnste an Götterstatuen und Kalen¬ 
dersteinen besaßen, aus Japan, ausschließlich aus Japan. 
Der Film über den letzten Volkshelden Mexikos, über 
Pancho Villa, wurde in Hollywood gedreht. Im Lande, in 
dem Pferde, Rinder und Hühner unbekannte Wesen wa¬ 
ren, verwettet man sein Geld beim Rennen, beim Stier¬ 
kampf, beim Polo und beim Hahnenkampf. Statt Hüftball 
zu spielen, wie es alle Ahnen taten, ist man Zuschauer, 
schaut zu, feuert an und wettet auf kämpfende Gladiato¬ 
ren des baskischen Peloten, des amerikanischen Baseballs 
(geschrieben Beisbol), des englischen Boxens, des japani¬ 
schen Jiu-Jitsu, des montegassischen Roulettes, des spani¬ 
schen Stierestechens. 

Im Essen und Trinken hat sich der Indio freilich seinen 
früheren Geschmack bewahrt. Sein Brot ist die Tortilla, 
sein Salz der Pfeffer, sein Getreide der Mais und sein 
Trank der Pulque. Und auf dem Markt, wo er Kunde ist, 
wie es sein Ahne war, geht es im Grunde genauso primi¬ 
tiv und pittoresk zu wie zu des Ahnen Zeiten. 

Genauso ist's mit manchen Gewerben, ist es mit Sa- 
rape, Rebozo und anderen Teilen der Kleidung, so ist es 
mit Medizinen, Tänzen. 

Das kann man sehen. Aber man kann nicht alles sehen, 
was trotz des durchschlagenden Erfolgs der Konquista 
unkonqueriert blieb. Denn der indianische Kaspar Hauser 
hat seine dunkle Vorvergangenheit nicht vergessen. 


683 



VERSUCH EINER BESCHREIBUNG 
VON CHICHEN ITZÄ 


Ihr fahrt von Merida, der Hauptstadt Yucatans, nach 
Chichen Itzä. Das sind hundertzwanzig Kilometer. Zur 
ersten Hälfte braucht das Auto kaum zwei Stunden, zur 
zweiten mehr als doppelt soviel, denn der Weg ist schlecht. 

Aber schließlich kommt ihr doch in Chichen Itzä an, das 
ihr euch anders gedacht habt, als es ist, denn ihr habt von 
einer großmächtigen geschlossenen Stadt gelesen, die - 
inmitten des Urwalds versteckt - vom Urwald bedrängt 
ist. Und nun seht ihr nichts von einem Urwald, sofern ihr 
mit diesem Begriff ein undurchdringliches Dickicht von 
Baumriesen und knebelnden, fesselnden Schlinggewächsen 
verbindet, von der Fauna gar nicht zu reden. 

Das Mittelfeld der archäologischen Zone, sorgfältig auf¬ 
geräumt und eingezäunt, gleicht einem Fußballplatz außer¬ 
halb der Saison, in welcher Zeit man das Gras ungeschoren 
läßt. Jenseits der Planken bietet sich nur niedriges Ge¬ 
strüpp. 

Aus diesem Gestrüpp und aus der Grasnarbe unter uns 
ragen majestätische Paläste erratisch auf, jeder vom an¬ 
dern einige hundert Schritte entfernt und miteinander in 
gar keiner Verbindung. Es ist, als hätte man eine Gro߬ 
stadt sorgsam abgetragen und nur die monumentalsten 
Bauwerke stehengelassen, als sähet ihr zwar kein Rom, 
wohl aber hier die Peterskirche und dort das Forum Ro- 
manum, hier das Denkmal Victor Emanuels und dort die 
Engelsburg. 

Ihr streift entlang dieser verlassenen und geheimnisvol¬ 
len Tempelbauten, Palastbauten, Sportbauten, Marktbau¬ 
ten. Ihr erkennt, daß sie einer Bevölkerung von Tausen¬ 
den entsprochen haben müssen, und fahndet nun nach 
einem System von Straßen, nach Resten ihres Pflasters und 
nach einer Spur von Wohnhäusern für jene Tausende. 

Ihr möchtet euch den Lageplan rekonstruieren, sucht 


684 



und zeichnet so lange, bis ihr darauf kommt, daß ihr ein 
Opfer eures Stadtbegriffs geworden seid und daß es kei¬ 
nen Grundriß, nur einen Aufriß gab. Die Prunkgebäude 
waren nicht Höhepunkte zwischen den Quartieren von 
Patriziern und jenen der Proles. Sondern das, was sich in 
Europas Großstädten aus dem Niveau des Häusermeers 
auf das des Himmelsmeers zu erheben strebte, war hier 
die Großstadt selbst 

Die Bauten waren, nicht minder zweckhaft als die Wol¬ 
kenkratzer von Manhattan, senkrecht aufgeführt, statt 
ihre Größe im Horizontalen zu suchen. Freilich gaben nicht 
die Bodenpreise zur Ausnutzung des unentgeltlichen Hö¬ 
henraumes Anlaß, sondern in erster Linie die Angst des 
Naturmenschen vor der Natur. 

Rings um den Tempel auf bloßer Erde zu nächtigen 
erwies sich als gefährlich, denn ungehindert nahten feind¬ 
liches Getier und Gemensch. Mauern aber kamen dem 
Maya-Volk häßlich und feig vor und vor allem unprak¬ 
tisch. Konnten sie doch, eine Kalksteinwand, den Mauer¬ 
brechern aus den heimischen Edelhölzern nicht standhal¬ 
ten; sie bot auch gegen Raubvögel, Vampire und bösartige 
Affen keinen Schutz, und es gab Luchse und Wildkatzen, 
welche eine Mauer genauso zu erklimmen vermocht hätten, 
wie sie Bäume und Felsen erklommen. 

Jedenfalls zogen es die Mayas vor, ihre Schlaf Stätte 
aufzuschütten, sie durch Erde und Stein zu erhöhen, und 
wohnten solchermaßen auf einer Bastion. Und ihren wirk¬ 
samsten Schutz stellten sie zu ihren Häupten auf: den 
Altar. 

Bot die Plattform keinen Platz mehr für Schlafgelegen¬ 
heiten, so stülpte man ihr eine neue auf, nachher ein drit¬ 
tes Stockwerk und so fort. Mit jedem hob sich der Salon 
der Götter, die Wohnung der Priester und Feldherren hö¬ 
her, wurden die Treppen schöner, die Reliefs reicher und 
der Radius größer, den - im Falle von Gefahr - das Si¬ 
gnalfeuer auf dem Gipfel warf. 

Weit fern von hier, in Ägypten, konnte Pharao einfach 
die Errichtung eines viereckigen spitzigen Berges befehlen, 
der sein Grabmal sein sollte und sonst gar nichts; darunter, 
am Rand der Sahara, in Dörfern und Städten hausten die 


685 



Fellachen, welche die Arbeit taten, Sklaven. Hier aber, in 
Chichen Itzä, lebten die freien Mayas auf der von ihnen 
geschaffenen Pyramide und in ihrem Schutz. 

Je mehr die Bevölkerung an wuchs, desto mehr verlor 
ihr Wohnsitz den Charakter der „gewordenen" Stadt und 
gewann den einer gebauten. Die Tempel entstanden nicht 
mehr durch allmähliche Aufstockung, sondern nach dem 
strengen Plan des Architekten. Die Leute wohnten teils 
in den Pyramiden (die Hallen innerhalb des Kriegertem¬ 
pels boten Tausenden Unterkunft), teils befestigten sie ihre 
Hängematten im Busch, teils flochten sie sich zylindrische 
Hütten mit Kegeldach. 

Unversehrt erhielten sich bis auf den heutigen Tag die 
beiden Pole des Magnets, welche die Stadt hierhergezogen 
hatten, die Cenotes. Das sind kreisrunde Karstteiche, die 
in dem flußlosen Land Yucatan eine gleichermaßen sakrale 
wie profane Rolle spielen mußten. Der Mayastamm der 
Itzas hatte auf seiner Wanderung aus Peten, dem heutigen 
Guatemala, die beiden Brunnen entdeckt und blieb meh¬ 
rere Jahrhunderte lang bei ihnen. Chichen Itzä bedeutet: 
Brunnen der Itzä. 

So ums sechste Jahrhundert wanderten sie wieder dort¬ 
hin, woher sie gekommen waren. Und von dort kehrten 
sie im späten Mittelalter auf die Halbinsel Yucatan zu¬ 
rück, schufen ihre Städtestaaten, schlossen sich zum Städte¬ 
bund zusammen, entzweiten sich und erlitten schließlich 
das mexikanische Schicksal: Sie holten Waffenhilfe gegen 
Feinde herbei, die sich später der Waffenhilfe der Weißen 
bedienten beziehungsweise von diesen zur Waffenhilfe 
mißbraucht wurden. So wurden sie allesamt, Freund und 
Feind, zu Sklaven der Weißen. Die Mayas verließen ihre 
Städte, ohne aber auch das Land zu verlassen. Yucatan ist 
auch heute von Mayas bewohnt, die auf dem Lande nur 
Maya-Sprache sprechen, Maya-Gewänder tragen, Maya- 
Tänze tanzen und - wer weiß? - an Maya-Götter glau¬ 
ben. 

Vieles, vieles kannten und konnten die alten Mayas. 
Sie tranken Kakao, den später die katholischen Priester 
als Ketzertrank verfluchten. Sie rauchten, was die ersten 
Weißen, des Tabaksgenusses noch nicht kundig, dazu ver- 


686 



anlaßte, sich zu bekreuzigen. Ja, um das Maß der Teufelei 
vollzumachen, spülten sie sich nach der Mahlzeit den Mund 
aus! Im Stadion spielten sie mit dem Gummiball, aber 
Gott sei Dank nur so lange, als sie nicht von den Euro¬ 
päern mit Stier- und Hahnenkampf, Kartenspiel und Wür¬ 
feln bekannt gemacht wurden. Bevor ihnen das Christen¬ 
tum nahte, verehrten sie das Kreuz, beteten eine Art Va¬ 
terunser, unterhielten Nonnenklöster, deren Insassen zu 
Frömmigkeit und Keuschheit verpflichtet waren, und ver¬ 
ehrten eine heilige Dreifaltigkeit mit einem Gottvater, 
einem unsichtbaren Geist und einem Gottessohn, der mit 
Kaktusdornen „gekrönt" und nachher gehängt wurde, aber 
wieder auferstand. 

Auch biblische Bücher nannten die Mayas ihr eigen, 
wenn man will: ein Altes und ein Neues Testament, den 
„Popol Vuh" und den „Chilam Balam". Der Wissenschaft 
und der Kunst waren sie ergeben, verehrten eine eigene 
Muse für Tanz und eine andere für Musik, besaßen lange 
vor den Europäern einen astronomisch richtigen Kalender 
und lange vor den Indern die Null und mit dieser das 
Dezimalsystem. 

Von dem Fresko auf einer der Tempel wände ist nur so 
viel erhalten, daß man erkennt, wie minutiös und reali¬ 
stisch es gemalt war. Auch Schiffe sieht man auf dem Ge¬ 
mälderest, Landung und Seeschlacht. Also hätten die 
Mayas übers Meer fahren und Europa entdecken können 
oder gar es erobern, vielleicht verschmähten sie einen sol¬ 
chen Versuch, weil sie wußten, daß die Welt außerhalb 
Yucatans nicht besser war als die Welt Yucatans. Nach 
einer Hypothese sollen sie es gewesen sein, die den Baby¬ 
loniern und den Ägyptern und den Bewohnern der Insel 
Atlantis die Kunst gebracht. 

Kaum hundertfünfzig Schritt vom Ballspielplatz hält sich 
jene Pyramide, die, bevor ihr einfuhrt, mitten im Wege 
zu stehen schien. Welch eine Majestät! Luginsland und 
Kalender, Vatikan und Festung, Glyptothek und Schatz¬ 
kammer, Äusgangsstelle der Jungfrauenopfer und ein¬ 
drucksvollste Treppe des Erdballs. Die Spanier nannten 
sie „El Castillo", denn wie eine Burg dominierte sie das 
Gebiet Sie war als Sitz der höchsten Gottheit hierher- 


687 



gebaut jenes guten, alten Quetzalcoatl aus Innermexiko, 
dessen Kult die Tolteken mitgebracht hatten und den die 
Mayas Kukulcan nannten. Sein Sinnbild, die gefiederte 
Schlange, Hauptschmuck der Pyramidenflächen, ist all¬ 
gegenwärtig wie der Versinnbildlichte selbst. Unten stützt 
sich das steinerne Schlangenhaupt auf den Erdboden, um 
im weit aufgerissenen Rachen einen Menschenschädel zu 
knacken. Inzwischen ringelt sich der Körper hoch in die 
Höhe, eine Balustrade bildend für den Pilger, der im 
Winkel von fünfundvierzig Grad hinansteigt auf nicht we¬ 
niger als hundertunddrei Treppenstufen und zu einer Höhe 
von dreißig Metern. 

Rastete der Wallfahrer auf jeder Stufe drei Tage, um 
seine Seele zum Betreten des Gipfeltempels vorzubereiten, 
so kam er oben genau nach einem Jahr an. Dort traf er 
einen anderen, der zwar gleichzeitig mit ihm, aber nach 
einem anderen Zeremonial seinen Aufstieg angetreten 
hatte; Er betete je eine Woche lang vor jedem der Schil¬ 
der, die auf den neun Terrassen symmetrisch angeordnet 
sind. Denn die Pyramide war neben vielem anderen auch 
ein Kalender, die Schilder verzeichneten die zweiundfünf¬ 
zig Wochen und die Stufen der 364 Tage des Jahres. 

Wenn ihr, den vergangenen Pilgern folgend, hinansteigt, 
dorthin, wo die Pyramidenseiten und Treppen enden, so 
seid ihr noch keineswegs im Allerheiligsten. Zuerst betre¬ 
tet ihr die Galerie, die es umgibt, ihr atmet tief, teils von 
den Mühen des steigenden Weges, teils aus frommem 
Schauder, teils wegen des Blicks über die irdische Welt. 
Niedrig sind, von hier aus überblickt, die anderen Bauten, 
klein der Riesenplatz für die Hüftballspiele. Unsichtbar 
liegen die benedeiten Brunnen im Gestrüpp. 

Im Innern der Pyramide entdeckten die Archäologen 
eine zweite, konzentrische. Auf Leitern klettert ihr über 
ihre Seitenflächen, die einst jahrhundertelang der Sonne 
und dem Wind preisgegeben waren und nun ebensolang 
dem Dunkel und dumpflagernder Hitze preisgegeben sind. 
Ihr zwängt euch in ihren Leib. Hier lagen Schmuckstücke 
aus Jade und Türkis in granitnen Schatullen, aber die 
äußerste Schatulle war die Pyramide selbst - ganze Berg¬ 
massive wurden abgetragen, um diesen pyramidalen Kas- 


688 



senschrank hinzustellen. Knapp bevor ihr ankamt, machte 
man einen neuen Fund: die Statue eines lebensgroßen Ti¬ 
gers. Im grellroten Pelzwerk, dessen Flecken Halbedel¬ 
steine sind, mit furchtbar funkelnden Augen aus Jade, 
duckt sich die Bestie zum Sprung gegen den, der ein¬ 
dringt in ihre rabenschwarze Höhle. 

Jeder topographische Punkt von Chichen Itzä ist voll 
von entdeckten und unentdeckten Geheimnissen, von selt¬ 
samen Reliefs auf mattmarmornem Kalkstein, schnörkel¬ 
haften plastischen Barockfriesen, Mosaiken und Säulen 
und Phallen und Stelen. Eine lebensgroße Skulptur, der 
Chac-Mool, kehrt immer wieder, hingestreckt, aber mit 
halb aufgerichtetem Oberkörper, den Nabel zu einer 
Schale geweitet; die Statue ist aus einem Stein gehauen, 
der aussieht wie andere Steine auch, aber wenn man ihn 
anstößt, so klingt er wie eine Glocke. 

Es ist heiß in Yucatan und noch heißer im Innern der 
Ruinen; selbst in Uxmal, dessen schneeweiße, tausendfach 
ornamentierte Monumentalbauten in der Tat abseits aller 
heutigen Behausung und in unbeschnittenem Gestrüpp lie¬ 
gen, selbst dort müßt ihr ohne Schatten über halsbrecheri¬ 
sches Geröll klettern. Wie sollte da in dem abgeholzten 
Chichen Itzä ein Kühle spendender Erdenfleck zu finden 
sein. Nur im heiligen Brunnen, in dessen Wasser man die 
Opfermädchen hinabstieß, findet sich Labe. 



SPORTBETRIEB BEI DEN ALTEN MAYAS 


Man fährt in Chichen Itzä ein, der Stadt, die einstmals 
aus majestätischen Tempeln und Palästen bestand und 
nunmehr aus ebenso majestätischen Tempelresten und Pa¬ 
lastruinen besteht. Architektonische Wunderwerke und zu¬ 
gleich Orgien der Bildhauerkunst waren die Bauten der 
Mayas, und die noch heute erhaltenen Reliefs und Skulp¬ 
turen zählen nach Tausenden. 

Jene Anlage, die man - aus Merida kommend - zu¬ 
erst passiert, ist der Ballspielplatz gewesen. Die beiden 
Längsseiten, je hundert Meter lang, sind steinerne, fast 
senkrechte Tribünen, über die zwei Kronentempel ragen. 
An den Querseiten des Sportplatzes ist auch je ein Tem¬ 
pel, wahrscheinlich als Zuschauerloge für die Götter ge¬ 
dacht oder zumindest für deren priesterliche Vertreter auf 
Erden. Daß die Götter sportliebend und sportausübend 
waren, wissen wir aus den heiligen Schriften der Mayas; 
einmal traten sie sogar gegen eine Mannschaft von Men¬ 
schen zu einer Partie „Pok-ta-Pok" an, dem mayaschen 
Ballspiel. 

Dieses Stadion war auch Konzertgebäude; die Musik 
war sakral, den Schutzgöttern des Sports gewidmet, und 
begann zur Mitternachtsstunde. Auch die Musikinstru¬ 
mente und Kompositionen tönten ganz anders als die der 
Alten Welt. In die Welt unserer Tone würde das Echo von 
Chichen Itzä störend hineinpatzen. Aber die Mayaflöte 
ließ nach jedem ihrer acht Töne ein Intervall für die vier¬ 
zehn gestuften Kadenzen, mit denen das im Dickicht pla¬ 
cierte Orchester der Götter auf die Töne der Menschen 
antwortete. 

Man kann die Macht dieses Nachklangs noch heute er¬ 
proben, und auch Spuren des Sportbetriebs lassen sich 
noch heute wahrnehmen. Man kann auf den Tribünen 
sitzen oder über die Grasnarbe des Spielfelds gehen und 
sieht, sich zu Häupten, das Ziel des Balls. In der Bibel 


690 





der Mayas, in ihren Kodizes und auf den steinernen Re¬ 
liefs ist das Spiel dargestellt, und in den Aufzeichnungen 
der ersten christlichen Priester finden sich die Spielregeln. 

Aus einem Wettspielbericht, den Padre Diego Duran 
hinterlieg, geht hervor, dag er selbst fasziniert, ja fanati- 
siert war von dem heidnischen Sport, an dessen Ausrot¬ 
tung er wie die anderen christlichen Priester teilnahm. 
Statt des Ballspiels brachten sie den Mayas Stierkämpfe, 
Hahnenkämpfe und blutige Späge. 

Staunend liest man, dag das Ballspiel der Mayas weder 
mit dem Fug noch mit der Hand gespielt wurde, sondern 
mit dem Gesäg. Man staunt noch mehr, je länger und 
fachmännischer man das Goal beschaut, das Ziel des Bal¬ 
les. Mehr als vier Meter hoch schwebt es uns zu Häupten 
über dem Spielfeld, an der Seitenmauer, in ihr und recht¬ 
winklig zu ihr eingerammt, ein Reifen aus skulptiertem 
Stein, Rahmen für ein kleines Loch. Der Ball war nicht 
viel kleiner, er mugte durch dieses kleine Lodi haargenau 
einfallen, und zwar mit solcher Wucht, dag er durchstieg, 
selbst wenn er den Steinrahmen streifte. 

Wie, so fragen wir nachgeborenen Sportler, wie konnte 
der Ball, eine Kugel aus Hartgummi, wie konnte er mit 
dem augenlosen Hintern so zielgerecht geschossen wer¬ 
den? Wie konnte es dieser ungelenke Körperteil dem 
Queue des Billardspiels gleichtun, den Ball indirekt an¬ 
zuspielen, mit „effet", „über die Hand" oder „von der 
Bande", das heigt von der Wand? Wie konnte ein Spieler 
mit abgewandtem Gesicht so zielen, wie konnte er es in¬ 
mitten des scrummage um den Ball? 

Dieses scrummage wogte lebensgefährlich, wahrhaft 
mörderisch. Die Mannschaft war gepanzert mit Bandagen 
über dem Knie, dem Geschlechtsteil und dem Schienbein 
und mit Plastrons auf der Brust. Aber dieser Schutz aus 
Raubtierfellen oder Hirschhäuten war kein wirksamer 
Schutz. So rasant flog der Ball, dag die von ihm getroffe¬ 
nen Spieler Bruch oder Blutergug erlitten. Oft kam es noch 
tragischer, es gab Tote. 

Über diese Gefahren berichtet Pater Duran unter ande¬ 
rem: „Einige wurden tot weggetragen. Der Grund war, 
dag sie trotz Erschöpfung ohne Unterlag hinter der Kugel 


691 



von einem Ende des Spielplatzes zum anderen hergerannt 
waren, um sie nicht zu Boden fallen zu lassen. Im Taumel 
des Ehrgeizes, den Ball als erster zu erreichen, konnten 
ihm die Erschöpften nicht mehr ausweichen, so daß er 
ihnen gegen die Wirbelsäule oder das ,Ende des Magens' 
sauste... Vor allem will ich von einer merkwürdigen 
Balltechnik dieser Indios erzählen, die ich oft angewendet 
sah: „In dem Moment, in dem der Ball schon den Boden 
berührte, brachten sie ihr Gesäß oder ihr Knie so ge¬ 
schickt heran, daß es den Ball mit einer wunderbaren 
Schnelligkeit wieder in die Höhe schleuderte. Mitunter 
erlitten die Spieler dabei schwere Quetschungen an den 
Hüftknochen oder einen Bruch der Kniescheibe und mu߬ 
ten sich nun mit einem kleinen Messer zur Ader lassen 
und das Blutgerinnsel ausdrücken." 

Nicht nur Sportbegeisterung und Fanatismus für diesen 
oder jenen Champion und nicht nur der Einsatz der Wet¬ 
ten (jedermann wettete) stand auf dem Spiel, das mehr 
als ein Spiel war. Es war ein symbolischer Kampf, eine 
Hilfeleistung zugunsten der Astronomie. Nicht um einen 
Gummiball ging es, es ging um den Sonnenball. Seht ihn! 
Er will hinab, will durchstoßen zu uns, er will uns Licht 
bringen, seht, die Götter des Tageslichts wollen ihm hel¬ 
fen, seht, die Dämonen des Nachthimmels wollen es ver¬ 
hindern. Seht, seht, nun saust die Sonne gegen die Seiten¬ 
wand, ach, chancenlos fern vom Ziel. Das nächste Mal 
scheint es ihr besser zu glücken, seht, seht, ihre Flugbahn 
führt diesmal geradenwegs dem Ziel zu, aber sie klatscht 
gegen den Innenrand des steinernen Reifens und prallt - 
so nahe vom Sieg - wirkungslos zurück. Verzweifelt bre¬ 
chen ihre Freunde zusammen, arme Sonne, keine Hoff¬ 
nung für dich, keine Hoffnung für uns, im Dunkel müssen 
wir verenden, wehe, wehe I 

Aber die Sonne - ungetrübt vom Trübsinn der Spieler 
und der Zuschauer, schießt sie vor und ... Sie ist durch! 
Goal! 

Alles jauchzt, jubelt, tobt. Niemand sitzt mehr, alle sind 
besessen. Die Frauen reißen sich den Schmuck aus dem 
Haar und werfen ihn dem Torschützen zu. Die Männer 
zerren ihre Kleider vom Leib, spenden sie dem Sonnen- 


692 





retter, verlassen das Match splitternackt allerdings «die 
Hand auf ihrem Schamteil haltend", wie der Padre zur 
Beruhigung seiner Leser bemerkt Mancher Maya-Mann 
hat seine Hütte, sein Vermögen, seine Frau und seine Kin¬ 
der verwettet, hat sich selbst der Sklaverei preisgegeben 
und seine Töchter dem Opfertod im Cenote, dem heiligen 
Brunnen. 

Droben auf den Tempeln sind die Männer der hohen 
priesterlichen Würde und Weihe ganz außer Rand und 
Band geraten, draußen in der verstrüppten Natur die Gott¬ 
heiten und Dämonen sind es nicht minder. Sie, der profa¬ 
nen Menge unsichtbar, betätigen sich um so hörbarer. 
Vierzehnmal öfter als das Johlen das Publikums ertönt 
das Johlen und Schreien und Brüllen der Gottheiten im 
Busch. 

Auf den die Tribüne krönenden Tempelwänden, auf 
ihren Säulen und Statuen, Reliefs und Fresken, auf den 
Prunktreppen und Karyatiden ruhte, bevor das Wettspiel 
begann, der erwartende, scheue und flehende Blick der 
Sportbeflissenen, und nun, da der Kampf siegreich zu 
Ende ist, wendet er sich - nun aber dankbar - wieder 
den Kunstwerken zu. Das wäre heutzutage nicht mehr 
sportgemäß. 



TEOBERTO MALER, 

EIN MANN IN VERZAUBERTER STADT 


1939. knapp bevor die Deutschen in Paris einrückten, 
traf ich im Cafe „Deux Magots" den alten Graf Harry 
Kessler, der schon ein Menschenalter vorher hier gesessen 
hatte, obwohl er gleichzeitig auch im Berliner Cafe des 
Westens saß. Noch bekümmerter als sonst schaute er drein. 
Denn draußen war nun nicht mehr bloß der Krieg, den 
er noch mehr als alle anderen Kriege haßte - der Krieg 
zwischen Deutschland und Frankreich -, sondern es zuck¬ 
ten auch die Vorboten der französischen Katastrophe über 
Firmament und Boulevard. 

„Sie fahren nach Mexiko?" sagte er zu mir. „Schade, 
daß ich Ihnen mein Mexikobuch nicht auf die Reise mit¬ 
geben kann, es liegt in Berlin - also unerreichbar. Auch 
Empfehlungen kann ich Ihnen nicht mitgeben. Sind alle 
schon tot, meine mexikanischen Freunde. Aber wenn Sie 
irgendwo in Yucatan am Grab des Maya-Forschers Teo- 
berto Maler vorbeikommen, grüßen Sie ihn von mir. Er 
war ein edler Mann." 

Maya! Yucatan! Das kam mir noch unwahrscheinlicher 
vor, als daß ich wirklich bis Mexiko kommen werde. 

In New York las ich, daß Graf Harry Kessler gestorben 
sei, ein Exilierter. 

Ein paar Jahre später, Yucatan durchstreifend, erinnerte 
ich mich, daß ich hier einen Auftrag auszuführen habe: 
eines Toten Gruß an einen Toten zu überbringen. 

In Chichen Itzä, im Gespräch mit den bei den Ausgra¬ 
bungen beschäftigten einheimischen Arbeitern, fragte ich 
nach Maler. „Don Teoberto? Das war der einzige", sagte 
ein Alter. 

„Der einzige?" fragte ich, „wovon der einzige?" 

Nun hörte ich die Klage gegen die Weißen, die in den 
Stätten der Götter gehaust hatten, barbarisch rücksichts¬ 
lose Archäologen und Geschäfts Wissenschaftler, welche auf 


694 




der Suche nach Funden die für alle Ewigkeit geschaffenen 
Fassaden für alle Ewigkeit vernichteten. Mein Gewährs¬ 
mann wiederholte seinen ersten Satz, den ich nunmehr 
verstand: „Don Teoberto, das war der einzige." 

Es war später Spätabend, und der alte Arbeiter war si¬ 
cherlich ebenso müde wie ich. Dennoch zwang er mich, 
mit ihm zum Templo de las Monjas zu gehen. Ich war 
schon dort gewesen, gerade heute morgen, aber jetzt sah 
alles anders aus, bewegter. Die im Mondschein dahin¬ 
ziehenden Wolken kommandierten die steinernen Friese 
- nun gut, scheltet mich einen Romantiker! - zu einer 
ebenso verrückten wie gravitätischen Polonaise; Orna¬ 
mente, Figuren, Säulen und Embleme schlossen sich mit 
zum Reigen. 

Mein Begleiter ließ sich dadurch nicht aufhalten, er 
trieb mich die Treppe hinauf und oben über eine, insbe¬ 
sondere im wolkengetrübten Mondlicht, gefährlich schmale 
Brüstung bis zur Querseite des Tempels. 

Dort öffnete sich eine kleine Tür ins Schwarze, in das 
wir, während ein Vampir hinausschoß, eintraten. „Hier 
hat Don Teoberto die ganzen Jahre gewohnt." 

Mit Streichhölzern leuchteten wir die Schwärze der 
spitzgewölbten Kammer ab. Zwei Nischen in der Wand 
waren dem Gelehrten Schrank, Bibliothek und Nachttisch 
gewesen. Vielleicht stand dort auch das imposanteste und 
modernste seiner Forschungsinstrumente: eine Kamera. 
Sie zu bedienen war eine komplizierte Kunst, und jede 
Aufnahme dauerte mehr als zehn Minuten. 

Kein Schreibtisch. Mein Begleiter erzählt: „Wenn wir 
morgens hier mit Schaufeln und Hacken ankamen, saß Don 
Teoberto auf der Treppe und schrieb. Er hatte schon ge- 
frühstückt, ein Ei, ein paar Tortillas und eine Orange/' 

Sein Bett war der steinerne Fußboden, auf den er sich, 
in einen Sarape gewickelt, allabendlich hinstreckte. Einen 
Stein als Kissen unter den Kopf geschoben, schlief er mit 
dankbaren Gedanken an die längst entschwundenen Bau¬ 
herren ein, die Könige aus dem Geschlecht der Cocomen, 
und an die bärtigen Zwerge, die ihre Bauleute waren. „Es 
schien", schreibt Maler, „als hätten sie Mitleid mit dem 
Manne, der aus so fernen Ländern gekommen war, um 


695 



sie aus ihrem jahrhundertelangen Schlaf zu wecken, und 
sie beschützten mich gut." 

Beim Heraustreten aus dieser Gelehrtenstube schauen 
wir eine Bühne, auf der hinter durchsichtig blauem Vor¬ 
hang die Vergangenheit sich selber spielt. Ein Ausstat¬ 
tungsstück. Über die gegliederten Treppen der Pyramide 
klimmt ein Chor von Pilgern himmelan. Um den schnek- 
kenartig gewundenen Rundturm im Hintergrund schweben 
goldseidene und buntsamtene Fasanenvögel. Links, zwi¬ 
schen Versatzstücken aus Gestrüpp, geleitet der Klerus die 
geweihten, in weiße Brautgewänder gehüllten Mädchen 
zum Felsenrand des heiligen Brunnens und stößt sie dort 
hinab, auf daß sich ihrer Jungfräulichkeit die Götter dort 
erfreuen mögen. Auf dem Ballspielplatz brüllt das Volk 
der Mayas, während die Orgel der Dämonen, das Echo, 
jeden Schrei vierzehnmal nachäfft. 

Und alles ist still und leer. 

Mein Begleiter begleitete mich bis zum Hotel. Er nahm 
keine Vergütung an. „Sie waren ein Freund von Don Teo- 
berto Maler", sagte er nur und, wie es im Gedicht steht, 
schlug sich seitwärts in die Büsche. 

Ich komme mir wie ein Hochstapler vor. Niemals habe 
ich Teoberto Maler gesehen, wir hatten nur einen gemein¬ 
samen Bekannten, und auch der ist tot. Und der wackere 
Maya lehnt seinen Führerlohn ab, weil er sich von einem 
Freund Don Teobertos nicht bezahlen lassen will. 

Teoberto Maler war von Nationalität - ja, was war er 
denn von Nationalität? In Italien (Rom, 1842) geboren, 
von deutschen Eltern stammend, trat er in österreichische 
Militärdienste und ging dann mit dem zum Kaiser von 
Mexiko „gewählten" Erzherzog Maximilian als Ingenieur¬ 
offizier über See. Als sein Kriegsherr auf dem Glocken¬ 
hügel von Queretaro erschossen wurde und solcherart der 
Kaiserzug nach Mexiko beendet war, zog der junge Haupt¬ 
mann Teoberto Maler von dannen. Aber er kehrte weder 
nach seinem Geburtsland Italien heim noch nach seines 
Vaters Vaterland Deutschland, noch nach seinem Garni¬ 
sonsland Österreich, das er als sein Heimatland betrach¬ 
tete. (Er nannte sich „Arqueölogo austraco".) An den hei¬ 
ßen Odem exotischer Landschaft gewöhnt, ging er in die 


696 




Türkei, in den Kaukasus, nach Armenien. Dort, bei den 
Muselmännern und Tscherkessen will er gelernt haben, 
Fatalist zu sein. 

Nun, er wurde bei den Muselmännern und den Tscher¬ 
kessen keineswegs Fatalist genug, um nicht alles für die 
Rückkehr nach dem unendlich fernen Mexiko aufzubieten. 
Zwanzig Jahre nachdem er es verlassen hat, gelingt es 
ihm, Mexiko wieder zu erreichen, nun ein vierundvierzig- 
jähriger Mann. Seine zweite Lebenshälfte verbringt er auf 
der Maya-Halbinsel Yucatan und erforscht sie, gründ¬ 
licher als jemand je zuvor. 

In Merida, der Hauptstadt der Provinz Yucatan, leben 
Leute, die ihn gekannt haben. Manchmal, nach jahrelan¬ 
gem Verharren in der Einöde, ritt er hierher, um einen 
Abend mit dem holländischen Konsul Johann Clasing zu 
verbringen. Als Teoberto Maler starb, veranlagte Clasing 
die Herausgabe der yukatekischen Memoiren seines Freun¬ 
des. Aber sie wurden, wie man mir sagte, nur in beschränk¬ 
ter Auflage gedruckt, und längst sei kein Exemplar mehr 
erhältlich. Man werde danach trachten, eines aufzutreiben, 
für mich, „den Freund Teoberto Malers". 

Wirklich erhielt ich nach einigen Tagen ein Exemplar 
zum Geschenk, das Widmungsexemplar an Konsul Cla¬ 
sing. Dieser hat einige Zeitungsausschnitte über den 
Autor eingeklebt, darunter einen, dem zufolge Malers Ma¬ 
nuskripte bei seinem Tod auf rätselhafte Weise verschwan¬ 
den. 

Das kleine Buch führt den Titel „Impresiones de Via ja 
a las Ruinas de Cobä y Chichen Itzä", behandelt in popu¬ 
lärem Stil die Expedition, die Maler im Anfang der neun¬ 
ziger Jahre im östlichen Yucatan unternahm. Insbesondere 
für Leser, welche Yucatan nicht kennen, besitzt das Büch¬ 
lein manchen Reiz. Gleichzeitig mit dem Autor, ahnungs¬ 
los wie er, treten sie in die Märchenwelten ein und neh¬ 
men an den Überraschungen des Entdeckens teil. Sozu¬ 
sagen aus dem Stegreif, nur vom Gefühl geleitet, beginnt 
Maler die Erschließung der Trümmerstätte Cobä. Er kann 
nicht von einem Quartier, einer Basis ausgehen, sondern 
zieht aus dem Freien los, wo es finster ist wie im Astloch 
und wo nasses, klebriges Erdreich jedes Vorwärtsdringen 


45 Kisch VII 


697 



vereitelt. Ein Wolkenbruch, an Gefäll dem Niagara kaum 
nachstehend, überschüttet den stehend Nächtigenden. So 
arg sind Regen und Dreck, daß selbst eine große gefähr¬ 
liche Schlange nicht auf den menschlichen Ruhestörer vor¬ 
stößt, sondern ihn die Attacke beginnen läßt. 

Am nächsten Morgen, so hell die Sonne auch scheint, 
wehrt sich die wieder zur Jungfräulichkeit zugewachsene 
Menschensiedlung gegen jede Annäherung. Beim Bestei¬ 
gen einer Pyramide stolpert und stürzt Teoberto Maler 
auf Schritt und Tritt. Er muß auch Angriffe von feind¬ 
seligen Indios fürchten, die einige Meilen entfernt im Ur¬ 
wald isoliert leben. Eines Tages dringt er in einen unbe¬ 
wohnt geglaubten Tempel ein, als zu seinem Schreck im 
Raum nebenan ein Geschrei von hundert Stimmen los¬ 
bricht. Glücklicherweise stellt sich heraus, daß es nicht 
Menschen, sondern eine über den Eindringling zornige 
Herde Affen war. Der hat sich inzwischen gefaßt und stellt 
sich ihnen als Darwinist vor, der in ihnen seine Stamm¬ 
väter verehrt. Aber die Affen benehmen sich keineswegs 
so reputierlich, wie man es von Ahnherren erwarten dürfte; 
sie nehmen seine Erklärungen nur mit gequietschten und 
gefauchten Mißfallensäußerungen zur Kenntnis und ver¬ 
lassen unter Protest das Lokal. 

Teoberto Maler ist der einzige menschliche Bewohner 
von Chichen Itzä, dieser Stadt voll von Palästen, Kathe¬ 
dralen, Marktplätzen, Kasernen und Bädern, ein Robinson 
Crusoe dieser Großstadt. In seinen Memoiren schildert er 
die Zufälle und Berechnungen, denen er seine Entdek- 
kungen verdankt, gibt die Gesichtspunkte an, von denen 
er bei Benennung der Gebäude und Plätze ausgeht, und 
zeichnet den Stadtplan nur nach den Angaben von Logik 
und Phantasie - keine alten Bürger gibt's, ihm Material 
zu liefern. Die Menschen, die er zu Gesicht bekommt, hat 
er selbst unter großen Mühen angeworben, und sie treten 
äußerst unregelmäßig zur täglichen Arbeit an. Das hin¬ 
dert ihn nicht, sie mit milder Philosophie zu schildern. 
Aber in Philippiken ergeht er sich, wenn er vom Vandalis¬ 
mus spricht, dessen sich die nun auftauchenden Pseudo¬ 
archäologen, die Kuriositätenhändler und andenkensüchti¬ 
gen Touristen schuldig machen. Ferner wettert er gegen 


698 



die Fledermäuse, weil sie überall hinmachen, auch auf die 
feinsten Skulpturen, und ihr steter Tropfen den Stein 
höhlt. 

In der „Biblioteca Crescendo Carillo y Anonca" von 
Merida sind zwei Werke Teoberto Malers vorhanden, her¬ 
ausgegeben 1901 und 1911 vom Peabody Museum der 
Harvard Universität, das dem Forscher einerseits die Pu¬ 
blikation seiner Entdeckungen und die Entlohnung seiner 
Erdarbeiter ermöglichte, ihn andererseits aber erniedrigte 
und empörte. Das eine der beiden Werke behandelt das 
Utzumatzintla-Tal, das andere Entdeckungen im Bezirk 
von Peten (Guatemala). 

Einer der beiden Bände ist unaufgeschnitten, jedoch auf 
dem Schmutzblatt fand ich eine mit roter Tinte und in 
spanischer Sprache geschriebene Absage Malers an die 
Direktoren des Peabody Museums. Sie zeigt die Schwie¬ 
rigkeiten, die dem entbehrungsreichen Forscherleben Ma¬ 
lers von seiten der Wissenschafter gemacht wurden. Und 
zeigt vor allem seine Ohnmacht. Denn die öffentliche An¬ 
klage, die er in der stillen Bibliothek von Merida mit 
roter Tinte und großen Buchstaben erhob, hat den Weg in 
die Öffentlichkeit niemals gefunden. Sein Aufschrei lau¬ 
tet: 

„Allzu beschäftigt mit den schamlosen Ausplünderungen 
von Chichen Itzä, lehnten es Bowditch und Putnam unver¬ 
schämterweise ab, meine Arbeiten zu bezahlen. Ihr nieder¬ 
trächtiges Verhalten verurteilend, brach ich mit ihnen und 
verlange nichts mehr von ihnen. Mit meinem Texte kön¬ 
nen nur meine Pläne herausgegeben werden. Meine Ge¬ 
neralkarte von Tikal ist eine großartige (magnifico) Ar¬ 
beit, welche zehn große Blätter umfaßt. Jedoch die Kari¬ 
katur eines Plans, welche von Tozzer und Merwin gemacht 
wurde, ist für meinen Text ungeeignet und zeigt nichts 
anderes als den Gipfel der Albernheit und Niedertracht 
(la suprema estupidez y perfidia) der erbärmlichen Re¬ 


dakteure des Peabody Museums. 


Teoberto Maler" 


Nur die Landsleute seiner Wahl, die Yukateken, haben 
ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen. Vor dem Museum 
von Merida erhebt sich auf hohem Sockel eine überlebens- 


699 



große Marmorbüste Teoberto Malers - das einzige Mo¬ 
nument, das ein mexikanischer Staat aus eigener Initia¬ 
tive und aus eigenen Mitteln einem Mitbürger aus dem 
Auslande errichtet hat. Denn Teoberto Maler war der Aus¬ 
länder in Mexiko, der uneigennützig wirkte. 

Ich überbringe stumm dem marmornen Manne den 
Gruß meines Freundes Harry Kessler. Und füge meinen 
Dank hinzu, weil mir die Nennung des Namens Teoberto 
Maler bei meiner bescheidenen Laienarbeit geholfen hat. 



MARKTNOTIERUNGEN 


Der erste Marktbericht , erstattet aus der Neuen Welt 
an die Alte, war an Karl V. adressiert und hatte Hernän 
Cortez zum Verfasser. Der war unter anderem ausgezogen, 
um der spanischen Krone und der katholischen Kirche auf 
der anderen Seite des Ozeans neue Märkte zu erschließen, 
und war fasziniert über die alten, die er dort fand. Daß 
es keine überseeischen, also keine mit Spanien konkurrie¬ 
renden, sondern nur lokale Märkte des kleinsten Klein¬ 
handels waren, vergrößerte seine Freude, und so konzen¬ 
trierte er sich auf die Schilderung der Waren. Sein Be¬ 
richt über den Handel in der Stadt Tenochtitlän klang, statt 
im Ton eines Marktberichts gehalten zu sein, wie Stim¬ 
mungsmache zu Spekulationszwecken. Um den Adressaten 
in Madrid gab es Ratgeber, welche gar den Rat gaben, 
dem Kapitän Cortez und seinen orientalischen Märchen 
aus dem Okzident vorläufig keinen Glauben zu schenken. 

Seither ist fast alles von dem, was Cortez über Mexiko 
berichtet hatte, zu Märchen aus verschwundenen Zeiten 
geworden, und nur das Märchen vom mexikanischen Markt 
ist noch immer Wirklichkeit. Oder: wenn ihr wollt, ist es 
ein Märchen, denn bunter, bizarrer als alles, was man uns 
von den Basaren aus Tausendundeiner Nacht erzählt. 
Wenn auch Käufer und Verkäufer nicht mehr im Lenden¬ 
schurz dastehen und nicht mehr mit Kakaobohnen und 
Läusen zahlen, wenn auch schon Fabrikwaren, zumeist 
Textilien, ganze Budenstraßen füllen und wenn auch Tou¬ 
risten mit Dollars und Kameras eingedrungen sind, so 
nimmt dennoch hier alles seinen Lauf wie damals, als Me¬ 
xiko noch nicht von Europa erobert war, insbesondere am 
Lebensmittelmarkt, von dem hier die Rede sein soll. 

Schon bevor sich die Europäer bei den Fleischtöpfen des 
vermeintlichen Indien einfanden, gab es Fleischwaren, zu¬ 
bereitet wie heute. Aus dem gleichen Fleisch können sie 
allerdings nicht gewesen sein, denn Schlachtvieh und Haus- 


701 



tiere brachten sich erst die ungebetenen Gäste mit Aber 
schon vorher war das mit dem Pfeil und Bogen, durch 
Gebirg und Tal gejagte Wild (zu dem eine Rasse kleiner 
Hunde gehörte) genauso gekocht auf den Markt gebracht 
worden wie heute das geschlachtete Haustier. Das gilt 
vor allem für die 

Cecina , den Handelsartikel Numero eins , eine dürre 
und dünne Schnitte von Fleisch, gesalzen und an 
der Sonne gedörrt. Im Süden ist es Rindfleisch, im 
kargen Norden (wo es „tasajo" heißt) ist es Eselfleisch, 
im bergigen Osten Ziegenfleisch, in den Vororten der 
Städte Hundefleisch und in den Küstenmärkten am Golf 
Fleisch von Haifischen und Krokodilen. Die Hausse in 
Cecina ist permanent, Hunderte von Ständen gibt's, und 
jeder frequentiert von Landsleuten, die auf den Markt ka¬ 
men, um ihr Erzeugnis zu verkaufen, und nun den Erlös 
für ein Stück Trockenfleisch eintauschen. Denn im weiten 
Umkreis ihrer Hütte ist Fleisch für sie nicht erhältlich - 
das Haustier, das die Spanier zugleich mit der christlichen 
Zeitrechnung einführten, hat die Cecina-Käufer bis dato 
noch nicht erreicht. 

Der Chicharron ist wie die Cecina eine Fleischspeise, 
aber er ist vielleicht auch keine Fleischspeise und auch 
kein Lebensmittel im engeren Sinn des Worts, er ist eher 
eine Näscherei, ist - wie mir mein Arzt täglich schwört 
und vergeblich - ein Laster, mein Verhängnis, der Grund 
meiner Verfettung und meines baldigen Todes. Ihr müßt 
euch, wenn ihr meinen Selbstmord um des Selbstmord¬ 
mittels willen begreifen wollt, zunächst Grieben vorstel¬ 
le, Schweinegrammeln, die knusprigen Reste des ausgebra¬ 
tenen Specks. Dann müßt ihr eine solche Griebe von grö¬ 
ßerem Ausmaß mit hundert multiplizieren. Habt ihr? Nun 
steht eine Platte vor euch, ein Quadratmeter groß, mit 
blasenartigen Ausbuchtungen, goldgelb und resch, von der 
euch der Fleischer so viel abbricht, als ihr bezahlt. Kein 
Nebenprodukt also, wie es die Grieben sind, sondern ein 
Hauptprodukt ist der Chicharron, und zu seiner Erzeugung 
werden ganze Schweineschwarten geopfert. Das kann ge¬ 
schehen, weil der Absatz des Chicharron unter den Mexi¬ 
kanern aller Klassen ein enormer ist. Bei Festtafeln wird 


702 



er als Horsd'oeuvre serviert, oftmals bestreitet er allein 
das kalte Buffet. Kenner in den Städten wissen, welcher 
Fleischer an welchem Tag frische Ware bekommt. Am 
Lande ist er im allgemeinen besser als in der Stadt, wo 
man dem Chicharron, so scheint es, ein Stärkemittel bei¬ 
setzt. Aber nahe der Hauptstadt gibt es zwei Ortschaften, 
Wallfahrtsorte für Chicharron. Die eine liegt östlich, die 
andere südlich, die eine auf halbem Wege nach Puebla, 
die andere auf halbem Wege nach Cuernavaca. Beide Orte 
sind ein paar verfallene Buden, hinter welchen die zu¬ 
künftigen Chicharrones grunzen und vor denen die jetzigen 
Chicharrones brutzeln. Das Auto nimmt Benzin, der Pas¬ 
sagier nimmt Chicharrones, dann geht die Fahrt weiter, 
und keine Spur bleibt mehr von den beiden Orten, sie 
erstehen erst wieder, wenn der nächste Autobus hält. So 
war es seit jeher mit Rio Frio und Tres Marias, schon in 
der Zeit der Postkutsche und der Frachtwagen, denn die 
beiden Orte lagen auf dem 

Handelswege aus Ostasien nach Europa. Über Tres Marias 
kam Cortez, wenn er aus der eroberten Hauptstadt nach 
seinem fortifizierten Tuskulum Cuernavaca fuhr und nahm 
eine Platte Chicharron aus dem brodelnden Fett; aus die¬ 
ser Richtung kam auch der Schillersche Don Carlos gefah¬ 
ren, der nicht erschossen worden sein soll, sondern unter 
dem Namen Gregor io Lopez als Priester lebte und nachher 
von der Kirche seliggesprochen wurde; aus der entgegen¬ 
gesetzten Richtung, vom Pazifik, kam Humboldt über Tres 
Marias und kostete, neugierig selbst auf die Speisen, ein 
Stück Chicharron, was ihm nicht gut bekam; über Tres 
Marias fuhren die Carbajals, die erste Judenfamilie Me¬ 
xikos, auf ihre kleine Silbermine nach Taxco, aber sosehr 
der Duft des Chicharron sie an Gänsegrieben erinnerte, 
sie aßen nicht, weil es nicht koscher war; über Tres Ma¬ 
rias kutschierten Kaiser Maximilian und Cariota in ihr 
mexikanisches Schönbrunn; über Tres Marias fuhr mit dem 
gleichen Ziel der amerikanische Gesandte Dwight Mor- 
row, ein leidenschaftlicher Chicharronesser, chauffiert von 
seinem Schwiegersohn Charles Lindbergh, und kaufte ihm 
ein Stück, worauf der Ozeanflieger luftkrank geworden 
sein soll. Über Rio Frio aber wurde eine kleine, den See- 


703 



räubern entrissene chinesische Sklavin in der Richtung 
nach Puebla gebracht, traurig war sie und weigerte sich 
zu essen; erst als man ihr Chicharron anbot, das sie an 
die knusprige Pekinger Ente erinnerte, nahm sie davon, 
wurde fröhlich und nachher als La China Poblana der 
Liebling des mexikanischen Volkes; in Rio Fr io waren die 
ebenso unvergessenen Postkutschenräuber zu Hause, und 
als sie in die Berge flüchteten, nahmen sie Schweine mit, 
um in der Wildnis des Chicharron nicht zu entbehren; 
durch Rio Frio ritt Marschall Bazaine an der Spitze der 
französischen Invasionsarmee und erklärte, Chicharron 
könne nur dann als Horsd'oeuvre verwendet werden, 
wenn Kognak bei der Hand sei. Durch Tres Marias oder 
Rio Frio kam jeder Mexikofahrer, gab den Pferden Heu 
beziehungsweise dem Auto Benzin und kostete den ersten 
Chicharron oder den letzten. Wie gut und warm ist der 
Chicharron von Tres Marias, von Rio Frio. 

Was haben Bernsteinketten aut einem Nahrungsmittel¬ 
markt zu tun, fragen wir, von der Abschweifung nach Tres 
Marias und Rio Frio wieder auf den Boden unseres The¬ 
mas zurückkehrend, und beantworten unsere Frage auch 
selbst: Nichts haben Bernsteinketten auf einem Lebens¬ 
mittelmarkt zu tun, und deshalb sind sie auch nicht da. 
Das, was wir dafür halten müssen, sind Würste, so klein 
und so gelbschimmernd wie Bernsteinperlen und auf ge¬ 
reiht auf Schnüren wie Halsketten. Größer sollen sie wohl 
nicht sein, weil sie so gepfeffert sind, daß sie dem Esser 
die Zunge versengen würden, selbst die gebeizte Zunge 
des Indios, der an 

Chilepiefter , genannt Chile , wahrlich gewöhnt ist. Den 
Chile, von dem es übrigens dreißig Sorten gibt, kann man 
nicht essen, ohne einige Generationen lang daran gewöhnt 
zu sein, aber nach einigen Generationen ist man allerdings 
daran so gewöhnt, daß man keinen ungepfefferten Bissen 
anrühren kann. Im aztekischen Kalender gab es eine Fa¬ 
stenzeit, in der man sich des Genusses von Weib und 
Chile enthalten mußte, welch letzteres, wie ein Missionar 
vermerkt, den Indios schwerer fiel als ersteres. Der Pfef¬ 
fer dient als Salz und Pfeffer zugleich, und es ist von den 
Kariben, den Kannibalen, von denen im übrigen keine 


704 



Kochbücher oder Kochrezepte auf uns gekommen sind, be¬ 
kannt, daß man zwei bis drei volle Schüsseln Chile jedem 
älteren Menschen zusetzte, bevor man ihn aß. Übrigens 
soll sich auch die Papaya (die Melonenart Carica Pa¬ 
paya) wegen ihres Pepsingehalts vortrefflich zum Kochen 
von Menschenfleisch eignen. „Man nehme .. ." 

Zur Kenntnis der Verkaufsmethoden ist zu bemerken, 
daß die Händlerin auf dem Markt meist nur Häufchen 
von vier bis fünf Pfefferfrüchten oder von Jitomate (so 
heißt die getreue Tomate in ihrer Heimat) vor sich hat 
und dem Käufer nur ein einziges Häufchen abgibt. Sein 
ganzes Lager würde er einem einzelnen, selbst wenn der 
noch soviel dafür bieten würde, nicht verkaufen, auf die 
Gefahr hin, am Abend mit der nicht abgesetzten Ware 
und ohne Geld kilometerweit nach Hause abziehn zu 
müssen. Das wäre schlimm, aber noch lange nicht so 
schlimm, als das ganze Lager schon am Morgen verkauft 
zu haben und dann tagsüber auf dem Markt überflüssig 
zu sein, auf den man doch eigens von kilometerweit ge¬ 
kommen ist. 

Als weiteren Beitrag zur Kenntnis der Verkaufsmetho¬ 
den möchte ich eine Begebenheit hier weitergeben, die 
mir die Inhaberin eines städtischen Ladens erzählt hat. 
An jedem Dienstag kam ein Indio zu ihr und verkaufte ihr 
eine der aus Stroh oder Schilf geflochtenen Puppen, die 
man „Monos de Tula" nennt. Er bekam einen Peso dafür. 
Da die Strohskulptur regelmäßig ihre Kunden fand, fragte 
die Inhaberin den Indio, ob er ihr nicht mehr davon lie¬ 
fern könne, zum Beispiel fünf oder zehn Stück wöchent¬ 
lich. Ja, das könne er, antwortete der Indio, glücklich 
darüber, einen so großen Absatz zu erzielen und auch 
Arbeit für Frau und Kinder. Die Kaufmannsfrau erkun¬ 
digte sich nun nach dem Engrospreis. „Zwei Pesos per 
Stück." - „Zwei Pesos? Der doppelte Preis? Wieso?" - 
„Sehen Sie, Senora, das Material für eine Puppe brauche 
ich nicht zu bezahlen, das bißchen Schilf zupfe ich mir aus 
einem der Wagen, der es vom See bringt, oder aus dem 
Bündel einer der Frauen - die sagt nichts wegen ein paar 
Halmen. Aber wenn ich zehn Monos machen soll, kann 
ich doch das Material nicht unentgeltlich bekommen. Und 


705 



wenn ich bares Geld hineinstecke, so muß doch der Preis 
höher sein - es verdad?" 

So winzige Häufchen, wie wir sie beim Pfefferhändler 
sehen, sehen wir fast an jedem Stand. Drei winzige Zitro¬ 
nen, drei Tunas (Kaktusfeigen, die auf dem Wege wach¬ 
sen), zwei Bananen, eine Handvoll Garbanzas, für zwei 
Centavos Cacahuete (Burennüsse), eine Spanne Zucker¬ 
rohr, ein paar Tortillas - das alles stellt schon Posten dar, 
die gehandelt werden. Und selbst die größten Bedarfs¬ 
artikel des Magens von Mexiko, wie Mais, kommen auf 
dem Detailmarkt zumeist in kleinen Quanten, als eine 
Hand voll Körner oder als einzelner Kolben, zum Verkauf. 
Ähnlich ist's mit den 

Bohnen. Sie sind hier noch nicht die Schüssel, die wie 
Kastanienpüree aussieht, aber dem Mexikaner offensicht¬ 
lich noch besser schmeckt, als ihnen Kastanienpüree 
schmecken würde. Warum würden sie sonst Frijoles (id est 
Bohnen) zum Frühstück, zu Mittag und zu Abend essen, 
auch die Wohlhabenden - letztere natürlich nicht Frijoles 
allein. Die Bohne muß sozusagen ein geheimes Glocken¬ 
spiel in sich haben, das einerseits dazu heranläutet, sie zu 
genießen, andererseits die Religion veranlaßt, für be¬ 
stimmte Epochen ihren Genuß zu verbieten. Schon Pytha¬ 
goras verbot seinen Schülern ganz und gar, Bohnen zu 
essen, wahrscheinlich weil die durch sie hervorgerufenen 
Blähungen als Wollust angesehen wurden. Hierzulande 
und heute gibt's kein Verbot, wovon man sich überall 
überzeugt. 

Springende Bohnen , „Brincadores" genannt, seien hier 
nur erwähnt, weil sie erstens Bohnen sind und zweitens, 
weil sie eine Spezialität Mexikos sind. Sie sprangen aus 
der Stadt Alamos im Staat Sonora, die dank ihrer Gold¬ 
minen und ihrer Münzprägerei viele Beziehungen zu 
Europa unterhielt, im Jahre 1871 zum erstenmal aufs 
andere Ufer des Weltmeers und machten hier auf den 
Jahrmärkten den menschlichen Kunstspringern Konkur¬ 
renz, die Ausrufer priesen die Wunder der „Akrobatin aus 
dem Reich der Hülsenfrüchte", und die Gelehrten sprachen 
von vegetabilischer Elektrizität. Wahr ist, daß die Bohne 
besser springt als der Mensch, denn sie springt, wenn sie 


706 



in guter Trainingsform ist das Sechsfache ihrer Körper¬ 
größe. Aber es ist mit ihr wie mit dem Schachautomaten, 
der auch nicht von selber spielte, sondern ein organisches 
Wesen in sich verbarg. Was im Schachautomaten der Zwerg 
war, ist in der Springenden Bohne die Larve des darin 
wohnenden Käfers namens Nanodes Tamarisci, der sie 
zunächst aushöhlt, in sie hineinkriecht und dann zu wak- 
keln oder zu springen beginnt. Wie Papageien und andere 
sprechende Tiere werden die Springenden Bohnen nicht 
gegessen, und man findet sie auch nicht auf dem Markt, 
sondern in den Geschäften mit Curios auf der Avenida 
Juärez. Zum Ärger der Verkäufer sind sie gerade dann 
nicht zum Springen aufgelegt, wenn man sie vorführen 
will, und das Mittel, sie zu zwingen, ist noch nicht erfun¬ 
den. 

Die Preise auf dem Nahrungsmittelmarkt sind keine 
fiz, es muß geschachert werden, die Käuferin muß jedem 
Verkaufspreis einen niedrigeren Kaufpreis entgegensetzen, 
und damit beginnt der Kampf der Ziffern, der, auf der 
mittleren Linie endend, dem Markthändler Profit und der 
Hausfrau das Gefühl ihrer Tüchtigkeit gibt. Trotz dieser 
Fluktuation der Preise erfolgen Erhöhungen der Grund¬ 
preise schlagartig auf dem ganzen Markt und auf allen 
Märkten. Das ist um so erstaunlicher, als weder ein Gre¬ 
mium noch eine Kursliste Regulationen ausgeben und die 
meisten Händler als Erzeuger der von ihnen feilgehalte¬ 
nen Ware von Zwischenhandel und Spekulation unabhän¬ 
gig sind. Auf welchem Wege sie ihre Preisvorschriften be¬ 
ziehen, hat die Nationalökonomie noch nicht ergründet. 

Der Truthahn wird in zwei Formen gemarktet. Tot, ge¬ 
kocht in roter Pfeffersauce namens Mole, kann er fertig 
gegessen werden von dem, der schon so viel Geld gelöst 
hat, sich diesen Imbiß zu leisten. Lebendig teilt der Trut¬ 
hahn auf den Geflügelständen seine Herrschaft mit ge¬ 
wöhnlichen Hühnern und mit Enten. (Hähne sind hier sel¬ 
ten, da sie zu Hahnenkämpfen gebraucht werden, Gänse 
gibt es in Mexiko überhaupt nicht.) Aber selbst wenn es 
Hähne und Gänse gäbe, der Truthahn brauchte ihre Kon¬ 
kurrenz nicht zu fürchten. Er ist ein Einheimischer. Schon 
lange bevor das europäische Geflügel die Konquista Mexi- 


707 



kos vollzog, stolzierte er im Lande umher und eroberte 
nachher Europa. Welche Genugtuung muß es doch für 
einen Indio-Hahn sein, auf dem Schloß Saint Germain von 
Henri Quatre als Lieblingsbraten aufgezehrt zu werden, 
und gar daß der Zehnerrat der Sankt-Markus-Republik 
eine Liste jener Bürger herausgab, die sich die Verschwen¬ 
dung leisten durften, das „indische Huhn" auf ihrer Tafel 
erscheinen zu lassen. In seiner Heimat hieß der Truthahn 
„Guajalote" - das alte Gespenst, und gespenstisch häßlich 
ist es in der Tat, solange es lebt. Aber es ist sich seiner 
Miesität keine Minute lang bewußt, kein Pfau kann stol¬ 
zer auf seine strahlende Pracht aus Blau und Gold sein, 
als die dümmste Pute aus Truthennengeschlecht stolz ist 
auf ihren Kahlkopf, ihren wabbelnden Klunker aus rotem 
Fleisch, die schlaffe Haut am Halse, die Borsten an ihrer 
Brust und das fadenscheinige Gefieder. 

Wie Couleurstudenten ziehen Herden von Truthühnern 
auf dem Bürgersteig dahin. Ein Erstchargierter und ein 
Fuchsmajor aus menschlichem Geschlecht begleiten diesen 
Renommierbummel, jeder mit einer Peitsche in der Hand, 
und bieten ihre Aktivitas zum Kaufe aus. „Pipolotea", ru¬ 
fen sie, was nichts anderes als das Wort „Piepmatz" mit 
spanischer Endung ist und in der Sprache des Bierkom¬ 
ments „Krasser Fuchs" heißen würde. Aber von denen, die 
da provozierend, stänkernd und dreifarbig die Stadt durch¬ 
bummeln, sind die meisten keine krassen Füchse, sondern 
bemooste Häupter und werden heute oder morgen „ab¬ 
gestochen" werden. 

Im Gegensatz zum internationalen Großhandel bietet 
der mexikanische Obstmarkt meist Früchte dar, die exo¬ 
tisch sind - von unserem Standpunkt. Vom mexikanischen 
Standpunkt heißt alles Europäische: exotisch. Es scheint, 
daß sich das mexikanische Obst dem internationalen Gro߬ 
handel entzieht. Weder die nordamerikanische Gesellschaft 
„United Fruit" noch die „Standard Fruit", die in Mexiko 
den Bananenexport dirigiert, haben eine dominierende 
Stellung im Innenhandel des mexikanischen Obstes (in 
Gemeinschaft mit der kalifornischen Obst-Großindustrie), 
den Export. Fast im ganzen übrigen lateinamerikanischen 
Weltteil ist die United Fruit der bestimmende Faktor (und 


708 



mehr als das) des Wirtschaftslebens (und mehr als das). 
In Kuba besitzt sie das Rohrzuckermonopol - Plantagen 
im Ausmaß von hunderttausend Hektar, die gemeinsam 
mit den Verwertungsfabriken einen Nominalwert von 
sechsundvierzig Millionen Dollars haben, und trägt die 
Schuld an der Monokultur des Landes, am Unterbleiben 
des Anbaus von Getreide und Nahrungspflanzen, an Streik 
und Hunger der gesegneten Insel. Im ganzen nennt die 
United Fruit in den Antillen und in Zentralamerika ein 
Weltreich von anderthalb Millionen Hektar ihr eigen mit 
einem Eisenbahnnetz von zweieinhalbtausend Kilometern, 
einem Schiffspark, welcher die Flotten der meisten latein¬ 
amerikanischen Staaten übertrifft, und übt die Alleinherr¬ 
schaft über eine Reihe mittelamerikanischer Staaten aus. 
In den Bananenrepubliken zwischen Mexiko und dem Pa¬ 
namakanal gehören ihr alle Waldungen mit Palisander- 
und anderen Edelhölzern, alle Palmenhaine mit Kokos¬ 
nüssen, alle Plantagen mit Faserpflanzen, Reis, Kakao, 
Ölpflanzen und Nahrungsmittelpflanzen, die Bananen allen 
voran. 

Wie zum Trotz gegen die Degradierung von Obst zur 
Massen wäre schlägt der Markt von Mexiko den Rekord 
an Kleinheit der Quanten. Drei Limonen sind zu einem 
Dreieck angeordnet, die vierte, die draufgelegt ist, macht 
das Häufchen zu einer Pyramide, die, so winzig sie ist, 
schon ein Verkaufsobjekt darstellt. Ein solches sind auch 
sechs Erdnüsse. (Ihr aztekischer Name „tiacacahuatl" 
bestimmt die internationale Warenbezeichnung Cocahuate.) 
Kleine Glieder von Zuckerrohr sind zu einem Türmchen 
mit quadratischer Basis über einander gelegt wie die Türm¬ 
chen, die wir kindheitsweise aus Streichhölzern aufrichte¬ 
ten. Um ähnliche Mengen und Anordnungen von Gurken, 
Pf eff er schoten, Früchten oder Kartoffeln feilschen Käufer 
und Verkäufer, als handelte es sich um Aktienpakete. 

Apropos: Kartoffel .* auch sie besitzt die mexikanische 
Staatsbürgerschaft. Nicht Francis Drake hat sie (obwohl 
zumindest die Badenser das glauben, die ihm in Offen¬ 
burg ein Monument gesetzt haben) nach Europa ver¬ 
pflanzt, was an der mexikanischen Herkunft der Kartof¬ 
fel nichts ändern würde. Der Mann, der die Kartoffel aus 


709 



dem mexikanischen Meerbusen nach Irland importierte, 
hieß John Hawkins und war ein Wohltäter der Mensch¬ 
heit der auf jener Küste Sklavenhandel betrieb, Kauffahr¬ 
teischiffe kaperte, Häfen brandschatzte und Mädchen und 
junge Frauen jagte. Wurden ihm Schiffe zusammengeschos¬ 
sen, so setzte er die überzählige Mannschaft unbekümmert 
aus, unbekümmert darum, daß die Inquisition sie als Pro¬ 
testanten und Komplizen des Teufels Hawkins unnach- 
sichtlich verbrannte. Übrigens wird der Name John Haw¬ 
kins in spanischer Orthographie „Juan Aquines" geschrie¬ 
ben, in England hieß er „Sir John", denn er bekam den 
Adel - nicht weil er die Kartoffel brachte, sondern wegen 
seiner Seeräubertaten. 

Was die Batate anlangt der Kartoffel süße Schwester 
Ipimoea, wird sie seit den Jugendtagen des alten Markts 
von Mexiko als frische Pflanze verkauft oder als kan¬ 
dierte. Viele Bezirke des Landes sind berühmt durch Nä¬ 
schereien, deren Grundstoff die mit Zuckerrohrsaft und 
Fruchtsaft noch mehr versüßte süße Kartoffel ist. (Kauft 
euch in Puebla, im Stadtviertel Santa Clara, ein Paket 
Ate!) Die Vanille, auch sie eine Mexikanerin, wird zwar 
in ihrer Heimat angepflanzt, aber vom kleinen Markt ist 
sie zurückgetreten, wie die Kartoffel, die Batate, die Ka¬ 
kaobohne und andere Früchte, die von der großen Welt 
angenommen worden sind. 

Der Protest gegen den internationalen Großbetrieb 
drückt sich im Obsthandel nicht bloß in der Kleinheit der 
Quantitäten aus, sondern auch in den Sorten. Diese Sorten 
sind von allen Ländern abgelehnt oder vielleicht gar nicht 
gekostet worden. Der Zapota Chico sieht von außen wie 
ein Breiapfel, von innen wie eine Mispel aus, wenn auch 
wie eine, deren Fleisch mit schwarzen Kernen durchsetzt 
ist. Den gleichen Schönheitsfehler haben die Guayavas, 
die Kaktusfeigen Tuna und viele andere Früchte in diesem 
Lande, das keine Obstverbesserer vom Range des Russen 
Mitschurin oder des Kaliforniers Luther Burbanks besitzt. 

Daß die Chirimoya nicht in den Welthandel abgewan¬ 
dert ist, scheint mir verwunderlich. Ihr Fleisch ißt man 
mit dem Löffel, denn es ist kein Fleisch, sondern eine Art 
Butter, obwohl man freilich Butter ebensowenig mit dem 


710 



Löffel zu essen pflegt. Aber Gefrorenes ißt man mit dem 
Löffel und so schmeckt in der Tat die Füllung der Chiri- 
moya, wenn sie kalt aufbewahrt worden ist. Wo immer die 
Chirimoya (Anona) außerhalb Mexikos kultiviert wird, 
geschieht es nicht, weil man sie als Obst schätzt, sondern 
weil man sie zu Schnaps verbrennen oder eine Art Wein 
erpressen will. 

Vom Niamey , dem Mammeg-Apfel, ist zu sagen, daß er 
von außen wie eine Kokosnuß oder ein Lederball aussieht, 
aber innen ist er butterweich und süß. 

Den Mango kennt man, er ist so saftig, daß er in feiner 
Gesellschaft kaum genießbar ist, alles wird beschmiert, 
Nase, Wangen und die Servietten, aus denen die Obst¬ 
flecke nie mehr herausgehen. Außerdem ärgert man sich 
darüber, daß der Kern größer ist als die Frucht - ein 
hartes Ei, aber ein wie hartes! 

Die Banane ist die einzige von allen Obstsorten des 
Welthandels, die auch im Obstkleinhandel eine dominie¬ 
rende Rolle spielt. Aber ist sie ein Obst? Sie, hierzulande 
Platana geheißen, ist ein Gang der mexikanischen Mahl¬ 
zeit, oft der einzige Gang, stillt Hunger und Durst, liefert 
Mehl, Stärkemehl, Hanf, Näscherei, Branntwein, Schatten 
und die paradiesische Schönheit des Landschaftsbildes. 
Außerdem - das weiß ich aus den Hollywoodfilmen ganz 
genau - tragen die Mädchen der westindischen Inseln 
Kleidchen aus Bananen unter dem Nabel. Die Banane 
hängt dem Faulenzer in Griffweite und ist dadurch schuld, 
daß er ein Faulenzer ist. Warum sollte er sich im Schweiß 
des Angesichts sein Brot verdienen, wenn ihm dieser 
Schweiß auch ohnehin von der Tropensonne und dazu das 
süße Brot in den Mund geliefert wird? Warum hätte er 
schuften sollen für den Herrn, der nur die Knute zu schwin¬ 
gen und nur kärglich zu entlohnen wußte? Der Herr mit 
der Knute versuchte diese Widersetzlichkeit zu brechen, 
indem er die Platana-Bäume der Dörfer zu Hunderten 
mit Stumpf und Stiel niederbrannte. Aber das half nichts, 
denn auch anderswo gibt es Bananenbäume, unter die man 
sich legen kann, um zu schlafen und zu essen. 

Über Gemüse wäre ein Band zu schreiben. Ich begnüge 
mich, die Aguacata zu erwähnen, die man auch Avogate 


711 



nennt und die auf deutsch Alligatorbirne heißen soll. Ihr 
Inhalt sieht wie passierter Roquefort aus und kann bei 
etwas Phantasie als solcher gegessen werden. Der, die 
oder das Chayote könnte sich ganz gut als Seeigel aus¬ 
geben, wenn er (sie oder es) wollte. Schmecken tut Chay¬ 
ote wie eine milde Gurke. 

Von den Getränken zu schweigen, wenn man von den 
Eßsachen spricht, wäre nicht fair. Flüssige Pflanzensäfte 
fehlen auf keinem Markt, und in den tropischen Gegen¬ 
den spielen sie die Hauptrolle. Kühle Pflanzensäfte von 
Corchate, Chia oder Jamaica werden in der Refresqueria 
ausgeschenkt. Das Warenlager, das zugleich Schaufenster 
ist, besteht aus ein paar großen, vier Liter fassenden Ein¬ 
machfässern oder gläsernen Fässern, jedes mit einem an¬ 
dersartigen oder andersfarbigen Inhalt. Die Farbenorgel 
spielt lockende Melodien, bernsteinfarbene, opalweiße, 
smaragdgrüne, korallenrote, und in diesen flüssigen Halb¬ 
edelsteinen kreisen große Diamanten, die freilich nur 
Stücke von Eis sind. Obenauf und mittendrin schwimmen 
Blüten, teils um zu schmücken, teils um zu färben. Wie 
Pfeffer brennt die Sonne, wie Sonne brennt der Pfeffer, 
und jedermann hat Durst. Das wissen die Händler. Die 
Türe der Pulqueria steht offen, aus dem Bierausschank 
schreit das Grammophon, rotmetallen blitzend wirbt ein 
Blechschrank für Coca-Cola und andere Kunstwässer aus 
USA. Aber trotz solcher Konkurrenz halten sich auf dem 
Markt die Pflanzenlösungen, mit denen der indianische 
Urahne seinen Durst stillte vor Hunderten von Jahren. 



ERLEBNISSE BEIM ERDBEBEN 


Wahrscheinlich habe ich schon oft die Redensart ver¬ 
wendet: Er fühlte den Boden unter sich wanken. 

Aber was es für ein Gefühl ist, auf wankendem Boden 
zu stehen, erfuhr ich erst hier. Eigentlich stand ich gar 
nicht auf dem wankenden Boden, als ich es erfuhr, son¬ 
dern ich saß. Auch die Tintenflasche stand, aber sie fiel 
sofort. Bevor ich auch nur daran denken konnte, die Tin¬ 
tenflut auf meinem Schreibtisch einzudämmen, rollten Flut 
und Flasche zu Boden, ein schwarzer Niagarafall. Gleich¬ 
zeitig rutschte der Aschenbecher an die Tischkante, aber 
bevor er über den Rand fiel, kroch er, als habe er sich's 
anders überlegt, an seinen alten Standort zurück. 

Es krachte und knackte in meinen vier Wänden. Die 
Gemälde, die mir ihre vier- bis sechsjährigen Schöpfer an 
die Wand gehängt hatten, erwachten zu schwingendem 
Leben, und meine vier Wände schwangen mit - warum 
sagt man eigentlich: „meine vier Wände"? Wenn es nur 
vier Wände gewesen wären! Aber es waren sechs, und 
die beiden horizontalen, die über mir und die unter mir, 
waren die schlimmsten. Nein, es ist ein arges Gefühl, den 
Boden unter sich wanken zu fühlen. 

Ich ging zum Fenster, will sagen, ich schwankte hin. 
Ein Schritt vorwärts, ein halber zurück. Ähnlich wie auf 
Deck eines schlingernden Schiffes, nur waren die Stöße 
kürzer. Breitspurig kam ich am Fenster an. Auf der Straße 
sah ich Teppiche gebreitet. Diese bestanden aus Indios, die 
auf die Knie gefallen waren und den Oberkörper mitsamt 
der Manteldecke auf das taumelnde Pflaster gedrückt hat¬ 
ten. Sie beteten. Sie beteten nach unten. Sicherlich beteten 
sie zum Vater unser, der da ist im Himmel..., aber sie 
schauten nicht zum Himmel auf. Sie schauten unter sich, 
wo ein Gott ihrer Ahnen wohnt, die große Schildkröte, die 
manchmal aus dem Schlaf erwacht und sich zu bewegen 
beginnt, wobei ihre Schildpattschale wackelt, die Erdober- 

46 Kisch VII 



fläche. Ich hörte nicht, was die Indios beteten. Vielleicht 
beteten sie: Heilige Schildkröte, bitt für uns arme Sünder 
und erlöse uns von dem Obel... 

Nach vier Minuten ist das Gebet erhört, die Schildkröte 
hat sich wieder zum Schlaf gebettet. Senkrecht ist nicht 
mehr schief, waagerecht wieder waagerecht. Scheinheilig, 
als hätten sie nie getanzt, stehen Wände und Möbel auf 
ihrem Platz, hängen die Kindermalereien da, und das 
Ganze scheint nichts als eine Sinnestäuschung gewesen zu 
sein, nicht eine, die mir meinen starken Kopfschmerz ver¬ 
ursacht hat, sondern eine, die von meinem starken Kopf¬ 
schmerz verursacht wurde. Nur Sinnestäuschung - wäre 
nicht die Tintenpfütze auf dem Schreibtisch und die zer¬ 
schellte Tintenflasche auf dem Boden und schaukelte nicht 
noch mein Kronleuchter, der aus einem Draht mit Glüh¬ 
birne besteht. 

Draußen heulen Sirenen vorbei, Rettungswagen und 
Feuerwagen, und Hunde bellen verzweifelt, angstgepeitscht. 
Die Hunde haben schon vorher verzweifelt, angstgepeitscht 
gebellt, aber ich hatte nicht darauf geachtet. Alle Gesetze 
der Physik, von der ich, aber doch nicht die Hunde, in 
der Schule gelernt habe, hatten geschwankt, die Gesetze 
der Perspektive, „Senkrechte bleiben unter allen Umstän¬ 
den senkrecht", waren aufgehoben, aufgehoben die Ge¬ 
setze der Beharrung und des Gleichgewichts. Aber ich habe 
nicht gebellt! 

Ich schicke mich an, den schwarzen Fleck vom Parkett 
zu wischen, da klingelt das Telefon. Ein Freund ruft an, 
um den Neuankömmling ein wenig zu verspotten: „Haben 
Sie's überstanden? Wie fühlen Sie sich?" - „Danke, man 
bebt." 

Auf der Straße stehen Gruppen von blassen Frauen, die 
einander erzählen, was sie alles erlebt haben. Manchmal 
wenden sie sich wie auf Kommando um und schauen zum 
Popocatepetl hinüber. Aber da sie doch alles gemeinsam 
erlebt haben und in unserem Bezirk scheinbar nichts pas¬ 
siert ist, was haben sie einander denn zu erzählen und 
warum glotzen sie auf den alten „Popo", der so bieder 
wie immer neben seiner Nachbarin schläft? Zum Glück 
kann unsere Hausbesorgerin meine Neugierde befriedi- 


714 



gen. Der Tortilla-Bäckerin von drüben ist die Kaffeeschale 
ihres Kindes hinuntergefallen und zerbrochen, das vor 
einem Jahr gestorben ist. Eine andere hat gestern ge¬ 
träumt der Popocatepetl werde drei Tage Feuer speien 
und die ganze Stadt vernichten. Ob ich das auch glaube? 
Nein, ich glaube das nicht, aber ich glaube, daß alle Er¬ 
eignisse das gleiche Geschwätz zur Folge haben, in Län¬ 
dern, in stabilen wie in solchen, wo Erdbeben auf der 
Tagesordnung stehen. 

Noch immer sausen Rettungs-, Feuerwehr- und Polizei¬ 
sirenen durch unsere Straße. Auch Passanten kommen mit 
Nachrichten. Der Neubau des ersten Wolkenkratzers von 
Mexiko ist zusammengestürzt. Recht geschieht ihm. Das ist 
die Strafe dafür, daß Mexikaner die Yankees nachahmen. 
Wenn die Insulaner von Manhattan zuwenig Platz haben, 
braucht deshalb Mexiko die Wolken zu kratzen? 

Sonst ist in der Stadt, auch außerhalb unserer Nachbar¬ 
schaft, nicht viel geschehen und geschieht auch sonst erd- 
bebenfalls nicht viel. Das alte verschwundene Mexiko 
schützt das neue. Einst war das ganze Talbecken, in dem 
wir leben, ein Krater, bis er sich selbst zu Tode gespien 
hat, und heute stehen von ihm nur noch seine Hänge. Aus 
ihnen wird das Baumaterial der Häuser, das Tezonite und 
das Tepetate gebrochen, die auch weiterhin allen Exzessen 
der Vulkane und der Erdbebenherde trotzen. Stehen nicht 
noch heute die Palacios der Konquistadoren ungeborsten 
inmitten der Stadt? Allerdings hätten die vulkanischen 
Bausteine kaum standgehalten, wenn sich das Fundament 
allzu hoch aufgebäumt oder gar geklafft hätte. Solches tat 
es jedoch nicht, denn dieses Fundament ist niemand ande¬ 
rer als der alte Texcoco-See, eine Wassermatratze, auf 
der die Gebäude springen und tanzen können, ohne sich 
die Beine zu brechen. Im Gegenteil, wenn sie zu lange 
ruhig stehen, drücken sie schließlich die Sprungfedern ein 
und sinken ein, wie zum Beispiel das Theater- und Kon¬ 
zertgebäude, der Palacio de Bellas Artes, der schon eine 
ziemliche Schlagseite hat. 

In welcher Beziehung der unterirdische See mit der 
unterirdischen Schildkröte steht oder ob sie gar identisch 
sind, kann ich nicht sagen. 


715 



Bei Nacht sieht ein Erdbeben ganz anders aus als bei 
Tag. Ich erwache. Jemand im Zimmer? Keine Antwort 
aber es gerauscht weiter. Meine Folgerung: ein Einbrecher 
ist es nicht, denn der würde verstummen. Es ist also, Fol¬ 
gerung Nummer zwei: eine Maus oder - dritte Folgerung 
- mehrere Mäuse. Aber wie können Mäuse auf den Pla¬ 
fond und in die halbe Höhe der Wand, und wieso beginnt 
mein Bett zu bocken und versucht mich abzuwerfen und 
reitet mit mir mitten ins Zimmer hinein? 

Durchs Fenster dringt Tageslicht, als ob es schon vor¬ 
mittags wäre. Aber auf meiner Uhr ist drei Uhr sechzehn. 
Es ist also heller Mond, „Plenilunio" heißt das auf spa¬ 
nisch, wie ich aus den Kreuzworträtseln weiß, „Terramoto* 
oder „Temblor" oder „Sismo" heißt Erdbeben, wie ich aus 
den Zeitungsüberschriften weiß. Draußen wetterleuchtet es 
wie ein Beleuchtertrick zur Erhöhung der Aufregung. 

Die Mäuse rascheln, die Hähne krähn, Mörtel fällt vom 
Plafond, die Hunde bellen, eine Frauenstimme kreischt, 
durch die Dachrinne strömt's, oben ist der Wassertank, 
und ich glaube, daß er wankt, was eventuell ein Schüttel¬ 
reim ist, jedenfalls schüttelt er sich, daß er Wasser läßt, 
welches klappernd durch die Rinne läuft. Ein furchtbarer 
Krach, ich denke, daß sich die Erde spaltet, aber merke, 
daß nur der Klosettdeckel zugeklappt ist. Vom Hof höre 
ich Stoßgebete - ob wohl das Wort „Stoßgebet" ursprüng¬ 
lich ein Gebet beim Stoß der Erde bedeutet hat? Blöd¬ 
sinn. 

Mein Fenster führt in den Hof hinab, nicht auf die 
Straße, auf die ich seinerzeit beim Tagerdbeben hinab¬ 
schaute. Man schließe aber nicht daraus, daß ich je ein 
Arbeitszimmer für Tagerdbeben und ein Schlafzimmer für 
Nachterdbeben habe. Ich bin bloß übersiedelt. 

Im Hof knien wieder Leute wie damals auf der Straße. 
Aber sie haben keinen Sarape an, nur Nachthemden, die 
junge Nachbarin von vis-ä-vis und der würdige Licenciado 
von nebenan. Sie beten nicht zur Kröte, sie beten nach 
oben. 

Ich fühle Schwindel und weiß, daß ich keinesfalls wie¬ 
der einschlafen könnte, selbst wenn nicht Sirenen vorüber- 


716 



flitzen würden. So will ich Don Patino besuchen, es ist 
seines Amtes, jetzt im Amt zu sein, dem Instituto Geo- 
logico. 

Straßenbahn und Autobus fahren noch nicht zu dieser 
Stunde, aber ich kann zu Fuß gehen, just gegenüber mei¬ 
nem Haus fängt Tacubaya an. Tacubaya war einmal eine 
Sommerresidenz fern von Mexiko. Ummauerte Riesen¬ 
parks mit dazugehörigen Palästen bildeten die Straßen, 
Olivenpflanzungen entzückten Humboldt, mit Karossen 
fuhren die Kirchenfürsten auf der staubigen Landstraße 
nach Mexiko, um in der Kathedrale die Messe zu lesen, 
ritten die adligen Herren und Damen des Vizekönigs in 
die Amtsräume der Regierung. 

Zu nachtschlafender Stunde gehe ich durch dieses Tacu¬ 
baya, welches längst kein selbständiges Ortswesen mehr 
ist. Die Stadt Mexiko hat sich herangedrängt, hat die Ar¬ 
men, die an der Grenze lebten, hinausgedrängt und sie 
nach Tacubaya hineingedrängt. Zwar gehe ich an den alten 
Gartenmauern und Palästen vorbei, und die Straße ist im¬ 
mer noch staubig und ungepflastert, aber ich komme auch 
an Pulquerias vorbei, und vor denen stehen frostklappernd 
und im Hemd jene Gäste, die Schuhe und Hosen vertrun¬ 
ken haben, dieweil die Erde bebte. 

Der herrlichste Palast von Tacubaya war der erzbischöf¬ 
liche. Dort, in den barocken spiegelnden Sälen und in den 
runden Gartenpavillons, wo Seine Eminenz sich sicher 
nur mit den Dingen des Himmels droben und mit den Ge¬ 
fahren der Hölle drunten befaßte, geschieht heute das 
gleiche. Der Erzbischofssitz dient teils dem astronomischen 
Observatorium, teils dem Erdbebeninstitut. Aber die 
neuen Mieter benehmen sich der alten nicht würdig. So¬ 
zusagen aus den Gemächern des Erzbischofs haben die 
Astronomen einen Planetoid entdeckt und haben ihm den 
Namen „Hidalgo" gegeben - wirklich eine Gemeinheit ge¬ 
gen den erzbischöflichen Genius loci, denn Hidalgo war 
zwar auch ein Priester, aber ein revolutionärer, und des¬ 
halb waren die Kirchenfürsten gegen ihn, und die Inquisi¬ 
tion hat ihn hingerichtet. Und so was soll jetzt ein Star 
sein! 

Noch feindseliger als die Mieter der oberen Stockwerke 


717 



treiben es die ebenerdigen und souterrainen. Während die 
Klerikalen und ihre Partei, die Sinarquistas, es geradezu 
als einzigen Beweis für die Gottgefälligkeit ihrer Lehre 
anführen können, daß Gott jede sozialere Maßnahme der 
Regierung prompt und sichtbarlich mit den biblischen 
Strafen beantwortete, die Erde erbeben und die Berge 
Feuer speien zu lassen, während also die frommen An¬ 
hänger der Kirche dieses beweisen, sitzen im beschlag¬ 
nahmten Herrensitz der Kirche Teufelsknechte und geben 
für diese Zeichen des göttlichen Zorns nur irdische Ur¬ 
sachen an. 

Don Patinos Büro steht offen, Don Patino gibt mir ein 
Zeichen, hereinzukommen, mich zu setzen, aber Don Patino 
hat keine Zeit für mich. Er steht am Telefon und sagt nur: 
„Jawohl, 7 .. . jawohl, Nummer 115 .. . jawohl, 3 Uhr 21 
Minuten 35 Sekunden bis 3 Uhr 27 Minuten 19 Sekun¬ 
den ... jawohl, das Estileto hängte sich aus ..Manch¬ 
mal schreit er: „No, Senor, das hat gar nichts miteinander 
zu tun...", oder noch unwilliger: „Machen Sie, was Sie 
wollen." 

Wenn er sich auf eine halbe Minute zu mir setzt, 
schimpft er ebenso unverständlich und unzusammenhän¬ 
gend auf etwas, was Serviphon heißt und seine Telefon¬ 
nummer jedem Esel verrät, und auf die Fluggesellschaft, 
die es längst wissen sollte, und die Periodistas, die von 
nichts eine Ahnung haben und von allem in die Zeitung 
schmieren ... 

... „Senor Ingeniero, die Jesuiten rufen." Er geht zum 
Telefon. Die Jesuiten? Glauben die etwa auch an irdische 
Ursachen der himmlischen Zeichen? ... „Senor Ingeniero, 
Washington ruft, Department of Commerce." .. . Was hat 
der amerikanische Handel mit Erdbeben zu tun? .. . „Vera¬ 
cruz ruft." 

Die Jesuiten sind die Jesuit Seismological Association in 
Saint Louis. Das Department of Commerce in Washington 
hat eine Geological Surway, die besonders im Kriege an 
Erdbeben auf dem Meeresgrund interessiert ist, vielleicht 
wegen der Unterseeboote. 

„Warum, Don Patino, antworten Sie immer ,sieben', und 
was bedeutet ,Nummer 115'?" 


718 



„115 ist die Nummer des Epifoco, der uns das Erdbeben 
schickte, ein alter Erdbebenherd im Pazifischen Ozean, uns 
längst bekannt 16 Grad 40 Minuten nördlicher Breite, 
101 Grad 31 Minuten östlich von Greenwich, er liegt 402 
Kilometer südöstlich von hier. Der nächstliegende Punkt 
des mexikanischen Festlands ist der Hafen Coynquilla im 
Staat Guerrero, nur 90 Kilometer von dem unterirdischen 
Herd entfernt." 

„Und warum sagen Sie immer ,Nummer sieben', Don 
Patino?" 

„Das Beben entsprach Nummer sieben der Mercallischen 
Skala. Hier lesen Sie ..." 

Telefon: Station Michoacän. Ich lese den Mercallischen 
Katalog. Die Phasen eins bis sieben sind noch einigerma¬ 
ßen idyllisch, obwohl mir die Folgen des heutigen Numero 
sieben noch Kopfschmerz bereiten. Mit Recht heißt Nu¬ 
mero sieben Temblor muy fuerte. Aber Numero acht wäre 
noch schlimmer, das ist ein Temblor ruinoso. Die Grade 
neun und zehn heißen nicht mehr Temblor, sondern 
„Sismo". Sismo destructor und Sismo muy destructor, bei 
diesen Graden stürzen Mauern zusammen, und die Glok- 
ken beginnen von selbst Sturm zu läuten. Und auch das 
ist noch nicht das ärgste, das ärgste ist Numero elf, gra¬ 
duiert als „Catastrofe", und das allerärgste und allerletzte 
der Skala heißt „Gran Catastrofe" und liest sich wie eine 
Vision des Weltuntergangs: „Kein Gebäude, kein Werk von 
Menschenhand bleibt stehen, Todesschreie von Mensch und 
Tier, Bäume und Felsen stürzen zusammen, das Erdreich 
bäumt sich meterhoch in die Höhe und klafft auseinander, 
die Gewässer treten aus ihren Ufern, und die Flüsse ver¬ 
ändern ihren Lauf .. 

Don Patino kommt vom Telefon zurück und geht zur 
Karte. Eine Ortschaft im Staate Oaxaca soll ganz zusam¬ 
mengestürzt sein. 

Ich schau ihm über die Schulter, wobei ich bemerke, daß 
bei Tacubaya auch ein Erdbebenherd eingezeichnet ist, 
Nummer 107, das Erdbebeninstitut also auf gefährlichem 
Boden steht. Aber ich fürchte mich nicht, denn es ist bes¬ 
ser, hier zu sein als im Staat Oaxaca. Denn der Staat 
Oaxaca wimmelt, wie ich sehe, von diesen mit Nummern 


719 



versehenen Kreisen, Mexiko ist der erdbebenreichste Staat 
des Erdballs und Oaxaca sein erdbebenreichster Bezirk. 
Auch der angrenzende Bundesstaat Guerrero ist dicht mit 
Kreisen und Ziffern besät und der Staat Michoacän. Don 
Patino geht wieder zum Telefon. Es sind Redaktionen, die 
anklingeln. 

„Nein", höre ich ihn sagen, „auch mit der Mondekliptik 
und dem Wetterleuchten hat das Erdbeben gar nichts zu 
tun... Prophezeien können wir gar nichts, es gibt keinen 
Fall, wo ein Erdbeben im voraus festgestellt werden 
konnte." 

Mittags bringen die Zeitungen schon Berichte. Panik¬ 
szenen im Irrenhaus, Panik zwölften Grades in den Hotels, 
die hoch sind und daher weiter ausschwingen und wo die 
amerikanischen Gäste es nicht gewohnt sind, dag der Erd¬ 
boden so zu tanzen beginnt, wie sie es zu tun pflegen. Die 
Damen rannten in tiefstem Neglige und mit höchstem Gel¬ 
len auf dem wankenden Korridor und im zitternden Trep¬ 
penhaus umher, und schwindlige Doktoren gaben Medika¬ 
mente gegen Schwindel ein. 

Unter grogen Überschriften wird daran erinnert, dag 
heute der zwanzigste Todestag Francisco Maderos ist, des 
Revolutionärs, der die staatserhaltende Selbstherrschaft 
von Don Porfirio Diaz frevelhaft stürzte und gegen den 
Klerus war. Als dieser Atheist in die Stadt Mexiko einzog, 
bäumte sich das Stragenpflaster meterhoch, und einstür¬ 
zende Häuser begruben Menschen. Und heute, da groge 
Gedenkfeiern für Francisco Madero angesetzt sind, pro¬ 
testiert die Erdkruste mit aufgeregten Sprüngen. 

In den westlichen Provinzen schaukeln die Ortschaften 
nicht auf einer Wassermatratze, und die Erdbeben werden 
keineswegs von einer Schildkröte verursacht, sondern vom 
Gott Zipacua, der die Erde auf seinen Schultern trägt und 
die Last manchmal von einer Schulter auf die andere 
schubst. Aus diesen Gegenden kommen Nachrichten von 
katastrophalen Einstürzen, Panik und Flucht von Mensch 
und Tier. Hilfsexpeditionen gehen dorthin ab, während ich 
nach Hause gehe, um mich in meinen vier beziehungsweise 
sechs etwas gesprungenen Wänden niederzulegen. 


720 



NACHBEMERKUNG 


Die Fortführung der Gesammelten Werke von Egon Erwin 
Kisch, von denen die Bände I, III und IV bereits erschienen 
sind, erfuhr durch den Tod der Herausgeber Bodo Uhse, 1963, 
und Gisela Kisch, 1962, eine längere Unterbrechung. Mit 
Band VII, der die beiden Sammlungen „Marktplatz der Sen¬ 
sationen" und „Entdeckungen in Mexiko" enthält, wird die 
Ausgabe nach der Konzeption der Herausgeber weitergeführt. 

„Marktplatz der Sensationen" ist gegenüber der ersten Aus¬ 
gabe, die 1942 in Mexiko herauskam und 21 Reportagen ent¬ 
hielt, um zwölf weitere ergänzt worden. Sieben Reportagen 
hatte Kisch der Neuausgabe 1947, die der Globus-Verlag, Wien, 
herausbrachte, bereits eingefügt. In dieser Anordnung wurde 
die Sammlung für die Werkausgabe übernommen. Kisch 
konnte das Vorhaben eines zweiten Bandes vom „Marktplatz" 
nicht mehr verwirklichen. Nach seinem Plan werden die letz¬ 
ten fünf der hier abgedruckten Reportagen aus dem vom Mu¬ 
seum für tschechische Literatur in Prag betreuten Nachlaß zum 
erstenmal veröffentlicht. Bei den weiteren von Kisch vorgese¬ 
henen, hier aber nicht berücksichtigten Titeln handelt es sich 
um Wiederaufnahme bekannter Reportagen aus anderen 
Sammlungen und um Entwürfe und Skizzen zu neuen Arbei¬ 
ten. 

Die „Entdeckungen in Mexiko" vereinigten in der ersten 
1945 in Mexiko erschienenen Ausgabe zunächst 24 Reportagen, 
die Kisch für die Neuausgabe 1947 im Aufbau-Verlag, Berlin, 
um vier erweiterte. Auch für diese Sammlung plante Kisch 
einen zweiten Band. Nach diesem Plan konnte unsere Aus¬ 
gabe um sechs Reportagen vermehrt werden. Sie sind an den 
Schluß gestellt worden. Zwei dieser Reportagen, „Sportbetrieb 
bei den alten Mayas" und „Teoberto Maler" (unter dem Titel 
„Ein Österreicher in Yucatan"), waren schon 1948 in der Samm¬ 
lung „Abenteuer in fünf Kontinenten" veröffentlicht worden. 
Im Nachlaß fanden sich zahlreiche zum Mexiko-Komplex 
zählende Texte: überarbeitete und abgeschlossene neue Re¬ 
portagen und Arbeiten theoretischen Charakters sowie Frag¬ 
mente, Skizzen und Notizen. Aus diesem Komplex konnten 
vier vollendete und unveröffentlichte Reportagen in die vor¬ 
liegende Ausgabe neu aufgenommen werden. Die theoreti- 


721 



sehen Schriften über Mexiko wurden für den letzten Band 
der Gesammelten Werke zurückgestellt. 

Für beide Sammlungen gilt gleichermaßen, daß auch für 
einen Teil der schon veröffentlichten Arbeiten Manuskripte 
und korrigierte Fassungen Vorlagen, die zum Vergleich heran¬ 
gezogen wurden. 

Die Bearbeiter waren bemüht, Orthographie und Interpunk¬ 
tion des Textes behutsam dem heutigen Gebrauch anzupassen. 

Die Bearbeitung der Texte besorgte Edelgarde Oehlandt, die 
auch an der Zusammenstellung des Bandes mitarbeitete. An 
der Abfassung der Anmerkungen zu „Entdeckungen in Me¬ 
xiko" hatte Elga Abramowitz wesentlichen Anteil. 



ANMERKUNGEN 


Marktplatz der Sensationen 

10 Sankt-Nepomuks-Tag - Sankt Nepomuk, böhmisch-ka¬ 
tholischer Schutzheiliger, dessen am 16. Mai gedacht 
wird. 

31 Clairvoyantes - (franz.) Hellseherisches. 

58 Crimen lasae majestatis - (lat.) Majestätsbeleidigung. 

70 pere noble - (franz.) Heldenvater. 

118 Arcierenleibgarde - Leibgarde des Kaisers von Öster¬ 
reich, bestand aus gedienten Offizieren. 

146 ... so dag die Hebellänge der Schere sechs Meter be¬ 

trug. - Offensichtlich ein Irrtum von Kisch, gemeint sind 
zwei Hebel von je drei Meter Länge. 

159 Official Forgery - (engl.) Amtliche Fälschung. 

Falsifikation commise par le gouvernement du Kaiser - 
(franz.) Fälschung, begangen von der Regierung des Kai¬ 
sers. 

Bella gerant alii! - (lat.) Krieg führen mögen die ande¬ 
ren! 

228 Chonte - (jidd.) Dirne. 

230 Schema]isröl! - (jidd.) Eigentlich sch'ma-Jissrö'ejl, Höre 
Israel! 

231 Ascher-Joze-Papier - (jidd.) Eigentlich Ascher-jozar-pa- 
pir, wertloses Dokument; hier euphemistisch für Klosett¬ 
papier. 

298 Stalaktiten und Adamiten - Kisch verwechselt Stalag¬ 
miten mit Adamiten, einer mittelalterlichen Sekte, die 
nackt wie Adam in den böhmischen Wäldern umherlief. 
(Diese Anmerkung steht so schon als Fugnote in der 
Ausgabe von 1942 und stammt wahrscheinlich von Egon 
Erwin Kisch selbst.) 

321 Liquid - (lat.) Eigentlich liquid, flüssig; hier für Flüssig¬ 
keit. 

333 Mert nem mondod magyarul? - (ungar.) Warum hat Er 
nicht ungarisch gesprochen? 

Azt kerdezem, hogy mert nem mondod magyarul? - 
(ungar.) Ich habe gefragt, warum Er nicht ungarisch ge¬ 
sprochen hat? 


723 



335 Ujra valaki, aki szegyenli, hogy magyar. - (ungar.) 
Wieder einer, der sich schämt, Ungar zu sein. 

342 Gründonnerstag nachts safjen Franz und ich im Cafe 
Montmartre... - Offensichtlich eine Verwechslung von 
Kisch, wenn er Gründonnerstag als letzten Faschingstag 
bezeichnet, dem er den Aschermittwoch folgen läfjt. 
Aschermittwoch ist der erste Tag der vierzigtägigen Fa¬ 
stenzeit vor Ostern, während Gründonnerstag stets auf 
den Donnerstag vor Ostern fällt. 

350 There's somewhere something in the air... - (engl) 
Irgendwo liegt irgend etwas in der Luft, fahren Sie hin, 
und drahten Sie dreihundert Worte. 

358 Purser - (engl.) Zahlmeister. 

361 It is gone - (engl.) Es ist abgegangen. 


Entdeckungen in Mexiko 

384 Five Cents is fair enough - (engl.) Fünf Cent ist mehr 
als genug. 

385 Garbanzos - (span.) Kichererbsen. 

390 Bracero - (span.) Tagelöhner. 

392 Idolos - (span.) Götzenbilder. 

395 Casino de la Jetee - (franz.) Spielkasino. 

399 Christo Milagro - (span.) Wundertätiger Christus. 

402 Tu te rapelles, Rousseau... - (franz.) Erinnerst du dich 
an die aztekische Landschaft, Rousseau? 

410 Sarapes - (span.) Mexikanischer Kittel. 

418 objets d'art - (franz.) Kunstgegenstände. 

424 Arbol de la noche triste - (span.) Baum der traurigen 
Nacht. 

425 Nuestra Senora de los Remedios de Mejico - (span.) 
Etwa: Unsere Liebe Frau der Rettung von Mexiko. 

428 Acciön librada entre Cuauhtemoc y Hernän Cortez. Julio 
7 de 1590 - (span.) Befreiungsschlacht zwischen Cuauh¬ 
temoc und Fernando Cortez. 7. Juli 1590. 

429 Tesoro - (span.) Schatz. 

431 raison d'etre - (franz.) Daseinsgrund. 

449 Tilma - (span.) Mantel, der um die Schultern geschlagen 
wird. 

468 Cotton Belt - (engl.) Baumwollanbaugebiet der USA. 

476 femme veneree - (franz.) verehrte Frau. 

491 Fortune Level - (engl.) Glücksebene. 

495 Preventorio para hijos de leprosos. - (span.) Heim für 
Kinder von Leprakranken. 


724 



498 je m'en fiche - (franz.) das ist mir egal. 

501 Le Roi Lepreux - (franz.) Der leprakranke König. 

508 Sejour - (franz.) Aufenthalt 

519 para las mujeres - (span.) für die Frauen. 

521 Ojalä, jefecito - (span.) Wollte Gott, Chef. 

Venta - (span.) Kneipe. 

Para el agua, patrön? - (span.) Für das Wasser, Chef? 
527 Basketmaker - (engl.) Korbmacher. 

535 Curandera - (span.) Kurpfuscher in. Quacksalberin. 

541 Reglamento par el juego de gallos - (span.) Regeln für 
den Hahnenkampf. 

544 ab ovo und sogar ante ovo - (lat.) vom Ei an und sogar 
vor dem Ei. 

546 indivisibiliter ac inseparabiliter - (lat.) unteilbar und 
untrennbar. 

550 Is it allright with you? - (engl.) Sind Sie einverstanden? 
555 Items - (engl.) Warenposten. 

highly colourful - (engl.) sehr farbenfreudig, 
most decorated - (engl.) sehr verziert. 

566 Oye, Israel, el eterno es nuestro dios, el eterno uno es. 
- (span.) Höre, Israel, der Ewige ist unser Gott, der 
Ewige ist eins. 

578 Barrio - (span.) Stadtviertel. 

579 La cucaracha, la cucaracha... - (span.) Die Küchen¬ 
schabe, die Küchenschabe / kommt nicht mehr vom Fleck 
/ weil sie nicht hat, weil ihr fehlt / Marihuana zum 
Rauchen. 

582 Aschermittwoch - Offensichtlich eine Verwechslung von 
Kisch. Vgl. Anmerkung 342. 

584 loco - (span.) verrückt. 

585 Teyhuinti son los hongos... - (span.) Teyhuinti sind die 
Pilze, die dauernden Irrsinn hervorrufen, ohne den Tod 
zur Folge zu haben. 

594 beni soit qui mal y pense - (franz.) gesegnet sei, wer 
Arges darüber denkt. 

596 die Navy und die Currency - (engl.) die Flotte und die 
Währung. 

Pied-ä-terre - (franz.) Absteigequartier. 

597 Monte de Piedad - (span.) Berg der Frömmigkeit. 

600 jeunesse doree - (franz.) goldene Jugend. 

jeunesse argentee - (franz.) silberne Jugend. 

604 Alhöndiga - (span.) Getreidespeicher. 

615 The Boll-Weevil is a little bug ... - (engl.) Der Boll- 
Weevil ist ein kleiner Wurm / es heißt, aus Mexiko / er 


725 



kam, um den Boden von Texas zu probieren / und dachte, 
er täte gut daran zu bleiben / und nach einem Heim zu 
suchen / und nach einem Heim zu suchen. 

620 chartered sect - (engl.) zugelassene Sekte. 

The Native American Church - (engl.) Die amerikanische 
Eingeborenenkirche. 

vegetal incarnation of the Holy Ghost - (engl.) pflanz¬ 
liche Verkörperung (Fleischwerdung) des Heiligen Gei¬ 
stes. 

El Santo Nombre de Jesus Peyote - (span.) Der heilige 
Name von Jesus Peyote. 

650 American Defense Supply Corporation - (engl.) Ameri¬ 
kanische Handelsgesellschaft für die Versorgung zur Lan¬ 
desverteidigung. 

Fomento de Yucatan - (span.) Förderungsplan von Yuca¬ 
tan. 

654 Campamento - (span.) Lager. 

658 Tiempo de vainila - tiempo de mentira - (span.) Zeit 
der Vanille - Zeit der Lüge. 

665 his almost confiscatory tax placed on the oil products at 
Tampico - (engl.) seine fast konfiskatorische Steuer, mit 
der er die Ölproduktion in Tampico belegte. 

666 Puestos de Confianza - (span.) Vertrauensstellung. 

Know how - (engl.) Wissen wie. 

671 Sindicato de Trabajadores Petröleros de la Republica Me- 
jicana - (span.) Syndikat der Petroleumarbeiter der Re¬ 
publik Mexiko. 

679 Timing - (engl.) Zeitpunkt. 

680 Gambier - (engl.) Spieler. 

685 Proles - (span.) Nachkommen. 

691 scrummage - (engl.) Getümmel. 

706 es verdad? - (span.) stimmt es? 

719 Temblor muy fuerte - (span.) Sehr starke Erschütterung. 
Temblor ruinoso - (span.) Verheerende Erschütterung. 
Sismo destructor - (span.) Zerstörender Erdstoß. 

Sismo muy destructor - (span.) Sehr zerstörender Erd¬ 
stoß. 



INHALT 


Marktplatz der Sensationen 

Von den Balladen des blinden Methodius. 7 

Im Innern von „S. Kisch & Bruder". 18 

Wirklich gedruckt . 34 

Das tätowierte Porträt . 52 

Vorträge und Theater . 65 

Deutsche und Tschechen. 82 

Die alten Herren. 92 

Kämpfe um die Lokalnotiz, speziell um Selbstmorde . 104 

Vom großen Zorn dieser Reporter. 116 

Sonnenthal im letzten seiner Tode. 124 

Debüt beim Mühlenfeuer. 128 

Weihnachtsbescherung . 139 

Die unabsehbaren Konsequenzen . 151 

Die Mutter des Mörders . 162 

Die Wasserkatastrophe von Konopischt. 173 

Zyankali gegen den Generalstab. 184 

Tötet der Buchstabe?. 198 

Die zusammengewachsenen Schwestern. 211 

Die Himmelfahrt der Galgentoni. 221 

Der Mordversuch und der Mord an meinem Onkel . . 244 

Magdalenenheim. 252 

Ein Mädchen, das des Mörders harrt. 261 

Wie ich erfuhr, daß Redl ein Spion war. 271 

Von der Reportage. 290 

Perverses Vorspiel. 301 

Ein Reporter wird Soldat. 312 

Kriminalfall wie keiner . 323 

Ausgangsstation . 332 

Gesungene Lokalchronik . 340 

„Auswärtige" Berichterstattung. 349 

Kaiserlich-Königlich Allzumenschliches. 353 

Vom Papst persönlich. 365 

Verrat der Ordre de Bataille. 371 


727 


































Entdeckungen in Mexiko 


Geschichten mit dem Mais. 331 

Ein Vulkan bricht aus . 391 

Kolleg: Kulturgeschichte des Kaktus. 401 

Der Nibelungenhort von Mexiko. 416 

Interview mit den Pyramiden. 431 

„Nicht jedem Volke ward solches getan ..." . 447 

Das verteilte Baumwolland. 458 

Maximilian von Habsburg und Karl Marx. 475 

Landschaft, geschaffen um des Silbers willen .... 486 

Liebe und Lepra. 495 

Mineral der motorisierten Menschheit. 505 

Agavenhain in der Kaschemme . 514 

Fragen, nichts als Fragen auf dem Monte Alban . . . 524 

An der Kräuterbude . 530 

Der Mensch im Kampf der Hähne. 539 

Geschäftsreise .-. 550 

Indiodorf unter dem Davidstern. 560 

Mexikoforschung bei den Nazis. 569 

Verwirrungen einer Kaiserin . 576 

Zum Geburtstag des feuerspeienden Bergs. 587 

Bonanza oder die Prinzen der glücklichen Strähne . . 595 

Wirtschaftliches Feuilleton über Torreön. 607 

Was immer der Peyote sei. 619 

Der Hafen der Seeräuber. 624 

Der Kaugummi, erzählt vom Ende bis zum Anfang . 633 
Die fetten und die mageren Jahre der Stricke . . . 645 

Die Vanille-Indianer . 654 

Die Petroleumleitung. 662 

Der Kaspar Hauser unter den Nationen. 677 

Versuch einer Beschreibung von Chichen Itzä .... 684 

Sportbetrieb bei den alten Mayas. 690 

Teoberto Maler, ein Mann in verzauberter Stadt . . . 694 

Marktnotierungen . 701 

Erlebnisse beim Erdbeben . 713 

Nachbemerkung . 721 

Anmerkungen . 723 


i