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Internationale Psychoanalytische Bibliothek
————— Band I0 Do
Klinische Beiträge
zur Psychoanalyse
aus den Jahren
1907-1920.
von
Dr. Karl Abraham
1921
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig _ Wien _ Zürich
®. INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung in alle Sprachen vorbehalten.
Copyright by „Internationaler Psychoanalytischer Verlag, Ges. m. b. H.“ Wien, I.
„Ja, das ist das rechte Gleis,
Daß man nicht weiß, was man denkt,
Wenn man denkt:
Alles ist wie geschenkt.“
Goethe.
Vorwort.
Wenn ich, einer Aufforderung des „Internationalen Psycho-
analytischen Verlages“ nachkommend, meine klinischen Beiträge zur
Psychoanalyse gesammelt herausgebe, so erscheint mir ein Hinweis
auf ihre Entstehung angebracht, außerdem aber eine Bemerkung über
die gegenwärtige Giltigkeit der in ihnen niedergelegten Ergebnisse,
Denn in dem Zeitraum von vierzehn Jahren, während dessen diese
Arbeiten verfaßt wurden, hat die psychoanalytische Wissenschaft
ungeahnte Fortschritte gemacht.
' Bevor ich im Jahre 1904 in Zürich als Assistent Bleulers
mit den Anschauungen Freuds bekannt wurde, hatte ich eine Reihe
wissenschaftlicher Beiträge zur klinischen Deskription der Geistes-
und Gehirmkrankheiten geliefert. Nunmehr nahmen die psycho-
analytischen Forschungen alsbald mein ganzes Interesse in Anspruch.
Meiner damaligen Tätigkeit entsprechend zog mich die noch wenig
erforschte Psychologie der Geistesstörungen am stärksten an; ihr galten
daher auch meine ersten psychoanalytischen Arbeiten. Später, nachdem
ich die Anstaltstätigkeit mit der freien psychotherapeutischen Praxis
vertauscht hatte, bot sich eine reiche Fülle ungelöster Aufgaben
psychologischer und praktisch-medizinischer Art. So erklärt es sich,
daß der größte Teil meiner Schriften klinischen Gegenständen
gewidmet ist. Diese Arbeiten sind in der vorliegenden Sammlung
vereinigt. Ausgeschlossen von ihr blieben diejenigen meiner
Publikationen, welche den außermedizinischen Anwendungsgebieten
der Psychoanalyse (Mythologie, Kulturgeschichte, Kunstpsychologie etc.)
angehören.
Zur Zeit meiner ersten Bekanntschaft mit der Psychoanalyse
war die Fachliteratur kaum über ihre ersten Anfänge hinausgekommen.
Außer den „Studien über Hysterie“ waren von Freuds grund-
legenden Werken nur die „Psychopathologie des Alltagslebens“ und
die „Traumdeutung“ erschienen. Meine eigenen Beiträge zur
Psychoanalyse entstanden in enger Fühlung mit der sich allmählich
entwickelnden Spezialliteratur. Außerdem aber wurden sie durch
mündlichen und schriftlichen Gedankenaustausch mit Freud
und den anderen an Zahl allmählich zunehmenden Mitarbeitern
der neuen Wissenschaft gefördert. So ist denn jede Arbeit aus der
Zeit ihrer Niederschrift zu verstehen. Meine Aufstellungen über
Hysterie und Dementia praecox (1908) wären nach dem heutigen
Stand der Wissenschaft in mancher Hinsicht zu ergänzen. Das Gleiche
gilt unter anderen auch für den Aufsatz vom Jahre 1908 zur Psycho-
logie des Alkoholismus. Ich habe aber von jeder Änderung der
ursprünglichen Form abgesehen, teils um die historische Treue nicht
zu beeinträchtigen, teils weil ich keines der Ergebnisse meiner
Abhandlungen als prinzipiell irrig zu widerrufen habe; auch enthalten
die späteren Aufsätze manche Ergänzung der früheren.
Gleichzeitig mit der vorliegenden deutschen Ausgabe befindet
sich eine englische in Vorbereitung.
Berlin-Grunewald, im Juni 1920.
Dr. Karl Abraham.
Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für
die Symptomatologie der Dementia praecox.'
Den Symptomen der Hysterie liegen nach Freuds Theorie gefühls-
betonte Reminiszenzen zugrunde, welche in erster Linie dem Gebiet
der Sexualität angehören und sich bis in die frühe Kindheit des Indi-
viduums zurückverfolgen lassen. Unerfüllte Wünsche und unlustbetonte
Erlebnisse, welche dem Selbstbewußtein unerträglich sind, werden aus
dem Bewustsein verdrängt. Sie wirken aber im Unbewußten fort und
können unter besonderen Umständen später als hysterische Symptome
aus dem Unbewußten wieder auftauchen. Die Mechanismen dieser
psychischen Vorgänge — der Verdrängung und der Konversion in
hysterische Symptome — sind uns ebenfalls durch Freuds Forschungen
bekannt geworden. Neuere Untersuchungen — ich verweise u. a. auf
die Veröffentlichungen von Bleuler? und Jung? — haben gezeigt,
daß die Freud’schen Theorien auch für die Auffassung der Dementia
praecox außerordentlich fruchtbar sind, daß wir in den Symptomen
der Dementia praecox das gleiche Material verarbeitet finden wie bei
der Hysterie, daß hier wie dort die Sexualität eine dominierende Rolle
spielt, und daß hier wie dort die gleichen psychischen Mechanismen
wirksam sind. Es bestehen also weitgehende Analogien zwischen
Hysterie und Dementia praecox. Es schien mir nun von großem Interesse,
festzustellen, ob die infantile Sexualität des Individuums in den
Symptomen einer späteren Dementia praecox in der gleichen Art zum
Ausdruck komme, wie Freud es für die Hysterie erwiesen hat, ob
die Analogie zwischen den beiden Krankheiten sich auch auf dieses
Gebiet erstrecke. Die Vermutung, daß dem so sei, hat sich mir in einer
1 Aus der psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich. Nach einem Vortrag,
gehalten auf der Jahresversammlung des deutschen Vereins für Psychiatrie in Frank-
furt am 27. April 1907. Zuerst veröffentlicht im „Zentralblatt für Nervenheilkunde und
Psychiatrie“, XXIV. Jahrgang, Nr. 238, 1907.
®2 Bleuler: Freudsche Mechanismen in der Symptomatologie von Psy-
chosen, Psychiatr.-neurolog. Wochenschrift 1906.
® Jung: Die Psychologie der Dementia praecox. Halle 1907,
2
Reihe von Fällen bestätigt. Ich teile zunächst aus einer meiner Kranken-
geschichten mit, was zum Thema von Interesse ist.
Im väterlichen Hause der Patientin, welche jetzt 57 Jahre alt ist,
wurde mit den Kindern ein noch unerwachsener Bruder der Mutter,
also ein Onkel der Patientin, erzogen. Er wurde vom Vater der Patientin
- öfter bestraft und lief deshalb eines Tages davon. Nach Jahren kehrte
er zurück, drohte mit Rache für die frühere schlechte Behandlung und
trieb sich in den Wirtshäusern der Umgegend herum. Einmal nahm
er die damals zehnjährige Patientin mit sich in die Scheuer und ver-
gewaltigte sie. Er drohte ihr, wenn sie den Eltern davon erzähle, werde
er das Haus anzünden. Da der Onkel oft betrunken und auch gegen
den Bruder der Patientin sehr roh war, fürchtete sie, er könne die
Drohung ausführen. Sie verriet daher von dem Vorgefallenen nichts
und war dem Onkel noch mehrmals zu Willen.- Der Onkel verschwand
nach einiger Zeit wieder, das Mädchen verschloß aber das Erlebte
auch weiter in sich. Einige Zeit nach dem Attentat hatte sie oit
Sensationen an den Genitalien, welche denen beim Attentat des Onkels
ähnlich waren und die Patientien zur Masturbation veranlaßten. Weiter-
hin bekam sie ein Gefühl der Unsicherheit: es war ihr, als wüßten alle
Leute von dem, was vorgegangen war und verachteten sie deshalb. Auf
der Straße kam es ihr immer vor, als lachten die Leute über sie: wenn
sie daherkam, erwiderten die Leute ihren Gruß nicht und sprachen über
sie. Sie selbst sagt, sie sei nach dem Attentat des Onkels „finster und
verrückt“ geworden. Lange Zeit war sie sehr deprimiert und beschäftigte
sich mit Selbstmordplänen. Sie blieb ihr Leben lang scheu und ein-
gezogen. Sie litt ferner über viele Jahre an nächtlichen Visionen,
besonders sah sie dieScheuer brennen. Diese Vision ist offenbar zwiefach
determiniert: der Onkel hatte mit Feueranlegen gedroht und hatte sie
in der Scheuer mißbraucht. Daneben hatte sie schreckliche Träume.
Einmal kam ein Schwarm von Nachteulen; die Tiere sahen sie scharf
an, flogen zu ihr, rissen ihr Decke und Hemd fort und schrien: schäm’
dich, du bist ja nackt! Offenbar ist dies eine Reminiszenz an das
Attentat. In späterer Zeit sah sie im wachen Zustande die Hölle, Die
Szenen, die sie hier sah, waren stark sexuell gefärbt. Sie sah „ver-
wandelte Geschöpfe“, halb Tiere, halb Menschen, wie Schlangen, Tiger,
Eulen. Es kamen auch Trunkenbolde, die verwandelten sich in Tiger
und gingen auf die weiblichen Tiere ‚los. Auch hier wieder eine
Erinnerung an den trinkenden Onkel. Hinter dem Angstaffekt verbirgt
sich wahrscheinlich der Wunsch nach sexueller Befriedigung. Die
Patientin hat im Laufe ihres Lebens sehr wenig Erfreuliches erlebt,
dagegen viel mit ihrer Familie durchmachen müssen und hat oit Not
3
gelitten. Mit 37 Jahren hatte sie eine besonders böse Zeit. Da hörte
sie die Stimme eines anderen Onkels. Der war ihr von Jugend an
sympathisch gewesen; er lebte in unglücklicher Ehe. Zuneigung und
Mitleid fesselten sie besonders an diesen Onkel, der ihr zugleich in
allem der Gegensatz des bösen Onkels war. Zu der Zeit, als sie die
Stimme hörte, war dieser gute Onkel bereits gestorben. Seine Stimme
kam vom Himmel, sie war eine Engelsstimme. Die Stimme verbot der
Patientin den Selbstmord und weissagte ihr, sie werde alle ihre
Geschwister überleben, das Heimwesen erben, einer Nachbarsohn heiraten
und zwei Kinder bekommen. Diese Halluzination begreift eine klare
Wunscherfüllung in sich, wie sie nach Freuds Forschungen im Traume
vor sich geht, hier allerdings meistens in mehr verschleierter Form.
Diese Halluzination im 37. Jahre ist einfach eine Lebensbejahung, sie
will sagen: du brauchst noch nicht alle Hoffnung aufzugeben. Die
Hoffnung hat sich aber nicht erfüllt. Vor einigen Jahren hat ein
Schwindler die Patientin um ihr kleines Vermögen gebracht. Sie war
nur noch beschränkt erwerbsfähig, mußte aus öffentlichen Mitteln unter-
stützt werden und führte ein kümmerliches Dasein. So trat wieder eine
starke Depression ein. Die nun 57 jährige Kranke hat vom Leben nicht
mehr viel zu erwarten. Wieder traten Selbstmordpläne auf. Und wieder
kamen Halluzinationen. Dieses Mal aber ertönte die Stimme aus der
Hölle und war die Stimme des bösen Onkels. Sie machte der Kranken
' Angst vor der Zukunft und riet ihr den Selbstmord an. Wegen dieses
Depressionszustandes ist sie in die Anstalt gekommen.
Soweit die uns hier interessierenden Züge aus der Kranken-
geschichte. In diesem Falle ist es außerordentlich klar, daß ein mit
starkem Affekt verbundenes Erlebnis aus der Kindheit, also ein Trauma
der Vorpubertätszeit im Sinne Freuds, den Halluzinationen und
Wahnideen der Patientin einen ganz bestimmten Inhalt gegeben hat.
Der Eindruck dieses Erlebnisses auf die kindliche Psyche wirkt noch
jetzt, im 57. Lebensjahre der Patientin, bestimmend auf die Symptome
der Psychose. Damit soll.nun keineswegs behauptet sein, daß die Person
ohne dies sexuelle Trauma geistig gesund geblieben wäre, schon mit
Rücksicht darauf, daß zwei Geschwister der Kranken ebenfalls an
Dementia praecox gelitten haben. Auch erleidet ja noch manches Kind
in seiner Jugend ein ähnliches Trauma und wird dennoch nicht geistes-
krank. Wir halten vorläufig fest, daß in diesem Falle die manifesten
Zeichen der Psychose sehr rasch nach einem sexuellen Trauma auf-
getreten sind. Ich teile zunächst weitere Beobachtungen mit und werde
später auf die Bedeutung des sexuellen Traumas zurückkommen.
Eine andere Patientin wurde mit neun Jahren von einem Nachbar
1*
4
in den Wald gelockt. Er versuchte, sie zu vergewaltigen, es gelang
ihr aber noch, sich zu befreien. Sie erzählte daheim nichts von dem
Vorfall. Damals überstand sie den Schrecken ohne bemerkbare Folgen.
Erst als mit dem Auftreten der ersten Menstruation ihre Phantasie
sich mehr mit sexuellen Dingen beschäftigte, mußte sie viel an das
Erlebnis denken. Sie selbst sagt: ich durchlebte es immer wieder. Doch
wurde sie allmählich wieder heiter und lebenslustig. Mit 23 Jahren
wollte sie heiraten; der Vater hintertrieb aber die Heirat aus egoistischen
Gründen. Die Patientin befand sich in starker sexueller Erregung. Als
sie nın den Geliebten nicht heiraten durfte, bekam sie, zum ersten
Male in ihrem Leben, einen Anfall. Sie schrie auf und schnaufte heftig,
ohne das Bewußtsein zu verlieren. Die Analyse ergab, daß die Patientin
damals in den Reben arbeitete. Sie ging gegen das Haus ihres
Geliebten zu und war voller Erwartung, ob sie ihn etwa sehen würde.
Dabei mußte sie plötzlich tief atmen, und nun gab es den ersten Anfall.
Als ich mit vorsichtigen Fragen etwas auf die Anfälle einging, gab
die Patientin an, sie spüre, daß die Anfälle mit dem Attentat des
Nachbarn zusammenhingen. Es ergab sich, daß dieser so furchtbar
geschnauft hatte, während die Patientin unter Angstschreien von ihm
loszukommen versucht hatte. Daher das Schreien und Schnaufen. Die
starke sexuelle Erregung im 23. Lebensjahre rief die Erinnerung an
das erste sexuelle Erlebnis der Patientin wieder wach. Die Anfälle sind
nur als ein Ausdruck des Wunsches nach sexueller Befriedigung zu
betrachten. Die Kranke träumt sich gewissermaßen in diejenige sexuelle
Situation zurück, die ihr in der Kindheit einen starken Eindruck hinter-
lassen hatte. Der Anfall will sagen: das Unbewußte der Patientin wäre
froh, wenn jetzt nur ein Mann käme und sie in eine solche Situation
versetzte. Nachdem die Anfälle eine Zeit lang sich oft wiederholt
hatten, setzten sie Jahre lang aus. Mit 33 Jahren wurde der Patientin
abermals ein Heiratsplan zunichte, während kurz darauf ihr jüngerer
Bruder heiraten konnte. Als Reaktion darauf gab es nun wieder Anfälle
nach Art der früheren. Zugleich bildete sich ein Verfolgungswahn
gegen die Frau des Bruders aus, in den nach und nach immer mehr
Leute einbezogen wurden. Die Bemerkungen, die sie von den Leuten
zu hören glaubt, beziehen sich alle darauf, daß sie nicht geheiratet
hat. Sie war von Anfällen wieder Jahre lang frei. In ihrer Phantasie
beschäftigte sie sich beständig mit Heiratsplänen, auch noch in vor-
geschrittenem Alter. Wegen ihrer sexuellen Erregung suchte sie sogar
ärztliche Hilfe. Vor kurzem haben ihr nun äußere Verhältnisse die
letzten Zukunftsaussichten geraubt, und daraufhin gab es wieder Anfälle.
Wegen ihrer gleichzeitigen heftigen Erregungsausbrüche gegen ihre
5 |
vermeintlichen Verfolger mußte die jetzt 43jährige Person in die
Anstalt gebracht werden.
Die Anfälle waren hysterischen durchaus ähnlich; die Diagnose
der Dementia praecox war aber aus vielerlei Gründen, auf die ich
hier leider nicht eingehen kann, durchaus sicher. Auch in diesem
Falle, wie in dem zuerst mitgeteilten, besteht ein Zusammenhang
zwischen sexuellem Trauma und Symptomen der Psychose. Nur sind
in dem zweiten Falle die Symptome erst längere Jahre nach dem
| Erlebnis aufgetreten. Auslösend wirkte ein Erlebnis, das mit dem Attentat
das sexuell Erregende gemeinsam hatte. Während im ersten Falle der
Anschluß ein unmittelbarer war, bildet hier ein Analogiefall das aus-
lösende Moment. Ich habe Gelegenheit gehabt, noch andere Fälle mit
der einen oder der anderen Verlaufsart zu beobachten. Ich erwähne
nur kurz den Fall einer Frau, die seit der frühen Jugend beständig
unter den sexuellem Nachstellungen ihres Vaters und ihres älteren
Bruders zu leiden hatte. Als sie erwachsen war, ließ sie sich von 4
einem Manne verführen und heiratete ihn später. Er stieß sie durch
| rohe Behandlung ab, sodaß die Frau von einer tiefen Abneigung
| ergriffen wurde. Während der ersten Gravidität kam die Psychose zum
Ausbruch. Während derselben wurde sie von Visionen geängstigt. Ein
Stier, der dem Vater ähnlich war, kam drohend auf sie zu, andere
Mal sah sie den Teufel mit den Zügen ihres Mannes; er trug einen
Speer, mit dem er nach ihr stach. Wer die Symbolik der Träume
kennt, wird über die Bedeutung dieser Vision nicht im Zweifel sein.
Die Ideengänge dieser Patientin bewegten sich ganz und gar in dieser
durchsichtigen Sexualsymbolik. Die Roheit und die Rücksichtslosigkeit
des Mannes rief in ihr die Erinnerung an die analogen Eigenschaften
ihres Vaters wach, und in der Psychose kam beides wie erwähnt zum
Ausdruck.
Freud hat ursprünglich gelehrt, daß jede Hysterie ihren Aus-
gang von einem psychosexuellen Trauma der Vorpubertätszeit nehme.
Er hat diese Lehre neuerdings modifiziert.! Er legt jetzt das Haupt-
gewicht auf die Art, wie ein Individuum vermöge seiner angeborenen
Veranlagung auf sexuelle Eindrücke reagiert. Bei Personen, welche
später an Hysterie erkranken, finden sich in der Jugend Zeichen einer |
abnormen Sexualität. Die letzte Wurzel der Hysterie liegt also auch |
jetzt in der infantilen Sexualität; nur ist das Trauma keine Conditio
sine qua non und hat eine mehr sekundäre Bedeutung. Meine Erfah-
rungen bei der Dementia praecox sprechen nun in dem nämlichen
1 Kl. Schriften zur Neurosenlehre, 1906. S. 225 f.
6
Sinne, wenngleich ich erst eine verhältnismäßig kleine Anzahl von
Fällen in dieser Hinsicht analysieren konnte. Ein Teil dieser Fälle
weist ein sexuelles Trauma auf, wie die mitgeteilten. Andere dagegen
lassen Abnormitäten der Sexualität in der Kindheit erkennen, ohne daß
ein schwerer Eingriff von außen stattgefunden hat, Die abnorme
Sexualität dieser Patienten kommt, wie es mir nach den bisherigen
Erfahrungen scheint, außer in vorzeitigem Auftreten der Libido in einer
krankhaften Phantasie zum Ausdruck, welche sich vorzeitig und in
solchem Grade mit sexuellen Dingen beschäftigt, daß diese die übrigen
- Bewußtseinsinhalte beiseite schieben. Bricht im späteren Leben eine
Dementia praecox aus, so gewinnt diese Phantasie vollends die Oberhand.
Ich möchte diese Anschauung mit einem prägnanten Beispiel belegen.
Ein Knabe wird schon in früher Jugend durch den Anblick
weiblicher Personen erregt und bietet auch sonst Zeichen sexueller
Frühreife. Eine erwachsene Schwester, die ihn sehr zärtlich liebt, betet
er förmlich an. Diese Schwester bildet den Mittelpunkt der späteren
Psychose. Der Patient, der jetzt 24 Jahre alt ist, erzählt nach anfäng-
lichen starken Sperrungen schließlich mit großer Lebhaftigkeit eine
Szene aus seiner Kindheit. Eines Morgens kam die Schwester, die ihn
durch ihre üppige Gestalt sehr anzog, zu ihm ins Schlafzimmer und
umarmte ihn zärtlich. Sie starb kurze Zeit darauf, Patient bewahrte ihr
aber auch nach ihrem Tode seine schwärmerische Liebe. Er war damals
zehn Jahre alt. Von der Pubertätszeit an kam er in der Schule nicht
mehr vorwärts, konnte auch keinen Beruf erlernen und bietet seither
die ausgesprochenen Erscheinungen der Katatonie dar. Aus dem sehr
komplizierten Krankheitsbilde seien nur einige Züge erwähnt. In den
Gesichtshalluzinationen des Patienten spielt die Schwester die Haupt-
rolle. Sie erscheint ihm z. B. als Christus, weshalb er sie auch als das
Christusmädchen bezeichnet — nebenbei ein schöner Beleg dafür, wie
religiöse und sexuelle Ekstase in psychopathischen Zuständen nahe
bei einander wohnen. Oder der Patient sieht, wie ein sehr schöner
Jüngling in den Besitz einer schönen Jungfrau zu gelangen sucht. Es
sind Apollo und Diana; diese sind ja im griechischen Mythus
Geschwister. Die Diana hat die Züge der verstorbenen Schwester,
während Apollo dem Patienten selbst gleicht.
So wird in diesen und vielen anderen Halluzinationen des Patienten
die sexuelle Attraktion, welche die Schwester auf den Patienten in
seiner Kindheit ausgetibt hat, abgebildet, und die sexuelle Vereinigung
als vollzogen dargestellt. Wir wissen aus Freuds Traumforschungen,
wie in den Träumen der Erwachsenen infantile Wünsche wiederkehren.
Das Gleiche gilt für die Halluzinationen der Dementia praecox.
H
Bei einer hebephrenen Patientin mit Wahnideen, deren sexuelle
Natur auf der Hand liegt, konnte ich deren Wurzel in einem Erlebnis
aus dem sechsten Lebensjahre finden. Damals hatte sie beobachten
können, wie bei ihrer Mutter die Periode eintrat. Dieser Eindruck hatte
von da ab ihre Phantasie beständig beschäftigt.
Leider kann ich in Rücksicht auf die begrenzte Zeit nur diese
Fragmente aus Krankengeschichten geben.
Es bleibt fraglich, ob die vorhin angenommene abnorme Phantasie
schon eine Früherscheinung der Dementia praecox ist, oder ob eine
im späteren Alter ausbrechende Dementia praecox die infantilen Sexual-
phantasien und -erlebnisse nur ausnutzt. Ich halte aber jedenfalls die
individuelle Veranlagung durchaus für das Primäre. Erlebnisse sexueller
Art, seien es solche vom wirklichen Werte eines Traumas, seien es
weniger heftige Eindrücke auf die kindliche Sexualität, bilden nicht
die Ursache der Krankheit, sondern sie determinieren die Symptome
der Krankheit. Sie sind nicht die Ursache, daß Wahnideen
und Halluzinationen auftreten, sondern sie geben diesen einen indi-
viduellen Inhalt. Sie sind nicht schuld am Auftreten von Wort- und
Haltungsstereotypien, sondern bedingen nur deren Erscheinungsiorm im
einzelnen Krankheitsfall. Ob jede Dementia praecox infantil-sexuelles
Material enthält, oder ob dies nur für einen beschränkten Teil der
Fälle zutrifft, wird schwer zu entscheiden sein. Die Nachforschungen
in dieser Hinsicht sind schwierig und scheitern nicht selten gänzlich.
In den verschiedenen Fällen, welche ich als Beispiele angeführt
habe, und in einer Reihe von anderen Fällen konnte ich feststellen,
daß die Kranken das sexuelle Erlebnis in der Kindheit und auch später
in sich verschlossen hatten. Breuer und Freud haben in den Studien
über Hysterie der gleichen Tatsache bei Hysterischen eine große
Bedeutung beigelegt. Das spätere „Abreagieren“ der ins Unbewußte
verdrängten Erinnerungen haben sie zur Grundlage der psycho-
analytischen Behandlung der Hysterie gemacht. Ich möchte hier nur
beiläufig bemerken, daß eine ganze Anzahl von Patienten einen Wahn
der Versündigung daran knüpften, daß sie in der Jugend nicht auf-
richtig gewesen seien und ihren Angehörigen von dem Erlebnis nichts
mitgeteilt hätten. Auf die psychische Wirkung des Abreagierens bei
der Dementia praecox kann ich leider an dieser Stelle nicht eingehen.
Die Form, unter der die sexuellen Vorstellungskomplexe in der
Dementia praecox auftreten, ist vorwiegend symbolisch. Der Bildung
einer Symbolik sind alle die Zustände besonders günstig, welche mit
einer Störung der Aufmerksamkeit einhergehen. Daß bei der Dementia
praecox die Aufmerksamkeitsstörung von grundlegender Bedeutung
8
ist, haben die neueren Forschungen erwiesen. Ganz das Gleiche trifft
für die Neurosen und für unsere Träume zu, und auch hier finden
wir die gleiche Neigung zum Symbolisieren. Die Bedeutung des
Infantilen im Traum und in der Hysterie ist durch Freuds Arbeiten
nachgewiesen worden. Wir haben uns davon überzeugt, daß ganz
Ähnliches für die Dementia praecox gilt. Damit haben wir eine neue
Analogie zwischen Traum, Hysterie und Dementia praecox kennen
gelernt. ;
Am Schlusse möchte ich dem Einwand begegnen, den Patienten
seien die Erzählungen von sexuellen Erlebnissen suggeriert worden.
Bei der Untersuchung wurde alles Suggestive streng vermieden. In
verschiedenen Fällen trugen die Patienten mir ihre Berichte darüber
förmlich entgegen. Die Möglichkeit, daß Geisteskranke ihre jetzigen
sexuellen Phantasien in die Kindheit zurückverlegen, ist freilich
zuzugeben. In keinem der Fälle, die ich meinen Mitteilungen zugrunde
gelegt habe, besteht aber ein begründeter Verdacht in dieser Richtung.
Übrigens haben wir ja bei einer Dementia praecox Mittel genug, um
wahnhafte und tatsächliche Berichte voneinander unterscheiden zu
können.
Aus der Analyse der Symptome der Dementia praecox ersehen
wir, daß in der Psychologie dieser Krankheit dem infantilen Vor-
stellungsmaterial und der Sexualität die gleiche Bedeutung zukommt
wie in der Hysterie und im Traum. Die psychologische Erforschung
der Dementia praecox wird daher auf die Freudschen Lehren zurück-
gehen müssen. Aus ihnen kann sie eine mächtige Förderung erfahren.
Das Erleiden sexueller Traumen als Form
infantiler Sexualbetätigung.'
Freuds Lehre von der Ätiologie der Hysterie hat im Laufe der
Zeit bedeutende Wandlungen durchgemacht. Freud hat aber, wie er
selbst betont,? zwei Gesichtspunkte festgehalten und ist in die Erkenntnis
ihrer Bedeutung immer tiefer eingedrungen: das sind die Gesichts-
punkte der Sexualität und des Infantilismus. An den Wandlungen der
gesamten Sexualtheorie und Neurosenlehre hat auch das Problem des
sexuellen Jugendtraumas Anteil genommen. Freud sah in diesem
eine Zeit lang die letzte Wurzel der hysterischen Erscheinungen und
nahm an, eine solche Wurzel sei in allen Fällen von Hysterie auffindbar.
Diese Anschauung hat sich nicht in ihrer ursprünglichen Form halten
lassen. In seinem -Aufsatz: „Meine Ansichten über die Rolle der
Sexualität in der Ätiologie der Neurosen“® hat Freud dem sexuellen
Jugendtrauma eine sekundäre Rolle angewiesen und eine abnorme
psychosexuelle Konstitution als primäre Grundlage der Neurosen
angenommen. Diese Auffassung wird der Tatsache gerecht, daß keines-
wegs alle Kinder, die ein sexuelles Trauma erleiden, später an Hysterie
erkranken. Die zur Hysterie veranlagten Kinder reagieren nach Freud
infolge jener abnormen Veranlagung in einer abnormen Weise auf
sexuelle Eindrücke aller Art. Ich selbst habe vor kurzem auch bei
Geisteskranken das Vorkommen infantiler Sexualtraumen erwiesen.t
Ich habe die Ansicht vertreten, daß ein solches Trauma ‘nicht als
Ursache der Krankheit in Betracht komme, wohl aber einen formgebenden
Einfluß auf die Krankheit ausübe. In der Annahme einer ‘abnormen
psychosexuellen Konstitution schloß ich mich Freud an.
Diese Annahme bringt uns jedoch nur um einen Schritt vor-
1 Aus‘ der psychiatrischen Klinik der Universität Zürich. Zuerst veröffentlicht
im „Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie“, XXX. Jahrgang, Nr. 249, 1907.
2 Kleine Schriften zur Neurosenlehre, 1907, S. 232.
3 ibid. S. 225f.
4 Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie der
Dementia praecox. (Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1907.)
10
wärts, während sie vor dem zweiten, wichtigeren, Halt macht. Sie
erklärt uns zwar, warum ein in der Kindheit erlittenes Sexualtrauma in
der Geschichte vieler Individuen von so großer Bedeutung ist. Dagegen
bleibt das Problem, warum so viele neurotische und psycho-
tische Personen in ihrer Kindheits-Anamnese ein
sexuelles Trauma aufweisen, unaufgeklärt. Lösen wir dieses,
so werden wir auch über das Wesen der angenommenen abnormen
Konstitution, wenigstens zum Teil, Aufschluß erhalten.
Mit der vorliegenden Arbeit beabsichtige ich diesen Fragen näher
zu treten. Ich werde dabei insbesondere den Nachweis führen, daß in
einer großen Anzahl von Fällen das Erleiden des Traumas vom
Unbewußten des Kindes gewollt wird, daß wir darin eine Form infantiler
Sexualbetätigung zu erblicken haben.
Jeder, der Kinder in ihrer psychologischen Eigenart beobachtet,
wird die Wahrnehmung machen, daß das eine Kind Verlockungen oder
Verführungen schwer, das andere dagegen leicht zugänglich ist. Es
gibt Kinder, welche der Aufforderung eines Unbekannten, ihm zu
folgen, fast ohne Widerstand nachkommen, und andere, welche in dem
gleichen Falle entgegengesetzt reagieren. Geschenke, Süßigkeiten, oder
auch die Aussicht auf dergleichen Dinge wirken auf Kinder sehr ver-
schieden ein. Ferner gibt es Kinder, welche Erwachsene in sexueller
Hinsicht geradezu provozieren. Sehr lehrreich sind in dieser Hinsicht
die Akten der Prozesse wegen Vornahme unsittlicher Handlungen mit
Kindern. Aus zwei Fällen, in denen ein Senil-Dementer sich an Kindern
vergangen hatte, ist mir ein solches Verhalten der Kinder bekannt; in
einer ganzen Anzahl anderer Fälle bestand in der gleichen Richtung
ein dringender Verdacht. Selbst unter Geschwistern erlebt man in
dieser Hinsicht auffällige Differenzen. Mir sind mehrere derartige Fälle
bekannt. Von mehreren Schwestern läßt sich, z.B. die eine von einer
fremden Person verlocken, mit ihr zu gehen, ein anderes Mal folgt
sie beim Spielen einem älteren Knaben in einen abgelegenen Ratm
und läßt sich von ihm küssen. Die beiden anderen Schwestern zeigen
das entgegengesetzte Verhalten. Die erste Schwester, von der sich noch
mehr ähnliche Züge erzählen ließen, bietet schon in der Kindheit
neurotische Züge und erkrankt später an einer ausgesprochenen Hysterie.
Dieses Beispiel ist nicht singulär, sondern typisch. Wir stellen vorläufig
ganz allgemein fest, daß gewisse Kinder gegenüber Verlockungen —
sexuellen und anderen — ein stärkeres Entgegenkommen zeigen als
andere. Diese Erfahrung kann uns dazu dienen, die sexuellen Traumen
trotz ihrer großen Mannigfaltigkeit in Gruppen zu teilen. Wir können
diejenigen sexuellen Traumen, welche unvorhergesehen über ein Kind
11 |
hereinbrechen, unterscheiden von denjenigen, welche durch Verführung
oder Verlockung eingeleitet werden, oder irgendwie vorauszusehen |
waren, oder aber geradezu provoziert wurden. In den Fällen der ersten
Gruppe fehlt jeder Grund, auf seiten des Kindes ein Entgegenkommen
anzunehmen. In den Fällen der zweiten Gruppe kann man sich dagegen
der Annahme eines solchen Entgegenkommens nicht verschließen. In
diesen beiden Gruppen gehen noch nicht alle Fälle auf: bricht ein
sexuelles Attentat unvorhergesehen herein, so kann die.davon betroffene
Person sich aktiv und ernstlich abwehrend verhalten, oder sie kann
sich der Gewalt fügen. In letzterem Falle finden wir wieder ein Ent-
gegenkommen, eine Hingabe auf Seiten der angegriffenen Person. Mit
einem in den Quellen des römischen Rechtes gebräuchlichen Ausdruck
möchte ich sagen: eine solche Person unterliegt einer vis haud
ingrata.
Die „vis haud ingrata“ hat zu allen Zeiten das Interesse der
Gesetzgeber auf sich gezogen, wo es sich um Bestimmungen über die
| Ahndung sexueller Vergehen handelte. Ich verweise z. B. auf die
| mosaische Gesetzgebung, welche ihr voll Rechnung getragen hat, und
zitiere aus dem fünften Buche Mosis Kap. 22, 22—27:
„Wenn eine Dirne jemand verlobet ist, und ein Mann krieget sie
in der Stadt und schläft bei ihr, so sollt ihr sie alle beide zu der Stadt
Thor ausführen, und sollt sie beide steinigen, daß sie sterben; die
Dirne darum, daß sie nicht geschrien hat, weil sie in der Stadt war;
den Mann darum, daß er seines Nächsten Weib geschändet hat; und
‚sollst das Böse von dir tun. Wenn aber jemand eine verlobete Dirne
auf dem Felde krieget und ergreift sie und schläft bei ihr, so soll der
Mann allein sterben, der bei ihr geschlafen hat, und der Dirne sollst
du nichts tun; denn sie hat keine Sünde des Todes wert getan, sondern
gleich wie jemand sich wider seinen Nächsten erhübe, und schlüge
seine Seele tot, so ist dies auch. Denn er fand sie auf dem Felde,
und die verlobete Dirne schrie, und war niemand, der ihr half.“
Ich verweise ferner auf die vortreffliche kleine Geschichte aus
Don Quijote, welche Freud (Psychopathologie des Alltagslebens,
I. Aufl. S. 87) mitteilt:
„Eine Frau zerrt einen Mann vor den Richter, der sie angeblich
gewaltsam ihrer Ehre beraubt hat. Sancho entschädigt sie durch die
volle Geldbörse, die er dem Angeklagten abnimnıt, und gibt diesem
nach dem Abgange der Frau die Erlaubnis, ihr nachzueilen und ihr
die Börse wieder zu entreißen. Sie kommen beide ringend wieder, und
die Frau berühmt sich, daß der Bösewicht nicht imstande gewesen sei,
sich der Börse zu bemächtigen. Darauf Sancho: Hättest du deine Ehre
12
halb so ernsthaft verteidigt wie diese Börse, so hätte sie dir der Mann
nicht rauben können.“
Die angeführten Beispiele beziehen sich nun freilich auf
Erwachsene; wir werden uns aber nochdavon überzeugen, daß in dieser
Hinsicht kein Unterschied zwischen Kindern und Erwachsenen besteht.
Das mosaische Gesetz macht die Bestrafung des Mädchens davon
abhängig, ob es um Hilfe gerufen hat. Das will sagen: ob es von
der Möglichkeit, das Vorkommnis zu verhüten, Gebrauch gemacht
hat. Ich habe in dieser Hinsicht u. a. die Fälle geprüft, die ich früher
(l. c.) veröffentlicht habe. In jedem dieser Fälle hätte das Trauma ver-
hindert werden können. Statt den Verlockungen zu folgen, hätten die
Kinder um Hilfe rufen, flüchten, oder sich widersetzen können. In einer
Reihe von anderen Fällen habe ich das Gleiche feststellen können.
Beweisend für die Annahme eines Entgegenkommens auf seiten
des Kindes ist nicht nur sein Verhalten während der Vorbereitungen
zum Attentat und während des Attentates selbst, sondern auch sein
Verhalten nach erlittenem Trauma. Schon Breuer und Freud haben,
als sie erwiesen, daß Hysterische an Reminiszenzen leiden, die Auf-
merksamkeit auf die Tatsache gelenkt, daß das infantile Sexualtrauma
von den Kindern nicht den Angehörigen mitgeteilt, sondern ver-
schwiegen wurde. Dies geschieht nicht nur unter dem frischen Eindruck
des Erlebnisses, sondern, wie die Autoren erwiesen, wird das Erlebnis
in das Unterbewußte verdrängt, so daß es der willkürlichen Erinnerung
gar nicht zugänglich ist. Ich habe (I. c. S. 415) ein ähnliches Verhalten
bei Kindern - mit späterer Dementia praecox konstatiert. Auf eine
Erklärung dieses Verhaltens bin ich damals nicht eingegangen.
Daß ein Kind ein sexuelles Erlebnis hat und es trotz der damit
verbundenen Emotion seinen Eltern verschweigt, ist eine auffällige
Erscheinung. Ein Kind, das etwa von einem anderen verfolgt und
geprügelt worden ist, wendet sich klagend an seine Mutter. Ich erwarte
hier den Einwand, die konventionelle Prüderie hindere das Kind am
Sprechen, da es ja dazu erzogen werde, im Gespräch alles auf das
Sexuelle Bezügliche zu vermeiden. Dieser Einwand ist aber keineswegs
stichhaltig. Erstens kümmert sich ein Kind unter dem Eindruck einer
heftigen Emotion durchaus nicht um das Konventionelle. Namentlich
aber zeigen durchaus nicht alle Kinder, denen ein Erlebnis sexueller’
Art begegnet ist, dieses Verhalten. Ich will das durch ein Beispiel und
ein Gegenbeispiel erläutern.
Im Keller eines Hauses muß ein Wasserrohr revidiert werden.
Ein Arbeiter betritt das Haus und verlangt den Kellerschlüssel. Eine
im Hause wohnende Frau ruft ihm zu, er solle nur die Treppe hinunter-
ne
|
|
13
gehen, sie werde ihm den Schlüssel schicken. Er geht hinunter; gleich
darauf bringt ihm die kleine Tochter jener Frau den Schlüssel. Der
Mann geht in den Keller und kommt nach kurzer Zeit zurück. Auf
der halbdunklen Treppe erwartet ihn das Kind, um den Schlüssel
zurückzubringen. Ehe die Kleine es sich versieht, nimmt der Mann
eine unsittliche Handlung vor. Erschreckt läuft sie die Treppe hinauf
und meldet sofort der Mutter, was vorgefallen sei. Der Mann wird
darauf verfolgt und festgenommen.
Als Gegenbeispiel diene einer meiner früher veröffentlichten Fälle.
Das neunjährige Mädchen wird von einem Nachbarn in den Wald
gelockt. Es folgt ohne Widerstand. Er versucht dann, das Kind zu .
vergewaltigen. Erst als er seinen Zweck nahezu oder ganz erreicht
hat, gelingt es dem Kinde, sich zu befreien. Es eilt nach Hause,
erzählt aber nichts von dem Geschehenen. Auch später bewahrt es
das Geheimnis vor seinen Angehörigen.
Das Verhalten dieser zwei Kinder nach erlittenem Trauma ist
völlig entgegengesetzt; warum dies? Zunächst sei auf das Verhalten
von Kindern bei andern Gelegenheiten verwiesen. Ein Kind zum
Beispiel, das sich bei einem ihm verbotenen Spiel verletzt hat, wird
den Schmerz verbeißen und in. diesem Falle nicht wie sonst den Trost
der Mutter suchen. Der Grund ist klar: das Kind ist dem Reiz des
Verbotenen unterlegen und hat das Gefühl, daß es schuld an seinem
Unfall ist. |
Dieses Schuldgefühl ist bei Kindern außerordentlich fein. Aus
der Jugend einer Dame ist mir folgende Geschichte bekannt, die zu
dem uns beschäftigenden Problem eine interessante Illustration gibt.
Sie suchte als kleines Mädchen mit einer Freundin Blumen. Da kam
ein fremder Mann hinzu und redete den beiden Mädchen zu, mit ihm
zu kommen, er werde ihnen zeigen, wo es viel schönere Blumen
gebe. Sie gingen ein Stück weit mit ihm. Dann kamen ihr Bedenken,
mit dem Fremden weiterzugehen; sie wandte sich plötzlich um und
lief davon. Ihre Freundin tat es ihr dann nach. Obgleich nun zwischen
dem Manne und den beiden Kindern nichts weiter geschehen war,
als daß sie eine Strecke miteinander gegangen waren, erinnert die
Dame sich bestimmt, daß sie damals eine Scheu empfunden hat,
daheim von dem Erlebten zu sprechen. Sie hütete das Geheimnis streng
vor ihren Angehörigen und sprach sogar mit der Freundin nie mehr
davon. Dieses Schweigen ist nur aus einem Gefühl der Schuld zu
erklären. Das Kind hat offenbar die mehr oder weniger bestimmte
Empfindung, daß die Schuld nicht allein auf seiten des Verlockenden
liegt, sondern auch auf Seite dessen, der sich verlocken läßt.
14
Die gleiche Erklärung trifft ganz offenbar auf die zwei vorhin
angeführten Beispiele zu. Das eine Kind wurde ahnungslos überfallen
und befand sich dabei in einer Situation, die es nicht selber herbei-
geführt hatte; es war ja von der Mutter in den Keller geschickt
worden. Ihm kann niemand einen Vorwurf machen, und darum findet
es sofort Worte, der Mutter zu erzählen, was ihm zugestoßen ist. Das
andere Kind hingegen ließ sich verlocken. Es folgte dem Nachbarn
in den Wald und ließ ihn in der Ausführung seines Vorhabens ziem-
lich weit kommen, ehe es sich aus seinen Händen befreite und davon-
lief. Es ist nicht zu verwundern, daß dieses Kind das Vorkommnis
verschwieg.
Das Verlockende jeder sexuellen Betätigung ist der mit ihr ver-
bundene Lustgewinn. Freud! unterscheidet bei jedem sexuellen
Akt zwischen der Vorlust und der Befriedigungslust. Die
Vorlust kann auf körperlichem Wege durch direkte taktile Reizung
erogener Körperzonen erzeugt werden, sie kann aber auch durch
andere sinnliche Reize, z. B. durch optische Eindrücke, hervorgerufen
werden, und endlich rein psychisch durch Vorstellungen, — etwa
durch das Spannende und Erregende der Situation. Es ist schwer zu
entscheiden, welche dieser beiden Arten von Lust bei einem Kinde
die größere Rolle spielt. Gewiß gibt es hier starke individuelle Diffe-
tenzen. In einigen von mir beobachteten Fällen schien es mir, als
wenn das Außergewöhnliche und Geheimnisvolle der Situation, also
das Abenteuer als solches, den Hauptreiz auf das Kind ausgeübt hätte,
Andrerseits muß ich wieder auf die Fälle verweisen, in welchen Kinder
Erwachsene direkt zu sexuellen Handlungen provozieren; hier müssen
wir selbstverständlich auch ein Verlangen nach Befriedigungslust
annehmen.
Der Gewinn an sexueller Vorlust oder Befriedigungslust ist es,
nach dem die kindliche Libido tendiert, wenn das Kind sich dem
Trauma hingibt. Dieser Lustgewinn ist das Geheimnis, welches das
Kind ängstlich hütet. Er allein erklärt das Schuldgefühl des Kindes
und die weiteren psychologischen Vorgänge, welche sich an das
Erleiden eines sexuellen Traumas anschließen. Ich muß hier auf Freuds
Anschauungen über die frühen Phasen der Sexualität verweisen.
Freud hat die alte Fabel von der bis zur Pubertät reichenden sexu-
ellen Latenzzeit gründlich zerstört, Wir erfahren aus seinen Unter-
suchungen, daß die ersten Spuren sexueller Betätigungen schon sehr
früh auftreten, und daß sie eine Zeitlang autoerotischen Charakter
1 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905,
1 5 1
tragen. Es folgt ein Stadium, in welchem sich das Kind zur „Objekt-
liebe* wendet; das Sexualobjekt braucht jedoch nicht anderen
Geschlechtes zu sein. Neben heterosexuellen und homosexuellen Regun-
gen kommen sodann noch andere zum Ausdruck, welche sadistischen
oder masochistischen Charakter tragen. Freud spricht daher von
| einem polymorph-perversen Stadium. Alle diese frühen Regungen
kommen dem Kinde natürlich nicht in ihrer wahren Natur zum
Bewußtsein. Sie entspringen dem Unbewußten. Sie tendieren nach einem
bestimmten Sexualziel, ohne daß dem Kinde diese Tendenz klar wird.
Ganz in diesem Sinne ist für das zur Hysterie oder zur Dementia
| praecox veranlagte Kind das sexuelle Erlebnis ein Sexualziel. Das
Kind erleidet das Trauma aus einer Absicht seines Unbewußten. Das
Erleiden sexueller Traumen in der Kindheit gehört, wenn ihm ein
unbewußtes Wollen zugrunde liegt, zu den masochistischen Äußerungen
des Sexualtriebes. Es stellt also eine Form infantiler Sexualbetäti-
gung dar.
Die Übergänge vom Normalen zum Abnormen sind auf dem
Gebiete der Sexualität fließend wie überall. Dennoch halte ich es für
berechtigt, in dem sexuellen Reizhunger, der zur Hingabe an sexuelle
| Traumen führt, im allgemeinen eine abnorme Art der Sexualbetätigung
| zu erblicken. Es ist auffallend, daß wir ihr gerade in der Vorgeschichte
neurotischer oder geisteskranker Individuen begegnen, in deren späterem
Leben sich sexuelle Abnormitäten in Hülle und Fülle finden. Als ich
(l. c.) Freud’s Lehre von einer psychosexuellen Basis der Hysterie
auf die Dementia praecox zu übertragen versuchte, habe ich bereits I
in einigen groben Umrissen ausgeführt, inwiefern die Sexualität der |
Kinder, welche später diesen Krankheiten unterliegen, abnorm sei. Ich
gelangte zu der Annahme, daß die Sexualentwicklung zeitlich verfrüht
und die Libido selbst quantitativ abnorm sei, daß außerdem aber die
Phantasie dieser Kinder sich vorzeitig und in abnormem Grade mit
sexuellen Dingen beschäftige. Diese Anschauung läßt sich nunmehr |
bestimmter fassen, indem wir sagen: die Kinder jener Kategorien |
zeigen ein abnormes Begehren nach sexuellem Lustgewinn und infolge- |
|
dessen erleiden sie sexuelle Traumen.
Verfolgen wir das weitere Schicksal der mit dem erlittenen
| Trauma zusammenhängenden Vorstellungen, so äinden wir neue Än- |
haltspunkte für die vertretene Anschauung. u
| Das Schuldgefühl ist dem Bewußtsein des Kindes, ebenso wie ie
dem des Erwachsenen, nicht erträglich. Das Kind sucht daher die |
unlustbetonten Reminiszenzen in irgend einer Weise zu verarbeiten, %
durch welche ihr störender Einfluß ausgeschaltet wird. Sie werden ||
16
daher von den übrigen Bewußtseinsinhalten abgespalten. Sie führen
alsdann eine Sonderexistenz als „Komplex“.
Anders bei solchen Kindern, welche ein sexuelles Trauma
erlitten haben, ohne ihm in irgendeiner Weise entgegengekommen zu
sein. Solche Kinder können sich frei aussprechen ; sie brauchen daher
die Reminiszenzen an den Vorfall nicht gewaltsam aus dem Felde
des Bewußtseins zu verdammen.
Der Prozeß der Ausschaltung unlustbetonter Vorstellungen
aus dem Bewußtsein ist bei der Hysterie und bei der Dementia prae-
cox (resp. bei Personen, welche später an einer der beiden Krank-
heiten leiden) der gleiche. Übrigens können wir ihn ja auch bei
| Gesunden täglich beobachten. Früher oder später zeigt es sich aber, daß
die Verdrängung nur ein Notbehelf ist. Der Komplex kann zwar lange
| im Unterbewußten verbleiben. Aber dann kommt eines Tages ein dem
primären Sexualtrauma analoges Erlebnis und bringt das verdrängte
Vorstellungsmaterial in Aufruhr. Dann geschieht die Konversion in
Symptome einer Hysterie oder einer Dementia praecox. Bei der
Dementiapraecox besteht freilich noch die andere Möglichkeit, daß aus
|| endogenen Gründen ein „Schub“ der Krankheit auftritt, und daß nun
| dieses Material in den Symptomen verarbeitet wird.
| Freud hat uns noch andere Mechanismen kennen gelehrt,
| welche im Grunde dem gleichen Zwecke dienen wie die Verdrängung.
Bi Hier ist z. B. die Transposition des Affektes auf indifferente Vorstel-
ee |! lungen zu erwähnen; wird dieser Weg eingeschlagen, so entstehen
| Zwangssymptome. Ebenso wie der Prozeß der Verdrängung, so kommt
| auch der Prozeß der Transposition auf indifferente Vorstellungen bei
der Dementia praecox ganz in der gleichen Weise vor wie bei den
en „Neurosen‘“. Ich erinnere in ersterer Hinsicht nur beispielsweise an
die eingebildeten Schwangerschaften bei der Dementia praecox, die
ihrer psychologischen Genese nach den hysterischen Schwangerschaften
durchaus gleichen, und in letzterer Hinsicht an die Tatsache, daß in
l inanchen diagnostisch durchaus klaren Fällen von Dementia praecox
| Zwangsvorstellungen den hervorstechendsten Zug des Krankheitsbildes
1 ausmachen. Zwei Arten des Ausdruckes eines sexuellen Schuldgefühls
sind also der Hysterie und der Dementia praecox gemeinsam. ‚Die
| Dementia praecox verfügt noch über eine dritte: die Ausbildung eines
| Versündigungswahnes, welcher auf indifferente Vorstellungen ver-
schoben wird. Ich kann an dieser Stelle nicht an der Hand von
Krankengeschichten den Nachweis führen, daß Selbstvorwürfe sexu-
ellen Inhaltes eine wesentliche Quelle des Versündigungswahnes sind.
|| Ich habe in meiner letzten Arbeit darauf verwiesen, daß eine Anzahl
* 17
von Patienten früher oder später einen Wahn der Versündigung daran
‘knüpfen, daß sie in der Jugend nicht aufrichtig gewesen seien, indem
sie von einem sexuellen Erlebnis ihren Angehörigen nichts mitteilten.
Das Schuldgefühl, welches sich in Wirklichkeit an das widerstandslose
Hinnehmen eines sexuellen Traumas knüpft, wird auf die weit geringere
„Sünde“ der mangelnden Aufrichtigkeit verschoben. Mir scheint, daß
dieser psychische Mechanismus der Verschiebung auf eine weniger
affektvolle Vorstellung mit der Transposition, wie sie der Bildung von
Zwangsvorstellungen zugrunde liegt, nahe verwandt ist. Verschieden
ist das Resultat: hier Zwangsvorstellung, dort Wahnvorstellung. Andere
ähnliche Mechanismen, welche uns ebenfalls durch Freud bekannt
geworden sind und verwandten Zwecken dienen, kann ich hier nur
streifen, wie z. B. die bei der Hysterie und Dementia praecox (übrigens
auch im Traum) so überaus häufigen „Verlegungen“, z. B. die
Verlegung einer Genitalsensation nach dem Munde.
Also auch die weiteren Schicksale des Komplexes und seine
späteren Äußerungen sprechen durchweg für die oben vertretene
Auffassung vom Wesen des sexuellen Jugendtraumas. Einen besonders
merkwürdigen, „aus unserer Anschauung aber durchaus erklärlichen
Beweis dafür, daß ihr Unbewußtes dem sexuellen Trauma entgegen-
kommt, liefern Kinder, welche später der Hysterie oder der Dementia
praecox verfallen, dadurch, daß es bei ihnen häufig nicht mit einem
Traum sein Bewenden hat. Man sollte erwarten, gebrannte Kinder
würden das Feuer scheuen, d. h. jeder Wiederholung eines sexuellen
Traumas, ja der bloßen Möglichkeit einer Wiederholung ausweichen,
zumal das Vorkommnis außer der Lust für sie Schmerz oder andere
Unlustgefühle direkt mit sich brachte oder indirekt nach sich zog.
Die Erfahrung lehrt aber das Gegenteil. Individuen, welche einmal
ein sexuelles Trauma erlitten haben, an welchem sie selbst durch ihr
Entgegenkommen einen Teil der Schuld trugen, aus dem sie aber
auch einen Lustgewinn gezogen haben, neigen auch ferner dazu, sich
solchen Erlebnissen auszusetzen. Erleiden sie ein zweites Trauma, so
wird dieses vom Unbewußten dem verdrängten ersten assimiliert.
Das zweite oder ein späteres Trauma wirkt „auxiliär“, um das psychische
Gleichgewicht zu stören, und die Krankheit bricht aus. Je nach der
angeborenen Veranlagung ist es eine Hysterie oder eine Dementia praecox.
Die Neigung zum fortgesetzten Erleiden sexueller Traumen ist
eine Eigentümlichkeit, die wir oft genug bei erwachsenen Hysterischen
beobachten können. Man könnte bei ihnen von einer traumatophilen
Diathese sprechen, die sich übrigens nicht auf sexuelle Traumen
beschränkt. Die Hysterischen sind in der Gesellschaft die interessanten
18 <
Menschen, denen immer etwas passiert. Weiblichen Hysterischen
besonders begegnen beständig Abenteuer. Sie werden auf offener
Straße belästigt, auf sie werden dreiste sexuelle Attentate verübt, etc.
In ihrem Wesen liegt es, daß sie sich einer traumatischen Einwirkung
von außen exponieren müssen. Es ist ihnen Bedürfnis, als die einer
äußeren Gewalt unterliegenden zu erscheinen; wir finden hierin eine
allgemeine psychologische Eigenschaft des Weibes in übertriebener
Form wieder.! Da wir also auch bei ausgesprochener Hysterie im
erwachsenen Alter eine Neigung zum Erleiden von Traumen finden,
so erhält die Annahme einer solchen Neigung in der Kindheit dieser
Personen eine wichtige Stütze.
Freud hat in seiner Psychopathologie des Alltagslebens die
Aufmerksamkeit darauf gelenkt, daß kleine Ungeschicklichkeiten, Fehl-
grilfe, Selbstbeschädigungen, Unfälle und ähnliche Vorkommnisse des
alltäglichen Lebens vielfach auf einer unbewußten Absicht dessen
beruhen, dem sie begegnen. Ich habe oben eine von Freud
mitgeteilte Anekdote zitiert; diese zeigt, daß auch sexuelle „Unfälle“ auf
einem Wollen des Unbewußten beruhen können. Diese Lehre Freuds
gibt der von mir vertretenen Anschauung, daß dem infantilen Sexual-
trauma in den genauer bezeichneten Fällen ein Wollen des Unbewußten
zugrunde liegt, eine weitere und sehr wichtige Stütze. Um die
Berechtigung zu erweisen, mich hier auf Freuds Forschungsergebnisse
‚ zu.berufen, will ich aus meiner eigenen Erfahrung einige einschlägige
Beispiele mitteilen.
Ein 19jähriges Mädchen wird in einer breiten, gut übersehbaren
Straße am hellen Tage von einem Soldaten, der im Trab reitet, über-
titten. Sie ist kurze Zeit bewußtlos, hat aber keine schweren körperlichen
Verletzungen erlitten. Kurze Zeit darauf treten die Symptome einer
sogenannten traumatischen Neurose auf.
Die Vorgeschichte des Mädchens ergibt folgendes. Seit ihrer
Kindheit haben die verschiedenstens Eindrücke und Erfahrungen
deprimierend auf sie gewirkt. Sie war zuerst Zeugin des Zerwürfnisses
ihrer Eltern. Als diese sich scheiden ließen, wurde die Tochter der
Mutter zugesprochen. Sie hatte aber keine Sympathien für diese, eine
ungebildete Frau ohne Feingefühl. Der Vater hingegen, der trotz seines
einfachen Handwerkerberufes literarisch tätig war, besaß ihre Sympathien.
1 Nebenbei sei hier auf die Träume gesunder Mädchen und Frauen hingewiesen,
in denen sie von einem Manne erstochen oder sonstwie ermordet werden. Freud hat
uns gelehrt, daß hierin eine symbolische Darstellung sexueller Wünsche zu erblicken ist.
Im Traume wird dem Manne die Rolle des Angreifers, der Träumenden eine passive
Rolle zuerteilt. Sie ist dann nicht einmal Schuld an dem symbolischen sexuellen Akte.
19
Mit 12 Jahren entlief sie der Mutter und ging zum Vater. Sie war
eine der besten Schülerinnen und machte schon früh dichterische
Versuche. Ihr Wunsch war, Lehrerin zu werden, wozu sie außer ihrer
Veranlagung die Schwärmerei für einen Lehrer bestimmt zu haben
scheint. Da aber dem Vater die Mittel fehlten, seine Tochter das
Seminar besuchen zu lassen, so mußte sie früh die Schule verlassen
und nacheinander verschiedene Aushilfsstellen als Dienstmagd versehen.
Sie fühlte sich sehr unglücklich, da sie weder ihren Lerneifer befriedigen,
noch in ein höheres soziales Milieu gelangen konnte. An einer Stelle
blieb sie 1!/, Jahre. Dann versuchte sie, sich weiter zu bringen, indem
sie Stenographie und Maschinenschreiben erlernte. Ehe sie ihr Ziel
erreichte, versagten aber die Geldmitte]l; sie nahm daher Arbeit in
einer Fabrik, wo ihr aber der Verkehr mit den ungebildeten Arbei-
terinnen nicht zusagte. Das Verhältnis zur Mutter war ganz schlecht
geworden, seitdem die Patientin sich zu dem Verdacht berechtigt
glaubte, daß ihre jüngere Schwester aus einem unerlaubten Verhältnis
ihrer Mutter vor der Ehescheidung hervorgegangen sei. Sie stand
gänzlich isoliert da, zumal auch der Vater sich wenig um sie kümmerte;
sie mußte in einem ihr verhaßten Beruf und in einem ihr verhaßten
sozialen Milieu leben. Die jüngere Schwester, welche Patientin aus
ihrem Verdienst unterstützte, um sie einen Beruf erlernen zu lassen,
lohnte ihr dies mit Undank. All diese Umstände, wahrscheinlich außer-
dem noch ein unglückliches Liebesverhältnis, wirkten so deprimierend
auf sie ein, daß sie alle Lust am Leben’ verlor. Sie schrieb in der
Zeit, welche dem Unfall vorausging, Gedichte, in welchen sie ihre
Lebensmüdigkeit zum Ausdruck brachte. Da ereignete sich der oben
erwähnte Unfall.
Wenn — wie in diesem Falle — einer Person die Freude am
Leben verloren gegangen ist, wenn der Gedanke: lieber sterben als
unter solchen Verhältnissen leben, offenbar vorhanden ist und wenn
dann dieser Person ein Unfall unter Verhältnissen zustößt, die ein
Entrinnen keineswegs ausgeschlossen hätten, so halte ich die Annahme
einer unbewußten Absicht zum Selbstmord für berechtigt. Das Mädchen
hat sich nicht etwa absichtlich vor das Pferd geworfen, das wäre ein
bewußter Selbstmord, sondern es hat die Möglichkeit des Ausweichens
nicht genügend wahrgenommen. Freud hat bereits ähnlichen Fällen
“ von Selbstmord oder Selbstmordversuch, die äußerlich als Unfall
imponierten, diese Erklärung gegeben. Bemerkenswert ist, daß sich der
Zustand besserte, als man ihr Beschäftigung gab, welche in der Richtung
ihres Komplexes lag, und sich um eine bessere Stellung für sie bemühte.
‘ Welch sonderbare und doch zweckmäßige Wege das Unbewußte
Yr
20
einschlägt, um einen Zweck zu erreichen, zeigt folgende Unfalls-
geschichte einer an Dementia praecox leidenden Dame. Die Patientin
äußerte vor allem einen Versündigungswahn, als dessen Grundlage
sich lange fortgesetzte Masturbation erweisen ließ. Sie gab an, die
Masturbation gehe auf einen Unfall zurück, der ihr vor einer Reihe
von Jahren zugestoßen sei. Damals war sie ausgeglitten und gerade
mit der Genitalgegend gegen eine Tischecke gefallen. Nach der Art,
wie die Patientin den Hergang beschreibt, kann man sich den Mecha-
nismus dieses Unfalls gar nicht anders vorstellen, als indem man eine
unbewußte Absicht bei der Patientin annimmt. Die Patientin spürte
damals offenbar einen geschlechtlichen Reiz und konnte ihn nicht auf
dem normalen Wege befriedigen. Sie kämpfte gegen den Drang zur
Masturbation an. Was das Bewußte ihr sich zu verschaffen verbot,
verschaffte ihr auf dem geschilderten Wege das Unbewußte.
Eine andere Patientin hatte von klein auf eine überaus starke
Zuneigung zu ihrem Bruder. Als sie erwachsen war, maß sie jeden
Mann an den Eigenschaften ihres Bruders. Sie verliebte sich später
in einen anderen, diese Liebe nahm aber einen unglücklichen Ausgang.
Kurz darauf, als die Patientin noch sehr deprimiert war, brachte sie sich
auf einer Bergtour durch Ungeschicklichkeit zweimal in die größte
Gefahr. Da sie eine geübte Touristin war, so blieb der zweimalige Absturz
an ganz leichten und ungefährlichen Stellen ihrer Umgebung rätselhatt,
Später ergab sich, daß sie damals schon mit Selbstmordplänen spielte.
Seit jener unglücklichen Liebe wandte sie ihre ganze Zuneigung wieder
dem Bruder zu, der sich einige Zeit danach verlobte. Bald danach
erkrankte sie an Dementia praecox. (Vermutlich hatte die Krankheit
sich ganz schleichend entwickelt.) In dem initialen Depressionszustand
suchte sie sich aus dem Fenster zu stürzen — offenbar eine Analogie
zu dem Absturz im Gebirge. In der Anstalt besserte sich der Zustand
sehr langsam. Schließlich konnte Patientin mit einer Wärterin im Park
spazieren gehen. Damals wurde dort ein Kanal angelegt. Sie über-
schritt den Graben täglich auf einer Brücke von Brettern, obgleich sie
ihn ganz leicht auch hätte überspringen können. In jener Zeit erfuhr
sie den Tag, an welchem ihr Bruder heiraten sollte. Sie sprach beständig
von dieser Hochzeit. An dem der Hochzeit des Bruders vorausgehenden
Tage benutzte sie auf ihrem Spaziergang nicht die Brücke, sondern
sprang über den Graben, und zwar so ungeschickt, daß sie sich den
Fuß verstauchte. Auch später kamen solche Selbstbeschädigungen bei
ihr öfter vor, so daß sogar die Wärterin Verdacht schöpfte, daß irgend
etwas Gewolltes im Spiele sein müsse. Offenbar brachte das Unbewußte
durch diese kleinen Unfälle eine Absicht zum Selbstmord zum Ausdruck.
21
Alle solchen Vorkommnisse erscheinen in einem ganz anderen
Licht, sobald man die vorausgehenden Ereignisse und die begleitenden -
Umstände kennt. Je mehr man dergleichen Vorkommnisse der psycho-
logischen Analyse unterwirft, desto umfassender lernt man die
Bedeutung des „Wollens des Unbewußten“ einschätzen. Selbstverständlich
ist eine strikte Grenze zwischen unbewußter und bewußter Absicht
hier nicht zu ziehen.
Für das fortgesetzte Erleiden von Traumen (nicht nur sexueller
Art) bieten uns erwachsene Neurotiker und Geisteskranke auch sonst
höchst interessante Beispiele. Wir müssen einen kleinen Exkurs auf
ein nahe-benachbartes Gebiet machen. Daß die traumatische Hysterie
in einer überaus großen Zahl von Fällen gleichbedeutend ist mit einer
Rentenhysterie, steht außer Diskussion. Der Kampf um die Erlangung
einer Entschädigung läßt die Krankheitserscheinungen nicht zum
Verschwinden kommen. Droht im Falle der Besserung Reduktion oder
gar gänzliche Entziehung der Rente, so treten die schon geschwundenen
oder milder gewordenen Symptome von neuem oder in verstärktem
Grade auf. Hier öffnet sich uns ein Einblick in die Mannigfaltigkeit
der Arten, wie das Unbewußte solche Wünsche, die dem Bewußten
gar nicht klar zu werden brauchen, zu realisieren weiß. In nicht
seltenen Fällen erleiden Personen, welche einmal einen Unfall
erlitten haben, bald noch einen weiteren, oit ganz unbedeutenden
Unfall, der zur Unterstützung des Rentenanspruchs wie gerufen kommt.
Namentlich habe ich diese Erfahrung bei einer zur Hysterie besonders
disponierten Menschenklasse gemacht, nämlich bei polnischen Arbeitern .
unter dem deutschen Unfallversicherungsgesetz. Nach allgemeiner
Erfahrung verteidigen diese Leute ihre Rentenansprüche mit einer ganz
besonderen Zähigkeit, und die traumatisch-hysterischen Symptome
haften bei ihnen mit einer ganz ausnehmenden Hartnäckigkeit. Die
Zahl der polnischen Arbeiter, welche wegen mehrerer Unfälle auf
Rentenzahlung dringen, ist überraschend groß.
Die Tendenz, den ersten Unfall durch einen zweiten zu verstärken,
äußert sich sogar, wenn die Person, welche den Unfall erlitten
hat, an ihren hysterischen Symptomen krank liegt und daher keine
Gelegenheit hat, einen zweiten Betriebsunfall zu erleiden. Ein
italienischer Arbeiter, den ich kürzlich zu begutachten hatte, war durch
eine von einem Gerüst herabfallende eiserne Klammer am Kopf verletzt
worden. Ich ließ ihn seine Träume erzählen. Wiederholt berichtete
er mir, im Traume habe ihn jemand mit einem Stock über den Kopf
geschlagen, oder ein anderer Unfall sei ihm zugestoßen. Sein
Unbewußtes wünschte offenbar den traumatischen Symptomenkomplex
22
wachzuhalten und brachte diesen Wunsch im Traume zum Ausdruck.
: Daß die begleitende Angst nicht gegen diese Auffassung spricht, geht
aus Freuds Traumtheorie hervor. Ich glaube auf diese Art die so
häufigen Angstträume Unfallverletzter mit Freuds Wunschtheorie in
Einklang bringen zu können. Das Unbewußte ruht nicht, wenn es gilt,
den Komplex zur Geltung zu bringen. Es sorgt dafür, daß der affek-
tive Wert des erlittenen Traumas nicht verloren geht und bringt das
Erlebnis von Zeit zu Zeit durch einen Angsitraum wieder zur Erinnerung.
Alle diese Beobachtungen bei Erwachsenen wie bei Kindern, die
Analyse von Träumen der Gesunden wie der Neurotiker und Geistes-
kranken, von Symptomen der Hysterie wie der Demetia praecox, führen
uns zu dem Schlusse, daß den sexuellen Traumen und speziell den
infantilen, ebenso wie anderen Traumen in vielen Fällen eine unbewußte
Absicht auf Seiten des scheinbar passiven Teiles zugrunde liegt. Daß
Personen, welche später an Hysterie oder Dementia praecox erkranken,
in der Jugend ein abnormes Entgegenkommen gegen sexuelle Traumen
zeigen, haben wir auf ihre schon im Kindesalter abnorme Sexualität
zurückgeführt. Wir kamen zu der Auffassung dieses Verhaltens als
einer Form abnormer infantiler Sexualbetätigung. Die ursprüngliche
Freudsche Lehre erleidet dadurch eine wesentliche Änderung. Das
infantile Sexualtrauma spielt für die Hysterie und die Dementia praecox
keine ätiologische Rolle. In dem Erleiden sexueller Traumen spricht
sich vielmehr schon in der Kindheit die Veranlagung zu der späteren
Neurose oder Psychose aus. An Stelle der ätiologischen Bedeutung
des sexuellen Traumas tritt seine formgebende Bedeutung. Wir
verstehen so, wie das Sexualtrauma der Krankheit eine bestimmte
Verlaufsrichtung und vielen Symptomen das individuelle Gepräge
zu geben vermag.
Unsere Untersuchungen haben uns die weitgehende Ähnlichkeit
in der Symptomatologie der Hysterie und der Dementia praecox aufs
neue vor Augen geführt. Ungelöst bleibt die Frage der zweifellos
vorhandenen Differenzen zwischen den beiden Krankheiten. Diese liegen
zu einem großen Teil auf psychosexuellem Gebiet; sie sollen den
Gegenstand einer weiteren Untersuchung bilden.
Nachwort (1920).
Der vorstehende Aufsatz, der im Jahre 1907 geschrieben wurde, enthält mancherlei
Irrtümliches in der Wiedergabe der Freud’schen Anschauungen. Der Verfasser begann
damals, sich in die Gedankenwelt der Psychoanalyse einzuarbeiten, Ein allgemeiner
Hinweis hierauf erscheint ihm jetzt tichtiger als eine nachträgliche Korrektur im
Einzelnen, zumal die Ergebnisse der Untersuchung durch jene Irrtümer nicht
beeinflußt werden.
Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie
und der Dementia praecox'.
Die psychoanalytische Methode hat uns mit wichtigen Analogien
im Aufbau der Hysterie und der Dementia praecox bekannt gemacht’.
In diesem Kreise wird ein Hinweis auf die wichtigsten Punkte genügen.
Die Quellen für die Symptome beider Krankheiten liegen in verdrängten
sexuellen Komplexen. In beiden Fällen - können sowohl normale
wie perverse Regungen determinierend auf die Symptombildung wirken.
Die Ausdrucksmittel beider Krankheiten sind zu einem erheblichen
Teil die gleichen; ich brauche nur auf die sexuelle Symbolik zu
verweisen. Daß trotz dieser gemeinsamen Züge ein prinzipieller Gegensatz
besteht, darin sind sich alle Beobachter einig. Aber sie haben diesen
Gegensatz bisher nicht in einer befriedigenden Form präzisiert. Was
sie uns gaben, waren nur graduelle Verschiedenheiten, die uns eigentlich
nur wiederum die Ähnlichkeit beider Krankheitsbilder vor Augen führten.
Da nun wichtige gemeinsame Züge der Hysterie und der Dementia
praecox psychosexueller Natur sind, so liegt die Frage nahe, wo dieses
analoge Verhalten seine Grenzen finde. Mit andern Worten: Auf der
Suche nach prinzipiellen Differenzen der beiden Krankheiten werden
wir wiederum auf das psychosexuelle Gebiet gelenkt.
Die Grundlage für eine solche Untersuchung bieten Freuds
„Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ (1905) und speziell die in
diesen niedergelegten Anschauungen über die Sexualität des Kindes,
die sexuellen Perversionen und den Sexualtrieb der Neurotiker. Alles
Theoretische, was ich Ihnen über die Sexualität der chronisch Geistes-
kranken vortragen 'möchte, steht und fällt mit Freuds Sexualtheorie®.
I Nach einem Vortrag. Zuerst veröffentlicht im „Zentralblatt für Nervenheilkunde
und Psychiatrie.“ 31. Jahrgang. Zweites Juliheft 1908. Neue Folge 19. Bd.
2 Vgl. besonders Jung, Über die Psychol. der Dementia praecox. Halle 1907.
3 Die wichtigste Anregung zu den folgenden Ausführungen, welche über die
veröffentlichten’ Anschauungen Freuds erheblich hinausgehen, verdanke ich schrift-
lichen und mündlichen Mitteilungen von Herrn Prof. Freud; manches hat durch
Besprechung mit den Herren Prof. Bleuler und Dr. Jung während meiner Tätigkeit
in der Züricher Psychiatrischen Klinik festere Form angenommen.
24
Die frühesten sexuellen Regungen des Kindes stehen nach Freud
in Zusammenhang mit einer einzigen erzogenen Zone — dem Munde.
Während der ersten Lebensjahre übernehmen außer der oralen Zone
noch weitere Körpergegenden die Funktionen erogener Zonen. Die
ersten Äußerungen der Libido beim Kinde tragen autoerotischen
Charakter. Das Kind kennt in diesem Stadium noch kein Sexualobjekt
außer sich selbst. In der folgenden Entwicklungsperiode geht es zur
Objektliebe über. Diese hat aber nicht sogleich eine bestimmte und
definitive Richtung auf Personen des anderen Geschlechtes. Das Kind
trägt eine Reihe von Partialtrieben in sich, unter welchen normaler-
weise ein einziger, der heterosexuelle, die Oberhand gewinnt und
behält. Die den anderen Partialtrieben entstammenden Energien werden
der sexuellen Verwendung entzogen und auf wichtige soziale Ziele
gelenkt; dies ist der Prozeß der Sublimierung. In der Hauptsache
entstehen aus der Sublimierung der homosexuellen Komponente die Ekel-
gefühle, aus der Sublimierung der infantilen Schau- und Exhibitionslust
die Scham, aus der Sublimierung der sadistischen und masochistischen
Komponenten Grauen, Mitleid und ähnliche Gefühle.
Die psychosexuelle Entwicklung ist nicht damit erschöpft, daß
das Kind seine Libido auf Personen des anderen Geschlechtes über-
tragen lernt und seine übrigen Partialtriebe zu jenen sozialen Gefühlen
umformt. Sowohl die Sexualübertragung als die Sublimierung sexueller
Energien gehen weit über diese Grenzen hinaus ; beide Prozesse wirken
normalerweise harmonisch zusammen. Künstlerische! und wissenschaft-
liche Tätigkeit, und bis zu einem gewissen Grade auch viele andere
Berufstätigkeiten beruhen auf Sublimierungsvorgängen. Personen mit
unbefriedigter Libido setzen die nicht gebundene sexuelle Energie in
eine oft fieberhafte Berufstätigkeit um. Andere wenden ihre über-
schüssige Libido sozialen Bestrebungen zu und finden darin, wie die
deutsche Sprache überaus treffend sagt, ihre „Befriedigung“. Der
Kranken- und Säuglingspflege, der öffentlichen Wohltätigkeit, den
Tierschutzbestrebungen usw. strömen aus diesen Quellen die besten
Kräfte zu.
Das soziale Verhalten des Menschen beruht auf der Fähigkeit
der Anpassung; diese aber ist sublimierte Sexualübertragung. Zwischen
Menschen entsteht nach einer gewissen Dauer des Beisammenseins ein
positiver oder negativer psychischer Rapport, der sich in Gefühlen der
Sympathie oder Antipathie äußert. Die Gefühle der Freundschaft, der
seelischen Harmonie erwachsen auf diesem Boden. Das Verhalten eines
! Vgl. hierzu Rank, Der Künstler. Ansätze zu einer Sexualpsychologie.
Wien 1907.
25
Menschen im sozialen Verkehr entspricht durchaus seiner Art, auf
sexuelle Reize zu reagieren. Hier wie dort zeigen die gleichen Menschen
sich leichter oder schwerer zugänglich, derb oder feinfühlig, wählerisch
oder anspruchslos. Was wir im Auftreten des einen als steif, linkisch,
eckig, im Auftreten des andern als graziös, gewandt usw. bezeichnen,
ist Anzeichen seiner geringeren oder größeren Anpassungsfähigkeit,
d. h. Übertragungsfähigkeit.
Von der Übertragung machen wir therapeutisch wie bei jeder
Form psychischer Behandlung so auch bei der Psychoanalyse
Gebrauch!. Eine eklatante Form der Sexualübertragung ist die Suggestion,
die wiederum ihren höchsten Grad in der Hypnose erreicht.
Der Mensch überträgt seine Libido nun aber nicht allein auf
lebende, sondern auch auf leblose Objekte. Er steht zu einem großen
Teil der ihn umgebenden Gegenstände in einem subjektiven Verhältnis,
welches aus seiner Sexualität entspringt. In einer Abhandlung über
„Traum und Mythus“2, welche demnächst erscheint, werde ich diese Frage
ausführlich erörtern. Hier erwähne ich nur einige wesentliche Gesichts-
punkte. Unsere Sprache legt den leblosen Gegenständen ein Geschlecht
bei, weil sie sie auf Grund bestimmter Eigenschaften mit dem Manne
oder Weibe vergleicht. „Der Mensch sexualisiert das All“, wie Klein-
paul? sagt. Aus der gleichen Quelle entspringt die Sexualsymbolik
der Sprache, der wir im Traume und in den psychischen Störungen
wieder begegnen. Zu Gegenständen, die uns durch Gebrauch oder
durch ästhetische Werte der verschiedensten Art lieb geworden sind,
stehen wir in einem offensichtlich persönlichen Verhältnis, welches
gauz der sexuellen Attraktion entspricht. Die Geschmacksrichtung in
der Wahl von Gegenständen entspricht durchaus der sexuellen Objekt-
wahl. Der Grad dieser Art der Objektliebe differiert sehr; manche
Personen sind fast bedürfnislos in dieser Hinsicht, andere werden von
ihrer Neigung für bestimmte Gegenstände als von einer Leidenschaft
völlig beherrscht. Mit feinem Gefühl für diese psychologischen
Zusammenhänge nennt die deutsche Sprache den, welcher zur Erlangung
eines begehrten Objektes kein Opfer scheut, einen „Liebhaber“, stellt
ihn also neben den Verehrer einer weiblichen Person. Die ausge-
prägteste Spezies des Liebhabers ist der Sammler. Seine übertriebene
Wertschätzung des Sammelobjektes entspricht durchaus der Sexual-
1 Vgl. Freud, Bruchstück einer Hysterie-Anlayse, Monatsschr. f. Psychiatrie und
Neurol. 1906, und Sadger, Die Bedeutung der psychoanalyt. Methode nach Freud,
Zentralblatt für Nervenheilkunde und Psychiatrie, 1907.
2 Schriften zur angewandten Seelenkunde, Heft 4.
® Kleinpaul, Stromgebiet der Sprache, S. 468.
meer
| 26
überschätzung des Verliebten. Eine Sammelleidenschaft ist manchmal
geradezu das Surrogat einer sexuellen Neigung; in der Wahl des
IN) Sammelobjektes liegt dann bisweilen eine feine Symbolik verborgen.
| Die Sammelneigung des Junggesellen erlahmt oft, wenn er heiratet.
I) Bekannt ist, daß Sammelinteressen mit dem lebensallerwechsein
| Dem normalen Sexualtrieb gegenüber ist der des Neurotikers
| zunächst durch übermäßige Stärke des Verlangens ausgezeichnet. Sodann
fehlt es ihm an innerer Harmonie: die Partialtriebe werden dem hetero-
IN] sexuellen Triebe nur unvollkommen untergeordnet, während anderer-
seits eine Neigung zur Verdrängung des heterosexuellen Triebes
ii besteht. Die mit der normalen Sexualbetätigung zusammenhängenden
II Vorstellungen rufen Widerwillen und Ekel hervor. Im Neurotiker kämpit
| | zeitlebens ein Partialtrieb mit dem anderen, kämpft übermäßiges
I) Verlangen mit übermäßiger Ablehnung. Aus diesem Konflikt flieht der
| | Mensch in die Krankheit. Mit dem Ausbruch der Neurose kommt
|
verdrängtes Material ins Bewußtsein herauf, wobei es in hysterische
Symptome konvertiert wird. Die Konversion dient der Abfuhr verdrängter
| Strebungen normaler, besonders aber perverser an die Krankheits-
| | symptome sind abnorme Sexualbetätigung.
| ; Die neurotische Libido manifestiert sich außerhalb der Krank-
heitszeiten im engeren Sinne durch eine gesteigerte Übertragung; die
I Objekte werden in abnormem Grade mit Libido besetzt. Auch zur
Sublimierung besteht eine über das gewöhnliche Maß hinausgehende
Neigung.
Auf Grund dieser Anschauungen können wir nun das psycho-
sexuelle Verhalten der an Dementia praecox Leidenden mit dem der
h Gesunden und der Neurotischen vergleichen. Wir vergegenwärtigen uns
\ zu diesem Zwecke ein paar Typen aus der großen Gruppe der chronisch
Geisteskranken, welche wir mit Kraepelin als Dementia praecox
zusammenfassen.
Einen Patienten mit schwerer Krankheitsfiorm in vorgeschrittenem
ıl Stadium sehen wir in der Anstalt in irgendeinem Winkel stehen oder
il auch unstet umherlaufen. Er starrt wie abwesend vor sich hin, hallu-
I] ziniert, flüstert ein paar Worte, gestikuliert sonderbar. Er spricht mit
Fl) niemandem und weicht jeder persönlichen Begegnung aus. Er hat
keinen Trieb zu einer Tätigkeit. Er vernachlässigt sein Äußeres, ißt
unappetitlich, verunreinigt sich ‘auch oder schmiert mit seinen
Exkrementen und onaniert öffentlich ohne Scham. Es ist, als existierte
die Umgebung für ihn überhaupt nicht.
Hi] Ein weniger schwer Erkrankter zeigt im Grunde das gleiche
Il Verhalten; es ist nur nicht so ins Extrem getrieben. Auch er ist unsozial
27
und ablehnend; er produziert Verfolgungs- und Größenideen. Sein
Benehmen und seine Redeweise sind sonderbar, maniriert, geschraubt.
Er klagt lebhaft über seine Internierung, trägt diese Klagen aber —
wie alles andere — ohne adäquaten Affekt vor. Er faßt die Vorgänge
in der Außenwelt auf, zeigt aber kein wirkliches Interesse für sie. ET
läßt sich zu mechanischer Arbeit herbei; aber er findet keine Befriedi-
gung in ihr.
Ein Patient, dessen Erkrankung keine ganz groben Erscheinungen
macht und die Internierung des Kranken vielleicht umgehen läßt, fühlt
sich leicht von anderen beeinträchtigt, verträgt sich nicht mit seinen
Angehörigen, findet keine Freunde, entbehrt sie aber auch nicht. Er
ist ohne gemütliche Bedürfnisse, ohne Takt und Feingefühl. Wir
erlangen keinen gemütlichen Rapport mit ihm. Er besitzt vielleicht
eine mehr als normale Intelligenz; dennoch sind seine Leistungen in
der Regel nicht vollwertig. Was er in intellektueller Hinsicht produziert,
ist zumeist sonderbar und geschraubt, verletzt die Ästhetik und ent-
behrt einer normalen Gefühlsbetonung.
Allen diesen Formen! gemeinsam sind die gleichen Anomalien
des Gefühlslebens; die Unterschiede in dieser Richtung sind nur
graduell. Aus einer leichten Form kann eine schwere werden; eine
schwere kann erhebliche Remissionen bieten. Während die Vorstel-
lungen des gesunden Menschen von adäquaten Gefühlen begleitet
sind, fehlt den Vorstellungen dieser Kranken die adäquate Gefühls-
betonung. Wir haben aber alle Gefühlsübertragung auf die Sexualität
zurückgeführt. Wir kommen zu dem Schluß, daß die Dementia
praecox die Fähigkeit zur Sexualübertragung, zur
Objektliebe vernichte.
Die erste, unbewußt sexuelle Zuneigung des Kindes gilt den
Eltern, speziell dem andersgeschlechtlichen Teil des Elternpaares. Auch
unter Geschwistern findet eine lebhafte Übertragung statt. Doch
kommt es, besonders den Angehörigen des gleichen Geschlechtes
gegenüber, auch zu Gefühlen der Auflehnung, des Hasses. Diese
verfallen unter der Einwirkung der Erziehung und anderer exogener
Faktoren der Verdrängung. Unter normalen Verhältnissen besteht
zwischen Eltern und Kindern ein Verhältnis der Zuneigung, ein Gefühl
der Zusammengehörigkeit. Bei Hysterischen finden wir diese Zuneigung
der einen Person gegenüber oft krankhaft gesteigert, der anderen
gegenüber in heftige Ablehnung verwandelt. Bei Kranken mit Dementia
1 Mit „schwerer“ und „leichter“ Erkrankung soll hier nichts über den Krank-
heitsprozeß ausgesagt werden, sondern nur über die praktischen (sozialen) Folgen der
Erkrankung.
28
praecox vermissen wir in der Regel die Zuneigung zu den Angehörigen;
wir finden Gleichgültigkeit oder ausgesprochene, in Verfolgungswahn
übergehende Feindschaft.
Ein gebildeter Patient erhielt die Nachricht vom Tode seiner
Mutter, die ihm in seiner langen Krankheit trotz seines abweisenden
Verhaltens eine zärtliche Liebe bewahrt hatte. Seine Reaktion auf die
Nachricht bestand darin, daß er unwillig äußerte: „Ist das das Neueste?“
— Es ist eine alltägliche Erfahrung, daß die Dementia praecox in ganz
derselben Weise die Gefühle der Eltern für ihre Kinder erkalten läßt.
Bei einem jungen Manne, den ich beobachtete, war die Krank-
heit sehr früh zum Ausbruch gekommen. Er hatte in früher Kindheit
in solchem Grade auf die Mutter übertragen, daß er mit drei Jahren
einmal erklärte: „Mutter, wenn du stirbst, werfe ich mir einen Stein
auf den Kopf, und dann bin ich auch tot.“ Er gönnte die Mutter dem
Vater keinen Augenblick, nahm sie bei Spaziergängen für sich allein
in Anspruch, überwachte sie eifersüchtig und war gehässig gegen seinen
Bruder. Von klein auf zeigte er eine abnorme Neigung zum Wider-
spruch; die Mutter sagt von ihm: er war schon damals der Geist, der
stets verneint. Anderen Knaben schloß er sich nicht an, sondern hing
nur an der Mutter. Mit 13 Jahren wurde er zu Hause undisziplinier-
bar, so daß die Eltern ihn in fremde Hände geben mußten. Die Mutter
brachte ihn nach seinem neuen Aufenthaltsorte. Vom Augenblick des
Abschieds an war er völlig verändert. Die bisherige übergroße Liebe
und Zärtlichkeit für die Mutter verwandelte sich in absolute Gefühls-
kälte, Er schrieb steife, förmliche Briefe, in denen er die Mutter nie
erwähnte. Allmählich hat sich bei dem Patienten eine schwere, halluzi-
natorische Psychose entwickelt, in deren Verlauf die Verödung des
Gefühlslebens immer deutlicher geworden ist.
Wie die psychoanalytische Untersuchung ergibt, ist eine heftige
Feindschaft bei Geisteskranken sehr oft an Stelle einer vorherigen
überschwänglichen Zuneigung getreten. Diese Abkehr der Libido von
einem Objekt, auf welches einstmals mit besonderer Intensität über-
tragen wurde, ist bei der Dementia praecox unwiderruflich.
In der Anamnese unserer Patienten heißt es überaus häufig: er
(oder sie) war von jeher still, neigte zum Grübeln, schloß sich
niemandem an, mied Geselligkeit und Vergnügungen, war nie recht
fröhlich wie andere. Solche Personen hatten also von jeher nicht die
rechte Fähigkeit, ihre Libido auf die Außenwelt zu übertragen. Diese
Personen bilden später die unsozialen Elemente in den Anstalten.
Ihren Worten fehlt der Gefühlsinhalt. Sie sprechen vom Allerheiligsten
und vom Nichtigsten mit dem gleichen Tonfall, mit der gleichen Mimik.
29
Nur wenn wir im Gespräch den Komplex berühren, gibt es mitunter
eine Reaktion des Affektes, welche sehr heftig sein kann.
Die Kranken mit Dementia praecox sind in gewissem Sinne sehr
suggestibel, und dies könnte als ein Widerspruch gegen die ange-
nommene mangelhafte Sexualübertragung erscheinen. Die Suggestibilität
ist aber durchaus anderer Art als bei der Hysterie. Sie scheint mir
lediglich darin zu bestehen, daß der Patient sich gegen diese oder
jene Beeinflussung nicht sträubt, weil er momentan zu indifferent
ist, um sich zu sträuben (Kraepelins „Befehlsautomatie“). Die
Störung der Aufmerksamkeit ist hier sicher von großer Bedeutung. Es
scheint mir also, als wäre diese Suggestibilität einfach Widerstands-
losigkeit. Sie schlägt sehr leicht in Widerstand um. Der Negativismus
bei der Dementia praecox ist das vollste Gegenteil der Übertragung.
Die Kranken sind — im Gegensatz zu den Hysterischen — der Hypnose
nur in beschränktem Maße zugänglich. Auch beim Versuch der Psycho-
analyse bemerken wir das Fehlen der Übertragung; als therapeutisches
Verfahren kommt diese bei der Dementia praecox daher kaum in Betracht.
Im Verkehr mit den Patienten bemerken wir die mangelnde
Übertragung auch sonst. Wir sehen sie nie wirklich heiter, Sie haben
keinen Sinn für Humor. Ihr Lachen ist oberflächlich, oder krampfhaft,
oder grob erotisch, aber niemals herzlich. Oft bedeutet es auch: nicht etwa
Heiterkeit, sondern zeigt nur an, daß der Komplex getroffen ist; dies
gilt z. B. für das stereotype Lachen der Halluzinierenden, denn die
Halluzinationen betreffen stets den Komplex. Das Auftreten der Kranken
wird ungewandt und steif; es zeigt das Fehlen der Applikation an
die Umgebung besonders deutlich. Kraepelin spricht sehr
bezeichnend von einem „Verlust der Grazie“. Das Bedürfnis, ihre
Umgebung behaglich und freundlich zu gestalten, geht den Kranken
verloren. Wie die Anhänglichkeit an Menschen, so schwindet auch
die Anhänglichkeit an Tätigkeit und Beruf. Die Kranken versinken
gern in sich und — was mir besonders charakteristisch scheint — sie
kennen keine Langeweile. Man kann die Kranken in den Anstalten
allerdings großenteils zu ganz brauchbaren Arbeitern erziehen. Es
gehört dazu eine Arbeitssuggestion, der sich die Patienten gleichgültig
unterordnen, ohne Freude an ihrem Tun. Hört die Suggestion auf,
so stellen sie die Arbeit ein. Eine scheinbare Ausnahme bilden jene
Patienten, die unermüdlich, ohne Erholungsbedürfnis, von früh bis
spät arbeiten. Dieses Arbeiten geschieht dann ausnahmslos einem
Komplex zuliebe. Ein Kranker ist z. B. in der Landwirtschaft der
Anstalt überaus tätig, weil er das ganze Anstaltsterrain für sein
Eigentum hält. Ein hochbetagter Patient ist unermüdlich in der
30
Abwaschküche seiner Abteilung tätig und duldet nicht die Hilfe eines
andern. Er hört nämlich aus dem Wasser des Abwaschtroges die
Elfen sprechen. Einmal haben sie ihm geweissagt, er werde zu ihnen
kommen, wenn er vor seinem Tode noch 100.000 Stück Geschirr
abwasche. Der 80 jährige Mann zeigte für nichts Interesse als für diese
Tätigkeit, der er unter geheimnisvollen Zeremonien nachging.
Zu den Gegenständen, zu ihrem Eigentum, haben die Kranken
kein intimeres Verhältnis mehr. Alles, was sie umgibt, ist ohne Reiz
für sie. Oft freilich äußern sie das intensive Verlangen nach einem
Gegenstande; aber die Erfüllung des Wunsches bleibt ganz ohne
Eindruck. Auch behüten sie gewisse Gegenstände mit Sorgfalt, aber
es zeigt sich dann doch bei Gelegenheit, daß ihr Herz nicht an den
Dingen hängt. Ein Patient z. B. sammelt eine große Menge von
gewöhnlichen Steinen, erklärt sie für Edelsteine und. mißt ihnen einen
ungeheuren Wert bei. Die Schublade, in der er sie aufbewahrte, brach
schließlich von der Last. Als man die Steine nun beseitigte, protestierte
der Patient gegen den Eingriff in sein Recht. Den verlorenen Kostbar-
keiten trauerte er nicht nach, sondern suchte sich neue Kieselsteine
zusammen. Diese eigneten sich zu Symbolen seines vermeintlichen
Reichtums ebensogut wie die früheren. — In dem Fehlen der Freude
an Gegenständen wurzelt sicher auch teilweise die so häufige
Zerstörungssucht der Kranken.
In sehr vielen Fällen betrifft die Störung nicht nur jene feineren
sozialen Sublimierungen, die sich im Laufe des Lebens allmählich heraus-
gebildet haben, sondern auch diejenigen, welche in früher Kindheit
entstanden sind: Scham, Ekel, moralische Gefühle, Mitleid usw. Eine
genaue Untersuchung dürfte wohl in jedem Falle von Dementia praecox
ein wenigstens teilweises Erlöschen dieser Gefühle ergeben. In allen
schweren Fällen ist die Störung ohne weiteres wahrnehmbar. Die
gröbsten Vorkommnisse dieser Art sind das Schmieren mit den
Dejektionen, das Urintrinken, die Unsauberkeit, die alle auf einen
Verlust des Ekelgefühls hinweisen, ebenso wie das aufdringlich
erotische Benehmen, das Exhibieren auf den Verlust des Schamgefühls
schließen lassen. Wir werden hier an das Verhalten des Kindes
erinnert, das den Ekel vor den Exkrementen und das Schamgefühl
bei Entblößung noch nicht kennt. In dasselbe Gebiet gehört auch die
Hemmungslosigkeit, mit welcher viele Kranke über Intimitäten ihres
Vorlebens sprechen. Sie stoßen auf diese Weise nur Reminiszenzen
von sich ab, die Wert und Interesse für sie verloren haben. Daß auch
das Mitgefühl schwindet, zeigt uns besonders das Verhalten der Kranken
angesichts grausamer Handlungen, die sie selbst begangen haben. Ich sah
31
einmal einen solchen Kranken, wenige Stunden nachdem er einen
harmlosen Nachbarn erschossen und seine Frau schwer verletzt hatte,
mit aller Seelenruhe von den Motiven der Tat und von dieser selbst
erzählen und dabei das ihm gereichte Essen behaglich verzehren.
Wir lernen aus dem Bisherigen zwei Reihen von Erscheinungen
kennen: die einen zeigen, daß die Libido von belebten und unbelebten
Objekten abgekehrt wird, die andern zeigen den Verlust der durch
Sublimierung entstandenen Gefühle. Die Dementia praecox
führt also zur Aufhebung der Objektliebe: und der
Sublimierung. Einen solchen Zustand der Sexualität kennen wir
sonst nur in der frühen Kindheit. Wir benannten ihn hier mit Freud
„Autoerotismus® Auch in dieser Zeit fehlen Objektbesetzung und
Sublimierung. Die psychosexuelle Eigenart der Dementia praecox.
besteht somit in der Rückkehr des kranken Individuums zum Auto-
erotismus. Die Symptome der Krankheit sind eine Form autoerotischer
Sexualbetätigung.
Selbstverständlich soll nicht gesagt sein, daß jede sexuelle
Regung der Kranken rein autoerotisch sein müsse. Wohl aber ist jede
Neigung der Kranken zu einer anderen Person sozusagen von der
Blässe des Autoerotismus angekränkelt. Wenn wir bei einer weiblichen
Kranken eine anscheinend sehr starke, ja stürmisch sich äußernde
Liebe bemerken, so wird uns zugleich jedesmal der Mangel an Scham-
gefühl in der Äußerung auffallen. Der Verlust des Schamgefühls als
eines Sublimierungsproduktes bedeutet für uns aber einen Schritt in
der Richtung zum Autoerotismus. Ferner sehen wir diese Kranken
sich rasch und wahllos in eine Person verlieben, diese aber ebenso
rasch gegen eine andere vertauschen. In der Anstalt sind immer
gewisse Frauen in den jeweiligen Arzt verliebt; bald hat jede von ihnen
den Wahn, mit dem Arzt verlobt oder verheiratet zu sein, glaubt sich
von ihm geschwängert, sieht in jedem Wort von ihm ein Zeichen der
Liebe. Geht der Arzt fort, so tritt im Gefühlsleben jener Patientinnen
sehr rasch der Nachfolger an seine Stelle. Die Kranken sind also wohl
noch imstande, ihr sexuelles Bedürfnis auf eine Person zu projizieren,
aber nicht mehr zur wirklichen Applikation an die geliebte Person
fähig. Andere Patienten pflegen jahrelang eine imaginäre Liebe; diese
existiert nur in ihrer Phantasie — das Sexualobjekt haben sie viel-
leicht nie gesehen; in Wirklichkeit sperren sie sich gegen jede
Berührung mit einem Menschen ab. Kurz, irgendeine Äußerung des Auto-
erotismus ist stets nachweisbar. — In solchen Fällen, welche durch
! Ein von mir beobachteter Patient redete sich in seinen zahllosen Schriftstücken
selbst „du“ an; er selbst: war eben das einzige Objekt, das ihn interessierte.
32
weitgehende Remission eine Heilung vortäuschen, ist die mangelnde
Fähigkeit der Applikation an die Außenwelt in der Regel derjenige
krankhafte Zug, der sich am leichtesten erkennen läßt.
Der Kranke, der seine Libido von den Objekten abkehrt, setzt
sich damit in einen Gegensatz zur Welt. Er allein steht nun einer
“ Welt, die ihm feindselig ist, gegenüber. Es scheint, als ob die Ver-
folgungsideen! sich besonders gegen diejenige Person richten,
'auf welche der Patient einstmals seine Libido in besonderem Grade
übertragen hatte. In vielen Fällen wäre also der Verfolger ursprüng-
lich Sexualobjekt gewesen und der Verfolgungswahn hätte einen
erogenen Ursprung.
Im Autoerotismus der Dementia praecox liegt nun nicht bloß
die Quelle des Verfolgungswahns, sondern auch die des Größenwahns.
Unter normalen Verhältnissen besteht zwischen zwei Personen, die
ihre Libido aufeinander übertragen haben, ein Verhältnis gegenseitiger
verliebter Überschätzung (von Freud als „Sexualüberschätzung“
bezeichnet). Der Geisteskranke überträgt die gesamte Libido, die der
Gesunde all den lebenden und unbelebten Objekten der Umgebung
zuwendet, allein auf sich selbst, als auf sein einziges Sexualobjekt.
Die Sexualüberschätzung gilt ebenfalls nur ihm selbst. Sie nimmt ge-
waltige Dimensionen an, bedeutet er selbst sich doch die Welt! Die
auf das Ich zurückgewandte reflexive oder autoero-
tischeSexualüberschätzungistdieQuelledesGrößen-
wahns bei der Dementia praecox?. Verfolgungswahn und
Größenwahn sind also eng miteinander verknüpft. Jeder Verfolgungs-
wahn bei Dementia praecox enthält implizite einen Größenwahn.
Die autoerotische Absperrung gegen die Außenwelt wirkt nicht
nur auf das reaktive Verhalten des Kranken, sondern auch auf das
rezeptive ein. Der Kranke verschließt sich gegen die. ihm zuströmen-
den realen Sinneswahrnehmungen. Sein Unbewußtes formt sich auf
halluzinatorischem Wege Sinneswahrnehmungen, wie sie den ver-
drängten Wünschen entsprechen. Der Kranke geht also in der Selbst-
absperrung so weit, daß er die Außenwelt gewissermaßen boykottiert ;
er produziert nicht mehr für sie und bezieht nicht mehr von ihr, für
die Lieferung der Sinneseindrücke erteilt er sich selbst das Monopol.
1 Die Abkehr der Libido von der Außenwelt ist die Grundlage für die Bildung
des Verfolgungswahns im allgemeinen. Auf die weiteren in Betracht kommenden
Faktoren kann hier nicht eingegangen werden.
2 Ich sehe die autoerotische Sexualüberschätzung als Quelle des Größenwahns
bei der Dementia praecox im allgemeinen an. Die spezielle Form des Wahns —
die Größenidee — wird durch einen bestimmten verdrängten Wunsch determiniert-
ne Ze
33
Der Patient, der sich für die Außenwelt nicht interessiert, der
völlig in sich gekehrt dahinvegetiert, der durch seinen unbelebten
Gesichtsausdruck den Anschein völliger Abgestumpitheit erweckt,
erscheint der gewöhnlichen Betrachtung als intellektuell und gemütlich
verblödet. Für diesen Zustand ist der Ausdruck „Demenz“ gang und
gäbe. Derselbe Ausdruck wird aber auch für die Folgezustände anderer
Psychosen angewandt, die tatsächlich von der uns hier interessieren-
den Form absolut verschieden sind. Ich meine die epileptische, para-
lytische und senile Demenz. Gemeinsam ist diesen Zuständen nur die
Wirkung — eine Herabsetzung der intellektuellen Leistungen —
und auch diese nur bis zu einem gewissen Grade. Nur wenn man
dies im Auge behält, darf man den gemeinsamen Namen anwenden.
Vor allen Dingen sollte man sich hüten, etwa — wie es oft geschieht
— eine Wahnidee „schwachsinnig‘“ zu nennen, weil sie absurd ist.
Man müßte dann auch die sinnvollen Absurditäten des Traumes als
schwachsinnig bezeichnen. Die paralytische Demenz, desgleichen die
senile zerstört die intellektuellen Fähigkeiten von Grund aus; sie
führt zu groben Ausfallserscheinungen. Die epileptische Demenz führt
zu einer außerordentlichen Verarmung und Monotonie des Vorstellungs-
lebens, zu einer Erschwerung der Auffassung. Die Veränderungen bei
diesen Krankheiten sind höchstens eines zeitweisen Stillstandes fähig,
im allgemeinen aber progressiv. Die „Demenz“ bei der Dementia
praecox hingegen beruht auf Gefühlsabsperrung. Die intellektuellen
Fähigkeiten bleiben erhalten; das oft behauptete Gegenteil ist wenig-
stens noch nie erwiesen worden. Infolge autoerotischer Absperrung
nimmt der Kranke nur keine neuen Eindrücke auf und reagiert auf
die Außenwelt gar nicht oder in abnormer Weise. Der Zustand kann
sich jederzeit lösen; die Remission kann einen solchen Grad
erreichen, daß kaum mehr der Verdacht eines intellektuellen Defektes
entsteht.
Während die „Demenz“ bei der Dementia praecox ein autoerotisches
Phänomen ist, während wir in diesem Zustande jede normale Gefühls-
reaktion auf die Außenwelt vermissen, reagieren die epileptisch oder
organisch Dementen überaus lebhaft mit dem Gefühl, sofern sie noch
fähig sind, einen Vorgang aufzufassen. Der Epileptiker verhält sich nie
indifferent; er steht mit einem Gefühlsüberschwang auf seiten der Liebe
oder des Hasses. Er überträgt seine Libido in außerordentlichem Maße
auf Menschen und Gegenstände, er bezeugt seinen Angehörigen Liebe
und Dankbarkeit. Er hat Wohlgefallen an seiner Arbeit und hängt mit
großer Zähigkeit an seinem Eigentum, bewahrt jeden Papierfetzen
sorgsam auf und betrachtet seine Schätze immer wieder mit Freude.
| | 34
il Im Autoerotismus liegt der Gegensatz derDementia
praecox auch gegenüber der Hysterie. HierAbkehr der
III Libido, dort übermäßige Objektbesetzung, hier Verlust
| der Sublimierungsfähigkeit, dort gesteigerte Sublimierung.
Die psychosexuellen Eigentümlichkeiten der Hysterie können wir
IN häufig schon in der Kindheit beobachten, während der Ausbruch der
| schweren Krankheitserscheinungen erst viel später erfolgt. Ein Teil der
Il Fälle bietet aber auch schon in der Kindheit manifeste Krankheitszeichen,
Wir schließen daraus, daß die psychosexuelle Konstitution der
| Hysterischen angeboren sei. Der gleiche Schluß ist für die Dementia
praecox berechtigt. In den Anamnesen finden wir überaus häufig, daß
| die Kranken von jeher sonderbar und träumerisch waren und sich
III niemanden anschlossen. Sie vermochten schon lange vor dem „Ausbruch“
II) der Krankheit ihre Libido nicht zu übertragen und machten daher die
Phantasie zum Felde ihrer Liebesabenteuer. Von diesen Eigentümlich-
keiten dürfte kaum ein Fall frei sein. Auch auf die besonders große
|| Neigung dieser Personen zur Onanie soll verwiesen werden. Solche
I||I) Individuen haben also den infantilen Autoerotismus nie völlig über-
II wunden. Die Objektliebe hat sich bei ihnen nicht voll entwickelt, und
Fl daher wenden sie sich, wenn die Krankheit manifest wird, dem
I) Autoerotismus vollends wieder zu. Die psychosexuelle
Il Konstitution der Dementia praecox beruht demnach
|) auf einer Entwicklungshemmung. Die Minderzahl von
|| Krankheitsfällen, die schon in der Kindheit psychotische Erscheinungen
li im groben Sinne darbietet, bestätigen diese Anschauung in eklatanter
Weise, indem sie ein pathologisches Verharren beim Autoerotismus
il klar erkennen lassen. Ein von mir beobachteter Patient hatte schon
| im dritten Lebensjahre ausgesprochenen Negativismus gezeigt. Wenn
er gewaschen war, krampite er die Finger ein und ließ sie nicht
il) trocknen. Dies Verhalten zeigte er später noch als Sekundaner des
Gymnasiums. Derselbe Patient war im dritten Lebensjahr monatelang
nicht zu bewegen, seinen Stuhl zu entleeren; die Mutter mußte ihn
alle Tage bitten, von dieser Gewohnheit abzulassen. Dieses Beispiel
zeigt ein abnormes Festhalten an einer erogenen Zone — eine typisch
autoerotische Erscheinung. — Der jugendliche Patient, von dem ich
berichtete, daß mit 13 Jahren plötzlich seine Libido von der Mutter
abkehrte, verhielt sich ebenfalls schon in frühester Kindheit negativistisch.
ı Die Hemmung der psychosexuellen Entwicklung äußert sich nicht
| nur darin, daß das Individuum den Autoerotismus nicht vollkommen
überwindet, sondern auch in einem abnormen Persistieren der Partial-
I triebe. Diese Eigentümlichkeit, welche eine gesonderte und eingehende
Il
il
ll)
In
Il
| ir
35
Betrachtung verdient, soll hier nur durch einen einzelnen Zug aus
der Krankengeschichte des gleichen Patienten illustriert werden, dessen
autoerotisch-negativistisches Verhalten ich soeben geschildert habe. Als
er (im Alter von 27 Jahren) wegen Nahrungsverweigerung einmal vom
Arzt mit Hilfe der Schlundsonde gefüttert worden war, sah er in diesem
Eingriff einen päderastischen Akt und in dem Arzt fortan einen
homosexuellen Verfolger. Hier finden wir in einem Beispiel die
Äußerung des homosexuellen Partialtriebes, dessen Verschiebung von
der analen Zone auf eine andere erogene Zone („Verlegung nach oben“
Freud’s) und den erogenen Ursprung einer Verfolgungsidee.
Ein abnormes Persistieren der Partialtriebe ist auch den Neurosen
eigen. Auch diese weisen also eine Hemmung in der psychosexuellen
Entwicklung auf. Dieser fehlt jedoch die autoerotische Tendenz. Die
Störung bei der Dementia praecox greift viel tiefer; das Individuum,
das vom tiefsten Stadium der psychosexuellen Entwicklung nie völlig
losgekommen war, wird mit der Progression des Krankheitsprozesses
mehr und mehr in das autoerotische Stadium zurückgeworfen.
Die Annahme einer abnormen psychosexuellen Konstitution im
Sinne des Autoerotismus scheint mir einen großen Teil der Krankheits-
erscheinungen der Dementia praecox zu erklären und die neuerdings
erörterten Toxin-Hypothesen entbehrlich zu machen.
Natürlich ist es unmöglich, die zahllosen Krankheitsphänomene,
welche auf diese Entwicklungshemmung zurückzuführen sind, in einem
kurzen Vortrag zu erschöpfen. Auch eine ausgedehnte Abhandlung
wäre hierzu heute nicht imstande. Denn die Analyse der Psychosen
auf Grund der Freud’schen Lehren ist noch in den Anfängen begriffen.
Sie scheint mir aber berufen, uns Aufklärungen zu bringen, die auf
keinem andern Wege zu erzielen sind. Ich habe hier in erster Linie
die differential-diagnostische Abgrenzung der Dementia praecox gegen
Hysterie und Zwangsneurose im Auge. Sodann erscheint mir die Genese
der verschiedenen Wahnformen der analytischen Erforschung zugänglich.
Vielleicht verhilft uns die Methode aber auch zur Klarheit über die
intellektuellen Störungen im Krankheitsbilde der Dementia praecox,
von deren Verständnis wir heute noch weit entfernt sind.
3*
Die psychologischen Beziehungen zwischen
Sexualität und Alkoholismus!.
Es ist eine unbestrittene Tatsache, daß im allgemeinen das
männliche Geschlecht dem Alkoholgenuß mehr zuneigt, als das weibliche.
Wenn auch in manchen Gegenden täglicher Alkoholgenuß den Frauen
ganz wie den Männern etwas Selbstverständliches ist, wenn auch
marıcherorts betrunkene Frauen eine häufige Erscheinung im Straßen-
bild sind, so ist doch der Alkohol mit dem geselligen Leben der
Frauen nie in derjenigen Weise verknüpft, wie mit dem der Männer.
Trinkfestigkeit gilt bei uns in weiten Kreisen als Zeichen der Männ-
lichkeit, ja als Ehrensache. Von der Frau verlangt die Gesellschaft
das Trinken nie in rigoroser Weise. Unsere .landläufige Moral neigt
eher dazu, das Trinken für unweiblich zu erklären. Unter normalen
Frauen ist das Trinken auch nie Gegenstand der Renommage wie
unter Männern.
Es scheint mir der Untersuchung wert, ob dieses verschiedene
Verhalten der Geschlechter zum Alkohol in den Unterschieden der
Sexualität seine Begründung finde. Eine solche Untersuchung muß auf
die neueren Auffassungen der psychosexuellen Konstitution des Mannes
und Weibes zurückgehen, wie sie besonders in den Arbeiten Freuds?
niedergelegt sind. :
Unser Körper enthält, wie die Entwicklungsgeschichte nachweist,
die Anlage zu den Genitalorganen beider Geschlechter. Eine der
beiden Anlagen wird im Verlauf der normalen Entwicklung reduziert
oder übernimmt anderweitige Funktionen. Die andere hingegen
entwickelt sich weiter, bis sie funktionsfähig wird. Ein ganz analoger
Vorgang spielt sich auf psychosexuellem Gebiet ab. Die Differenzierung
der Geschlechter nimmt auch hier von einem ursprünglichen Zustande
der Bisexualität ihren Ausgang. Im Kindesalter haben die Äuße-
rungen des Sexualtriebes bei Knaben und Mädchen noch große
Ähnlichkeit.
"1 Zuerst veröffentlicht in „Zeitschrift für Sesualwissenschaft*, I, Jahrg., 1908.
2 Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905.
37
Wie wir besonders durch Freuds Forschungen erfahren haben,
fehlen der Kindheit die sexuellen Regungen keineswegs. Nur die
Fortpflanzungsfunktion ist noch aufgeschoben, und der Trieb erhält
erst allmählich seine definitive Richtung. Wie Freud darlegt, ist die
infantile Libido objektlos, „autoerotisch“. Sie strebt nach Lustgewinnung
durch Reizung gewisser Körperstellen, welche als erogene Zonen
dienen. Doch werden nicht alle sexuellen Energien in der Vorpubertäts-.
zeit zur autoerotischen Lustgewinnung verbraucht; zu einem wesent-
lichen Teil werden sie aus dem Bewußtsein verdrängt, um nicht mehr
sexuelle Verwendung zu finden, sondern um wichtige soziale Funktionen
zu übernehmen. Die „Verdrängung“ ist ein von Freud
eingeführter Begriff, der zum Verständnis vieler — normaler und krank-
hafter — psychologischer Vorgänge nicht entbehrt werden kann. Die
Ablenkung‘verdrängter sexueller Vorstellungen und Gefühle auf soziale
Ziele bezeichnen wir mit Freud als Sublimierung. Durch diesen
Prozeß werden bei beiden Geschlechtern die Schranken des Geschlechts-
triebes errichtet. 3
Mit dem Eintritt der Reifung gewinnt der Knabe wie das Mädchen
die ausgesprochenen körperlichen und physischen Charaktere seines
Geschlechtes. Auf psychosexuellem Gebiet findet der wichtige Prozeß
der Objektfindung statt. Die Libido richtet sich nun auf das
andere Geschlecht. Aber nicht nur in dieser Hinsicht differenzieren
sich männliche und weibliche Libido; uns interessiert hier namentlich
noch eine Differenz. Die weibliche Sexualität zeigt größere Neigung
zur Verdrängung, zur Bildung von Widerständen, Die infantile Sexual-
verdrängung erfährt beim Weibe in der Pubertät, gleichsam durch
einen neuen Schub, eine mächtige Verstärkung. Daraus resultiert der
mehr passive Sexualtrieb des Weibes. Die männliche Libido ist mehr
aktiver Natur. Sie überwindet die psychischen Widerstände, denen sie
beim Sexualobjekt begegnet, vermöge ihrer aggressiven Komponente.
Zwei Ausdrücke der deutschen Sprache charakterisieren den psycho-
sexuellen Unterschied der Geschlechter: der Mann erobert, das Weib
gibt sich. hin.
Die alkoholischen Getränke wirken auf den Geschlechtstrieb,
indem sie vorhandene Widerstände aufheben und die sexuelle Aktivität
erhöhen. Das sind allbekannte Erfahrungen; aber man pflegt auf ihr
eigentliches Wesen nicht einzugehen.
Je länger die Forschung sich mit dem sexuellen Problem befaßt,
desto mehr zeigt sich die Kompliziertheit des Geschlechtstriebes. Er
umfaßt neben der „normalen“ heterosexuellen Liebe eine Reihe von
„perversen“ Regungen. Der Sexualtrieb des Kindes zeigt uns das bunte
38
Chaos dieser Triebe; er ist „polymorph-pervers“ (Freud). Nur allmäh-
lich ordnen sich die „Partialtriebe“ dem einen, heterosexuellen, unter.
Sie verfallen der Verdrängung und Sublimierung. Aus ihnen entstehen
Scham und Ekel, moralische, ästhetische und soziale Gefühle, Mitleid
und Grauen, die Pietät des Kindes gegen die Eltern, die fürsorgende
Liebe der Eltern für das Kind. Künstlerische und wissenschaftliche
Tätigkeit beruhen zu einem wichtigen Teil auf der Sublimierung sexu-
eller Energient. Auf diesen Produkten der Sublimierung
beruht unser soziales Leben, unsere gesamte Kultur.
Unter ihnen ist keines, das nicht durch die Wirkung
des Alkohols beeinträchtigt oder aufgehoben würde.
Beim normalen Individuum verfällt die homosexuelle Komponente
des Sexualtriebes der Sublimierung. Die Gefühle der Harmonie und
Freundschaft unter Männern sind alles Bewußt-Sexuellen ‘ entkleidet.
Der gesund empfindende Mann hat einen Widerwillen gegen jede zärt-
liche Berührung mit Männern. Eine Reihe ähnlicher, aus der gleichen
Quelle stammender Regungen des Widerwillens oder Ekels ließe sich
hier anführen. Der Alkohol hebt sie auf. Beim Trinken falleı Männer
einander um den Hals und küssen sich. Trinkende Männer fühlen sich
durch besonders innige Bande vereinigt, sind darob zu Tränen gerührt
und sind schnell mit dem intimen „Du“ bei der Hand. Im nüchternen
Zustande nennen die gleichen Männer ein solches Gebaren „weibisch“.
Ereignisse der jüngsten Zeit gaben den Anlaß, daß man viel von
„abnormer Männerfreundschaft“ hörte. Die Gefühlsäußerungen, die da
als etwas Krankhaftes oder Unmoralisches gebrandmarkt wurden, kann
jeder Sehende bei jedem Trinkgelage beobachten. Durch jede Kneipe
geht ein Zug von Homosexualität. Die gleichgeschlechtliche Kompo-
nente, die wir unter den Einflüssen der Erziehung verdrängen und
sublimieren gelernt haben, kommt unter der Wirkung des Alkohols
unverkennbar wieder zum Vorschein.
Ein Paar von Partialtrieben, dessen Bedeutung erst von Freud
richtig eingeschätzt worden ist, wird durch die sexuelle Schau- und
Exhibitionslust repräsentiert. Mit ihnen steht die sexuelle Wißbegierde
in engem Zusammenhang. Die Sublimierung dieser Triebe erzeugt das
Schamgefühl. Das Kind kennt in seinen ersten Lebensjahren kein Scham-
gefühl; es muß das „Genieren“ erst lernen. Erfolgt die Sublimierung
nicht, so entsteht eine Perversion (Voyeurs, Exhibitionisten). Das Scham-
gefühl erstreckt sich nun nicht nur auf die körperliche Entblößung, sondern
richtet für den gesellschaftlichen Umgang, für die Konversation usw.
1 Vergl. Freud, drei Abhandlungen, und Rank, „Der Künstler, Ansätze zu einer
Sexualpsychologie“, Wien und Leipzig 1907.
39
wichtige Schranken auf. Gerade diese fallen dem Alkohol zum Opfer.
Untrennbar vom Alkoholgenuß ist der öbszöne Witz, der nach Freuds!
ausgezeichneter Analyse eine psychische Entblößung darstellt. Forel?
hat mit Meisterhand geschildert, wie unter der Wirkung des Alkohols
der „Flirt“ rohe, widerwärtige Formen annimmt.
Ein anderes, ebenfalls im Verhältnis von Aktivität und Passivität
stehendes Paar von Partialtrieben drängt nach der Herrschaft über das
Sexualobjekt, resp. nach Unterwerfung unter dessen Willen. Durch
Sublimierung dieser Tendenzen entstehen die Gefühle des Mitleids, des
Grauens usw. Bleibt die Sublimierung aus, so haben wir die als Sadis-
mus, resp. Masochismus bezeichneten Perversionen vor uns. Daß zahl-
reiche Roheitsdelikte im Alkoholrausch ausgeführt werden, bedarf kaum
der Erwähnung. Die verdrängten Partialtriebe brauchen sich jedoch
nicht in dieser krassen Form zu äußern. Auch in mehr larvierter Form
erkennen wir sie wieder. Seit Urzeiten kennt man Trinksitten und
-gesetze ; der Trinkkönig bei einem Gelage ist unumschränkter Herrscher.
Ich erinnere an den noch heute gebräuchlichen, studentischen „Komment“
mit seinem rigorosen Trinkzwang, an das stolze Vergnügen, mit
welchem der ältere Student den jüngeren zum Trinken zwingt, und
an die blinde Unterwerfung des letzteren unter das Kommando. Ich
weiß, daß ich mit dieser Auffassung der Gebräuche auf Widerspruch
stoße; ich weise deshalb noch darauf hin, daß die studentischen
Trinksitten sich aus einem Treiben von unglaublicher Roheit ganz
allmählich zu den heutigen, zivilisierteren Formen entwickelt haben,
Noch eine wichtige Schranke des Sexualtriebes müssen wir
erwähnen. Das normale heranwachsende Kind überträgt seine Libido
zuerst auf die andersgeschlechtlichenPersonen seiner nächsten Umgebung:
der Knabe auf Mutter und Schwester, das Mädchen auf Vater und
Bruder. Einer langen kulturhistorischen Entwicklung bedurite es, bis
die nächsten Blutsverwandten von der Objektwahl ausgeschlossen
wurden. Die Verwerfung des Inzestes führte zur Sublimierung der
Elternliebe; die Liebe des Kindes wurde zur pietätvollen Verehrung
der Eltern. Jedes Kind muß diese Entwicklung wiederholen; es über-
trägt zu einer gewissen Zeit seine erwachenden sexuellen Wünsche
auf den andersgeschlechtlichen Teil der Eltern. Diese Regungen werden
verdrängt, wie denn unsere Moral auch eine nicht sublimierte Neigung
des Vaters zur Tochter verwirft. Auch diese Sublimierungen verschont
der Alkohol nicht. Schon Lots Töchter wußten, daß der Alkohol die
! Freud, Der Witz und seine Beziehungen zum Unbewußten. Wien und
Leipzig 1905.
® Forel, Die sexuelle Frage,
40
Inzestschranke niederreißt; sie erreichten ihr Ziel, indem sie ihrem
Vater zu trinken gaben.
Man liest gewöhnlich, daß der Alkohol psychische Hemmungen
beseitigt. Wir haben jetzt das Wesen dieser Hemmungen kennen
gelernt: sie sind die Produkte der Sublimierung sexueller Energien.
Während nun verdrängte sexuelle Regungen wieder auftauchen,
wird zugleich die dem Manne normalerweise eigne sexuelle Aktivität
erhöht, woraus ein Gefühl gesteigerter sexueller Leistungsfähigkeit
resultiert. Der Alkohol wirkt als Reiz auf den „Komplex“ der Männ-
lichkeit!. Der Stolz des Männchens ist uns aus vielen Beispielen des
Tierreichs bekannt. Mutatis mutandis begegnen wir den gleichen
Erscheinungen beim Menschen. Der Mann fühlt sich stolz als der
Zeugende, Gebende; das Weib „empfängt“. Wie tief dieser Größen-
komplex im Manne wurzelt, das beleuchtet in überraschender Weise
die Analyse der Schöpfungsmythen. In einer demnächst erscheinenden
Schrift? werde ich den ausführlichen Nachweis erbringen, daß die
Schöpfungssagen der verschiedenen Völker ursprünglich eine
Vergötterung der männlichen Zeugungskraft darstellen, daß sie also die
letztere als Prinzip alles Lebens proklamieren. Männliche Zeugungs-
kraft und göttliche Schöpferkraft werden im Mythus identifiziert und
eine an Stelle der andern gebraucht. Wir stoßen hier auf einen psycho-
logischen Vorgang von außerordentlicher Wichtigkeit. Wir können
seine Wirkungen in allen Gebilden der menschlichen Phantasie erkennen,
seien es nun Werke der Individual- oder der Massenphantasie, seien sie
normaler oder krankhafter Natur. Wir bezeichnen ihnalsIdentifikation.
Eine Frage, die von jeher die Menschen beschäftigen mußte, die
wir aber auch heute noch nicht in befriedigender Weise zu beantworten
vermögen, ist das Zustandekommen der „sexuellen Erregung“. Die
Annahme, daß die Erregung beim Manne vom Samen ausgehe, lag
sehr nahe. Die naive Vorstellung des Volkes identifiziert nun das
berauschende Getränk, weil es sexuell erregt, mit dem Samen oder
mit dem sonstigen unbekannten Etwas, das (bei Abwesenheit künstlicher
Reizmittel) die sexuelle Erregung hervorruft. Diese populäre Theorie
findet in der Bezeichnung „Liebesrausch“ ihren Ausdruck.
i Mit dem abgekürzten Ausdruck „Komplex“ bezeichne ich (nach dem Muster
der psychologischen Arbeiten aus der Züricher psychiatrischen Klinik) einen Komplex
von Vorstellungen nebst den ihnen anhaftenden Gefühlen, der unter gewissen Ver-
hältnissen ins Unbewußte verdrängt wird, unter veränderten Verhältnissen sich aber
wieder ins Bewußtsein eindrängen kann.
2 „Traum und Mythus.“ In: „Schriften zur angewandten Seelenkunde‘,
Heft 4.
Al
Die Wirkungssphäre gerade dieser Identifikation ist besonders
groß. Durch die indogermanische Mythologie ziehen sich Erzählungen
vom Göttertrank und von seiner Entstehung. Dieser Trank, den
man sich belebend und begeisternd vorstellt, wird mit den berauschenden
Getränken der Menschen identifiziert. Die Identifikation geht aber
noch weiter. An der Hand der alten indischen Mythen führe ich in der
erwähnten Schrift den Nachweis, daß der Göttertrank dem menschlichen
Samen gleichgestellt wird. Die lebenspendende Wirkung des Samens
hat die Veranlassung dazu gegeben. Es ist bemerkenswert, daß die
Sagen von der Zeugung (Erschaffung) des ersten Menschen (Prometheus-
Sage u.a.) mit den Sagen vom Göttertrank in den denkbar engsten
Beziehungen stehen. Es ist an dieser Stelle nicht möglich, auf die
psychologische Analyse der genannten Mythen genauer einzugehen.
Erwähnt sei nur, daß die griechischen Sagen von der Geburt des
Weingottes Dionysos dieselbe Identifikation erkennen lassen.
In der gesamten Sagenwelt spielen die Liebestränke eine
große Rolle. Ihre erotische Wirkung ist zweifellos von den alkoho-
lischen Getränken entlehnt. Rauschwirkung und sexuelle Erregung
werden auch hier identifiziert. Dem gleichen Gedankengange begegnen
wir in zahllosen Gebräuchen. Die dem Gotte des Weines gewidmeten
Feste sind stets zu gleicher Zeit erotische Feste. In vielen Gebräuchen
ist der Wein das Symbol der Zeugung oder Befruchtung. In einem
von Riklin! erwähnten Gebrauch ist die symbolische Vertretung
des Samens durch den Wein ganz durchsichtig: in einer bestimmten
Gegend ist es üblich, beim Frühlingsfest den Mädchen Wein in den
Schoß zu gießen. Ein allgemeiner Gebrauch ist das Zutrinken. Hier
vertritt das alkoholische Getränk wegen seiner erregenden Wirkung
die Lebenskraft. Trinkt man auf das Wohl eines andern, so heißt das:
die im Wein enthaltene belebende Wirkung solle ihm zugute kommen.
Die uns interessierende Identifikation muß überaus fest begründet
sein. Der Respekt vor Trinkleistungen und derjenige vor sexuellen
Leistungen sind fest miteinander verbunden. Wer nicht trinkt, gilt als
Schwächling. Der Alkoholgenuß des Mannes beginnt in der Pubertäts-
zeit, also dann, wenn man als Mann gelten möchte. Wer nicht mit-
trinkt, gilt bei seinen Altersgenossen nicht als reif. Das Renommieren
mit Trinkleistungen ist in keinem Lebensalter so ausgeprägt, wie in
der Zeit der beginnenden Männlichkeit. Erlischt in späteren Jahren
die Potenz, so greift der Mann gern zum Lustbringer Alkohol, der
ihm nun zum Surrogat der schwindenden Zeugungskraft wird.
1 Riklin, Wunscherfüllung und Symbolik im Märchen. Schriften zur angew.
Seelenkunde. Heft 2. Wien und Leipzig 1908.
42
Der Mann hängt am Alkohol, weil dieser ihm ein erhöhtes
Gefühl der Männlichkeit verleiht, seinem Männlichkeitskomplex
schmeichelt. Das Weib erhält durch seine psychosexuelle Konstitution
weit weniger Anlaß zum Alkoholgenuß. Die Aktivität des weiblichen
Geschlechtstriebes ist geringer, die Widerstände gegen die Regungen
des Triebes sind größer. Wir führten dieses abweichende Verhalten
auf den Verdrängungsschub der Pubertät zurück. Durch seine
psychischen Widerstände reizt das Weib den Mann, wie ihm selbst am
Manne energische Initiative gefällt. Das Mädchen hat keinen Anlaß,
sich in der Pubertät dem Alkohol zuzuwenden. Dieser hebt ja die
Verdrängungswirkungen, die Widerstände auf. Gibt das Weib sie preis,
so verliert es an Reiz für den Mann. Weibliche Personen, die eine
starke Neigung zum Alkohol zeigen, dürften bei genauer Beobachtung
stets eine starke homosexuelle Komponente aufweisen.
“ Der Alkohol ruft seine Wirkungen — Erleichterung der Sexual-
übertragung und Aufhebung der Verdrängungswirkungen — nicht nur
vorübergehend hervor, sondern bekanntermaßen auch chronisch. Chro-
/ nische Trinker zeigen einen charakteristischen Gefühlsüberschwang,
sind plump vertraulich, sehen jedermann als alten Freund an und
zeigen eine unmännliche Rührseligkeit. Sie büßen das Schamgefühl
ein; was für Szenen die Kinder eines Trinkers ansehen müssen,
braucht hier nicht ausgeführt zu werden. Kurz, jedes der feineren
Gefühle, die der Sublimierung ihre Entstehung verdanken, wird
vernichtet.
Es sind nicht die Sublimierungen des Sexualtriebes allein, welche
beim Trinker zugrunde gehen. Schon der akute Alkoholrausch setzt
ja die sexuelle Leistungsfähigkeit in Wirklichkeit herab. Wir kennen
des weiteren die Giftwirkung des Alkohols auf die Keimzellen
(Blastophthorie)?. Wir wissen, daß ein großer Teil der Trinker impotent
wird. Der Alkohol hat sie betrogen. Sie glaubten ihm, daß er ihre
Männlichkeit erhöhe, weil er ihnen ein sexuelles Kraftgefühl gab. Statt
dessen raubte er ihnen die Kraft; sie aber bemerken den Betrug auch
jetzt nicht. Sie lassen nicht vom Alkohol, identifizieren ihn auch weiter
mit ihrer Sexualität und gebrauchen ihn als Surrogat der letzteren.
Ich erblicke hierin eine Analogie zu gewissen sexuellen Perversionen,
bei welchen ein sexueller Reiz, der normalerweise als Einleitung
des sexuellen Aktes dienen könnte, an Stelle des letzteren gesetzt
wird. Freud bezeichnet dies als „Fixierung eines vorläufigen Sexual-
ziels“. Beispielsweise bildet das Beschauen des Sexualobjekts unter
2 Vgl. Forel und Juliusburger, Über Blastophthorie in Zeitschrift für
Sex, Wiss. I, 1908, p 346.
43
normalen Verhältnissen nur eine Quelle der Vorlust, während erst der
sexuelle Akt selbst die Befriedigungslust herbeiführt. Gewisse Perverse
begnügen sich dagegen mit dem Betrachten allein. Ganz analog
verhält sich der Alkoholiker. Der Alkohol wirkt sexuell erregend;, dieser
Erregung jagt der Trinker nach und büßt dabei die Fähigkeit zur
normalen Sexualbetätigung ein. \
Zwischen Akolholismus und sexueller Perversion können wir
noch weitere Analogien auffinden. Durch Freuds Forschungen haben
wir die intimen Beziehungen zwischen Perversion und Neurose kennen
gelernt. Freud! hat erwiesen, daß viele Symptome der Neurosen
den Ausdruck verdrängter pervers-sexueller Phantasien und somit eine
Art von Sexualbetätigung des Patienten bilden. Dem Versuch einer
psychologischen Analyse seiner Symptome setzt der Patient stets einen
außerordentlichen Widerstand entgegen, der sich aus der Verdrängung
sexueller Komplexe erklätt. Beim Versuch der psycho-analystischen
Auflösung der Krankheitserscheinungen tönt dem Arzt immer nur ein
Nein entgegen, und wenn seine Frage noch so begründet ist. Statt
der wirklichen Ursachen bringt der Patient Deckmotive vor. Auch der
Alkoholiker negiert bis aufs Blut Tatsachen, welche gar nicht bestritten
werden können. Er hat für seinen Alkolholismus Deckmotive in reicher
Auswahl. Jeden Versuch ernstlichen Eingehens wehrt er ab. Der
Neurotische wehrt sich für seine Symptome, weil sie ihm seine Sexual-
betätigung sind. Aus demselben Grunde — so glaube ich schließen
zu müssen — wehrt der Trinker sich für seinen Alkoholismus.
Noch ein Gesichtspunkt scheint mir der Erwähnung wert. Unter
den krankhaften Veränderungen des Vorstellungslebens der Alkoholiker
spielen solche von unbestreitbar sexuellem Inhalt eine auffallende Rolle.
Ich meine die bekannte Eifersucht der Trinker, die sich bis zum Wahne
steigert. Auf Grund vieler Erfahrungen, die ich hier nicht im Detail
anführen kann, sehe ich als Ursache der Eifersucht des Alkoholikers
das Gefühl abnehmender Potenz an. Der Trinker benutzt den Alkohol
als Quelle müheloser Lustgewinnung; er wendet sich vom Weibe ab
dem Alkohol zu. Dieser Tatbestand ist seinem Selbstbewußtsein im
höchsten Grade peinlich; er verdrängt ihn, ganz wie der Neurotiker
es tut, und nimmt zugleich eine Verschiebung vor, wie wir sie im
Mechanismus der Neurosen und Psychosen zu finden gewohnt sind. Er
verschiebt sein Schuldgefühl als Anklage auf die Frau: sie istihm untreu.
Zwischen Alkoholismus, Sexualität und Neurose bestehen also
1 Freud, Hysterische Phantasien und ihre Beziehung zur Bisexualität,
Zeitschrift für Sex. Wiss. I, 1908; abgedruckt in Sammlung kleiner Schriften
zur Neurosenlehre, II. Folge.
44
mannigfache Beziehungen. Es scheint mir notwendig, das von Freud
ausgebildete psychoanalystische Verfahren, das uns das Eindringen
in die Struktur der Neurosen ermöglicht, auch zur Analyse des
Alkoholismus nutzbar zu machen. Aus mündlichen Mitteilungen von
Kollegen weiß ich, daß in Fällen von Morphinismus die Psychoanalyse
überraschende Beziehungen zwischen Sexualität und Mißbrauch des
Narcoticums ergeben haben. Ich erwähne hier auch das so rätselhafte
Verhalten vieler nervöser Personen gegenüber den Narcotica. Hysterische
bitten den Arzt oft, ihnen nur ja kein Morphium oder Opium zu
verordnen, da sie es nicht vertrügen; sie erzählen dann von unan-
genehmen, früheren Erfahrungen. Aller Anschein spricht dafür, daß
jene Mittel bei gewissefi Fysterischen eine sexuelle Erregung hervor-
tufen ; diese wird infolge der eigentümlichen psychosexuellen Konstitution
der Hysterischen in körperliche Symptome und Angstgefühle konvertiert.
Vielleicht hat die bei Nervösen so häufige Intoleranz gegen Alkohol
eine ähnliche Wurzel. Endlich will ich einer merkwürdigen Erfahrung
gedenken, die ich wiederholt bei Geisteskranken gemacht habe. Wenn
man den Kranken ein narkotisches Mittel unter die Haut einspritzte,
so faßten sie dies als eine sexuelle Vergewaltigung auf. Sie deuteten
Injektionsspritze und Flüssigkeit symbolisch um.
Wie man sieht, bietet die psychologische Erforschung des
Alkoholismus noch genügend ungelöste Probleme. Äußere Einwirkungen,
wie soziale Einflüsse, Erziehungsfehler, erbliche Belastung usw., genügen
allein nicht zur Erklärung der Trunksucht. Ein individuelles Moment
muß hinzukommen. Dieses zu erforschen ist die nächste Aufgabe. Sie
erscheint mir nur dann lösbar, wenn man sich die Zusammenhänge
zwischen Alkoholismus und Sexualität stets vor Augen hält,
Die Stellung der Verwandtenehe in der
Psychologie der Neurosen!'.
Die Anschauung, daß die Ehe unter Blutsverwandten auf die
Nachkommenschaft einen nachteiligen Einfluß ausübe, ist sehr alt.
Besonders daß die Konsanguinität der Eltern den Grund zu den
verschiedenartigsten Nerven- und Geisteskrankheiten lege,
wird in der medizinischen Literatur wie auch im Volksglauben allgemein
angenommen. Daß in vielen Familien Inzucht und nervöse oder psych-
ische Störungen zusammentreffen, kann keinem Zweifel unterliegen.
Daraus folgt aber nicht ohne weiteres, daß beide Erscheinungen in
dem einfachen Verhältnis von Ursache und Wirkung zueinander stehen
müssen. Es fragt sich vielmehr, ob das Vorkommen von Verwandten-
ehen in gewissen Familien nicht seinerseits eine spezifische Ursache
hat, ob nicht gerade in neuropathischen Familien eine eigentümliche
Veranlagung dazu drängt, daß die Familienmitglieder untereinander
heiraten. Versucht man, die Verwandtenehe als psychopathologisches
Phänomen zu betrachten, so bemerkt man, daß sie sich als solches
von einer Reihe anderer Phänomene nicht sondern läßt, mit welchen
sie bestimmte psychologische Wurzeln gemein hat.
Die Ansichten über die Psychologie der Verwandtenehe, die ich
im folgenden mitteile, erheben keinen Anspruch auf allgemeine Gültig-
keit. Natürlich kann eine Ehe unter Blutsverwandten ebenso wie eine
andere aus rein praktischen Gründen geschlossen werden. Oder äußere
Gründe, wie z. B. das Abgeschlossensein vom allgemeinen Verkehr,
lassen eine Verbindung mit fremden Familien nicht zustande kommen.
Auch dürfte nach Rassen und gesellschaftlichen Schichten die Neigung
zur Inzucht verschieden groß sein. Für diejenigen Fälle aber, in
welchen Verwandte nur durch individuelle Sympathie zusammengeführt
werden, nehme ich an, daß die Fähigkeit, die Liebesneigungen auf
fremde Personen zu übertragen, unzureichend ist, während die
1 Mit Benutzung eines Vortrages (Sitzung der Berliner Gesellschaft für Psych-
iatrie und Nervenkrankheiten am 9. November 1908). Zuerst veröffentlicht im „Jahr-
buch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen“, I. Band, 1909.
46
Zuneigung zu Mitgliedern der eigenen Familie das normale Maß
übersteigt.
Ein solches Verhalten läßt sich von den Eigentümlichkeiten der
Sexualität bei den Neurotikern herleiten. Abweichungen von der Norm
treten bei ihnen ja schon in der Kindheit hervor. Neuropathische
Kinder zeigen schon früh ein übermäßiges erotisches Verlangen. Das
übertriebene Liebesbedürfnis der neuropathischen Kinder bedeutet
freilich nur eine Steigerung der normalen Verhältnisse!, Auch das
normale Kind überträgt seine Neigung naturgemäß zuerst auf die
Personen, mit welchen es ständig zusammenlebt. Daß es sich hier um
eine Äußerung der Sexualität handelt, kann schon deshalb keinem
Zweifel unterliegen, weil’ sich die Zuneigung des Knaben vorzugs-
weise auf Mutter oder Schwester, die des Mädchens auf Vater oder
Bruder richtet 2. In der zweiten Kindheitsperiode lassen die Äußerungen
dieser Liebe oft auch keinen Zweifel an ihrer Natur aufkommen.
Neurotische Kinder zeigen mit Bezug auf die geliebte Person eine starke
Eifersucht, verlangen sie allein zu besitzen und sehen in den übrigen
Familienangehörigen nur Rivalen, ganz nach Art verliebter Erwach-
sener. Es sei übrigens bemerkt, daß neurotische Kinder in dieser ihrer
Eigenart oft noch von den Eltern bestärkt werden, indem diese die
Kinder verzärteln, ihre Ansprüche auf Liebesbeweise steigern und
gelegentlich wohl auch vorzeitig geschlechtliche Sensationen bei
ihnen hervorrufen.
Unter normalen Verhältnissen verfällt die infantile Sexualüber-
tragung auf den andersgeschlechtlichen Teil der Eltern (resp. auf
Geschwister des anderen Geschlechtes) der Sublimierung, d. h. der
Umwandlung in Gefühle der Verehrung, der Pietät usw. Durch diesen |
Prozeß wird, wie Freud ausgeführt hat, die Liebe zu Eltern und |
Geschwistern des Bewußt-Sexuellen entkleidet. Nur in gewissen Träumen
lebt die infantile Inzestphantasie fort ®.
Die Pubertät mit ihren psychischen Umwälzungen führt eine je
nach der Individualität verschieden weitgehende Ablösung des Kindes
1 Vgl. Freud, Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, 1905.
2 Unter den Autoren, welche die Anschauungen Freuds im allgemeinen
ablehnen, verweist Oppenheim (Lehrbuch der Nervenkrankheiten, 5. Auflage,
Seite 1256) auf die besondere Zärtlichkeit, die überschwengliche Liebe der hyste-
rischen Kinder; er erblickt in diesen Erscheinungen jedoch keine Äußerungen der
kindlichen Sexualität (Vgl. den Sitzungsbericht der Berliner Gesellschaft für Psych-
iatrie und Nervenkrankheiten vom 9. November 1908 im Neurolog. Zbl. 1908,
Heft 23).
3 Bezüglich des „Ödipusmotivs“ im Traume vgl. besonders Freud, Die Traum-
deutung, 2. Auflage, 1909, Seite 185. .
47
von der elterlichen Autorität herbei. Die Libido wird frei, um auf
fremde Personen des anderen Geschlechtes übertragen zu werden;
die. Personen der nächsten Familie sind fortan von der Objektwahl
ausgeschlossen. Im Unbewußten bleibt freilich der verdrängten infan-
tilen Neigung ein wichtiger Einfluß erhalten. Vielfach läßt sich z. B.
deutlich erkennen, :daß der Mann durch solche weibliche Personen
angezogen wird, bei welchen er Eigenschaften seiner Mutter (oder
Schwester) wiederfindet.
Bei neuropathischen Individuen ist der Ablauf dieses wichtigen
Entwicklungsvorganges gestört. Die abnorme Stärke der infantilen
Sexualübertragung hindert die vollkommene Verdrängung der Inzest-
phantasie. Sie erschwert ferner die Ablösung von der elterlichen Autorität.
Bei vielen Neurotischen bleibt daher eine kindliche Unselbständigkeit
bestehen. Bleibt derSohn nun in der Pubertät unter dem ungeschmälerten
Einfluß der Eltern, bleibt seine Libido auf das infantile Sexualobjekt
übertragen, so entstehen daraus für ihn doppelte Folgen. Erstens wird
ihm die normale Übertragung auf fremde weibliche Personen zeitlebens
erschwert, ja auf Jahre hinaus unmöglich gemacht, zweitens wird die
Neigung zu einer so nahen Angehörigen von der herrschenden Moral
verworien. So kommt es zur Triebunterdrückung. Der neuro-
tisch Veranlagte schwankt ja stets hin und her zwischen der abnormen
Stärke seiner Libido und seiner Tendenz zur Triebverdrängung. Hier -
bietet sich ihm der Anlaß zu einer weitgehenden Unterdrückung seiner
Triebe. Als Paradigmen dieses Vorganges nenne ich die Mustersöhne
und -töchter, denen wir gerade in neuropathischen Familien begegnen;
ihre Liebe zu den Eltern bewahrt auch nach der Pubertät den infan-
tilen Charakter !.
Aus dieser eigentümlichen psychosexuellen Entwicklung können
für den Neurotischen sehr verschiedenartige praktische Konsequenzen
hervorgehen. In der Reihe dieser Möglichkeiten nimmt auch die uns
besonders interessierende Erscheinung, die Verwandtenehe, ihren Platz
ein. Wenn ich die der Verwandtenehe psychogenetisch nahestehenden
Erscheinungen aufzähle, so muß ich mit derjenigen beginnen, die
streng genommen nicht hierher gehört, nämlich mit dem wirklichen
Inzest. Kommt es tatsächlich zum inzestuösen Verkehr, so fehlt ja
die Triebunterdrückung. Ein kurzer Hinweis scheint mir aber gerecht-
fertigt. Einmal erfährt man aus der Anamnese nervöser Personen nicht
selten, daß in der Kindheit zwischen den Geschwistern sexuelle Hand-
lungen vorgekommen sind. Sehr bemerkenswert ist aber die starke
! Vgl. hierzu Freud, „Die kulturelle Sexualmoral“ usw. in der Zeitschrift
„Sexualprobleme“, 1908, Seite 123,
48
Neigung zum Inzest unter den an Dementia praecox leidenden Geistes-
kranken. Ich verfüge über eine Anzahl einwandfreier Beobachtungen
dieser Art, die sich auf das Zusammenleben geisteskranker Geschwister
(resp. von Vater und Tochter) beziehen.
Ich gehe auf die Frage des wirklichen Inzestes nicht näher ein,
sondern wende mich zu den neuropathischen Personen, deren Neigung
im Unbewußten an das infantile Sexualobjekt fixiert bleibt und denen
deshalb die Applikation an fremde Personen des andern Geschlechtes
erschwert ist. Dem Manne stehen zunächst zwei Möglichkeiten offen:
er bleibt unverehelicht oder er heiratet eine Bluts-
verwandtet. Die Betrachtung dieser beiden Fälle läßt sich nicht
trennen, weil sie überraschend oft in der gleichen Familie zusammen-
treffen. Familien, in denen sich die Verwandtenehen häufen, pflegen
auch viele ehelose Personen aufzuweisen? Ich erwähne z. B. eine
Familie, in welcher während mehrerer Generationen Verwandtenehen
vorkamen. In einer Generation blieben die meisten Geschwister ledig
und von den zwei Brüdern, welche heirateten, wählte einer eine
Verwandte,
Offenbar liegt in solchen Familien eine verminderte sexuelle
Aktivität vor. Die Wahl einer Verwandten erfordert geringere Initiative;
man ist der Schwierigkeit enthoben, einer Fremden näherzutreten. Ein
Mädchen aus der Verwandtschaft kennt man entweder von Jugend
auf oder die Bekanntschaft wird doch sehr erleichtert. Wichtiger aber
erscheint mir noch, daß man bei einer Verwandten am leichtesten
gewisse Eigenschaften wiederfindet, die man bei Mutter oder Schwester
besonders liebte. So wird namentlich die Cousine zum Ersatze der
Schwester. Mir sind zwei Fälle bekannt, in welchen der Mann seine
Cousine heiratete, weil er der festen Überzeugung war, daß er keine
andere, als eine Verwandte wählen könne. Der eine dieser beiden
Herren, der wegen nervöser Beschwerden in meiner Behandlung stand,
war zu Studienzwecken ins Ausland gegangen und besuchte dort
Verwandte, die er vorher nie gesehen hatte. Während er sonst eine
sehr spröde Natur war, verliebte er sich sofort in seine Cousine und
heiratete sie.
Ein Teil der Männer mit solcher Veranlagung heiratet erst sehr
spät. In solchen Fällen trifft die Wahl mit Vorliebe auf eine Nichte,
Ich habe eine kleine Anzahl solcher Ehen eruiert. Sie haben unter
eineinder eine merkwürdige Ähnlichkeit, indem. stets der Mann völlig
1 Ich spreche hier vorwiegend vom Marne, weil er häufiger der Wählende ist.
2 Diese Beobachtung wurde mir u. a. auch von Herrn ProfessorOppenheim
aus seiner Erfahrung bestätigt.
49
unter der Herrschaft der Frau steht. Es handelt sich in allen mir
bekannten Fällen um sehr unselbständige Männer, die als der
schwächere Teil in die Ehe eintraten, weil sie auf diese eine Frau
angewiesen waren.
Die Häufung der Verwandtenehen in manchen Familien
spricht natürlich sehr für das Vorhandensein einer eigentümlichen
Veranlagung. Mir sind Familien bekannt, in welchen durch mehrere
Generationen eine merkwürdig konsequente Inzucht getrieben wurde.
In einem Falle z. B. heirateten drei Brüder ihre drei Cousinen, die
untereinander Schwestern waren. Diese Familie leistete an Inzucht
Derartiges, daß ihr Stammbaum kaum entwirrbar ist!,
In manchen Familien tritt die Ehelosigkeit auffallender hervor,
als die Neigung zur Inzucht. Nach den wenigen Erfahrungen, die mir
in dieser Hinsicht zu Gebote stehen, scheint es sich hier um schwer
neuropathische Sonderlinge zu handeln, die sich auch sonst von der
Welt abschließen. Ich erwähne: eine Familie, in welcher sämtliche
acht Brüder unverheiratet blieben. Ob hier noch anderweitige psycho-
sexuelle Abnormitäten im Spiele sind, kann ich leider nicht entscheiden.
Den Neuropathen, welche dauernd ehelos bleiben, steht eine
andere Gruppe nahe, Sie umfaßt solche Individuen, welche außerstande
sind, selbst eine Wahl zu treffen. Interessant ist es nun, daß solche
Männer es vielfach ihrer Mutter oder Schwester überlassen, eine Frau
für sie auszuwählen. Diese Unselbständigkeit zeigt die außerordentliche |
Macht der infantilen Übertragung. Ein berühmtes Beispiel
dieser Art werde ich noch erwähnen.
Es gibt unter den Neuropathen ferner Männer, die zwar außerhalb |
ihrer Familie eine Wahl treffen, aber ihre Liebe auf eine bedeutend ]
ältere weibliche Person richten. Nicht selten gelingt der Nachweis,
daß ein Ersatz für die Mutter gesucht wurde.
Allen diesen Gruppen aber ist eine psychosexuelleEigentümlichkeit 1
gemeinsam, die ich als monogamischen Zu g bezeichnen möchte.
Bei den meisten anderen Männern ist es die Regel, daß die Neigungen j
der Pubertätszeit nicht von Bestand sind, daß vielmehr die |
Neigung sich verschiedenen Personen zuwendet, bevor eine N
endgültige Wahl erfolgt. Es kommt außerdem sehr gewöhnlich zu 1
X Herrn Dr. M. Hirschfeld verdanke ich die sehr interessante Mitteilung, |
daß Männer mit homosexueller Veranlagung häufig ihre Cousinen heiraten. Da bei |
solchen Männern die sexuelle Aktivität gegenüber dem weiblichen Geschlecht minimal |
ist, so ist für sie die Wahl einer Verwandten eine besondere Bequemlichkeit. |
2 Selbstverständlich soll nicht behauptet werden, daß jedem Falle von 4
Ehelosigkeit Ursachen wie die hier geschilderten zugrunde liegen, J
50
intimen Beziehungen, welche wieder gelöst werden. Bei vielen Ange-
hörigen solcher Familien, welche eine Neigung zur Inzucht erkennen
lassen, ist die Entwicklung eine andere. Es fehlt ihnen die polygamische
Neigung. Sie eignen sich nicht zum Flirt, zum raschen Anknüpfen
und zum raschen Wechseln persönlicher Beziehungen. Wie es ihnen
schwer wird, die früheste Fixierung ihrer Libido zu lösen, so ergeht
es ihnen auch späterhin. Übertragen sie ihre Neigung auf eine Person
des anderen Geschlechtes, so pflegt diese Neigung dauernd und
endgültig zu sein. Kommt es bei diesen Personen nicht zur Heirat mit
einer Verwandten, so ist doch die Beschränkung in der Auswahl auch
hier kenntlich. 2
Bis hierher hatten wir es mit Außerungen der neurotischen Libido
zu tun, die man gewöhnlich nicht als krankhaft bezeichnet, obschon
eine Abweichung vom Normaltypus vorliegt. Es gibt nun auf der
gleichen psychologischen Grundlage eine Reihe anderer Erscheinungen,
die unbedingt als pathologisch erscheinen. Für sie ist aber mit Nachdruck
zu betonen, daß an ihrer Entstehung noch andere, ebenso wichtige
psychologische, vielleicht auch somatische Faktoren beteiligt sind.
Hierher gehört beim Manne die psychische Impotenz. Die
abnorme Fixierung der Libido an Mutter oder Schwester, d. h. eine
verdrängte Inzestphantasie, legt den Grund zu diesemKrankheitszustande.
Andere konkurrierende Faktoren treten hinzu. Ich verweise in dieser
Beziehung besonders auf die von Stekel! veröffentlichten Analysen.
Ich habe selbst verschiedene Fälle dieser Art beobachtet, in denen sich
dieser Faktor als sehr bedeutsam herausstellte. Ich erwähne z.B. zwei
Brüder, welche beide an psychischer Impotenz leiden. Beide waren in
einem entschieden abnormen Grade in ihre Schwester verliebt.
Weibliche Personen, die ihre Neigung im Übermaße auf Vater
oder Bruder übertragen haben, sind sehr häufig frigid im der Ehe.
Bei solchen Personen wirkt also ihre infantile Sexualübertragung mit
anderen Faktoren zusammen, um sie im späteren Leben zu einer
erfolgreichen Übertragung unfähig zu machen.
Andere Personen bestreben sich, die Inzestphantasien gewaltsam
zu unterdrücken. Während sie ihnen ausweichen, werden sie nun leicht
auf die Bahn homosexueller Neigungen gedrängt. Sie wenden sich
von der Mutter ab dem Vater zu. Auch hier fehlt es nie an anderen
Ursachen, die in der gleichen Richtung wirken. Ich möchte hier auf
die Tatsache verweisen, daß nach den Beobachtungen der erfahrensten
Autoren viele Homosexuelle, die sonst kein Interesse für weibliche
1 Stekel, Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung. Berlin und Wien 1908.
ua
öl
Personen zeigen, mit einer vergeistigten, sublimierten Liebe an ihrer
Mutter hängen!.
Bei ausgesprochener Neurose bestehen noch weitere Ausdrucks-
möglichkeiten für die uns beschäftigenden sexuellen Infantilismen, auf
die ich kurz hinweisen will. Nicht selten drücken hysterische
Symptome den Wunsch des Patienten aus, sich mit einer bestimmten,
geliebten Person zu identifizieren. Ein Patient, den ich wegen
psychischer Impotenz behandle und bei dem eine abnorme Verliebtheit
in die Mutter deutlich hervortritt, kopiert z. B. diese in einer Anzahl
von Symptomen?.
Bei chronischen, in das Gebiet der Dementia praecox gehörenden
Geisteskrankheiten sind mir besonders zwei Arten aufgefallen, in denen
die infantile Inzestphantasie zum Ausdruck kommt. Ein Teil der
Kranken bildet einen Wahn, der die Vereinigung mit der in der
Kindheit geliebten Person als vollzogen darstellt. Ich erwähne kurz ein
Beispiel aus einer meiner früheren Publikationen’: Bei dem Patienten
stand im Mittelpunkte seiner Wahnbildungen eine Schwester, die er
in seinem zehnten Lebensjahre durch den Tod verloren hatte. Sie
erschien auch beständig in seinen Halluzinationen. Einmal fand ich
den Patienten ganz einer Vision hingegeben. Er sah — so teilte er
mir mit — wie ein sehr schöner Jüngling in den Besitz einer schönen
Jungfrau zu gelangen suchte. Es waren Apollo und Diana. Die Diana
trug die Züge der verstorbenen Schwester des Patienten, Apollo glich
dem Patienten selbst. Apollo und Diana sind ja im Mythus Geschwister.
So sprach sich die infantile Fixierung der Libido noch in den
Halluzinationen des Erwachsenen aus.
Eine andere Möglichkeit bei der Dementia praecox ist das Um-
schlagen der übermäßigen Übertragung in Negativismus und Ver-
folgungswahn gegen die früher geliebte Person. Ich habe diesen Hergang
in einer früheren Arbeit genauer behandelt‘,
Zum Schluß möchte ich ein paar berühmte Beispiele anführen,
die mir sehr zugunsten meiner Ansichten zu sprechen scheinen. Sie
! Zwischen Konsanguinität und Homosexualität dürften noch andere Beziehungen
bestehen. Herr Dr. M. Hirschfeld teilte mir eine wertvolle Beobachtung mit: Der
aus einem Inzest von Vater und Tochter hervorgegangene Sohn ist homosexuell,
® Vgl.hierzu besonders Freud, Bruchstück einer Hysterieanalyse. Monatsschrift
für Psychiatrie und Neurol. 1905, Bd. 18 und neu herausgegeben in seiner „Sammlung
kleiner Schriften zur Neurosenlehre II.“ ;
® Abraham. Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Sympto-
matologie der Dementia praecox. Zentralblatt für Nervenheilkunde. 1907. S. 409 f.
* Abraham. Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia
praecox. Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1908. S. 521 f.
4*
'p 52
| ließen sich gewiß vermehren. Aber auch aus diesen wenigen Beispielen
|| dürfte hervorgehen, daß meine Anschauungen nicht auf künstlichen
j) Deutungsversuchen beruhen.
EN Ein Beispiel für den reellen Inzest ist Lord Byron. Er konnte
sich nie von der Neigung zu seiner Schwester befreien. Seine Ehe mit
if einer Fremden nahm daher einen unglücklichen Ausgang. Der Dichter
1 Konrad Ferdinand Meyer hing mit einer abnormen Verliebtheit
| ; arı seiner Mutter und Schwester!, Er heiratete in vorgeschrittenem.
| Alter ein Mädchen, das seine Schwester für ihn ausgewählt hatte.
Endlich sei Mörike erwähnt, dessen Neigung in außerordentlichem
|: Grade seiner Schwester galt; er ging erst mit 47 Jahren eine Ehe ein.
N Die hergebrachte Lehre, daß die Ehe unter Blutsverwandten
nervöse und psychische Erkrankungen der Nachkommenschaft zur
Folge habe, trägt der Kompliziertheit der Verhältnisse nicht genügend
j Rechnung.
Die eigentümliche psychosexuelle Konstitution, welche nach
I Freud die Grundlage der Neurosen bildet, ist selbst die wichtigste
| Ursache der Verwandtenehe. Letztere wird erst sekundär zum
l belastenden Moment, indem durch sie die bereits vorhandene neu-
N rotische Veranlagung gezüchtet wird. Die Verwandtenehe ist also
II in erster Linie eine Folge neuropathischer Veranlagung und erst
1 sekundär ein die nervöse Disposition steigerndes Moment.
I Die ihr gebührende Stellung kann man der Verwandtenehe unter |
ji! den Phänomenen der Neurosenpsychologie nur dann anweisen, wenn
man sie mit einer Reihe anderer Erscheinungen unter gleichen Gesichts-
punkten betrachtet. In ihrer Gesamtheit zeigen sie, welch außer-
ordentliche Bedeutung den sexuellen Infantilismen im Sell
leben des Erwachsenen zukommt.
|
|
\
\ ı vgl. Sadger, Konrad Ferdinand Meyer. In: Grenzfragen des Nerven-
| und Seelenlebens. Wiesbaden, 1908. In dieser Schrift findet auch die homosexuelle
Komponente Berücksichtigung.
Über .hysterische Traumzustände!.
In einem kürzlich erschienenen Aufsatz „Über traumartige und
verwandte Zustände“ hat Löwenfeld? eigentümliche, bei Neurotikern
auftretende Störungen behandelt, die bisher in der Literatur keine
genügende Würdigung gefunden haben. Zur Orientierung zitiere ich
Löwenfelds allgemeine Beschreibung dieser Zustände.
„Die Außenwelt macht nicht den gewöhnlichen Eindruck, das
wohl Bekannte und täglich Gesehene erscheint verändert, wie unbekannt,
neu, fremdartig, oder die ganze Umgebung macht den Eindruck, als
sei sie ein Phantasieprodukt, ein Schein, eine Vision. In letzterem
Falle besonders ist es den Patienten, als ob sie sich in einem Traum
oder Halbschlaf befänden, hypnotisiert oder somnambul seien, und
sie sprechen dann auch zumeist von ihren Traumzuständen.“ — Der
Autor erwähnt ferner, daß diese Zustände dem Grade nach sehr
verschieden sein können und in der Dauer große Schwankungen
aufweisen, daß sie oft mit dem Affekte der Angst verknüpft sind und
daß sich neben ihnen in der Regel noch andere nervöse Symptome
nachweisen lassen.
Löwenfeld gründet seine Beschreibung auf eine beträchtliche
Anzahl von Krankengeschichten. Ich selbst bin bei einer ganzen Reihe
meiner Patienten, die ich psychoanalytisch behandelte, auf diese
Zustände gestoßen. Da die bisherigen psychoanalytischen Arbeiten
sich mit den Traumzuständen noch nicht beschäftigt haben, so teile
ich meine hauptsächlichsten Resultate mit. Sie bilden eine Ergänzung
derjenigen Aufschlüsse, die uns die Psychoanalyse über das Wesen
der anderen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbilde der
Hysterie gebracht hat.
Ein einfaches Beispiel möge zunächst zeigen, bis zu welchem
Grade wir das Wesen der Traumzustände zu begreifen vermögen,
wenn wir von der Psychoanalyse keinen Gebrauch machen. Die
! Aus „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen‘,
Band II. 1910.
® Zentralblatt für Nervenheilkunde, 1, und 2. Augustheft 1909.
54
Exploration eines Patienten, den ich nur ein einzelnes Mal in der
| allgemein geübten Art explorieren konnte, ergab nach der hier
| interessierenden Richtung folgendes’:
Beobachtung A.
Der in jugendlichem Alter stehende Patient A neigt zu Tag-
träumereien von großer Lebhaftigkeit. Wie er angibt, reizen ihn
namentlich aktuelle Ereignisse zu wachen Träumen. Die Nachricht
von der Entdeckung des Nordpols z.B. gab ihm Anlaß zu der Phantasie,
er wäre an einer großen Expedition beteiligt. Er malte sich diese mit allen
Einzelheiten aus, besonders in bezug auf seine eigene Tätigkeit.
Derartige Phantasien nahmen ihn schon seit längerer Zeit fast ganz
in Anspruch. Er brauchte nur etwa auf der Straße aus der Unterhaltung
Vorübergehender ein Wort wie z. B. „Zeppelin“ aufzufangen und schon
geriet seine Einbildungskraft in die lebhafteste Tätigkeit. Haben nun
diese Träumereien eine große Intensität erreicht, so fühlt Patient sich
mehr und mehr der Wirklichkeit entrückt. Eine traumhafte
Benommenheit kommt über ihn. Dann tritt für eine kurze Zeit eine
„Leere“ im Kopf ein, auf welche rasch ein lebhaftes Schwindel-
gefühl folgt, das sich mit Angst und Herzklopfen verbindet.
Patient bezeichnet den Zustand bis zum Eintreten des Schwindel-
gefühles als lustvoll.
Neben diesen Erscheinungen bestehen nervöses Erbrechen,
nervöse Diarrhöen, Anfälle von Kopfschmerz, ferner Reizbarkeit, |
Schreckhaftigkeit usw.
Der mitgeteilte Fall — und, wie sich zeigen wird, auch jeder |
der folgenden — läßt den Zusammenhang der Traumzustände mit |
den Tagträumereien ohne weiteres erkennen. Ich betone diese
Tatsache, weil Löwenfeld ihr keine besondere Beachtung geschenkt
hat. Die typische Einleitung des Traumzustandes bildet ein Stadium
der phantastischen Exaltation, dessen Inhalt ein durchaus
\ . individuelles Gepräge zeigt.
| Es folgt der Zustand traumhafter Entrückung? In ihm
j erscheint den Patienten, wie Löwenfeld treffend schildert, die ihnen
| wohlbekannte Umgebung unwirklich, fremd, verändert. Sie selbst fühlen |
Eee
1 Die Krankheitsfälle, die ich im folgenden bespreche, sind in alphabetischer |
| Reihenfolge mit den Buchstaben A bis F versehen, Alle für das Verständnis der
Sache entbehrlichen Angaben über Alter, Beruf und sonstige persönliche Verhältnisse
| der Patienten habe ich fortgelassen.
2 Den Ausdruck „Entrückung“ entlehne ich von Breuer (ci. Breuer
| und Freud, Studien über Hysterie, Seite 191 der 2. Auflage).
50
sich „wie im Traum“. Die Bezeichnung „Traumzustand“, die von
vielen Patienten spontan gebraucht wird, gründet sich auf die
phantastische Gedankenrichtung im ersten und auf die Alteration des
Bewußtseins im zweiten Stadium.
Ich unterscheide weiter ein drittes Stadium der Bewußtseins-
leere. Es wird charakterisiert durch das von den Patienten bemerkte
„Stillstehen der Gedanken“ (auch: „Leere im Kopf“ oder ähnlich
benannt).
Den Abschluß bildet ein depressiver Zustand, dessen wichtigstes
Kennzeichen der Affekt der Angst mit seinen gewohnten Begleit-
erscheinungen (Schwindel, Herzklopfen usw.) bildet. Die meisten
Patienten beschreiben überdies Phantasien von depressivem Charakter.
Die Abgrenzung der einzelnen Stadien gegeneinander ist nicht
absolut scharf. Im Gegenteil lassen sich Übergänge zwischen ihnen
erkennen. Die praktische Brauchbarkeit und Wichtigkeit der Einteilung
wird erst bei der Besprechung der genau analysierten Fälle hervortreten.
Alsdann wird die obige, summarisch gehaltene Schilderung der einzelnen
Stadien auch eine ausgiebige Vervollständigung erfahren.
Den Höhepunkt des Zustandes bildet ohne Zweifel das dritte
Stadium, Auf ihm findet, sozusagen, die Peripetie statt, nicht nur
insofern, als die phantastische Produktion beim Eintritt dieses Stadiums
eine jähe Unterbrechung erfährt. Von ebenso großer Bedeutung ist es,
daß das dritte Stadium die Grenze zwischen zwei entgegengesetzten
Affektbesetzungen bildet. Es ist keine spezielle Eigentümlichkeit des
skizzierten Falles, daß der Traumzustand bis zum dritten Stadium als
lustvoll geschildert wird, während dem letzten Stadium ein starker
Unlustaffekt zugeschrieben wird.
Wir vermögen so durch die Exploration des Patienten mancherlei
Kenntnisse über Vorstellungen und Gefühle im Traumzustand, über den
auslösenden Anlaß, über die Schwankungen des Bewußtseins zu erhalten.
Würden wir eine Reihe weiterer Fälle in derselben Weise betrachten,
so könnten wir noch dazu gelangen, die individuelle Mannigfaltigkeit
in den genannten Beziehungen kennen zu lernen; wir würden auch
Löwenfelds Angaben über die Differenzen in bezug auf Intensität
und zeitliche Ausdehnung der Zustände bestätigen können. Damit
sind wir aber an der Grenze der Erkenntnismöglichkeiten angelangt,
sofern wir uns auf das dem Patienten Bewußte als einzige Quelle
unseres Wissens beschränken. Unerklärt bleibt die Ursache des Auf-
tretens der Traumzustände. Im allgemeinen begnügt sich der Neurotiker
mit wachen Träumereien. Es bleibt dunkel, warum diese gelegentlich
eine Steigerung zu akuten, anfallsähnlichen, mit einer leichten Alteration
®
86
des Bewußtseins verbundenen Zuständen erfahren. Unklar bleibt in
ihrem ganzen Wesen die Entrückung, speziell das Gefühl des Fremd-
artigen, Unwirklichen. Vollends in Dunkel gehüllt bleiben die temporäre
Bewußtseinsleere und endlich das Auitreten der Angst mit ihren
Begleiterscheinungen. Alle diese Erscheinungen sind überdies der
individuellen Variation unterworfen. Jeder einzelne Fall bietet seine
Rätsel. Insbesondere die Phantasien des Anfangsstadiums (und auch
die des Schlußstadiums) sind ohne eingehende Analyse nur in ganz
beschränktem Umfange verständlich.
Den Schlüssel zur Lösung dieser Rätsel gibt uns die Kenntnis
vom Phantasieleben des Neurotikers, die durch die psycho-
analytischen Forschungen gewonnen wurde.
Wir haben durch Freud gelernt, daß unsere Phantasien Verlaut-
barungen unserer Triebe sind. Wünsche, deren Erfüllung verhindert
ist, sucht unsere Einbildungskraft als erfüllt oder in Erfüllung begriffen
darzustellen. Beim Neurotiker ist nun das gesamte Triebleben, sind
alle Partialtriebe von ursprünglich abnormer Stärke. Gleichzeitig ist die
Neigung zur Triebverdrängung besonders groß. Aus dem Konilikte
zwischen Trieb und Verdrängung geht die Neurose hervor. Der
Vielgestaltigkeit und der Macht seines Trieblebens, der Fülle verdrängter
Wünsche entspricht es, daß der Neurotiker ein Phantast ist.
Er neigt darum, wie die Erfahrung lehrt, in hohem Grade zur
Tagträumerei; auch sein Schlaf pflegt reich an lebhaften Träumen zu sein.
Die Triebkraft seiner verdrängten Wünsche ist aber so gewaltig, daß
der Neurotiker mit diesen auch dem Normalen eigenen Ausdrucks-
mitteln nicht sein Auskommen findet. Die Neurose selbst steht ganz
und gar im Dienste dieser Tendenzen. Der neurotische Traumzustand
ist, wie in dieser Arbeit gezeigt werden soll, nur eines der mannigfachen
Phänomene, durch welche das Heer der verdrängten Wünsche sich
manilestiert.
Der Krankheitsfall, aus dessen umfangreicher Analyse ich das zum
Verständnis der Traumzustände Notwendige nun zunächst mitteile,
eröffnet klärende Einblicke in das Gewirr der einander verstärkenden
oder unter sich widerstreitenden Triebregungen. Die Analyse läßt die
alles beherrschende Bedeutung der Sexualphantasie erkennen; es wird
vollkommen durchsichtig, daß die bewußten, dem äußeren Anscheine
nach nicht sexuellen Phantasien durch den Prozeß der Sublimierung
aus sexuellen Wünschen hervorgegangen sind. Die von der Zensur
zum Bewußtsein zugelassenen Phantasien dienen lediglich zur Vertretung
verdrängter Wünsche; ihre Triebkraft haben sie von den letzteren
entlehnt.
57
Beobachtung B.
Der Patient B leidet an einer ungewöhnlich schweren Hysterie
mit Phobien und Zwangserscheinungen. Seine Angst, allein das Haus
zu verlassen, macht ihn seit fünf Jahren zur Ausübung seines Berufes
und überhaupt zu fast jeder sozialen Betätigung unfähig. Neben
schweren Angstzuständen treten mit großer Häufigkeit Traumzustände
bei ihm auf. 3
Den ersten derartigen Zustand erlebte Patient, wie er sich
erinnert, im Alter von zehn Jahren, als er sich einmal zurückgesetzt
fühlte. Es bemächtigte sich seiner ein „Gefühl des Weltschmerzes“,
dem rasch Kontrastvorstellungen folgten: „Später, wenn ich erst groß
bin, werde ich euch schon imponieren.“ Er geriet dabei in eine eksta-
tische Begeisterung und empfand eine traumartige Veränderung seines
Bewußtseins. Seither führt jede Situation, in der ihm die Überlegen-
heit anderer und seine eigene Tatenlosigkeit besonders zu Bewußtsein
kommen, einen Traumzustand herbei. Durch seine Lage ist er also zu
solchen Zuständen fortwährend disponiert. Es genügt z. B., daß man
in seiner Gegenwart die Tüchtigkeit oder die Erfolge eines Alters-
genossen erwähnt; sofort reagiert er mit einem Traumzustand. Im
Laufe der Zeit hat sich eine größere Variabilität in bezug auf den
auslösenden Anlaß herausgebildet. Der Anblick weiblicher Personen,
Theater, Musik, Lektüre wirken in diesem Sinne, indem sie bei dem
Patienten ehrgeizige oder erotische Phantasien hervorrufen. Weniger
leicht verständlich ist schon die auslösende Wirkung, welche von
lebhafter Körperbewegung (z.B. Gehen auf der Straße) oder vom Hören
starker Geräusche (z. B. Fahrt eines Eisenbahnzuges über eine Brücke)
ausgeht. Am häufigsten tritt der Zustand auf der Straße ein.
Alle diese Anlässe rufen zunächst eine lebhafte Tätigkeit der
Phantasie hervor und zugleich den Vorsatz, mit aller Energie an der
Verwirklichung der phantastischen Wünsche zu arbeiten. Patient rührt,
wie er sich ausdrückt, seine ganze Willenskraft auf. Im Mittelpunkt
steht immer der Gedanke, dereinst aus der Absonderung hervorzutreten
und aller Welt zu imponieren. Er wird einst durch großes Wissen
Aufsehen erregen, wird als Autor eines Dramas vor den Vorhang
gerufen werden urd aller Blicke auf sich ziehen; oder er wird ein
Meister im Schachspiel werden und als Simultanspieler im Cafe von
Tisch zu Tisch gehen, die Figuren ziehen und dabei von bewundern-
den Menschen beobachtet werden. In anderen Fällen erdenkt er sich
die Idealgestalt eines großen Feldherrn, hinter der er seine ehrgeizigen
Wünsche verbirgt. Die energischen Vorsätze dokumentieren sich
i
sa nn
98
äußerlich darin, daß Patient im Zimmer hastig umhergeht oder auf
der Straße einen Sturmschritt anschlägt.
Patient selbst bezeichnet den geschilderten Vorgang als einen
immer höher gehenden „Enthusiasmus“. Dieser geht bald und
unmerklich in das zweite Stadium über. Die Schilderung des Patienten
ist sehr bezeichnend: es findet eine völlige „Nachinnenkehrung“ statt,
eine Ausschaltung aller äußeren Eindrücke. „Man verliert beim Phan-
tasieren den Boden unter den Füßen.“ Das soll heißen, daß er die
Herrschaft über den Flug seiner Gedanken verliert und sich völlig
vom realen Boden entfernt. Nun kommt er sich wie im Traume vor,
die ganze Umgebung, sogar der eigene Körper erscheint ihm fremd
und es treten Zweifel an dessen wirklicher Existenz auf. Alsbald folgt
das typische dritte Stadium: der Gedankenstillstand. Rasch tritt dann
der Angstafiekt auf und leitet das vierte Stadium ein. Patient wird
von Schwindel ergriffen; er hat das Gefühl, daß er nicht mehr
vorwärts kommen, die Beine nicht mehr heben kann, als wenn er gleitet,
fällt, versinkt. Diese Sensationen sind mit höchster Angst verbunden. Die
Menschen erscheinen ihm merkwürdig groß; dies gilt auch von den
ihn umgebenden Gegenständen. Er selbst kommt sich klein vor, hat auch
den Wunsch, es zu sein, um nur nicht gesehen zu werden; er möchte „als
nichts gelten, ganz in die Erde sinken“. Er beschreibt ferner das Gefühl,
als müsse er auf allen Vieren kriechen, um nach Hause zu kommen.
Patient bezeichnet die ersten Stadien als lustvoll; doch tritt, wie
er sich ausdrückt, schon während des Enthusiasmus eine entgegen-
gesetzte Nebenströmung auf, die sich zuerst durch ein Kältegefühl
bemerkbar macht. Wir treffen hier auf Parästhesien und vasomotorische
Symptome als Begleiterscheinungen des Traumzustandes, die bisher
nicht genügend beachtet worden sind. Im Stadium der Gedankenleere
wird das Kältegefühl intensiv. Mit der Angst setzt manchmal eine
plötzliche „Hitzewelle“ ein, eine Kongestion nach dem Kopfe. Macht
die Angst schließlich dem Gefühl der Schwäche Platz, so ist das Gefühl
der Kälte stets sehr lebhaft; zugleich besteht die Sensation, daß Teile
des Körpers abgestorben seien.
Das Eintreten eines Traumzustandes ist dem Patienten wegen
der begleitenden Lust erwünscht. Er versucht jedoch manchmal, bevor
der Höhepunkt, d. h. die Bewußtseinsleere, erreicht ist, den Vorgang
zu unterbrechen. „Ich will mich vom Enthusiasmus losreißen, ich
versuche, wie aus einer Wolke herauszukommen.“ Der Ausdruck „Wolke“
ist zu beachten ; er deutet das Gefühl einer Umnebelung des Bewußtseins,
also das Traumhafte an. Bei vorzeitiger Unterbrechung tritt Angst-
und Schwächegefühl ein. -
39
Das letzte Stadium ist bei diesem Patienten sehr protrahiert. Um
sich von der Angst, die nicht weichen will, zu befreien, bedient er
sich eines eigentümlichen Mittels: er zündet sich eine Zigarre an.
Übrigens taucht auch schon im Stadium des Enthusiasmus der Wunsch
zum Rauchen auf.
Als ich auf die Analyse seiner Traumzustände einging, gab ınir
der Patient spontan die Erklärung, er halte diese Zustände schon seit
langer Zeit für eine Art Vergeistigung des Sexualtriebes. Unsere
Nachforschungen sollten diese Auffassung durchaus bestätigen.
Patient gehört zu den Neurotikern, die sich in früher Kindheit
der Masturbation ergeben und später mit ihrer masturbatorischen
Neigung in einem steten Kampfe leben. Die Abgewöhnung der Onanie,
oft mißlungen und immer wieder versucht, hat dem Patienten die
bekannten Enttäuschungen, Selbstvorwürfe und hypochondrischen
Sorgen eingetragen. Eine Reihe von Symptomen seiner Neurose steht
unter dem determinierenden Einfluß dieses Vorganges; doch soll auf
diese hier nicht eingegangen werden. Der Konflikt zwischen Wunsch
und Verdrängung hat, wie so oft in der Neurose, seinen Abschluß in
einem Kompromiß gefunden. Der Patient hat oft für längere Zeit auf
die Onanie verzichtet. Er meidet dann die körperliche Selbsterregung
mitsamt ihrem Endziel, der Ejakulation. Für eine oberflächliche
Betrachtung hat er damit die gewohnte Sexualbetätigung aufgegeben.
Aber sein Unbewußtes verlangt eine Ersatzbefriedigung, deren Wesen
und Ziel dem Bewußtsein entgeht, die daher ungehindert von hemmenden’
Einflüssen vor sich gehen kann.
Freud! hat den Nachweis erbracht, daß gewissen episodischen
Erscheinungen der Hysterie die Bedeutung einer Ersatzbefriedigung
für die aufgegebene Masturbation zukommt; wir müssen später dieser
Anschauung unsere Aufmerksamkeit zuwenden. Eine Ersatz-
beiriedigungin dem angegebenen Sinneist nun auch
der Traumzustand. Bevor ich diese Auffassung begründe, muß
ich noch erwähnen, daß der Patient besonders neuerdings den Traum-
zuständen auch zu solchen Zeiten unterworfen ist, in denen er dem
Drange nach Masturbation häufig nachgibt. Doch spricht dies nur
scheinbar gegen die Auffassung der Traumzustände als Ersatzbefriedigung.
Denn gerade zu solchen Zeiten sind lebhafte Gegenvorstellungen
vorhanden, die den Patienten hindern, dem Drange ganz ungehemmt
nachzugeben. Die Triebstärke ist außerdem so groß, daß eine volle
ı „Allgemeines über den hysterischen Anfall.“ Zeitschrift für Psychotherapie
und medizinische Psychologie, 1909, auch in der zweiten Folge der ‚Kl. Schriften
zur Neurosenlehre*, Wien 1909.
60
Befriedigung schwer zu erzielen ist. Auch bei häufiger Ausübung der
Masturbation werden daher Surrogate nicht entbehrlich. Endlich bilden
diese selbst eine Lustquelle und es ist bekannt, wie schwer namentlich
der Neurotiker eine solche wieder aufgibt.
Patient hat sich in der frühen Jugend gewöhnt, Tagträumereien
nachzuhängen und auf der Höhe lebhafter Phantasietätigkeit der
angesammelten Erregung durch Masturbation Abfuhr, zu verschaffen.
Als er sich von der Masturbation zu entwöhnen suchte, bedurften die
Tagträumereien eines andern Abschlusses; sie bilden seither die
Einleitung zum Traumzustand wie früher zum Masturbationsakt. Das
zweite und dritte Stadium — Entrückung und Bewußtseinsleere —
entsprechen der steigenden Sexualerregung und ihrer Akme im Moment
der Ejakulation. Das Endstadium mit Angst und Schwäche ist
unverändert vom masturbatorischen Vorgang herübergenommen; diese
Symptome sind uns ja als jedesmalige Folgen der Masturbation bei
Neurotikern geläufig.
Diese Auffassung bedarf bezüglich des zweiten und dritten
Stadiums noch einer weiteren Begründung. Ein der „Entrückung“ im
Traumzustand analoges Stadium findet sich auch im masturbatorischen |
Akt. Die steigende sexuelle Erregung führt zu einer Absperrung gegen
alle äußeren Eindrücke. Dieser Vorgang findet sich im Traumzustande
mehr ins Psychische übersetzt. Der Patient empfindet eine absolute
„Nachinnenkehrung“. Durch diese autoerotische Abschließung von der
Außenwelt erhält er das Gefühl der Isoliertheit. Er „tritt aus der
Gemeinschaft heraus“; seine Vorstellungen versetzen ihn in eine andere,
| seinen verdrängten Wünschen entsprechende Welt. So groß ist die
Macht der verdrängten Wünsche, wenn sie einmal dem Unbewußten
entsteigen, daß ihre phantasierte Erfüllung als Wirklichkeit, die
Wirklichkeit aber als ein nichtiges Traumgebilde erscheint. Die gesamte
Umgebung, selbst der eigene Körper, erscheint dem Patienten fremd
und unwirklich.
Das Gefühl des Isoliertseins ist vielen Neurotikern eigen, die
sich zur einsamen Sexualbetätigung von der Welt zurückziehen. Unser
Patient erinnert sich aus der frühen Jugend einer von ihm bevor-
zugten Phantasie von einem verborgenen Zimmer, das irgendwo im
| Walde unter der Erde versteckt sei: dahin wünschte er mit seinen
I) Phantasien zu flüchten. Der Wunsch machte später einer Angst
j Platz: der Angst, allein im geschlossenen Raume zu sein, die ihn
ih noch als Erwachsenen beherrscht.
Das dem dritten Stadium eigentümlichke Schwinden der
Gedanken, die Bewußtseinsleere, entspricht dem mehr oder weniger
61
erheblichen „Bewußtseinsentgang“ (Freud), wie er sich besonders
ausgesprochen beim Neurotiker auf der Höhe jeder sexualen Erregung
einstellt. Gleichzeitig setzt ein heftiges Schwindelgefühl oder eine
andere, dem Schwindel ähnliche, aber schwer zu beschreibende
Sensation ein. Unser Patient gibt mit Bestimmtheit an, daß das nämliche
Gefühl bei der Masturbation im Augenblick der Ejakulation eintrete,
Die kurze, der Entleerung der Sexualprodukte entsprechende Bewußt-
seinspause findet sich auch im hysterischen Anfall.
Nunmehr ist es nicht länger verwunderlich, daß der Traum-
zustand bis zum Stadium der Bewußtseinsleere lustvoll ist. Er
verleugnet dadurch nicht seine Herkunft von der Masturbation, die bis
zu dem entsprechenden Stadium lustvoll, beim Neurotiker oft die
lebhaftesten Unlustgefühle nach sich zieht. Sehr interessant ist es, daß
‚der Patient, wie erwähnt, manchmal den Traumzustand vorzeitig, d.h.
vor dem Eintritt der Bewußtseinsleere unterbricht. Das ist gleichsam
‘ ein Versuch, sich die Traumzustände abzugewöhnen. Ganz das gleiche
tun Neurotiker sehr häufig, wenn sie sich von der Masturbation.
entwöhnen wollen. Sie sind oft der Meinung, der Samenverlust sei das
eigentlich Schädliche an der Masturbation und begnügen sich daher
mit einer vor der Ejakulation abgebrochenen Masturbation. Sie geben
sich dann der beruhigenden Vorstellung hin, in Wirklichkeit nicht
masturbiert zu haben. Diesem Sophismus kann man bei Nervösen
häufig begegnen. Den Verzicht auf die Endlust suchen sie durch sehr
ausgiebigen Vorlustgenuß wettzumachen. Der abschließenden Angst
freilich vermögen sie nicht zu entgehen. Die zu einer gewissen Höhe
angewachsene Sexualerregung, der die Abfuhr versagt wird, verwandelt
sich in Angst.
Wenn wir nun in dem Traumzustand die Ersatzbefriedigung für
eine aufgegebene Form der Sexualbetätigung erkennen, so sind wir
doch noch entfernt von einem vollen Verständnis seiner Eigentümlich-
keiten. Die Phantasien im ersten und vierten Stadium sind so indivi-
dueller Natur, daß wir sie nur aus einer genauen Kenntnis des Trieb-
lebens des Patienten werden begreifen können.
Bei dem Patienten haben sich in der dem Psychoanalytiker
geläufigen Art die infantilen Neigungen in solchem Grade an die ihm
am nächsten stehenden Personen fixiert, daß in der Pubertät die
normale Ablösung nicht gelingen konnte. Es handelt sich im vorliegen-
den Falle um eine ausgesprochen bisexuelle Fixierung. Die
1 „Allgemeines über den hysterischen Anfall“, 1. c.
® Vgl. hiezu Rohleder, Über' Masturbatio interrupta. Zeitschrift für Sexual-
wissenschaft, 1908.
62
heterosexuelle Komponente seiner Libido hat zum Objekt dieMutter.
Ihr gegenüber identifiziert er sich mit dem (übrigens verstorbenen)
Vater. Mit seiner homosexuellen Komponente hängt er dem Vater
an und identifiziert sich ihm gegenüber mit der Mutter. So spielt er
in der Neurose bald den Vater, bald die Mutter. Im allgemeinen ist
das Verhalten des Patienten als ein äußerst passives zu bezeichnen ;
er ergibt sich in das Elend seiner Neurose. Auch seine Liebe zum
Vater, der eine sehr energische Persönlichkeit war, trägt den Charakter
der Unterwerfung unter eine unbedingt überlegene Person. Patient
bietet die typische Eifersucht des Neurotikers, die sich aus seiner
Kindheit erhalten hat. Als Knabe betrachtete er den Vater als seinen
Rivalen bei der Mutter, während die Mutter seiner Neigung zum Vater
im Wege stand. Daraus ergaben sich feindselige Wünsche, die — wie
so oft bei neurotischen Kindern — in der Phantasie, Vater oder
Mutter zu töten, gipfelten. Diese Äußerungen des Sadismus fanden
eine intensive Verdrängung. Von der Fortdauer dieser Wünsche im
Unbewußten legt eine große Zahl von Träumen, in denen er den
Tod des Vaters oder der Mutter erlebt, Zeugnis ab. Dazu kommen
häufige Tagesphantasien der gleichen Art sowie plötzliche aggressive
Impulse. Die Vorstellung, verbrecherisch zu sein, sowie eine Menge
psychischer Zwangserscheinungen beruhen auf jenen verdrängten
Regungen und auf gewissen Fällen aggressiver Betätigung im Kindes-
alter und in der Pubertät.
Die Aggressionsneigungen wurden in weitem Umfang sublimiert.
Sie könnten nun Verwendung finden als impulsive Energie und als
Neigung zu hochfliegenden Plänen auf anderem als erotischem Gebiet.
Aber dieser Wall genügt nicht gegen eine solche Impulsivität der Triebe.
Zu ihrer wirklichen Unschädlichmachung müssen sie geradezu in ihr
Gegenteil verkehrt werden. Die gewalttätigen Regungen gegen die
Mutter werden ersetzt durch völlige Passivität, durch eine absolute
Abhängigkeit von der Mutter, die bei dem längst erwachsenen
Patienten fortdauert. Er ist nun gänzlich an sie und an das Haus
gefesselt wie ein kleines Kind. Dies ist die wichtigste Quelle der
Angst, die ihn hindert, allein das Haus zu verlassen. Man vermißt .
diese Abhängigkeit von einer bestimmten Person (oder auch von
mehreren) in keinem Falle von Straßenangst. Der Versuch, sich allein
vom Hause zu entfernen, würde eine dem Patienten verbotene Aktivität
in sich begreifen, er würde symbolisch eine Ablösung von der Mutter
bedeuten und — wie die Analyse ergibt — zugleich eine Hinwendung
nach der väterlichen (homosexuellen) Seite. Will Patient sich von den
heterosexuellen Inzestphantasien losreißen, so verfällt er den homo-
63
sexuellen, die wiederum vom Bewußtsein energisch abgewiesen
werden. Es findet also eine umfassende Triebunterdrückung statt;
ihr entspricht die besondere Heitigkeit der nervösen Angst in
unserem Falle. }
Der Patient korrigiert nun, wie jeder Neurotiker, die unbefriedigende
Wirklichkeit mit Hilfe seiner Phantasie. Er macht von diesem Mittel
besonders dann Gebrauch, wenn ein äußerer Anlaß ihm vor Augen
führt, wie sehr er Sich durch seine kindliche Abhängigkeit und durch
sein passives Verhalten, namentlich aber durch seinen Hang zur
Masturbation von gesunden Altersgenossen unterscheidet. Schon als
Knabe litt er unter diesem Empfinden; sein heftiger Wunsch war es,
sein zu können „wie die andern“. Er quälte sich mit Vorwürfen, daß
er sich durch seine Neigungen von den „andern“ entferne, daß er
dadurch unfähig werde, mit den anderen zu konkurrieren. Besonders
peinigte ihn die Befürchtung, den anderen lächerlich oder verächtlich
zu erscheinem Aus diesen Gründen erklärt sich die übermäßige
Empfindlichkeit für eine Zurücksetzung gegenüber „andern“. In der
Zurücksetzung sah er ein Zeichen dafür, daß man ihn nicht achte.
Das mußte alle seine unterdrückte Aktivität in Aufruhr bringen. Seine
ursprünglichen, Aggressionsneigungen hätten ihn auf eine Zurück-
setzung mit einem Gewaltakt antworten lassen. Aber sie wurden ja
frühzeitig durch „Reaktionsbildung“ unschädlich gemacht und wagten
sich nur noch als geheime Phantasien hervor. Auf eine Beeinträchtigung,
die ihm seiner Meinung nach zuteil geworden war, reagierte er mit
sublimierten Aktivitätswünschen, mit Größenphantasien, deren
Erfüllung er in die Zukunft verlegte: „wenn ich nur erst einmal
erwachsen bin... . .“
Je mehr Patient heranwuchs, um so mehr trat das Gefühl bei
ihm hervor, er bleibe ein Kind. Es entging ihm, daß es der stärkste
Wunsch seines Unbewußten war, diesen kindlichen
Zustand zu erhalten. Sein Bewußtsein reagierte darauf mit der
entgegengesetzten Tendenz. Jeder Traumzustand diente dem Wunsch,
erwachsen zu sein. Das bedeutete für ihn ein Vielfaches: unabhängig,
selbständig, energisch zu sein (wie der Vater), frei von der ihn be-
herrschenden Gewohnheit und vor allem fähig zu sexueller Aktivität,
Denn die Angst vor Impotenz beherrscht ihn wie jeden Neurotiker,
der von der infantilen Sexualbetätigung und von den Objekten der
infantilen Sexualphantasie nicht lassen kann.
Mit den Größenphantasien, die wir von der Sublimierung
„sadistischer* Regungen ableiteten, verbindet sich bei dem Patienten
regelmäßig die Vorstellung, sich vor Zuschauern hervorzutun, aller
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64
Blicke auf sich zu lenken. Sie erklärt sich aus der Sublimierung
verdrängter Exhibitionswünsche. Bei Neurotikern, die einen krankhaft
gesteigerten Ehrgeiz aufweisen, konnte ich stets den Nachweis erbringen,
daß in diesem ÜCharakterzuge die verdrängten sadistischen und
exhibitionistischen Wünsche sich gewissermaßen einen gemeinsamen
Ausweg suchen. In unserem Falle läßt sich nun feststellen, daß es in
der Jugend wirklich zu sadistisch-exhibitionistischen Handlungen
gekommen ist, aus denen der Patient schwere Selbstanklagen herleitet.
Die immer wieder notwendige Verdrängung dieser Triebe ist eine
stetige Quelle der Angst. Er vermag z. B. nicht die Straßenbahn zu
benutzen, weil oft plötzlich der Impuls auftaucht, vor den anwesenden
Personen zu exhibieren oder auf eine weibliche Person einen sexuellen
Angriff zu machen. Ähnliche Impulse treten auch sonst, z. B. in der
Unterhaltung mit Frauen auf. Der Sublimierungsprozeß führt nun zu
einem partiellen oder gänzlichen Verzicht auf das ursprüngliche Ziel
des Exhibitionstriebes, die Entblößung. Die unerlaubte Exhibition wird
durch Phantasien ersetzt, die sich mit einem weit harmloseren Ziel
begnügen. Der Patient zieht die Blicke der Menschen auf sich, aber
nicht die sexuell begehrenden oder neugierigen, sondern die
bewundernden Blicke.
Wir hatten verschiedenartige Eindrücke kennen gelernt, welche
bei dem Patienten zum Auftreten der Traumzustände Anlaß geben.
Ihre Wirkung beruht, wie wir nunmehr .sagen können, darauf, daß
sie Wünsche der sexuellen Aggression oder der Exhibition bei ihm
wachrufen, die in sublimierter Form zum Ausdruck gebracht werden.
Daß der Anblick weiblicher Personen einen Traumzustand auslösen
kann, ist nun leicht verständlich. Wird dem Patienten anderen,
tatkräftigen Menschen gegenüber seine Passivität allzu fühlbar, so korri-
giert er die Wirklichkeit, indem er sich mit Hilfe seiner Einbildungs-
kraft zu einem sehr aktiven Manne macht, der die Aufmerksamkeit
auf sich zieht. Starke Körperbewegung kann zur auslösenden Ursache
dadurch werden, daß sie dem Patienten das Gefühl der Aktivität gibt.
Das Poltern eines Eisenbahnzuges erregt in ihm den Wunsch nach
Kraitentfaltung. Auch die sich nun anschließenden Phantasien gehören
ganz in das Gebiet.der erwähnten Betriebe. Als Simultan-Schach-
spieler im Cafe von Tisch zu Tisch zu schreiten, das ist allerdings
eine besonders gute Gelegenheit, sich den Blicken anderer zu expo-
nieren. Das Schachspiel selbst bietet überdies dem Patienten, wie die
Analyse ergeben hat, vollauf Gelegenheit zur Betätigung sublimierter
Triebe. Daß auf dem Brett zwei Parteien kämpfen, daß man angreift,
schlägt, die feindliche Stellung zertrüämmert usw., das sind Vorstel-
65
lungen, die den Patienten seiner eigenen Aussage nach geradezu faszi-
nieren. Er schwelgt in diesen technischen Ausdrücken; er befriedigt
in einsamen Schachübungen seinen Aggressionstrieb.
Während die phantasierte Erfüllung seiner ehrgeizigen Wünsche,
d. h. die Befriedigung sublimierter Triebe, mit Gefühlen der Lust
verbunden ist, weist das Schlußstadium des Traumzustandes den
entgegengesetzten Affekt der Angst auf. Es läßt sich nun dartun, daß
auch der Inhalt der Phantasien im Schlußstadium in einem gegensätz-
lichen Verhältnis zum Inhalt der einleitenden Phantasien steht.
Im Beginn des Traumzustandes erhebt sich der Patient aus seiner -
habituellen Passivität zur Aktivität. Das Schlußstadium leitet wieder
zu dem alten Zustand hinüber. An Stelle der großen Pläne finden
wir jetzt Mutlosigkeit und Niedergeschlagenheit. Der Patient, der
vorhin voller Kraftgefühl war und in Sturmschritt verfiel, fühlt sich jetzt
schwach und in seinen Bewegungen gehemmt. Er glaubt, nicht mehr
vorwärts kommen zu können — eine treffende, symbolische Charakte-
ristik seiner tatsächlichen Situation. Er wird wieder zum kleinen
Kinde, das ja nicht allein laufen kannt. Die unbewußte Tendenz, die
den infantilen Zustand aufrecht erhalten will, hat den Sieg davon-
getragen. Darum kommt Patient sich so winzig vor, erscheinen ihm
Menschen und Dinge so groß?. Wie ein Kind, das noch nicht laufen
gelernt hat, möchte er auf allen Vieren kriechen, nach Hause zur
Mutter. Wollte er vor wenigen Augenblicken noch aller Blicke auf
sich lenken, so möchte er jetzt verschwinden, in den Boden sinken,
um nur nicht gesehen zu werden.
Das sehr intensive Gefühl der Schwäche im vierten Stadium
ist mehrfach determiniert. Es bedeutet zunächst die befürchtete SeXUu-
elle Schwäche. Nahm Patient im Beginn des Traumzustandes einen
Anlauf zur kraftvollen Aktivität, so fällt er nun wieder in die Passivität
zurück; es fehlt ihm die männliche Kraft. Das Gefühl, vor Schwäche
nicht stehen zu können, enthält einen symbolischen Hinweis auf die
Impotenz. Eine weitere Determinierung für diese Hinfälligkeit geben
die Todesphantasien, die ja niemals fehlen, wenn Aggressionspläne
gegen Angehörige unterdrückt werden mußten. Diese Todesphantasien
des Schlußstadiums stehen in einem beachtenswerten Gegensatze zu
der energischen Vitalität im einleitenden Stadium.
. * Auf die anderweitigen Determinierungen des „Gleitens“ und „Fallens“ will
ich hier nicht eingehen, .
®2 Dies die wichtigste Ursache des als „Makropsie“ beschriebenen Symptoms.
Ich habe es in ganz gleicher Weise in den Angstanfällen einer Patientin
beobachtet.
Pl
66
Aggressionstrieb und Exhibitionstrieb sind nun wieder der Unter-
drückung verfallen. Aus dem zurückbleibenden Zustand der Depression
sucht Patient sich, wie erwähnt wurde, durch Rauchen einer Zigarre
zu befreien. Es ist aber nicht so sehr die Nikotinwirkung, der die
Depression allmählich weicht. Vielmehr hat auch das Rauchen für den
Patienten die Bedeutung einer Ersatzbefriedigung. Es ist ein Zeichen
der Männlichkeit, die er entbehrt!. Das Rauchen ist ihm ein Trost in
dieser Situation.
Die vasomotorischen und parästhetischen Begleiterscheinungen
erfordern ein gesondertes Eingehen. Das von diesem Patienten (und
wie sich zeigen wird, auch von anderen) beschriebene Hitzegefühl
gehört zu den normalen Begleiterscheinungen der Sexualerregung;; es
wurde aus dem masturbatorischen Akt in den Traumzustand über-
nommen. Es ist bemerkenswert, daß Patient auch sehr leicht errötet;
sobald er unter Menschen kommt, tritt seine außerordentlich erregbare
Sexualphantasie in Tätigkeit und äußert sich im Körperlichen durch
die Hitzewelle. Es kann uns nicht verwundern, daß diese kongestive
Blutwelle auch die Aktivitätsphantasien des Patienten begleitet, denn
letztere vertreten ja nur unbewußte Sexualphantasien.
Schon während der phantastischen: Exaltation nimmt der Patient
neben der aufsteigenden Hitze eine „Unterströomung“ von Kälte und
Angst wahr. Im abschließenden Stadium der Angst ist das Kältegefühl
vorherrschend. Im allgemeinen also tritt das Hitzegefühl auf, wenn
Patient sich zur sexuellen Aktivität aufschwingen möchte, während das
Kältegefühl erscheint, wenn mit der Umwandlung der Triebregungen
in Angst die Verdrängungstendenz wieder die Oberhand gewinnt. Das
Blut wird nun nicht mehr nfit der vorherigen Heftigkeit nach der
Peripherie getrieben. Das nun einsetzende Kältegefühl ist jedoch noch
anderweitig determiniert. Patient fühlt, wie ihm Körperteile absterben;
er glaubt, im nächsten Augenblick zusammenzubrechen, hinzuschwinden.
Es kommt also im vierten Stadium zu einem symbolischen Sterben,
welches u: a. in dem Kältegefühl seinen Ausdruck findet. Die weiter
fortgesetzte Analyse ergibt dann, daß auch dieses Sterben eine
doppelte Bedeutung hat. Es erhält einen besonderen Sinn durch die
vom Patienten befürchtete Impotenz; die eigentliche Lebenskraft
fehlt ihm.
Dient das erste Stadium des Traumzustandes den Phantasien
von der kraftvollen Männlichkeit, so weist das letzte Stadium eine
Verdichtung zweier Vorstellungsreihen auf, welche den Männlichkeits-
1 Ich gehe der Kürze halber auf die anderen Determinationen des Rauchens
(Betätigung der Mundzone ; Identifikation mit dem Vater) nicht näher ein.
67
phantasien entgegengesetzt sind: 1. ein Kind bleiben und 2. sterben.
Der erwachsene Mann mit seiner energischen Vitalität steht in der
Mitte zwischen Kindheit und Tod.
Die Traumzustände dieses Patienten gewähren uns Einblicke in
den Kampf zwischen Trieb und Verdrängung, wie er sich in jeder
Neurose abspielt. Verdrängte Triebe von ursprünglich abnormer Stärke
ringen sich vom Unbewußten los, um rasch den verdrängenden Mächten
wieder zu erliegen. Jeder solche Zustand dieses Patienten stellt eine
Revolution gegen die Neurose dar, freilich eine stets vergebliche. Schon
der nächste Fall wird aber zeigen, daß die Traumzustände nicht bei
‘allen Patienten die nämliche Tendenz haben.
Beobachtung C.
Die Traumzustände entstehen bei der Patientin C ebenfalls,
wenn sie sich durch eine aktuelle Situation, der sie nicht entgehen
kann, gequält, deprimiert, erniedrigt fühlt. Ein Gespräch mit peinlichem
Inhalt gibt den Anlaß, oder ein körperliches Übelbefinden. In dieser
Beziehung kommt besonders der Menstruation die Rolle des
auslösenden Anlasses zu. Die Patientin äußert: „Während der Periode
geht mir jede Realität verloren.“ Ganz wie bei dem vorigen Patienten
findet auch hier im Traumzustand eine Isolierung von der Außenwelt
statt. Man könnte nun nach Analogie jenes Falles erwarten, der
Traumzustand entführe die Patientin der quälenden Wirklichkeit. Das
Gegenteil trifft zu. Tatsächlich versetzt Patientin sich durch ihre
Phantasien in einen Zustand noch größeren Leidens, in absolute
Passivität, und zieht daraus masochistischen Lustgewinn. Aus ihrer
Kindheit ließen sich interessante Details iiber wirkliche masochistische
Betätigung mitteilen. Aber auch jetzt ist diese Triebrichtung deutlich
erkennbar. Die Patientin versteht es nämlich, ganz wie ich es auch
bei verschiedenen anderen Patienten sah, den Traumzustand
auch willkürlich herbeizuführen. „Manchmal verlockt mich
etwas, den Traumzustand herbeizuführen.“ Sie rezitiert zu diesem
Zwecke aus dem Gedächtnis eine Stelle aus Hebbels „Maria
Magdalena“ (III. Akt, 2, Szene). Es sind folgende Worte der Klara:
„Ich will dir dienen, ich will für dich arbeiten, und zu essen
sollst du mir nichts geben, ich will mich selbst ernähren, ich will bei
Nachtzeit nähen und spinnen für andere Leute, ich will hungern, wenn
ich nichts zu tun habe, ich will lieber in meinen eigenen Arm hinein-
beißen, als zu meinem Vater gehen, damit er nichts merkt. Wenn du
mich schlägst, weil dein Hund nicht bei der Hand ist oder weil du
5*
68
ihn abgeschafft hast, so will ich eher meine Zunge verschlucken, als
ein Geschrei ausstoßen, das den Nachbarn verraten könnte, was
vorfällt. Ich kann nicht versprechen, daß meine Haut die Striemen
deiner Geißel nicht zeigen soll, denn das hängt nicht von mir ab,
aber ich will lügen, ich will sagen, daß ich mit dem Kopf gegen den
Schrank gefahren oder daß ich auf dem Estrich, weil er zu glatt war,
ausgeglitten bin, ich wills tun, bevor noch einer fragen kann, woher
die blauen Flecke rühren. Heirate mich — ich lebe nicht lange. Und
wenn’s dir doch zu lange dauert und du die Kosten der Scheidung
nicht aufwenden magst, um von mir loszukommen, so kauf Gift aus
der Apotheke und stell’s hin, als ob’s für deine Ratten wäre, ich
wills, ohne daß du auch nur zu winken brauchst, nehmen und im
Sterben zu den Nachbarn sagen, ich hätt’s für zerstoßenen Zucker
gehalten!“
Die Patientin gerät, wenn sie diese typisch masochistischen
Vorstellungen in sich eingesogen hat, in einen Zustand traumhafter
Entrückung. Sie empfindet als lustvoll einerseits die masochistische Unter-
werfung der Klara, mit welcher sie sich identifiziert, andererseits ihre
eigene Isolierung von der Welt. Sie betont mit großem Nachdruck
das Lustvolle dieser Abgeschiedenheit; in ihren Träumen durchlebt sie
ähnliche Situationen. Die Welt ist ihr fern, der eigene Körper erscheint
ihr verändert, die eigene Stimme fremd. „Der Mensch, der da spricht,
ist mir ganz fremd.“ Um die Qual noch zu erhöhen, nehmen alle
Dinge bizarre, verzerrte Formen an, so daß sie an Zeichnungen von
Kubin erinnern. „Alles ist grausamer, schwärzer als in Wirklichkeit.“
Diese masochistischen Phantasien gipfeln in Vorstellungen vom Tode,
in der Idee, zum Fenster hinausspringen zu müssen usw. Nach Über-
schreitung des Höhepunktes setzt heftige Angst ein. Dazu gesellen
sich angstvolle Vorstellungen, die entsprechend der momentanen Lage
variieren. Macht Patientin z. B. auf der Straße den Zustand durch,
so hat sie das Gefühl, sie müsse fallen, sie könne nicht allein nach
Hause gelangen, müsse irgend einen beliebigen Mann ansprechen.
„Fallen“ und „einen beliebigen Mann ansprechen“ sind doppelsinnige
Ausdrücke. Sie charakterisieren nicht nur den Zustand der Hilflosigkeit
und Hilfsbedürftigkeit, sondern sie deuten auf die bei hysterischen
Frauen so häufigen, aber streng geheim gehaltenen Prostitutions-
phantasien hin!. Patientin empfindet den Trieb, sich dem ersten besten
Manne hinzugeben und hat dies zu Zeiten, in denen Zustände wie
die geschilderten häufig auftraten, wirklich getan. Die Prostitutions-
1 Diese kommen bei der Patientin in häufigen Träumen zum deutlichsten
Ausdruck, desgleichen in verräterischen Symptomhandlungen,
69
gelüste erscheinen hier nur als eine spezielle Form des Masochismus;
sie begreifen für die Patientin, die im allgemeinen selbstbewußt, ja
herrschsüchtig ist, die tiefste Erniedrigung in sich.
Bei dieser Patientin lernen wir auch das Vorkommen sehr
protrahierter Traumzustände kennen, wie ihrer Löwenfeld
ebenfalls Erwähnung tut. Bei manchen Neurotikern dauert das Gefühl, _
in einem Traum .befangen zu sein, mitsamt den Zweifeln an der
Realität der Umgebung durch Monate und noch darüber. Patientin
litt sehr lange unter dem Eindruck, alles um sie sei nur ein Schau-
spiel, sie selbst sei körperlich tot, sei nur ein geistiges Wesen, das
die wirkliche Welt beobachte, ohne mit ihr irgend etwas gemein zu
haben. Sie erklärt, dieser fangdauernde Zustand sei eigentlich eine
Qual gewesen, aber eben dadurch "habe er ihr den Zugang zu Dingen
verschafft, die ihr sonst verschlossen geblieben wären. Diese Zustände
gestatteten es der Patientin, sich aus der Welt, die ihre Wünsche
unbefriedigt ließ, in eine Traumwelt zu flüchten.
Beobachtung D.
Der noch jugendliche Patient D leidet seit seiner Kindheit an
einer schweren Hysterie, die ihn fast völlig unsozial macht. Er spricht
z. B. mit anderen Menschen kaum das Nötigste und vermeidet es, in
Gegenwart Fremder zu essen, weil er bei jeder solchen Gelegenheit
schwere Angst ausstehen muß. Schon durch seine Art zu leben schließt:
er sich also gegen die Außenwelt ab. Dieser Tendenz dienen auch
seine Traumzustände.
Das Sonderlingsleben eines so jungen Mannes ist motiviert durch
eine ganz ausnahmsweise starke Fixierung der Libido an die nächsten
Angehörigen. Patient ist außerordentlich fest an den engen Kreis dieser
Personen gebunden; jedes Hinaustreten aus diesem erregt Angst. Geht
er aus dem Hause, will er Fremden einen Besuch machen, will er
mit einem Vorgesetzten sprechen, stets tritt Angst ein. Die ungewöhnlich
starke Sexualphantasie des Kranken hängt an seiner Familie, und zwar
sind nicht nur seine heterosexuellen Wünsche an Mutter und Schwester
fixiert, sondern in ganz besonderem Grade beschäftigt er sich in homo-
sexuell-masochistischem Sinne mit der Person seines Vaters. Nähert
sich Patient nun irgend einem fremden Menschen, so beschäftigt sich
seine Sexualphantasie sofort mit diesem. Der Versuch einer „Über-
tragung“ erfährt aber ebenso rasch eine Unterdrückung. Patient wollte
einen Augenblick lang aus dem engen Kreise heraustreten, aber die
Fixierung seiner Libido auf die Angehörigen ist zu stark und so folgt
en
j
70
jedem Versuche, den er in dieser Richtung unternimmt, die Angst
auf dem Fuße.
Die erwähnten sexuellen Phantasien bildeten für den Patienten
stets die Einleitung zur Masturbation. Er betreibt nun die Masturbation
in einer raffinierten Weise, indem er nie brüske Manipulationen
anwendet, sondern im Gegenteil ganz leichte, dafür aber lange fortgesetzte
Reize appliziert (leichtes Zusammenpressen der Schenkel, Manipulationen
durch die Kleider hindurch). Unter diesen körperlichen Reizen und
den sie begleitenden Phantasien tritt nun die traumhafte Entrückung
ein. Es kommt beim Patienten nie zur Ejakulation, dagegen zu einem
sehr ausgeprägten Stadium der Bewußtseinsleere. Wir sehen in diesem
Falle die Traumzustände noch in ihrer direkten und ursprünglichen
Verknüpfung mit der Masturbation. Doch treten sie auch ganz spontan
auf, und zwar namentlich in Anwesenheit des Vaters des Patienten.
Dann regen sich eben jene Phantasien, denen Patient in der
Einsamkeit nachhängt. Sie leiten jetzt den Traumzustand wie sonst
die Masturbation ein.
Jahrelang hat Patient diese für ihn in hohem Grade lustvollen
Zustände während des Schulunterrichtes genossen. Er war, wie seine
Lehrer bemerkten, ohne Teilnahme für den Unterricht und meist wie
geistesabwesend. Ihn beherrschten eben Phantasien, die vom Unter-
richte weit abseits lagen. Wurde er nun durch eine Frage des Lehrers
aus seinem Dämmern aufgescheucht, so trat heftige Angst ein. Im
Laufe der Jahre hat sich in dieser Hinsicht bei ihm nichts geändert.
Der Traumzustand dient ihm auch jetzt dazu, sich in völliger Einsamkeit
abzuschließen. Er ist ganz in sich gekehrt und es fällt ihm schwer,
sich auf irgend etwas, das außerhalb des Kreises seiner Phantasien
liegt, zu konzentrieren. Befindet der Patient sich in einer ihm
unerwünschten Situation, so ruft er nicht selten den Traumzustand
willkürlich durch ein einfaches Mittel hervor, das den Abschluß gegen
äußere Eindrücke in deutlichster Weise symbolisiert: er schließt die
Augen. Während der psychoanalytischen Sitzungen schloß er die
Augen stets, wenn wir auf ein Gebiet kamen, über das er nicht
zu reden wünschte. Dann war-es unmöglich, auch nur ein Wort aus .
dem Patienten herauszubringen, der wie erstarrt und geistesabwesend
dasaß. Als ich ihm erklärte, die Traumzustände erforderten ein genaues
psychoanalytisches Eingehen, trat sofort ein Traumzustand ein, der
natürlich ein solches Eingehen zunächst unmöglich machte. Übrigens
ist Patient auch imstande, den Traumzustand selbst zu unterbrechen.
Er tut dies durch einen plötzlichen Ruck des Kopfes.
Eine besondere Verwendung findet der Traumzustand noch, wenn
7
Patient unter einem eigentümlichen, psychisch bedingten Schmerz zu
leiden hat. Er ruft dann durch sexuell erregende Manipulationen den
Traumzustand hervor. Der Schmerz verwandelt sich dann ganz
allmählich in ein Lustgefühl.
Beobachtung E.
Auch bei dem Patienten E begegnen wir einer überaus starken
infantilen Sexualübertragung auf beide Eltern und vermissen nicht
die stets zugehörigen, vom Bewußtsein streng abgelehnten Todes-
wünsche. Diese letzteren waren besonders auf die Mutter gerichtet,
durch den Vorgang der Reaktionsbildung aber in eine übergroße
Anhänglichkeit von durchaus kindlichem Charakter verwandelt. Dem
längst erwachsenen Manne kommt es noch jetzt sonderbar vor, daß
er erwachsen ist; er hat das Gefühl, eigentlich noch ein Kind zu sein.
Es ist sehr bemerkenswert, daß der Tod der Mutter bei diesem Patienten
den ersten Traumzustand auslöste, welcher einen sehr protrahierten
Verlauf nahm. Patient hatte viele Monate hindurch beständig das
Gefühl, im Traum umher zu gehen; nur die Intensität dieses Gefühles
bot große Schwankungen. Ganz spontan äußert Patient: „Ich kann
mir die Realität nicht vorstellen, wenn ich nicht
Seite an Seite mit ihr (der Mutter) bin.“ An die Stelle der
verdrängten Phantasien, die sich einst gegen das Leben der Mutter
gerichtet hatten, ist also im Bewußtsein die Vorstellung getreten, das
eigene Leben des Patienten hänge vom Leben der Mutter ab und
' höre auf, wenn das ihrige aufhöre. Die Todesphantasien haben sich
gegen den Patienten selbst gekehrt. Er äußert weiter wörtlich: „Hand
in Hand damit geht die Vorstellung vom Unwert alles Vorhandenen“.
Mit dem Tode der Mutter hat die Welt aufgehört, für den Patienten
Wert zu haben! Seine Libido zieht sich zeitweise von den Dingen
zurück. Nun erscheint ihm, ganz wie wir es bei den anderen Kranken
sahen, alles fremd, als hätte er es nie gesehen. Die Menschen, mit
‚denen er spricht, scheinen ihm gar nicht wirklich zu existieren. Alle
früheren Erlebnisse — d. h. diejenigen, welche sich zu Lebzeiten
seiner Mutter zugetragen haben — sind weit von ihm abgerückt:
„Rückwärts hat alles etwas Traumhaftes, als wäre es unendlich
lange her.“
Der geschilderte Zustand herrscht auch jetzt öfter, ohne daß
sein Kommen und Gehen dem Patienten besonders auffällt. Patient
ist auch im allgemeinen imstande, die in seinem Berufe notwendige,
sehr intensive geistige Arbeit zu leisten. In den letzten Jahren sind
72
nun Traumzustände von kurzer Dauer und akutem Verlaufe hinzu-
getreten. Sie haben eine sehr eigenartige Entstehungsgeschichte.
Patient leidet an periodischen Kopfschmerzen von quälendster
Heftigkeit, über deren Ursprung später einiges erwähnt werden soll.
Vor ungefähr drei Jahren entschloß er sich, die Hilfe eines Nerven-
arztes in Anspruch zu nehmen, der sich speziell mit hypnotischer
Therapie beschäftigte. Da eine Reihe von Versuchen nicht zu einer
Hypnose führte, gab Patient die Behandlung auf, versuchte nun aber
selbst, sich in einen von dem gewöhnlichen abweichenden Bewußtseins-
zustand zu versetzen, in der Hoffnung, dadurch den Kopfschmerz zu
verlieren. Es gelang ihm eine Anzahl von Malen, einen solchen
höchst lustvollen Zustand hervorzurufen, den er selbst als
eine „Autohypnose* auffaßt. Der Kopfschmerz wurde freilich dadurch
nicht beeinflußt. :
Patient hat den Wunsch, hypnotisiert zu werden, auch mir wieder-
holt und auffallend eindringlich geäußert. Die Unterordnung unter den
Willen eines andern liegt in der Richtung seines Masochismus. Er
spricht es selber aus, daß sein höchstes Ideal sei, sich völlig passiv
verhalten zu können, daß er es als eine Qual empfinde,. im Leben alle
seine Energie anstrengen zu müssen. Seine Sexualität bietet unverkenn-
bare masochistische Züge in Menge. Lange Zeit masturbierte er unter
masochistischen Phantasien, bis er sich unter schweren Kämpfen halb-
wegs von der Masturbation befreite. Ein für das Verständnis der Traum-
zustände ausschlaggebendes Symptom der sexuellen Passivität ist aber
seine psychische Impotenz. Sie ist bei dem Patienten in der gleichen
Zeit entstanden, als er die Traumzustände hervorrief. Patient hat sich
übrigens, wie er spontan erklärt, schon früher gewünscht, sexuell passiv
sein zu können. Er möchte sich der sexuellenLust passiv
hingeben können wie ein Weib.
Der Traumzustand bringt die Erfüllung dieser Ideale unter hoher
Lust. Dem Wunsche nach dem Ende aller Aktivität entspricht es, daß
Patient sich, um den Zustand herbeizuführen, mit aller Gewalt darauf
konzentriert, nichts zu denken. Sein Leben dient im allgemeinen
der angestrengten Denkarbeit; er wünscht das Gegenteil dieses
Zustandes herbei. Wir sahen bereits bei den anderen Patienten auf
der Höhe des Traumzustandes eine „Gedankenleere* eintreten. Im
vorliegenden Falle finden wir eirı ganz bewußtes Tendieren nach diesem
Stadium, das ja dem Moment der höchsten Lust entspricht.
Hören wir nun die eigene Beschreibung, die der Patient unter
den Zeichen eines starken Affektes spontan gegeben hat; sie ist uns
nach dem Gesagten ohne weiteres verständlich. „Zuerst ist es eine
73
Anstrengung, wie beim sexuellen Verkehr; wenn ich es jetzt machen
wollte, ich müßte mich hinlegen und müßte arbeiten. Es ist die strengste
Konzentration darauf, nichts zu denken. Ich schließe die Augen.
Nichts von der Außenwelt darf zu mir dringen. Dann kommt das
kurze Stadium der Wonne, der vollständig umgekehrten Lebensgefühle,
die größte physische Veränderung, die ich kenne. Ich glaube, ich
kann die Worte nicht extrem genug gebrauchen. Das kurze Stadium
der Lust ist doch wie eine Unendlichkeit.“ Auf dem Höhepunkte des
Erregungsvorganges — als einen solchen müssen wir ihn bezeichnen
— ist das Denken unterbrochen.
Der Patient vervollständigt seine Schilderung wie folgt: „Man
hat die Idee im Leben, als wenn alles vorwärts drängt; ich meine
z. B. den Blutkreislauf. Mit einem Schlage ist alles anders; nun ebbt
alles zurück, als wenn es nicht mehr vorwärts, sondern rückwärts
ginge. Es ist, als wenn ein Zauber in Kraft getreten wäre. Während
sonst alles aus dem Körper hinaus will, wird es nun in den Körper
zurückgetrieben. Ich strahle nicht aus, sondern ich ziehe ein.“ Dann
nach einer kleinen Pause fortfahrend: „Es liegt darüber eine absolute,
harmonische Ruhe, eine wohltuende Passivität, im Gegensatze zu
meinem wirklichen Leben. Die Wogen strömen über mich hin. Es
wird etwas mit mir gemacht. "Wenn der Zustand nicht aufhörte, ich
würde mich bis ans Ende der Tage nicht bewegen.“
Diese Traumzustände dienen dem Patienten dazu, in seiner
Phantasie uneingeschränkte Lust aus sexueller Passivität zu gewinnen.
Er möchte ein Weib sein; im Traumzustand erlebt er die Erfüllung
dieses Wunsches. Er hat vollkommen recht, wenn er von der „denkbar
größten physischen Veränderung“ spricht. Eine eingreifendere
Veränderung als die Verwandlung in ein Wesen des anderen Geschlechtes
kann ja nicht erdacht werden. Für den Patienten bedeutet sie nicht
nur eine Veränderung seines Geschlechtes, sondern eine Umkehrung
seiner gesamten Lebensführung.
Der Wunsch, Weib zu sein, weist uns auf die homosexuelle
Triebkomponente bei dem Patienten hin. Da wir von der intensiven
Übertragung der infantilen Libido auf den Vater bereits erfahren haben,
so wird die Annahme nahegelegt, der Patient identifiziere sich, wenn
er ein Weib sein will, mit seiner Mutter, um beim Vater ihren Platz
einzunehmen. Diese Annahme wird gesichert durch die Ätiologie des
schon erwähnten Kopfschmerzes, der in erster Linie der Identifizierung
des Patienten mit seiner Mutter dient. Die Mutter litt schon in der
Kindheit ‚des Patienten an Anfällen von Kopfschmerz, welchen die
seinigen auffallend gleichen. Der Kopfschmerz der Mutter kam stets
74
mit der Periode; sie war gleichzeitig einige Tage lang sehr empfindlich
gegen jeden Reiz und mußte sich vollkommen schonen. Auch bei
dem Patienten wiederholte sich der Kopfschmerz
jahrelang in vierwöchentlichen Intervallen und
dauerte jeweilen drei bis vier Tage. Patient ist während
des Kopischmerzes äußerst empfindlich gegen jeden Reiz, muß die
Arbeit aussetzen und einen bis zwei Tage im Bette zubringen. Patient
identifiziert sich also durch den Kopfschmerz mit seiner Mutter. Daß
er eine dunkle Ahnung von diesem Zusammenhange hatte, geht daraus
hervor, daß er in der ersten Zeit der Behandlung einmal scherzend
sagte: „Ich habe augenblicklich meine Periode.“
Kopfschmerzanfälle und Traumzustände dienen bei dem Patienten
der Metamorphose zum Weibe. Die vierwöchentliche Periode und die
sexuelle Passivität sind zwei hervorragend wichtige Züge im Geschlechts-
leben des Weibes. Patient handelte aus einem ganz richtigen Instinkt
heraus, als er den Kopfschmerz durch den Traumzustand zu vertreiben
oder — wie wir jetzt richtiger sagen werden — zu ersetzen suchte.
Denn beide dienen ja dem gleichen Ziele, der sexuellen Passivität.
Wäre ihm sein Plan gelungen, so hätte er eine unlustvolle Krankheits-
erscheinung durch eine gleichsinnige lustbetonte ersetzt gehabt.
Daß seine Erwartung getäuscht wurde, vermögen wir freilich auch zu
erklären. Der Kopfschmerz beruht eben nicht nur auf dem einen
erwähnten Motiv, sondern er steht noch im Dienste anderer verdrängter
Wünsche, die durch den Traumzustand keinen adäquaten Ausdruck
gefunden hätten. Der Traumzustand konnte daher nur neben den
Kopfschmerz, nicht aber an seine Stelle treten.
Die beabsichtigte Unlustverhütung ist dem Patienten mißlungen;
aber er hat eine neue Lustquelle gewonnen. Vermag der Traumzustand
den Patienten auch nicht von seinem Schmerze zu befreien, so
entschädigt er ihn doch durch eine Lust, die ihn den ausgestandenen
Schmerz verwinden läßt.
Beobachtung F.
Übergänge zwischen Tagträumereien und eigent
lichen Traumzuständen.
Ich schließe hier ein Fragment einer weiteren Psychoanalyse an;
dieser Fall weist keine ausgesprochenen Traumzustände im Sinne der
bisher beschriebenen auf, macht uns aber mit einer Art Vorstufe zu
diesen bekannt. Er demonstriert in besonders einleuchtender Weise
die Abkunft der Traumzustände von den Wachträumen und überdies
75
die nahe Verwandtschaft zwischen den neurotischen Traumzuständen
und den nächtlichen Träumen.
Der Patient F wird von gewissen, häufig wiederkehrenden
Phantasien in so hohem Grade beherrscht, daß er sie als seine
„Zwangsvorstellungen“ bezeichnet. Namentlich Lektüre gibt ihm die
Anregung zu seinen Träumereien. Er identifiziert sich sofort mit dem
Helden der Erzählung. „Wenn ich einen Liebesroman lese, glaube ich
der Held zu sein, den die Frauen umschwärmen.“ In Wirklichkeit ist
die geschlechtliche Aktivität des Patienten sehr reduziert. Neben
den erotischen Träumereien beschäftigen den Patienten Größen-
phantasien. Hat er von gewissen historischen Persönlichkeiten gelesen,
so kommt die Vorstellung, er sei der Held. Er durchlebt dann in der
Phantasie die Rolle seines Helden. „Ich lese z. B. gern von Napoleon.
Den Jubel, den er hörte, empfinde ich auch.“ Ja, Patient braucht nur
an Jubel, Ruhm und Beifall zu denken, so überläuft ihn ein Schauern.
Auch Musik (z. B. Militärmusik) wirkt begeisternd auf ihn und ruft
ein „Schauern“ hervor. In dem Wachtraum, der durch solche erregende
Anlässe ausgelöst wird, erlebt der Patient, der von Beruf Kaufmann
ist, wie er ein bedeutender oder reicher Mann wird, „etwa ein Fabrikant
wie Krupp.“ Er malt sich dann aus, wie ergegen seine
Angestellten rücksichtslos vorgehen, ihnen seinen
Willen aufzwingen würde. (Napoleon!) Es wird ihm schwer,
sich von diesen Vorstellungen frei zu machen. „Wenn ich die Zwangs-
vorstellungen (= Tagträume) habe, rezitiere ich ein Gedicht, um mich
abzulenken, meist die ‚Lorelei‘, ‚Heil dir im Siegeskranz‘ oder ein
anderes Gedicht aus meiner Schulzeit.“ Er muß das Aufsagen solcher
Gedichte aber oft wiederholen, ehe er die Wirkung erzielt.
Im Mittelpunkte der Phantasiegebilde des Patienten steht entweder
ein Sexualheld oder ein rücksichtsloser Despot oder Kriegsheld. Man
-errät unschwer, daß Patient in diesen Wachträumen diejenigen Wünsche
zu befriedigen sucht, die aus der „Verschränkung“ des Sexualtriebes mit
dem Aggressionstrieb hervorgehen, also seine „sadistischen“ Regungen.
Patient hat im allgemeinen das Gefühl, als
erwecke er nicht den Eindruck der Männlichkeit, als
behandle man ihn wie ein Kind. Dieses Gefühl beruht auf
der Unterdrückung seines Sadismus. In seinen Träumen wird er zum
energischen, despotischen Manne, um sich hernach wieder in das
abhängige, schwache „Kind“ zurück zu verwandeln. Die Gedichte aus
der Schulzeit sind geeignet, die Phantasien zu unterbrechen, weil
Patient sich durch sie in die Kindheit zurückversetzt fühlt. Die
inhaltliche Ähnlichkeit der Phantasien dieses Patienten mit denjenigen
\
76 ®
des ausführlich beschriebenen Falles B fällt sofort auf. Die Ähnlichkeit
erstreckt sich übrigens noch auf ein besonderes Symptom. Bei dem
Patienten B konstatierten wir eine auffällige Neigung zum Erröten.
Patient F leidet an Erröten und ausgesprochener Erythrophobie.
Es handelt sich in diesem Falle nicht um Traumzustände von dem
früher geschilderten Charakter, denn. es fehlt die Entrückung, die Bewußt-
seinsleere und die nachfolgende Angst. Auch der Verlauf ist ein anderer.
Aber es handelt sich um sehr intensive, über das Gewöhnliche hinaus-
gehende Tagträumereien, die mit dem Traumzustand (sensu strictiori)
einen wichtigen Zug gemeinsam haben. Der Patient verliert während des
Phantasierens die Herrschaft über seine Gedanken; er kann sie nicht ohne
weiteres nach seinem Belieben unterbrechen. Er mußte, ganz wie wir es
bei anderen Patienten sahen, ein Mittel erfinden, um die Träumereien
unterbrechen zu können, und muß von diesem einen ausgiebigen
Gebrauch machen, bevor es wirkt. Besonders ist noch zu erwähnen
die große viswelle Lebhaftigkeit der Tagträumereien in
diesem Falle; sie wird noch eine genauere Besprechung finden.
Der gleiche Fall zeigt nun außerdem sehr schön, daß die Tages-
phantasien auch die Vorstufe der nächtlichen Träume bilden. Der
Patient berichtet über einige Träume, die seit seiner Kindheit öfter
wiederkehren. In einem dieser Träume wird er im Bett von einem
bärtigen Manne überfallen. Dieser sticht mit einem Dolch auf ihn ein.
Er selbst liegt ruhig da, als wären ihm die Hände gelähmt. Er
erwacht aus dem Traum mit großer Angst. Noch häufiger wird Patient
im Traum von einem Löwen verfolgt. In großer Angst schlüpft er
schließlich durch einen Mauerspalt, durch welchen der Löwe ihm
nicht folgen kann. Der Mann mit dem (symbolischen) Dolch ist der
Vater, dessen „Überfall“ auf die Mutter der Patient als kleiner Knabe
beobachtet hat. Der Traum verrät den verdrängten Wunsch des
Patienten, beim Vater die Stelle der Mutter einzunehmen. Auch der
Traum vom Löwen gehört diesem Komplex an.
Forderte ich diesen Patienten, der nur kurze Zeit in meiner
Behandlung stand, auf, in der zur Analyse notwendigen Weise mitzu-
teilen, was ihm einfiele, so schloß er gewöhnlich die Augen und
berichtete über Bilder, die vor seinen Augen erschienen. Zu dem Traum
. vom Erdolchtwerden ließ er sich folgendermaßen vernehmen?: „Ich
ı Ähnliche perennierende Träume berichtet auch Patient B, Die Analyse solcher
Träume habe ich aber der Darstellung des Falles B nicht eingereiht, um die Über-
sicht nicht zu erschweren.
2 Die oben gegebene Deutung des Traumes war dem Patienten unbekannt, als
er seine Visionen mitteilte.
77
sehe, wie ein Mann von einem anderen gestochen wird; der eine
liegt auf dem Diwan, der andere kniet auf ihm und sticht zu in die
Brust. Der Liegende hält mit der linken Hand die rechte des Gegners
fest. Der Kniende mag etwa 30 Jahre alt sein, er sieht sehr wild
aus, hat einen dunklen Bart. Der Liegende ist vornehm, wie von
altem Adel, er hat ein Seidenwams mit Spitzenkragen.“
Daß diese Bilder den erwähnten perennierenden Träumen inhalt-
lich gleichen, ist ohne weiteres ersichtlich. Der Liegende ist Patient
selber; er liegt übrigens während der Vision auf dem Diwan in meinem
Sprechzimmer. Sehr zu beachten ist die Form der Darstellung durch
das Passivum: ein Mann wird von einem anderen gestochen. Patient
selbst ist das Subjekt. Der Vater war zur Zeit, als Patient das
Schlafzimmer der Eltern teilte, ungefähr 30 Jahre alt und trug einen
Bart. Daß Patient den Liegenden als Adeligen vornehm ausstattet,
wird aus den typischen Abkunftsphantasien! verständlich, die
beim neurotischen Kinde mit großer Lebhaftigkeit auftreten. Das
Seidenwams mit Spitzenkragen hat er einem über dem Diwan hängen-
den Bilde entnommen (der „lachende Kavalier“ von Franz Hals); er
hatte es eifrig betrachtet, bevor er die Augen schloß, weil es den
infantilen Vornehmheitskomplex traf. Als er es jetzt nochmals betrachtet,
bemerkt er, die Kleidung erinnere an ein vornehmes Frauenkleid. Das
Bild hatte also noch einen weiteren Komplex — den homosexuellen
— berührt.
Einen Tag später produzierte Patient, wiederum auf dem Diwan
liegend, noch folgende Visionen :
„Ein Zentaur — jetzt kommt ein kleines Kind... ein kleiner
Zentaur hinzu.“ (Vater und Patient selbst. Zu beachten die sexuelle
Symbolik im Vergleich mit dem wilden Zentauren oder dem Hengst !)
„Ein Wettrennen... wie die Reiter die Hürde nehmen.“ (Die
Rivalität mit dem Vater. Patient hat überhaupt den Charakterzug,
den Patient B bei sich selbst als „Wetteifergefühl“ bezeichnet.)
„Ein gestürztes Pferd vor einem Wagen.“ (Patient gibt an, auf
dem Wege zu mir ein gestürztes Pferd gesehen zu haben. Die tiefere
Begründung dieses Bildes liegt in den typischen Phantasien vom Tode
des Vaters? .
1 Vgl. meine Schrift „Traum und Mythus“ (Seite 40) sowie Rank, „Der
Mythus von der Geburt des Helden“, beide in „Schriften zur angewandten Seelenkunde“,
®2 Die gleiche Phantasie vom gestürzten Pferd habe ich kürzlich wieder in
einem anderen Falle gefunden. Ihre Analyse bei einem Knaben findet man in Freuds
„Analyse der Phobie eines fünfjährigen Knaben“ in Band I des Jahrbuches f. psa.
Forschungen.
-
78
„Der Mann mit dem Helm, das Bild von Rembrandt.“ (Dieses
Bild hängt nicht in meinem Zimmer; es ist aber ein Lieblingsbild des
Patienten. Der Vater des Patienten war eine große, kraftvolle Erscheinung;
er hatte zwei Kriege als Gardist mitgemacht. Patient hat den Wunsch,
ein Krieger zu sein wie der Vater; dieser ist auch das Vorbild der
Napoleon-Phantasien.)
Es folgten dann noch weitere Erscheinungen von ähnlichem
Charakter.
Phantasien aus der Kindheit des Patienten geben in gleicher
Weise seinen Wachträumereien und seinen nächtlichen Träumen den
Inhalt. Sogar die halluzinatorischen Bilder sind beiden gemeinsam.
Eine der „Traumarbeit“ analoge psychische Leistung formt auch in den
Traumzuständen aus dem verdrängten (latenten) Gedankenmaterial den
manifesten Inhalt. Ich verweise hier nur auf die ausgiebige Verwendung
der Symbolik sowie auf die sehr intensive Verdichtungsarbeit. Wir
sind zahlreichen Beispielen begegnet, welche zeigen, daß irgend ein
Detail des Traumzustandes (und dieser selbst, als Ganzes betrachtet)
sehr verschiedenen, ja entgegengesetzten Phantasien zum Ausdruck dient.
Träume und neurotische Traumzustände sind nicht
die einzigen Abkömmlinge der Tagträumereien. Wir können ihnen
zwei weitere, durch eine tiefergehende Störung des Bewußtseins
ausgezeichneteGebilde anreihen. Aus dem Traum gehtdersomnambule
Traum hervor; in ihm setzt der Neurotiker seine Phantasien in mehr
oder weniger komplizierte KIEL urn um, für welche er
keine Erinnerung hat.
Zu den Traumzuständen stehen in ganz analogem Verhältnis die
„hypnoiden Zustände“ und „Dämmerzustände“. In diesen
letzteren finden wir Erscheinungen wieder, die uns von denTraumzuständen
her geläufig sind; ich nenne mit den Worten Breuers! die „Entrückung“,
das „Verdämmern der umgebenden Realität“ und das „affekterfüllte
Stillestehen des Denkens“. In den Dämmerzuständen werden oft
komplizierte Handlungen ausgeführt. Dem Grade der Bewußtseinsstörung
entspricht die den Dämmerzuständen folgende Amnesie; den von uns
betrachteten Traumzuständen ist diese nicht eigentümlich.
Diesen episodischen Erscheinungen im Krankheitsbild der Hysterie
sind noch andere, nahe verwandte Phänomene anzureihen, deren
Beziehungen zu den Tagträumereien bereits durch frühere Unter-
suchungen erwiesen sind. Ich nenne zunächst die hysterischen Anfälle.
Freud? hat kürzlich seine Anschauungen von ihrem Wesen in sehr
1 „Studien über Hysterie“ von Breuer und Freud, Seite 191 der 2. Auflage.
2 Vgl. Zitat auf Seite 59.
79
knapper Form zusammengefaßt. Aus seinen Ausführungen, auf die ich
schon früher zu verweisen hatte, zitiere ich einige Stellen wörtlich:
„Die Erforschung der Kindergeschichte Hysterischer lehrt, daß
der hysterische Anfall zum Ersatz einer ehemals geübten und seither
aufgegebenen autoerotischen Befriedigung bestimmt ist.“ Wir
sind durch dieAnalyse derTraumzustände zu analogen
Resultaten gelangt.
„Die Anamnese der Kranken ergibt folgende Stadien: a) auto-
erotische Befriedigung ohne Vorstellungsinhalt, 5) die nämliche im
Anschlusse an eine Phantasie, welche in die Befriedigungsaktion
ausläuft, c) Verzicht auf die Aktion mit Beibehaltung der Phantasie,
d) Verdrängung dieser Phantasie, die sich dann entweder unverändert
oder modifiziert und neuen Lebenseindrücken angepaßt im hysterischen
Anfalle durchsetzt und e) eventuell selbst die ihr zugehörige, angeblich
abgewöhnte Befriedigungsaktion wiederbringt. Ein typischer Zyklus
von infantiler Sexualbetätigung — Verdrängung — Mißglücken der
Verdrängung und Wiederverkehr des Verdrängten.“ Die ersten drei
Entwicklungsstadien sind also dem Traumzustand
und dem hysterischen Anfalle gemeinsam.
Der Bewußtseinsverlust, die Absence des hysterischen Anfalles
geht aus jenem flüchtigen, aber unverkennbaren Bewußtseinsentgang
hervor, der auf der Höhe einer jeden intensiven Sexualbefriedigung
(auch der autoerotischen) zu verspüren ist.... „Der Mechanismus
dieser Absencen ist ein relativ einfacher. Zunächst wird alle Aufmerk-
samkeit auf den Verlauf des Befriedigungsvorganges eingestellt, und
mit dem Eintritte der Befriedigung wird diese ganze Aufmerksamkeits-
besetzung plötzlich aufgehoben, so daß eine momentane Bewußtseins-
leere entsteht. Diese sozusagen physiologische Bewußtseinslücke wird
dann im Dienste der Verdrängung erweitert, bis sie all das aufnehmen
kann, was die verdrängende Instanz von sich weist.“
Aus gleichen Anfangsstadien hervorgegangen und den gleichen
Zwecken dienend, differieren Traumzustand und hysterischer Anfall
‚in den Mitteln der Darstellung und meist auch im Verhalten
des Bewußtseins. Während die Absence im Traumzustand fast
stets von kurzer Dauer ist, namentlich jm Vergleiche mit der Ausdehnung
der anderen Verlaufsstadien, erweitert sich beim hysterischen Anfalle
die „Bewußtseinslücke“ je nach Bedarf. Zur Darstellung der verdrängten
Phantasien bedient sich der hysterische Anfall des „Reflexmechanismus
derKoitusaktion“ und bewirkt so die „motorische Abfuhr der verdrängten
Libido.* Im Traumzustande spieit sich der Vorgang auf dem Gebiete
der Phantasie ab, wenn wir von gewissen motorischen Äußerungen
80
(wie z. B. Veränderung der Körperhaltung oder des Ganges) absehen, |
die zur Koitusaktion keine Beziehung haben. |
Nächst den motorischen Anfällen der Hysterie stehen die Angst- |
anfälle in naher genetischer Beziehung zu den Traumzuständen. |
Auch in dieser Art episodischer hysterischer Erscheinungen haben wir |
umgewandelte sexuelle Erregungsvorgänge zu erblicken!, Ich möchte
hier erwähnen, daß die Patienten, über deren Traumzustände ich
ausführlich berichtet habe, sämtlich mehr oder weniger häufig auch an
Angstanfällen, nicht dagegen an motorischen Anfällen leiden. Hier |
liegen individuelle Differenzierungen im Krankheitsbilde vor, in die |
wir noch keinen genügenden Einblick gewonnen haben.
Ich will hier erwähnen, daß Traumzustände von ganz analoger |
Struktur auch bei Geisteskranken (Dementia praecox) vorkommen.
Ihre Entstehung aus den Wachträumen konnte ich kürzlich bei einem
jungen Hebephrenen mit Sicherheit fesstellen. In diesem Falle war
der Zustand der Entrückung besonders ausgesprochen; in den Traum-
zuständen schien es dem Patienten, „als wäre alles nur ein Theater“. |
Ich erinnere daran, daß im Verlaufe der Dementia praecox auch
Dämmerzustände vorkommen, die wichtige Züge mit den hysterischen
gemeinsam haben. Traumartige Zustände von protrahiertem Verlauf
mit besonderem Hervortreten des Fremdheitsgefühles sind von
Wernicke, Juliusburger u. a. Autoren beschrieben worden:.
Die analysierten Fälle gehören sämtlich zu den schweren
Psychoneurosen. Es darf daraus aber nicht der Schluß gezogen werden, |
daß Traumzustände bei leicht Neurotischen nicht vorkämen. Sicherlich |
ist eine große Zahl Leichtkranker wie Schwerkranker mit ihnen behaftet.
ui Zur Tagträumerei neigen sie alle; es will ihnen nicht gelingen, das
ul Heimweh nach der autoerotischen Betätigung ihrer Kindheit zu über-
winden. Die einfachen Wachträume oder die von diesen ableitbaren
ı komplizierteren Gebilde dienen ihnen dazu, sich zeitweise aus der
Wirklichkeit in ihr Kinderland zu flüchten. Ist ein Individuum zur
Produktion von Traumzuständen disponiert, so genügt ein sehr geringer |
Reiz, der die verdrängten Komplexe berührt, zur Hervorrufung des -
Zustandes.
Besonders bei leicht Neurotischen entziehen sich die Traum-
| 1 Vgl. hiezu Stekel, Nervöse Angstzustände und ihre Behandlung, Berlin und
N Wien, 1908,
2 Ich konnte kürzlich bei einer Patientin eine Serie katatonischer
Il Anfälle beobachten. Sie wurden durch heftige Kußbewegungen des Mundes
eingeleitet und stellten im weiteren unverkennbar einen sexuellen Akt dar. Also auch
| hier Analogie zum hysterischen Anfall.
8l
zustände oft der ärztlichen Beobachtung, oder sie werden nicht in ihrer
eigentlichen Bedeutung erkannt. Nicht selten erklärt z. B. eine Patientin
dem Arzt — und zwar keineswegs nur bei der Psychoanalyse —, daß
sie sich von ihm hypnotisiert fühle. Das ist ein durchsichtiges Phänomen
der „Übertragung“. Die Patientin ist unbewußt dazu bereit, sich dem
Willen des Arztes unterzuordnen, d. h. bereit zum passiven Verhalten
gegenüber einem von ihrem Unbewußten gewünschten Angriff des
Arztes. Ihre Phantasie bearbeitet intensiv die Erfüllung dieses Wunsches.
Es kommt dann zur traumhaften Entrückung und zu den bekannten
weiteren Erscheinungen. Die Patientin macht, während sie beim Arzt
weilt, einen Traumzustand durch. Andere Hysterische fühlen sich durch
die Gegenwart eines beliebigen Mannes hypnotisiert. Ich behandelte
eine Patientin, die in der Straßenbahn stets von Angst befallen wurde.
Sie hatte das Gefühl, sie werde von den Blicken eines beliebigen ihr
gegenüber sitzenden Mannes „durchbohrt“. Daraus ging jedesmal ein
Zustand hervor, den sie als eine Art Hypnose bezeichnete, und der
mit Angst abschloß.
Andere neurotische Mädchen berichten, daß sie mitten im
Gespräche mit einem Manne sich plötzlich entrückt fühlen, ihrer eigenen
Stimme zuhören, als spräche eine Fremde. Dann tritt die „Gedanken-
leere“ ein, der schließlich Angst und ein Gefühl der Beschämung folgt.
Durch die Analyse erfährt man, daß solche Individuen sich in aus-
giebiger Weise mit Tagträumereien beschäftigen. Besonders lieben sie
es, morgens im Bette liegend sich den Phantasien hinzugeben. Bei
geeigneten Anlaß wird der Faden dieser Träumereien wieder auf-
genommen, und es folgen dann die anderen typischen Stadien des
Traumzustandes.
In seiner oben zitierten Abhandlung hat Freud eine gedrängte
Übersicht auch über Anlaß und Zweck des Auftretens hysterischer
Anfälle gegeben. Der hysterische Anfall wird assoziativ hervor-
gerufen, wenn der Komplex durch eine Anknüpfung des bewußten
Lebens angespielt wird; organisch wird er dann hervorgerufen,
wenn die Libido, durch äußere oder innere Gründe gesteigert, keine
Abfuhr hat. Es liegt auf der Hand, daß in der Regel beide Anlässe
gleichzeitig vorliegen. Die nämlichen auslösendenFaktoren
wirken auch bei der Entstehung der Traumzustände.
Die .hysterischen Anfälle dienen nach Freud zunächst der
primären Tendenz der Krankheit (Flucht in die Krankheit), bilden
also.eine Tröstung für den Patienten; außerdem stehen sie im Dienste
der sekundären Krankheitstendenzen, wenn das Kranksein
praktisch nützt. Von den Traumzuständen läßt sich durchaus das
Nämliche erweisen. Ein ausgezeichnetes Beispiel einer Flucht in die
Krankheit bietet der Patient E, der nach dem Tode der Mutter in
einen langdauernden Traumzustand geriet. Daß die Traumzustände
auch einem aktuellen, praktischen Zweck dienen, zeigt jeder einzelne
der mitgeteilten Fälle. Bei mehreren Patienten stellt sich in peinlicher
Situation der Traumzustand „wie gerufen“ ein. Besonders aber muß
hier angeführt werden, daß manche Patienten ihn bewußt und absichtlich
herbeirufen, um Unlustgefühlen zu entgehen oder Lust zu gewinnen.
Man wird hier wieder an die genetischen Beziehungen der Traum-
zustände zur Onanie erinnert; auch der letzteren bedient sich der
Neurotiker häufig zum Trost, um z. B. eine Verstimmung zu beseitigen.
Gemeinsam mit dem Traume ist den neurotischen Traumzuständen
die Funktion der Unlustverhütung'!. Aber die letzteren dienen darüber
hinaus auch positiv der Lustgewinnung. Der Patient B, welcher durch
. den Traumzustand aus dem Zustande der Passivität entrückt wird,
entgeht dadurch nicht nur der Unlust, sondern er zieht in den ersten
Stadien des Vorganges positive Lust aus phantasierter Aktivität.
EinWechseldesSexualziels, wie erin den Traumzuständen |
I) des Patienten B stattfindet, ist nicht die Regel. Es gibt einen andern
Typus, der z.B. durch die Patientin C vertreten wird. Die Phantasien
bewegen sich hier in der Richtung der schon herrschenden Passivität.
Den masochistischen Gefühlen wird hierdurch eine außerordentliche
|) Intensität verliehen.
Die Traumzustände bieten dem Neurotiker, ganz wie die übrigen
| Phänomene der Neurose, Ersatz für eine ihm versagte Sexualbetätigung.
) Sein Unbewußtes macht von diesem Surrogat Gebrauch, solange. die
Befriedigung bestimmter Wünsche ausbleibt. Erfährt dagegen die
| ° Libido eine ausreichende Befriedigung, so treten die Traumzustände
zurück, ja sie verschwinden gänzlich. Letzteres geschah einer leicht
neurotischen Dame meiner Beobachtung, sobald sie in der Ehe sexuell
| befriedigt wurde. Bei einem jungen Manne, der wegen psychischer
| Impotenz in meiner Behandlung stand, ging die ruhelose Tätigkeit
82
seiner Sexualphantasie auf ein normales Maß zurück, als er wieder
potent wurde und eine genügende Befriedigung erzielen konnte.
Die Analyse der Traumzustände beweist aufs neue die außer-
ordentliche Fruchtbarkeit der Freudschen Ideen. Seit es eine psycho-
l analytische Forschung gibt, sind wir nicht mehr darauf beschränkt,
| - die Symptome der Neurosen lediglich zu beschreiben, ohne zugleich
ihr Wesen erfassen und ihr individuelles Gepräge im Einzelfalle
| 1 vgl. Freud. Der Witz. Seite 154. Wien 1905.
| 83
erklären zu können. Wir vermögen die Bedingungen und Motive ihrer
Entstehung zu begreifen, die in ihnen wirksamen Triebkräfte und die
in ihnen verborgenen Tendenzen aufzuzeigen. Wir vermögen die
individuelle Eigenart eines Krankheitsfalles zu verstehen, indem wir
nicht nur das gegenwärtige Triebleben des Neurotikers berücksichtigen,
. sondern seinen verdrängten Kindheitswünschen nachforschen. Denn
sein innerstes Dichten und Trachten strebt nach der Wiederholung
| infantiler Befriedigungssituationen, deren Erinnerung sein Unbewußtes
| bewahrt.
6*
Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles
von Fuß- und Korsettfetischismus '.
Die psychoanalytische Forschung hat bis in die letzten Jahre
den Problemen des Fetischismus keine besondere Aufmerksamkeit
zugewandt. Noch in der ersten Auflage der „Drei Abhandlungen zur
Sexualtheorie“ wies Freud ihm eine Sonderstellung zu, sowohl gegen-
über den anderen sexuellen Abirrungen als auch gegenüber den Neu-
rosen. Die fortschreitenden Erfahrungen haben aber gelehrt, daß in
nicht wenigen Fällen Fetischismus und Neurose bei dem gleichen
Individuum zusammentreffen. Die zweite Auflage der genannten Schrift
enthält einen kurzen Hinweis darauf, daß Freud die Entstehung der
fetischistischen Phänomene jetzt auf eine eigentümliche Abart der
Verdrängung („Partialverdrängung“) zurückführt. Der früher
betonte Gegensatz ist somit aufgehoben.
Die Analyse eines Falles von Schuh- und Korsettfetischismus,
über die ich im folgenden berichte, ergab mir bestimmte Resultate
über die Psychogenese dieser Form des Fetischismus; andere Fälle
haben diese Ergebnisse vollauf bestätigt.
Als Grundlage muß eine eigentümliche sexuelle Konstitution
angenommen werden, welche durch die ursprünglich abnorme Stärke
bestimmter Partialtriebe charakterisiert ist. Auf dieser Basis
ist der uns interessierende Komplex von Erscheinungen entstanden
durch das Zusammenwirken zweier Faktoren: der bereits erwähnten
Partialverdrängung uud eines näher zu erörternden Ver-
schiebungsvorganges:®.
Der Patient, über den ich nunmehr in möglichster Kürze
berichte, war zur Zeit der Analyse 22 Jahre alt und studierte an einer
Hochschule. Er übergab mir bei Beginn der Behandlung eine Auto-
biographie, die besonders seine Sexualität eingehend berücksichtigte,
Von diesen - Aufzeichnungen ist zunächst erwähnenswert, daß Patient
1 Aus „Jahrbuch für psychoanalytische und psychopathologische Forschungen‘,
1911, Band III.
2 Über den Begriff der Verschiebung vgl, Freud, Traumdeutung, S. 2098.
85
sich in der Pubertät von seinen Altersgenossen deutlich unterschied,
indem ihm deren sexuelles Interesse für das weibliche Geschlecht
durchaus fremd blieb. Aber auch für männliche Personen spürte er
‚keine Liebesneigung im gewöhnlichen Sinne. Er gelangte auch auf-
fallend spät zu bewußter Kenntnis der wichtigsten Tatsachen des
Geschlechtslebens; als er sie aber erworben hatte, stieg ihm alsbald
die Vermutung auf, er werde impotent sein. Gegen die von gleich-
altrigen jungen Leuten geübte manuelle Selbstbefriedigung fühlte er
eine starke Antipathie.
Sein Sexualinteresse wandte sich nach anderer Richtung. Mit
14 Jahren begann er sich selbst zu fesseln; er wiederholte dies, so
oft er zu Hause ungestört war, Er fand Gefallen an Büchern, in denen
von Fesselungen die Rede war, so namentlich an Indianergeschichten,
in denen die Gefangenen an den Marterpfahl gebunden und dann
gepeinigt wurden. Er versuchte aber niemals, einen anderen zu fesseln,
noch reizte es ihn, von anderen dergleichen in Wirklichkeit zu
erdulden.
Als er zirka 15 Jahre alt war, sah er in einem Kurort einen etwa
acht- bis zehnjährigen Knaben, der seine Aufmerksamkeit sofort durch
elegante Schuhe auf sich zog. „Bei jedem Zusammentreffen — so
schreibt Patient in seiner Selbstbiographie — wo ich auf seine Stiefel
achten konnte, empfand ich Freude, und ich sehnte die Gelegenheit
dazu herbei.“ Aus den Ferien zurückgekehrt, achtete er auch in der
Heimatstadt auf elegante Schuhe, besonders bei seinen Mitschülern.
Bald verschob sich dieses Interesse aber auf weibliche Schuhe und
‘wurde nun zur Leidenschaft. „Meine Augen wurden wie von magischer
Gewalt auf weibliche Schuhe gezogen... Ein uneleganter Schuh
stößt mich ab und flößt mir Abscheu ein.“ Beim Anblick schöner
Damenschuhe erlebt er seither eine „innere Freude“. Dieses Wohl-
gefühl geht manchmal in heftige Erregung über, besonders wenn er
Lackstiefel mit hohen Absätzen sieht, wie sie vielfach von Halbwelt-
damen getragen werden. Was ihn erregt, ist aber nicht nur der
Anblick der Schuhe, sondern er malt sich lebhaft aus, wie unbequem
das Gehen in solchen Schuhen sein müsse. Um das Gefühl eines
quälenden Druckes an den Füßen aus eigener Erfahrung kennen zu
lernen, hat er öfter seine eigenen Stiefel miteinander vertauscht und
den rechten Fuß in den linken Stiefel, den linken Fuß in den rechten
Stiefel gezwängt.
Bald nach dem Interesse für die Fußbekleidung entstand dasjenige
für Korsetts. Mit 16 Jahren nahm er ein altes Korsett seiner Mutter an
sich, schnürte sich fest darin ein und trug es verschiedentlich auf der
86
Straße unter seinem Anzuge. Charakteristisch ist folgende Schilderung
I) in der Lebensbeschreibung: „Sehe ich enggeschnürte Frauen und
Mädchen und vergegenwärtige ich mir den Druck des Korsetts auf
\ ihre Brust und Unterleib, so kann ich Erektionen erzielen. Schon
| öfters ist mir dann der Wunsch aufgetaucht, ein Weib zu sein, um
mich tüchtig schnüren zu können, Damenstiefel mit hohen Hacken |
tragen und, ohne aufzufallen, vor Korsettläden stehen bleiben zu |
können, Da das nicht geht, so ist es mitunter mein sehnlicher Wunsch,
Frauenkleider, Korsetts und entsprechendes Schuhwerk tragen zu
können.“
Das Ausschauen nach eleganten Schuhen oder nach enggeschnürten
Taillen wurde zur hauptsächlichsten Sexualbetätigung des Patienten.
Dieses Interesse‘ nahm auch in seinen lebhaften Tagträumereien den
ersten Platz ein. Nächtliche erotische Träume handelten oft von Korsetts,
vom Schnüren usw. Als Lektüre wählte Patient, wie erwähnt, mit
Vorliebe Erzählungen von sadistischem Charakter.
. Alles auf seine Neigungen Bezügliche hatte Patient streng geheim
gehalten, bis er den Rat eines Spezialarztes suchte, der ihn zum Zwecke |
der Psychoanalyse an mich wies. In bezug auf den therapeutischen
Erfolg verhielt ich mich von vornherein skeptisch.
Akzidentelle Ursachen, denen in der älteren Literatur eine große
ätiologische Bedeutung für die Entstehung fetischistischer Neigungen
zugeschrieben wurde, konnten in unserem Falle nicht eruiert werden.
Daß Patient als Knabe zu öfteren Malen seiner Mutter zusah, wenn
sie ihr Korsett anlegte, kann nicht im Sinne eines psychischen Traumas
| gewirkt haben. Das Interesse, welches er dem Korsett der Mutter oder
später den Schuhen eines Knaben zuwandte, war zweifellos schon eine
Äußerung seiner, Perversion. Ein ätiologischer Wert kann diesen
| Vorkommnissen nicht beigelegt werden.
Was in unserem und in jedem gleichartigen Falle am schärfsten
hervortrit, das ist die außerordentliche H erabsetzung der
| sexuellen Aktivität. Von sexuellen Handlungen kann eigentlich
| kaum geredet werden, wenn man davon absieht, daß Patient in früherer
Zeit Schnür- und Fesselungsversuche an sich selbst verübt hat. An anderen
Personen hat er nie ein sadistisches oder sonstiges Gelüste betätigt;
seine dahin zielenden Wünsche befriedigte er lediglich in der Phantasie.
In der Praxis hat er nie die Grenzen des Autoerotismus über-
| schritten.
ö So wenig von geschlechtlicher Aktivität bemerkbar ist, so lebhaft
| ist der sexuelle Schautrieb. Aber auch er ist von seinem eigent-
87
lichsten Interessengebiet abgekehrt. Er richtet sich nicht auf den
Gesamteindruck des Körpers anderer Personen, noch auch auf die
primären und sekundären Geschlechtscharaktere bei diesen, sondern
auf gewisse Teile der Bekleidung. Nicht also auf den nackten Körper,
sondern auf dessen Verhüllung. Hier wiederum hat er sich auf die
Fußbekleidung und auf die einengende Bekleidung des Oberkörpers
beim weiblichen Geschlechte spezialisiert. Über das Betrachten dieser
Objekte geht das sexuelle Verlangen nicht hinaus. Es handelt sich
also um die Fixierung eines vorläufigen Sexualziels.
(Vgl. „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“.) Der Anblick weiblicher
Schuhe erregt jedoch nur dann Lust, wenn sie in Form und Ausführung
elegant sind; plumpe, häßliche Fußbekleidung erregt Ekel. Man findet
hier also neben der Neigung zur Sexualüberschätzung des Fetisches
eine ausgesprochene Neigung zu affektiver Ablehnung, ganz wie der
Neurotiker sie bietet. Die hohen Anforderungen, die der Schuhfetischist
in bezug auf ästhetische Werte an sein Sexualobjekt zu stellen pflegt,
beweisen ein starkes Bedürfnis nach Idealisierung des Objektes.
Ist die sexuelle Aktivität derartig reduziert wie im vorliegenden
Falle, und findet der Trieb sein Genügen in der Erreichung vorläufiger
Sexualziele, so darf daraus keineswegs der Schluß gezogen werden,
daß eine primäre Schwäche der Libido vorliege. Die Analyse der
Neurosen zeigt aufs deutlichste, wie ein ursprünglich übermäßig
starker Trieb durch Verdrängung paralysiert werden kann. Für den
in Rede stehenden Fall von Fetischismus ergibt die Analyse einen
ganz analogen Hergang. Ein reiches Tatsachenmaterial, das hier nur
zum Teil referiert werden kann, läßt den sicheren Schluß zu, daß die
aktiv-sadistische Triebkomponente und die sexuelle Schaulust
ursprünglich von abnormer Stärke waren. Beide Triebe, die sich in
inniger „Verschränkung“ (Adler) befanden, fielen gemeinsam der
Verdrängung anheim.
In diesen Verdrängungsprozeß waren jedoch, wie sich erwies,
noch andere Teiltriebe einbezogen. Das besondere Bedürfnis des
Fetischisten nach ästhetischen Werten bei seinem Sexualobjekt ließ
erwarten, daß die Libido ursprünglich nach gewissen Zielen drängte,
die dem normalen Erwachsenen im allgemeinen besonders unästhetisch
erscheinen und seinen Ekel erregen. Meine Aufmerksamkeit wurde,
bevor ich in die Analyse eintrat, auf ein bestimmtes Gebiet des Trieb-
lebens gelenkt. Aus einer privaten Mitteilung Prof. Freuds erfuhr
ich, daß nach seinen Beobachtungen die Verdrängung der kopro-
philen Riechlust eine eigentümliche Rolle in der Psychogenese
des Fußfetischismus spiele. Meine eigenen Untersuchungen brachten
&8
alsbald die volle Bestätigung dieser Anschauung. Es ergab sich, daß
auch in diesem Falle von Fetischismus die Lust an „ekelhaften“
Körpergerüchen primär von ungewöhnlicher Stärke gewesen war. Die
gemeinsame Verdrängung der koprophilen Riechlust, der
Schaulust und der sexuellen Aktivität hat zur Entstehung
vonErsatzbildungen geführt; eben diese bilden die charakteristischen
Eigentümlichkeiten des Fußfetischismus.
Es gibt Fälle von Fetischismus, in denen sich die sexuelle
Anomalie durch eine unverdrängte, also vollkommen bewußte Lust an
ekelhaften Gerüchen äußert. Bei diesem sogenannten Geruchs-
fetischismus bezieht sich die Riechlust besonders häufig auf die
Ausdünstungen d@s ungereinigten Fußes. Dieser zieht gleichzeitig auch
die Schaulust auf sich. In dem von mir analysierten Falle ergab sich,
daß der Patient ein Stadium durchlaufen hatte, das dem soeben
geschilderten Geruchsfetischismus entsprach. Danach hatte sich die
eigenartige Umwandlung vollzogen: die Riechlust wurde verdrängt und
die Schaulust zur Lust an einer ästhetisch wirkenden Fußbekleidung
sublimiert.
Wie aber konnten sich Schautrieb und Riechtrieb in solchem
Maße dem Fuße zuwenden, anstatt sich auf die Sexualorgane, respektive
deren Sekrete zu richten?
Auf Grund gewisser Erfahrungen ließ sich die Vermutung hegen,
daß das Interesse beider Triebe ursprünglich auch der Genitalzone
gegolten habe, daß aber andere erogene Zonen frühzeitig mit dieser
in Konkurrenz getreten seien. Eine solche Bevorzugung anderer
erogener Zonen (Mund, After usw.) ist uns aus der Lehre von den
sexuellen Abirrungen ebenso geläufig wie aus der Analyse der Neurosen
und der Träume.
Tatsächlich ergab die Analyse, daß der genitalen Zone vonseiten
der analen frühzeitig eine starke Konkurrenz erwachsen war; daß das
eigentliche Sexualinteresse in der ersten Kindheitsperiode zurücktrat
zugunsten des Interesses an den Exkretionsvorgängen; daß in der
Pubertät ein in gleicher Richtung zielender (weiblicher) Verdrängungs-
schub stattfand. Der Patient verharrte auffallend lange bei gewissen
infantilen Anschauungen, die den Exkretionsvorgängen die Bedeutung
von Sexualfunktionen zuschreiben. Seine Träume weisen eine dem-
entsprechende Symbolik auf. Seine Schau- und Riechlust blieben —
soweit sie nicht auf den Fuß verschoben wurden — in hohem Maße
auf die Vorgänge der Urin- und Stuhlentleerung, respektive deren
Produkte gerichtet,
Die Erinnerungen des Patienten an seine frühe Kindheit beziehen.
89
sich vorzugsweise auf Eindrücke des Geruchsinnes, erst in zweiter
Linie auf Gesichtseindrücke. Erwähnt seien zunächst gewisse obse-
dierende Einfälle, die sich häufig vordrängten, wenn Patient auf seine
frühe Kindheit gelenkt wurde. Dann fiel ihm zuerst der Geruch von
Jodoform und Holzessig ein, zwei Substanzen, die sich in seiner
Kindheit im Gebrauche der Mutter befanden. Ein anderer wieder-
kehrender Einfall betraf eine Szene, die sich in einem Badeorte
abgespielt hatte. Dem Patienten trat jedesmal seine Mutter vor Augen,
wie sie ins Wasser watete. Die eigentliche Bedeutung dieser Erscheinung
wurde erst durch ergänzende Einfälle geklärt. Der Knabe hatte sich
zu jener Zeit einige Male verunreinigt; die Mutter führte ihn deswegen
in den See, um ihn zu reinigen,
Auch aus der späteren Kindheit brachten die Einfälle des
Patienten auffallend viele Reminiszenzen an Gerüche: wie er z.B. im
Zimmer der Mutter ein Paket mit Haaren fand, deren Geruch ihm
angenehm war; wie er die Mutter zärtlich umarmte, um den Geruch
ihrer Achsel einzuatmen. Auf die frühere Kindheit führt noch eine
Erinnerung zurück: wie die jüngere Schwester an der Brust der Mutter
lag, wie er selbst mit dem Munde die andere Brust berührte und dabei
den Körpergeruch der Mutter angenehm empfand.
Die Zärtlichkeit gegenüber der Mutter währte bis gegen . das
zehnte Lebensjahr des Patienten. Bis dahin hatte er häufig das Bett
der Mutter aufgesucht. Jetzt machte die Zuneigung einer Abneigung
Platz. Er wurde äußerst empfindlich gegen den Körpergeruch weiblicher
Personen. Mit der Verdrängung der Riechlust wandte sich sein Sexual-
interesse vom weiblichen Geschlechte ab und wandte sich dem
nächstliegenden männlichen Objekt — dem Vater — zu.
In diese Übertragung spielt nun das Interesse für die Körper-
entleerungen in auffälligster Weise.hinein. Freilich wurde durch gewisse
Eigenheiten des Vaters die Aufmerksamkeit des Knaben besonders
auf diese Vorgänge gelenkt. Der Vater pflegte z.B. öfter vor den
Augen der Kinder zu urinieren. Die Phantasie des Knaben befaßte
sich im höchsten Maße mit allem, was diese Funktionen bei ihm
selbst und seinem Vater betraf!.
Mit der Übertragung auf den Vater steht der Wunsch, selbst
Weib zu sein, in innigem Zusammenhange. Er erhielt sich, wie schon
eingangs erwähnt wurde, auch nach der Pubertät. Dieser Wunsch
richtete sich aber, soweit er bewußt war, nicht darauf, die geschlecht-
' 1 Es entwickelte sich im Anschluß daran eine mit der von Freud beschriebenen
absolut identische Pferde- und Giraffensymbolik (vgl. Die Analyse der Phobie eines
fünfjährigen Knaben).
90
lichen Funktionen des Weibes zu erfüllen. Vielmehr erschien dem
Patienten das Wünschenswerte, wie ein Weib „Schnürschuhe und
Korsetts tragen und entsprechende Schaufensterauslagen unauffällig.
ansehen zu können“. Während der Pubertätszeit hat er — wie bereits
berichtet — tatsächlich ein paarmal ein Korsett unter seinen Kleidern
getragen. Unbewußt äußerte sich der Wunsch, Weib zu sein, durch
mancherlei Erscheinungen, über welche noch zu berichten ist.
Die Regungen der infantilen Auflehnung und Eifersucht mußten
sich bei dem Patienten wechselnd gegen Vater und Mutter richten.
Mit diesen Erscheinungen stehen in dem uns geläufigen Zusammen-
hange Todes- und Kastrationsphantasien. Diese letzteren
sind bald aktiver, bald passiver Natur. Die aktiven Kastrationsphantasien
haben auch die Mutter zum Objekte, welcher die infantile Phantasie
ein männliches Geschlechtsorgan andichtet. Die passiven Kastrations-
vorstellungen entsprechen dem Wunsche des Patienten, Weib zu sein.
Sie entstammen einer Zeit, in der die Anschauung herrschte, das
weibliche Geschlecht sei des ihm ursprünglich eigenen Penis durch
Kastration beraubt. Alle die genannten Vorstellungen spielen eine große
Rolle in seinem Traumleben. Er muß etwa einer Frau einen Finger
amputieren. Oder er muß an einem Manne (Vater) eine Operation
vollziehen; nachher hilft die Mutter ihm beim Vernähen der Wunde.
In anderen Träumen soll ein Kind geköpft werden. Unter den
perennierenden Träumen des Patienten ist die Verfolgung durch einen
Mann, der ein Messer in der Hand trägt, erwähnenswert. Die besondere
Ausprägung des Kastrationskomplexes zeigt die ursprüngliche Gewalt
der sadistisch-masochistischen Triebregungen.
Die Kastration hat in der Phantasie des Patienten nicht nur die
selbstverständliche Bedeutung der Entmannung, sondern sie weist
daneben auf eine bestimmte Vorstellung hin, die von jeher sein
besonderes Interesse in Anspruch genommen hat. Es ist die Idee,
infolge der Kastration nicht mehr urinieren zu können. Von hier führen
Fäden zu einem anderen Vorstellungskomplex hinüber.
Bei allen Neurotikern, deren Anal- und Urethralzone in
besonderem Maße erogen sind, besteht die Neigung zur Retention
derExkrete. Für den vorliegenden Fall gilt dies in ungewöhnlichem
Maße. Die Erinnerungen aus der Kindheit beschäftigen sich großenteils
mit einstmals geübten lustvollen Betätigungen in dieser Richtung. Ein
nervöses Symptom —- das Harnstottern — steht ebenfalls mit solcher
Betätigung in Zusammenhang.
In seiner Phantasie hat Patient sich von jeher Situationen
ausgemalt, in denen man zur Zurückhaltung der Bedürfnisse gezwungen
91
ist. Mit Vorliebe malte er sich aus, wie er von Indianern gefesselt und
an den Marterpfahl gebunden würde und dann zur Zurückhaltung des
Blasen- und Darminhaltes gezwungen wäre. Hier tritt ein stark
masochistisches Element hinzu. Ebenso war es eine seiner Lieblings-
vorstellungen, er wäre Polarforscher und würde durch entsetzliche
Kälte verhindert, auch nur für kurze Zeit zum Zwecke der körperlichen
Entleerungen die Kleidung zu öffnen.
Auch die Versuche, sich selbst zu fesseln, waren u. a. durch solche
Motive determiniert; sie fanden bezeichnenderweise im Klosett statt.
Überhaupt gewann die Fesselung, welche im Vorstellungsleben der
Sadisten und Masochisten die bekannte Rolle spielt, bei dem Patienten
wesentlich ihre Bedeutung durch die assoziative Verknüpfung mit den
Funktionen der Körperentleerung. Das Einschnüren des Körpers übte
einen Druck auf Darm und Blase aus, den der Patient lustvol
empfand. Als er zum ersten Male ein Korsett anlegte, traten Erektionen
ein, die von einer Urinentleerung gefolgt waren.
Eine wichtige Determinierung des Einschnürens (Korsett, Schnür-
stiefel) liegt in gewissen autoerotischen Gewohnheiten des Patienten,
die mit einer Einklemmung der Genitalien einhergingen.
Die außergewöhnlich starke Betonung der Analzone findet
ihren Ausdruck darin, daß diese Körperstelle in der Kindheit des
Patienten einer eigentümlichen autoerotischen Betätigung diente:
Patient pflegte sich so niederzulassen, daß die Ferse des einen Fußes '
einen Druck auf die Analgegend ausübte. In den entsprechenden
Erinnerungen finden wir die unmittelbare assoziative Verknüpfung von
Fuß und After. Die Ferse dient gewissermaßen als männliches, der
Anus als weibliches Organ.
Diese Verknüpfung wird jedoch außerordentlich verstärkt durch
die koprophile Riechlust des Patienten. Sein Autoerotismus findet
eine ausgiebige Befriedigung in den Gerüchen seiner eigenen Körper-
absonderungen. Die Ausdünstungen der Haut, der Genitalgegend und
des Fußes erregten schon früh besondere Lust. So konnte der Fuß
in der unbewußten Phantasie des Patienten Genitalbedeutung erlangen.
Hinsichtlich der koprophilen Riechlust sei erwähnt, daß häufige
Träume des Patienten entweder im Klosett spielen oder in durch-
sichtiger Symbolik analerotische Wunscherfüllungen bringen. Charakte-
ristisch ist besonders ein Traumbild, in dem er seine Nase zwischen
zwei große Halbkugeln steckt.
Daß auch der Schautrieb vorzugsweise auf das Exkrementelle
gerichtet ist, wurde bereits erwähnt. In den Träumen treten Vater
und Bruder des Patienten häufig in entsprechenden Situationen auf.
92
In weitaus den meisten Träumen kommt das Wasser als Symbol vor. |
Von Interesse ist ein Traum des Patienten, in dem er mit seinem
Bruder auf einem Schiffe durch einen Hafen fährt. Um aus dem Hafen .
zu kommen, müssen sie einen eigentümlichen, wie ein Haus über dem
Wasser gebauten Durchlaß passieren. Sie fahren dann durch freies
Wasser, sind dann aber plötzlich auf dem Lande und fahren mit dem
Schiffe durch eine Straße, ohne jedoch den Boden zu berühren. Sie
fahren in der Luft; ein Schutzmann sieht ihnen dabei zu. — Zur
Erklärung dieses Traumes nur einige Bemerkungen! Zunächst ist auf
den Doppelsinn des Wortes Hafen (in gewissen Dialekten = Topf)
und auf den Anklang des Wortes „Schiff“ an einen vulgären Terminus
für „Urinieren“ hinzuweisen. Der Durchlaß, welchen man an der Hafen-
auslahrt passieren muß, erinnert ihn an die abgeschrägten Säulen des
Tempels von Philae. Ein weiterer Einfall lautet: „Koloß von Rhodos“.
Der Koloß stellt einen Mann dar, der mit auseinander gestellten Beinen
über dem Hafeneingang von Rhodos steht. Er erinnert den Patienten
an seinen Vater, den er als Knabe in entsprechender Körperhaltung
urinieren sah. Das nachherige gemeinsame Schiffahren mit dem
Bruder — wobei das Schiff durch die Luft fährt — knüpft an eine
Kindheitserinnerung an, nämlich an einen unter Knaben nicht seltenen
Wettstreit in bezug auf das Urinieren. Von Bedeutung ist auch das
I exhibitionistische Moment in diesem Traume: das Urinieren geschieht
vor den Augen eines Schutzmannes; die Erfahrung lehrt, daß aufsicht-
führende Personen im Traume den Vater bedeuten.
| Das außerordentlich reiche Traummaterial, welches der Patient |
im Laufe der Analyse lieferte, enthält ähnliche Anspielungen in großer
| Menge. Die erstaunliche Variabilität dieser Träume läßt darauf schließen,
| daß die koprophile Schaulust in ganz ungewöhnlichem Maße die
Phantasie des Patienten beschäftigt.
Erwähnt sei, daß der Patient die typischen Charakterzeichen |
sublimierter Analerotik bietet; insbesondere treten eine pedantische
Sparsamkeit und Ordnungsliebe hervor.
In welchem Maße für den Patienten der Fuß dem männlichen |
Genitale substituiert ist, geht in bemerkenswerter Weise aus gewissen |
Träumen hervor, von denen zwei kurz wiedergegeben seien. Einmal
trägt Patient im Traume Pantoffeln an den Füßen; die Schuhe sind
hinten niedergetreten, so daß seine Fersen sichtbar sind. Dieser Traum |
entpuppt sich als Exhibitionstraum; die Ferse wird zur Schau gestellt |
wie in den gewöhnlichen Exhibitionsträumen die Sexualorgane. Der |
Affekt war der gleiche, wie wir ihn aus den typischen, mit Angst |
einhergehenden Exhibitionsträumen kennen.
RELR us : | |
93
In einem anderen hierher gehörigen Traume berührt Patient eine
Frau mit seinem Fuße und beschmutzt sie dadurch. Dieser Traum ist
ohne weiteres verständlich.
In diesem Zusammenhange wird klar, warum den Patienten
besonders die hohen Absätze an Frauenschuhen interessieren. Der
Absatz des Schuhes entspricht der Ferse; gerade diese aber hat
durch den besprochenen Verschiebungsvorgang die Bedeutung eines
männlichen Genitale erhalten. So lebt in der Vorliebe für den weiblichen
Fuß und seine Bedeckung, besonders aber für den Absatz das infantile
Sexualinteresse fort, das der Patient einst dem von ihm supponierten
Penis des Weibes entgegenbrachte,
Das angeführte Tatsachenmaterial stellt nur einen geringen
Bruchteil dessen dar, was die Analyse zutage gefördert hat. Es scheint
mir aber ausreichend, um den Nachweis zu erbringen, daß dem Fuße
die Bedeutung eines Genitalersatzes zukommt. Schau-
trieb und Riechtrieb, von jeher in auffälligem Maße auf das Exkrementelle
gerichtet, wurden einer weitgehenden, freilich sehr ungleichen
Umwandlung unterworfen; der Riechtrieb wurde in weitem Ausmaße
verdrängt, der Schautrieb hingegen um so stärker betont, freilich von
seinem ursprünglichen Interessengebiet abgelenkt und idealisiert.
Dieser Vorgang, dem nur der eine der beiden in Frage kommenden
Triebe zum Opfer fällt, verdient den ihm von Freud gegebenen
Namen „Partialverdrängung“.
Seit der ausführlichen Analyse dieses Falles hatte ich mehrfach
Gelegenheit, bei Neurotikern fetischistische Züge, welche gewissermaßen
einen Nebenbefund bildeten, der Analyse zu unterwerfen. In allen Fällen
erhielt ich die gleichen Resultate bezüglich der Bedeutung derjenigen
Triebe, die in dem mitgeteilten Falle als Grundlagen des Fetischismus
ermittelt wurden. Wegen dieser Gleichförmigkeit der Resultate unter-
lasse ich es, Einzelheiten aus diesen Analysen mitzuteilen.
Es erübrigt noch, einiges über die therapeutische Wirk-
samkeit der Psychoanalyse im obigen und in anderen Fällen von
Fetischismus hinzuzufügen. Zu einer Beseitigung des Fetischismus bin
ich in dem geschilderten Falle nicht gelangt. Wohl aber hat die
Aufklärungsarbeit der Analyse der sexuellen Abnormität sehr viel von
der Macht genommen, die sie bis dahin über den Patienten gehabt
hatte. Seine Widerstandskraft gegenüber den Reizen weiblicher Schuhe
usw. war wesentlich gewachsen. Während der Analyse tauchten des
öfteren normal-sexuelle Regungen auf. Ich halte es nicht für unmöglich,
daß eine konsequent fortgesetzte Behandlung allmählich zu einer
Stärkung der normalen Libido geführt hätte.
| Günstiger scheinen die Chancen mir da, wo es sich um weniger
| ausgeprägte Fälle handelt; wenn z. B. Erscheinungen fetischistischer
| Art neben einer Neurose bestehen. Ein kürzlich von mir analysierter
Fall dieser Art scheint mir den Beweis zu liefern, daß die Symptome
| derNeurose und des Fetischismus mitsammen durch die Psychoanalyse
zum Schwinden gebracht werden können, um einem normalen
geschlechtlichen Verhalten Platz zu machen.
Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und
Behandlung des manisch-depressiven Irreseins
und verwandter Zustände!.
Während die nervösen Angstzustände in der psychoanalytischen
Literatur eingehend behandelt worden sind, haben die Depressions-
zustände nicht die gleiche Berücksichtigung gefunden. Und doch ist
der depressive Affekt über alle Formen der Neurosen und Psychosen
ebenso verbreitet wie der Angstaffekt. Oft findet man beide Affekte bei
dem gleichen Individuum nebeneinander oder in zeitlicher Folge. Der
an Angstneurose Leidende ist depressiven Stimmungen unterworfen ;
der tief verstimmte Melancholiker klagt über Angst.
Eines der frühesten Ergebnisse der Freud’schen Neurosen-
forschung lautete: die neurotische Angst stammt von der Sexual-
verdrängung. Durch diese ihre Herkunft ist die neurotische Angst von
der Furcht geschieden. Ganz entsprechend trennen wir den Affekt der
Trauer oder Niedergeschlagenheit von der unbewußt motivierten, d.h.
auf Verdrängung beruhenden neurotischen Depression.
Zwischen Angst und Depression besteht ein analoges Verhältnis
wie zwischen Furcht und Trauer. Wir fürchten ein kommendes Unheil;
wir trauern über ein eingetretenes. Der Neurotiker wird von Angst
befallen, wenn sein Trieb einer Befriedigung zustrebt, die zu erreichen
seine Verdrängung ihm verbietet. Die Depression setzt ein, wenn er
erfolglos, unbefriedigt sein Sexualziel aufgibt. Er fühlt.sich liebesunfähig
und ungeliebt; darum verzweifelt er am Leben und an der Zukuntt.
Dieser Affekt hält an, solange seine Ursachen nicht in Wegfall gekommen
sind, — sei es durch tatsächliche Änderung der Situation, sei es
durch psychische Verarbeitung der unlustbetonten Vorstellungen. Jeder
neurotische Depressionszustand enthält. die Tendenz zur Lebens-
‚verneinung, ganz wie der ihm wesensverwandte Angstzustand.
1 Mit Benützung eines Vortrages auf dem III. psychoanalytischen Kongreß in
Weimar (21. September 1911). Zuerst veröffentlicht im „Zentralblatt für Psychoanalyse *
II. Jahrgang; Heft 6, 1912.
96
Mit den obigen Bemerkungen sage ich denjenigen, welche die
Neurosen unter den Gesichtspunkten der Freud’schen Lehren betrachten,
kaum etwas Neues, obwohl die Literatur auffallend wenig über die
Psychologie der neurotischen Depression enthält. Der depressive Affekt
im Rahmen der Psychosen harrt dagegen noch der genaueren
Untersuchung. Die Aufgabe seiner Erforschung wird dadurch kompliziert,
daß ein Teil der in Frage kommenden Krankheiten „zirkulär“ verläuft,
einen Wechsel melancholischer und manischer Zustände erkennen läßt.
Die wenigen bisher erschienenen Vorarbeiten! beschäfiigen sich aber
jeweilen nur mit einer der beiden Phasen.
Im Laufe mehrerer Jahre konnte ich in der psychotherapeutischen
Privatpraxis sechs einschlägige Fälle beobachten. Zwei davon waren
leicht manisch-depressive Patienten, deren einen ich freilich nur
vorübergehend behandelte (Fälle von sogenannter Zyklothymie); eine
dritte Kranke litt an kurzen, aber rasch aufeinander folgenden Depressions-
zuständen mit typisch-melancholischen Erscheinungen. Bei zwei Patienten
handelte es sich um erstmalige depressive Psychosen; schon früher
hatte bei ihnen die Neigung zu leichten manischen und depressiven
Stimmungsschwankungen bestanden. Ein Patient endlich war mit
45 Jahren an einer schweren und hartnäckigen Psychose erkrankt.
Die Depressionszustände des fünften Dezenniums werden nach
Kraepelin’s Vorgang von den meisten Psychiatern nicht dem manisch-
depressiven Irresein zugerechnet. Wegen der weitgehenden Überein-
stimmung der psychischen Struktur, wie sie durch die Analyse aufgedeckt
wurde, reihe ich den letztgenannten Fall hier denjenigen an, deren
Zugehörigkeit zum manisch-depressiven Irresein keinem Zweifel
unterliegen kann. Zur Frage der Abgrenzung dieser Psychosen gegen-
einander will ich damit nicht Stellung genommen haben.
Auf die Depressionszustände im Krankheitsbilde der Dementia
praecox beabsichtige ich nicht einzugehen.
Schon zu Beginn der ersten Analyse einer depressiven Psychose
fiel mir auf, wie sehr diese in ihrem Aufbau der Zwangsneurose
ähnelte. Beim Zwangsneurotiker? — ich habe hier die schweren,
1 Maeder, Psychoanalyse bei einer melancholischen Depression. Zentralblatt
für Nervenheilkunde und Psychiatrie. 1910,
Brill, Ein Fall von periodischer Depression psychogenen Ursprungs. (Über-
setzung.) Zentralblatt für Psychoanalyse, Bd. I. p. 158.
Jones, Psycho-Analytic Notes on a Case of Hypomania, Bulletin of the Ontario
Hospitals for the Insane. 1910.
2 Die folgende kurze Charakteristik hält sich eng an die Darstellung Freud’s
in den „Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose“. (Jahrbuch für Deycuesnlye
Forschungen. Bd. 1.)
97
ausgeprägten Fälle im Auge — kann die Libido sich nicht in normaler
Weise entfalten, weil zwei verschiedene Tendenzen — Haß und Liebe
— einander dauernd beeinträchtigen. Die Neigung zur feindseligen
Einstellung auf die Außenwelt ist so groß, daß die Liebesfähigkeit
aufs äußerste herabgemindert ist. Gleichzeitig aber wird der Zwangs-
neurotiker durch Verdrängung des Hasses (oder allgemeiner gesagt:
der ursprünglich überwiegenden sadistischen Komponente seiner Libido)
schwach und energielos. Eine ähnliche Unsicherheit besteht bei der
Objektwahl in bezug auf das Geschlecht des Objektes. Die Unfähigkeit,
der Libido eine bestimmte Einstellung zu geben, führt zu einem
allgemeinen Gefühl der Unsicherheit, weiterhin zur Zweifelsucht. Der
Zwangsneurotiker vermag keinen Entschluß zu fassen, keine klare
Entscheidung zu treffen; er leidet in jeglicher Situation unter Gefühlen
der Insuffizienz und steht dem Leben hilflos gegenüber.
Ich teile nun in möglichster Kürze die Geschichte eines Zyklothymen
mit, wie sie sich nach erfolgter Analyse darstellt.
Der Patient erinnert sich, daß der Geschlechtstrieb bei ihm sehr
frühzeitig, d. h. schon vor dem sechsten Lebensjahre, mit großer
Heftigkeit hervorbrach. Als sein erstes Sexualobjekt aus dieser Zeit
nannte er eine Kindergärtnerin, deren Gegenwart ihn erregte. Auch in
der Phantasie beschäftigte er sich lebhaft mit ihr. Die damalige
Erregung führte zur Onanie, die er ausübte, indem er sich auf die
Bauchseite legte und dann reibende Bewegungen ausführte. In dieser
Betätigung wurde er durch die Kinderfrau (früher Amme) gestört. Sie
verbot ihm sein Tun eindringlich, prügelte ihn wiederholt, wenn er
dem Verbot zuwiderhandelte und stellte ihm in Aussicht, er werde
sich auf diese Weise für sein ganzes Leben unglücklich machen.
Während der Schuljahre hatte Patient eine mehrere Jahre dauernde
erotische Schwärmerei für einen Mitschüler.
Im elterlichen Hause fühlte Patient sich während der Kindheit
und auch später nie zufrieden. Er hatte stets den Eindruck, daß die
Eltern den ältesten Bruder bevorzugten, weil dieser sich als besonders
intelligent erwies, während er selbst nur mittelmäßig veranlagt war.
Ebenso war er der Ansicht, daß der jüngere Bruder, der kränklich
war, von der Mutter mit größerer Aufmerksamkeit bedacht wurde als
er. Daraus ging eine feindselige Einstellung gegenüber den Eltern
hervor, während die Brüder seine Eifersucht und seinen Haß erregten.
Wie intensiv diese Haß-Einstellung war, geht aus ein paar impulsiven
Handlungen in seiner Kindheit hervor. Aus Anlaß eines geringen
Streites wurde er gegen den jüngeren Bruder zweimal so gewalttätig, daß
dieser zu Fall kam und beide Male ernstliche Verletzungen davontrug.
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an
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Diese Gewalttätigkeit fällt besonders auf, wenn wir hören, daß
Patient während der Schulzeit stets der Kleinste und Schwächste unter
seinen Mitschülern war. Er fand nie rechten Anschluß, hielt sich meist
allein. Er war fleißig, brachte es aber nicht zu entsprechenden Erfolgen.
In der Pubertät erwies sich dann deutlich, daß seine Triebe, die sich
zuerst so stark gezeigt hatten, durch Verdrängung lahm gelegt waren.
Er fühlte sich — im Gegensatz zu seinem Verhalten in der Kindheit!
— vom weiblichen Geschlecht nicht angezogen. Seine Sexualbetätigung
war die schon in der Kindheit geübte, die sich aber nicht im wachen
Zustande, sondern nur im Schlaf oder Halbschlaf vollzog. Freunde
hatte er nicht. Er bemerkte selbst, wenn er sich mit anderen verglich,
das Fehlen der rechten Lebensenergie. Zu Hause fand er keine
Ermutigung; im Gegenteil bekam er vom Vater geringschätzige
Bemerkungen zu hören. Zu allen diesen deprimierenden Momenten
gesellte sich noch ein besonderes psychisches Trauma. Ein Lehrer
beging die Roheit, ihn vor versammelter Klasse als einen körperlichen
und geistigen Krüppel zu bezeichnen. Bald danach brach der erste
Depressionszustand aus.
Auch später fand er nicht den Anschluß an andere Menschen,
hielt sich aber auch absichtlich von ihnen zurück, weil er fürchtete,
doch nur für beschränkt gehalten zu werden. Einen guten gemütlichen
Rapport hatte er nur mit Kindern, denen gegenüber ihn nicht die
sonst gewohnten Insuffizienz-Gefühle‘befielen. Im übrigen hielt er sich
isoliert. Vor Frauen hatte er geradezu Angst. Zum normalen Sexual-
verkehr war er fähig, empfand aber eigentlich keine Neigung dazu
und entbehrte auch der Befriedigung durch ihn. Die Schlafonanie
blieb auch in späteren Jahren die hauptsächlichste Sexualbetätigung
des Patienten. Im praktischen Leben zeigte er sich wenig energisch;
besonders fiel es ihm immer schwer, in zweifelhafter Situation zu
einem Entschluß oder einer Entscheidung zu gelangen.
Diese Vorgeschichte deckt sich in allen Einzelheiten mit derjenigen,
wie wir sie bei den Zwangsneurotikern :ermitteln. Aber wir finden bei
unserem Patienten nicht Zwangserscheinungen, sondern zirkuläre
Stimmungsschwankungen, die sich seit nunmehr etwa 20 Jahren viele
Male wiederholt haben.
In der depressiven Phase ist die Stimmung des Patienten
— je nach der Schwere des Zustandes — „deprimiert“ oder „apathisch“.
(Ich gebe hier die vom Patienten selbst gebrauchten Bezeichnungen
wieder.) Er ist gehemmt, muß sich auch zu einfachen Verrichtungen
mühsam zwingen, spricht langsam und leise, wünscht sich den -Tod
und hegt Selbstmordgedanken. Seine Vorstellungen haben. einen
99
depressiven Inhalt. Oft sagt er zu sich selbst: „Ich bin ein
Ausgestoßener“, „ein Verfluchter“, „ein Gezeichneter“; „ich habe keine
Zugehörigkeit zur Welt“. Er hat ein unbestimmtes Gefühl, als treffe
der Depressionszustand ihn als Strafe. Er hat das Gefühl der Nichtigkeit;
er malt sich häufig aus, wie er spurlos vom Erdboden verschwände.
Während dieser Stimmungslage leidet er an Mattigkeit, Angst und
Druckgefühlen im Kopf. Die Dauer der depressiven Phase betrug
meist einige Wochen; manchmal war sie kürzer. Die Intensität der
Depression schwankt ebenfalls zwischen den einzelnen Attacken;
Patient hatte im Laufe eines Jahres etwa zwei oder drei schwerere
melancholische und etwa sechs oder noch mehr leichtere Zustände.
Im Verlauf jeder einzelnen Attacke war ein allmähliches Ansteigen,
ein Verweilen auf der Höhe der Depression und ein allmähliches
Absinken der Verstimmung sowohl dem Patienten fühlbar als auch
objektiv deutlich wahrnehmbar.
Ungefähr im 28. Lebensjahre des Patienten traten Verskipmängen
entgegengesetzter Art hinzu; seither findet ein aandieen Wechsel
hypomanischer und depressiver Zustände statt.
Im Beginn der manischen Phase erwacht Patient aus seiner
Apathie, wird geistig rege, allmählich sogar überrege. Er ist vielgeschäftig,
kennt keine Ermüdung, erwacht früh vor Tag und beschäftigt sich
darın mit beruflichen Plänen. Er ist unternehmend, traut sich große
Leistungen zu, ist redselig und zum Lachen und Scherzen geneigt.
Er neigt zuWortspielen und Wortwitzen. Er bemerkt selbst, daß seine
Gedanken etwas Flüchtiges an sich haben; objektiv läßt sich ein
leichter Grad von Ideenflucht nachweisen., Er spricht in schnellerem
Tempo, lebhafter und lauter als sonst. Die Stimmung ist heiter und
leicht gehoben. In den höheren Graden der manischen Verstimmung
pflegt die Euphorie in Reizbarkeit und impulsive Heftigkeit überzugehen.
Stört ihn z. B. jemand bei der Arbeit, tritt ihm jemand in den Weg,
fährt ein Automobil rasch an ihm vorüber, so macht sich ein heftiger
Wutaffekt bemerkbar. Patient möchte den Missetäter am liebsten auf
der Stelle niederschlagen. Er bekommt in diesem Zustand öfter auch
wirklich Streitigkeiten, in denen er sich dann sehr schroff benimmt.
— Während in den Depressions-Zeiten der nächtliche Schlaf ruhig
ist, tritt während der manischen Phase, besonders in der zweiten
Hälfte der Nacht, eine lebhafte Unruhe ein. In den meisten Nächten
macht sich eine explosive sexuelle Erregtheit bemerkbar.
Der Kranke, dessen Libido sehr frühzeitig und mit großer Energie
hervorgetreten war, hat die exekutive Fähigkeit zu Liebe und Haß
größtenteils eingebüßt. Auf gleichem Wege wie die Zwangsneurotiker
7
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100
ist er lebensunfähig geworden. Freilich liegt keine Impotenz bei ihm
vor; allein er entbehrt des eigentlichen Sexualgenusses. Die Pollution
bringt ihm größere Befriedigung als der Koitus. Seine Sexualbetätigung
ist im wesentlichen auf den Schlaf verwiesen. Es zeigt sich hier das
auch den Neurotischen eigene autoerotische Bestreben, sich von der
Außenwelt zu isolieren. Solche Menschen können nur in gänzlicher
Abgeschlossenheit Lust genießen. Jedes lebende Wesen, jeder tote
Gegenstand wird störend empfunden. Erst wenn ein völliger Abschluß
gegen jeden von außen kommenden Eindruck erzielt ist — wie dies
im Schlaf der Fall — erleben sie träumend die Befriedigung ihrer
sexuellen Wünsche. Unser Patient äußert sich dazu mit den Worten:
„Ich fühle mich im Bett am wohisten; da bin ich wie im eigenen Hause“!.
In der Pubertätszeit mußte Patient in besonderem Maße bemerken,
daß er in wichtigen Beziehungen hinter seinen Altersgenossen zurück-
stand. Körperlich hatte er sich diesen nie ebenbürtig gefühlt. In
geistiger Hinsicht fürchtete er — besonders im Vergleich mit seinem
älteren Bruder — ebenfalls inferior zu sein. Jetzt kam das Gefühl
sexueller Unzulänglichkeit hinzu. Gerade in dieser Zeit traf ihn die
Kritik des Lehrers („geistiger und körperlicher Krüppel“) wie ein
Keulenschlag. Ihre Wirkung erklärt sich zu einem wesentlichen Teil
daraus, daß sie, wie Patient angibt, die Prophezeiung der Amme in
seine Erinnerung zurückrief. Sie hatte ihm ja gedroht, er werde sich
durch seine Masturbation fürs ganze Leben unglücklich machen. Gerade
in dem Zeitpunkt also, da er zum Mann werden und sich männlich
fühlen sollte wie seine Altersgenossen, erhielten die schon früher in
ihm wohnenden Gefühle der Insuffizienz eine bedeutende Verstärkung.
Im Anschluß daran entstand der erste dem Patienten erinnerliche
Depressionszustand.
Der Ausbruch der eigentlichen Krankheit erfolgte — ganz wie
wir es bei der Zwangsneurose so oft erweisen können — als über
die Einstellung des Patienten auf die Außenwelt, über die zukünftige
Verwendung seiner Libido die endgültige Entscheidung getroffen
werden sollte. In den anderen analysierten Fällen hatte ein Konflikt
der gleichen Art den Anlaß zum ersten Ausbruch eines Depressions-
zustandes gegeben. So hatte sich z. B. einer der Patienten verlobt. Bald
darauf überwältigte ihn das Gefühl mangelnder Liebesfähigkeit; er
verfiel in eine schwere melancholische Depression.
1! Ich bemerke hier, daß die anderen männlichen Patienten, deren depressive
Psychosen ich analysieren konnte, sich ganz ähnlich verhielten, Impotent war keiner
von ihnen. Aber für alle war das autoerotische Verhalten von jeher lustvoller, während
ihnen jede Applikation an weiblichen Personen beschwerlich und lästig war.
mn
101
In sämtlichen Fällen hatte die Krankheit erweislich ihren Ausgang
genommen von einer dasLiebesvermögen paralysierenden Haßeinstellung.
‚Ganz wie in der Psychogenese der Zwangsneurose erwiesen sich aber
auch hier noch andere Konflikte im Triebleben der Patienten als
krankmachende Faktoren. Ich betone hier besonders die Unsicherheit
in bezug auf die Geschlechtsrolle. . In Maeders Fall trat dieser
Konflikt zwischen männlicher und weiblicher Einstellung besonders
hervor. Bei zweien meiner Patienten erhob ich einen Befund, der dem
von Maeder geschilderten überraschend ähnlich war.
In der weiteren Entwicklung aber entfernen die beiden Krankheiten
sich voneinander. Die Zwangsneurose schafft an Stelle der unerreich-
baren Sexualtriebe Ersatzziele; die Betätigung im Sinne dieser
letzteren ist mit den Erscheinungen des psychischen Zwanges verbunden.
Anders ist der Vorgang bei der Entstehung der depressiven Psychosen.
Zu dem Verdrängungsprozeß gesellt sich hier der Vorgang, welcher
uns, besonders aus der Psychogenese gewisser Geistesstörungen, unter
dem Namen „Projektion“ geläufig ist.
In den: „Bemerkungen zu einem autobiographisch beschriebenen
Fall von Paranoia“ (Jahrb. f. psychoanalyt. Forschungen, Bd. Ill)
gibt Freud eine bestimmte Formulierung über die Psychogenese der
Paranoia. In kurzen Formeln präzisiert er die Stadien, welche bis zur
Bildung des paranoischen Wahnes durchlaufen werden (I. c. S. 55f.).
Auf Grund meiner Analysen depressiver Geistesstörungen möchte ich
hier eine ähnliche Formulierung für die Genese der depressiven
Psychosen zu geben versuchen.
Freud sieht — mindestens in einem großen Teil der Fälle von
paranoischer Wahnbildung — den Kern des Koniliktes in der homo-
sexuellen Wunschphantasie, ein Individuum des gleichen Geschlechtes
zu lieben. [Formel: Ich (ein Mann) liebe ihn (den Mann).] Der
Verfolgungswahn erhebt Widerspruch gegen diese Einstellung, „indem
er laut proklamiert: ich liebe ihn nicht, ich hasse ihn ja.“ ,Da die
innere Wahrnehmung bei der Paranoia durch eine Wahrnehmung von
außen ersetzt wird, so wird der eigene Haß als eine Folge der von
außen her erduldeten Gehässigkeiten hingestellt. Die dritte Formel
lautet nun: „Ich liebe ihn ja nicht — ich hasse ihn ja — weil er
mich verfolgt.“
In den uns hier beschäftigenden Psychosen verbirgt sich ein
anderer Konflikt. Er nimmt seinen Ausgang von einer überwiegenden
Haß-Einstellung der Libido, die sich zuerst den nächsten Angehörigen
gegenüber geltend macht, sich dann aber verallgemeinert. Sie läßt
sich durch folgende Formel ausdrücken:
102
l. Ich kann die Menschen nicht lieben; ich muß sie hassen.
Von dieser unlustvollen „inneren Wahrnehmung“ nehmen die
schweren Insuffizienzgefühle dieser Kranken ihren Ausgang. Wird nun
der Inhalt der Wahrnehmung verdrängt und nach außen projiziert, so
gelangt das Individuum zu der Auffassung, von seiner Umgebung —
zunächst sind es wieder die Eltern usw., dann ein weiterer Kreis von
Personen — nicht geliebt, sondern gehaßt zu werden. Diese Auffassung
wird aus ihrem ursprünglichen ursächlichen Zusammhang mit der
eigenen Haß-Einstellung des Individuums losgelöst und mit andern —
psychischen oder körperlichen — Mängeln in Zusammenhang gebracht!.
Es scheint, daß ein reichliches Vorhandensein solcher Minderwertigkeiten
die Entstehung depressiver Zustände begünstigt.
So ergibt sich die zweite Formel:
2. Die Menschen lieben mich nicht; sie hassen mich .. . weil ich
mit angeborenen Mängeln behaftet bin? Darum bin ich un glück-
lich, deprimiert.
Die verdrängten sadistischen Regungen aber ruhen nicht. Sie
zeigen die Tendenz, ins Bewußtsein zurückzukehren und erscheinen
in mancherlei Formen wieder: in Träumen und Symptomhandlungen,
besonders aber in quälerischen Neigungen gegen die Umgebung, in
heftigen Rachegelüsten oder kriminellen Impulsen. Derartige Anwand-
lungen kommen gewöhnlich nicht zur direkten Beobachtung, weil sie
meist unausgeführt bleiben. Bei intimerem Eingehen auf die Kranken
— eventuell in der Katamnese — erfährt man genug darüber. Wer
sie in der depressiven Phase übersehen hat, findet übrigens reichlichere
Gelegenheit, sie in der manischen Phase zu beobachten. Darüber später.
Gerade hinsichtlich dieser Gelüste nach Rache, gewalttätigen
Handlungen usw. tritt die Neigung hervor, sie von dem quälenden
Gefühl körperlicher oder seelischer Unvollkommenheit abzuleiten,
anstatt von dem eigenen, mangelhaft verdrängten Sadismus. Jeder
Kranke der manisch-depressiven Gruppe neigt zu den Folgerungen
Richards des Dritten. Der enthüllt mit schonungsloser Grausamkeit
gegen sich selbst alle seine Gebrechen und zieht daraus das Fazit:
„Therefore, since I cannot prove a lover
I am determined to prove a villain.“
1 In manchen Fällen — anscheinend besonders in den leichteren — geht der
ursprüngliche Zusammenhang nur teilweise verloren. Doch bleibt die Verschiebungs-
tendenz auch dann deutlich erkennbar. i
» Man beachte in der deutschen Sprache die Etymologie von „häßlich“: was
den Haß erregt.
103
Wegen seiner Gebrechen kann Richard nicht lieben; er wird um
ihrer willen gehaßt. Dafür will er Rache nehmen. Ganz ebenso wollte
jeder ‚unserer Kranken; aber er kann nicht, weil die Aktivität seiner
Triebe durch Verdrängung paralysiert ist.
Für ihn gehen aus der Unterdrückung dieser oft genug auftauchenden
Regungen des Hasses, der Rache usw. neue krankhafte Erscheinungen
hervor: die Ideen der Verschuldung. Nach den bisherigen
Erfahrungen glaube ich sagen zu dürfen: je heitiger die unbewußten
Regungen der Rache sind, umso ausgeprägter ist die Neigung, Wahn-
ideen der Verschuldung zu bilden. Dieser Wahn kann, wie bekannt,
ins Ungeheure gehen, so daß der Kranke etwa angibt, er allein habe
seit Weltbeginn alle Sünden verschuldet, oder alles Böse in der Welt
stamme allein von ihm. Es handelt sich hier um Individuen mit einem
ins Unbewußte verdrängten unersättlichen Sadismus, der sich gegen
alle und alles richten möchte. Freilich ist die Vorstellung einer so
ungeheuren Schuld dem Bewußtsein im höchsten Maße qualvoll;
einem solchen Grade des verdrängten Sadismus entspricht eine besondere
Schwere des depressiven Affektes. Dennoch enthält die Verschuldungs-
idee die Erfüllung eines Wunsches: des verdrängten Wunsches, ein
Verbrecher allergrößten Stiles zu sein, mehr Schuld auf sich zu laden
als alle anderen Menschen zusammengenommen. Auch hier werden
wir an gewisse psychische Vorgänge bei den Zwangsneurotikern
erinnert. Ich nenne nur die Vorstellung dieser Kranken bei der
„Allmacht“ ihrer Gedanken. Sie leiden häufig an der Angst, durch
Gedanken an den Tod gewisser Personen deren Tod tatsächlich
verschuldet zu haben. Auch beim Zwangsneurotiker sind die sadistischen
Triebregungen unterdrückt. Da er nicht gemäß seinem ursprünglichen
Triebe handeln kann, gibt er sich unbewußt der Phantasie hin,
durch Gedanken töten. zu können; dem Bewußtsein wird dieser
Wunsch nicht als solcher, sondern als quälende Beängstigung
bemerkbar.
Aus der Verdrängung des Sadismus sehen wir Depression, Angst
und Selbstvorwürfe hervorgehen. Wird aber die wichtige Lustquelle
der aktiven Triebbetätigung versperrt, so ist die Hinwendung zum
Masochismus die selbstverständliche Folge. Der Patient stellt sich
passiv ein; er zieht Lust aus seinem Leiden, aus der beständigen
Selbstbespiegelung. Im tiefsten melancholischen Elend ist so noch ein
versteckter Lustgewinn enthalten. n
Manche Kranke sind, bevor ein eigentlicher Depressionszustand
bei ihnen einsetzt, besonders tätig im Berufsleben oder auf anderen
Gebieten. Sie sublimieren — oft gewaltsam — die Libido, die sie
104
ihrem eigentlichsten Zwecke nicht zuführen können. Sie täuschen sich
damit über die Konflikte in ihrem Innern hinweg und wehren den
| depressiven Stimmungen, die in ihr Bewußtsein einbrechen wollen.
Das gelingt oft recht lange Zeit hindurch, freilich nie vollkommen.
| Wer dauernd mit der Abwehr störender Einflüsse zu tun hat, kommt
nie zu innerer Ruhe und Sicherheit. Eine Situation, welche eine
bestimmte Entscheidung in Sachen der Libido zur Notwendigkeit
macht, hebt dann plötzlich das mühsam erhaltene psychische Gleich-
gewicht auf. Mit dem Beginn des Depressionszustandes kommen die
vorherigen Interessen (d. h. Sublimierungen) des Patienten plötzlich in
Wegiall; daraus resultiert die Einengung des geistigen Gesichtskreises,
die bis zum sogenannten „Monideismus“ gehen kann.
Ist die depressive Psychose manifest geworden, so tritt als Kardinal-
erscheinung die allgemeine psychische Hemmung hervor. Sie erschwert
den Rapport zwischen dem Kranken und der Außenwelt. Unfähig zu
einer nachhaltigen, positiven Applizierung seiner Libido, sucht der
Kranke unbewußt die Abgeschlossenheit von der Welt. Dieses auto-
erotische Streben gibt sich in der Hemmung des Kranken kund. Nun
stehen freilich in der Symptomatik der Neurosen und Psychosen auch
andere Mittel zur Verfügung, die einer autoerotischen Tendenz Ausdruck
verleihen können. Daß gerade die Hemmung und nicht ein beliebiges
anderes Ausdrucksmittel hier in die Erscheinung tritt, erklärt sich einwand-
frei daraus, daß die Hemmung gleichzeitig noch anderen, unbewußten
Tendenzen zu dienen vermag. — Ich nenne hier besonders die Tendenz
der Lebensverneinung. Namentlich die höheren Grade der Hemmung,
die man als depressiven Stupor bezeichnet, stellen ein symbolisches
Sterben dar. Der Kranke bleibt selbst auf Applikation starker äußerer
Reize reaktionslos, als gehörte er nicht mehr zur lebenden Welt.
Ausdrücklich sei bemerkt, daß im vorstehenden nur zwei durchgängige
Ursachen der Hemmung behandelt worden sind. Die Analyse ergibt
in jedem Falle noch weitere, mit den individuellen Verhältnissen
zusammenhängende Determinationen.
| Gewisse Einzelerscheinungen des Depressionszustandes werden
uns verständlich, wenn wir auf gut gegründete psychoanalytische
| Erfahrungen zurückgreifen. Genannt sei hier die so häufige Idee der
1% Verarmung. Der Patient klagt etwa, er und seine Familie seien dem
Verhungern preisgegeben. Ist dem Ausbruch der Krankheit tatsächlich
ein pekuniärer Verlust vorausgegangen, so behauptet der Patient, diesen
Schlag unmöglich überstehen zu können; er sei vollkommen ruiniert.
Diese eigentümlichen, den Kranken oft gänzlich beherrschenden
' Gedankengänge erklären sich aus einer uns geläufigen Identifizierung
105
von Libido und Geld, von sexuellem und pekuniärem „Vermögen“.
Für den Kranken ist, sozusagen, die Libido aus der Welt gegangen;
während andere mit ihrer Libido die Objekte der Außenwelt besetzen
können, fehlt ihm dieses Kapital. Die Idee der Verarmung entspringt
aus der verdrängten Wahrnehmung der Liebesunfähigkeit.
Befürchtungen oder ausgesprochene Wahnideen mit derartigem
Inhalt begegnen uns besonders häufig in den Depressionszuständen des
Involutionsalters. Soweit meinenoch nichtsehr umfangreichen analytischen
Erfahrungen über diese Zustände einen Schluß zulassen, handelt es sich
um Personen, deren Liebesleben dauernd unbefriedigend verlaufen ist.
In den vorausgegangenen Jahrzehnten hatten sie diesen Tatbestand
verdrängt, hatten ihre Zuflucht zu allerhand Kompensierungen genommen.
Der klimakterischen Revolution ist die Verdrängung nicht gewachsen.
Diese Menschen halten jetzt gleichsam-Rückschau über ihr verlorenes
Leben und empfinden gleichzeitig, daß es nun für eine Änderung zu
spät ist. Gegen alle hierher gehörigen Vorstellungen sträubt sich ihr
Bewußtsein mit größter Heftigkeit; zu schwach, um sie völlig zu bannen,
muß es ihnen den Zutritt in maskierter Form gewähren. In der Ver-
hüllung des Verarmungswahnes sind sie immer noch peinvoll, aber nicht
mehr unerträglich in dem vorherigen Maße.
In der äußeren Erscheinung ist die manische Phase der zirkulären
Störungen das volle Gegenteil der depressiven. Für die oberflächliche
Betrachtung sieht eine manische Psychose sehr lustig aus; verzichtet
man auf ein tieferes Eindringen mit Hilfe der Psychoanalyse, so kann
man zu dem Schluß gelangen, die beiden Phasen ständen auch inhaltlich
im Gegensatz zueinander. Die Psychoanalyse aber laßt mit Sicherheit
erkennen, daß beide Phasen unter der Herrschaft der gleichen —
nicht etwa entgegengesetzter — Komplexe stehen. Verschieden ist nur
die Einstellung des Kranken auf die sich gleichbleibenden Komplexe.
Im depressiven Zustand läßt er sich vom Komplex niederdrücken und
sieht keinen anderen Ausweg aus seinem Elend als den Tod!; im
manischen Zustand setzt er sich über den Komplex hinweg.
Zum Ausbruch der Manie kommt es dann, wenn die Verdrängung
dem Ansturm der verdrängter Triebe nicht mehr standzuhalten vermag.
Der Kranke wird, besonders in den Fällen schwererer manischer
Erregung, von seinen Trieben wie im Taumel mitgerissen. Hier sei
ganz besonders betont, daß positive und negative Libido (Liebe und
Haß, erotisches Verlangen und aggressive Feindseligkeit) sich gleicher-
maßen ins Bewußtsein drängen. i
ı Manche Kranke verfechten auch die Meinung, geheilt werden zu können durch
die Erfüllung einer äußeren Bedingung, die allerdings unerfüllbar zu sein pflegt.
106
Gerade dadurch, daß libidinöse Regungen von beiderlei Art
wieder Zutritt zum Bewußtsein erhalten, wird ein Zustand geschaffen,
wie der Patient ihn schon einmal durchlebt hat: in seiner frühen
Kindheit. Während in der depressiven Phase alles zur Lebensverneinung,
zum Tode drängt, fängt der Manische das Leben von Neuem an. Er
kehrt in ein Stadium zurück, in dem die Triebe der Verdrängung
noch nicht anheimgefallen waren, in dem er von dem herauiziehenden
Konflikt noch nichts ahnte. Charakteristischerweise äußern die Patienten
öfter, — so auch in dem oben beschriebenen Fall — sie fühlten sich
„wie neugeboren“. Die Manie birgt in sich die Erfüllung des Wunsches:
„Gib ungebändigt jene Triebe,
Das tiefe schmerzenvolle Glück,
Des Hasses Kraft, die Macht der Liebe,
Gib meine Jugend mir zurück.“
Die Stimmung des Maniacus ist, gegenüber dem normalen oder
dem depressiven Zustand verändert, teils im Sinne einer sorglosen
oder ausgelassenen Heiterkeit, teils im Sinne erhöhter Reizbarkeit und
gesteigerten Selbstbewußtseins. Je nach der Individualität herrscht diese
oder jene Veränderung vor; auch in verschiedenen Krankheitsstadien
kann diese oder jene Stimmungslage vorherrschen.
Der Lustaffekt der Manie läßt sich aus denselben Quellen
ableiten wie die Witzeslust. Die folgenden Ausführungen können
sich daher aufs engste an die von Freud gegebene Theorie des
Witzes! anschließen.
Während der Melancholische sich im Zustand allgemeiner Hemmung
befindet, kommen mit dem Ausbruch der Manie auch die beim
Normalen vorhandenen Hemmungen der Triebe teilweise oder ganz in
Wegfall. Die hierdurch bedingte Hemmungsersparnis wird zur Lust-
quelle, und zwar zu einer dauernd fließenden, während der Witz nur
eine vorübergehende Aufhebung von Hemmungen mit sich bringt.
Die Ersparnis an Hemmungsaufwand ist jedoch keineswegs die
alleinige Quelle der manischen Lust. Durch Wegfall von Hemmungen
werden alte Lustquellen wieder zugänglich, auf denen die Unterdrückung
lag; gerade hierin zeigt es sich, wie sehr die Manie im Infantilen wurzelt.
Als dritte Lustquelle ist die Technik der manischen Gedankenproduktion
zu nennen. Die Aufhebung des logischen Zwanges und das Spielen mit
Worten —.zwei wesentliche Züge des manischen Vorstellungsablaufs —
bedeuten eine weitgehende „Wiederherstellung infantiler Freiheiten“.
ı ‚Der Witz und seine Beziehung zum Unbewußten“. Wien 1905.
107
Der melancholischen Hemmung des Gedankenablaufs entspricht
‚als gegensätzliches Symptom in der manischen Phase die Ideenflucht.
Dort Einengung des Ideenkreises, hier schnelles Wechseln des
Bewußtseinsinhaltes. Der haupsächlichste Unterschied zwischen Ideen-
flucht und normalem Denken liegt darin, daß der Gesunde, während
er denkt oder spricht, dem Ziel der Denkoperation konsequent zustrebt,
der Manische dagegen die Zielvorstellung sehr leicht verliert!. Damit
ist das Formale der Ideenflucht gekennzeichnet, nicht aber ihre Bedeutung
für den Manischen. Es muß. betont werden, daß die Ideenflucht dem
Kranken bedeutende Möglichkeiten der Lustgewinnung bietet. Daß
durch den Wegfall des logischen Zwanges, durch die Einstellung auf
den Wortklang statt auf den Wortsinn psychische Arbeit erspart wird,
wurde bereits erwähnt. Darüber hinaus hat aber die Ideenflucht noch
eine zweifache Funktion. Sie ermöglicht das spielende Hinweggehen
über solche Vorstellungen, welche dem Bewußtsein peinlich sind, so
z. B. über die Vorstellungen der Insuffizienz. Sie begünstigt also —
ähnlich wie der Witz — das Hineingelangen in einen anderen
Vorstellungskreis. Und ferner erlaubt die Ideenflucht, das sonst unter-
drückte Lustvolle scherzend zu streifen.
In einer Anzahl von Zügen prägt sich die Ähnlichkeit der manischen
und der kindlichen Psyche aus. Hier sei nur noch ein einzelner Hinweis
nach dieser Richtung gegeben. In den Zuständen leicht manischer
Exaltation findet man eine Art der sorglosen Heiterkeit, die einen
offensichtlich kindlichen Charakter trägt. Der Psychiater, der viel mit
solchen Kranken zu verkehren hat, bemerkt deutlich, daß sein gemüt.
licher Rapport mit ihnen ein ganz gleichartiger ist wie der mit einem
etwa fünfjährigen Kinde.
Die höheren Grade der Manie gleichen einem Freiheitsrausch.
Die sadistische Triebkomponente ist ihrer Fesseln entledigt. Alle
Zurückhaltung schwindet; statt dessen zeigt sich die Neigung zu
rücksichtslosem, aggressiven Verhalten. Auf einen geringen Anlaß hin
reagiert der Manische in diesem Stadium mit heftigen Wutausbrüchen,
mit übertriebener Rache. Der zyklothyme Patient, von dem oben die
Rede war, spürte, wenn die Exaltation eine gewisse Höhe erreicht
hatte, den Impuls, jemanden niederzuschlagen, der ihm auf der Straße
nicht sogleich Platz machte. Die Kranken pflegen gleichzeitig ein
übertriebenes Kraftgefühl zu äußern; sie messen ihre Kraft nicht an
den wirklichen Leistungen, sondern an der Heftigkeit der Triebe, die
ihnen jetzt in ungewohnter Weise fühlbar wird. Nicht selten finden
1 Liepmann, Über Ideenflucht. Halle 1904.
108
sich Größenideen, die dem Renommieren eines Kindes mit seiner
Kraft oder seinem Können äußerst ähnlich sehen.
Eine sehr wichtige Frage, die sich aus dem ausführlicher
beschriebenen Fall von Zyklothymie ergibt, wage ich nicht bestimmt
zu beantworten. Es bleibt zu erklären, warum zu den schon lange
vorher aufgetretenen depressiven Zuständen ungefähr im 28. Lebensjahre
des Patienten manische Exaltationen hinzutraten. Ich vermute, es
handle sich hier um eine der körperlichen Reifung verspätet nachfolgende
psychosexuelle Pubertät. Wir sehen bei Neurotikern die Entwickelung
des Trieblebens oft in so verspäteter Weise erfolgen. Der Patient hätte
also in der Pubertät nicht eine Verstärkung seines Trieblebens erfahren,
sondern einen weiblichen Verdrängungsschub durchgemacht, während
erst gegen Ende des dritten Dezenniums ein gewisses Erwachen der
Triebe in Gestalt des ersten manischen Zustandes erfolgte. Tatsächlich
hat in dem bezeichneten Alter sein Sexualinteresse sich mehr als früher
dem weiblichen Geschlecht zugekehrt und vom Autoerotismus mehr
abgewandt.
Ich habe nunmehr ıbch über die therapeutische Wirkung der
Psychoanalyse zu berichten.
Der Krankheitsfall, über den ich am ausführlichsten berichtet
habe, war zur Zeit meines Referates in Weimar soweit analysiert, daß
seine Struktur im ganzen durchsichtig wurde, Im einzelnen blieb
dagegen noch manches zu tun. Ein therapeutischer Erfolg war erst
in den Anfängen erkennbar; er ist in den seither verflossenen
21/, Monaten deutlich geworden. Ein abschließendes Urteil kann in
dieser Hinsicht natürlich noch nicht gefällt werden; denn nach
zwanzigjährigem Kranksein, das überdies gelegentlich durch freie
Intervalle von verschiedener Dauer unterbrochen war, bedeuten zwei
Monate der Besserung noch sehr wenig. Immerhin sei das bisherige
‚Ergebnis mitgeteilt. In der genannten Zeit ist kein Depressionszustand
mehr eingetreten, nachdem schon der letztvorausgegangene auffallend
leicht. verlaufen war. Infolgedessen war Patient während dieser Zeit
dauernd arbeitsfähig. Nach der manischen Seite hat in gleichem
Zeitraum zweimal eine Stimmungsschwankung stattgefunden, die der
sorgfältigen Beobachtung zwar nicht entgehen konnte, aber dem Grade
nach hinter früheren Exaltationen ganz erheblich zurückblieb und
gewisser sonst regelmäßig beobachteter Erscheinungen überhaupt
entbehrte. Zwischen diesen beiden manischen Phasen lag nicht —
wie sonst — eine depressive, sondern ein Zustand, den man mangels
aller zyklothymen Erscheinungen als normal bezeichnen durfte. Hier
muß uns der fernere Verlauf belehren. Nur eine Bemerkung sei
109
hinzugefügt. Wenn es in diesem Falle lediglich gelänge, einen Zustand
‚ wie den der letzten zwei Monate dauernd aufrecht zu erhalten, so
wäre für den Patienten auch ein partieller Erfolg dieser Art von
Wert. — In dem andern, eingangs erwähnten Fall von Zyklothymie
war die Beobachtungszeit zu kurz, um über die therapeutische
Einwirkung ein Urteil zu gestatten, während sich bezüglich der
Struktur der Krankheit von Anfang an überraschende Analogien mit
dem ersten Fall herausstellten.
Der eingangs angeführte dritte Fall erwies die Wirksamkeit der
Analyse in schlagendster Weise, trotzdem äußere Verhältnisse den
Abbruch der Behandlung nach etwa 40 Sitzungen erzwangen. Schon
in der ersten Zeit der Behandlung gelang es einmal, eine frisch
entstandene melancholische Depression zu kupieren, was früher auf
keine Art zu erzielen gewesen war. Die Einwirkung wurde im Laufe
der Zeit nachhaltiger; sie äußerte sich in einer deutlichen Hebung
der Stimmungslage und in einer bedeutenden Zunahme der Arbeits-
fähigkeit. Nach Unterbrechung der Behandlung ist in den folgenden
Monaten die Stimmung nicht wieder auf das frühere Niveau herab-
gesunken. An dieser Stelle sei bemerkt, daß der Fall mit besonderer
Deutlichkeit das Überwiegen der Haßeinstellung, das Gefühl der
Liebesunfähigkeit, die Verknüpfung der Depression mit dem Insuffizienz-
gefühl erkennen ließ.
Die oben erwähnten zwei Fälle von erstmaliger melancholischer:
Depression gestatteten eine konsequente Durchführung der Analyse
nicht, weil ihr von außen her Schwierigkeiten in den Weg gelegt
wurden. Die Einwirkung war dennoch unverkennbar. Vor allem gelang
es durch die psychoanalytische Klarstellung gewisser Tatsachen und
Zusammenhänge, einen psychischen Rapport mit den Patienten zu
gewinnen, wie ich ihn früher niemals zu erlangen vermocht hatte. Die
Herstellung der Übertragung ist bei diesen Kranken, die sich in ihrer
Depression von aller Welt abkehren, außerordentlich erschwert; die
Psychoanalyse, die mir bisher allein ermöglicht hat, das Hindernis zu
überwinden, erscheint mir deshalb als einzige rationelle Therapie der
manisch-depressiven Psychosen.
Der sechste oben angeführte Fall gibt zu dieser. Auffassung eine
noch größere Berechtigung, besonders deswegen, weil die Behandlung
bis zum Schluß durchgeführt werden konnte. Sie endete mit einem
außerordentlich schönen Erfolg. Der Kranke kam nach 1'/, jähriger
Dauer seines Leidens in meine Behandlung; vorher hatte der Aufenthalt
in verschiedenen Sanatorien nur palliativ gewirkt, resp. einzelne
Krankheitserscheinungen günstig beeinflußt.
110
Einige Wochen nach Beginn der Psychoanalyse fühlte der Kranke
sich zeitweise erleichtert. Nach vier Wochen begann die schwere
Depression zu weichen. Patient äußerte, es komme ihm zuweilen ein
Hoffnungsgefühl, als werde er doch noch wieder arbeitsfähig werden.
Er gelangte zu einem gewissen Grad von Einsicht: „Ich bin ja jetzt
so egoistisch, daß ich mein Geschick für das tragischeste halte.“ Im
dritten Monat der Behandlung war die Stimmung im ganzen freier;
alle psychischen Äußerungen trugen nicht mehr im früheren Grade
den Charakter der Hemmung. Es ‘kamen bereits halbe oder ganze
Tage vor, an denen Patient sich gut befand und sich mit Zukunftsplänen
befaßte. Er sagte in dieser Zeit einmal in bezug auf seine Stimmung:
„Wenn sie gut ist, so bin ich so sorglos und zufrieden wie nie zuvor.“
Im vierten Monat erklärte er, von der eigentlichen Depression sei
keine Rede mehr. Während des fünften Monats, in welchem die
psychoanalytischen Sitzungen nicht mehr täglich stattfanden, waren
noch deutlich Schwankungen des Befindens bemerkbar, die Tendenz
zur Besserung aber ließ sich nicht verkennen. Im sechsten Monat
konnte Patient die Behandlung verlassen ; die Veränderung seines Wesens
im günstigen Sinne fiel auch seinen Bekannten auf. Seither ist ein
halbes Jahr verflossen, ohne daß ein Rückfall eingetreten wäre.
Diagnostisch liegt der Fall insofern durchaus klar, als es sich
mit Sicherheit um eine depressive Psychose und nicht etwa um eine
Neurose des klimakterischen Alters handelte. Ich bin leider nicht in
der Lage, die Einzelheiten des Falles zu veröffentlichen; sie sind so
eigenartig, daß das Inkognito des Patienten sich nicht genügend wahren
ließe. Auch andere Rücksichten liegen vor, die zu ganz besonderer
Diskretion nötigen, wie sie mir im Interesse der;Wissenschaft durchaus
nicht erwünscht sind. Nur einem Einwand in therapeutischer Hinsicht
habe ich zu begegnen. Es könnte der Eindruck entstehen, als hätte
ich einen Fall von Melancholie, — der auch ohne mein Zutun geheilt
wäre — gerade in dem Stadium erwischt, als er sich zur Rekonvaleszenz
wandte. Daraus ergäbe sich der Einwand, der Psychoanalyse komme
der Heilwert, den ich ihr beilegen wolle, nicht zu.
Demgegenüber betone ich, daß ich von Anfang an darauf bedacht
war, mich vor derartigen Selbsttäuschungen zu schützen. Als ich die
Behandlung übernahm, hatte ich einen dem Anschein nach ganz
unbeeinflußbaren Kranken vor mir, der unter seiner Krankheit zusammen-
gebrochen war. Ich stand dem Erfolg der Behandlung sehr skeptisch
gegenüber. Um so erstaunter war ich, als ich nach Überwindung
beträchtlicher Widerstände zur Aufklärung gewisser, den Patienten
völlig beherrschender Ideen gelangte und die Wirkung dieser Aufklärungs-
111
arbeit beobachtete. Unmittelbar an die Auflösung ganz bestimmter
Verdrängungsprodukte schloß sich sowohl diese erste als auch jede
fernere Besserung an. Während des gesamten Verlaufs der Analyse
ließ sich mit aller Deutlichkeit beobachten, daß sich die Fortschritte
der Besserung an die Fortschritte der Analyse anschlossen. —
Indem ich die wissenschaftlichen und praktischen Ergebnisse
meiner bisherigen Psychoanalysen bei exaltativen und depressiven
Psychosen mitteile, bin ich mir der Unvollständigkeit des Gebotenen
durchaus bewußt. Ich hebe diese Mängel meiner Arbeit selbst hervor.
Ich war nicht in der Lage, meine Anschauungen in dem Maße, wie
ich es gewünscht hätte, durch ausführliche Wiedergabe der analysierten
Fälle zu belegen. In bezug auf einen unter ihnen wurden die Gründe
bereits erwähnt. In drei weiteren, sehr instruktiven Fällen, bin ich
ebenfalls durch besondere Pflichten der Diskretion an der:Mitteilung
irgendwelcher Einzelheiten verhindert. Eine einsichtsvolle Kritik wird
mir nach dieser Richtung hin keinen Vorwurf machen. Diejenigen,
welche an der Psychoanalyse ein ernstes Interesse nehmen, werden
den Mangel meiner Publikation durch Untersuchungen an eigenem
Material ersetzen.
Das weitere Untersuchungen erforderlich sind, soll ebenfalls
ausdrücklich betont werden. Gewisse Fragen sind im obigen überhaupt
nicht berührt oder nur gestreift worden. Erinnert sei besonders daran,
daß wir zwar zu erkennen vermochten, bis zu welchem Punkt ihrer
Psychogenese Zwangsneurose und zirkuläre Psychose miteinander
übereinstimmen; daß wir aber nichts über die Ursachen ermittelt
haben, warum von diesem Punkt an die eine Gruppe von Individuen
diesen, die andere jenen Weg beschreitet.
In therapeutischer Beziehung sei noch ein Wink gegeben. Es
dürfte sehr vorteilhaft sein, bei solchen Kranken, welche zwischen ihren
einzelnen manischen oder depressiven Attacken längere, freie Zwischen-
zeiten haben, die Psychoanalyse während dieser letzteren Zeiten
vorzunehmen. Der Vorteil liegt auf der Hand. An schwer gehemmten
melancholischen und unaufmerksamen manischen Kranken wird man
sie nicht durchführen können.
Mögen unsere Resultate gegenwärtig unvollkommen und lückenhaft
sein — die Psychoanalyse allein ist es dennoch, die uns die bisher
verborgene Struktur einer großen Gruppe von psychischen Erkrankungen
enthüllt. Überdies berechtigen uns die ersten therapeutischen Ergebnisse
auf diesem Gebiet zu der Erwartung, der Psychoanalyse werde es
vorbehalten sein, die Psychiatrie von dem Alp des therapeutischen
Nihilismus zu befreien.
ac
Über die determinierende Kraft des Namens!.
In seinem Aufsatz „Die Verpflichtung des Namens“?
hat Stekel auf verborgene Beziehungen zwischen Namen und Beruf,
sowie zwischen Namen. und Neurose hingewiesen. Wie der Autor .
durch eine Fülle von Beispielen beweist, wirkt der Name auf seinen
Träger in vielen Fällen verpflichtend, oder er ruft gewisse psychische
Reaktionen (Trotz, Stolz, Scham) hervor. Die von Stekel angeschnittene
Frage verdient sicherlich Beachtung; ich möchte im nachstehenden zu
ihrer Klärung einen Beitrag liefern.
Aus Erfahrungen bei meinen neurotischen Patienten kann ich
Stekels Beobachtungen bestätigen. Ich erwähne beispielsweise, daß ich
bei zwei Zwangsneurotikern eine Übereinstimmung zwischen der
Bedeutung ihres Namens und dem Inhalt ihrer Zwangsideen gefunden
habe, und daß ich einen Homosexuellen behandelte, dessen Name
vollkommen seinem femininen Wesen entsprach. Ich füge hinzu, daß
in einzelnen Familien sich ein bestimmter, im Namen ausgedrückter
Charakterzug forterbt; so kenne ich eine durch besonderen Stolz
ausgezeichnete Familie, deren Name ihrem Wesen vollkommen
angepaßt ist. In derartigen Fällen hat wohl ein Vorfahre den Namen
wegen einer solch auffälligen Eigenschaft erhalten oder angenommen.
Der Charakterzug würde sich auch ohne Mitwirkung des Namens
vererben; der letztere wirkt jedoch insofern verpflichtend, als er den
Nachkommen den Anlaß gibt, ihre Eigentümlichkeit besonders zur
Schau zu tragen.
Ein klassisches Beispiel für die bestimmte Wirkung des Namens
findet sich in Goethes „Wahlverwandtschaften“ (1. Teil, 2. Kapitel):
». . . Mittler erzählte von seinen heutigen Taten und Vorhaben.
Dieser seltsame Mann war früherhin Geistlicher gewesen und hatte
sich bei einer rastlosen Tätigkeit in seinem Amte dadurch ausgezeichnet,
daß er alle Streitigkeiten, sowohl die häuslichen, als die nachbarlichen,
erst der einzelnen Bewohner, sodann ganzer Gemeinden und mehrerer
1 Zentralbl. f. Psa. Bd. II, 1912, S. 133.
2 Zeitschr. f, Psychotherap. u. med. Psychol. Bd. III, 1911, H. 2.
113
Gutsbesitzer zu stillen und zu schlichten wußte. Solange er im Dienste‘
war, hatte sich kein Ehepaar scheiden lassen, und die Landeskollegien
wurden mit keinen Händeln und Prozessen von dorther behelligt.
Wie nötig ihm die Rechtskunde sei, ward er zeitig gewahr. Er warf
sein ganzes Studium darauf und fühlte sich bald den geschicktesten
Advokaten gewachsen. Sein Wirkungskreis dehnte sich wunderbar aus,
und man war im Begriff, ihn nach der Residenz zu ziehen, um das
von oben herein zu vollenden, was er von unten herauf begonnen
hatte, als er einen ansehnlichen Lotteriegewinst tat, sich ein mäßiges
Gut kaufte, es verpachtete und zum Mittelpunkt seiner Wirksamkeit
machte, mit dem festen Vorsatz, oder vielmehr nach alter Gewohnheit
und Neigung, in keinem Hause zu verweilen, wo nichts zu schlichten
und nichts zu helfen wäre. Diejenigen, die auf Namensbedeutungen
abergläubisch sind, behaupten, der Name Mittler habe ihn
genötigt, diese seltsamste aller Bestimmungen zu
ergreifen.“
Eine sicherlich häufige Erscheinung ist es, daß ein Knabe, der
den gleichen Vornamen trägt wie ein berühmter Mann, diesem
nacheifert oder ihm sonstwie ein besonderes Interesse entgegenbringt.
Der Vorname Alexander wird beispielsweise seinem Träger Anlaß
bieten, sich speziell für Alexander den Großen zu interessieren,
respektive sich in seiner Phantasie mit diesem zu identifizieren. .
Bemerkenswert ist das Beispiel des Historikers Ottokar Lorenz,
der eine Geschichte des Königs Ottokar von Böhmen verfaßte.
Auch darin kann ich Stekel beipflichten, daß sich in der
Liebeswahl oft ein determinierender Einfluß des Namens kundgibt;
doch muß ich es mir versagen, die mir bekannten Beispiele hier
mitzuteilen.
Von Interesse ist auch der Hinweis auf die Gewohnheit mancher
Menschen, ihren Namen in spielerischer Weise umzugestalten. Stekel
erwähnt hier Stendhal. Die deutsche Literatur weist einen besonders
merkwürdigen Fall dieser Art auf: Johann Fischart, der mit seinem
Namen die seltsamsten Verwandlungen vornahm und ihn zur
Herstellung wunderlicher assoziativer Vorstellungen benutzte.
Einen Einwand hätte ich nur gegen den von Stekel gewählten
Terminus zu erheben; die Bezeichnung „Verpflichtung des Namens“
erscheint mir nicht genügend klar und auch formell nicht einwandfrei.
Ich möchte diejenige empfehlen, welche ich in der Überschrift dieser
Mitteilung gebraucht habe.
Über ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer
Frauen‘.
Vor. mehreren Jahren hat Freud in einem kleinen Aufsatz? die
Beziehungen zwischen Zwangsneurose und Religionsübung
behandelt. Die tägliche Beobachtung lehrt uns, daß sehr viele Neurotiker
— und nicht nur Zwangsneurotiker — privatim einen Kultus betreiben,
dessen Formen durchaus an die religiösen Riten und Zeremonien
erinnern. Ein Teil dieser Gepflogenheiten wiederholt sich im Leben
des Neurotikers täglich mit der gleichen Regelmäßigkeit, mit welcher
sich etwa die Gebetsübungen einer Religionsgemeinschaft an jedem
Morgen und Abend unter Einhaltung bestimmter Formen abspielen.
Obgleich der Spielraum für eine individuelle Gestaltung derartiger
privater Kulte sehr weit ist, so treffen wir bei Personen, die aus gänzlich
‚ verschiedenen Kreisen stammen und in ihren Lebensverhältnissen, ihren
Schicksalen, ihren geistigen Anlagen, ihren Anschauungen bedeutend
differieren, dennoch oft übereinstimmende oder doch sehr ähnliche
neurotische Zeremonien. Das gilt insbesondere für die einfachsten
Formen. So ist z. B. der Zwang, beim Gehen auf der Straße die Trottoir-
platten in einer bestimmten Weise zu betreten, überaus verbreitet; ich
gehe auf die Bedeutung dieses Zwanges nicht ein, weil von anderer
Seite eine Untersuchung darüber geplant ist. Ähnlich häufig ist der
Zwang, beim Gehen oder beim Treppensteigen die Schritte zu zählen
und das Ziel mit einer Schrittzahl zu erreichen, die durch zwei teilbar
sein muß. Hier handelt es sich um eine Maßregel der ausgleichenden
Gerechtigkeit, um die Überkompensierung gewisser unerlaubter Trieb-
regungen, auf die hier jedoch ebenfalls nur hingedeutet werden soll.
Weit auffälliger ist es, wenn wir bei einer neurotischen Frau ein
recht kompliziertes Zeremoniell antreffen, und bald danach fast das
nämliche bei einer zweiten, anders gearteten und sicherlich mit der
ersten nicht bekannten Patientin wiederfinden. Über ein derartiges,
bisher nicht beschriebenes Zeremoniell will ich hier berichten, indem
! Aus dem „Zentralblatt für Psychoanalyse“. Zweiter Jahrgang, Heft 8, 1912.
2 Vgl. „Kleine Schiiften zur Neurosenlehre“, Bd. II.
115
ich aus der Psychoanalyse des ersten Falles das zum Verständnis
Erforderliche mitteile; des zweiten werde ich nur insoweit Erwähnung
tun, als charakteristische Abweichungen vom ersten in Betracht kommen.
Aus einem bestimmten, später zu erwähnenden Anlaß im Verlauf
der Psychoanalyse machte mir die Patientin, welche wir Frau Z. nennen
wollen, spontan folgende Mitteilung: Wenn sie abends schlafen gehe,
so mache sie sich peinlich ordentlich und in einer genau geregelten
Weise zurecht. Besonders sorge sie für die Korrektheit ihrer Frisur, In
das gelöste Haar binde sie eine weiße Schleife. Dieser ersten, unvoll-
ständigen Schilderung ihres Zeremoniells fügte sie als Begründung
hinzu: Es könne doch sein, daß sie in der Nacht plötzlich stürbe,; man
solle sie dann nicht in einem unordentlichen oder unästhetischen
Zustande auffinden.
In der folgenden Sitzung ergänzte sie die Schilderung wie folgt:
“ Die Frisur, welche sie sich abends mache, sei die, welche sie als
ganz junges Mädchen getragen habe. Nach Überwindung deutlicher
Widerstände fuhr sie fort: Wenn sie sich niederlege, sorge sie dafür,
daß ihr Bett in möglichster Ordnung bleibe. In der Nacht wache sie
oftmals auf; sie ziehe dann ihr Hemd und die Bettwäsche, die etwa
in Unordnung geraten seien, zurecht. Sie könne dann wieder einschlafen,
erwache aber immer nach einiger Zeit von neuem, um die nämliche
Korrektur vorzunehmen. Irgend einen Teil dieser Übung zu unterlassen,
sei ihr bisher nicht möglich gewesen.
Die Motive dieses sonderbaren Verhaltens liegen zum größten
Teil im Unbewußten und lassen sich daher nicht ohne weiteres erraten.
Zunächst vermögen wir nur einiges aus der symbolischen Ausdrucks-
weise in unsere Sprache zu übersetzen: Frau Z. erwartet in jeder Nacht
den Tod. Sie versetzt sich dabei in ein sehr jugendliches Alter zurück.
Sie schmückt ihr Haar mit einer Schleife, deren weiße Farbe zugleich
auf die bräutliche Unschuld und auf den Tod anspielt. Sie trägt Sorge,
daß, wenn sie gestorben, an ihr und ihrem Lager kein Zeichen der
Unordnung gefunden werde, an ihrer .bräutlichen Unberührtheit also
kein Zweifel entstehen könne.
Weitere Aufklärung über den Sinn des Zeremoniells empfangen
wir aus dem Zusammenhang, in welchem die Patientin zum ersten
Male die geschilderte Gepflogenheit erwähnte. Nachdem sie schon
früher über eine sehr ausgesprochene Schlangen-Phobie berichtet hatte,
teilte sie eines Tages einen Traum mit, in welchem sie ein kleines
Mädchen mit einer Schlange hatte spielen sehen. Aus bestimmten
Eigentümlichkeiten- des Mädchens schloß sie nach dem Erwachen, daß
sie selbst das Mädchen sei, das mit der Schlange spiele. Bald darauf
8*
116
folgte die Angabe, sie sei in letzter Zeit fast allnächtlich aus dem Schlaf
aufgeschreckt und habe dann schreckliche Angst gehabt, daß in ihrem
"Bett eine dicke Schlange sei. Während der anschließenden Analyse
dieser Angst sprach sie immer von der „großen Schlange“.
Die zu dem obigen Traum produzierten Einfälle führten zunächst
auf den verstorbenen älteren Bruder der Patientin, den sie außer-
ordentlich geliebt hatte. Sie berichtete, wie sie als Kinder — und zwar
nicht nur in den frühen Kindheitsjahren — einander täglich nackt
gesehen hätten, so beim Aus- und Ankleiden und beim Baden; wie
sie im gleichen Zimmer schliefen und einander oft im Bett besuchten.
Weitere Assoziationen führten auf den späteren Ekel der Patientin vor
dem männlichen Körper.
Sie erzählte weiter vom Bruder, wie er phantastisch gewesen : sei
und ganz in seinen Indianergeschichten lebte, wie er sich abends beim
Schlafengehen auf seinen von ihm selbst verfertigten Schild legte, wie
er sich den Namen eines bestimmten jungen Indianers beilegte. Hier
trat eine Sperrung ein: der Name des „letzten Mohikaners* („Unkas“)
wollte ihr nicht einfallen. Diese Erinnerungsstörung konnte nur die
Funktion haben, ein weiteres Vordringen auf dem eingeschlagenen
Wege zu verhindern. Es war aber in diesem Falle nicht schwer, den
assoziativen Zusammenhang herzustellen, gegen dessen Herstellung
der Widerstand gerichtet war. In Coopers Indianergeschichte trägt
Unkas’ Vater den Namen „Chin-gach-gook“, zu deutsch: „die
große Schlange“.
Der Traum, in welchem die Patientin als kleines Mädchen mit
einer Schlange spielt, setzt der Deutung nun keine Schwierigkeiten
mehr entgegen. Sie spielt mit dem Genitale des Bruders, das noch
klein, infantil ist. Eine Frage, welche Knaben und Mädchen in gleicher
Weise zu interessieren pflegt, ist diejenige, ob wohl beim erwachsenen
Marine (gemeint ist zunächst der Vater!) der Penis sehr viel größer
als beim Kinde sei. Es besteht die Neigung, sich von seinen Dimen-
sionen eine übertriebene Vorstellung zu machen. Auf diese Tendenz
hat früher schon Stekel in seiner Monographie über die nervösen
Angstzustände hingewiesen. In Freuds „Analyse der Phobie eines
fünfjährigen Knaben“ spielt die Vorstellung des Kindes von der
riesigen Größe des Penis beim Manne eine bedeutende Rolle.
Die „große“ oder „dicke“ Schlange wird nun — im Gegensatz
zu dem noch infantilen Penis des Bruders — als Penis des erwachsenen
Mannes verständlich. Hat die Patientin Angst, es sei „die große
Schlange“ in ihrem Bett, so erblicken wir darin zunächst die typische
Angst neurotischer Frauen vor dem männlichen Genitale. Die als
gr N
117
ständiger Terminus wiederkehrende Bezeichnung „die große Schlange“
aber weist uns mit Bestimmtheit auf die Person des Vaters.
Nach dieser Richtung hatte die Analyse schon vorher genug
| Material ergeben, das nunmehr noch ergänzt wurde. Die Patientin war
seit früher Kindheit, besonders aber seit dem zeitigen Tode der Mutter,
an den Vater innig fixiert. Ihre verdrängten Sexualphantasien hatten
| ihn zum hauptsächlichsten Objekt. In ihren Augen war der Vater der
| einzige wirkliche Mann. Ein anderer, davon war sie überzeugt, könne
ihr niemals genügen. Sie hatte sein Verhalten zu anderen Menschen
mit großer Eifersucht beobachtet. Lebhafte Affekte traten auf, als sie
berichtete, wie sie nach dem Tode der Mutter kurze Zeit neben dem
Vater geschlafen habe, oder wie er später gelegentlich durch ihr
| Schlafzimmer ging. Der Vater starb, als sie im Pubertätsalter stand.
Ihre Frisur aus dieser Zeit ist es, welche sie jeden
Abend mit so peinlicher Sorgfalt herstellt. Wir verstehen
nun ihr Zeremoniell bereits zu einem großen Teil: Sie versetzt sich
in eine Zeit zurück, da der Vater noch lebte. Er ist es, den sie
| allnächtlich erwartet. Wenn sie aus dem Schlaf erwacht und die „große
| Schlange“ in ihrem Bette wähnt, so erlebt sie darin die Erfüllung ihres auf
den Vater gerichteten Inzestwunsches, die freilich nur unter lebhafter Angst N
vor sich gehen kann. — In anderem Zusammenhang kommt übrigens |
ES ERERERDEE
PER EEE BEER ESSEN
der verdrängte Wunsch, vom Vater ein Kind zu haben, deutlich zutage. h
Die Patientin ist tatsächlich verheiratet. Ihr Unbewußtes lehnt
| jedoch die Ehe mit einem anderen Manne als dem Vater ab; alle nur |
1
erdenklichen Zeichen der Sexualablehnung lassen dies deutlich erkennen. )
Ihre Phantasie entführt sie so weit aus der Wirklichkeit, daß sie sich
| allabendlich als junges Mädchen und als Braut zu schmücken vermag.
| Dem toten Vater, den sie erwartet, liefert sie damit den Beweis ihrer |
Treue; in ihrem Unbewußten hängt sie ihm allein an. ;
Bewußt freilich erwartet sie nicht den Vater, sondern den Tod. |
Die Analyse ergibt aber, daß beide Vorstellungen identisch sind. Im j
Phantasieleben, besonders in den Träumen der Patientin, spielen Über-
| fälle und Gewalttaten eine große Rolle. Sie stellt sich in diesen |
Phantasien masochistisch ein; sie erwartet vom sexuellen Angriff des h
Mannes — des Vaters! — den Tod. Sie erlebt in der Phantasie das
Schicksal der Asra, „welche sterben, wenn sie lieben“. So werden
Brauthemd und Totenhemd, Brautbett und Totenbett für die Patientin
zu identischen Vorstellungen, die in den Gebilden ihrer unbewußten ı
Phantasie einander vertreten können. |
| Zu bemerken ist, daß an der Bildung des uns beschäftigenden |
| Zeremoniells neben den verdrängten Inzestwünschen auch die
118
verdrängende Instanz beteiligt ist. Während die Patientin unbewußt
beständig den sexuellen Angriff erwartet, muß sie immer wieder Bett
und Nachtgewand in Ordnung bringen, damit deutlich zu erkennen
sei, daß ihrem Tode keine Sexualhandlung voraufgegangen sei.
Das Symbol der Schlange, das zwar nicht im Zeremoniell selbst,
wohl aber in dem zugehörigen Vorstellungsmaterial einen so wichtigen
Platz einnimmt, ist vielfach determiniert. Es ist nicht lediglich
symbolischer Ersatz des männlichen Genitale. Die Schlange vermag
durch ihren giftigen Biß zu töten. Das Symbol kann daher gleich-
zeitig einer Koitusphantasie und einer Todesphantasie Ausdruck
verleihen. Zu beachten ist in dieser Beziehung auch, daß die Schlange
ihr Opfer umschlingt und erdrückt; der Tod durch die Schlange ist
ein Tod in der Umschlingung! In der unbewußten Phantasie liegen
ferner die Vorstellungen „Schlange“ und „Wurm“ nahe beieinander.
Der Wurm erscheint ebenfalls als männliches Sexualsymbol' und als
Todessymbol. In unserem Falle spielt eine Kindheitserinnerung in
diese Angst hinein. Die Patientin hatte als neunjähriges Mädchen
einmal gemeinsam mit einem Knaben_einen Stein auf dem Kirchhof
zu bewegen versucht und hatte sich aufs heftigste entsetzt, als sie
unter dem Stein eine Menge von Würmern erblickte. Der Gedanke an
diese Szene erregt ihr noch jetzt die höchste Angt.
Die Angst vor der Schlange hat jedoch noch einen besonders
wichtigen Grund. Die Schlange ist für sie das den verstorbenen Vater
vertretende Totemtier. Die kindliche Angst vor dem Vater
ist auf dieses Symbol übertragen. Dabei scheint noch eine bestimmte
Kindheitserinnerung in Betracht zu kommen. Mit etwa neun Jahren
hatte die Patientin einmal große Angst vor den Augen ihres Vaters;
aus vielen Tatsachen der Völkerpsychologie aber wissen wir, daß der
Blick der Schlange besonders gefürchtet wird. Die Identifizierung von
Vater und Schlange erfährt dadurch noch eine weitere Überdetermi-
nierung.
Aus .den Angaben der zweiten Patientin geht hervor, daß auch
sie während. längerer Jahre allabendlich ein strenges Zeremoniell
befolgte. Sie brachte nach dem Entkleiden ihre abgelegten Kleidungs-
stücke in eine penible Ordnung. Sie legte sich in Rückenlage nieder,
strich Bett- und Leibwäsche in übertrieben sorgsamer Weise zurecht,
kreuzte dann die Arme über der Brust und zwang sich, möglichst
unbeweglich zu liegen, damit die Ordnung ihres Lagers nicht gestört
wurde. Sie begründete — ganz wie die erste Patientin — ihr Tun
1 Bei Neurotikern pflegt neben der Schlangen- auch eine Würmerphobie zu
bestehen. - £
119 |
damit, daß sie in der Nacht sterben könne; man solle dann nichts |
unordentlich oder unästhetisch bei ihr finden. Das Kreuzen der Arme |
habe sie vorgenommen, weil man Toten die Arme so zu legen pflege.
| Auch die Frisur wurde in ganz bestimmter Weise hergerichtet, Diese |
letztere Prozedur begründete die Patientin aber ganz bewußt damit,
daß sie sich überzeugen wollte, in welcher Haartracht sie einem |
Manne wohl am besten gefallen würde, wenn sie sich später verheirate.
Diese Erklärung ist befriedigend, insofern als sie den erotischen j
Untergrund des Zeremoniells zugesteht. Sie verlegt aber die erotische |
Erwartung in eine unbestimmte Zukunft, während die Erwartung des |
5
\
!
Todes in die allernächsten Stunden verlegt wurde. Der Verschiebungs-
vorgang liegt hier ganz offen zutage. Leider war es nicht möglich,
in diesem Falle eine eingehende Psychoanalyse vorzunehmen. Über
die Beziehungen des Zeremoniells zum Vaterkomplex vermag ich
daher nichts Bestimmtes zu sagen; doch scheinen ganz ähnliche
Verhältnisse wie im ersten Falle vorzuliegen. |
Vermutlich werden sich komplizierte Handlungen von ganz ı
ähnlichem Charakter wie die hier beschriebenen bei Neurotischen öfter
finden, nachdem einmal die Aufmerksamkeit darauf gelenkt ist. !
Besonders hege ich diese Erwartung in bezug auf diejenigen Personen,
welche dem Zwang unterliegen, vor dem Schlafengehen ihre Kleidungs-
stücke in einer ganz bestimmten Weise anzuordnen, die nicht über- |
schritten werden darf. |
Der oben analysierten Form des Zeremoniells möchte ich den
Namen „Todesbrautzeremoniell“ beilegen. |
|
|
Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone!.
Auf die Bedeutung der Ohrmuschel und des äußeren Gehör-
ganges als erogene Zone wurde ich vor mehreren Jahren durch eine
Beobachtung aufmerksam, die ich hier zunächst mitteilen will.
Ein Neurotiker litt an eigentümlichen „Anfällen“, die sich täglich
zehn- bis zwanzigmal und selbst öfter einstellten. Im Laufe der lang-
dauernden psychoanalytischen Behandlung konnte ich diese Zustände
oftmals beobachten. Der Patient sprang etwa während eines Gespräches
plötzlich auf, wurde bleich, griff mit beiden Händen nach seinen
Ohren, lief dabei zur Tür des Zimmers, steckte dann unter Zeichen
der heftigsten Erregung den Zeigefinger der rechten Hand in das .
rechte Ohr, um ihn nun heftig darin auf- und abzustoßen. Dabei
verzog er sein Gesicht wie zur höchsten Wut, krümmte sich und
stampfte mit den Füßen, bis die motorische Entladung unter keuchenden
Atemzügen ihr Ende fand. Der Patient ließ sich dann erschöpft nieder-
sinken. Nach wenigen Augenblicken war er wieder imstande, den
vorherigen Gedankengang fortzusetzen; nur die unmittelbar vor dem
Anfall gesprochenen Worte mußte ich ihm jeweils in die Erinnerung
zurückrufen. Während des Anfalles war das Bewußtsein stets getrübt.
Der Patient hatte das Gefühl, nach dem Anfall aus einem veränderten
Zustand in die Wirklichkeit zurückzukehren. Er wußte hernach jedes-
mal, daß auf der Höhe der Erregung ganz bestimmte Gedanken
auftauchten, doch vermochte er sich dieser niemals im einzelnen zu
entsinnen. Die Analyse dieser Anfälle, die hier nicht ausführlich
mitgeteilt werden soll, ergab unter anderem, daß im Beginn jedes
Anfalles ein intensiv juckendes Gefühl im Gehörgang auftrat, dessen
sich der Patient unter allen Anzeichen großer Erregung entledigte.
Für ihn waren diese Anfälle ein Surrogat gewisser ihm versagter
Arten der Sexualbetätigung. Von besonderem Interesse ist die
Tatsache, daß die geschilderten Anfälle und die meisten anderen
Krankheitserscheinungen einmal für Monate verschwanden. Der Patient
hatte damals ein junges Mädchen kennen gelernt. Es kam nicht zum
ı Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, 1. Jahrgang, 1913.
u abi
121
Sexualverkehr zwischen beiden. Sie fanden vielmehr ihre Lust daran,
einander unter großer Erregung und bis zur Erschlaffung zu kitzeln.
Offensichtlich lag in diesem Falle eine ungewöhnlich starke
Erogeneität der Haut im allgemeinen vor. Der Ohrmuschel und dem
Gehörgang kam diese Eigenschaft aber in einem ganz exzessiven
Maße zu. Daß manche Neurotiker eine außerordentliche Lust aus
kitzelnden Berührungen der Haut ziehen, ist bekannt. Sind andere
Wege der Sexualbefriedigung versperrt, so tritt nicht selten das
kneurotische Symptom auf, welches wir als Pruritus bezeichnen. Es
nötigt den davon Befallenen zu scheuernden oder kratzenden Mani-
pulationen, deren Ausübung bisweilen zum Orgasmus führt. So
beobachtete ich zum Beispiel bei einer Patientin einen Pruritus am
linken Oberarm. Das Kratzen dieser Partie, welches sich zu einer
förmlichen Wut steigerte, löste einen vollständigen Orgasmus aus.
Vor der Masturbation, die früher geübt wurde, hatte dieses Verfahren
den Vorzug, daß an ihm nicht die Selbstvorwürfe hafteten wie an der
ersteren. Daß man sich wegen eines nervösen Hautjuckens, respektive
wegen des hinzugetretenen Ekzems kratzt, erscheint als eine Notwendig-
keit und nicht als moralische Verfehlung.
Daß das äußere Ohr im frühen Kindesalter zur autoerotischen
Lustgewinnung gebraucht wird, ist längst bekannt. Ich brauche nur
‘auf die häufige Gewohnheit lutschender Kinder hinzuweisen, während
des „Wonnesaugens“ eine Hand ans Ohr zu führen und das
Ohrläppchen rhythmisch zu ziehen. Sodann ist daran zu erinnern, daß
nicht wenige Personen im Kindesalter und später im Gehörgang zu
bohren, Gegenstände hineinzuführen und mit dem Gehörgangssekret
sich zu beschäftigen lieben. Speziell erwähne ich einen Knaben, der
eine Fliege fing und sie in sein Ohr setzte. Infolge seiner Manipulation
gelangte der „Fremdkörper“ so tief in den Gehörgang, daß ein ärzt-
licher Eingriff nötig wurde. Kleinere Gegenstände, wie z. B. Erbsen,
werden von Kindern oft in den Gehörgang, gesteckt!.
Erst neuerdings wurde es mir jedoch zur Gewißheit, daß dem
. äußeren Ohr eine viel allgemeinere Bedeutung als erogene Zone
zukommt. Die folgenden, zuverlässigen Beobachtungen verdanke ich
Herrn Kollegen Dr. H. Hempel, Ohrenarzt in Berlin. Ich gebe sie hier
“ wieder, weil solche Feststellungen das Interesse des Psychoanalytikers in
hohem Maße verdienen und bisher nicht genügend gewürdigt worden sind.
Kinder leiden oft an nässenden Ekzemen der Ohrmuschel und
des äußeren Gehörganges. Dieses Leiden ist mit intensivem Jucken
ı Bei Geisteskranken wird die Neigung, allerhand Dinge in die Ohren zu
stecken, oft beobachtet.
122
verbunden. Sobald der Arzt nun einmal an dem Ohr manipuliert hat,
verhalten solche Kinder sich bei seinem jedesmaligen Erscheinen
umgekehrt wie sonst bei einem bevorstehenden ärztlichen Eingriff.
Das Kind, welches vorher wegen der Ekzembeschwerden schrie, wird
auffälligerweise bei Annäherung des Arztes ruhig und sträubt sich
nicht im geringsten. Solange der Arzt sich mit der juckenden Partie
beschäftigt, ist das Kind ruhig, ja es gibt ein behagliches Schnurren
von sich und schreit erst wieder, wenn der ärztliche Eingriff beendigt
ist. Ich bemerke, daß diese Beobachtungen ohne nähere Kenntnis der
Freudschen Auffassung von der kindlichen Sexualität angestellt
worden sind, daß der Beobachter aber gleichwohl zu dem Resultat
gelangt war, das geschilderte Verhalten sei dem Verhalten des Kindes
bei masturbatorischer Reizung durchaus gleichzusetzen. Ergänzend sei
hinzugefügt, daß auch erwachsene Personen bei Behandlung eines
Ohrekzems unverkennbare Zeichen des Wohlbehagens von sich geben.
Mein oben genannter Gewährsmann sah übrigens einen Mann, der
sich beide Ohrmuscheln ganz zerkratzt hatte, dem Arzt aber erklärte,
von einer Behandlung der Affektion nichts wissen zu wollen.
Welch wichtige Rolle das äußere Ohr in der Sexualität des
Kindes zu spielen vermag, geht auch aus manchen Phantasieprodukten
unzweideutig hervor,
Eine Patientin berichtet mir aus ihrer Kindheit von der Neigung,
sich phantastische Geschichten auszudenken. Mit etwa neun Jahren
(doch wahrscheinlich auch schon früher) malte sie sich gern aus, wie
sie wegen eines Vergehens bestraft würde. Besonders gern stellte sie
sich folgenden Hergang vor:
Sie ging mit ihrer jüngeren Schwester spazieren. Da kam der
Kaiser im Wagen dahergefahren und ließ sie beide wegen eines
unbestimmten Vergehens festnehmen. Dann folgte eine Bestrafung. Sie
bestand darin, daß beiden Kindern — die Ohren gereinigt wurden.
Diese Prozedur enthielt für das Kind gleichzeitig Lust und Angst. Die
darauf bezüglichen Phantasien stellten nicht nur eine halb ersehnte,
halb. gefürchtete Reizung einer erogenen Zone dar, sondern überdies
eine Befriedigung masochistischer Tendenzen.
Ganz ähnliches beobachten wir bei Kindern oder Erwachsenen,
die sich in der Phantasie Szenen ausmalen, in welchen sie an ihren
‚empfindlichsten Körperstellen gekitzelt werden. Die Verschmelzung
sadistisch-masochistischer Regungen mit der Lust am Kitzeln oder
Gekitzeltwerden ließe sich durch mannigfache Tatsachen belegen. Hier
mag der Hinweis genügen, daß in den Anfällen eines Neurotikers,
die ich eingangs beschrieb, Zeichen eines heftigen Wutaffektes
123
unverkennbar waren, ebenso auch bei jener Patientin, die sich den
Oberarm zerkratzte.
"Es ist nun noch auf einige bisher wenig berücksichtigte Tatsachen
zu verweisen. Zunächst auf die Rötung der Ohrmuscheln, zu welcher
viele neurotische Personen neigen. Auf den Zusammenhang dieses
Symptoms mit sexuellen Erregungsvorgängen beabsichtige ich später
einmal genauer einzugehen.
Sodann scheint mir ein Hinweis darauf berechtigt, daß bei
manchen Personen die dem Ohre benachbarten Partien des Halses,
speziell der Winkel zwischen Hals und Unterkiefer, von besonderer
erogener Bedeutung sind.
Die erogene Bedeutung des äußeren Ohres scheint auch für die
Erklärung des neurotischen Ohrensausens und anderer subjektiver
Ohrgeräusche in Betracht zu kommen.
Endlich sei noch auf die dem Psychoanalytiker bekannte Tatsache
verwiesen, daß das äußere Ohr von altersher häufig als Genitalsymbol
verwertet wird.
Ich glaube annehmen zu dürfen, daß jeder Psychoanalytiker über
Erfahrungen verfügt, die den hier mitgeteilten ähneln. Sadger hat
eine Reihe interessanter Beobachtungen mitgeteilt, die sich mit den
meinigen vortrefflich ergänzen (vgl. Jahrb. für psychoanal. Forsch.,
Bad. III). In einer in Heft 5 des I. Jahrganges der Internat. Zeitschrift für Psa.
erschienenen Arbeit von Jekels findet sich (pag. 442) ein Hinweis auf
das Vorkommen mutueller Reizung des Gehörganges bei Invertierten.
Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindes-
alter‘.
Bei Neurotischen, welche sich ängstigen, ohne die Begleitung
bestimmter Personen die Straße zu betreten, findet man sehr gewöhnlich
eine zweite Phobie: die Angst vor dem Alleinsein im Hause. Es
handelt sich um Menschen, denen ihr Unbewußtes nicht gestattet, sich
aus dem Bannkreis derjenigen Personen zu entfernen, an welche ihre
Libido sich fixiert hat. Jeder Versuch dieser Kranken, dem Verbot
ihres Unbewußten zuwiderzuhandeln, rächt sich durch einen
Angstzustand.
Ein fünfjähriger Knabe, mit beiden genannten Phobien behaftet,
lieferte kürzlich ganz spontan — also nicht etwa auf ärztliches
Befragen — eine Bestätigung dieser psychoanalytischen Erfahrung. Die
Äußerung des Kleinen ist in ihrer Bestimmtheit und lapidaren Kürze
so erstaunlich, daß ich sie hier mitteilen und mit einigen Worten
kommentieren möchte.
Der Knabe ist infolge seiner heftigen Angst nicht zu bewegen,
die elterliche Wohnung allein zu verlassen, um die im Nebenhause
wohnenden Verwandten zu besuchen, obwohl er zu diesem Behuf nicht
einmal die Straße zu überschreiten braucht. Ebenso ängstigt er sich,
wenn seine Mutter die Wohnung verläßt, obwohl dann das Kinder-
fräulein bei ihm bleibt. Neuerdings weigert er sich auch, in Begleitung
des Kinderfräuleins spazieren zu gehen.
Als nun die Mutter den Knaben einmal aufforderte, in Begleitung
des Kinderfräuleins einen Spaziergang zu machen, widersetzte er sich
und erklärte in bestimmtem Tone: „Ich will kein Spazierkind
sein, ich willein Mutterkind sein.“
Der Ausspruch ist nach mehreren Richtungen hin bemerkenswert.
Der Knabe betont den Wunsch nach einer möglichst innigen
Verknüpfung mit seiner Mutter („Mutterkind“). Er lehnt es ab, an der
Hand einer von ihm nicht geliebten Person zu gehen („Spazierkind“
zu sein). Besonders muß aber auffallen, daß der Knabe nicht von
! Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse‘, I. Jahrgang, 1913.
125
seiner Angst, sondern von einem Wollen redet. Man wird die
Bedeutung der Fixierung des Knaben an seine Mutter nicht verkennen ;
aber man wird die Frage aufwerfen, wie denn die Phobie zustande
komme, wenn doch der Wunsch, „ein Mutterkind zu sein“, dem
Bewußtsein des Knaben so wenig entfremdet sei.
Der Einwand ist unschwer zu entkräften. Nach Freuds
Neurosenlehre ist es nicht sowohl der Wunsch des Kindes nach dem
Beisammensein mit der Mutter, der der Verdrängung verfällt, als
vielmehr der inzestuöse Wunsch nach sexueller Inbesitznahme der
Mutter. Eine zweite Äußerung des Knaben, welche aus denselben
Tagen wie die obige stammt, bringt die Bestätigung dieser Auffassung.
Sie zeigt, daß der Kleine im Kampfe mit dem Ödipuskomplex liegt,
und daß ihn der Wunsch, die Mutter allein zu besitzen, beherrscht.
Der Vater des Kleinen war für mehrere Tage verreist. Während
dieser Zeit durfte der Knabe zur Seite der Mutter, im Bett des Vaters,
schlafen. Als ihm die Mutter eines Morgens mitteilte, der Vater werde
an diesem Tage zurückkehren, erwiderte er: „Es wäre doch viel
schöner, wenn derPapagarnichtvonderReise zurück-
käme.“ Er brachte in diesen Worten den Todeswunsch gegen
den Vater und den Anspruch, neben der Mutter zu schlafen, in
unzweideutiger Weise zum Ausdruck.
Beide angeführten Äußerungen des Knaben enthalten ein naives
Zugeständnis infantiler Wünsche. Beide tragen dennoch schon deutlich
den Stempel der Verdrängung, und es läßt sich erweisen, daß unter
den offen geäußerten eine tiefere Schicht unausgesprochener Wünsche
lagert. Diese entspricht dem Ödipuskomplex.
Solche Beobachtungen aus frühen Entwicklungsstadien der
Neurose sind im besonderen Maße geeignet, die Anschauungen zu
stützen, die wir durch die Psychoanalyse voll entwickelter Neurosen
unter großen Schwierigkeiten gewonnen haben.
Sollen wir die Patienten ihre Träume
aufschreiben lassen '?
In einem kleinen Aufsatz über „Die Handhabung der Traum-
deutung in der Psychoanalyse“ hat Freud mit wenigen Worten zu
der Frage Stellung genommen, ob es zweckmäßig sei, die Patienten
ihre Träume gleich nach dem Erwachen schriftlich fixieren zu lassen.
Er kommt zu dem Resultat, daß eine solche Maßregel überflüssig sei.
„Hat man nämlich auf solche Weise mühselig einen Traumtext gerettet,
der sonst vom Vergessen verzehrt worden wäre, so kann man sich
doch leicht überzeugen, daß für den Kranken damit nichts erreicht ist.
Zu dem Text stellen sich die Einfälle nicht ein, und der Effekt ist
der nämliche, als ob der Traum nicht ‚erhalten geblieben wäre.“ Ich
kann dieser Ansicht aus eigener Erfahrung nur in vollem Maße
beipflichten. Die Frage scheint mir aber für den Psychoanalytiker,
der von der Traumdeutung täglich praktischen Gebrauch macht, von
erheblichem Interesse zu sein. Das veranlaßt mich, einige Vorkomm-
nisse aus der Praxis mitzuteilen. Ich erlebte sie gerade mit ‚solchen
Patienten, die ich bereits auf die Zwecklosigkeit eines sofortigen
Niederschreibens der Träume aufmerksam gemacht hatte.
Beobachtung 1: Patient hat einen sehr ausgedehnten, ereignis-
reichen und mit starken Affekten verbundenen Traum. Er erwacht und
greift noch schlaftrunken nach den Schreibmaterialien, die er, entgegen
der ärztlichen Weisung, neben sein Bett gelegt hat. Am anderen
Morgen bringt er etwa zwei Quartseiten voll Notizen. Es stellt sich
aber sogleich heraus, daß das Geschriebene fast völlig unleserlich ist.
Die Tendenz, den Traum vor dem Vergessenwerden zu bewahren, ist
in diesem Falle offensichtlich von der entgegengesetzten Tendenz
(Verdrängung) durchkreuzt worden. Es kommt zu einer Kompromiß-
bildung: der Traum wird zu Papier gebracht, aber die Niederschrift
ist unleserlich und vermag nichts zu verraten.
Beobachtung 2: Patient, der auf seine Frage von mir den Bescheid
erhalten hat, das Aufschreiben der Träume sei zu widerraten, produziert
1 Intern, Zeitschr. f. ärzt. Psa. Bd. I. 1913, S. 194,
\
127
in einer der nächsten Nächte eine ganze Serie von Träumen. Beim
Erwachen — mitten in der Nacht — sucht er auf ingeniöse Weise
die Träume, die ihm sehr wichtig erscheinen, der Verdrängung zu
entreißen. Er besitzt einen Apparat zur Aufnahme von Diktaten und
spricht nun die Träume in den Schalltrichter. Charakteristischerweise
läßt er dabei außer acht, daß der Apparat schon seit einigen Tagen
nicht gut funktioniert. Das Diktat des Apparates fällt daher undeutlich
aus. Patient muß vieles aus seinem Gedächtnis ergänzen. Das Diktat
bedurfte also der Ergänzung durch die Erinnerung des Träumers!
Die Analyse des Traumes geschah ohne erheblichen Widerstand, so
daß man annehmen darf, der Traum wäre in diesem-Falle auch ohne
jede Fixierung in gleichem Umfang erhalten geblieben.
Der Patient ließ sich aber durch diese Erfahrung noch nicht
überzeugen, sondern wiederholte den Versuch noch einmal. Der
inzwischen reparierte Apparat gab am Morgen nach der Traumnacht
ein dem Ohre gut verständliches Diktat. Inhaltlich aber war es nach
der eigenen Äußerung des Patienten so verworren, daß er mit Mühe
einige Ordnung herstellen mußte. Da die folgenden Nächte ein sehr
reichliches Traummaterial lieferten, welches die nämlichen Komplexe
behandelte und ohne Kunsthilfe ausreichend reproduziert werden
konnte, so zeigt sich auch in diesem Falle die Nutzlosigkeit einer
sofortigen Fixierung des Geträumten.
Wie vergeblich es ist, einer starken Verdrängungstendenz auf
solche Weise entgegenzutreten, zeigt in schlagendster Weise die -
Beobachtung 3: Die Patientin klagt während mehrerer Wochen
über ihre Unfähigkeit, einen bestimmten Traum im Gedächtnis zu
behalten. Sie habe in letzter Zeit allnächtlich den gleichen Traum.
Sie schrecke dann auf, nehme sich sogleich vor, mir den Traum am
Morgen zu erzählen, habe ihn aber jedesmal dennoch vergessen.
Eines Tages erklärte sie, für die nächste Nacht Schreibmaterial bereit-
halten zu wollen, um den Traum fixieren zu können, sobald sie aus.
ihm erwache. Ich widerriet es ihr mit dem Bemerken, eine Tendenz,
die sich allnächtlich Träume schaffe, werde auch ohne diese Nachhilfe
den Weg ins Bewußtsein finden; gegenwärtig sei nur der Widerstand
noch zu groß. Sie sah das ein und verzichtete auf ihr Vorhaben.
Beim Schlafengehen tauchte jedoch der Wunsch, den Traum in dieser
Nacht festzuhalten, von neuem auf. Patientin legte sich Papier und
Bleistift bereit.
Wirklich erwacht sie mit einem Schreck aus dem gleichen Traum,
zündet Licht an und schreibt etwas nieder. Mit dem beruhigenden
Gefühl, den Traum nun nicht verlieren zu können, schläft sie wieder
128
ein. Am Morgen verschläft sie die Zeit und erscheint verspätet zur
Behandlung (Widerstand!). Sie überreicht mir ein Blatt und bemerkt
dazu, sie habe es am Morgen in der Eile gar nicht näher angesehen.
Es machte wegen der undeutlichen Schrift (vergl. Beobachtung 1!)
einige Mühe, die wenigen Worte zu entziffern. Sie lauteten:
„Iraum aufschreiben gegen Vereinbarung.“
Der Widerstand hatte gesiegt. Die Patientin hatte nicht den Traum,
sondern nur den Vorsatz zum Niederschreiben notiert. Dann war sie
zufrieden wieder eingeschlafen !
Etwa eine Woche nach diesem erfolglosen Versuch konnte sie
mir den Traum, der noch mehrmals aufgetreten war, erzählen. Sein
Inhalt entsprang einer lebhaften Übertragung. Patientin träumte,
daß ich mich ihr annähere, und schrak dabei jedesmal auf. Nachdem
andere Symptome der Übertragung zu einer eingehenden Analyse dieses
Vorganges genötigt hatten, fiel der Grund, den Traum noch länger
als Geheimnis zu wahren, hinweg.
Ich möchte noch in Kürze auf die Motive verweisen, welche den
Patienten dazu führen, auf sofortige Niederschrift seiner Träume
Gewicht zu legen. In vielen Fällen handelt es sich um eine
Erscheinung der Übertragung. Der Patient, der einen Traum schriftlich
zur Behandlungsstunde mitbringt, möchte (unbewußt) dem Arzt dadurch
zeigen, daß ihn (den Arzt) dieser Traum besonders angehe. In manchen
Fällen trägt ein geschrieben überreichter Traum geradezu den Charakter
eines Geschenkes an den Arzt, als wollte der Patient damit ausdrücken:
ich bringe dir mein Wertvollstes dar.
Dabei spielt offensichtlich die neurotische Eitelkeit mit. Manche
Patienten mit ausgeprägtem Narzißmus sind in die Schönheit ihrer
Träume geradezu verliebt. Sie bewahren sie vor der Vergessenheit,
weil sie in ihnen Kostbarkeiten sehen.
Wie der autoerotisch eingestellte Neurotiker seine Kerperpredukte
aufzusparen liebt, wie er ängstlich besorgt ist, daß von seinem körper-
lichen Besitzstand so wenig wie irgend möglich verloren gehe, ebenso
wacht er auch darüber, daß von seinen geistigen Produkten nichts
abhanden komme.
Einige Bemerkungen über die Rolle der Groß-
eltern in der Psychologie der Neurosen‘.
In meiner psychoanalytischen Tätigkeit fiel mir von jeher auf,
daß marıche Neurotiker und Geisteskranke immer wieder das Gespräch
auf den Großvater oder auf die Großmutter brachten, obwohl die
Großeltern in keinem der einschlägigen Fälle die Lebensschicksale
jener Individuen entscheidend beeinflußt hatten. So verschieden unter-
einander nun die Krankheitsfälle waren, welche diese Erscheinung
darboten, so führte die Psychoanalyse doch zu einem. gleichförmigen
Ergebnis:. die besondere Hervorhebung des Großvaters
oder der Großmutter wurzelte stets in einer heftigen
Ablehnung des Vaters, respektive der Mutter.
f Die tieferen Ursachen der eigenartigen Erscheinung werden uns,
wie so vieles andere im Wesen der Neurotiker, begreiflich, wenn wir
das Verhalten der Kinder zum Vergleich heranziehen. Zwei Beispiele
aus dem Leben eines gesunden oder doch nur leicht neurotischen
Knaben mögen den Beweis liefern.
Der Knabe gibt sich der typischen Phantasie hin, der Prinz eines
von ihm erdachten Reiches zu sein. Den König des Reiches stattet er
mit ganz denjenigen Eigenschaften aus, die ihm bei seinem Vater
besonderen Respekt einflößen. Später setzt er diesem König noch einen
Vater (sich selbst also einen Großvater) vor, den er mit der Fähigkeit,
durch sein Wort Dinge zu erschaffen, das heißt also mit göttlicher
Allmacht ausstattet. Der Effekt ist klar: dem Vater, .der in den Augen
des kleinen Kindes allmächtig gewesen war, wird ein Höherer vorgesetzt,
den auch er respektieren muß; damit wird seine ihm früher zugeschriebene
Omnipotenz bestritten. Es ist zu bemerken, daß der Knabe seine
beiden Großväter nicht gekannt, die großväterliche Gestalt in seinem
Fabelreiche also im wesentlichen aus eigener Phantasie geschaffen hatte.
Derselbe Knabe wird einmal von seiner Mutter bestraft. Unter
Tränen erklärt er ihr: „Jetzt heirate ich die Großmama!“ Er
! Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“. I. Jahrg. 1913.
Vgl. dazu die ergänzenden Mitteilungen von Jones ebda.
130
gibt also bei dieser Gelegenheit der Mutter in negativer Form die
Erklärung, daß er eigentlich sie habe heiraten wollen. Wegen der
ihm widerfahrenen, als ungerecht empfundenen Behandlung verschmäht
er sie (natürlich nur vorübergehend) und zeigt ihr, daß noch eine
Mächtigere, Gütigere und zugleich ihm Gewogenere über ihr stehe.
Der Knabe spielt seine Großeltern gegen seine Eltern aus. Er gibt
damit der Vorstellung Ausdruck, daß es Wesen gebe, die an Macht,
bezw. an Güte noch über den Eltern stehen. Vielleicht ist der Hinweis
nicht überflüssig, daß dem Kinde eine solche Auffassung durch die Sprache
besonders nahe gelegt wird. „Großvater“, „grandfather‘, „grandpere“
und andere analoge Bezeichungen lassen uns vermuten, daß das Kind
in dieser Wertschätzung der Großeltern nur wiederholt, was die Menschheit
seit Urzeiten getan hat. Das Kind faßt hier, wie in so vielen anderen
Fällen, das Wort in seiner vollen ursprünglichen Wertigkeit auf.
An das Verhalten dieses Kindes werden wir erinnert, wenn wir
den folgenden Ausschnitt aus einer Krankengeschichte unter psycho-
analytischen Gesichtspunkten betrachten. Es handelt sich um einen
sehr frühzeitig an Dementia praecox erkrankten jungen Mann. In
seinen Halluzinationen und Wahnvorstellungen spielte seine Großmutter
. (von mütterlicher Seite) eine zunächst nicht verständliche Rolle, Oft
sprach der Kranke von einer immer wiederkehrenden Vision auch als
von seiner „ Ürgroßmutter“.
Der Kranke war als kleiner Knabe in ganz ungewöhnlichem
Maße an seine Mutter attachiert gewesen. Er hatte sie mit größter
Eifersucht bewacht und sie kaum für einen Augenblick dem Vater
oder seinen Geschwistern gegönnt. Als später die Psychose nach und
nach manifest wurde, hatte er sich in äußerster Feindseligkeit gegen
die Mutter verschlossen. Wie der Kranke nun vordem in seinem
gesamten Wesen völlig von seiner Mutter abhängig gewesen war, so
fühlte er sich in der Psychose beherrscht durch die „Großmutter“.
Sie erschien ihm, um ihm Befehle und Verbote zu geben. Er selbst
überhäufte ihre Erscheinung mit den unflätigsten Schimpfwörtern, so
wie er seine Mutter, wenn sie ihn einmal besuchte, in schroffster Art
zurückzuweisen pflegte.
Der Patient befindet sich in einer dauernden feindlichen Einstellung
seiner Mutter gegenüber. Er tut dauernd, was der im ersten Beispiel
erwähnte (gesunde) Knabe in einer Affektaufwallung vorübergehend
tat: er ersetzt die Mutter durch die Großmutter. Hier zeigt sich die
Überdeterminiertheit psychischer Reaktionen. Der Kranke kann seine
wüsten Schimpfreden weit ungehemmter gegen die Großmutter oder
Urgroßmutter richten, die für ihn kein Wesen von Fleisch und Blut
131
ist, als gegen seine Mutter, an die er im Grunde noch ebenso wie
früher fixiert ist. Der Ersatz der Mutter durch die Großmutter erlaubt
dem Patienten ferner eine kindliche Einstellung zu der von ihm
halluzinierten Person, und einer solchen Einstellung vermag er offenbar
nicht zu entraten.
Ein Zwangsneurotiker, bei welchem sich die Ablehnung des
Vaters in mannigfacher Weise und mit größter Heftigkeit äußert, stellt
seinem Vater den Großvater von mütterlicher Seite gegenüber. Der
Patient wurde von seinem Vater, der in bescheidenen Verhältnissen
lebte, puritanisch erzogen. Er besuchte dann einmal mit seiner Mutter
den Großvater an dessen Wohnort. Der alte, wohlhabende Mann, der
über den Besuch seines Enkels überaus erfreut war, überhäufte ihn
mit Geschenken und vorausgabte dafür Beträge, die dem Knaben
ungeheuer groß vorkamen. Von nun an nahm sein Widerstand gegen
den Vater eine bestimmte Form an. Der Vater erschien ihm noch mehr
als vorher lediglich als Tyrann, während der freigebige Großvater zum
Vater-Ideal erhoben wurde. Während der psychoanalytischen Behandlung
hatte der Patient u. a. einen Traum, in welchem er mit seiner Mutter
nach dem Wohnort des (jetzt längst verstorbenen) Großvaters reiste.
In den Ideengängen eines anderen Neurotikers geht neben der
Gestalt des Vaters diejenige des Großvaters (von mütterlicher Seite)
beständig wie ein Schatten einher. Die Psychoanalyse wies nach, daß
die feindselige, revolutionäre Einstellung des Sohnes gegenüber dem
Vater in dieser Erscheinung einen sehr gemilderten Ausdruck fand.
Der Patient brachte neben anderen hierher gehörigen Materialien vor,
daß ihm in seiner frühen Jugend der Großvater, der sich bereits ins
Privatleben zurückgezogen hatte, immer wie ein entthronter Gott, wie
Kronos erschienen sei. Indem der Knabe den entthronten Großvater
neben den herrschenden, noch jugendlichen Vater stellte, sprach er
sich in versteckter Weise den Trost zu, auch der Vater werde nicht
ewig regieren, sondern eines Tages entthront sein wie der Großvater.
Es kommt auch vor, daß ein Neurotiker sich mit einem starken
Affekt des Hasses von seinem Vater abwendet, zum Ersatz aber in
der Phantasie Beziehungen zwischen sich selbst und den fernsten
Vorfahren (den „Vätern“) herstellt. Ich beobachte augenblicklich einen
solchen Fall, muß mir aber aus äußeren Gründen die Mitteilung von
Einzelheiten versagen!. Ich habe übrigens in meiner Studie über
Amenhotep IV. bereits ähnliches nachgewiesen?.
1 Die heftigste Wut des Patienten knüpfte sich an ein Erlebnis, das ihn aufs
höchste erregt hatte, d. h. an eine Beobachtung des sexuellen Verkehres der Eltern.
2Imago, Bd. I. 1912, Heft 4.
132
Die Psychoanalyse lehrt uns zahlreiche Wege kennen, die von
der neurotischen Phantasie eingeschlagen werden, um die Macht
des Vater- oder Mutterkomplexes zu paralysieren. Man kann
diese Phantasien der Neurotiker in drei Gruppen teilen. Die am
weitesten gehenden unter diesen Phantasien sind Beseitigungs-
Vorstellungen. Es ist bekannt, in wie mannigfaltiger Form
Todeswünsche gegen Vater oder Mutter in der Neurose Ausdruck
finden.
Eine zweite Gruppe von Vorstellungen dient der Verleugnung
der Eltern, besonders häufig des Vaters: sogenannte Abstammungs-
phantasien.
Endlich sucht der Neurotiker sich des Elternkomplexes zu
erwehren, indem er die Macht des Vaters, respektive der Mutter
herabsetzt. Eine Herabsetzung geschieht aber auch dadurch, daß
dem Vater ein Mächtigerer vorgesetzt wird.
In letzterer Hinsicht sei noch dararı erinnert, daß manche
Neurotiker die Gepflogenheit haben, bewußt oder unbewußt gegen
jedwede Autorität eine andere auszuspielen, Widerstände gegen den
Arzt äußern sich während der psychoanalytischen Kur nicht selten in
dieser Weise.
Auch die Religiosität mancher Neurotiker wird im wesentlichen
aus diesen Quellen gespeist. Der Glaube an eine göttliche Allmacht,
oder an eine das menschliche Leben prädestinierende Schicksalsmacht
gibt dem Neurotiker den Trost, daß auch der Vater, dem er sich
infolge seiner unbewußten Fixierung gänzlich unterworfen fühlt, nicht
allmächtig sei, sondern noch eine höhere Macht über sich habe.
Am Schluß sei es gestattet, noch kurz auf ein analoges Phänomen
in der Völkerpsychologie zu verweisen. Eine Verschiebung der
Autorität vom Vater auf entferntere Vorfahren dürfte auch dem
Ahnenkultus zugrunde liegen. Freilich verehrt hier nicht mehr der
einzelne einen bestimmten Ahnen, sondern eine größere Gemeinschaft
von Menschen stattet einen gemeinsamen Stammvater mit einer Macht
aus, die in der väterlichen Autorität ihr Vorbild hat.
Eine Deckerinnerung, betreffend ein Kindheits-
erlebnis von scheinbar ätiologischer Bedeutung‘.
Die nachfolgende kasuistische Mitteilung entstammt einem
Krankheitsfalle, den ich äußerer Gründe halber nur sehr kurze Zeit
beobachten und daher nicht lege artis analysieren konnte. Die Analyse
einer Deckerinnerung des Patienten trägt daher einen fragmentarischen
Charakter; denn in den wenigen Sitzungen konnten nicht alle
Zusammenhänge durch die vom Patienten gebrachten Einfälle geklärt
werden. An einigen Stellen mußte ich Zusammenhänge — die freilich
dem psychoanalytisch Erfahrenen ohne weiteres durchsichtig sind —
durch eigene Kombination herstellen ; ich werde ausdrücklich erwähnen,
wo ich derartige Ergänzungen vorgenommen habe.
Der: 47jährige Patient klagte über einen seit seiner Jugend
bestehenden Zwang, alle Gegenstände in minutiöser Weise zu betrachten
und zu untersuchen, speziell aber die Rückseite jedes Gegenstandes
seinen Augen zugänglich zu machen. Hatte er einen Gegenstand genau
betrachtet, so mußte er des weiteren über dessen Herkunft oder
Entstehung grübeln. Ferner bestand — ebenfalls seit der Kindheit —
ein Zwang zum Beten sowie zum Grübeln über religiöse Fragen.
Diese Zwangserscheinungen waren von solcher Heftigkeit, daß der
Kranke an jedem Gegenstand sozusagen hängen blieb. Er konnte nicht
mehr in seinem Beruf tätig sein und schließlich nicht einmal mehr
vom Hause fortgehen, weil jeder Gegenstand auf der Straße ihn auf
lange Zeit festhielt. Er bedurfte der ständigen Begleitung seiner Frau,
- die ihn vorwärts ziehen mußte, damit. er nicht grübelnd und Selbst-
gespräche führend bei dem ersten, seinem Blicke begegnenden Objekt
für unbestimmte Zeit verweilte. Als Beispiel diene sein Verhalten bei
Gelegenheit seines ersten Erscheinens in meiner Sprechstunde.
Vor dem Hause, in welchem ich damals wohnte, befand sich ein
Vorgarten, an dessen Gitter mein Namensschild angebracht war. Der
Patient begnügte sich nicht damit, die Aufschrift zu lesen, sondern
ı Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, I. Jahrgang 1913.
134
beleuchtete, nachdem er in den Vorgarten eingetreten war, mit Hilfe
eines Zündhölzchens die Rückseite des Schildes. Dann brachte er
(nach der Schilderung seiner Frau) längere Zeit damit zu, laut vor
sich hin sprechend über die Herstellung solcher Schilder nachzugrübeln.
Als seine Frau ihn endlich bis in mein Sprechzimmer gebracht hatte,
faßte er alsbald eine kleine Bronzefigur ins Auge, nahm sie vom Tisch,
‚drehte sie und betrachtete besonders eingehend die Rückseite des
Körpers. Nur mit Mühe ließ er sich dann von dem Vorstellungskreis,
in den er hineingeraten war, wieder ablenken.
Erst in der zweiten Besprechung, bei welcher die Ehefrau nicht
anwesend war, wurde Patient mitteilsamer. Er brachte nun sogleich
ein Erlebnis aus seiner Kindheit vor, das ihm in lebhaftester Erinnerung
geblieben sei. Er erklärte spontan mit Bestimmtheit, daß von diesem
Vorfall sein ganzes Leiden den Ausgang genommen habe.
Mit sieben Jahren, so erzählte der Patient, ging er durch eine
Straße in- der Nähe der elterlichen Wohnung. Er kam an einem Hause
vorüber, in dessen Keller sich ein kleiner Laden befand. Er bemerkte,
daß die Inhaberin des Geschäftes sich mit anderen Personen stritt.
Plötzlich sah er, wie sie ihren Gegnern den Rücken zuwandte, ihre
Röcke hob und ihnen das bloße Gesäß zeigte. Der Patient ging dann
nach Hause und erzählte das Erlebte sogleich dem Dienstmädchen,
einer ihm vertrauten älteren Person. Sie wies ihn zurecht: er sei sehr
unanständig und hätte dergleichen nicht ansehen sollen; jetzt werde
ihn der Schutzmann holen. Der Patient schilderte nun lebhaft, wie er
durch diese Worte ganz verängstigt worden sei; er sei „krank vor
Angst“ gewesen. Nun — fuhr Patient fort — habe er zu seiner
Beruhigung angefangen zu beten. Daraus sei bald ein Zwang geworden,
dem er nicht widerstehen konnte. Er mußte ungezählte Male ee
Gott solle ihn einen guten, großen, schönen, braven . ... usw. .
Menschen werden lassen. Um ja nicht etwa ein Wort seiner immer
länger werdenden Gebetsformeln auszulassen, schrieb er sich eine
ganze Litanei auf einen Zettel, den er dann täglich vielmal herunterlas.
Die mitgeteilte Reminiszenz bezog sich auf einen Vorgang, der
auf den Schautrieb des Knaben einen starken Eindruck gemacht haben
mochte. Die pathogene Bedeutung des Erlebnisses mußte dennoch
von vornherein in Zweifel gezogen werden, obwohl der Patient aufs
bestimmteste angab, daß sich Selbstvorwürfe und zwangsmäßiges Beten
unmittelbar an den Vorfall angeschlossen hätten. Äußerlich mußte schon
auffallen, daß der Patient die Geschichte fließend und ohne jede
Hemmung vortrug. Wir sind gewohnt, daß Reminiszenzen, mit welchen
die Krankheit eng verwoben ist, erst nach Überwindung beträchtlicher
135
Widerstände zur Kenntnis des Arztes gebracht werden. Der vom
Kranken so bestimmt behauptete ursächliche Zusammenhang zwischen
dem Erlebnis und der Zwangsneurose litt aber vor allem an innerer
Unwahrscheinlichkeit. Eine Drohung wie diejenige des Dienstmädchens
in unserem Falle pflegt auf einen Knaben keinen solch erschütternden
Eindruck zu machen. Von einem Knaben im achten Lebensjahr, der
dem Mittelstand entstammt und in einem Hause aufwächst, in welchem
neben der Familie Gesellen und Dienstboten leben, darf man als
natürliche Reaktion erwarten, daß ein solches Erlebnis und die nach-
folgende Drohung ihn eher belustigen oder doch gleichgültig lassen
werden. Ferner ist in keiner Weise ersichtlich, wie ein einmaliges, an
sich geringfügiges Vorkommnis eine so ungewöhnlich schwere, mit
den Jahren an Umfang zunehmende Neurose hervorgerufen haben
sollte. Somit war von vornherein anzunehmen, es liege eine Reminiszenz
vor, die ihren „Gedächtniswert“ von anderen — ins Unbewußte
verdrängten — Erinnerungen entlehnt habe. Es mußte sich um eine
sogenannte Deckerinnerung handeln!.
Bei weiterem Eingehen auf seine Kindheit versicherte der Patient,
daß er als Knabe sonst keinerlei Erlebnisse von sexuellem Charakter
gehabt habe. Er betonte mit besonderem Nachdruck, er und seine
Geschwister seien „sehr sittlich erzogen worden“. Speziell sei auch nie
etwas mit den Dienstboten vorgefallen. Bei einem genaueren Bericht
über die Verhältnisse im Elternhause kam auch die Frage zur Sprache,
mit welchen Personen der Patient als Knabe das Schlafzimmer geteilt
hatte. Hier machte sich bei dem Patienten eine Unsicherheit bemerkbar.
Er berichtete dann, er habe eine Zeit lang im gleichen Zimmer wie
seine Schwestern geschlafen; doch sei auch dort niemals etwas vor-
gefallen. Hier setzte deutlicher Widerstand ein. Dann folgte als nächster
Einfall die Erinnerung, er habe als Knabe der älteren Schwester einmal
den Nacken klopfen müssen, weil sie dort Schmerzen oder sonst
etwas hatte?. Dann tauchte eine andere Situation in seiner Erinnerung
auf. Die Amme, welche ihn genährt hatte, „eine schöne Person“, sei
nach seiner Entwöhnung im Hause seiner Eltern geblieben. Aus seinem
fünften Lebensjahr erinnere er sich, im gleichen Bett mit der Amme
geschlafen zu haben. Wieder folgte die stereotype Versicherung, „da
1 Vgl. Freud, Über Deckerinnerungen. Monatsschrift für Psychiatrie, Bd. 6, 1899.
2 Dieser Einfall deckt offenbar anderes, verdrängtes Material, Es. war leider
nicht möglich, die Spur weiter zu verfolgen. Es mag darum nur darauf hingewiesen
werden, daß Nacken und Hinterkopf in den neurotischen Phantasiegebilden nicht
selten das Gesäß vertreten. (Verlegung nach oben.) Vgl, hiezu: Sadger, Die sexual-
symbolische Verwertung des Kopfschnierzes. Zentralblatt f. Psychoanalyse, Bd. Il, 1912.
136
sei auch nichts vorgekommen.“ Gleich darauf zwang ein Einfall ihn,
sich zu korrigieren: er habe sich immer so gern mit dem Leib an den
Körper der Amme, besonders gegen ihr Gesäß gelegt. Es falle ihm 'nun
wieder ein, daß er manchmal ihr Hemd hinaufgestreift habe, um jenen
Körperteil unmittelbar zu berühren!.
Endlich schloß sich eine weitere Reminiszenz an. Der Patient
berichtete, er sei mit etwa sieben Jahren einmal krank gewesen.
Damals habe die Mutter ihn zu sich ins Bett genommen. Bei solcher
Gelegenheit habe er das Hemd der Mutter gern hinaufgestreift. Die
früheren Vorgänge bei der Amme fanden hierin ihre Fortsetzung.
Die soeben mitgeteilte Reminiszenz verlegte der Patient in das
gleiche Lebensalter wie die zuerst beschriebene Szene.
Diese fragmentarischen Angaben gestatten uns zwar keineswegs,
uns ein vollständiges Bild von der Entstehung des Krankheitszustandes
zu machen. Immerhin lassen sie uns in der Kindheit des Patienten
diejenigen Phänomene des Trieblebens erkennen, von welchen nach’
Freud? die als Grübelsucht bezeichnete Form der Zwangsneurose
ihren Ausgang nimmt. Besonders sei auf den stark betonten sexuellen
Schautrieb verwiesen. Der Knabe begnügt sich jedoch nicht damit,‘ zu
beschauen, was sich seinem Auge zufällig darbietet, sondern er sucht
die ihn reizende Körperpartie aktiv zu entblößen.
Soweit sich die Erinnerung in wenigen Sitzungen wiedererwecken
ließ, hatte er entsprechende Handlungen mit vier Jahren bei der
Amme, mit sieben Jahren bei der Mutter vorgenommen. Diese
Reminiszenzen tauchten freilich erst allmählich auf, während der Patient
eine andere Szene aus seiner Kindheit viel detaillierter wiedergegeben
und sie in offenbar tendenziöser Weise von Anfang an in den
Vordergrund gerückt hatte,
Es ist nicht zu kühn, den folgenden Hergang zu vermuten. Der
Knabe hatte seinen übermächtigen Schautrieb an seiner Mutter
befriedigt. Derartige Handlungen von inzestuösem Charakter pilegen,
wie die Psychoanalyse der Zwangsneurose uns gelehrt hat, zu den
schwersten Selbstvorwürfen und weiterhin zu komplizierten Sühneaktionen
zu führen. Unser Patient litt in hohem Maße unter Selbstvorwürfen,
die er jedoch mit einer relativ sehr harmlosen Szene in ursächlichen
\ Feststehende psychoanalytische Erfahrungen berechtigen uns zu der ergänzenden
Annahme, das Gesäß der Amme habe für die Sexualität des Patienten erst sekundär
die Bedeutung gewonnen, welche primär ihren Brüsten zukam. Doch drang die
Analyse nicht bis zum Nachweis dieses Herganges vor.
® Bemerkungen über einen Fall von Zwangsneurose. Jahrbuch f. psychoanalyt.
Forschungen, Bd. I.
_
137
Zusammenhang brachte. Hier liegt eine offensichtliche Verschiebung
vor, deren Motive unschwer zu erkennen sind. Der Mutter war der
Patient aktiv zu nahe getreten; der Szene in dem Kellerladen hatte
er dagegen ohne Vorwissen als unfreiwilliger Zuschauer
beigewohnt. Er verdrängt die erste Tatsache ins Unbewußte und befreit
sich auf diesem Wege von der für ihn peinlichsten Erinnerung.
Dagegen behält er ein weit harmloseres Erlebnis mit größter Schärfe
im Gedächtnis und verknüpft mit ihm den schweren Vorwurfsaffekt.
Der Gewinn, der für den Patienten aus diesem Vorgang entspringt,
braucht wohl nicht weiter hervorgehoben zu werden. Mit welcher
Intensität der Patient die eigentlich quälende Erinnerung von seinem
Bewußtsein abgedrängt hatte, geht daraus hervor, daß ihm durch viele
Jahre zwar oft die Kellerladenszene lebhaft vor Augen trat, daß
dagegen die wichtigeren Vorkommnisse aus seiner Kindheit zum
erstenmal in den Tagen der Psychoanalyse wieder auftauchten.
Der äußere Anstoß zu dem angenommenen Verschiebungsvorgang
ist uns nicht unbekannt. Als der Knabe der Dienstmagd von seinem
Erlebnis erzählte, schalt sie ihn wegen seiner Unanständigkeit und
malte ihm aus, welche Folgen sein Verhalten haben werde. Diese
Worte können nur dadurch so stark auf den Knaben gewirkt haben,
daß sie in ihm plötzlich den Gedanken wachriefen, er habe ja weit
Schlimmeres begangen. An diese plötzliche Erkenntnis konnten sich
unmittelbar die Selbstvorwürfe, das zwangsmäßige Beten usw. anschließen;
dem Anschein nach waren sie freilich die Folge der belanglosen
Kellerladenszene.
Diese stellt sich somit als eine Deckerinnerung heraus,
welche bis ins kleinste der von Freud im Jahre 1899 gegebenen
Definition entspricht. Nach Freud sind Deckerinnerungen solche
Reminiszenzen, denen trotz ihres gleichgültigen Inhalts ein großer
Gedächtniswert zukommt. Sie verdanken diesen Gedächtniswert jedoch
nicht ihrem eigenen Inhalt, sondern seinen Beziehungen zu einem anderen,
verdrängten Inhalt. Die Deckerinnerung ist etwa ein losgerissenes Stück
einer wichtigen Erinnerung oder sie vertritt symbolisch eine solche,
Hinter der harmlosen Kindheitsszene suchen sich — wie Freud
weiter ausführt — Vorstellungen von peinlichem Inhalte zu verbergen,
die im aktuellen Leben des Neurotikers eine Rolle spielen. Es kann
keinem Zweifel unterliegen, daß der Patient auch zur Zeit unserer
Beobachtung noch ganz von seinem auf die „Rückseite“ gerichteten
Schautrieb beherrscht wurde. Die hiedurch bedingten Selbstvorwürfe
fanden eine teilweise Ablenkung (Verschiebung) auf jenes scheinbar
pathogene Kindheitserlebnis.
138
Die der Kellerladenszene gegebene Deutung als Deckerinnerung
erfährt aus anderer Quelle noch eine erwähnenswerte Bestätigung.
Der Patient lieferte nämlich noch weitere, besonders auf das
Pubertätsalter und die nachfolgenden Jahre bezügliche Erinnerungen.
Er kam dabei auf eine Zeit, in welcher die seit der Kindheit bestehenden
Krankheitserscheinungen sich außerordentlich verschlimmert hatten.
Diesem neuen Krankheitsschub war, wie sich herausstellte, ein sexuelles
Erlebnis vorausgegangen, das dem ausführlich analysierten auffallend
"ähnelte. Der Patient berichtete: Als er achtzehn Jahre alt war, sei seine
Mutter einmal des Nachts zu irgend einem Zweck durch sein Schlafzimmer
gegangen. Dabei habe sie ihn wohl für schlafend gehalten. Er habe aber
gesehen, wie sie hinten ihr Hemd aufhob, so daß ihr Gesäß entblößt war.
Bemerkenswert ist auch an diesem Vorgang, daß der Patient
seiner Schilderung nach wiederum nur der unfreiwillige Zuschauer war,
während eine Frau sich selbst entblößte. Man darf vermuten, daß der
Schautrieb des Patienten um jene Zeit besonders rege war und sich in
inzestuöser Richtung bewegte. Ob der Kranke damals irgend eine
entsprechende Handlung beging, ließ sich nicht feststellen. Es liegt
aber wohl auf der Hand, daß die an seinen inzestuösen Triebregungen
haftenden Selbstvorwürfe auf die geschilderte nächtliche Szene
verschoben wurden. Demnach läge auch hier eine Deckerinnerung vor.
Freilich nötigt uns die vom Patienten gegebene Darstellung zu
einem kritischen Einwand. Sie erweckt den Eindruck tendenziöser
Bearbeitung. Es ist nicht recht ersichtlich, warum die Mutter des
Patienten sich beim Durchschreiten seines Zimmers in der beschriebenen
Weise entblößt haben sollte. Der wirkliche Sachverhalt ist natürlich
nicht feststellbar. Ohne Zweifel aber war das Verlangen des Patienten,
die Mutter entblößt zu sehen, geeignet, seine Wahrnehmung in dem
Augenblick zu verfälschen, als die Mutter nachts durch sein Zimmer
ging. Vermutlich wähnte er dann, das zu sehen, was er zu sehen
begehrte. In der irrtümlichen Wahrnehmung oder Erinnerung wäre
also eine klare Wunscherfüllung enthalten.
Die vorstehenden Ausführungen sollen einerseits einen Beitrag
zur Psychologie der Erinnerungsstörungen liefern. Anderseits mögen
sie den Praktiker daran erinnern, mit wie großer Skepsis er gerade
denjenigen Angaben seiner Patienten gegenübertreten muß, welche
sich auf die Ätiologie der Neurose beziehen. Deckerinnerungen der
geschilderten Art, die vom Patienten so eifrig in den Vordergrund
geschoben werden, dienen stets zur Irreführung des Arztes, zur Ablenkung
seiner Aufmerksamkeit von den tieferen seelischen Schichten.
Psychische Nachwirkungen der Beobachtung
des elterlichen Geschlechtsverkehres bei einem
neunjährigen Kinde‘.
Der Herausgeber dieser Zeitschrift hat zur Mitteilung solcher, in
der Kindheit vorgefallener Träume aufgefordert, deren Deutung zum
. Schlusse berechtigt, daß die Träumer in frühen Kinderjahren Zuschauer
sexuellen Verkehres gewesen sind. Der nachfolgende Beitrag entspricht
diesen Anforderungen insofern nicht ganz, als die Beobachtung des
elterlichen Koitus in diesem Falle nicht in die frühesten Kindheitsjahre
fällt, sondern mit größter Wahrscheinlichkeit unmittelbar vor dem
Auftreten des mitzuteilenden Traumes und der neurotischen Angst
stattgefunden hat. Dennoch halte ich die Veröffentlichung für
berechtigt, weil der Fall mit seltener Deutlichkeit erkennen läßt, wie
ein zur Neurose disponiertes Kind auf ein Erlebnis wie das genannte
reagiert. x
Ich wurde zu einem 9°), Jahre alten Mädchen gerufen, welches
seit kurzem an Angstzuständen litt.
Zehn Tage vor der Konsultation war die Kleine am Abend
in gewohnter Weise zu Bette gebracht worden. Nach mindestens
einstündigem Schlaf rief sie durch Angstschreie ihre Mutter, welche
sich im anstoßenden Wohnzimmer aufhielt, herbei. Sie erzählte
der Mutter mit allen Anzeichen des Entsetzens einen Traum:
„Ein Mann hat dich in deinem Bett ermorden wollen,
ich habe dich aber gerettet.“ Während dieser Mitteilung
vermochte sie zwischen Traum und Wirklichkeit noch nicht zu unter-
scheiden. Als die Mutter ihr beruhigend zusprach, antwortete sie mit
entsetztem Ausdruck: „Ach, du bist ja gar nicht meine Mutter.“
Hernach äußerte sie Angst vor Gegenständen im Zimmer, die sie als
Tiere verkannte. Erst nach geraumer Zeit trat Beruhigung ein. Die
Kleine schlief bis zum Morgen, erklärte dann, in der Nacht gut
und ungestört geschlafen zu haben und sich ganz wohl zu fühlen,
! Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, I. Jahrgang, 1913.
. 140
Auf vorsichtiges (und daher nur oberflächliches) Befragen vonseiten
der Eltern wußte sie sich des oben geschilderten Vorganges anscheinend
nicht zu erinnern. ;
Bei der Patientin hatte sich an einen schweren Angsitraum ein
Dämmerzustand angeschlossen. Epileptische Antezedentien fehlten
gänzlich; Symptome, welche eindeutig für eine Geisteskrankheit (im
engeren Sinne) gesprochen hätten, lagen nicht vor. Die weitere
Entwicklung des Zustandes und der nachfolgende von mir erhobene
Befund ließen einen hysterischen Dämmerzustand annehmen.
Die Patientin bot in den folgenden Tagen mannigfache Krankheits-
erscheinungen. Sie war schreckhaft und neigte zum Zusammenzucken.
Mehrfach bot sie in der Unterredung mit der Mutter Symptome dar,
die dem „Vorbeireden“ (Ganser) sehr ähnelten. Abends trat
wiederholt starke Angst auf. Patientin hatte einigemal Tiervisionen ;
u. a. wurde sie, wie sie mir bei Gelegenheit meines Besuches erzählte,
von einer Schlange erschreckt, die in ihr Bett kroch und sie ins Bein
beißen wollte. Sie ängstigte sich, das Klosett aufzusuchen, weil dort
schwarze Männer erschienen, die ihr mit dem Finger drohten. Sodann
fand sich bei der Patientin eine ausgesprochene Astasie und Abasie
und, als Begleiterscheinung, Angst vor dem Fallen. Suggestiv ließ sich
diese Störung schnell soweit beeinflussen, daß ich die Patientin durch
das Zimmer führen konnte, sie nur ein wenig am Ärmel haltend. Sie
konnte schließlich, zwar noch taumelnd, aber ohne zu fallen allein
zum Bett zurückkehren. Symptome einer organisch bedingten Lähmung
fanden sich nicht vor.
Patientin berichtete auf mein Befragen, daß sie in letzter Zeit
oft Angstträume gehabt habe. Als ich sie bat, einen solchen zu
erzählen, brachte sie sofort den oben angeführten Traum vor, obwohl
sie in den vorausgegangenen Tagen von den Eltern nicht an ihn
erinnert worden war. Die Amnestie für den Abend, an weichem die
Krankheit ausgebrochen war, konnte also höchstens eine partielle sein.
Da ich nur zu einer Konsultation zugezogen war, mußte ich
mich der Patientin gegenüber mit der Erhebung des Befundes und
einigen beruhigenden psychotherapeutischen Maßnahmen begnügen.
Mit Hilfe des Vaters der Patientin suchte ich in ätiologischer Richtung
weiter vorzudringen. i
Der Angsttraum der Patientin hatte in mir sogleich die Vermutung
erweckt, sie sei Zeugin des elterlichen Geschlechtsverkehres gewesen,
habe den Eindruck in typisch kindlicher Weise („sadistische“ Theorie
des Koitus) verarbeitet und dann im Traum eine Wiederholung der
Szene. erlebt.
141
Da das Zimmer, in welchem die Kleine lag, auch die Betten
der Eltern enthielt, so teilte ich dem Vater meine Vermutung mit und
begründete sie kurz. Ich fand sofort Verständnis. Der Vater erklärte, er
könne meiner Ansicht nur zustimmen. Er fügte hinzu, die Kleine
werde außer dem Koitus in letzter Zeit auch gelegentliche heftige
Auseinandersetzungen der Eltern angehört haben, die nach dem
Schlafengehen stattfanden. Hiedurch würde die „Ermordung“ der
Mutter neben der sexuellen noch eine weitere Determination erhalten.
Die dem Ödipuskomplex des Sohnes analoge Einstellung der
Tochter zeigt sich im vorliegenden Fall in nicht zu verkennender
Weise. Die Tochter träumt von einem Mordanschlag auf die Mutter.
Der Sinn dieser Phantasie wird dadurch nicht geändert, daß die
Träumerin ihre Mutter „rettet“. Ginge dies nicht schon aus der
bekannten Bedeutung der Rettungsphantasien hervor, so brauchte nur
darauf verwiesen zu werden, daß die Patientin unmittelbar nach dem
Traum die Mutter verleugnete; sie entledigte sich ihrer also in einer
Form, wie sie uns besonders von den „Abstammungsphantasien“
her wohlbekannt ist. Ihr selbst nähert sich — als halluzinatorische
Erscheinung im Wachen — die Schlange, die als männliches Symbol
offenbar den Vater vertritt‘. Die Angabe, daß die Schlange sie habe
ins Bein beißen wollen, machte die Patientin unter deutlichem Zögern
‘ und mit verändertem Gesichtsausdruck; sie schien mir hier etwas zu
verschleiern. Wahrscheinlich nannte sie das Bein an Stelle des Genitale,
nach Analogie der Fabel vom Storch, der die Frauen ins Bein beißt.
Eine so akut einsetzende, so intensive und in ihren Erscheinungen
für den Psychoanalytiker so durchsichtige Verarbeitung des Eltern-
komplexes berechtigt, wie ich meine, zu der Annahme, ein affekt-
betontes, mit den Eltern in Zusammenhang stehendes Erlebnis habe
auf das Kind eingewirkt. Die äußeren Umstände sowie die Angaben
des Vaters sind wohl geeignet, zu dem Schlusse zu führen, das Kind
habe unmittelbar vor dem Auftreten der geschilderten Erscheinungen
den Verkehr der Eltern beobachtet. Eine direkte Befragung der
Patientin war natürlich bei dieser einmaligen Unterredung nicht angängig.
Allein zur Begründung eines so ernsten Krankheitszustandes
konnte ein solches Erlebnis des Kindes nicht ausreichen; auch war
der Zusammenhang gewisser Symptome mit dem erlittenen psychischen
Trauma zum mindesten unsicher!. Eine Befragung des Vaters förderte
! Vgl. hiezu meine Ausführungen „Über ein kompliziertes Zeremoniell
neurotischer Frauen“. Seite 114f.
! Ich habe eine Deutung gewisser Symptome im obigen absichtlich unterlassen,
weil mir genügende Grundlagen dafür zu fehlen schienen.
142
einiges weitere Material zutage. Die Patientin pflegte mit einer
Nachbarstochter umzugehen, von der es hieß, daß sie mit anderen
Mädchen mutuelle Masturbation treibe. Es ergibt sich nun die
Vermutung, daß die Patientin, durch sexuelle Handlungen und Gespräche
mit dieser Freundin aufgeregt, deswegen viel heftiger auf das im
elterlichen Schlafzimmer Erlebte reagiert habe, als sie es sonst getan
haben würde.
Die Angst vor Gestalten mit drohender Gebärde läßt ohne
weiteres auf ein Verschuldungsgefühl schließen, und dieses würde sich
nach uns geläufigen Erfahrungen am wahrscheinlichsten auf die
Verübung unerlaubter sexueller Handlungen zurückführen lassen. Daß
jene Gestalten der Patientin gerade im Klosett erschienen, ist gewiß
“ nicht ohne Belang; ist doch dieses der häufigste Schauplatz heimlicher
Verbotsübertretungen der Kinder.
Die mitgeteilte fragmentarische Analyse läßt uns besonders nach
einer Richtung hin unbefriedigt. Wir werden durch die Assoziationen
der Patienten in der Regel auf früh-infantile Wünsche und
Eindrücke aufmerksam gemacht, von welchen die neurotischen
Symptome ihren Ausgang genommen haben. Ein Vordringen bis in
die tiefen Schichten des Unbewußten war im vorliegenden Falle nicht
möglich. Ich vermute, es würde ergeben haben, daß der aktuelle
Eindruck, unter dem die Patientin stand, seine wichtigste Verstärkung
aus dem Unbewußten bezog, d. h. von verdrängten, der ersten
Kindheitsperiode angehörigen Erinnerungen verwandter Art. Doch ließ
sich, wie gesagt, ein bezüglicher Nachweis nicht führen.
Ich halte den Schluß für berechtigr, daß die Beobachtung des
elterlichen Koitus den Anstoß zum Ausbruch der Psychoneurose
gegeben habe, deren erstes merkbares Symptom ein schwerer Angst-
traum mit anschließendem Dämmerzustand bildete.
Kritik zu: j
C. G. Jung, Versuch einer Darstellung der psycho-
analytischen Theorie. Neun Vorlesungen, gehalten in
New-York im September 1912. Jahrb. f. psychoanalyt. Forsch.,
Bd. V. Buchausgabe: Wien, F. Deuticke 19131,
Der Titel dieser neuesten Arbeit Jungs und die Vorrede der
Buchausgabe erregen in dem Leser die Erwartung, eine Darstellung
der Theorien Freuds und seiner Schule zu finden. Der Autor will |
— wie er uns sagt — zu den bisherigen Anschauungen auf Grund seiner 4
eigenen Erfahrungen Stellung nehmen, will durch eine „bescheidene und
| maßvolle Kritik“ die psychoanalytische Bewegung fördern und den
Formulierungen Freuds seine eigenen gegenüberstellen, soweit sie
ihm den beobachteten Tatsachen besser gerecht zu werden scheinen.
Würde die Schrift inhaltlich diesem Programm entsprechen, so
wäre sie als eine Bereicherung unserer Literatur zu begrüßen. Eine
kurze und klare Einführung in das Studiengebiet der Psychoanalyse
wäre uns erwünscht; nicht minder aber sind wir dankbar für jede
sachliche Kritik. Daß es geteilte Meinungen in der psychoanalytischen
Schule gibt, brauchen wir nicht zu verhehlen; haben duch die
„Diskussionen des Wiener psychoanalystischen Vereins“ den Streit der
Meinungen in unserem Lager dem Forum der Öffentlichkeit unterbreitet.
Allein die Dinge liegen anders. Der Kritiker kann sich in diesem
Falle nicht damit begnügen, des Autors Ansichten wiederzugeben und
zu beurteilen; es erwächst ihm außerdem die ungewohnte und nicht
eben erfreuliche Aufgabe, nachzuweisen, daß Jung den Lehren
Freuds eine in tatsächlicher Hinsicht gänzlich unrichtige
Darstellung zuteil werden läßt. 1
Bevor ich mich dem Detail dieser beiden Aufgaben zuwende,
muß ich einige allgemeine Eigenschaften der Jungschen Arbeit hervor- ®
heben, die mit den Vorzügen seiner früheren Schriften auffällig
kontrastieren. Wie schon die „Wandlungen und Symbole der Libido“,
enthält sie eine ganze Anzahl innerer Widersprüche, so daß der Leser
ı Aus „Internat. Z. f. ärztl. Psychoanalyse“, I, 1913.
144
über das gleiche Thema an zwei Stellen in entgegengesetzter Weise
- unterrichtet wird. Mancherorts ist die Darstellung so unklar, daß man
dem Gedankengange kaum zu folgen vermag. Bestimmte Lehrsätze
werden vom Autor lediglich dekretiert, ohne daß ein hinreichender
Beweis hinzugefügt wird. Auffällig ist ferner, wie Jung mehrfach seine
Grundsätze wissenschaftlicher Forschung und Kritik verkündet, um
selber in der gleichen Arbeit gegen sie in der krassesten Weise zu
verstoßen. Diese allgemeinen Mängel der Schrift müssen dem kritischen
Leser zum Anlaß werden, den speziellen Ausführungen des Autors
mit großer Skepsis gegenüberzutreten.
Ich wende mich zunächst zu den Ausführungen Jungs über
Sexualtheorie und infantile Sexualität. er
Jung verteidigt die Erweiterung des Sexualbegriffes, zu welcher
Freud sich genötigt sah, in einer anfechtbaren Weise: die psycho-
analytische Schule meine mit Sexualität den Trieb der Arterhaltung
(Seite 16)!. Nur im Vorübergehen sei hier bemerkt, daß der Trieb der
Arterhaltung“ nichts ist als eine teleologische Fiktion. Die Triebe des
Individuums, und keineswegs nur der Sexualtrieb, dienen indirekt
auch der Arterhaltung; mehr von ihnen in dieser Hinsicht auszusagen,
sind wir nicht berechtigt. Ferner liegt es auf der Hand, daß gewisse
Manifestationen des Sexualtriebes keinerlei arterhaltende Tendenz in
sich tragen; man denke nur an die Homosexualität. Faktisch aber hat
Freud den Sexualbegriff gerade nach der entgegengesetzten
Richtung erweitert: die infantile Sexualität in seinem Sinne strebt
lediglich nach Lustgewinnung; die Sublimierungen des Sexual-
triebes und die neurotischen Symptome sind nach Freud Derivate
des Geschlechtstriebes, die mit der Arterhaltung entweder
nurindirekt oder gar nichts zu schaffen haben.
Jung gesteht dann Freud ausdrücklich das Recht zu, die
„andeutenden und vorbereitenden Phänomene“ der Kinderzeit als
sexuell zu bezeichnen; nur „gewissen Konklusionen“ möchte er sich
nicht anschließen (Seite 16). „Freud ist geneigt, auch im Akte des
Saugens an der mütterlichen Brust eine Art sexuellen Aktes zu erblicken.
Diese Ansicht hat Freud schwere Vorwürfe eingetragen, sie ist aber,
wie wir gestehen müssen, sehr sinnreich, wenn wir mit Freud
annehmen, daß der Trieb zur Arterhaltung, d. h. also die Sexualität
gewissermaßen abgetrennt vom Selbsterhaltungstrieb, d. h. der
Ernährungsfunktion existiere und so auch eine besondere Entwicklung
ab ovo durchlaufe. Diese Denkweise scheint mir aber biologisch nicht
zulässig zu sein.“ (Seite 16—17.)
ı Die Seitenzahlen bei den Zitaten beziehen sich auf die Buchausgabe:
145
Die zitierten Sätze würden uns nicht in Erstaunen setzen, fänden
wir sie in der Kritik eines Gegners, der sich mit Freuds Schriften
nicht genügend vertraut gemacht hat. Denn sie enthalten eine nach |
zwei Richtungen hin fälschliche Darstellung, wie man sie von Jung |
nicht erwarten sollte. Erstens: Freud sieht im Saugeakt selbst-
verständlich einen Ernährungsakt, welcher jedoch gleichzeitig zur 1
lustvollen Reizung des Mundes (als erogene Zone) Anlaß gibt. 1
Was Jung zitiert, deckt sich mit Freuds Ansicht von der Bedeutung
des Lutschens des Kindes. Zweitens: Freud nimmt selbst
eine ursprüngliche Vergesellschaftung und eine erst sekundäre Trennung
beider Triebe an!.
Nachdem Jung den ersten Schlag gegen die infantile Sexualität
mit sehr fragwürdigen Argumenten geführt hat, holt er zu einem
‘zweiten aus. Auf Seite 17 erscheint in Sperrdruck die Proklamation :
„Diese Zeit,“ d. h. die früheste Kindheit, „ist durch das Fehlen
sexuellerFunktionen gekennzeichnet.“ Sostehtes plötzlich
da, nur wenige Zeilen entfernt von dem Zugeständnis, das man der
Sexualterminologie Freuds nichts vorwerfen könne, „indem sie
konsequent alle Vorstufen der Sexualität mit Recht
als sexuell bezeichnet? Jung begnügt sich mit einigen j
allgemeinen biologischen Belegen für seine Ansicht; über eine eigentliche
| Beweisführung setzt er sich hinweg.
Mit neuem Erstaunen vernimmt man aber auf Seite 18, daß dem
1 Ich zitiere wörtlich (Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie, Seite 37):
„Es ist ferner deutlich, daß die Handlung des lutschenden Kindes durch das
Suchen nach einer — bereits erlebten und nun erinnerten Lust bestimmt wird... .
Es ist auch leicht zu erraten, bei welchen Anlässen das Kind die ersten Erfahrungen
dieser Lust gemacht hat, die es nun zu erneuern strebt. Die erste und lebenswichtigste
Tätigkeit des Kindes, das Saugen an der Mutterbrust .... muß es bereits mit
dieser Lust vertraut gemacht haben. Wir würden sagen, die Lippen des Kindes
haben sich benommen wie eine erogene Zone, und die Reizung durch den warmen
Milchstrom war wohl die Ursache der Lustempfindung. Aniangs war wohl die
Befriedigung der erogenen Zone mit der Befriedigung des Nahrungsbedürfnisses
vergesellschaftet. Wer ein Kind gesättigt von der Brust zurücksinken sieht, mit geröteten
Wangen und seligem Lächeln in Schlaf verfallen, der wird sich sagen müssen, daß
dieses Bild auch für den Ausdruck der sexuellen Befriedigung im späteren Leben
maßgebend bleibt.
Nun wird das Bedürfnis nach Wiederholung der sexuellen Befriedigung von
dem Bedürfnis nach Nahrungsaufnahme getrennt.“
Jung behauptet übrigens weiter, Freud leite von der Ähnlichkeit, die zwischen
der Erregung und Befriedigung beim Saugakt und den analogen Erscheinungen beim
Sexualakt bestehe, die sexuelle Qualität des Saugaktes her! Ich überlasse es dem
Leser, die Richtigkeit dieser Darstellung an der Hand vorstehenden Zitates zu prüfen, {|
2 Vom Ref. in Sperrdruck gesetzt. 3
10
146
Lutschen des Säuglings „schon viel eher“ sexuelle Qualität zugesprochen
werden dürfe, als dem Saugakt. Nichts anderes war ja von Freud
behauptet worden! Jungs unbestimmte Ausdrucksweise hängt innig
mit der Schwäche seiner Beweisführung zusammen; sie wird uns noch
öfter wieder begegnen. Aus der schwierigen Lage, in die er sich
gebracht hat, zieht er sich mit sehr schwachen Argumenten heraus
und entscheidet („beweist“ wäre zu viel gesagt), daß das Lutschen
nicht Sexuallust, sondern „Ernährungslust“ sei.
Doch es kommt noch besser! Jung erkennt plötzlich, indem er
von der Masturbation ausgehend, die Entwicklung zu den frühkindlichen
„Unarten“ (Nägelkauen etc.) und endlich zum Lutschen rückwärts
verfolgt, alle diese Erscheinungen als Vorstufen der Masturbation und
damit als sexuell an (Seite 18); nur bezüglich des Lutschens drückt
er sich in einem späteren Satz wieder reservierter aus.
Was heißt das anderes, als in den klaren und vorsichtigen
Aufstellungen Freuds eine heillose Verwirrung anrichten? Keinem Leser
ist es möglich, aus den widerspruchsvollen Ausführungen die eigentliche
Meinung des Autors zu entnehmen. Jung aber, der es auf Seite 8
für ungerecht erklärt hat, „einem Geiste, wie Freud, plumpe Lehrlings-
fehler zuzumuten“, wirft — gänzlich blind für die Mängel seiner
eigenen Beweisführung — auf Seite 18 seinem „verehrten Lehrer“ den
groben logischen Fehler der petitio principii vor. Oder er argumentiert
mit Sätzen wie: „Lustgewinnung ist keineswegs identisch
mit Sexualität.“ Bisher hatten wir derartige Einwände nur von
Gegnern gehört, die damit etwas zu widerlegen meinten, was
Freud behauptet haben sollte.
Einige weitere Willkürlichkeiten Jungs in seinen Ausführungen
über die frühesten Sexualäußerungen übergehe ich und komme zu
seiner Kritik der „polymorph perversen“ Anlage des Kindes.
Die einschlägigen Anschauungen Freuds (Erogene Zonen,
Partialtriebe) finden eine höchst mangelhafte Wiedergabe, aus der sich
niemand eine wirkliche Orientierung zu holen vermag. Jung gibt
dann folgendes Resumee:
„Nach dieser Betrachtungsweise setzte sich also die spätere
normale und monomorphe Sexualität aus verschiedenen Komponenten
zusammen. Zuerst zerfällt sie in eine homo- und eine heterosexuelle
Komponente, dann gesellt sich dazu eine autoerotische Komponente,
dann die verschiedenen erogenen Zonen usw.“ x
So viele Worte, so viele Unrichtigkeiten! Jung vernachlässigt
in seiner Darstellung vollkommen, daß es sich um Entwicklungsstadien
handelt. Freud hat die frühesten Äußerungen der Libido autoerotisch
147
(objektlos) genannt, und hat ausgeführt, wie die Libido sich mehr und
mehr, aber nie absolut, von den erogenen Zonen, an die sie zuerst
gebunden ist, frei macht, wie die ursprünglich autonomen erogenen
Zonen sich dem Primat der Genitalzone unterordnen, und wie auf
diesem Wege die „normale“ Sexualität des Erwachsenen ‘entsteht; vor
allem hat Freu’d auch den Prozeß der Objektfindung eingehend
gewürdigt. Unter Weglassung alles Wesentlichen gibt Jung nur die
verkehrte Darstellung, daß nach Freud die Sexualität „zuerst“ (sic!)
in eine homosexuelle und heterosexuelle Komponente „zerfalle“.
Freud spricht übrigens überhaupt nicht von einer autoerotischen
Komponente; noch weniger sagt er aus, daß sie sich früheren
Formen der Sexualität „hinzugeselle“. Jung stellt hier die Ansichten
Freuds geradezu auf den Kopf.
Jung gibt seinen Lesern ein durchaus unrichtiges Bild, wenn er
behauptet, Freud habe die Sexualität künstlich zerspalten. Das gerade
Gegenteil ist der Fall. Freud hat eine große Zahl von Erscheinungen,
die früher völlig unverstanden waren, unter dem Gesichtspunkt der
Sexualität vereinigt. Er hat durch die Erforschung der infantilen
Sexualität zwischen dem Triebleben des Kindes und;dem des Erwachsenen
eine Kontinuität hergestellt, die vorher fehlte. Er hat nachgewiesen,
daß vielerlei Triebregungen, die inunvereinbarem Gegensatz zueinander
zu stehen schienen, tatsächlich einander ergänzen und sich zur Einheit
zusammenschließen. Kurz, er hat die großen, vereinigenden Gesichts-
punkte in die Sexualtheorie und Neurosenlehre erst eingeführt.
Ferner hat niemand die Transformationsfähigkeit der Libido je in
dem Maße gewürdigt wie Freud. Man denke nur an seine Theorie
von der Entstehung neurotischer Symptome, an seine Lehre von der
Sublimierung und Reaktionsbildung, an seine Termini: Objektbesetzung
und Zurückziehung der Libido vom Objekt usw. Doch er muß es sich
gefallen lassen, daß Jung ihm vorwirft, die Libido in feste, starre
Komponenten zerlegt zu haben. Jungs Prätentionen gehen an dieser
Stelle derart über das berechtigte Maß hinaus, daß ein entschiedener
. Protest am Platze ist. Nicht nur, daß er die Einführung einigender
Gesichtspunkte in die Psychologie sich selbst zuschreibt; er vergleicht
dieses sein Werk sogar mit der Einführung des Energie-Begriffes in
die Physik — als ob die energetische Auffassung der Psychoanalyse
bisher völlig fremd gewesen wäre. Neu ist in Wirklichkeit nur ein
bedenklicher Fehler: de Vermengung psychologischer, biologischer
und physikalischer Gesichtspunkte'!. Jung aber fordert: Sowie in der
i Wie vorsichtig Freud im Gegensatz zu Jung nach dieser Richtung verfährt,
zeigt sein Artikel über „das Interesse an der Psychoanalyse“. (In „Scientia“, 1913.)
10%
un mnnnune)
148
Physik die Optik, Mechanik etc. ihre Selbständigkeit eingebüßt hätten,
so müsse es auch mit den „festen“ Sexualkomponenten geschehen.
Freuds „Partialtriebe* seien den „Seelenvermögen“ der älteren
Philosophie an die Seite zu stellen.
Was setzt nun Jung an Stelle dessen, was er beseitigt? Seinen gänzlich
vagen Libidobegriff und die „Anwendungsmöglichkeiten* der Libido.
Auf eine Kritik des Jungschen Libido-Begriffs brauche ich hier
nicht einzugehen, sondern verweise nur auf Ferenczis treifende
Ausführungen in Nr. 4 des I. Jahrgangs der Zeitschrift f. Psa., denen
ich nur gewisse Ergänzungen hinzufügen werde.
Was aber die „Anwendungsmöglichkeiten* der Libido betrifft —
die ja übrigens längst Gemeingut der Psychoanalyse waren — so
entbindet deren Feststellung nicht von der Aufgabe, die „Möglichkeiten“
zu erklären. Freud hatsich hier auf Beobachtungen, auf biologische
Tatsachen gestützt, unter denen ich nur. die Bisexualität als Beispiel
erwähnen will. Die Verdrängung erklärt dann weiter die Herrschaft
‘einer Gattung von Triebregungen im Bewußtsein, während die
entgegengesetzten ins Unbewußte verdrängt sind. Jung begnügt sich
dagegen mit Worten, die uns nichts bedeuten können. Aus einem von
ihm kurz wiedergegebenen Krankheitsfall zitiere ich: „Die Enttäuschung
trieb seine (des Patienten) Libido von der heterosexuellen Anwendungs-
weise weg, so daß sie wieder indie homosexuelle Form geriet.“
Jungs Ausdrucksweise ist hier wieder äußerst unklar. Was soll man
sich unter der „homosexuellen Form“ vorstellen? Vor allem aber sollte
der Autor, der mit solchen Worten umspringt, eine Erklärung geben,
woher denn die Libido die Fähigkeit hat, andere „Formen“ zu wählen.
Es ist zu betonen, daß Freud in seinen „Drei Abhandlungen“ gerade
zuerst das biologische Fundament herstellt, um seine Sexualtheorie
darauf aufzubauen. Jung dagegen führt seinen Libido-Begriff, d. h.
eine philosophische Konstruktion ein und legt die Tatsachen im Sinne
dieser Theorie aus.
Wie vage Jungs Begriff von der Libido und deren „Anwendungs-
möglichkeiten“ ist, illustriert eine spätere Stelle der Schrift (Seite 79).
In einem Beispiel führt Jung dort aus: Ein Bergsteiger, der eine
ersehnte Bergspitze nicht zu erklimmen vermochte, werde fortan „seine
Libido zu nützlicher Selbstkritik verwenden“. Wie der Alpinist das
macht, fügt Jung leider nicht hinzu. Wenn er es aber weiß, so
möchte man wünschen, daß er selbst in Zukunft von dieser Anwendungs-
möglichkeit der Libido ausgiebigen Gebrauch mache.
Die „polymorph-perverse Anlage“ des Kindes kann Jung nicht -
wegleugnen. Er drückt sich aber zu diesem Thema sehr gewunden und
149
schwankend aus (Seite 25f). Einmal fallen jene Äußerungen im
Kindesalter sehr in die Augen, sind sogar reichhaltiger als beim
Erwachsenen, dann wieder handelt es sich nur um „Andeutungen“.
Von diesen Andeutungen aber sagt Jung, daß sie „noch ganz
den Charakter der kindlichen, unschuldigen und
harmlosen Naivität tragen".
Diese „Harmlosigkeit“ des Kindes betont Jung immer von
neuem; ja er setzt später hinzu, das Kind sei planmäßiger Absichten
nicht fähig! (Seite 63).
Jung setzt sich damit nicht bloß über seine früher geäußerten
Ansichten hinweg (was ja selbstverständlich jedem freisteht), sondern
er mißachtet Tatsachen, die er früher selbst publiziert hat. Was
aber will er mit dem beständigen Hervorheben der kindlichen
„Harmlosigkeit“ . sagen ?
Es ist eines der großen Verdienste Freuds, die ethische
Bewertung der kindlichen Triebregungen aus der Psychologie beseitigt
zu haben. Diese Regungen sind für den Psychoanalytiker Natur-
erscheinungen, die er beobachtet, und die er zu verstehen sucht. Sie
sind ebenso wenig harmlos wie etwa böse zu nennen. Konsequent hat
Freud auch die Amoralität des Unbewußten angenommen. Denn den
Grundstock des Unbewußten bilden ja nach unserer Anschauung die
verdrängten kindlichen (primitiven) Triebregungen. Jung bahnt einen
bedenklichen wissenschaftlichen Rückschritt an, indem er seinen Lesern
immer wieder die Harmlosigkeit der kindlichen Triebe versichert.
Schlimmer freilich ist es, daß er hernach dem Unbewußten sogar
moralische Tendenzen zuschreibt.
Die von Jung aufgestellten drei Stadien der Libido-Entwicklung
sind von Ferenczi bereits kritisiert worden. Ich gehe, unter Bezugnahme
auf Ferenczis Ausführungen, sogleich zu weiteren Behauptungen
Jungs über, die in den „Wandlungen“ noch nicht in gleicher Weise
enthalten waren, und die doch Jungs Vorgehen gegen die Freudsche
Lehre vortrefflich charakterisieren.
Ganz unrichtig ist Jungs Behauptung, Freud erkläre den
Unterschied zwischen kindlicher und reifer Sexualität „aus dem
Diminutiv des Infantilen“. i
Weiterhin sucht Jung (Seite 38—39) den ursprünglichen
Polymorphismus der Sexualität daraus zu erklären, daß Ernährungslibido
vom Munde aus in andere Bahnen tüberwandere. Er meint, ein
beträchtlicher Teil der Hungerlibido setze sich in Sexuallibido um.
ı Sperrdruck vom Ref.
DD —
150
Der Versuch, den Mund allein zum Ausgangspunkt dieser —
völlig hypothetischen — Libido-Wanderung zu machen, zeigt die ganze
Einseitigkeit der Jungschen Ideen. Jung vernachlässigt die übrigen
erogenen Zonen (mit Ausnahme des Mundes) vollständig, und dies ist
sicher einer der größten wissenschaftlichen Rückschritte. Aber handelt
es sich denn nur um körperliche Erscheinungen der Libido? Wie will
Jung denn z. B. die sexuelle Neugierde ünd die Exhibitionslust des
Kindes erklären?
Eine der angreifbarsten Partien der Jungschen Arbeit ist die
den „Ödipus-Komplex“ behandelnde. Die Ausführungen (Seite 62f)
leiden an großer Unklarheit. Vergebens sucht man aus den vagen
Ausdrücken etwas Bestimmtes zu entnehmen. Der Grund dieser
Unklarheit ist leicht genug zu erkennen. Er liegt in der Vernachlässigung
der Verdrängung und des Unbewußten. Das Wort: „Verdrängung“
kommt zwar hin und wieder in Jungs Schrift vor, aber stets wird
es in einer ganz unbestimmten Weise angewandt; es hat eben seinen
Inhalt verloren. Das Unbewußte gibt in dieser „Darstellung“ der
Psychoanalyse ebenfalls nur gelegentliche Gastrollen. Nirgends finden
wir eine klare Stellungnahme zu den fundamentalen Problemen des
Unbewußten. Jung stellt unvermittelt gewisse Behauptungen auf, wie
etwa: „Im Unbewußten des Kindes vereinfachen sich die Phantasien
beträchtlich“, oder: „Im Unbewußten gewinnen diese Wünsche und
Absichten eine konkretere und drastischere Form“. Aber er bleibt jede
Erklärung des Unbewußten und der unbewußten Phänomene schuldig.
Daß Jung in der Ödipus-Einstellung nur ein Symbol erblickt,
und den inzestuösen Regungen jede reale Bedeutung abspricht, ist
schon aus dem II. Teil seiner „Wandlungen und Symbole der Libido“
bekannt; ich beziehe mich hier wieder auf Ferenczis Kritik.
Nirgends wird es so klar wie an dieser Stelle des Buches, daß Jung
sich auf dem Rückweg von der Psychoanalyse zur Oberflächen-
Psychologie befindet. Dafür nur ein Beispiel. Wir finden auf Seite 63
die Behauptung, im frühen Alter habe die Mutter für das Kind
„natürlich keinerlei irgendwie nennenswerte Sexualbedeutung“. Es ist
noch nicht gar lange — ich verweise auf den ersten Teil seiner
„Wandlungen“ — daß Jung das Gegenteil des nunmehr Ausgesagten
ebenso natürlich fand. Zum Beweise seines jetzigen Lehrsatzes
beruft sich der Psychoanalytiker J ung aber auf eine amerikanische
Ärztin, die von Kindern durch eine Umfrage erfuhr, daß die Mutter
gern als diejenige definiert wird, die das Essen gibt! Also nachdem
Jung — wie er in der Einleitung des Buches bemerkt — zehn Jahre
lang Psychoanalyse betrieben hat, genügen ihm plötzlich Angaben
ee
151
der Kinder, die nichts anderes enthalten können, als nur das Bewußte
und Konventionelle! Wozu dann noch die mühsamen Psychoanalysen ?
Jung bemerkt es nicht im geringsten, daß.er auf diese Weise in die
nächste Nachbarschaft der psychologischen Sammeliorscher (wie
W. Stern u. a.) gerät.
Jung benutzt diese Gelegenheit, um nochmals auf die Bedeutung
der Ernährungslust hinzuweisen. Dabei versteigt er sich zu folgenden
Sätzen: „Die großen Schmausereien des dekadenten Rom beruhten
meinetwegen auf allem anderen, nur nicht auf verdrängter Sexualität,
denn diese könnte man den damaligen Römern am wenigsten vorwerien.
Daß auch diese Exzesse ein Ersatz waren, ist nicht zu bezweifeln,
aber nicht für die Sexualität, sondern für die vernachlässigten
moralischen Funktionen . . .“
Bei dem unkundigen Leser muß hier der Eindruck entstehen,
als habe Freud — dem man freilich keine logischen Lehrlingsfehler
zuschreiben wollte! -—— einmal solch handgreiflichen Unsinn behauptet,
Wer aber jemals in Freuds Schriften irgend eine Stelle las, die sich
mit kulturhistorischen Fragen beschäftigte, der wird sich erinnern, daß
dort ein anderer Geist weht. Jungs oben zitierte Bemerkung fällt
somit in ihrer ganzen Plattheit ohne weiteres auf ihren Urheber zurück.
Für das Ausbleiben des Inzestes in der Kulturmenschheit gibt
Jung die höchst unzulängliche Begründung, daß das Alltägliche
seinen Reiz für den Menschen verliere, Alle kulturhistorischen Tatsachen
und nicht minder die individual-psychologischen geben dieser
Anschauung Unrecht.
Die „Ödipus-Phantasie“ bildet sich nach Jung „mit wachsender
Reifung“ aus und tritt in der „Nachpubertätszeit“ „mit der nunmehr
erfolgten Abtrennung von den Eltern in ein neues Stadium“, dessen
Symbol das in den „Wandlungen“ ausführlich behandelte „Opfer“ ist.
Nach Jung erscheint in dieser Zeit die unbewußte Phantasie des
Opfers, d. h. der Vorsatz zum „Aufgeben der Infantilwünsche“.
Vergeblich suchen wir nach einer Erklärung dieses Phänomens.
Das Unbewußte hat moralische Tendenzen erhalten, es opfert. Alle
bisherigen Erfahrungen, von denen Jung keine widerlegt, zeigten uns
die Amoralität des Unbewußten, das rücksichtslos-egoistische Drängen
der ins Unbewußte versunkenen Triebe. Freuds Lehre schuf neben
der Verdrängung den wertvollen Begriff der Sublimierung. Durch
diesen letzteren Prozeß wird es den verdrängten, vorher unsozialen
Triebregungen ermöglicht, in verwandelter, d. h. sozial verwertbarer
Form ins Bewußtsein zurückzukehren. Jungs „Darstellung“ würdigt
diesen Vorgang keiner Erwähnung. In Jungs Ausführungen ist das
152
Unbewußte, wie schon oben gesagt, etwas völlig Unbestimmtes; aber
nicht nur das. Indem es in einem bestimmten Lebensalter plötzlich
eine Phantasie produziert, der Jung mit dem Namen „Opfer“ eine
ausgesprochen religiöse Färbung gibt, wird dieses Unbewußte zu einer
Art von mystischem Urgrund. An dieser Stelle hört Jung faktisch
auf, Psychoanalytiker zu sein und wird Theologe.
Einen weiteren Rückfall in die Oberflächenpsychologie muß ich
darin erblicken, daß Jung zwischen den seelischen Konflikten des
Kindes und denen des Erwachsenen eine scharfe Grenze zu ziehen
sucht (Seite 67—68). Ich zitiere: „Jene Fälle, die schon seit Kindheit
an einer chronischen Neurose leiden, leiden nicht mehr am selben
Konflikt wie in der Kindheit. Die Neurose brach vielleicht aus, als
das Kind zur Schule mußte. Damals war es der Konflikt zwischen
verwöhnter Zärtlichkeit und Lebenspflicht, d. h. zwischen der Liebe
zu den Eltern und dem Zwang zur Schule. Heute ist es der Konflikt
zwischen den Freuden einer bequemen bürgerlichen Existenz und
den rigorosen Anforderungen des Berufslebens. Es scheint nur, als
ob es noch derselbe frühere Konflikt wäre.“ Leider vergißt Jung
hier, den Unterschied wirklich zu präzisieren. Daß der erwachsene
Neurotiker, der der Schule entwachsen ist, durch eine Neurose sich
nicht mehr der Schule entzieht, ist eine banale Selbstverständlichkeit.
Der Konflikt hat also höchstens sein äußeres Gewand gewechselt.
Freuds Verdienst ist es gerade, in den verschiedensten Metamorphosen
die gleichen Konflikte wiedererkannt zu haben. Jungs Auffassung
ist hier so reaktionär, wie die der „oppositionellen* Kritiker, über die
er sich in der Einleitung der Schrift so erhaben dünkte.
Die Einwände Jungs gegen die Bedeutung der Inzestwünsche
als Kernkomplex der Neurose waren teilweise längst zurückgewiesen,
ehe Jung sie erhob. Im übrigen hat Ferenczi bereits zu dieser
Frage Stellung genommen. Ich gehe daher auf Jungs Ansicht
betreffend die rein regressive Bedeutung dieses Phänomens nicht ein.
Nur einer von Jungs Einwänden mag hier herausgegriffen werden.
Die Ödipusphantasie könne, so meint Jung, nicht pathogen sein,
weil sie allgemein menschlich sei; sie bedürfe, um pathogen
zu werden, erst „einer besonderen Aktivierung“. Die tatsächliche
Stellungnahme der Psychoanalyse zu dieser Frage ist zu bekannt, als
daß es sich lohnte, sie hier auseinander zu setzen! Ich habe diesen
Einwand Jungs auch nicht hierher gesetzt, um ihn zu widerlegen,
sondern nur darum, weil er geeignet ist, die innere Haltlosigkeit der
Beweisführung Jungs klarzustellen. Jung erklärt (Seite 116), der
Inzestkomplex werde „wiederbelebt“ durch die Bequemlichkeit
des Menschen, die ihn vor Anpassungsleistungen zurückschrecken
lasse. Er muß aber an gleicher Stelle die „Bequemlichkeit“ als
allgemein menschlich bezeichnen! Damit führt Jung sich
selbst ad absurdum. Er versprach, an Stelle der zu allgemeinen
Ursache der inzestuösen Einstellung eine spezifische zu geben, und
dann verfällt er auf die „Trägheit“, bekanntlich die allgemeinste
Eigenschaft der Materie überhaupt!
Besonders scharf wendet sich Jung gegen den Begriff der
„Latenzzeit“; nirgends sind in Wirklichkeit seine Angriffe weniger
berechtigt als hier. Freud hat (Seite 35 der „Drei Abhandlungen*®)
die „hypothetische Natur und die mangelhafte Klarheit unserer Einsichten
in die Vorgänge der kindlichen Latenz- oder Aufschubsperiode*
ausdrücklich zugestanden. Jung, der auf Seite 19 erklärt, Theorien
seien nur Vorschläge, wie man Dinge betrachten könne, verliert
diesen seinen Grundsatz gegenüber dieser Theorie Freuds ganz aus
den Augen. Freud sah sich, übrigens in Anlehnung an Fließ,
genötigt, eine Latenzperiode anzunehmen und hat ihr — was Jung
ganz verschweigt — die wichtige Aufgabe zugewiesen, Hemmungen
gegen die primitiven Triebe auszubilden. Freud hat ferner betont,
daß Äußerungen der Libido in der Latenzzeit keineswegs fehlen, und
sie als „Durchbrüche“ bezeichnet. Danach ist also auch Jungs
Vergleich mit der Blume, die sich in eine Knospe zurückverwandelt,
hinfällig. Die inneren Widersprüche sind übrigens gerade in diesem
Teil der Jungschen Arbeit besonders in die Augen springend.
Jung erhebt Widerspruch gegen Freuds Auffassung der
infantilen und neurotischen Amnesie, welch letztere nach Freud dem
Vorbild der kindlichen Amnesie folgt. Jung findet hier einen schroffen
Gegensatz und erklärt den Ausdruck „Amnesie“ für die frühe Kindheit
für „absolut unrichtig*. Die von Jung» gegebene Unterscheidung
beider Phänomene (ich verweise auf Seite 73) entspricht aber den
Beobachtungen an Kindern und Neurotikern nicht im geringsten; er
stellt hier wieder einmal eineBehauptung aus eigener Machtvollkommenheit
auf. Ich brauche zur Widerlegung Jungs nur auf diejenigen Neurosen
zu verweisen, in denen die Erinnerungslosigkeit für die erste Kindheit
sich nicht wie gewöhnlich bis ins fünfte oder sechste Jahr erstreckt,
sondern bis ins elfte Jahr oder noch darüber hinaus. Hier geht die
infantile Amnesie in die neurotische unmittelbar über; von einem
absoluten Gegensatz zu sprechen, ist darum ganz unstatthaft.
Ich bin hier bei den Fragen der Neurosenlehre angelangt.
Hier kann ich mich kürzer fassen, da sich im Grunde nur das gleiche
Spiel wiederholt. Freuds Theorie der Hysterie wird in einer ganz
158
154
mangelhaften Weise dargestellt. Jung verweilt mit größter Ausführlichkeit
bei der alten „Trauma-Theorie“ (die er übrigens fälschlich als eine
„Dispositionstheorie“ bezeichnet!). Sodann stellt er dar, wie Freud
dazu gelangte, den neurotischen Phantas ien eine größere Bedeutung
beizulegen. Über die Lehre von der besonderen psychosexuellen
Konstitution der Neurotiker, von den verdrängten Wünschen als
treibenden Kräfterı der Neurose, von der Ambivalenz der Gefühlsregungen
bei den Neurotikern usw. erfährt der Leser aber kein Sterbenswörtchen.
In der Darstellung eines Hysteriefalles führt Jung (Seite 41f) aus,
wie die „alte Theorie“ es sich dachte. Er stellt es hier, und später
noch zu wiederholten Malen (vgl. Seite 46, Seite 76 und 77) so dar,
als beharre Freud noch in der Traumalehre uns suche die Ursachen
der Neurose lediglich in der Vergangenheit. Dieses Verfahren Jungs
ist um so anfechtbarer, als er es vorher den „oppositionellen“ Kritiken
ausdrücklich verwiesen hatte.
Die mangelhafte Anpassung des Neurotikers an die Realität, auf
die Jung mit Recht so großen Wert legt, ist von Freud (vor allem
in dem Aufsatz über die „zwei Prinzipien des psychischen Geschehens“)
eingehend gewürdigt worden. Um Spezielleres zu nennen, so hat
Freud (cf. „Bruchstück einer Hysterieanalyse“) besonders betont, daß
der Neurotiker vor den realen Anforderungen, die an seine Sexualität
herantreten, zurückscheut. In der Arbeit über die Zwangsneurose (1909)
behandelt er speziell das Ausweichen des Kranken vor jeder Entscheidung.
Ganz besonders aber zeigt der Artikel „Neurotische Erkrankungstypen“
(1912), daß Freud den aktuellen Konflikt im Neurotiker in vollem
Maße berücksichtigt. Aber er erkannte, daß dieser nur eine Neuauflage
früherer Konflikte sei und betonte darum die Bedeutung der letzteren.
Wenn Jung nun den Aktualkonilikt als allein wesentlich für das
Verständnis der Neurose bezeichnet, so ist das.nicht etwa eine originelle
Idee seinerseits, sondern er schlägt nur den Irrweg der nichtanalytischen
Neurologie wieder ein, den Freud uns vermeiden gelehrt hatte.
Nachdem Jung die Methode Freuds als rein historisch
verworfen hat, kann er nicht umhin zu gestehen, daß Freud „die
finale Orientierung der Neurosen in gewissem Maße anerkennt“
(Seite 77). Vielleicht ist dieses das stärkste Stück, das Jung sich in
seiner „Darstellung“ der Psychoanalyse geleistet hat. Ist es denn nötig,
auf das zu verweisen, was Freud in Wirklichkeit über die Tendenzen
der Neurose, tiber die Symptome als Darstellungsmittel unbewußter
Wünsche gelehrt ‘hat? Allerdings hat Freud sich nicht dazu
verstiegen, diese Tendenzen der Neurose mit einer metaphysisch zu
verstehenden Finalität zu verquicken. Es widersteht mir, in dieser Sache
155
weitere Worte zu verlieren. Alles wirklich Geleistete ist hier Freuds
ausschließliches Eigentum, während Jun g nichts anderes als die
überflüssige Vokabel „finale Orientierung“ hinzugetan hat.
Nach Jung ist der Neurotiker von den „Pflichten“ zurückgewichen,
die er im Leben zu erfüllen hat. Den Tatsachen wird diese Auffassung
aber keineswegs gerecht. Statt vieler Gegengründe nenne ich nur einen.
Wir finden unter den Neurotikern eine große Zahl der ausgesprochensten
„Pflichtmenschen“, die in ihrer Arbeit oder in sonstigen Aufgaben
völlig aufgehen. Geht man auf solche Neurotiker genauer ein, so stellt
sich regelmäßig heraus, daß bestimmte Hemmungen der Libido: (ich
meine natürlich den sexuellen Sinn dieses Wortes) ihnen die Befriedigung
versagen, und daß die Arbeit ihnen als Ersatzbefriedigung dient. J ungs
Auffassung ist nicht etwa ein originelles Produkt, sondern lediglich
die alte Freudsche Auffassung vom Zurückweichen vor der realen
Sexualforderung; Jung hat sie nur „desexualisiert“, um ein von ihm
geschaffenes Wort zu gebrauchen.
Die Bedeutung des Unbewußten in der Neurose sinkt bei Jung
fast auf Null herab. So lesen wir: „Sie (d. h. die neurotischen Phantasien),
sind öfter nur als gefühlsmäßige Erwartungen, Hoffnungen, Vorurteile
usw. vorhanden. Man nennt die Phantasien in diesem Falle unbewußt.“
Es bedarf kaum des Hinweises, daß es sich hier um eine völlige
Verwässerung des „Unbewußten“ handelt. Eine Begründung für diese
Änderung der psychoanalytischen Auffassung des Unbewußten gibt
Jung nicht.
Jung scheint den Terminus „Verdrängung“ geflissentlich zu
vermeiden. Wir finden statt seiner allerhand unklare Wendungen, wie:
„Die Libido wurde nicht anerkannt“ (Seite 72) u. a. m.
Von der „Übertragung“ ist ausführlich die Rede, ohne daß Jung
Wesentliches zu dem Bekannten hinzufügte. Dagegen findet das
Phänomen des „Widerstandes“ fast gar keine Berücksichtigung.
Ein wichtiger * Gesichtspunkt Freuds, den Jung der
„Regression“ vollkommen zum Opfer bringt, ist das Haften-
bleiben des Neurotikers im Infantilen.
Gegen den Schluß der Schrift gibt Jung eine Psychoanalyse
wieder, die an einem elfjährigen Mädchen angestellt wurde. Die
Vernachlässigung des Unbewußten trägt auch hier zur Verwirrung Erheb-
liches bei. Übrigens ist es bemerkenswert, daß dieses Kind sich den
Jungschen Anschauungen in wesentlichen Beziehungen widersetzt,
Ich erwähne nur, daß es im fünften Lebensjahre eine große sexuelle
ı Auf die „fördernde und vorübende* Tendenz der neurotischen Phantasien
werde ich an anderer Stelle eingehen.
==
156
Neugierde entfaltete und im gleichen Alter gewisse Strampelbewegungen
ausführte, denen nach Jung „eine sexuelle Unterströmung zuerkannt
werden muß“. Der letztere Ausdruck leistet wieder das möglichste
an Unklarheit.
Die letzte Grundlage der Neurose sieht Jung in der „angeborenen
Empfindsamkeit“ (Seite 92). Da er selbst darin „nur ein Wort“ sieht,
so erübrigt sich jede Diskussion. Ich meine, auch hier hat Freud
uns Greifbareres geboten.
Ganz kurz fasse ich mich bezüglich der Ausführungen Jungs
zur Frage der Dementia praecox; ich kann mich auch hier wieder
nur dem Urteil Ferenczis anschließen. Bei der Frage des „Realitäts-
verlustes“ nimmt Jung die gleiche Stelle aus Freuds Paranoia-
Analyse zum Ausgangspunkt wie schon in seiner früheren Arbeit.
Jung hatte dort von den zwei Möglichkeiten, die Freud zur
Aufklärung des „Weltunterganges“ vorschlug, gerade diejenige unberück-
sichtigt gelassen, welcher Freud sich zuneigte. Er versucht sich
nunmehr auch mit dieser zweiten Erklärung des Verlustes der „fonction
du reel“ auseinanderzusetzen. Eine Widerlegung Freuds gelingt
ihm dabei jedoch meines Erachtens in keiner Weise.
Jungs Ausführungen über Traum müssen unseren Widerspruch
in mehrfacher Hinsicht erregen. Auch hier gibt Jung Freuds Theorie
mangelhaft wieder, wenn er sagt, die Deutungstechnik bestehe darin,
daß „man sich zu erinnern suche, woher die Traumstücke stammen“.
(Seite 55).
Jung ist ferner im Irrtum, wenn er Freuds Traumdeutung als
eine „absolut historische Methode“ kennzeichnet. Freud sucht ja
gerade nach den Wünschen, die sich in mancherlei Verkleidung
im Traume verbergen. Diese Verkleidung ist aber nur aus
historischer Forschung zu verstehen. Die Tendenz des Traumes ist
etwas in die Zukunft Weisendes; nur kommt hinzu, daß der Träumer
sich die Zukunft in seinen unbewußten Phantasien uach dem Bilde
der frühesten Vergangenheit gestaltet.
Jung verlangt eine weitergehende Berücksichtigung der
„teleologischen“ Funktion der Träume gegenüber der bloßen Berück-
sichtigung der historischen Determinierung durch Freud. Dieses
„prospektive“ Element im Traum ist uns nun aber längst bekannt.
Jeder Psychoanalitiker begegnet ihm täglich bei seinen Traumanalysen,
Freud hat schon in seiner „Traumdeutung“ (1900) darauf hinge-
wiesen, daß Vorsätze und dergleichen im Traum nur eine Oberschicht
darstellen; die Psychoanalyse hat gerade die Aufgabe, die tiefere
Schicht bloßzulegen. In einer späteren Schrift („Bruchstück einer
157
Hysterieanalyse“, Kleine Schriften zur Neurosenlehre II, Seite 761.)
hat Freud seine Ansicht über diesen Punkt noch genauer auseinander-
gesetzt. Die „prospektive Tendenz“ ist also gleichfalls keine originelle
Entdeckung Jungs oder Maeders, sondern lediglich ein neuer
Straßenname für einen Irrweg, den Freud von vornherein vermieden
hat. Das gleiche gilt für die analoge Funktion, welche Jung der
Neurose zuschreibt.
Ich habe im obigen eine ganze Reihe von anfechtbaren Positionen
Jungs unberücksichtigt gelassen, besonders da, wo Ferenczi mir
bereits vorgearbeitet hat. Ich erwähne noch speziell, daß ich aus
diesem Grunde ein Eingehen auf Jungs psychotherapeutische Technik
unterlassen habe.
Ich glaube aber, den Nachweis erbracht zu haben, daß Jung
nicht — wie er es behauptet — eine organische Weiterentwicklung
(Seite 135) der Freudschen Gedanken gibt. Um einen Ausdruck
von ihm selbst (Seite 135) zu gebrauchen, stellt er sich faktisch nur
„mit möglichst veränderter Nomenklatur auf einen möglichst gegen-
sätzlichen Standpunkt“. Und wenn Jung im Vorwort erklärt, er sei
„weit entfernt, in einer bescheidenen und maßvollen Kritik einen
‚Abfall‘ oder ein ‚Schisma‘ zu erblicken“, so will ich gern glauben,
daß er sich dieser Selbsttäuschung hingibt. Ich jedoch sehe keinen
Grund, die genannten Ausdrücke zu vermeiden. Ich gehe sogar darüber
hinaus und behaupte, daß Jung kein Recht mehr hat, die von ihm
vertretenen Ansichten mit dem Namen „Psychoanalyse“ zu belegen.
Die Gründe, die mich hierzu veranlassen, liegen darin, daß
Jung alle wesentlichen Bestandteile der Freudschen
Lehre wieder beiseite geschoben hat.
' Die infantile Sexualität, das Unbewußte, die Verdrängung, der
Begriff des Psychosexuellen, die Wunschtheorie des Traumes und der
Neurose — alle diese unerläßlichen Bestandteile der Psychoanalyse
sind teils verschwunden, teils zur- Bedeutungslosigkeit herabgedrückt.
Von wichtigen Einzelheiten der Lehre, die von dem gleichen Schicksal
betroffen wurden, nenne ich nur Autoerotismus und Narzißmus, die
Ambivalenz der Gefühle, die Sublimierung und Reaktionsbildung. Ich
kann aber auch nicht unerwähnt lassen, daß wichtige Bestandteile der
psychoanalytischen Theorie in Jungs Arbeit überhaupt keiner
Erwähnung gewürdigt werden. Ich nenne beispielsweise die Theorie
der Zwangsneurose, der Angst und der Depressionszustände.
Unter diesen Umständen wird niemand in meiner radikalen
Ablehnung der Jung schen Ideen das starre Festhalten eines engherzigen
Parteistandpunktes erblicken. Vielmehr glaube ich den Nachweis
158
geführt zu haben, daß Jungs „Darstellung“ im Effekt auf eine
völlige Entstelluug der psychoanalytischen Theorie hinausläutft.
Ich sehe in Jungs Arbeit im wesentlichen destruktive und rück-
schrittliche Tendenzen am Werke; irgendeine positive, aufbauende
Leistung vermag ich in ihr nicht zu erblicken.
Ich muß endlich noch betonen, daß Jung gegen seinen Grund-
satz (ci. Seite 13), nur die Wahrheit und nicht das moralische Sentiment
zur Richtschnur zu nehmen, arg verstößt, indem er mit ethisch-theolo-
gischen Wertungen an die infantile Sexualität und das Unbewußte
herantritt. Gerade nach dieser Seite möchte ich zum Schluß noch die
Abwehr richten. Hier gilt es die Psychoanalyse gegen Einflüsse
zu schützen, die aus ihr machen möchten, was die Philosophie
in vergangenen Zeiten war: ancilla theologiae.
Über eine konstitutionelle Grundlage der
lokomotorischen Angst‘.
Wer Gelegenheit hatte, die Psychogenese der lokomotorischen
Angst mit Hilfe der Freudschen 'Methodik zu untersuchen, dem
sind gewisse, in der Entstehung des Leidens wirksame Faktoren von
Fall zu Fall wieder begegnet, so daß er in ihnen etwas Typisches
erblicken mußte. Es ist ihm geläufig, daß bei den Neurotikern, welche
der beständigen Begleitung bestimmter Personen bedürfen, die
inzestuöse Fixierung der Libido besonders aufdringlich hervortritt. Er ist
damit vertraut, daß jeder Versuch, sich vom Liebesobjekt räumlich
zu trennen, dem Unbewußten dieser Kranken einen Versuch zur
Ablösung der Libido bedeutet. Nicht minder ist es dem Psychoanalytiker
bekannt, daß diese Kranken unter ihrer Angst einerseits leiden,
anderseits aber mit Hilfe der Angst ihre Umgebung beherrschen.
Weitere typische Determinierungen der „Topophobien“ sind die Angst
vor dem Leben — das symbolisch durch die Straße dargestellt wird
— und insbesondere die Angst vor den Versuchungen, die dem
Patienten entgegentreten, sobald er das schützende Obdach des elterlichen
Hauses verläßt. Ich nenne auch noch die Angst vor dem Tode, der
den Patienten fern von seinen Lieben überraschen könnte.
Die Kenntnis aller dieser Determinierungen — und es wären ihnen
noch manch andere hinzuzufügen — rückt die Straßenangst unserem
Verständnis näher, bringt uns aber keine vollständige Lösung des
Problems. Die Frage, warum bei einer nicht eben kleinen Gruppe von
Neurotikern gerade die F ortbewegung durch Angst erschwert
werde, bleibt ungeklärt.
Die Fixierung der Libido des Kranken an bestimmte Personen
seiner nächsten Umgebung hat für sich allein nicht diese determinie-
rende Kraft. Sonst müßten wir erwarten, daß eine sehr viel größere
Zahl von Neurotischen, als tatsächlich der Fall, an Straßenangst litte.
Die sonstigen, oben erwähnten psychosexuellen Faktoren wirken bei der
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, II. Jahrgang 1914.
160
- Entstehung anderer neurotischer Erkrankungen ebenfalls mit, ohne
daß es zur Produktion lokomotorischer Angst kommt.
Wir werden so zu der Annahme genötigt, daß in der sexuellen
Konstitution derjenigen Neurotiker, die an lokomotorischer Angst
leiden, eine besondere, nicht allen Neurotikern in gleicher Weise eigene
Vorbedingung liegen müsse, die beim Hinzutreten anderer psycho-
sexueller Faktoren (von der Art der oben angeführten) die Straßen-
angst und ähnliche Affektionen hervortreten ließe.
Die Psychoanalyse eines Falles von schwerer Straßen- und Platz-
angst hat mich zu einer bestimmten Auffassung geführt, die ich im
folgenden zu begründen versuchen will.
Der Patient, welcher schon seit dem Pubertätsalter, d.h. seit einer
langen Reihe von Jahren mit diesem Leiden behaftet ist, vermag nur
in Begleitung seiner Mutter oder ein paar anderer, ihm ebenfalls sehr
vertrauter Personen, die Straße zu betreten. Er äußerte einmal, als
ich Aufklärungen dieser Art gar nicht erwartete, das Gehen an
sich sei für ihn eine sehr angenehme Tätigkeit, sobald nur durch
geeignete Begleitung der Angst vorgebeugt sei. Beim Gehen auf
der Straße fühle er sich gleichsam tanzend. Es stellte sich weiter
heraus, daß dem sexuell völlig enthaltsamen Manne das Tanzen
große Lust bereitete, so daß seine Pollutionsträume oft Träume vom
Tanzen waren; daß er in einer Dichtung die Prostitution einmal
allegorisch durch ein Weib dargestellt hatte, das mit jedem beliebigen
Manne tanzt.
‘ Ein näheres Eingehen auf die erotische Bedeutung des Tanzes
oder auf seine Eignung, erotische Absichten mimisch darzustellen,
ist hier nicht erforderlich. In dem kurz skizzierten Falle handelt es
sich jedoch nicht um den banalen Tatbestand einer Lust am Tanzen,
sondern die Geh- und Tanzbewegungen bieten dem Patienten einen
Ersatz für die Sexualbefriedigung, die ihm durch neurotische Hemmungen
im übrigen versagt ist.
Daß die Tätigkeit des Gehens eine sexuelle Miterregung, speziell
eine Genitalerregung zur Folge hat, ist bei Neurotikern nicht selten.
Ich verdanke Herrn Kollegen Dr. Eitingon die sehr interessante
Mitteilung eines besonders prägnanten Falles, den man wohl mit dem
Namen „Geh-Zwang“ belegen kann. Es handelt sich um einen
Neurotiker, der — einem heftigen Impulse folgend — Märsche machte,
die ihn bis zum Orgasmus erregten.
Das „Negativ“ zu dieser eigentümlichen Perversion — im Sinne
der Auffassung Freuds in den „Drei Abhandlungen zur Sexual-
theorie“ — scheint mir nun die Neurose zu sein, die wir unter dem
161
Namen der Straßenangst kennen. Eine Reihe von Krankheitsfällen
meiner Beobachtung ist geeignet, diese Auffassung zu stützen.
Eine von mir psychoanalytisch behandelte Patientin wird, sobald
sie sich vom elterlichen Hause entfernt, von heftiger Erregung befallen,
die alsbald einer lähmenden Angst Platz macht, Auch in diesem Falle
besteht eine ausgesprochene Lust an körperlicher Bewegung. Speziell
das Gehen war ursprünglich lustbetont. Es ist sehr charakteristisch,
daß diese Patientin zu Hause, wenn sie in ihrem Zimmer ist, mit
großem Vergnügen tanzt, d. h. ohne Partner. Tanzt sie dagegen bei
einem Balle mit einem Herrn, so bemächtigt sich ihrer sogleich eine
Erregung, die mit heftigstem Herzklopfen einhergeht und in Angst
umschlägt, mit der ein lähmungsartiges Gefühl verbunden ist. Die
Krankheit macht es ihr faktisch unmöglich, mit einem fremden
Menschen zu tanzen. Aber nicht nur dies ist ihr verboten: auch
gehen darf sie nicht mit einem beliebigen anderen Menschen; denn
auch dabei würde sie von ihrer Angst verfolgt werden. Sie kann
in Begleitung ihrer nächsten Angehörigen Wege zurücklegen, ist aber
auch dann der Angst in einem gewissen (freilich gemilderten) Grade
ausgesetzt. Völlig frei von Angst ist sie auf der Straße nur in
Begleitung des Vaters. Ist sie aber frei von Angst, so kann sie auch
die Lust des Gehens genießen, die für ihr Unbewußtes ein Äquivalent
der sexuellen Lust (im engeren Sinne) bildet. Sie genießt die Lust
des Gehens gemeinsam mit dem Vater; dieses gemeinsame Gehen
stellt somit eine symbolische Erfüllung des Inzestwunsches, einen
Ersatz für die wirkliche Vereinigung dar. Durch die Fixierung an den
Vater ist es ihr verboten, mit anderen Personen zu gehen. Jede
Abweichung von diesem, durch die Neurose gegebenen Gesetz hätte
den Wert einer Untreue gegen den Vater.
Es mag an dieser Stelle darauf verwiesen werden, daß in den
verschiedensten Sprachen der Geschlechtsakt durch einen Ausdruck
bezeichnet wird, der ein gemeinsames Gehen zweier Personen
bedeutet (z. B. coire im Lateinischen).
Wie ich glaube, ist diese Bedeutung des gemeinsamen Gehens
den Psychoanalytikern, die je einen Fall von lokomotorischer Angst
untersucht haben, ebenfalls geläufig. Ich begnüge mich jedoch nicht
mit dem Flinweis auf die symbolische Bedeutung des Gehens, sondern
betone den Lustwert des Gehens selbst.
Auf Grund der kurz geschilderten und anderer analoger
Erfahrungen komme ich zu der Auffassung, es liege bei den
Neurotikern, die an lokomotorischer Angst erkranken, ursprünglich
eine konstitutionelle, überstarke Lust an Bewegungen vor; aus
11
162
l Hemmungen der Körperbewegung hervor.
| Auf die Bedeutung der Bewegungslust hat mit besonderem
Nachdruck Sadger! aufmerksam gemacht. Er spricht von der
„Muskelerotik“ als von einer besonderen Quelle sexueller Lust
und stellt sie neben die von ihm sogenannte „Hauterotik“ und
|) „Schleimhauterotik“. Sadger gibt interessante Nachweise betreffs
positiver Lust an körperlicher Bewegung. Ich könnte seine
Beobachtungen durch manche analoge stützen, will aber an dieser
Stelle nur auf das zum Verständnis der Straßenangst Nötige eingehen.
Wir finden die Bewegungslust® bei den Neurotikern, von denen
hier die Rede ist, nicht völlig verdrängt. Wie schon aus den kurz
erwähnten Beispielen hervorgeht, können die Kranken unter gewissen
Bedingungen (die eben durch die Krankheit diktiert werden) diese
Lust genießen. Ich habe, seit ich auf die Bedeutung dieses
konstitutionellen Faktors aufmerksam geworden bin, mein früheres,
relativ umfangreiches Material an analysierten Fällen von Straßenangst
gesichtet und war überrascht, wie stark dieser Faktor hervortritt. Ich
hatte früher schon entsprechendes Tatsachenmaterial in meinen
Psychoanalysen zutage gefördert, ohne das Typische zu erkennen.
Ich fand dann bald gewisse, mit großer Regelmäßigkeit wiederkehrende
Äußerungen der Bewegungslust heraus, über die ich hier noch einige
Mitteilungen folgen lassen möchte. Es handelt sich teils um
Erscheinungen der Bewegungslust, denen von den Kranken selbst ein
sexueller Charakter zugeschrieben wurde, teils um lustvolle Bewegungs-
antriebe von scheinbar nicht sexuellem Charakter. Diese Erscheinungen
dürften geeignet sein, weiteres Licht auf diejenigen neurotischen
Symptome zu werfen, die ich von einer dem Bewußtsein
entfremdeten Bewegungslust herzuleiten versucht habe.
| Von besonderem Wert erscheinen mir wiederholte Beobachtungen,
ı) welche erkennen lassen, daß die in Rede stehenden Kranken dem
|! Rhythmus der Bewegung ein eigentümliches Interesse entgegen-
bringen. Sie führen, soweit nicht äußere Hindernisse es unmöglich
machen, ihre Bewegungen in einem bestimmten Rhythmus aus, den sie
besonders lieben. Fühlen sie sich unbeachtet, so durchschreiten sie in
diesem Rhythmus das Zimmer, dabei etwa eine entsprechende Melodie
vor sich hin pfeifend. Ein Patient erklärte ohne weiteres, dieser
N; der. mißglückten Verdrängung dieser Tendenz gingen neurotische |
ı
ı „Haut-, Schleimhaut- und Muskelerotik.“ Jahrbuch für psychoanalytische
Forschungen Bd. III. 1912.
2 Ich ziehe diesen Ausdruck dem Terminus „Muskelerotik* vor, weil ersterer
eine Lokalisation der Lust vermeidet.
163
Rhythmus erinnere ihn an sexuelle Rhythmen. Es scheint sich dabei
teils um den Rhythmus masturbatorischer Handlungen, teils um den
Rhythmus der Ejakulation zu handeln. Der genannte Patient zeichnete
den Rhythmus in folgender Weise auf:
Eine Patientin gab folgenden Lieblingsrhythmus an:
’ ’ ’
Tl N N N
Sie hatte übrigens eine Prosadichtung verfaßt, die von nichts
anderem handelte als von Füßen und ihrer tanzenden Gehbewegung.
Manche Patienten, die an lokomotorischer Angst leiden, haben
eine ausgesprochene Lust an kräftigem oder raschem Ausschreiten!,
Manchen Neurotikern ist ein rasches Bergablaufen lustvoll; sie
empfinden dabei z. B. einen Harndrang, der von sexuellen Gefühlen
begleitet ist. Eine meiner Patientinnen dagegen, die im erwachsenen
Alter an Straßenangst erkrankte, litt als Kind an der Angst, bergab
führende Wege zu gehen, die keineswegs allein aus der Furcht vor
einem Sturz in die Tiefe erklärt werden konnte. Ich habe wiederholt
bei Neurotischen die Angst beobachtet, beim Gehen in allzu rasche
Bewegung zu geraten. Es handelt sich dabei um die Verdrängung
lustvoller Triebregungen, die mit dem Menschen „durchgehen“ könnten,
Es ist bezeichnend, daß die Sprache hier einen Vergleich mit der
Hemmungslosigkeit des dahin rasenden Pferdes anwendet,
Die Lust an Körperbewegungen beschränkt sich bei den Kranken
natürlich nicht auf die unteren Extremitäten allein, obwohl, wie
gesagt, das Gehen besonders lustbetont ist. So beobachtete ich z. B.
bei einem an Straßenangst leidenden jungen Manne die Neigung,
beständig die Fäuste zu ballen, die Armmuskeln zu kontrahieren und
namentlich die Kiefer aneinander zu pressen, zu welchem Zwecke er
. die Kaumuskeln aufs äußerste kontrahierte?. Eine Patientin mußte
zwangsmäßig die Fäuste ballen, forcierte Atemzüge tun, oder bäumende
Bewegungen mit dem Oberkörper ausführen. Auch sie litt an
Straßenangst. Es scheint bei dieser Gruppe von Neurotikern auch öfter
vorzukommen, daß sie ein Gefühl allgemeiner Steifigkeit oder Starre
des Körpers empfinden.
Neben diesen Erscheinungen auf körperlichem Gebiet habe ich
nun mit großer Regelmäßigkeit bei den gleichen Patienten einen
1 Es gibt Neurotiker, die, wenn sie einen Weg in großer Hast zurücklegen,
lebhafte Angst produzieren und dabei eine Pollution erleiden.
?2 Hier bestand gleichzeitig eine ungewöhnliche erogene Bedeutung der Mund-
schleimhaut.
21%
164
psychischen Zustand gefunden, den ich aus den nämlichen Quellen
herleiten möchte. Es ist bemerkenswert, daß manche Patienten für
beide Erscheinungskomplexe spontan die nämliche Bezeichnung
wählen, indem sie sowohl von „Spannungen“ im Körper als von
einem Zustand seelischer „Spannung“ sprechen.
Der Patient, der an lokomotorischer Angst feidet, befindet sich
in einem in schweren Fällen nahezu permanenten Zustand seelischer
Spannung. Erwacht er am Morgen, so ist er bereits in banger
Erwartung der Notwendigkeit, im Laufe des Tages irgend einen
Weg machen zu müssen. Je näher die Zeit des Aufbruches rückt, um
so mehr nimmt die Spannung zu; während des Weges hält sie an.
Ist der Kranke wieder daheim angelangt, so ängstigt er sich schon
wieder in der Erwartung dessen, was der nächste Tag bringen wird.
Viele Patienten belegen diesen Zustand mit einem Ausdruck,
der jedem Neurologen geläufig ist. Sie sprechen von der „Angst vor
der Angst“. Mir ist von jeher aufgefallen, daß die Kranken sich. dieses
Ausdruckes mit einer gewissen Emphase bedienen, als sagten sie mit
ihm etwas besonders Tiefsinniges, als gäben sie dem Arzt die
wichtigste Aufklärung über ihren Zustand. Sie sind damit tatsächlich
im Recht. Oberflächlich angesehen ist der Ausdruck „Angst vor der
Angst“ freilich eine Banalität. Der psychoanalytischen Betrachtung
kann es jedoch nicht entgehen, daß diese der eigentlichen
Angst voausgehende Spannung in jeder Beziehung
der „Vorlust“ analog ist, die dem Eintritt der Befriedigungslust
vorausgeht.
Manche der uns hier speziell beschäftigenden Neurotiker äußern,
daß sie sich ihr Leben ohne jenen Zustand permanenter Angsterwartung
gar nicht vorzustellen vermöchten. Lernt man nun die Sexualität
solcher Patienten näher kennen, so bemerkt man bei ihnen des
weiteren eine exzessive Neigung zum Haftenbleiben an einer
protrahierten Vorlust. Gerade unter den an Straßenangst
Leidenden finden sich auffallend viele Personen, die infolge ihrer
neurotischen Hemmungen der normalen sexuellen Befriedigungslust
gänzlich entsagen. Sie sind ausgesprochene Autoerotiker, und als
solche schieben sie die Erreichung der Endlust gern ins Unbestimmte
hinaus. Ich erwähne als eine Form protrahierter Vorlustgewinnung die
sogenannten „Traumzustände“, denen ich früher eine eingehende
Bearbeitung gewidmet habe!. Unter den Patienten, bei denen ich
diese Zustände studierte, litt ein beträchtlicher Prozentsatz an Straßen-
1 Jahrbuch für psychoanalytische Forschungen, Bd. 2, 1910.
165
angst! Eben die Traumzustände zeigen aber auch in deutlichster Form
den Übergang erotischer Tendenzen in Angst und andere neurotische
Symptome.
Wie wir auf Grund der Psychoanalyse der „Topophobien“ sagen
dürfen, haben wir mit Kranken zu tun, die sich vor der Erreichung
des Zieles ihrer Libido ängstigen. Die Angst hindert sie, von sich
selbst und den Liebesobjekten ihrer Kindheit loszukommen und den
Weg zu den Objekten der Außenwelt zu finden. Jeder Weg, der sie
aus dem Bannkreis der Personen, an die sie fixiert sind, hinwegführt,
ist verboten. Die Kranken dürfen ihre Bewegungslust nur in Begleitung
eben dieser Personen genießen. Handeln sie dem von der Neurose
diktierten Verbot zuwider, indem sie sich ohne die ihnen
vorgeschriebene Begleitung auf den Weg machen, so verwandelt sich
die BewegungslustinBewegungsangst. Es ist den Kranken
unmöglich, ihre Bewegungslust in derjenigen Weise in den Dienst
der Objektliebe zu stellen, wie beim gesunden Menschen die
ursprünglich autonomen Partialtriebe in den Dienst einer zentralen
Tendenz treten.
Nachdem es uns gelungen ist, die Angst vor der selbständigen
Fortbewegung auf einen bisher nicht genügend gewürdigten Faktor in
der sexuellen Konstitution des Patienten zurückzuführen, beantwortet
sich die Frage nach dem Ursprung des „Verbotes“ von selbst. Schon
die Tatsache, daß die Gegenwart des Vaters oder der Mutter den
Patienten von der Angst entbindet, läßt deutlich genug erkennen, daß die
inzestuöse Fixierung die Quelle der Bewegungshemmungen ist. Es bedarf
kaum der Erwähnung, daß meine sämtlichen Psychoanalysen von Topo-
phobien bezüglich dieses Resultates völlige Übereinstimmung ergaben.
Die vorstehenden Ausführungen bedürfen nach einer bestimmten
Richtung der Ergänzung. Ich sprach oben aus Gründen der leichteren
Übersicht nur von der Lust an aktiven Bewegungen und der Umwandlung
dieser Lust in Angst. In der Regel aber ängstigen sich die gleichen
Kranken auch vor der passivenFortbewegung, sobald diese
sie aus der Nähe gewisser Personen entführt. Meine Erfahrung nötigt
mich nun zu der Annahme, daß auch das Fahren für diese Kranken
ursprünglich einen besonderen Lustwert hatte. Jeder, der sich in die
Träume dieser Patienten vertieft, wird bemerken, wie häufig sie vom
Fahren händeln, neuerdings besonders vom Fahren mit dem
Luftschiff. Es gibt nicht wenige Neurotiker, die am Fahren eine
ausgesprochene körperliche Lust haben. Als besonders charakteristisch
ı Auf die Lust der Kinder am Fahren sei ebenfalls verwiesen. Ich kannte
IN
IN!
It
166
erwähne ich die Neigung eines meiner Patienten, lange Eisenbahnfahrten
zu machen und sich während der längsten Reise stets wach zu halten,
um nichts von der Lust des Fahrens zu verlieren. Er reiste haupt-
sächlich wegen der Lust des Fahrens. Erwähnt sei ferner, daß bei
manchen Personen eine längere Eisenbahnfahrt stets eine Pollution in
der nächsten Nacht zur Folge hat.
Daß bei der uns beschäftigenden Gruppe von Neurotikern eine
Verdrängung dieser passiven Bewegungslust vorliege, bestätigte mir
kürzlich eine Patientin durch eine spontane Angabe. Sie hatte anfangs
die Fahrt von ihrer Wohnung zu der meinigen nur mit Aufbietung
aller ihrer Kräfte zurücklegen können. Unter der Einwirkung der
Psychoanalyse war die Angst zunächst quantitativ zurückgegangen.
Eines Tages erschien die Patientin in einer deutlich gehobenen
Stimmung und berichtete mir, sie sei ganz erstaunt gewesen, daß die
heutige Fahrt ihr einen Genuß bereitet habe. Die Angst hatte also
einer ausgesprochenen Lust am Fahren Platz gemacht!
Vor einigen Jahren gelang es mir, in einem Falle schwerer
Straßen- und Platzangst einen sehr schönen und vollständigen Heilerfolg
zu erzielen. Die Patientin, die vorher nur unter größter Angst ihr
Haus verlassen konnte, fand nach ihrer Heilung nicht nur eine aus-
gesprochene Lust am Reisen, sondern meldete sich auch zur Teilnahme
an einer Luftschiffahrt. Die Lust an Bewegungen war ihr nicht mehr
durch neurotische Verbote verschlossen,
' Gerade die Erfahrung, daß sich die Angst vor der Fortbewegung
in eine auf die gleiche Tätigkeit gerichtete Lust zurückverwandeln
läßt, scheint mir die oben gegebene Auffassung der Bewegungsangst
zu bestätigen.
Die Zurückführung der Bewegungsangst auf eine ursprünglich
übermächtige Lust an der Fortbewegung reiht sich anderen, durch die
Erfahrung gesicherten Ergebnissen der Psychoanalyse an. Beispiels-
halber nenne ich nur die Berührungsangst, die wir auf ursprüngliche
lustvolle Antriebe zur Berührung zurückführen gelernt haben.
Seit langem beschäftigt uns die schwierige Frage nach der
individualpsychologischen Bedingtheit der neurotischen Erkrankungs-
formen. Es ist, als ständen verschiedene Formen der Erkrankung zur
Auswahl, das Individuum schlage aber — unbekannten Antrieben
folgend — einen bestimmten Weg ein.
Durch neueste Forschungen — ich habe Freuds Mitteilungen
einen Knaben, der sein Taschengeld von 1 Mark, sobald er es erhalten hatte,
regelmäßig in der Weise verausgabte, daß er einen ganzen Nachmittag hindurch
mit der Trambahn fuhr.
167 a
über die Entstehung der Zwangsneurosei und Jones’? Beiträge zum E |
gleichen Thema im Auge — sind wir dem Problem der „Neurosen- {
wahl“ um einen Schritt näher gerückt. Es scheint mir, daß die in H
der vorliegenden Arbeit vertretene Anschauung von der Psychogenese |
der „Bewegungsangst“ geeignet sei, zur Lösung der Frage der |
Neurosenwahl einen kleinen Beitrag zu liefern.
1 Vortrag, gehalten auf dem IV. Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen 1
Vereinigung in München im September 1913. 1
2 Internat. Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse. I. Jahrgang, Heft 5, 1913.
Über Einschränkungen und Umwandlungen der
Schaulust bei den Psychoneurotikern nebst
Bemerkungen über analoge Erscheinungen in
der Völkerpsychologie'. |
Die Schaulust als sexueller „Patrialtrieb“ ist, gleich ihrem passiven
Gegenstück — der Zeigelust (Exhibitionslust) — mannigfachen
Einschränkungen und Umwandlungen unterworfen. Beide Triebe, die
sich im frühen Kindesalter äußern dürfen, ohne durch Verbote gehemmt
zu werden, unterliegen später unter normalen Verhältnissen in erheb-
lichem Maße der Verdrängung und Sublimierung. Bei den Psycho-
neurotikern gehen die Hemmungen und Transformationen dieser
Triebe weit über das normale Maß hinaus, während zu gleicher Zeit
die verdrängten Regungen einen beständigen Kampf gegen die
Verdrängung führen.
Eine kleine Publikation Freuds? über die „psychogene
Sehstörung“ enthält diejenigen leitenden Gesichtspunkte, die uns
zu einem tieferen Verständnis der neurotischen Hemmungen und
Umwandlungen der Schaulust führen können. Freud nimmt in dieser
Arbeit Bezug auf seine Lehre von den erogenen Zonen und den
Partialtrieben und äußert sich über den uns hier interessierenden Partial-
trieb — die Schaulust — und die in Betracht kommende erogene Zone —
das Auge — wie folgt: „Die Augen nehmen nicht nur die für die Lebens-
erhaltung wichtigen Veränderungen der Außenwelt wahr, sondern auch
die Eigenschaften der Objekte, durch welche diese zu Objekten der
Liebeswahl erhoben werden, ihre „Reize“. Es bewahrheitet sich nun,
daß es für niemand leicht wird, zweien Herren zugleich zu dienen.
In je innigere Beziehung ein Organ mit solch doppelseitiger Funktion
zu dem einen der großen Triebe tritt, desto mehr verweigert es sich
dem andern.“
ı Aus „Jahrbuch der Psychoanalyse“. Band VI, 1913.
% Ärztliche Standeszeitung, Wien 1910. Abgedruckt in „Kleine Schriften zur
Neurosenlehre“, Bd. II, Wien. 1913,
169
Stellt der Schautrieb Ansprüche, die quantitativ zu hoch sind
oder sich auf verbotene Objekte richten, so ergibt sich ein Konflikt
im Triebleben. Es heißt darüber in der erwähnten Schrift weiter (Kl.
Schriften, Bd. III, S. 318/319): „Wenn der sexuelle Partialtrieb, der
sich des Schauens bedient, die sexuelle Schaulust, wegen seiner über-
großen Ansprüche die Gegenwehr der Ichtriebe auf sich gezogen hat,
so daß die Vorstellungen, in denen sich sein Streben ausdrückt, der
Verdrängung verfallen und vom Bewußtwerden abgehalten: werden,
so ist damit die Beziehung des Auges und des Sehens zum Ich und zum
Bewußtsein überhaupt gestört. Das Ich hat seine Herrschaft über das
Organ verloren, welches sich nun ganz dem verdrängten sexuellen
Trieb zur Verfügung stellt. Es macht den Eindruck, als ginge die
Verdrängung vonseiten des Ichs zu weit, als schüttete sie das Kind
mit dem Bade aus, indem das Ich jetzt überhaupt nichts mehr sehen
will, seitdem sich die sexuellen Interessen im Sehen so sehr vorgedrängt
haben. Zutreffender ist aber wohl die andere Darstellung, welche die
Aktivität nach der Seite der verdrängten Schaulust verlegt. Es ist die
Rache, die Entschädigung des verdrängten Triebes, daß er, von weiterer
psychischer Entfaltung abgehalten, seine Herrschaft über das ihm
dienende Organ nun zu steigern vermag. Der Verlust der bewußten
Herrschaft über das Organ ist die schädliche Ersatzbildung für die
mißglückte Verdrängung, die nur um diesen Preis ermöglicht war.“
Zur Erklärung einer so weitgehenden Verdrängung der sexuellen
Schaulust zieht Freud (l. c. S. 319) als Motiv die Talion — d. h.
Selbstbestrafung für genossene Schaulust am verbotenen Objekt —
heran.
Damit ist der erste Vorstoß in ein großes, von der Psychoanalyse
noch wenig durchforschtes Gebiet unternommen, dessen weiterer
Erschließung die vorliegende Abhandlung dienen soll. Eine Fülle
von Erscheinungen harrt einer eindringlichen Untersuchung. Die
von Freud als Paradigma der neurotischen Sehstörungen gewählte
hysterische Blindheit ist nur eine, freilich eine besonders auffällige
Form neurotischer Störung im Bereich des Schautriebes. Sie kommt
in der ärztlichen Praxis nicht eben häufig zur Beobachtung; mir wenig-
stens ist in den letzten sechs Jahren nervenärztlicher Praxis kein
einziger einschlägiger Fall begegnet, während ich gewisse andere
Störungen — die zum Teil in der Literatur überhaupt noch keine
Berücksichtigung gefunden haben — verhältnismäßig häufig beobachtete.
Es ‚handelt sich in klinischer Hinsicht teils um Transformationen
der Schaulust in eine spezifische Angst vor der Betätigung dieses
Triebes, teils um Störungen der Sehfunktion, teils um neurotische
SEEEEEERREEP EEE
Seo
170
Symptome, welche sich am Sehorgan abspielen, ohne den Gesichtssinn
direkt zu betreffen. Im folgenden beabsichtige ich nicht nur, die
Ergebnisse meiner psychoanalytischen Untersuchungen mitzuteilen und
damit die Symptomatologie zu fördern. Über diesen rein medizinischen
Interessenkreis hinausgehend, möchte ich versuchen, die gewonnenen
individualpsychologischen Einsichten zur Aufklärung gewisser Phäno-
mene der Völkerpsychologie zu verwerten.
Aus Gründen der Knappheit und Übersichtlichkeit werde ich mich
auf die Äußerungen der Schaulust beschränken, auf eine gleichzeitige
Berücksichtigung der „Zei gelust“ (Exhibitionslust) also im allgemeinen
verzichten. Ich weiß wohl, daß es prinzipiell richtiger wäre, beide Triebe
nebeneinander und in ihrem Zusammenwirken zu behandeln, so wie
es z. B. Rank in seiner vortrefflichen Arbeit über „das Motiv der
Nacktheit in Sage und Dichtung“ (Imago 1913, Bd. II) getan hat.
Da aber die neurotischen Symptome, die im folgenden behandelt
werden, vorwiegend aus verdrängter Schaulust zu erklären sind, so
erscheint mir eine gesonderte Untersuchung dieser einen Seite der
Phänomene berechtigt.
I. Die neurotische Lichtscheu.
Eine Störung, deren Analyse uns besonders instruktive Einblicke
eröffnet, ist diejenige, welche ich mit dem Namen „neurotische Licht-
scheu“ belegen möchte. Es handelt sich um eine Affektion, die keines-
wegs selten ist und früher bereits in der nichtanalytischen Literatur
einige Beachtung gefunden hat. Ich konnte eine kleine Reihe
einschlägiger Fälle beobachten und sie größtenteils eingehend analysieren.
Da die mit der Lichtscheu behafteten Patienten stets noch andere,
ebenfalls von der Verdrängung der Schaulust herrührende Störungen
darboten, so werde ich die psychoanalytische Erklärung dieser letzteren
in die nun folgenden Ausführungen über die Lichtscheu einfügen.
Die „Lichtscheu“ äußert sich darin, daß die mit ihr Behalteten
das Sonnenlicht, resp. Tageslicht, meist auch das künstliche Licht,
als unangenehm empfinden. Sie fühlen sich selbst durch mattes Licht
geblendet; manche klagen über mehr oder weniger heftige Augen-
schmerzen, sobald sie dem Licht nur kurze Zeit ausgesetzt sind. Sie
schützen ihre Augen durch allerhand Mittel gegen das Licht. Doch
liegt nicht nur eine Empfindlichkeit des Auges gegen Belichtung vor,
sondern die betreffenden Patienten reagieren auf Lichtreize mit einer
Scheu, die durchaus den Charakter der neurotischen Angst trägt ;
in ausgesprochenen Fällen schützen sie ihre Augen in ebenso sorgsamer
Weise vor jedem Lichtstrahl, wie etwa ein an Berührungsangst leidender
171
Zwangsneurotiker seine Hände vor dem Kontakt mit irgend einem
Gegenstand bewahrt. Die Angst hat zum Inhalt die Gefahr
der Blendung.
Die hier in kurzen Umrissen geschilderte Störung hat bisher
keine spezielle Bearbeitung in der psychoanalytischen Literatur gefunden.
Und doch existiert in dieser ein Hinweis, der zur Aufklärung der uns
beschäftigenden Affektionen einen wichtigen Fingerzeig gibt.
In dem „Nachtrag zu dem autobiographisch beschriebenen Falle
von Paranoia!“ unterwirft Freud eine paranoische Wahnidee der
psychoanalytischen Deutung. Der Geisteskranke Schreber (cf. dessen
Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken, S. 139, Anm.) behauptete,
minutenlang ohne erhebliche Blendung das Licht
der Sonneertragen zu können? Aus dem ganzen, in seinen
merkwürdigen Einzelheiten geschilderten Verhältnis des Patienten zur
Sonne ließ sich entnehmen, daß für ihn die Sonne ein „sublimiertes
Vatersymbol“ bedeutete. Unter Bezugnahme auf die bei manchen
Völkern verbreiteten Abkunftsproben“ (Ordale) gelangte Freud zu der
Annahme: „Wenn Schreber sich rühmt, daß er ungestraft und
ungeblendet in die Sonne schauen kann, hat er den mythologischen
Ausdruck für seine Kindesbeziehung zur Sonne wiedergefunden, hat
er uns von neuem bestätigt, wenn wir seine Sonne als Vater
auffassen.“
Die Wahnidee Schrebers bildet auf psychotischem Gebiet
ein vollkommenes Gegenstück zur neurotischen Lichtscheu. Während
der gesunde Mensch auf die Belichtung seiner Augen innerhalb
gewisser Grenzen ohne besondere Empfindlichkeit reagiert, sich vor
dem Anblick zu grellen Lichtes aber instinktiv in ausreichender
Weise schützt, wähnt der Geisteskranke, der Blendung durch hellstes
Sonnenlicht nicht zu unterliegen, indessen der Neurotiker sich in über-
triebenem Maße vor der Gefahr der Blendung ängstigt. Man darf
daher geradezu von einer Sonnenphobie sprechen.
Ich. werde nun zunächst aus der Psychoanalyse eines jungen
Mannes diejenigen Tatsachen und Ergebnisse mitteilen, welche eine
Erklärung der Lichtscheu sowie gewisser, mit ihr in engem Konnex
stehender Erscheinungen anbahnen können.
Der Patient, den ich „A“ benennen will, hatte mich aufgesucht
wegen einer Störung der sexuellen Potenz und einer tiefgreifenden
Verstimmung. Er befand sich zur Zeit des Beginnes der Behandlung
1 Jahrb. f. psychoanalyt. Forschungen, 1912, Bd. III, S. 588,
® Der gleichen Wahnidee bin ich übrigens auch bei anderen Geisteskranken
begegnet.
Dem gen ni ai
EN
I ER
172
in einem Zustande der Niedergeschlagenheit. Früher voll lebhafter
Anteilnahme für alles, was um ihn vorging, hatte er jetzt jedes Interesse
an den Menschen, an seinem Beruf, an Vergnügungen usw. verloren.
Seine geistige Tätigkeit beschränkte sich mehr und mehr auf neurotische
Grübeleien. Bei etwas genauerem Eingehen auf die Symptome des
Patienten stellte sich dann heraus, daß in seinen Vorstellungen das
Auge, die Sehkraft und das Sehen eine auffallende Rolle spielten, daß
mit gewissen Vorstellungen dieser Art deutliche Angst verbunden war,
daß eine bei dem Patienten vorhandene sexuelle Perversion sich
ebenfalls auf das Auge bezog und endlich, daß er an einer aus-
gesprochenen Lichtsche u litt.
Die Intensität einer solchen Störung kann man ermessen, wenn
man die Schutzmaßregeln kennen lernt, die der Patient gegen das
Objekt seiner Angst anwendet. Im vorliegenden Falle schützte der
Patient sich gegen helles Tageslicht durch krampfhaftes Schließen der
Augen und ähnliche Maßnahmen, die an sich über das Verhalten
Gesunder höchstens quantitativ hinausgingen. Bei Abend schützte er
sich in ähnlicher Weise gegen das künstliche Licht. Auffälliger und
entschieden krankhaft aber waren die Prozeduren, durch die er sich
bei Nacht (d. h. vom Augenblick des Schlafengehens an) gegen jeden
Lichtschein absperrte. Er hatte in seinem Schlafzimmer die Fenster
durch dreifache Vorhänge verdeckt, so daß am Morgen kein Lichtstrahl
eindringen konnte. Zum Schutz gegen künstliches Licht hatte er in
der Tür seines Zimmers nicht nur das Schlüsselloch verstopft, sondern
jeden kleinsten Spalt im Holz sorgfältig ausgefüllt.
Im Beginn der Psychoanalyse drängten sich zunächst andere
Materialien in den Vordergrund. Erst nach mehr als einem Monat
war ein Eingehen auf die vielfältigen Gedanken möglich, die um das
Auge kreisten. Schon aus dieser Zögerung ließ sich entnehmen, daß
die hierher gehörigen Gedankengänge besonders peinlicher Natur
waren. Der weitere Verlauf der Psychoanalyse brachte denn auch die
Bestätigung dieser Erwartung; es ergab sich, daß sie in engstem
Zusammenhang mit den verdrängten inzestuösen Wünschen des
Patienten standen.
Im Anschluß an die Schilderung seiner Lichtscheu machte der
Patient folgende weitere Angaben. Er stehe unter einer zwangartigen
Angst, daß er oder einer seiner Angehörigen ein Auge verlieren könnten.
Er sei äußerst empfindlich gegen jede Annäherung an sein Auge. Bei
anderen Menschen interessierten ihn, wie er weiter erklärte, Augenleiden
sehr. „Menschen, die etwas am Auge haben, zwingen mein Interesse
auf sich.“ Er interessierte sich für Mädchen besonders dann, wenn sie
173 #
ein Pincenez trugen, ferner fahndete er nach solchen, die auf einem |
Auge blind waren. Bei Frauen mit durchaus gesunden Augen begegnete
es ihm, daß er „sich einredete, sie seien einseitig blind“. Von einem
einseitig blinden Mädchen, das er kennen gelernt hatte, träumte er
einmal, daß ihr Vater ihr das Auge ausgeschlagen habe, also an ihrer
. einseitigen Erblindung schuld sei.
Die Angst um das Augenlicht anderer Personen bezog sich, wie
sich bald herausstellte, in erster Linie auf den Vater des Patienten.
Schon vorher hatte sich ergeben, daß seine Einstellung zum Vater
durchaus ambivalent war. Die erste hierher gehörige Äußerung
des Patienten sprach von seiner „glühenden Verehrung“ für den
Vater;.als er aber diese Worte ausgesprochen hatte, trat ein plötzliches
„Abbrechen der Gedanken“, eine kurze Bewußtseinspause ein. Bald
zeigten sich denn auch Vorstellungen von entgegengesetztem Charakter,
z. B. Phantasien vom Tode und Begräbnis des Vaters. Es folgten
Klagen: über sein (des Patienten) verfehltes Leben; sein Vater laste
förmlich auf ihm. Er müsse die überragende Intelligenz des Vaters
anerkennen, der in seiner Heimat eine hohe Stellung einnehme; es N
sei ausgeschlossen, daß .er ihn je erreichen oder übertreffen: werde.
Oft habe er gewünscht, einmal irgend etwas besser zu können oder
zu wissen als der Vater; doch immer habe er die Überlegenheit des
letzteren anerkennen müssen. Dazu fühle er selbst sich vom Vater
kontrolliert; es sei ihm immer unmöglich gewesen, vor dem Vater
etwas zu verheimlichen. Denn dersehe jadochalles.
Von diesem Punkt aus ergaben sich zunächst zwangslos ein paar
assoziative, aber dem Patienten nicht bewußte Zusammenhänge zwischen
„Vater“ und „Sonne“. Das beobachtende Auge des Vaters
wurde mit der Sonne identifiziert; eine Identifizierung, die
weiterhin durch reichliche Belege bestätigt wurde.
Die Angst des Patienten um das Augenlicht seines Vaters ist
uns nun nicht mehr ganz unverständlich; sie ist für uns zunächst der
entstellte Ausdruck seines Wunsches, dem überwachenden Auge des
Vaters entzogen zu sein.
Von den reichlichen Bestätigungen, welche die Identifizierung
von Vater und Sonne in diesem Sinne noch ferner erfuhr, sei nur
noch ein Einfall des Patienten erwähnt, der unter lebhaftem Affekt 7
zutage gefördert wurde. Ihm sei in der Schule ein Gedicht ganz
„ekelhaft“ gewesen. In dem Gedicht, das von der späten,
unverhofften Entlarvung eines Verbrechers handelte, schloß jede Strophe
mit dem Refrain: „Die Sonne bringtesan den Tag!“
1 Die Ambivalenz seiner Einstellung zum Vater hatte der Patient in einer j
Sr
BEREHEEREREREN
174
Der Sonne mußte jedoch noch eine zweite, vatervertretende
Bedeutung zukommen; denn die Einstellung des Patienten zum Vater
ließ sich aus dessen überwachender Rolle, — seiner „Allwissenheit“,
möchte man sagen — allein nicht ableiten. Als zweite Determinierung
ergab sich die vom Sohne mit enthusiastischen Ausdrücken hervor-
gehobene Größe des Vaters, d. h. seine Intelligenz, seine Kenntnisse,
sein „Können“; kurz, alles das, was für den mit Insuffizienz-
gefühlen beladenen Sohn die Macht und die Überlegenheit des Vaters
ausmachte, wurde mit dem Glanz der Sonne verglichen. Der Glanz
des Vaters mußte des Patienten eigene Bedeutung für immer über-
strahlen, so wie die Sonne die anderen Gestirne überstrahlt. Trotz
dieser überschwänglichen Lobpreisung des Vaters war die Eifersucht
des Patienten gegenüber seinem Vater unverkennbar®. Wenn das
Unbewußte des Patienten die Vorstellung des väterlichen Auges mit
der des väterlichen Glanzes verdichtete, um beiden gemeinsam im
Sonnensymbol Ausdruck zu verleihen, so hatte es damit nichts anderes
getan, wie die Völker von altersher.
Die überwachende Tätigkeit ist eine dem Sonnengott vielfach
zugeschriebene Funktion. Helios z. B. führt in den homerischen
Gedichten ständig den Beinamen: „der alles beobachtet und alles
belauscht“ 3,
Ähnlich heißt es in dem biblischen Psalm 19 (der offenbar die
Reste eines alten Sonnenhymnus enthält): Er (d. h. die Sonne,
ursprünglich der Sonnengott) gehet auf an einem Ende des Himmels
und läuft bis an sein anderes Ende, und nichts bleibt vor
seiner Glut verborgen.“
Zur Identifizierung des Auges des Vaters mit dem Glanz oder
Licht der Sonne finden sich reichlich völkerpsychologische Parallel-
erscheinungen. Ich erwähne hier einige Beispiele aus dem Gebiet der
bemerkenswerten Form auch auf die Sonne übertragen. Das Licht der Sonne
warihm unsympathisch, dieWärme derSonne dagegen liebteer,
1 Es genügt, hier auf die eingangs erwähnte Störung der Potenz hinzuweisen,
um die Eifersucht auf das Können des Vaters verständlich zu machen. Deutlicher
noch als in dem hier beschriebenen Fall konnte ich in anderen (vgl. weiter unten Fall B)
konstatieren, daß die Sonne nicht nur die Größe, respektive die Potenz des Vaters
darstellte, sondern daß sie ein Symbol des väterlichen Phallus war. Die Scheu vor
dem Anblick des letzteren ist uns auch als Phänomen der Völkerpsychologie bekannt.
(Vgl. die biblische Erzählung von Noahs Söhnen.)
2 Es wird später gezeigt werden, daß die Erhebung des Vaters zur Sonne
keineswegs nur eine Erhöhung bedeutet, sondern gleichzeitig eine Herabsetzung
‚seiner Macht.
3 Bemerkenswert ist namentlich Odyssee, VIII, 266f., wo Helios das verbotene
Beisammensein des Ares und der Aphrodite beobachtet,
175 \
Linguistik. Owohl es sich um Erscheinungen handelt, die in den 1
verschiedenen Sprachen sehr verbreitet sind, beschränke ich mich auf
einige, nur die deutsche Sprache betreffende Hinweise. N
Auch die Sprache identifiziert vielfach Auge und Licht; es
liegt am nächsten, auf das Wort „Augenlicht“ zu verweisen. In
Wirklichkeit nehmen die Augen das Licht wahr; die Sprache aber
verhält sich so, als ob das Licht dem Auge angehöre oder entspringe.
Interessant ist namentlich der Gebrauch des Wortes „blind“. Wir
nennen „blind“ nicht nur einem Menschen, der die Sehkraft eingebüßt h
hat, der nicht sehen kann, sondern wir sprechen auch z. B. von |
einem „blinden Passagier“, d. h. wir gebrauchen das gleiche Wort
auch mit Bezug auf einen Menschen, der nicht gesehen wird. Es
ist ferner auch gebräuchlich, einen Gegenstand, der seinen Glanz
verloren hat, als „blind“ zu bezeichnen. Daraus geht hervor, daß
auch die Sprache „sehend“ und „glänzend“ identifiziert. Die hier
erwähnten sprachlichen Phänomene sind wohl ohne Zweifel aus dem
ursprünglichen „Gegensinn der Urworte“ (Abel) abzuleiten.
Freud hat in einem kleinen Aufsatz! gezeigt, daß im Unbewußten
des Individuums die Gegensätze in ähnlicher Weise gepaart sind, wie
in den primitiven Entwicklungsstadien der Sprache, welche in der
späteren Sprache gewisse Spuren hinterlassen haben.
Die Scheu vor dem beobachtenden Auge des Vaters fand eine
wichtige Ergänzung in der Scheu des Patienten, seine Mutter zu
betrachten. Er hatte sich geradezu ein Schauverbot in bezug auf die
Mutter bewußt auferlegt. Von Jugend auf vermied eres— wie er
sich ausdrückte — seine Mutter schön zu finden. Er scheute
sich zur Zeit der Behandlung noch heftig, irgend eine Körperpartie
der Mutter außer Gesicht und Händen unbedeckt zu sehen. Schon eine
Bluse, die in der Halsgegend durchbrochen war, bereitete ihm das
größte Unbehagen.
Es stellte sich im weiteren heraus, daß die Sonne, vor deren
Anblick der Patient sich scheute, für ihn ein Symbol von bisexu-
eller Bedeutung war. Es stellte sich nicht bloß den Vater dar
(resp. dessen überwachendes Auge oder seinen Glanz), sondern auch
die Mutter, welche der Sohn nicht ansehen darf,
wofern er nicht den Zorn des Vaters auf sich laden will. Das allgemeine
Verbot, die Mutter anzuschauen, entspringt, wie es sich in diesem und
anderen Fällen ergibt, dem spezielleren, die Mutter nackt zu sehen,
und besonders, ihr Genitale zu betrachten. Die Vorstellung, die Mutter
ı Jahrbuch, Bd. II, 1910.
176
nicht anschauen zu dürfen, setzt sich um in die Angst, ‚das Licht der
Sonne nicht anschauen zu können.
Diese Bisexualität des Sonnensymbols läßt sich aber auch in den
Ideengängen Schrebers nachweisen. In den „Denkwürdigkeiten“
findet sich eine Stelle, in der Schreber die Sonne anschreit und sie
beschimpft mit den Worten: „Die Sonne ist eine Hure.“ Hier kann
über die Weiblichkeit des Sonnensymbols kein Zweifel aufkommen.
Ohne schon an dieser Stelle auf die Verbote, den Körper der
Mutter zu schauen, näher einzugehen, erwähne ich hier nur, daß nach
meinen Feststellungen eine besondere Scheu, sogar indifferente Partien
des miütterlichen Körpers zu sehen, auf eine verdrängte Schaulust
zurückgeht, die sich ursprünglich im Übermaß der Mutter zugewandt,
sich aber speziell auf das Genitale bezogen hatte.
Auf andere weibliche Personen richtete die Schaulust des Patienten
sich eher im Übermaß. Aber sie wandte sich nicht denjenigen weiblichen
Körperteilen zu, die normalerweise als Reize wirken. Speziell bestand
eine ausgesprochene Scheu vor dem Genitale. Die Schaulust richtete
sich in erster Linie auf zwei Körpergegenden des Weibes, die vom
Genitale weit entfernt liegen: Auge und Fuß. Aber selbst diese Teile
durften die Rolle, die ihnen durch einen Verschiebungsvorgang
zugefallen war, nicht selbst spielen, sondern mußten sie noch an
akzessorische, nicht zum Körper selbst gehörige Dinge abgeben; so kam
es, daß Mädchen, welche ein Pincenez trugen oder einen künst-
lichen Fuß hatten, den hauptsächlichsten Reiz auf ihn ausübten. Auch
hinkender Gang, der auf ein steifes Bein oder eine künstliche Prothese
schließen ließ, reizte ihn sehr. Seine Scheu vor dem Genitale des Weibes
fand den deutlichsten Ausdruck darin, daß er in Wirklichkeit nie ein
Mädchen berührte, das etwa hinkte oder ein künstliches Bein hatte,
Die Scheu vor dem weiblichen Körper, oder — richtiger gesagt —
vor dem Genitale erwies sich als abhängig von mehrfachen Determi-
nierungen, unter denen als die wichtigste die Kastrations-Angst
zu erwähnen ist. Von besonderem Interesse war eine Assoziationskette,
die enge Beziehungen aufdeckte zwischen folgenden affektbesetzten
Vorstellungen:
1. Erstaunen des Patienten in der Kindheit über das Fehlen des
Penis bei seiner kleinen Schwester.
2. Ängstliche Vermeidung der Berührung des eigenen Penis.
3. Abkehrung des Interesses vom weiblichen Genitale.
4. Interesse für Frauen, bei denen eine Amputation vorgenommen ist.
Gerade dieses letztgenannte Interesse verriet die außerordentliche
Betonung der Kastrationsvorstellung; handelt es sich doch um das
177
Weib, „dem ein Glied abgeschnitten ist“. Wir finden hier, wie so oft H)
in unseren Psychoanalysen, daß das Unbewußte die Vorstellung des ji
Kindes festhält, nach welcher auch dem Weibe ein Penis zukommt.
Oft steht dann der Kastrationsangst eine Vorstellung aktiver Art —
Frauen zu kastrieren — gegenüber. Ich habe auf diese Erscheinungen
in einer früheren Arbeit gelegentlich der Analyse des Fußfetischismus
bereits hingewiesen!; auch in dem hier mitgeteilten Falle handelt es
sich ja um ausgesprochenen Fetischismus. Ich "unterlasse aber der
Kürze halber ein genaueres Eingehen hierauf; nur auf den Zusammen-
hang des Fuß- und Pincenez-Fetischismus mit dem sadistischen
Partialtrieb muß ich wenigstens mit einigen Worten eingehen.
Eine der lustvollsten Phantasien des Patienten bestand in der
Vorstellung, einem kurzsichtigen (womöglich einäugigen) Mädchen
‘ das Pincenez wegzunehmen, oder einer Amputierten ihr künstliches
Bein zu rauben, sie auf diese Weise hilflos zu machen:, Daß es sich |
hier um verschobene Kastrationsphantasien handle, ließen die Einfälle
des Patienten mehr und mehr erkennen. Besonders wichtig aber wurde |
| nach dieser Richtung ein schon erwähnter Traum des Patienten; er |
bezog sich auf ein ihm vom Ansehen bekanntes Mädchen, das nur auf
einem Auge sehen konnte. Seine Vorstellung im Traum war nun, daß
dieser Person dasfehlende Auge vom Vater ausgeschlagen. |
worden sei. Von hier führten die Fäden weiter zu der An gst des 4
Patienten vor dem Verlust des eigenen Auges. !
Diese Angst erwies sich als zwiefach. determiniert: durch die i|
Idee der Bestrafung für verbotenes Schauen und durch die Verschiebung
der Kastrationsangst vom Genitale auf das Auge. Diese Verschiebung
ist der oben erwähnten — vom weiblichen Genitale auf das Auge — a
völlig analog. Beide Vorstellungen aber trugen deutlich den Charakter
der Talion. Ich muß mit Befriedigung konstatieren, daß diese
Ergebnisse meiner Psychoanalyse sich in voller Übereinstimmung
befinden nicht nur mit den eingangs zitierten Anschauungen Freuds,
sondern auch mit denjenigen anderer Autoren, auf die ich hier kurz
referierend eingehen möchte, ohne dabei Vollständigkeit anzustreben.
Ferenczi (vgl. Imago 1912, Bd. I, S. 281 f.) betonte in der
Selbstblendung des Ödipus den symbolischen Ersatz der
Selbstentmannung, d. h. der dem Inzest adäquaten Selbstbestrafung. :
1 Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischismus.
Bd, III des Jahrbuches für psychoanalyt. Forsch, S. 563.
* Zu erwähnen ist, daß diese sadistischen Regungen auf das Gebiet der
Phantasie beschränkt waren; im wirklichen Leben war der Patient in hohem Maße
mitleidig.
178
Rank! lieferte verschiedene Beiträge zu dieser Frage; er und andere
Autoren? lieferten reichliches, namentlich aus Traumanalysen stammendes
Beweismaterial, aus dem hervorgeht, daß das Auge bald männliche,
bald weibliche Genitalbedeutung haben kann. Besonders Eder zeigte,
daß im Traum Eingriffe am Auge — ähnlich wie solche an den
Zähnen — Kastrationsbedeutung haben ’?.
Die Richtigkeit der Annahme wurde übrigens bestätigt durch
weitere Träume, in welchen die Kastration durch andere Symbole von
unzweifelhafter Bedeutung ausgedrückt war. Ich erwähne nur einen
Traum, in dem jemand erschien, um dem Träumer die Schamhaare
abzuschneiden.
Die „Strafe“ der Blendung erwies sich als Vergeltung verbotener,
der Mutter zustrebender Schaugelüste und der aktiven Kastrations-
oder Blendungsphantasie gegenüber dem Vater.
Aus den Ergebnissen der Psychoanalyse ist weiter zu betonen,
daß in den Phantasien des Patienten auch die letztgenannte Untat
selbst eine Rolle spielte. Ich erwähne in diesem Zusammenhang nur
eine obsedierende Vorstellung, von der der Patient als Schüler durch
lange Zeit verfolgt wurde. Während des Unterrichtes bei einem
bestimmten Lehrer mußte er sich immer von neuem ausmalen, wie er
dem Lehrer eine Kugel mitten in die Stirn schießen würde. Es ergab
sich zwangslos, daß dieser Lehrer eine Ersatzfigur für den Vater bildete.
Der Schuß in die Stirn wäre freilich nicht ohnmeweiteres als
Kastrationssymbol erkennbar. Auch brauchte ihm im Rahmen dieser
Abhandlung keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt zu werden,
wenn nicht reichliche Beweise es über jeden Zweifel klarstellten, daß
die genannte Körperstelle sehr gewöhnlich das Auge ersetzt.
Hier muß in erster Linie auf die Sage von der Blendung des
Kyklopen durch Odysseus hingewiesen werden. Wesen, die nur ein
"Rank, Inzestmotiv, S. 271, A. 2, und eine noch nicht beschriebene Form des
Ödipustraumes.
2 Eder, Augenträume.
Beide Arbeiten im Jahrgang I, Heft 2 der Internat. Zeitschr. f. ärztl, Psycho-
analyse, Man vergleiche ferner: Storfer (Zentralbl. f. Psychoanalyse, Bd. II, S. 201);
Gebsattel (Zeitschr. f. Pathopsychol., 1912); Die Bedeutung des Auges als
weibliches Genitalsymbol würdigte Jung im Indra-Mythus; ich selbst habe in
Anlehnung an Kleinpaul dem Auge, speziell der Pupille, ebenfalls weibliche
Genitalbedeutung zuerkannt („Traum und Mythus“, 1909).
Bleuler (Dementia praecox oder Gruppe der Schizophrenien) erwähnt ebenfalls
das Auge als weibliches Genitalsymbol in den Wahnideen Geisteskranker.
Jones (Jahrbuch Bd.V, S.67) zeigt die männliche Genitalbedeutung des Auges.
3 Inden Träumen der Frauen kann ein Eingriff am Auge Koitusbedeutung haben, Ein
junges Mädchen träumt z.B., daß jemand ihr mit einem langen Instrument das Auge öffne.
179
Auge besitzen, das sich mitten auf der Stirn befindet, sind in den
Sagen sehr verbreitet. Interessant ist, daß sich'auch in Träumen
zuweilen Ähnliches vollzieht wie in der Polyphemsage. Einen derartigen
Traum hat z.B. Eder (I. c) mitgeteilt. Ich selbst hatte mehrfach
Gelegenheit, ähnliche Feststellungen zu machen. Ich kann Eders
Bemerkung, daß der Kyklop dem Vater des Träumenden entspreche,
"und daß die Blendung des Riesen eine Kastration des Vaters vorstelle,
nach meinen Erfahrungen nur bestätigen.
Es scheint mir von besonderem Interesse zu sein, daß die Mitte
der Stirn, die zunächst einem von der Phantasie angenommenen Auge
entspricht, sowohl das männliche wie das weibliche Genitale symbolisch
vertreten kann. In ersterer Hinsicht möchte ich auf eine Mitteilung
von Reitler! verweisen, um für die zweite Behauptung einen Beleg
aus eigener Erfahrung zu bringen.
Reitler bespricht gewisse, als obszöner Scherz dienende
Figuren, deren Abbildung er beigibt; sie werden von der Land-
bevölkerung im Salzkammergut hergestellt. Der Scherz besteht darin,
daß bei Druck auf den Kopf der Figur ein großer Penis sichtbar wird.
Auf der Stirn des hölzernen Männchens ist in roher Zeichnung ein
drittes Auge dargestellt. Reitler ermittelte nun, daß dieses
Auge ein von der Bevölkerung jener Gegend ohneweiters verstandenes
Penissymbol darstellt.
- Ich stelle in Parallele mit dieser eigentümlichen volkspsycho-
logischen Tatsache eine eigene Beobachtung. Eine von mir behandelte
Patientin unterlag dem Zwange, ihre Stirn in der Mitte zu einer
senkrecht verlaufenden Falte zu runzeln. Sie rieb diese Falte dann
heftig mit dem Zeigefinger der rechten Hand. In einem Zusammenhang,
dessen genaue Mitteilung ich mir hier versagen muß, kam ihr wie
eine Erleuchtung plötzlich die Einsicht, daß es sich bei dieser Prozedur
lediglich um eine verschobene, d. h. nach oben verlegte Masturbation
handle, daß also die senkrechte Stirnfalte der Vulva entspreche.
Beweisend für diese Auffassung war noch besonders, daß die Patientin,
während sie die Stirnfalte rieb, ein „Druckgefühl im Unterleib“
verspürte2,
Die Autoren, welche die Genitalbedeutung des Auges nachwiesen,
haben, wie mir scheint, diese symbolische Verwendung des Auges
nur insoweit erklärt, als das Symbol das weibliche Genitale vertritt.
! Reitler, Zur Augensymbolik. Internat. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse,
1913, Bd. I, S. 159,
® Ich möchte hier auf Sadgers Mitteilung, daß auch die Schläfe Genitale
bedeutung habe, verweisen. Cf. Zentralbl, f. Psychoanalyse, 1911, Bd. I.
12*
180
Erst vor kurzem wurde mir die männliche Bedeutung des Auges aus
einer Traumanalyse erklärlich. Die Träumerin gab nämlich an, daß
die Glans penis ihr wie ein Auge erscheine.
Ich kehre zu der Angst des Patienten A. um sein Augenlicht
zurück. Nachdem wir die Kastrationsvorstellung als eine wichtige
Determinierung derselben erkannt haben, verlohnt es sich, auf eine
Einzelheit hinzuweisen, die zunächst als ganz belanglos erscheinen
könnte. Nicht nur in dem vorliegenden Falle, sondern auch bei
anderen Patienten fiel es mir auf, daß sie immer von ihrer Angst um
das Auge des Vaters sprachen oder von ihrer Scheu vor jeder.
Berührung des Auges usw. Nie war von den Augen die Rede,
sondern mit einer Regelmäßigkeit, die jeden Zufall ausschließt, sprachen
die Patienten so, als gäbe es nur ein Auge. Unter dem Gesichts-
punkt der „Verlegung nach oben“ wird diese Redeweise leicht
verständlich. „Das“ Auge ersetzt ein Organ, das nur in der Einzahl
vorhanden ist!,
Die Angst um das Auge des Vaters entspricht also der
verdrängten, auf den Vater gerichteten Kastrationsphantasie. Nachdem
wir aber die Identität von Auge und Sonne kennen gelernt haben,
kann kaum mehr ein Zweifel übrig bleiben, daß auch der Sonne die
gleiche phallische Bedeutung zukommt wie dem Auge des Vaters.
Die Scheu vor dem Anblick der Sonne enthält damit die weitere
Bedeutung einer Scheu vor dem Anblick des Penis des Vaters, die
übrigens auch völkerpsychologisch zu belegen ist.
Es ist nicht möglich, in diesem Zusammenhang näher auf die
Kastrationsangst einzugehen. Nur einige, zum Verständnis gewisser
Erscheinungen des vorliegenden Falles unentbehrliche Bemerkungen
muß ich noch hinzufügen. f
Als Vergehen, wegen deren die Kastration vonseiten der Erzieher
angedroht oder vom Knaben selbst befürchtet wird, lernten wir bereits
das Verlangen des Knaben nach dem Anblick des mütterlichen Genitale
sowie die gegen den Vater gerichtete Kastrationsphantasie kennen.
Hier wäre weiter die Masturbation zu nennen, die besonders durch
begleitende Phantasien zur schweren Vorwurfshandlung wird. Wie wir
1 Ich möchte bemerken, daß hier noch weitere Determinierungen vorliegen. Ich
verweise nur auf die oben besprochene Identifizierung des Auges des Vaters mit der
Sonne, welche ja auch nur in der Einzahl vorhanden ist. Man darf hier ‘wohl eine
spezielle Form der Verdichtung, eine Unifizierung annehmen, die weitgehende Gleich-
setzungen .ermöglicht: ein Genitale, ein Vater, eine Sonne und darum auch „ein“
“ „Auge. Man könnte noch hinzusetzen, „ein Gott“; ich verweise auf spätere Ausführungen
in dieser Arbeit.
— EEE —
Br
’
181
aber aus reicher psychoanalytischer Erfahrung wissen, gibt es noch
gewisse andere Erlebnisse des Kindes, welche häufig der Anlaß
heftiger Selbstvorwürfe werden. Ich meine die Beobachtung des
Geschlechtsverkehres der Eltern. Bezüglich aller dieser
„Sünden“ ist der Knabe oft genug in Angst, vom- wachenden Auge
des Vaters entdeckt zu werden},
Gerade wegen dieses verbotenen Sehens leiden manche Neurotiker
an Erblindungsangst. Diese letztere Art der neurotischen Reaktion
soll uns jedoch an dieser Stelle nicht beschäftigen. Ich möchte vielmehr
darauf hinweisen, daß die Lust am nächtlichen Beobachten und
_ Belauschen der Eltern in nicht seltenen Fällen dazu führt, daß neurotische
Personen an einer Überempfindlichkeit gegen Licht und daneben an
einer solchen gegen Gerätische leiden 2, In dem oben besprochenen
Falle bestand auch eine deutliche Geräuschempfindlichkeit. Beide
Eigentümlichkeiten treten in solchen Fällen — aus leicht erklärlichem
Grunde — vorwiegend bei Nacht auf. Auf diesem Wege wird die
Scheu des Patienten vor dem künstlichen Licht und vor dem
geringsten Lichtschein, der etwa durch eine Türspalte drang, vollkommen
begreiflich. Die übertriebenen Maßregeln zur Absperrung des von außen
kommenden Lichtes tragen den Charakter von Prohibitivmaßnahmen.
Das sorgsame Verschließen jedes feinsten Spaltes hatte aber
noch die weitere Bedeutung, anderen Personen die Beobachtung
des Patienten unmöglich zu machen; es liegt auf der Hand, daß
hier wieder die Scheu vor dem beobachtenden Vater die treibende
Kraft ist.
Die Prozeduren zur Verdunkelung des Zimmers finden jedoch
nicht ihre volle Erklärung in der negativen Absicht, das Licht
abzusperren und jeder Beobachtung zu entgehen. Vielmehr hat die so
hervorgebrachte absolute Dunkelheit auch einen positiven Wert für
den Patienten. Doch soll dies an einem andern Krankheitsfall
demonstriert werden.
Ebenso versage ich es mir zunächst, auf gewisse Umwandlungs-
produkte des Schautriebes einzugehen. Ich erwähne nur folgende
psychologische Eigentümlichkeiten des Patienten: zwangartige Neugierde,
Hang zum Grübeln, übertriebene Neigung für alles Rätselhafte, Auf
diese Phänomene werde ich später zurückkommen. Endlich sollen
‘ Auch die Lust des Kindes, Erwachsene beim Urinieren zu beobachten, gibt
zu neurotischen Selbstvorwürfen den Anlaß, Vgl. auch die Fußnote auf Seite 185.
?® Über die Genese der neurotischen Geräuschempfindlichkeit haben mir
verschiedene Psychoanalysen Aufklärung gebracht, Die Resultate sollen später
veröffentlicht werden.
1
182
hier noch einige Zeichen erwähnt werden, die erkennen lassen, daß das
Auge nicht nur als Sehorgan eine wichtige erogene Bedeutung für
diesen Patienten hatte. Auch Berührungen des Auges wurden als
lustvoll empfunden. Er neigte sehr dazu, die Augen zu reiben, die
oberen Augenlider herabzuziehen, hatte in früherer Zeit auch öfter die
Augenbrauen abgeschnitten !.
In therapeutischer Hinsicht sei bemerkt, daß der Patient durch
die Psychoanalyse in vollkommenem Umfang wiederhergestellt wurde.
Von Einzelheiten interessiert hier, daß die Lichtscheu und Geräusch-
empfindlichkeit ganz verschwanden. Die Einstellung des Patienten zu
seinen Eltern wurde diejenige eines Gesunden im gleichen Lebensalter,
dies zeigte sich, als er nach Abschluß der Behandlung in seine Heimat
zurückkehrte. Die sexuellen Abirrungen °machten einem normalen
Sexualinteresse Platz; speziell verschwanden die fetischistischen
Interessen bis auf geringe, praktisch durchaus unwesentliche Spuren.
Während der Rekonvaleszenz traten bei dem Patienten Träume auf;
in welchen der weibliche Körper, speziell das Genitale, Gegenstand
der Schaulust waren; bald darauf zeigte sich auch im wachen Zustand
die normal gerichtete Schaulust. Die unfruchtbare Neugierde und die
pathologischen Grübeleien wichen gleichzeitig einer intensiven
Wißbegierde, die auf die verschiedensten Gebiete übergriff; d. h. die
Sublimierung des Schautriebs gelang in einer vollkommenen Weise.
Mit der Herstellung einer durchaus normalen Sexualfunktion ging die
soziale Anpassung (Leistungsfähigkeit im Beruf usw.) Hand in Hand.
Seit dem Abschluß der Behandlung sind 1!/, Jahre verstrichen, ohne
daß ein Rückfall eingetreten wäre,
Die Psychoanalyse der neurotischen Lichtscheu bei anderen
Patienten ergab mir die volle Bestätigung der mitgeteilten Resultate
und Auffassungen. Nur aus einer meiner Analysen werde ich hier das
Hauptsächlichste in gedrängter Kürze mitteilen. Es handelt sich um
eine diagnostisch sichere Dementia praecox (Schizophrenie). Ich erhielt
die Gelegenheit zur psychoanalytischen Behandlung des Kranken nur
dadurch, daß er mir als Neurotiker zugeführt wurde; erst bei gründlichem
Eingehen auf seine Symptome ließ sich die Art seines Leidens
feststellen. Die Erfahrung hat uns nun oft gelehrt, daß die Psychose
weit unverhüllter als die Neurose die Geheimnisse des Unbewußten
preisgibt. So geschah es auch in diesem Falle. Zu den auffälligsten
Erscheinungen stellten sich, meist ohne erheblichen Widerstand, die
ı Man erinnere sich an den erwähnten Traum, in dem jemand dem Patienten
die Schamhaare abschneidet. Das Abschneiden der Augenbrauen bedeutet offenbar
auch eine symbolische Kastration.
183
Einfälle ein, welche den gesuchten Zusammenhang oft überraschend
schnell enthüllten. |
Dieser Patient, den wir „B“ nennen wollen, fiel schon bei der
ersten Konsultation dadurch auf, daß er bat, sich so setzen zu dürfen,
daß sein Gesicht vom Fenster abgewandt wäre; er hielt, nachdem er
diese Stellung eingenommen hatte, die Augen noch meist geschlossen
und bedeckte sie außerdem mit den Händen!. Während der psycho-
analytischen Sitzungen pflegte er, obwohl sein Gesicht vom Fenster
abgewandt war, diesen Verschluß der Augen streng zu bewahren,
bis die Besserung der Lichtscheu solche Prozeduren unnötig machte.
Die Antezedentien waren denjenigen des ersten Falles auffallend
ähnlich. Auch der Patient B. war der Sohn eines tatsächlich besonders
intelligenten und tüchtigen Mannes. In der Vorstellung des Sohnes
aber waren die Leistungen des Vaters schlechtweg unerreichbar. Fast
mit den gleichen Worten wie Patient A. drückte B. sich aus: er habe
lange, aber immer vergeblich gehofft, den Vater einmal in irgend
einer Beziehung übertreffen zu können. Die Ambivalenz der Einstellung
zum Vater war wiederum die gleiche, nur trat sie aus dem oben
erwähnten Grunde in diesem Falle weit unverhüllter zutage.
Der Vater war dem Patienten, wie dieser sich ausdrückte, immer
als ein „machtvoll-gütiges Wesen“ erschienen. Schon dieser
Ausdruck trägt einen religiösen Charakter; wäre er hier nicht mit
Bezug auf einen Menschen gebraucht, so würde man ohneweiters
annehmen, daß von Gott (oder überhaupt von einem religiös verehrten
Wesen) die Rede sei. Schon als Knabe — so erzählte B. weiter —
habe er die Auffassung gehabt, daß der Vater alles sehe. Wir
brauchen uns nur an das allsehende Auge Gottes zu erinnern, um zu
bemerken, daß hier eine Tendenz vorliegt, den Vater zu einem höheren
Wesen zu erheben. Durch freie Assoziationen stellte sich überraschend
schnell einer der Anlässe heraus, die dem Sohne die Überzeugung gegeben
hatten, daß sein Vater alles sähe. Der Vater hatte mit wachsamem
Auge die Masturbation des Knaben entdeckt und ihm das Versprechen
abgenommen, fortan von dieser Neigung abzusehen. Bei jedem Rück-
fall in späterer Zeit fühlte der Patient das Auge des Vaters gleichsam
auf sich gerichtet. Daß dieses Gefühl des Beobachtetseins noch andere
und wohl wichtigere Quellen hatte, wird sich noch zeigen. Im Bewußt-
sein des Patienten aber wurde der Entdeckung der Masturbation durch
den Vater das größte Gewicht beigelegt.
1 Ich bemerke, daß diese Attitüde der Neurotischen nicht selten ist und
am leichtesten das Vorhandensein der neurotischen Lichtscheu verrät. i
184
Im Alter von ungefähr 20 Jahren verlor der Patient seinen Vater
durch den Tod. Bald danach bildete sich die Vorstellung, der Vater
‚stehe am Himmel neben der Sonne und sehe auf ihn herab,
um sein Tun und Lassen zu beobachten. Es handelte sich hier noch
nicht um eine fixe Wahnidee; nicht lange nachher traten jedoch
unzweifelhafte Wahnbildungen hervor. Die Versetzung des Vaters an
den Himmel ist hier ganz evident. Sein Posten unmittelbar neben der
Sonne läßt erkennen, daß er der Sonne gleichgesetzt wurde, ohne noch
mit ihr zu einem Wesen verschmolzen zu werden.
Dieser — über den Tod hinaus fortdauernden — Verehrung und
Vergöttlichung des Vaters stand eine äußerst affektvolle, aber durch
lange Zeit dem Bewußtsein ferngehaltene Feindschaft gegenüber. Sie-
äußerte sich während der Behandlung u. a. in einem Traume, in
welchem der Patient seinen Vater im Zweikampf erschlug, um gleich
darauf von der Mutter symbolisch Besitz zu nehmen. Die Tötung des
Vaters im Zweikampfe und der endliche Besitz der Mutter sind die
beiden großen Ereignisse der Ödipussage und vieler verwandter
Erzählungen.
Die Kastrationsangst fand in diesem Falle einen sehr ähnlichen
Ausdruck wie beim Patienten A. Ich brauche daher nur ein paar Einzel-
heiten hervorzuheben. Auch in diesem Falle bestand die uns schon
verständlich gewordene Angst um das Auge des Vaters. Im
Zusammenhang mit dieser Angst ist eine Kindheitserinnerung von
Interesse. Der Patient hatte als neunjähriger ‚Knabe einmal seinen
Vater nackt gesehen und mit großem Interesse dessen Genitalien
betrachtet. Seine Phantasie, die sich in diesem Alter männlichen
Personen zuwandte, kehrte oit zu jener Szene zurück. Doch waren die
daran anknüpfenden Gedanken keineswegs nur lustvoll. Im Gegenteil
wurde er dauernd von der unruhigen Erwartung gequält, ob er in der
Entwicklung der Genitalien wohl den Vater erreichen werde. Als er
dann erwachsen war, unterlag er der peinigenden, bei Neurotikern so
überaus häufigen Idee, einen zu kleinen Penis zu haben.
Wir begegnen also hier wiederum der Eifersucht auf das Können
des Vaters; im vorliegenden Falle galt die scheue Anerkennung des
Sohnes gleichzeitig dem überlegenen Genitalorgan des Vaters
und seinem Auge!. Hier finden wir also keine .so weitgehende
Verdrängung des sexuellen Charakters der Scheu vor dem Vater, Nur
die Lust am Betrachten des väterlichen Genitales ist verdrängt.
1 Ich verweise an dieser Stelle auf die Bezeichnung „das Gemächt“ für die
männlichen Genitalien; hier hat die Sprache die Macht des Mannes in seine
Genitalien verlegt.
185
Gelegentlich hatte der Patient „blitzartige“ Halluzinationen, die ihm
den Gegenstand des Interesses für einen Augenblick zeigten.
Auch in seinem Verhältnis zur Mutter glich Patient B. dem A.
in auffälliger Weise. Er scheute sich in höchstem Maße vor dem Anblick
seiner Mutter (in ähnlicher Weise auch der Schwester), auch wenn sie
vollständig bekleidet waren., Im Gespräch mit der Mutter bedeckte
er die Augen mit den Händen. Die inzestuöse Richtung seiner
Wünsche verriet er schon in der ersten psychoanalytischen Behandlungs-
stunde durch die sonderbare Wahl eines Ausdruckes. Nachdem er
berichtet hatte, daß er nach dem Tode des Vaters mit seiner Mutter
und seinen Schwestern zurückgeblieben sei, hob er hervor, daß er sich
gewissermaßen als Nachfolger des Vaters betrachten müsse; denn er
sei doch nun „das einzige männliche Glied“ in der Familie. Sehr bald
kamen dann die Wunschphantasien zutage, welche die Wahl des
Ausdrucks determiniert hatten. Der Patient litt an der Angst, seine Mutter
und Schwestern unbeabsichtigt schwängern zu können. Besonders
wenn er nach einer Pollution ein Bad nahm, ängstigte er sich, es könnten
Reste von Samen an der Badewanne haften, durch die seine Mutter
oder Schwester bei späterem Gebrauche der Wanne geschwängert
werden könnten. Aus dieser Angst darf man auf einen gleichlautenden
verdrängten Wunsch des Patienten schließen : die Venen Angehörigen
sämtlich zu besitzen.
Die auf die Mutter gerichteten libidinösen Wünsche waren auf
andere, und zwar hauptsächlich auf reife, ältere Frauen übergegangen,
waren aber auch hier verhindert, sich in ihrer wirklichen Gestalt zu
zeigen. Sie äußerten sich vielmehr in einer Scheu, solche Frauen
anzublicken!. Diese Scheu war mit einem für den Patienten sehr
lästigen neurotischen Symptom verbunden; beim Anblick reifer Frauen,
die ihn oft bewußt an seine Mutter erinnerten, wurde ihm schwarz
vor den Augen. Wir begegnen hier einer Einschränkung der Schau-
lust, die — soweit mir bekannt — bisher nicht in diesem Sinne
aufgefaßt worden ist. Das von Nervösen so oft, namentlich als Begleit-
erscheinung von Schwindelanfällen geschilderte „Schwarzwerden“
vor den Augen dürfte regelmäßig der Unterdrückung einer libidinösen
Tendenz entsprechen. Die mit jeder Sexualerregung verbundene
Steigerung der Blutzirkulation führt bei Neurotikern oftmals zu einem
vermehrten Zufluß des Blutes nach dem Kopf, besonders auch nach
1 Ich verdanke Herrn Dr. de Bruine in Leiden die interessante Mitteilung,
daß nach einem holländischen Volksglauben erblindet, wer einer alten Frau beim
Verrichten eines Bedürfnisses zusieht.
N
|
186
den Augen, wodurch unter anderen Symptomen auch die Verdunkelung
des Gesichtsfeldes hervorgerufen wird.
Der Anblick der für ihn reizvollen Frauen wurde dem Patienten
auf diese Weise im wirklichen Leben versperrt. Es entspricht ganz
der Psychologie der Dementia praecox, daß der Patient für diese ihm
auferlegte Entbehrung Ersatz auf halluzinatorischem Wege
fand. Er sah z. B. eine im reifen Alter stehende Frau nackt vor sich
liegen; sie hatte, wie der Patient spontan hinzufügte, Formen und
Gestalt wie seine Mutter.
In eindrucksvoller Weise bestätigte der Patient ’B., daß seine
Scheu vor dem Anblick weiblicher Personen im Grunde genommen eine
Scheu vor dem weiblichen, richtiger gesagt vor dem miütterlichen
Genitale war.
Zu der Zeit, als schon deutliche Erscheinungen der Rekonvaleszenz
zu bemerken waren, besuchte der Patient einmal seine Mutter. Bei
ihrem Anblick hatte er, wie er berichtete, die Augen wieder mit den
Händen bedecken müssen; seine Empfindlichkeit gegen das Licht war
damals bereits in deutlichem Abnehmen begriffen. Während ich eine
Bemerkung dazu machte, legte der Patient wiederum die Hände auf
die Augen und sagte dann spontan: „Ich habe die Scheibe mit dem
Draht in der Mitte gar nicht ansehen wollen.“ Diese Worte waren im
Tone einer Rechtfertigung gesprochen — als befürchtete der Patient,
ich könne ihm etwas in falschem Sinne auslegen. Doch blieb die zitierte
Äußerung mir zunächst vollkommen unverständlich. Die Erklärung
folgte aber der ersten Äußerung auf dem Fuße. Der Patient, der sich
während der Behandlung in Ruhelage befand, hatte seinen Blick nach
der Zimmerdecke gerichtet, an welcher eine runde, blanke Messing-
scheibe angebracht war; aus der Mitte der Metallscheibe kam ein
Leitungsdraht der elektrischen Beleuchtung hervor. Dieser Eindruck
hatte in dem Augenblicke, als von der Scheu des Patienten vor dem
Anblick der Mutter die Rede war, genügt, um die Assoziation
der Vulva (Scheibe) und des Penis (Draht in der Scheibe) hervor-
zurufen.
Feindschaft und Eifersucht gegenüber dem Vater hatten mit:
der Zeit einer bewundernden Anerkennung seiner Größe und Macht
Platz gemacht. Doch vermochte die unterdrückte feindliche Strömung
zuweilen noch Störungen der zur Herrschaft gelangten Gegenströmung
zu erzeugen. Der Patient hatte in einem ekstatischen Moment einmal
einen Sonnenhymnus dichten wollen. Er vermochte aber nur wenige
Worte zu produzieren. Sie lauteten:
„Sonne, gib uns deine Kraft!“
: 187
Danach trat eine solche Störung des Gedankenablaufes (Sperrung)
ein, daß der Patient über die ersten Worte nicht mehr hinauskam.
Charakteristisch ist der Eintritt der Sperrung in dem Augenblick, als
der Sohn seiner Verehrung für die Kraft der Sonne, d. h. des Vaters,
Ausdruck verleihen will. Ich erinnere hier an ein vollkommen analoges
Vorkommnis aus der Krankengeschichte des Patienten A., bei welchem
eine Sperrung gleicher Art eintrat, als er begonnen hatte, von seiner
glühenden Verehrung des Vaters zu sprechen.
Der Wunsch, dem Vater gleich zu werden, kam einmal in einer
Form zum Ausdruck, die die Gleichsetzung von Vater und Sonne
deutlich ‚erkennen läßt. Der Patient unterlag nämlich einmal der
Sensation, daß seine beiden Augen zu einem würden. Dieses Auge
sah er halluzinatorisch vor sich, als wäre es „draußen“, d. h. außerhalb
seines Körpers. Es wurde dann zu einer strahlenden Sonne;
der Patient erhob sich damit zur gleichen Höhe wie den Vater. Daß
es gerade das Auge und nicht ein anderer Teil des Körpers war, der
die Umwandlung erfuhr, ist teils aus dem früher über Auge und Sonne
Gesagten verständlich, teils handelt es sich wieder um einen
symbolischen Ersatz des Penis durch das Auge. Die erwähnte
Halluzination läßt demnach insbesondere noch die Tendenz erkennen,
die eigene Zeugungskraft des Patienten der befruchtenden Kraft der
Sonne gleichzusetzen.
Ich bin einem inhaltlich ganz ähnlichen: symptomaätologisch
allerdings andersartigen Vorgang auch in der Psychoanalyse einer
Zwangsneurose begegnet. Der Patient hatte nach dem Tode seines
Vaters lebhafte Angst vor dessen wachsamem Auge. Das beobachtende
Auge versetzte er stets an den Himmel; auch in gewissen Träumen
kam das unzweideutig zum Ausdrüick. Diese Anerkennung und
Erhebung des Vaters war jedoch nur die eine Seite seiner ambivalenten
Einstellung zu diesem. Zuzeiten regte sich ein intensiver Trotz gegen
den verstorbenen Vater;. dann .unterlag der Patient dem Zwang, die
Sonne frech und herausfordernd anzusehen. Gleichzeitig
trat die obsedierende Grübelei auf: „Vielleicht bin ich Gott.“
Einen merkwürdigen historischen Versuch eines Menschen, sich
selbst mit der Sonne zu identifizieren, habe ich in meinem Aufsatz!
über den ägyptischen König Amenhotep IV. analysiert. Ich möchte
hier nur den kurzen Hinweis geben, daß die ambivalente Einstellung
des Königs zu seinem verstorbenen Vater die hauptsächlichste
Erklärung für die Einführung des Atonkultes abgibt, in welchem die
Kraft der Sonne verehrt wurde.
ı Imago Bd. I, 1912,
188
Die Angst des Patienten vor der Blendung durch die Sonne wird
auch im Falle B. erst dann vollkommen verständlich, wenn man
berücksichtigt, daß dem Sonnensymbol nicht nur Vater-, sondern auch
Mutterbedeutung zukommt. Wie im Falle A., so stellte sich die
Notwendigkeit dieser Annahme auch hier heraus. Die vorhin erwähnte
blanke Messingscheibe mit dem Beleuchtungskörper an der Zimmerdecke
war eine Art von Sonne am Himmel!. |
Seine Neigung, ein weibliches (d. h. für ihn: „mütterliches*)
Symbol an der Himmel zu versetzen, äußerte sich in einer spontan
mitgeteilten Phantasie. Als sich während der Behandlungsstunde der
vorher klare Himmel stark bewölkte, äußerte der Patient: „Es wäre
eine Wollust, sich mit dem Kopfin eineWolke hinein-
zubohren.“ Diese Phantasie entspricht vollkommen gewissen
mythischen Vorstellungen, die ich in meiner Schrift „Traum und Mythus“
gelegentlich der Analyse der Prometheussage erwähnt habe. In den
ältesten Schichten dieses Mythus wird das Bohren in der Wolke (die
Erzeugung des himmlischen Feuers) mit dem Sexualakt identifiziert.
Ich habe zum Fall B. nur noch kurz zu bemerken, daß die Licht-
scheu im Laufe der Behandlung verschwand, wie denn der Fall sich
überhaupt als therapeutisch sehr dankbar erwies,
Ich sehe an dieser Stelle von der Mitteilung weiterer psycho-
analytischer Erfahrungen über die neurotische Lichtscheu ab. Die Reihe
der Fälle ließe sich leicht vermehren; denn nach meiner ‚Erfahrung
handelt es sich um eine keineswegs seltene Affektion. Leichtere Grade,
wie z. B. eine gesteigerte Empfindlichkeit gegen grelles Sonnenlicht,
beobachtet man bei leicht neurotischen Personen ziemlich oft.
Eine einzelne Tatsache greife ich aus der Psychoanalyse einer
schweren Zwangsneurose heraus. Der Patient litt an einer im
allgemeinen nicht sehr erheblichen Lichtscheu. Als seine Assoziationen
ihn einmal auf gewisse, von der Vater-Imago ausgehende Verbote
gebracht hatten, bedeckte er plötzlich seine Augen mit den Händen.
Zur Erklärung dieses Verhaltens dienten mehrere ergänzende Einfälle.
Der Patient hatte seinem Vater gegenüber immer ein schlechtes
Gewissen gehabt; er konnte ihn nie recht ansehen. Seine
1 Die Identifizierung von Zimmerdecke und Himmel trägt einen echt infantilen
Charakter. Kürzlich hörte ich einen 3%/,jährigen Knaben die Decke des Badezimmers
den „Badehimmel“ nennen.
? Zur Erklärung des schönen Erfolges der Psychoanalyse in diesem Falle von
Dementia praecox bemerke ich, daß der Patient sich bald als genügend fähig zur
„Übertragung“ erwies. Seine Psychose war wenig in der Richtung der Wahnbildung
vorgeschritten, während die Halluzinationen eine überwiegende Rolle spielten.
189
Auflehnung gegen den Vater hatte u. a. in der Phantasie, den Vater
zu blenden, ihren Ausdruck gefunden.
In diesem Fall ergab sich noch eine spezielle Bedeutung des
Bedeckens der Augen. Es stellte — abgesehen von den übrigen, uns
bereits bekannten Bedeutungen — eine Selbstbestrafung dar:
sich blind machen. Es handelte sich also um eine Talion für die
erwähnte, auf den Vater gerichtete Absicht!.
ll. Andere Formen neurotischer Störungen im Bereich
des Schautriebes.
Sobald man sich einmal eingehender mit den neurotischen
Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust beschäftigt, ist
man erstaunt über die Mannigfaltigkeit der Störungen, die aus den
genannten Vorgängen herzuleiten sind. Diese Störungen finden sich
bald bei den gleichen Personen, welche an Lichtscheu leiden, bald
treten sie selbständig auf.
Bei der Darstellung des Krankheitsfalles B. habe ich eine derartige
Störung, welche neben der Lichtscheu bestand, nur kurz erwähnt und
komme hier zunächst mit einigen Worten auf sie zurück.
Der Patient klagte über unscharfes Sehen. Ersah die Gegen-
stände nicht klar, sondern verschwommen, undeutlich. Eine Störung
des Sehapparates war nicht nachzuweisen ?; daß die Affektion neuroti-
schen Charakter trug, wurde noch dadurch erhärtet, daß sie auf psycho-
analytische Behandlung gleichzeitig mit der Lichtscheu verschwand.
Um Wiederholungen zu vermeiden, gehe ich sogleich zu einem andern
Fall über, aus dessen Psychoanalyse ich einiges über eine ganz ähnliche
Affektion mitteilen möchte.
Die Patientin C. beschäftigte sich mit Malerei. Obwohl sie dieser
Kunst mit ausgesprochener Liebhaberei ergeben war, bemerkte sie
doch, daß es ihr namentlich in Zeiten stärkerer neurotischer Erregtheit
schwer fiel, die Formen von Gegenständen richtig aufzufassen und sie
ihrem Gedächtnis einzuprägen. Auf diese Störung kam sie zu sprechen,
als die Psychoanalyse bei der Aufklärung gewisser motorischer Anfälle
angelangt war. Die Störung erwies sich als vorzugsweise determiniert
durch eine verdrängte, inzestuös fixierte Schaulust, die sich namentlich
auf den Vater (Körperformen!) richtete. Eine spezielle Determinierung
1 Vgl. Ödipus’ Selbstblendung.
2 Ich erwähne an dieser Stelle, daß die in diesem Aufsatz beschriebenen
Affektionen solche Personen betrafen, die einen durchaus intakten Sehapparat hatten.
Eine einzige Ausnahme wird im folgenden noch Erwähnung finden.
190
ergab sich aber noch aus der Analyse besonderer Anfälle, die ich einige
Male auch selbst zu beobachten Gelegenheit hatte,
Auf dem Sofa liegend, begann die Patientin sich unter Anzeichen
heftiger psychischer Erregung zu strecken und erhob sich in einem
(nicht sehr ausgesprochenen) „Arc de cercle“ von ihrem Lager; dann
geriet der ganze Körper, besonders die Extremitäten in ein lebhaftes
Vibrieren und .Zucken, das die Patientin mit ächzenden Lauten
begleitete, bis eine allgemeine Erschlaffung eintrat. Während des
Anfalles pflegte die Patientin sich einmal hastig aufzurichten und den
Kopf für einen Augenblick nach der Seite zu drehen, um dann wieder
zurückzusinken.
Die Analyse dieser Anfälle vollzog sich unter ungeheuren Wider-
ständen; mehrmals begonnen und immer wieder aufgegeben, gelang
sie erst am Schluß der Behandlung. Die Anfälle entpuppten sich als |
mimische Darstellung eines mit äußerst heftigen Affekten verbundenen
Erlebnisses aus der Kindheit der Patientin, über dessen Realität aus
bestimmten Gründen kein Zweifel obwalten kann. Sie war eines
Morgens früher als sonst erwacht und war, da sie im gleichen Zimmer
wie die Eltern schlief, Zeugin des sexuellen Verkehres geworden. Sie
hatte sich — wie die allmählich hervorkommenden Einfälle ergaben —
im Bett einen Augenblick aufgerichtet und dann erschrocken wieder
niedergelegt. Diese ihre eigene aktive Beteiligung an dem damaligen
Vorgang drückte sich im späteren Anfall durch das plötzliche
Aufrichten des Oberkörpers aus. Das aufregende Erlebnis selbst wurde
verdrängt, die Erinnerung machte sich aber bei bestimmten, hier nicht
weiter zu verfolgenden Gelegenheiten in verhüllter Form bemerkbar.
Die eigentliche schwere Nachwirkung des Erlebnisses aber bestand in
heftigen Selbstvorwürfen und in bestimmten Einschränkungen des
Trieblebens, unter welchen hier nur die Einschränkung des Schau-
triebes interessiert. Sie äußerte sich zunächst durch eine Scheu vor
allem sexuellen Schauen und Wissen, u. a. durch ängstliches Meiden
von Lektüre, die der Patientin irgendwelche Aufklärung über das
Liebesleben bringen konnte. Die Scheu breitete sich aber, wie die
Psychoanalyse ergab, auf das Sehen im allgemeinen aus, selbst wenn
es keinen manifest-sexuellen Charakter hatte und bezog sich speziell
auf die Formen der Objekte. |
Dieser Fall zeigt mit besonderer Klarheit, wie die Beobachtung
des elterlichen Geschlechtsverkehres bei einem neurotisch veranlagten
Kinde wirkt. Die Schaulust wird durch derartige Eindrücke an die
Eltern in ungewöhnlichem Maße fixiert, so daß die späteren Ablösungs-
versuche mißlingen müssen. Gleichzeitig kommt es zu einer, weit
191
über das eigentliche Gebiet der Sexualität hinausgehenden Einschrän-
kung der Schaulust. Die „Talion“ kann sehr verschieden weit gehen;
sie kann zur neurotischen Blindheit führen, kann sich aber auch mit
gewissen Einschränkungen des Sehens begnügen. Oder sie kann zur
Bildung von Phobien Anlaß geben. Die Patientin litt an gelegentlichen
Zwangsgedanken, sich selbst die Augen ausstechen zu müssen.
Kurz erwähnen will ich hier zwei mir bekannte Krankheitsfälle,
die ich nicht psychoanalytisch behandelt habe, die aber ein sympto-
matologisches Interesse bieten und die Mannigfaltigkeit der neurotischen
Sehstörungen demonstrieren mögen.
Eine neurotische Frau leidet zeitweise an einer Sehstörung,
die sie hindert, ohne Brille ein Buch zu lesen. Sie hat eine ausgesprochene
Scheu vor dem Anblick von Illustrationen in Büchern; sie meidet
solche daher nach Möglichkeit.
Ein jüngerer Mann, der von Kindheit anı mit Angst vor der Dunkel-
heit und mit einer hartnäckigen Erblindungsphobie behaftet war,
erkrankte an einer Sehstörung, die von augenärztlicher Seite sofort
als neurotisch erkannt wurde. Er beschrieb sie mir in einem Brief
mit folgenden Worten: „Seit ungefähr 10 bis 14 Tagen sehe ich schlecht,
d. h. es flimmert mir vor den Augen, so als ob es mir beständig schwin-
delig wäre, und ich sehe nur wie durch einen Schleier. Es fing eines
Nachmittags mit einem Flimmern an, ich sah z. B. Zickzackbänder
flimmern, so ungefähr wie wenn man lange in die Sonne oder in grelles
Licht geblickt hat. Es dauerte etwa eine halbe Stunde; dasselbe wieder-
holte sich drei Tage später und seitdem habe ich es beinahe unauf-
hörlich. Es ist jetzt weniger Flimmern als trübes Sehen, bei großem
Angstgefühl natürlich. Zuerst hatte ich die Angst vor Erblindung.“
Zum Verständnis dieser Störung, die ich, wie erwähnt, nicht analysiert
habe, konnte ich nur ermitteln, daß der Patient sich in einem sexuellen
Konflikt befand, der eine völlige Wiederholung seiner infantilen Ödipus-
einstellung bildete.
Es gibt eine, freilich seltenere Störung auf dem Gebiet der Schau-
lust, welche den beschriebenen Störungen der Wahrnehmung in
ihrer äußeren Erscheinung vollkommen entgegengesetzt und dennoch
gleicher Herkunft ist und den nämlichen Tendenzen dient. Es handelt
sich um ein übertriebenes Achtgeben auf die Dinge und Vorgänge
in der Außenwelt, womit sich dann auch ein auffallend getreues
Gedächtnis für minutiöse Details verbindet. Diese stetige Spannung
der optischen Aufmerksamkeit, dieses Notiznehmen von Dingen,
welche von anderen Menschen als belanglos mit Recht keiner besonderen
Beachtung gewürdigt werden, täuscht eine rege Schaulust vor.
192
Solche Menschen sind über tausend Kleinigkeiten innerhalb ihres
Gesichtskreises glänzend orientiert. Aber dieser Gesichtskreis ist in
Wirklichkeit erschreckend eng; er beschränkt sich auf das, was mit dem
Interessenkreis der Kindheit, der Familie oder der engen Heimat
zusammenhängt. Dagegen besteht eine Scheu, kennen zu lernen, was
jenseits dieser Sphäre liegt. Besonders meiden solche Personen das
sexuelle Schauen und jede sexuelle Aktivität. Wie leicht ersichtlich,
handelt es sich um einen Verschiebungsvorgang. Dasjenige, was den
Schautrieb am stärksten zu reizen vermag, wird gleichsam als etwas
Verbotenes gemieden; das Interesse verschiebt sich auf das unbedingt
erlaubte Indifferente,
Bei einem Patienten meiner Beobachtung ließ sich dieser Prozeß
bis auf die frühe Kindheit zurückverfolgen. Der Patient, welcher
vor Eintritt in die Behandlung etwas Unbestimmtes darüber vernommen
hatte, daß in der Psychoanalyse die frühesten Kindheitserlebnisse
reproduziert werden müßten, teilte mir in der ersten Sitzung vor allem
andern mit, daß er außergewöhnlich vollständige und getreue Erinne-
rungen aus seiner frühesten Kindheit habe. Er gab dann sogleieh
einige Beispiele, denen später eine große Zahl weiterer folgte, welche
sich auf das vierte bis siebente Lebensjahr bezogen. Von Ereignissen
dieser Zeit wußte er eine unbegreifliche Menge von Einzelheiten. Am
erstaunlichsten war dieses minutiöse Gedächtnis für zwei Zeitpunkte
in seinem vierten und siebenten Jahre. Die letzteren bezogen sich
auf den Aufenthalt in einem Badeort, wo er als sechsjähriger Knabe
mit seinen Eltern geweilt hatte. Er kannte eine große Menge von
Personennamen aus jener kurzen Zeit, beschrieb minutiös das Äußere
seiner Spielgefährten, erinnerte sich, was diese und jene Person gesagt _
hatte, wußte von jedem Möbel der Wohnung, in der seine Eltern mit
ihm wohnten. Die Erinnerungen waren so lebhaft und machten den
Eindruck solcher Frische, daß man mit Recht von einer ausgesprochenen
Hypermnesie reden konnte.
Dieses Phänomen blieb mir zunächst rätselhaft. An eine solch
ausgeprägte Ausnahme von der allgemeinen Amnesie für die frühen
Kindheitsjahre vermochte ich nicht zu glauben. Erinnerungsfälschungen
anzunehmen lag aber ebenfalls kein Grund vor. Die vom Patienten
gemachten Angaben trugen in keiner Weise den Stempel des
Phantastischen, bewegten sich vielmehr im Rahmen der nüchternsten
Alltäglichkeit. Man hätte vergeblich geraten, was wohl die Phantasie
des sehr intelligenten Mannes hätte veranlassen sollen, seine Kindheit
mit dieser Menge uninteressanter Details auszuschmücken. Irgend
weiche affektstarken Eindrücke oder irgend welche Erinnerungen, die
193
den Größenwünschen des Kindes oder des Erwachsenen hätten
schmeicheln können, fanden sich unter all dem mitgeteilten Material
nicht vor.
Diese Hypermnesie klärte sich aber auf, sobald sich in ihrer
Nähe eine — scheinbar nicht sehr wichtige — umschriebene Amnesie
herausstellte. Der Patient wußte, außer dem geschilderten indifferenten
Material nur eine Tatsache aus der Zeit jenes Badeaufenthaltes
mitzuteilen, die mit großem Affekt verbunden war: in jener Zeit waren
lebhafte Selbstvorwürfe bei ihm aufgetreten. Die Ursache dieser
Selbstvorwürfe war ihm aber völlig aus dem Gedächtnis
entschwunden. Es ergab sich dann, daß der Patient auch in seinem
vierten Lebensjahr bereits eine Periode der heftigen Selbstvorwürfe
durchgemacht hatte; der Anlaß zu den letzteren lag ebenfalls im Dunkeln.
Der Hebung einer solchen, seit der frühen Jugend bestehenden
Amnesie pflegen sich stets ganz besondere Widerstände in den Weg
zu stellen. So auch in diesem Falle. Ganz allmählich wurden aber,
besonders durch Träume, die Anhaltspunkte zutage gefördert, die mit
Sicherheit darauf schließen ließen, daß auch bei diesem Patienten die
in früher Kindheit erfolgte Beobachtung des elterlichen Sexualverkehres
zu schweren Verdrängungen Anlaß gegeben hatte; sie muß gerade in
die Zeit gefallen sein, die dem Auftreten der Selbstvorwürfe vorausging.
Die sexuelle Neugierde verfiel der Verdrängung; an ihre Stelle trat
das übertriebene Achtgeben auf indifferente Einzelheiten im täglichen
Leben.
Die Erforschung der frühen Kindheit förderte bei dem nämlichen
Patienten Materialien zutage, die bewiesen, daß sich sein Interesse
frühzeitig in einem ungewöhnlichen Maße auf den Körper seiner Mutter
gerichtet hatte. Seine Fixierung an die Mutter hielt auch nach der
Pubertät an und äußerte sich in einer schweren Neurose (Angsthysterie).
Es ist nun bemerkenswert, daß der Patient eine große Scheu empfand,
seine Mutter anzusehen. Das Verbot des Schauens auf die Nacktheit
der Mutter hatte sich in eine Scheu vor ihrem Anblick überhaupt
umgewandelt. Fremden weiblichen Personen blickte der Patient mit
Vorliebe ins Gesicht, namentlich in die Augen; das hatte für ihn
einen ausgesprochen erotischen Reiz. Faktisch war dieses seine einzige
Sexualbetätigung gegenüber dem weiblichen Geschlecht. Ich erinnere
hier an die früheren Erörterungen, welche uns die Genitalbedeutung
des Auges ergaben. Jene sehr reduzierte Sexualbetätigung des
Patienten war also eine von ihrem ursprünglichen Ziel — dem
Genitale — abgelenkte, „nach oben verlegte“ Schaulust. Bei dieser
Gelegenheit mag daran erinnert werden, daß der Ausdruck des Auges
13
TE N RERERIESER
194
leicht eine erotische Erregung verrät. Männer mit herabgesetzter
sexueller Aktivität suchen oft gerade dieses Zeichen der Geneigtheit
bei weiblichen Personen; sie beschränken sich manchmal darauf,
dieses Zeichen hervorzurufen, unter Verzicht auf jede sonstige
Annäherung. Diese Erscheinungen werden unten eine genauere
Besprechung finden. Hier genügt es, auf die eigentümliche Verschiebung
des Schautriebes hinzuweisen.
Bei dem gleichen Manne bestand aber eine Scheu, männliche
Personen anzublicken; sie bezog sich sogar auf ihm ganz vertraute
Menschen. Die homosexuelle Schaulust war also in bedeutend weiterem
Umfang der Verdrängung verfallen als die heterosexuelle.
Eine ähnliche Unterdrückung der Schaulust ist von erheblicher
Bedeutung für die Entstehung eines sehr verbreiteten motorischen
Symptoms im Bereich der Augen, nämlich des zwangartigen
Zuckens der Augenlider. Soweit meine psychoanalytische Erfahrung
reicht, entspringt diese Zwangsbewegung einem erschrockenen
Verschließen der Augen. Diese ist zunächst ein Ausdruck der
Kastrationsangst. Das Liderzucken scheint regelmäßig mit einer
Angst vor Beschädigung der Augen verbunden zu sein, welche nach
unseren früheren Ausführungen einer Angst um das Genitale gleichkäme,
Das zwangsmäßige Zusammenkrampfen der Lider entspricht des
weiteren einem Grauen vor gewissen Phantasien, welche sich dem
Patienten mit visionärer Deutlichkeit aufdrängten und verbotenen
Schaugelüsten Ausdruck gaben. Es scheint sich dabei teils um
erotische Vorstellungen zu handeln, teils um solche sadistischer Art
(Phantasien vom Tode Angehöriger). Diese Vorstellungen drängten sich
dem Patienten eines Tages in Form von Bildern (Zwangshalluzinationen)
auf, wurden unter Zeichen des Grauens abgewiesen und verfielen der
Verdrängung. Das zwangsmäßige krampfartige Schließen der Augenlider
zeigt aber an, daß jene verpönten Phantasien im Unbewußten des
Patienten noch existieren, und daß ein fortdauernder Verdrängungs-
aufwand erforderlich ist, um sie vom Bewußtsein fernzuhalten,
Eine eigentümliche Transformation der sexuellen Schaulust stellt
diejenige Störung dar, welche ich mit dem Namen Schauzwang
belegen möchte. Ich behandelte einen Zwangsneurotiker, der neben
dem Zwange, über die Herkunft jedes Gegenstandes zu grübeln, an
dem krankhaften Antrieb lit, die Rückseite jedes Gegen-
standes seinen Augen zugänglich zu machen und sie
1 Ich bemerke ausdrücklich, daß ich hier keine erschöpfende Erklärung des
Phänomens gebe; die obigen Andeutungen entstammen gelegentlicher Beobachtung,
nicht ausführlicher Analyse.
Ber
1»
195
dann zu betrachten. Ich habe einiges über diesen merkwürdigen
Fall mitgeteilt. In diesem Zusammenhange sind folgende Tatsachen
von Interesse.
Vor dem Hause, in welchem ich damals wohnte, befand sich
ein Vorgarten, an dessen Gitter mein Namensschild angebracht war.
Der Patient begnügte sich bei seinem ersten Besuch, der an einem
Abend stattfand, nicht damit, die Aufschrift des Schildes zu lesen,
sondern beleuchtete, nachdem er in den Vorgarten eingetreten war,
mit Hilfe eines Zündhölzchens die Rückseite des Schildes. Dann
brachte er (nach Schilderung seiner ihn begleitenden Frau) längere
Zeit damit zu, laut vor sich hinsprechend, über die Herstellung solcher
‚ Schilder nachzugrübeln. Als seine Frau ihn endlich bis in mein
Sprechzimmer gebracht hatte, faßte er alsbald eine kleine Bronzefigur
ins Auge, nahm sie vom Tisch, drehte sie und betrachtete besonders
eingehend die Rückseite des Körpers.
Die sehr fragmentarische Psychoanalyse ergab, daß der Patient
in der,Kindheit ein übergroßes Interesse für das Gesäß bekundet
hatte. Im Anschluß an den unverhofften Anblick des Gesäßes einer
Frau waren seine ersten Zwangssymptome aufgetreten. Das Interesse
am Gesäß hatte sich dann auf leblose und indifferente Gegenstände
verschoben, deren Rückseite der Patient zwangsmäßig betrachten
mußte. Warum die Schaulust in diesem Falle (und in mancher anderen
Neurose) vorwiegend auf das Gesäß anstatt auf das Genitale gerichtet
ist, kann hier nicht genauer untersucht werden.
Eine, wie es scheint, speziell bei weiblichen Neurotischen
vorkommende Störung ist dieAngst, durch denBlick Personen
desanderen Geschlechtes sinnlich zu erregen. Sie führt
in manchen Fällen zu einer Scheu vor jeder Begegnung mit Menschen,
so daß die von dieser Störung befallenen Personen ganz unsozial
werden.
Die Eigentümlichkeit dieser und gewisser noch zu erwähnender
Fälle besteht darin, daß dem Auge respektive dem Blick eine Macht
zugeschrieben wird, als wäre das Individuum im Besitz zauberhafter
Kräfte. Es entspricht dieser Überschätzung des Auges und seiner
Macht, daß solche Menschen in ihrem Denken sich in auffälliger
Weise auf diesen Vorstellungskreis einengen. Auf Grund mehrfacher
Erfahrungen glaube ich, die hieher gehörigen Fälle diagnostisch nach
zwei Seiten sondern zu können.
ı „Eine Deckerinnerung betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar
ätiologischer Bedeutung.“ Internationale Zeitschr. für ärztl. Psychoanalyse, 1913,
Bd. I, S. 247.
13*
196
Die Angst, durch den Blick in jedem Menschen sexuelle Erregung
wachzurufen, findet sich bei Neurotischen neben anderen Phobien
oder Zwangsgedanken. Die Störung erscheint mir durchaus ein
Analogon der Vorstellung von der „Allmacht der Gedanken“ zu sein;
dem Blick wird hier eine solche „Allmacht“ zugeschrieben.
Diagnostisch anders zu bewerten sind dagegen jene Fälle, in
denen die Angst besteht, durch den Blick Wirkungen zu erzielen, die
über das Erregen von Verliebtheit usw. weit hinausgehen. Hier handelt
es sich um Psychosen von paranoidem Charakter, die oft durch lange
Zeit äußerlich unter dem Bilde einer Neurose verlaufen.
Bei einem jungen Mädchen bestand die Angst, durch ihren Blick
andere Menschen in solchem Maße zu entsetzen, daß sie erstarren
und auf der Stelle sterben müßten. Die Übereinstimmung mit einem
antiken Sagenstoff ist hier ganz frappant; die Patientin verglich auch
selbst ihren Blick mit dem der Gorgo. Diese Angst verstärkte sich
im Laufe der Jahre immer mehr und nötigte die Patientin, sich von
aller Gesellschaft zurückzuziehen. In einem ihrer Träume befand sie
sich in einem riesigen Raume, der etwa einer Bahnhofshalle glich.
Unter den Tausenden von Menschen, die dort versammelt waren,
erscholl plötzlich der Schreckensruf, die „Totenstarre“ sei
ausgebrochen, worauf die Menschen in panischem Entsetzen vor der
Träumerin flohen.
Ganz ähnliche Phantasien fand ich bei einem anderen jungen
Mädchen. Die Vorstellung, durch ihren Blick zahllose Menschen zu
töten, setzte sich bei ihr nicht bloß in den Träumen, sondern auch in
Sinnestäuschungen während des Wachens durch. Als sie z. B. an einem
Ball teilnahm, bemerkte sie zu ihrem Entsetzen, wie jeder Mensch,
den sie ansah, im Gesicht eine weißgrünliche Leichenfarbe annahm,
wodurch für sie der Eindruck entstand, daß sie sich unter lauten
Toten befand. i
Beide Personen, von welchen zuletzt die Rede war, ergingen
sich in maßlosen sadistischen Phantasien. Die eine zerbrach im Traum
ihrer Mutter sämtliche Knochen, die andere phantasierte unaufhörlich
von räuberischen Überfällen auf ihre Familie, deren Mitglieder gemordet
oder gefoltert wurden; diese Beispiele ließen sich beliebig vermehren.
Das Auge war in diesen Fällen sozusagen ein Instrument
des Sadismus.
Es ist bemerkenswert, daß es sich in den Fällen dieser Art,
welche ich beobachten konnte, immer um weibliche Personen handelte,
Die Psychoanalyse in den beiden zuletzt erwähnten Fällen war mit
sehr großen, in der Krankheit begründeten Schwierigkeiten verbunden.
197
en a ra
Dypzrhlen
Ich kann deshalb nur mit einer gewissen Reserve aussagen, daß für
beide Patientinnen, die in ihren Phantasien die männliche Geschlechts-
rolle zu übernehmen liebten, das Auge die Bedeutung eines Penis zu
haben schien, mit dem man die Menschen erschrecken und töten R
konnte. Diese Auffassung, die zunächst befremdend und unwahrscheinlich
klingt, findet ihre Bestätigung in den nicht seltenen Beängstigungen E
neurotischer Frauen, vom Blick des Mannes „durchbohrt“ zu werden. “
So wich z. B. eine meiner Patientinnen dem Blick jedes Mannes aus,
weil sie sich von ihm im eigentlichsten Sinne — durchbohrt fühlte,
d. h. sie verspürte, sobald der Blick eines Mannes sie traf, einen
stechenden Schmerz im Unterleib. a
Andere Neurotische spüren stechende oder bohrende Schmerzen
im Auge. In manchen solchen Fällen handelt es sich um eine
Verlegung der soeben erwähnten Genitalsensationen „nach oben“. Es
gibt jedoch seltene Fälle von schwerem, neurotischem Augen-
schmerz, die eine sehr komplizierte psychologische Struktur aufweisen.
Ich werde über die Psychoanalyse eines solchen Falles genauer |
berichten; hier war der Augenschmerz mit einer extremen Lichtscheu #
| kombiniert. Die Patientin brachte längere Zeit in vollkommenem |
| Dunkel zu. Dieser Fall eignet sich besonders dazu, die Bedeutung
| der Dunkelheit im Seelenleben der an Lichtscheu Leidenden
aufzuklären. Wir müssen zu diesem Zwecke wieder an die oben
mitgeteilten Resultate aus der Analyse der Lichtscheu anknüpfen.
Il. Zur Bedeutung des Dunkels in der Psychologie der
Neurosen.
Bei der Analyse der neurotischen Lichtscheu ergab sich, daß der
Sonne vorzugsweise die Bedeutung eines Vatersymbols, daneben
freilich auch diejenige eines Muttersymbols zukomme. In Hinblick auf
diese zweite, entschieden untergeordnete Bedeutung darf man sagen,
| daß das nur in der Einzahl vorhandene Sonnensymbol der Darstellung
E der Vaterimago diene, welch letztere die Mutterimago sozusagen in
| sich aufgesogen habe. Ich denke dabei an einen Vorgang solcher Art,
| wie wir ihn in deutlichen Spuren z. B. in der biblischen Schöpfungs- E
geschichte finden. Unterwirft man diesen Mythus, der ja Spuren ganz
außerordentlicher Umarbeitungen und Entstellungen aufweist, einer
genaueren Analyse, so fällt in hohem Maße auf, wie sehr das weiblich-
| mütterliche Element im männlich-väterlichen aufgegangen ist. Findet
man in den uns sonst bekannten Kosmogonien stets ein sogenanntes
„Welt-Elternpaar“, so erschafft in der biblischen. Genesis der 1
198
einzige (männliche) Gott allein die Welt, alle Wesen und endlich auch
den Menschen, oder — richtiger gesagt — den Mann. Erst auıs
diesem entsteht das Weib. Beide zeugen zusammen wiederum Söhne,
keine Töchter. Diese weitgehende Ausschaltung des weiblichen
Elementes erweist sich jedoch als eine ganz sekundäre Erscheinung,
auf die später noch zurückzukommen sein wird.
Wenn nun im Sonnensymbol vorwiegend die Vaterimago ihren
Ausdruck findet, so wird man sich fragen, ob die Imago der Mutter
nicht etwa doch auch durch ein besonderes Symbol in den Phantasie-
gebilden unserer Patienten vertreten sei. Denn die Mutter spielt in
den unbewußten Phantasien dieser Patienten eine bedeutende Rolle;
die ihr geltenden Vorstellungen haben unbedingt den gleichen Anspruch
auf einen ihnen adäquaten symbolischen Ausdruck wie die auf den
Vater bezüglichen Phantasien. Zur Lösung dieser Frage gelangte ich
auf einem Umweg, nämlich als ich einer anderen, ebenfalls ungelösten
Frage im Bereich der neurotischen Lichtscheu näher zu kommen
versuchte. Die neurotische Lichtscheu wurde nicht in vollem Umfang
verständlich, solange nicht die Frage, warum die Patienten das Dunkel
aufsuchen, allseitig geklärt war. Ich selbst war anfänglich geneigt, in
diesem Verhalten lediglich eine Flucht vor dem Licht zu erblicken.
Bei genauerem Studium dieser Fälle wurde mir aber immer klarer,
daß dem Dunkel nicht bloß eine negative Bedeutung zukomme. Durch
eine Mitteilung von Dr. A. Ste gmann in Dresden wurde ich auf
den positiven Lustwert des Dunkels aufmerksam gemacht. Erst dadurch
würden mir die manchmal so komplizierten Maßregeln zur Herstellung
völliger Dunkelheit verständlich, wie diese Patienten sie, besonders
am Abend, zu treffen pflegen. Ich-habe, der größeren Übersichtlichkeit
halber, in den zwei mitgeteilten Auszügen aus Psychoanalysen (Kap. I)
diese wichtige Seite des Zustandes zunächst außer acht gelassen. Ich
werde das Nötige nunmehr nachtragen und mich dabei auf die schon
bisher herangezogenen Fälle, außerdem aber namentlich auf die
Psychoanalyse einer Frau beziehen, die an einer extrem schweren
Lichtscheu erkrankt war.
Die Patientin — dieselbe, auf deren Krankheitsgeschichte ich
im vorstehenden schon einige Male verweisen mußte — lebte zu der
Zeit, als sie in psychoanalytische Behandlung trat, Tag und Nacht
im absoluten Dunkel. Sie litt — wie erwähnt — nicht nur an einer
sehr ausgeprägten Lichtscheu, sondern empfand jede Belichtung als
heftigen Schmerz in den Augen. Die Sehorgane waren, bis auf einen
mäßigen Grad von Astigmatismus, durchaus gesund. Eine Reihe
namhafter Ophthalmologen hatte sich übereinstimmend dahin
199
ausgesprochen, daß es sich bei der Patientin nicht lediglich um die
Schmerzen handle, welche oftmals den Astigmatismus begleiten. Der
ätiologische Zusammenhang des Leidens mit schweren Gemüts-
erregungen wurde von der Patientin selbst betont.
Jeder Besuch der Patientin in meiner Wohnung war durch ihr
Leiden aufs äußerste erschwert. Am hellen Tage konnte sie den Weg
nicht machen; ebensowenig am Abend, wenn die Straßen elektrisch
beleuchtet waren. So war sie auf die Dämmerstunde angewiesen. Sie
schützte dann ihre Augen durch ein Pincenez mit ganz dunkeln
Gläsern; darüber setzte sie eine ebenfalls dunkle Automobilbrille,
die besonders den seitlichen Lichteinfall vom Auge fernhielt. Dann
folgte als weiterer Schutz ein dichter Schleier; damit nicht genug,
bog sie die sehr breite Krempe ihres Hutes tief herab. So geschützt,
bestieg sie eine geschlossene Droschke und begab sich zur Behandlung.
In ihrer Wohnung schützte sie sich in ähnlich komplizierter Weise
gegen das Licht.
Daß auch in diesem Falle Licht und Leben identisch waren,
ergab sich bald; die ungeheuer starke Betonung des Willens, im
Dunkeln zu leben, stellte sich bald als ein Todessehnen heraus. In
einem ihrer Gedichte hatte die Patientin, die einst mit großem Ehrgeiz
ins Leben getreten war, ihr Dasein mit einem Kirchhof verglichen.
Sie war in ihrem dunklen Zimmer, wo sie auch noch zumeist im Bette
lag, gleichsam lebendig begraben. Die in diesem Begräbnis
liegende Selbstbestrafung liegt für den Psychoanalytiker auf der Hand,
der weiß, wie häufig die verdrängte Phantasie vom Lebendigbegraben
zur neurotischen Symptombildung Anlaß gibt.
Von ausschlaggebender Wichtigkeit war aber, wie sich des
weiteren zeigte, die Phantasie von der Rückkehr in den
Mutterleib. Die Fixierung der Tochter an die Mutter war so
außergewöhnlich stark, daß die Patientin, eine Frau von großem
psychologischen Scharfblick, mit Bezug darauf einmal äußerte, die
„psychologische Nabelschnur“ zwischen ihr und ihrer Mutter sei nicht
durchschnitten worden! Unter ihren Gedichten fand sich eines, in
dem sie die Mutterleibsphantasie in anschaulicher Weise zur Darstellung
gebracht hatte.
Von den mannigfachen Determinierungen der Lichtscheu und
des Augenschmerzes kann ich aus besonderen Rücksichten nur einiges
andeuten. Im Phantasieleben der Patientin lagen schwerwiegende
Motive, wegen deren sie sich jeder Lust am Schauen begeben hatte
und sich für jeden Verstoß gegen dieses selbstgegebene Verbot mit
heftigen Schmerzen bestrafte. Neben anderen Phantasien handelte es
SEE De en
aeg
200
sich um solche, die gegen eine Person ihrer nächsten Umgebung
gerichtet waren, weil jene die Patientin an Glanz weit überstrahlte,
Zur Erklärung der sonderbaren Prozeduren, welche die Patientin
vor dem Verlassen des Hauses treffen mußte, trug in hohem Maße
bei, daß sie durch Brillen und Schleier hindurch auf keinen Mann
„ein Auge werfen“ konnte, daß sie sich durch ihre Vermummung für
jeden Mann abschreckend machte, freilich auch für den eigenen Mann.
Ohne des weiteren auf die Determinierungen der Symptome
einzugehen — besonders die sadistischen Determinierungen habe ich
nicht genauer berücksichtigt — erwähne ich, daß im Laufe einiger
Monate eine so weitgehende Besserung der Lichtscheu eintrat, daß
die Patientin unter Anwendung relativ geringer Schutzmaßregeln an
abendlichen Gesellschaften in hell erleuchteten Räumen teilnehmen konnte.
Einmal brachte sie vier Stunden in einem hell erleuchteten Saal zu.
Diese schönen Erfolge, welche natürlich zu einem Teil auf Übertragungs-
wirkungen beruhten, wurden durch eine Periode des intensivsten
Widerstandes abgelöst. Die Psychoanalyse hatte der Kranken zum
Eintritt ins Leben verholfen, hatte die „psychologische Nabelschnur“
nahezu durchtrennt. Aber die Patientin durfte sozusagen das Licht der
Welt nicht erblicken. Der nun einsetzende Widerstand erweckte die
Mutterleibphantasien von neuem. Die Patientin zog sich mit heftigen
Schmerzen wieder in ihren kaum verlassenen Kerker zurück und
weigerte sich gegen eine Fortsetzung der Behandlung; diese wurde
tatsächlich nicht wieder aufgenommen.
Die symbolische Bedeutung des Dunkels hat einen durchaus
ambivalenten Charakter. Ganz wie die Erde oder das Wasser hat
auch das Dunkel gleichzeitig eine symbolische Bedeutung im Sinne
der Geburt und des Todes. Diese doppelte Bedeutung kommt in
der Symbolik der Träume und der Neurosen allen Höhlen zu, in
welche kein Licht eindringt, und zwar sowohl den Höhlen des mensch
lichen Körpers als auch Hohlräumen anderer Art.
Die dunkle Höhle, welche in dieser Symbolik den Mutterleib
repräsentiert, ist oftmals nicht als Uterus, sondern als Darm aufzufassen.
Für den psychoanalytisch Erfahrenen genügt hier der Hinweis auf die
bekannte infantile Sexualtheorie, welche die Geburt der Kinder aus dem
Anus der Mutter erfolgen läßt, und die oft überlebhafte Betonung
des kindlichen (respektive neurotischen) Interesses an Darm und Darm-
funktionen. Durch die Ergebnisse meiner Psychoanalysen bin ich
aber mehr und mehr darauf aufmerksam gemacht worden, daß das
Interesse mancher Neurotiker am Alleinsein in einem engen, dunkeln
Raum noch weitere Determinierungen analerotischer Natur
201
diesem Raum oft die Bedeutung des Klosetts zu. Überraschender,
aber für den Kundigen durchaus erklärlich ist die nicht seltene N
Vorstellung neurotischer Personen, in einer Klosettgrube eingeschlossen 1
zu sein. Bald ist diese der Ort ihrer heimlichen, lustbetonten Wünsche, $
bald ihrer unheimlichen Befürchtungen. i
Ich mußte zum Schluß dieses Abschnittes ausführlicher auf das
infantile und das neurotische Interesse an geschlossenen dunkeln
aufweist. Besonders kommt in ihren Phantasien, wie leicht zu vermuten,
Räumen eingehen, weil uns dadurch andere psychologische Erscheinun- |
gen verständlich werden, zu denen wir nun übergehen müssen. Die 3
bei vielen Neurotischen, insbesondere bei Zwangskranken, so sehr . |
R
hervortretende Neigung zu allem „Dunkeln“, d.h. Geheimnisvollen, |
Übersinnlichen, Mystischen darf nicht nur aus verdrängter Schaulust E
im allgemeinen erklärt werden, sondern ist ‚spezieller determiniert
durch jenes lustbetonte Interesse an dunkeln Höhlen, welches uns
aus der infantilen Sexualität verständlich wurde. 4
IV. Beiträge zur Psychologie des Zweifelns und Grübelns.
Völkerpsychologische Parallelen.
In den „Bemerkungen über einen Fall von Zwangs- |
neurose“ (1909) hat Freud den Nachweis geführt, daß gewisse h
Symptome der Zwangsneurose von einem Verdrängungs- und ü
Verschiebungsvorgang herrühren, welcher den Schautrieb betroffen hat. :
Er verwies dabei namentlich auf die Beziehungen zwischen Schaulust,
Wißbegierde, Zweifeln und Grübeln.
Im folgenden beabsichtige ich, an Hand meines analytischen
Materials den von Freud erkannten Prozeß genauer zu verfolgen, und
Freuds Aufstellungen in gewisser Hinsicht zu ergänzen; überdies werde j
ich gewisse völkerpsychologische Parallelerscheinungen in den Kreis h
der Betrachtung ziehen. {
Bei den Neurotikern, welche an Frage- und Grübelsucht leiden,
finden wir regelmäßig eine Herabsetzung der sexuellen Aktivität; |
in extremen Fällen ist die letztere dem grüblerischen Denken vollständig 4
| zum Opfer gefallen‘. Solche Menschen stehen den wichtigen F ragen |
| der Sexualität ratlos wie Kinder gegenüber; ihr Interesse hat sich vom
sexuellen Gebiet in folgenschwerer Weise entfernt und sich auf andere
Fragen verschoben.
ı Es handelt sich hier vorwiegend um männliche Patienten. Bei Frauen ist
die Grübelsucht viel seltener. Wo ich aber bei Frauen Symptome von Fragesucht oder
ähnliche Erscheinungen fand, stellte sich regelmäßig auch eine außergewöhnlich
weitgehende Sexualablehnung heraus.
202
Die primitive sexuelle Neugierde richtet sich im Kindesalter
zuerst auf den Körper und speziell auf die Genitalien der Eltern,
sodann auf den Zeugungsvorgang und auf die Geburt. Daß sich beim
Knaben, dessen Verhalten uns hier in erster Linie beschäftigen muß,
das Interesse in weit höherem Maße der Mutter zuwendet als dem
Vater, ist nicht bloß aus dem Geschlechtsunterschied zu erklären,
sondern hauptsächlich auch aus dem Interesse für die Herkunft der
Kinder aus dem Körper der Mutter.
Die primitive kindliche Neugierde will diese Organe oder Vorgänge
sehen; das Verlangen, von ihnen zu wissen, läßt bereits auf eine
Eindämmung der Schaulust schließen. Bei vielen Neurotikern geht die
Einschränkung bedeutend weiter, indem auch das Wissen auf sexuellem
Gebiet gleichsam einem Interdikt verfällt. Alsdann kommt es zu mannig-
faltigen Transformationen der Schaulust, deren wichtigste von Freud
in der genannten Schrift bereits behandelt worden sind. Wertvolle
Beiträge zu diesen Fragen hat v. Winterstein! geliefert.
Mit diesen Prozessen der Transformierung und ihren Produkten
müssen wir uns nunmehr beschäftigen.
Wir nehmen mit Freud an, daß die sexuelle Schaulust des
gesunden Menschen im Kindesalter in einem erheblichen Umfang der
Verdrängung und Sublimierung verfällt. Von wichtigen psycho-
logischen Erscheinungen, welche größtenteils diesem Vorgang ihre
Entstehung verdanken, nenne ich hier nur Wißbegierde (im allgemeinen
Sinne), Forschungsdrang, Interesse an der Naturbeobachtung, Reiselust
sowie den Trieb zur künstlerischen Verwertung des vom Auge
Wahrgenommenen (z. B. in der Malerei).
Bei Neurotischen müssen wir in vielen Fällen sicherlich eine
konstitutionelle Verstärkung der Schaulust annehmen; doch kann auch
durch Einschränkung der sexuellen Aktivität der Schaulust eine
vergrößerte Bedeutung zufallen. An die Stelle aktiver sexueller
Leistungen tritt dann ein verstärkter Drang zum tatenlosen Schauen
aus der Ferne. Das Schicksal dieser neurotischen Schaulust kann sehr
vielfältig sein. Zu einem Teil kann sie in ihrer ursprünglichen Gestalt
erhälten bleiben; zu einem anderen Teile wird sie durch Sublimierung
im oben beschriebenen Sinne umgewandelt; ein dritter Teil endlich
wird zur neurotischen Symptombildung verwandt. Je lebhafter der Trieb,
desto intensiverer Sublimierungsarbeit bedarf es, um den Ausbruch
neurotischer Störungen zu verhüten; desto schwerer pflegen freilich
auch diese Störungen auszufallen, wenn es zur Symptombildung kommt,
ı „Psychoanalytische Anmerkungen zur Geschichte der Philosophie*.
Imago, 1913, Bd. II.
203
Der Sublimierungsprozeß vermag seinerseits verschiedene
Richtungen einzuschlagen. Ich wende mich zunächst zu solchen
Neurotikern, welche ein lebhaftes Interesse für konkretes
Wissen oder Forschen an den Tag legen.
In den Interessen der Neurotiker, welche einer solchen Sublimierung
der Schaulust ihre Entstehung verdanken, vermag man oft den
ursprünglichen Trieb — bald ohne besondere Hilfsmittel, bald erst
auf psychoanalytischem Wege — wieder zu erkennen. Ich gebe aus
einer meiner Beobachtungen ein paar besonders instruktive Beispiele!.
Ein sehr intelligenter und gebildeter Neurotiker hatte ein
ausgesprochenes Streben nach wissenschaftlicher Universalität in sich.
Bei seiner regen geistigen Tätigkeit hatte er bemerkt, daß ihn in jeder
Wissenschaft, der er sein Interesse zuwandte, immer ein einzelnes
Problem ganz besonders fesselte, Als ich ihn um Beispiele bat, nannte
er mir u. a. die folgenden:
- In der Chemie interessiere ihn am meisten der Statusnascendi.
Bei genauerem Eingehen ergab sich, daß der Augenblick, in dem ein
Stoff sich bildet, oder in dem zwei Stoffe sich zu einem neuen
vereinigen, ihn förmlich zu faszinieren vermochte, Das Interesse für
Zeugung (Vereinigung zweier Stoffe zur Bildung eines neuen) und
Geburt (Status nascendi!) war hier in erfolgreicher Weise auf ein
wissenschaftliches Problem verschoben. Der Patient fand in jeder
Wissenschaft unbewußt dasjenige Problem heraus, welches sich zur
verhüllten Darstellung seiner Kindheitsinteressen am besten eignete,
Ein weiteres, besonders instruktives Beispiel für diese
Sublimierungstendenz entnahm der Palient aus dem Gebiet der
Paläontologie. Hier habe ihn das als „Pliozän“ bezeichnete Zeitalter
am meisten gefesselt. Es handelt sich um das Zeitalter, in welches das
erste Auftreten des Menschen fällt. Die typische Frage des
Kindes nach seiner eigenen Entstehung ist hier zum allgemeinen
Interesse für die Entstehung des Menschengeschlechtes sublimiert.
Es wäre leicht, die Zahl dieser Beispiele zu vermehren. Die
mitgeteilten zeigen, daß diese Form der Sublimierung für den Neurotiker
einen sehr wichtigen Vorzug hat: daß sie ihn nämlich in nahe Fühlung
mit den Phänomenen der Außenwelt bringt. In anderen Fällen
verwandelt sich die verdrängte Schaulust in einen unproduktiven
ı Es gibt auch ein unproduktives Interesse an Konkretem, das man bei
Neurotischen nicht selten findet, und das nichts anderes darstellt als eine Neugierde
von infantilem Charakter. In dem oben beschriebenen Falle A gelang es, diese
Neugierde aufzulösen; an ihre Stelle trat ein durchaus produktives, tätiges Interesse
an den Erscheinungen der Außenwelt.
ES Beer |
204
Wissensdrang, der sich nicht den realen Phänomenen zuwendet'. Wir
haben dann mit der neurotischen Grübelei zu tun, die
gleichsam eine Karikatur des philosophischen Denkens bildet.
Wir verdanken v. Winterstein (l. c.) schöne Aufschlüsse über
die unbewußten Triebfedern des philosophischen Denkens. Der
Philosoph möchte, wie der Autor ausführt, seine eigenen
Gedanken schauen. Die Libido richtet sich hier nicht mehr auf
das verbotene (inzestuöse) Ziel, nicht mehr auf das, was man nicht
sehen darf, sondern auf das, was man nicht sehen kann. Gleichzeitig
hat sie sich auf das Ich in einer Form zurückgewandt, die wir nur
als eine Regression in die Bahnen des kindlichen Narzißmus verstehen
können (v. Winterstein). Ich werde später aus einer meiner Analysen
“einschlägiges Material mitteilen, aus welchem hervorgeht, daß beim
neurotischen Grübler ein ähnlicher Prozeß stattfindet.
Im folgenden werde ich, um die Grenzen meines Themas nicht
zu überschreiten, die Fragen des Narzißmus aus der Untersuchung
möglichst ausschalten. Ich werde mich im ganzen darauf beschränken,
in den neurotischen Grübeleien und Zweifeln die Spuren der verdrängten
inzestuösen Schaulust nachzuweisen.
Als Beispiel der neurotischen Grübeleien wähle ich die besonders
häufige, mit Zwangsgewalt sich dem Patienten immer wieder
aufdrängende Grübelfrage nach der Herkunit der Gedanken.
Ein schon in vorgerückterem Alter stehender Zwangsneurotiker, den
ich behandelte, befaßte sich seit vielen Jahren mit dieser Grübelei.
Es ließ sich ermitteln, daß ihrer Entstehung eine andere Grübelei
zeitlich unmittelbar vorausgegangen war, nämlich der Gedanke: Wohin
werde ich nach meinem Tode kommen? Diese Frage war in
dem Patienten während einer Seereise aufgetaucht, kurze Zeit nachdem
sich bei ihm gewisse hypochondrische Besorgnisse um sein Leben
gezeigt hatten. Es befiel ihn die Angst: wenn ich jetzt während der
Fahrt sterbe, wird man meine Leiche dann nach dem alten Seemanns-
brauch ins Wasser versenken? Er verlangte also Gewißheit darüber,
wohin er nach seinem Tode kommen werde. Bald darauf zeigte sich
dann die zweite Grübelei nach der Herkunft der Gedanken, welche
jedoch die erste niemals ganz beiseite zu drängen vermochte.
Der ersten Grübelei versuchte der Patient durch eine praktische
Maßregel zu entgehen. Als seine Mutter gestorben war, legte er ein
Mausoleum an. Nun wußte er, wo er nach seinem Tode liegen werde,
1 Erwähnenswert ist die Beobachtung, daß unter solchen Bedingungen in der
Regel die Freude am Anblick der Natur gering ist, ebenso das Interesse an Produkten
der bildenden Kunst zu fehlen pflegt. :
205
woiern nicht ganz besondere Umstände seine Beisetzung im
Erbbegräbnis verhindern würden: an der Seite der Mutter.
Ohne auf alle ihre verschiedenen Determinierungen einzugehen,
hebe ich nur hervor, daß die Frage: „Wohin komme ich nach dem
Tode?“ die typische Umkehrung einer anderen, dem Kinde näher .
liegenden Frage enthält: „Wo war ich vor der Geburt?“ Als
eine andere Umgestaltung dieser Frage aber entpuppt sich in der
Psychoananalyse der hauptsächlichste Zwangsgedanke des Patienten
nach der Herkunft der Gedanken.
Der Patient begnügt sich nicht mit grübelndem, abstraktem
Denken allein, sondern er sucht sich eine sinnliche Vorstellung davon
zu machen, wie die Gedanken im Gehirn entstehen, und wie sie aus
dem Gehirn „hervorkommen“. Er verlangt eigentlich, diesen Vorgang
zu sehen. Ein junger Philosoph, den ich psychoanalytisch behandelte,
brachte die überraschend einfache Erklärung: „Ich vergleiche das =
Gehirn mit dem Mutterleib.“ Will’er nun die Entstehung der i
Gedanken beobachten, so können wir in diesem Wunsch nur eine ’
Verschiebung des typischen Kinderwunsches erblicken: Zeugung und 4
Geburt mit Augen zu sehen. Ich bemerke hier, daß der Vergleich der
geistigen Produktion mit der sexuellen uns auch im allgemeinen
durchaus nicht fernliegt; wir sprechen etwa von der Konzeption eines
Dichtwerkes usw. Dringt man analytisch noch weiter vor, so stößt
man auf die Identifizierung von Geburtsakt und Defäkationsakt, und
damit weiter auf eine Gleichsetzung der Gehirnprodukte (Gedanken)
und Darmprodukte.
Es ist nun interessant, daß der Patient, welcher sich in seinen
Grübeleien mit der Herkunft der Gedanken und mit dem Verbleib |
seines Körpers nach dem Tode beschäftigte, auffallend ununterrichtet ;
über gewisse Hauptsachen des Geburtsvorganges war. Er hatte die |
Unwissenheit auf diesem Gebiete nie ganz aufgegeben; sein Wissens-
drang hatte sich auf jene Grübelfragen verschoben.
Eine weitere, sehr verbreitete Grübelei ersetzt das Begehren, das |
menschliche Leben entstehen zu sehen, durch eine andere Umkehrung. |
Sie fragt nicht nach der Herkunft, sondern nach dem Zweck des
menschlichen Lebens. Auch diese obsedierende Frage ist
ı Ich verfüge über mehrere, einander sehr ähnliche Beobachtungen, in denen
ein Sohn durchaus neben der Mutter, oder eine Tochter neben dem Vater bestattet
zu werden verlangte, wobei dann der andere Elternteil von seinem ihm zukommenden
Platz verdrängt werden sollte. Ein interessantes Beispiel für diese Art der Besitznahme i
von der Mutter bietet der altägyptische König Echnaton; vgl. meine Abhandlung 4
Imago, 1912, Bd. I.
206
unlösbar, trotz aller Versuche, ihr vom religiösen Standpunkt aus eine
das Gemüt befriedigende Beantwortung zu geben. Ein junger Mann,
den ich behandelte, wurde im Pubertätsalter von dieser Grübelfrage
durch längere Zeit obsediert. Es ergab sich, daß er gleichzeitig eine
förmliche Angst davor hatte, über den Bau des weiblichen Körpers
und über die Geschlechtsfunktionen Genaueres zu erfahren. Auch in
späteren Jahren, als sich ihm Gelegenheit bot, den weiblichen Körper
zu betrachten, hielten ihn Angst und Ekel davon zurück; diese Affekte
bezogen sich aber ganz speziell auf das Beschauen der Genitalgegend.
Als der Patient in meine Behandlung trat und erfahren hatte, daß in
der Psychoanalyse die geschlechtlichen Vorgänge zur Sprache kämen,
richtete er an mich die ausdrückliche Bitte, ihm vorläufig keine
„Aufklärungen“ über das zu. geben, was er bisher nicht wisse. In der
Psychoanalyse ergab sich mit großer Klarheit, daß die Schaulust,
welche mit so starken Affekten abgelehnt wurde, sich im Unbewußten
auf die Mutter des Patienten bezog.
Die Grübelfragen der Zwangsneurotiker sind stets unbeant-
wortbar. Das Rätsel, welches sie eigentlich lösen möchten, darf
nicht gelöst werden; die Grübelei, welche an seine Stelle tritt, kann
‚ nicht gelöst werden. So bleibt das Geheimnis erhalten. Im Patienten
besteht ein dauernder Konflikt zweier Parteien, deren eine forschen,
wissen möchte, während die andere die Unwissenheit zu erhalten
\ strebt. | |
Es wird hieraus erklärlich, warum sich Grübelsucht und sexuelles
Nichtwissen so regelmäßig beieinander finden. Es kommt aber für die
Erklärung dieses Zusammentreffens weiter in Betracht, daß für viele
Neurotiker das Geheimnis selbst mehr Lustwert hat als seine Enthüllung.
Ich habe darauf schon oben hingewiesen. Gelegentlich begegnet man
Patienten, die unter ihrer Unwissenheit ernstlich leiden und dennoch
sich nicht von ihr freimachen können. Ich beobachtete z. B. einen
28jährigen Mann, der an schweren Aufregungszuständen litt. Der
gedankliche Inhalt dieser Zustände war ganz bewußt: Alle Menschen
wissen, nur ich allein bin vom Wissen ausgeschlossen. Für ihn bedeutete
freilich „Wissen“ nicht nur die Kenntnisse auf sexuellem Gebiet,
sondern vor allem „sehen“ und weiterhin die sexuelle Aktivität! Es
leuchtet ohneweiters ein, daß derjenige, welcher die sexuelle Aufklärung
meidet, sich damit vollends der sexuellen Aktivität entzieht. Der
Patient verlor in meinem Sprechzimmer einmal einen Zettel, der mit
allerlei unverständlichen, abgebrochenen Redewendungen beschrieben
war. In der Mitte des Zettels waren mit großer Schrift die Worte zu
lesen: I don’tt know. In diesem Satz pflegte der Patient die ganze
| | i
207
Qual seiner Unwissenheit auszudrücken. In seinen Aufregungszuständen
lief er im Zimmer umher und schrie die gleichen Worte. Ebenso
schrieb er sie auf Papierblätter und umgab sie mit allerhand Verwün-
schungen. Die Psychoanalyse konnte in diesem Falle nur durch einige
wenige Sitzungen fortgeführt werden; diese kurze Zeit genügte aber,
um mir einen gewissen Einblick in das Unbewußte des Patienten zu
gewähren. Es ließ sich feststellen, daß die Libido des Patienten in
einem Maße, das selbst den Psychoanalytiker staunen machte, in
inzestuöser Richtung fixiert war. Ich ziehe hier zum Vergleich eine
völkerpsychologische Tatsache heran, auf die auch schon v. Winter-
stein (l. c.) Bezug genommen hat. Im biblischen Hebräisch wird die
gleiche Vokabel für „wissen“, „erkennen“ und für die Begattung
gebraucht. Ein Mann „erkennt“ sein Weib. Die vorläufige Sexualhandlung
des Beschauens, durch welche er das Weib kennen lernt, wird in diesem
Sprachgebrauch an die Stelle der definitiven Handlung gesetzt.
Besonders interessant ist aber die Wahl des Ausdruckes in der mosaischen
Gesetzgebung gegen den Inzest. Hier wird niemals in all den vielen
Verboten der Verkehr unter Blutsverwandten untersagt, sondern dem
Manne wird nur verboten, dieses oder jenes Weibes „Scham zu
entblößen“. Das Verbot des Entblößens und Beschauens ist gegenüber
dem einfachen Verbot des inzestuösen Verkehrs eine weiter gehende
Einschränkung. Sie entspricht in dieser Hinsicht durchaus den
strengen Schauverboten, mit welchen sich manche Neurotiker nicht
bloß vor dem Anblick des Verbotenen, sondern auch vor jeder sexuellen
Aktivität schützen.
Eine Untersuchung der Einschränkungen des Schauens und
Wissens bleibt durchaus unvollständig, wenn sie nicht das Phänomen
des Zweifels hinreichend berücksichtigt. Ich kann hier wiederum auf
die grundlegenden Ausführungen Freuds Bezug nehmen.
Freud schreibt dem Zwangsneurotiker ein Bedürfnis nach
Unsicherheit zu. Der Kranke weicht vor der Realität, vor allem
Greifbarem, Sicherem aus und wird von einem unbewußten Bestreben
dazu geführt, die Unsicherheit zu erhalten, zu kultivieren und neue
Unsicherheiten künstlich herzustellen. Der Zweifel nimmt seinen Aus-
gang von der innern Wahrnehmung der eigenen Zwiespältigkeit seitens
des Kranken. Dieser zweifelt also eigentlich an der Zuverlässigkeit
seiner eigenen Gefühle, er verschiebt jedoch die Unsicherheit mit großer
Vorliebe auf Objekte und Vorgänge in der Außenwelt. Dabei pflegt
er sich an solche Dinge zu klammern, die tatsächlich dem Zweifel
unterworfen sind, wie etwa das menschliche Gedächtnis oder die Dauer
des menschlichen Lebens.
208
Wir werden hier an die Erscheinungen der Grübelsucht erinnert,
welche denjenigen der Zweifelsucht in weitem Umfange analog sind.
Wir konstatierten auch beim Grübler, daß er sein Interesse von der
Welt des Konkreten, des sinnlich Wahrnehmbaren zurückgezogen und
es solchen Fragen zugewandt hat, die im Dunkel bleiben müssen.
Wie der Zweifler die Unsicherheit, so sucht der Grübler unbewußt das
Nichtwissen zu konservieren. Das macht es uns begreiflich, daß Zweifel
und Grübeleien in der Regel im gleichen Individuum beieinander
wohnen. Auch liegt es auf der Hand, daß jede Einschränkung der
Schaulust und — was für uns nicht davon zu trennen ist — der
Wißbegierde nicht bloß dem abstrakten Grübeln, sondern in gleicher
Weise dem Zweifel Vorschub leisten muß. Die Zweifelsucht findet
sozusagen vermehrte Angriffispunkte, wenn das Individuum seine Sinne
und sein Denken nicht auf das Reale zu richten vermag. Andererseits
wird der Neurotiker durch seine Unsicherheitsgefühle zur ständigen
Erneuerung seiner Grübeleien gedrängt; er muß den tausendmal
durchgemachten Gedankengang wieder und wieder prüfen.
In der Neurose gibt es mancherlei Methoden, den Qualen der
Unsicherheit und des Zweifels, respektive der Grübelsucht zu entgehen.
Der Zweifelnde, Grübelnde, der, wie wir sahen, unbewußt bestrebt
ist, die Grundlagen seines Leidens zu erhalten, zeigt doch gleich-
zeitig die entgegengesetzte Tendenz, die Unsicherheit zu beseitigen,
den Zweifel und das Nichtwissen zu bannen. Freilich kann ihm dies
nicht aus eigener Kraft und mit eigenen Mitteln gelingen. Er ist
darauf angewiesen, sich an Autoritäten zu halten, deren Wissen oder
Ansicht er sich fügt, denen er aber auch die Verantwortung aufbürdet.
Manche Zwangsneurotiker lieben es, ihrem Arzt eine solche
Verantwortung zu überbinden. Sind sie unfähig, in irgend einer
Angelegenheit selbst die Entscheidung zu treffen, so lassen sie den
Arzt gern eine Art von Machtwort sprechen, das den Zweifel ausschalten
soll. Sie ändern auf diese Weise. die Situation dergestalt um, daß
dem Anschein nach ein Zweifel überhaupt nicht
existiert.
Ich bin hier zu einem Exkurs genötigt, der uns auf gewisse
völkerpsychologische Phänomene führt, die dem Anschein nach in
keinem direkten Zusammenhang mit dem Schautrieb stehen, deren
Verständnis uns aber für den weiteren Gang der Untersuchung
unentbehrlich sein wird.
Auch in der Völkerpsychologie finden sich Erscheinungen, welche
der Beseitigung des Zweifels in ganz gleicher Weise dienen,
wie es soeben am Verhalten gewisser Neurotiker gezeigt wurde.
209
Ich gehe von der eigentümlichen und, wie ich glaube, wenig
beachteten Tatsache aus, daß in der hebräischen Sprache der biblischen
Schriften ein Wort für „zweifeln“ fehlt!. Dabei ist zu beachten, daß |
die verschiedenen Schriften aus sehr verschiedenen Epochen stammen.
Es muß auffallen, daß gerade die Sprache eines Volkes, in welchem
sich der Monotheismus zuerst durchsetzte, einer solchen Vokabel
entbehrt. Die Erscheinung wird noch auffälliger dadurch, daß die
Sprachen respektive Dialekte der Nachbarvölker entsprechende Ausdrücke J
besitzen, so daß also eine Entlehnung leicht hätte stattfinden können. j
Durch Jahrhunderte dauerte das Schwanken zwischen dem mono-
theistischen Kultus und dem Dienst des Baal, der Astarte und der
anderen vorderasiatischen Gottheiten. Endlich siegte der Kultus eines
einzigen männlichen Gottes. Es wurde schon oben darauf E
hingewiesen, daß im biblischen Schöpfungsmythus die Tendenz bestehe, j
alle Leistungen dem männlichen Gott und dem Manne zuzuschreiben, ;
das Weib aber zu einer nebensächlichen Bedeutung herabzudrücken. Dies {
entspricht nun vollkommen dem patriarchalischen System, in welchem #
dem männlichen Familienoberhaupt die alleinige Macht zukommt?. Ihm |
gehören die Frauen und Kinder ganz wie die lebende und leblose Habe.
Ich muß nun auf die Ausführungen Freuds? Bezug nehmen,
welcher in überzeugender Weise die Entstehung des männlichen
Gottes aus der Einstellung der Söhne zum Vater dargetan hat. Die
Sympathie des Sohnes gehört ursprünglich der Mutter, während er
dem Vater Gefühle der Auflehnung und Feindschaft entgegenbringt.
Eine der frühesten Verdrängungsleistungen, welche die Kultur verlangt, 1
ist das Aufgeben dieser Einstellung. Der Sohn stand zunächst zwischen i
Vater und Mutter; die Verdrängung der Ödipuseinstellung führt dazu, |
daß er sich zugunsten des Vaters entscheidet und dessen Macht
rückhaltlos anerkennt. Gerade der Patriarchalismus stellte rigorose
Forderungen in dieser Hinsicht an den Sohn. So wie aber in der
patriarchalischen Familie der Konflikt im Sohne unbedingt zugunsten
des Vaters entschieden wurde, ganz so auch in der moBalbSR schen
Religion des alten Testamentes. N
Man könnte nun das Fehlen eines Wortes für den Zweifel in der
hebräischen Sprache als ein vereinzeltes Phänomen ohne wesentliches N
1 Auf eine Ausnahme werde ich weiter unten zurückkommen.
2 Mit diesem Prozeß der Ausschaltung des weiblichen Elementes beschäftigt
sich auch v. Winterstein in seiner oben zitierten Arbeit (S. 204). Zur Zeit
ihres Erscheinens war ich bereits zu den obigen Resultaten gelangt, für die ich bei
v. Winterstein eine volle Bestätigung fand. |
3 „Totem und Tabu“, Kap. IV (Wien und Leipzig, 1913).
14
|
210
Interesse abtun, wenn nicht die gleiche Sprache einen zweiten
charakteristischen Defekt aufwiese. Sie entbehrt nämlich auch eines
Wortes, welches Göttin bedeutet, während doch andere Sprächen
eine entsprechende Vokabel besitzen. Man möchte sagen, der Konflikt
des Sohnes, welcher ‘durch seine ursprüngliche zweifelnde Stellung
zwischen Vater und Mutter bedingt ist, sei ausgemerzt, in gleicher
Weise sei das Schwanken, ob nur ein männlicher Gott oder auch eine
Göttin verehrt werden solle, abgetan und die Sprache benehme sich
nun, als gäbe es nicht nur diese Zweifel nicht, sondern als existierten
Zweifel in der menschlichen Seele überhaupt nicht.
Ein besonders helles Licht. fällt auf dieses sprachpsychologische
Problem, wenn man beachtet, daß in einer großen Zahl von Sprachen
das Wort für „zweifeln“ mit der Zahl „zwei“ zusammenhängt. Diese
anderen Sprachen verleugnen den Zweifel also nicht, ja manche Sprachen
treiben da, wo der Zweifel zum Ausdruck gebracht werden soll, einen
besonderen grammatischen Aufwand. Ich erinnere beispielshalber nur
an die Mannigfaltigkeit der grammatischen Formen im Lateinischen ;
das Verbum des Zweifels verlangt besondere Formen des Ausdruckes,
die sonst kaum üblich sind.
Erst in einem der späten biblischen Dokumente, dem Psalm 119,
findet sich ein Wort, das man wohl mit Recht als „Zweifler“ übersetzt.
Genau genommen bedeutet es: „gespalten“. Dieser Psalm stammt
nach Ansicht berufener Forscher aus später Zeit, in der sich schon die
hellenistischen Einflüsse geltend machten!, Ein zweites Wort von
gleicher Bedeutung findet sich dann in der späthebräischen Literatur,
das vielleicht ursprünglich die gleiche Bedeutung der Teilung, Spaltung
hat. Es ist sehr bemerkenswert, daß die Sprache sich vor mehr als
2000 Jahren so ausdrückte wie die heutige Psychologie, die von
psychischer Spaltung spricht. „Spalten“ enthält den innern Gegensatz
im Menschen noch deutlicher als diejenigen Bezeichnungen des Zweifels,
die mit „zwei“ zusammenhängen ?.
Nachdem einmal durch Aufnahme zweier Lehnwörter die Existenz
des Zweifels anerkannt war, sah man sich genötigt, den Zweifel auf
andere Weise auszumerzen. Es fand sich ein einfacher Weg. Wenn
es z. B. zweifelhaft war, ob eine bestimmte Handlung erlaubt oder
verboten sei, so entschied man regelmäßig im strengeren Sinne,
1 Cf, Baethgen, Die Psalmen. Göttingen, 1897.
2 Wohl den eigentümlichsten, im Sinne der Psychoanalyse treffendsten Ausdritck
findet die „innere Wahrnehmung der Unsicherheit“ (Freud) in einer alten amerikanischen
Kultursprache, dem Nahuatl. Diese Sprache drückt den Zweifel aus durch „omeyolloa“,
„zwei Herzen“,
|
|
”
211
(göttlichen) Autorität gegeben war. Im Grunde kommt diese Praxis
auch wieder auf eine Verleugnung des Zweifels hinaus.
Nach. diesen Bemerkungen gehe ich dazu über, einige besonders
eigentümliche Beobachtungen mitzuteilen und zu analysieren, welche
der Psychoanalyse eines komplizierten Falles von Grübel- und
Zweifelsucht entstammen. Ich werde mich jedoch darauf beschränken,
diejenigen Wurzeln der Erscheinungen zu berücksichtigen, welche mit
der Verdrängung des Schautriebes zusammenhängen. Andere wichtige
Quellen der Symptomenbildung — ich nenne nur Narzißmus und
Sadismus — werde ich nur streifen können.
Schon früh zeigten sich bei dem Patienten Gefühle von Unsicherheit.
Als Knabe quälte er seine Umgebung mit einer hartnäckigen Fragesucht,
später sich selbst durch Zweifel, von denen kein Gebiet des Lebens
verschont blieb. Er zweifelte an seiner Intelligenz, an seinem „Können“
in jeder Hinsicht, an seinem Gedächtnis, an seiner Urteilsfähigkeit.
Er zweifelte an seiner Männlichkeit, zweifelte schon als Knabe, ob er
sich knabenhaft oder mädchenhaft benehmen solle. Er schwankte mit
seiner Zuneigung zwischen Vater und Mutter hin und her. Als er
zuerst Bekanntschaft mit zwei jungen Mädchen machte, wußte er
nicht, welche von beiden er liebte. Sein ganzes Leben war für ihn
ein Labyrinth von Zweifeln, die er vergebens durch Denkarbeit zu
bewältigen versuchte. Er fand die uns bereits bekannte Ausflucht,
alle Entscheidungen auf eine Autorität abzuschieben. In einem
besonderen Falle suchte er seine Zweifel in einer höchst merkwürdigen
Weise zu töten. Als er studierte, trat in der Universitätsstadt ein
Redner auf, den er schon in Berlin gehört hatte. Die Reden und Schriften
dieses Mannes hatten ihm früher schwere Zweifel und Grübeleien
verursacht. Es war ihm gelungen, sich dem Einfluß in einem gewissen
Maße zu entziehen; er fürchtete aber, wenn er den Mann abermals
hörte, seinem Einfluß von neuem zu verfallen. Aus seinem Dilemma
suchte er sich zu retten, indem er seine Bekannten anstiftete, den Redner
in der Versammlung zu verhöhnen. Ich kann nur nebenbei darauf
verweisen, daß es sich hier gleichzeitig um eine Äußerung des Hasses
handelte, der sich gegen jede Autorität richtete, wie er sich zuerst
gegen den Vater des Patienten gerichtet hatte.
Die Tatsachen, welche die Psychoanalyse aus der Kindheit des
Patienten zutage förderte, ließen erkennen, daß die sexuelle Neugierde
und Schaulust ursprünglich von außergewöhnlicher Stärke gewesen
waren und erst allmählich der Frage- und Grübelsucht Platz gemacht
hatten. Bei diesem Vorgang waren erzieherische Einflüsse in hohem
14*
d. h. im Sinne des Verbotes, das für ähnliche Fälle von der höchsten
=;
|
212
Maße beteiligt gewesen, die ihren stärksten Ausdruck in einem
eigentlichen Frageverbot fanden, welches ihm von der Mutter im
Pubertätsalter gegeben wurde, als sich die sexuelle Wißbegierde von
neuem in ihm regte. Der Unterdrückung der Wißbegierde in den
folgenden Jahren wurde dadurch Vorschub geleistet. Als dann die
Neurose ausbrach, zeigte eine ganze Reihe von Symptomen an, daß
die inzestuöse Schaulust die Verdrängung zu durchbrechen trachtete,
Auch die Träume verrieten die gleiche Tendenz. Im Beginn der
Behandlung berichtete der Patient, welcher sich viel mit philosophischen
Studien befaßt hatte, daß er schon als Gymnasiast den Pythagoras
beneidet habe. Der Grund zum Neid bestand darin, daß Pythagoras nach
seiner überlieferten Behauptung dreimal seine eigene Geburt
geschaut hatte. Das intensivste Interesse des Patienten verband
sich noch immer mit der Frage des Kindes: Woher bin ich gekommen?
Wie oben ausgeführt, wünscht das Kind eigentlich zu sehen,
woher es gekommen ist. Der grüblerische Neurotiker hatte dieses
infantile Interesse in ein späteres Lebensalter mit hinübergenommen;
sein sehnlichster Wunsch wäre es gewesen, die eigene Geburt aus dem
Körper der Mutter mit sehenden Augen zu erleben.
Die frühe Abdrängung der Schaulust von ihren eigentlichsten
Objekten und Zielen führte nicht nur zu den typischen Grübeleien,
sondern u. a. auch zu einem krankhaften Hang zum Geheimnisvollen,
Mystischen. Die früher‘ besprochene Tendenz, das Geheimnisvolle zu
pflegen, zu konservieren, äußerte sich darin, daß der Patient in sehr
jugendlichem Alter mystische, theosophische, spiritistische Schriften
förmlich verschlang. Mit dieser Tendenz lag die entgegengesetzte im
Konflikt: er wollte mit Augen sehen, was nur gedacht werden kann.
Ganz besonders war in diesem Falle das früher bereits erwähnte
Verlangen, die Gedanken zu schauen, ausgesprochen. Der Patient stellte
sich den Denkprozeß in naivster Form körperlich und räumlich vor.
Im Gehirn gab es Kasten und Fächer, in denen die Gedanken lagen,
um gelegentlich hinauszuspazieren. Seine Grübeleien befaßten sich
hauptsächlich mit diesen Vorgängen. Selbstverständlich reizte es ihn,
auch, das Übersinnliche zu schauen, Endlose Grübeleien richteten sich
darauf, wie wohl die Geister und Gespenster aussähen, wie Gott aussähe
usw. Dann traten wieder Hemmungen hervor, die es dem Patienten
verboten, sich dergleichen vorzustellen.
Es bedarf kaum des Hinweises auf die zahlreichen verwandten
Erscheinungen in der Völkerpsychologie: auf Geheimkulte, Mysterien,
okkultistische Bewegungen einerseits, andererseits auf die religiösen
Verbote, nach dem Geheimsten zu forschen.
RER ä
I Sn oe = = z en |
\
213 |
Bezüglich der Bedeutung der Gespenster, welche in den Gedanken- H!
gängen des Patienten eine sehr große Rolle spielten, ergab sich u. a. h
eine Erklärung, die uns auch sonst aus den Psychoanalysen geläufig i
ist. Wie in anderen Fällen, so hatten auch hier nächtliche Eindrücke
der Kindheit zu den Grübeleien über Gespenster den Grund gelegt.
Die Eltern, welche im weißen Nachtgewand von den Kindern beobachtet
werden, sind die Vorbilder für die kindliche Auffassung jener
geheimnisvollen Gestalten.
So kraus und phantastisch das Beobachtete von seiner Phantasie
| aber auch ausgestaltet wurde, so läßt sich doch erkennen, daß das h
Kind sich auf dem Wege zu durchaus richtigen Schlußfolgerungen '
befunden hatte. Als später die Verbote des Schauens und Wissens }
über den Patienten Gewalt bekommen hatten, verschob sich der
verdrängte Wunsch nach Wiederholung der lustvollen Kindheitseindrücke
auf die „Gespenster“. Der Patient verlangte beständig, dieGespenster
zu sehen. Er ging aber noch weiter und transponierte all seine Be
Wißbegierde, die dem Zeugungsrätsel galt, auf die Gespenstergrübeleien. l
| Eines der Probleme, die ihn mit Zwangsgewalt durch Jahre in ihrem
Bann hielten, lautete: „Wie kommen Gespenster in einen
geschlossenen Raum?“ Ich übergehe die höchst interessanten
Determinierungen der Lösungsversuche, welche der Patient dieser
Frage zuteil werden ließ, und erwähne nur, daß zwei Probleme, deren
| Lösung verboten war, sich in dem unlösbaren Ersatzproblem versteckten, i
nämlich die Fragen: Wie dringt der Mann in den weiblichen Körper A
| und wie kommt das Kind in den Mutterleib? Das Verbotene der
Probleme liegt in ihrer Zuspitzung auf Vater und Mutter und besonders
in der ursprünglichen Lust, das Geheime zu schauen.
Die verdrängte Schaulust suchte sich aber nicht nur in den
| Grübeleien eine Ersatzbefriedigung zu verschaffen, sondern es wurden
| noch andere Wege zu diesem Behufe eingeschlagen. Sie verdienen
unser höchstes Interesse; es ist daher notwendig, ausführlicher auf sie
einzugehen, zumal uns auf diesem Wege wichtige Einblicke in die
Entstehung gewisser völkerpsychologischer Phänomene erschlossen u
werden können. 4
Der Patient war, gleich sehr vielen anderen Menschen, imstande,
Personen, Vorgänge usw., mit denen er sich in Gedanken beschäftigte,
mit bildlicher Deutlichkeit vor seinem Auge erscheinen zu lassen.
Bei manchen Neurotikern genügt schon das einfache Schließen der
Augen, um derartige Visionen auftreten zu lassen. Andere rufen die
„Bilder“ absichtlich hervor und vergnügen sich damit wie mit einem
Theater. Diese Fähigkeit scheint im Kindesalter bei allen Menschen
214
vorhanden zu sein, verschwindet aber bei manchen mit den Jahren.
Man darf also aus dem Fehlen dieser visionären Illustrationen des
phantastischen Denkens bei einem Menschen nicht ohneweiters
schließen, daß er nicht zum „visuellen“ Typus gehöre. Vielmehr handelt
es sich oftmals um Einschränkungen’ der Schaulust, die auf dem Wege
der Verdrängung zustande gekommen sind.
Da dem Patienten der Wunsch, die „Gespenster“ zu sehen,
versagt bleiben 'mußte, so versuchte er nun, sich auf dem Wege will-
kürlich hervorgerufener Visionen einen Ersatz zu verschaffen. Es ist
nun höchst bezeichnend, daß er sich bemühte, die Bilder seiner
Eltern vor seinen Augen entstehen zu lassen. Allein dies gelang ihm
nicht in der gewünschten Weise. Das Bild der Mutter erschien
überhaupt nicht, dasjenige des Vaters nur in ganz
verzerrter Form. Dagegen gelang es leicht, die Erscheinung
anderer Angehöriger hervorzurufen. Dieser Versuch, der inzestuösen
Schaulust eine Ersatzbefriedigung zu geben und der negative Ausgang
des Versuches sind gleich bemerkenswert.
Nachdem ich Ähnliches in einer Reihe anderer Fälle beobachtet
habe, bin ich dazu gelangt, der Erscheinung größere Bedeutung beizu-
legen. Manche Neurotiker versuchen, wie soeben geschildert, die Bilder
der Eltern visionär hervorzurufen, oder sie begnügen sich damit, sich
deren Aussehen nur möglichst lebhaft in Gedanken vorzustellen. Einer
meiner Patientinnen, die im höchsten Maße an ihren Vater fixiert war,
gelang es nicht, sich das Aussehen des Vaters vorzustellen. In einem
andern Fall war es dem Patienten sehr schwer, sich die Gesichtszüge
der Mutter klar vorzustellen. Eher gelang es ihm bezüglich seines
Vaters; allein kaum entstand in ihm die Vorstellung, so verzerrte sich
das Gesicht des Vaters; besonders die Augen nahmen einen Ausdruck
der Erstarrung an. Es erwies sich, daß in diesem Falle. die der Mutter
zugewandte Schaulust eine sehr intensive Verdrängung erfahren hatte,
während die dem Vater zustrebenden Todesphantasien nicht mit
gleichem Erfolge verdrängt waren: sie fanden in der Starre der Augen
ihren Ausdruck.
Es ist, als wirkte in diesen Personen ein Verbot, das ihrem Schau-
trieb strenge Grenzen setzte. Einen schönen Beleg für diese Auffassung
lieferte mig der Traum eines neurotischen jungen Mädchens. Die
Träumerin befindet sich in einer Kirche unter vielen anderen Menschen.
Diese betrachten ein Madonnenbild. Sie allein kann das Bild
nicht sehen. Die Psychoanalyse deckte bei dieser Patientin eine
starke, homosexuelle Neigung zur Mutter auf. Im allgemeinen war
diese Neigung in einen intensiven Widerwillen verwandelt, um
215
gelegentlich unter heftigen : Affekten in ihrer ursprünglichen Form
wieder aufzutreten. Die Mutter galt als eine besonders schöne Frau;
die Tochter mußte sich gegen die verbotenen Reize durch ein förm-
liches Schau-Verbot sichern.
Durch eine der hierhergehörigen Veröffentlichungen Freuds
sind wir auf gewisse „Übereinstimmungen im Seelenleben der Neurotiker
und der Wilden“ aufmerksam geworden. An dieser Stelle interessiert uns
speziell die Analogie gewisser Zwangsverbote bei den Neurotikern mit
den "sogenannten Tabu-Vorschriften gewisser Völker. Diese
Vorschriften haben die charakteristischeEigentümlichkeit, daßihnen seitens _
derer, die sie befolgen, keine Begründung gegeben werden kann. Ganz
entsprechend vermögend die Neurotiker, welche dem hier in Frage
kommenden Zwangsverbot unterliegen, ihm eine Begründung nicht
zu geben. Von besonderem Interesse ist in diesem Zusammenhang die
Übereinstimmung zwischen dem geschilderten neurotischen Schauverbot
und dem zweiten Gebot des biblischen Dekalogs, welches die Herstellung
eines Abbildes des einzigen (väterlichen) Gottes streng untersagt. Eine
Erklärung dieser Vorschrift hatte Freud! kürzlich bereits auf anderem
Wege zu geben versucht; die hier vorgeschlagene steht mit der von
Freud gegebenen nicht im Widerspruch, ergänzt sie vielmehr
entsprechend der uns geläufigen Überdeterminierung aller psychologischen
Produkte. Als die vorliegende Arbeit bereits inhaltlich abgeschlossen
“war, fand ich in einer soeben erschienenen Publikation von Storfer
(„Marias jungfräuliche Mutterschaft“, Berlin, 1914, S. 32) eine Erklärung
des zweiten Gebotes, die von den gleichen Überlegungen ausgeht wie die
meinige. Storfer sucht das Verbot, Bildnisse Gottes herzustellen,
auf die Scheu vor dem väterlichen Phallus zurückzuführen, unter dem
Hinweis, daß so viele Götterbilder und kultische Zeichen phallischen
Charakter tragen. Mir scheint diese Erklärung in guter Übereinstimmung
mit vielen hier mitgeteilten Auffassungen zu stehen; doch wäre noch
eine gewissenhafte, vergleichend mythologische Nachprüfung am Platze.
Wir können diesen Parallelismus der individual- und völker-
psychischen Erscheinungen noch um einen Schritt weiter verfolgen. Von
dem Patienten habe ich bereits mitgeteilt, daß er von beständigen
Zweifeln beunruhigt war; diese bezogen sich, wie erwähnt, u. a. auch
auf seine Eltern. In seiner Beziehung zu den Eltern spielte demnach
sowohl der Zweifel als auch das Verbot, ihr Abbild zu schauen, eine
wichtige Rolle. Unterwerfen wir aber den Dekalog einer eindringenderen
Untersuchung, so muß uns auffallen, daß das Gebot, nur einen Gott
anzuerkennen und das Gebot, sich von ihm kein Abbild zu machen,
ı „Animismus, Magie und Allmacht der Gedanken“. Imago, 1913, Bd. U,
mer nn me
216
in unmittelbare Nachbarschaft gerückt sind. Wir haben aus der Analyse
der verschiedenartigsten Produkte des menschlichen Seelenlebens die
übereinstimmende Erfahrung gewonnen, daß die unmittelbare Nachbar-
schaft zweier Elemente auf deren Zusammenhang hinweist. Da ist es
nun bemerkenswert, daß das Bilderverbot dem Gebot, nur einen Gott
anzuerkennen — dem Gebot also, welches die Zweifel zwischen Vater
und Mutter ausschließen soll, unmittelbar folgt. Von der Analyse
individualpsychologischer Produkte her fällt auf diese Erscheinung
ein neues Licht.
Kehren wir zu dem Patienten zurück, der sich kein Bildnis der
Eltern machen durfte, und hören wir, was er tat, um für das Verbotene
einen Ersatz zu bekommen. |
Er suchte sich mit ganzer Einbildungskraft das Aussehen der
Gespenster vorzustellen, die ja in seinem Grübelsystem die Eltern
vertraten. Daß es sich im Grunde für ihn darum handelte, sich den
Sexualverkehr der Eltern vorzustellen, ging mit größter Sicherheit
hervor aus der Vorstellung, die er sich vom Aussehen der Gespenster
bildete: Er dachte sie sich — ich zitiere seine Äußerungen wörtlich —
als „große, nackte Wesen“, als „wollüstige Gestalten“!,
Die Grübeleien des Patienten fanden, wie schon erwähnt,
reichliche Nahrung in gewissen Schriften, namentlich in solchen mit
_ theosophischem Inhalt. Im Anschluß an dort Gelesenes identifizierte er
die Eltern nicht bloß mit Gespenstern, sondern auch noch mit
„Riesen“. Er hatte in einem dieser Bücher die Angabe gefunden,
daß die Bewohner des untergegangenen Erdteiles Atlantis Riesen
gewesen seien und eine höhere Form des Bewußtseins gehabt hätten
als die jetzt lebenden Menschen, nämlich das Astralbewußtsein. Sie
seien daher im Geheimnisse eingeweiht gewesen, die uns verschlossen
seien. Es hieß in dem Buche: ihr Wissen war so gewaltig, daß
die Erde davon dröhnte.
Für den Patienten nahmen diese Riesen sofort die Bedeutung
der Eltern an. Die Eltern „wußten“ ja mehr als er, d. h. sie waren
im Besitz des sexuellen Geheimnisses. Das Kind aber versuchte das
Geheimnis der Eltern nicht nur mit dem Auge zu schauen, sondern
auch mit dem Ohr zu belauschen. Der Patient hatte offenbar dieselbe
Gleichung vorgenommen, die uns als sprachliches Phänomen begegnet
ist; er hatte „Wissen“ und Sexualverkehr identifiziert.
! Das Hervorrufen solcher Vorstellungen respektive visionärer Erscheinungen
dient noch anderen Tendenzen, die ich hier nur kurz andeuten kann. Unter anderem
dient es der Befriedigung der infantilen Größenvorstellung, alles aus der eigenen
Einbildungskraft erschaffen zu können. (Allmacht der Gedanken.)
217
Charakteristisch ist ferner, daß der Patient auch versuchte, sich
von Gott eine materielle Vorstellung zu machen. Es wundert uns
nicht, daß er sich auch Gott als Riesen dachte. Die Phantasie des
Kindes schreibt dem Vater außerordentliche Macht zu: sie vergleicht
den Vater, der dem Kinde an Größe so sehr überlegen ist, gern mit
einem Riesen. Die Träume Erwachsener legen davon oft noch Zeugnis
ab. Wenn das Kind etwas von Gott vernommen hat, so ist es genötigt,
ihn sich im Bilde des Vaters vorzustellen; es tut damit nichts anderes.
als die religionsbildenden Völker, die einen väterlichen Gott verehren.
Unser Patient, der über das Aussehen Gottes nachgrübelte, beging
auch damit wieder nur einen Versuch, das auf den Vater bezügliche
Schauverbot zu durchbrechen.
Wie sehr das neurotische Verbot, den Vater (respektive die Eltern)
sich im Bilde darzustellen, und das biblische Verbot, Gott abzubilden,
in ihrem innersten Wesen übereinstimmen, wird daraus ersichtlich,
daß beide Verbote in ganz übereinstimmender Weise
durchbrochen werden.
Ich habe hier eine der typischen Grübelfragen im Auge, wie sie
in den talmudischen Schriften so reichlich enthalten sind. Das Verbot
einer bildlichen Darstellung Gottes durfte nicht übertreten werden.
Wo die Menschen sich aber durch irgend welche Motive gedrängt
fühlten, ihrer Gottesvorstellung einen lebendigeren materiellen Inhalt
zu geben, da waren sie auf das Grübeln angewiesen. Aus dem genannten
Bedürfnis und der strengen Einhaltung des Bilderverbotes erklärt
sich nun die talmudische Frage nach den Körperdimensionen Gottes.
Sie durfte aber auch nur dann beantwortet werden, wenn man sich
streng an bereits in den biblischen Schriften vorhandenen Angaben
hielt. Da fand sich nun die Stelle, an welcher Gott die Worte in den
Mund gelegt werden: „Der Himmel ist mein Thron und die
Erde der Schemel meiner Füße.“ Daraus wurde gefolgert, Gottes
Beine seien so lang, daß sie vom Himmel bis zur Erde reichten. Diese
Grübelei ähnelt derjenigen unseres Patienten in erstaunlichem Maße.
Nicht nur, daß auch in ihr der verdrängte Wunsch, sich von Gott ein
Bild zu machen (d. h. ihn zu schauen), wiederkehrt. Die Ähnlichkeit geht
noch weiter insofern, als auch in der talmudischen Grübelei die infantile
Vorstellung von der Riesengestalt des Vaters oder Gottes wiederersteht.
Existiertt somit eine unverkennbare Analogie zwischen den
Einschränkungen der Schaulust bei neurotischen Individuen und bei
Völkern, so soll nun im folgenden gezeigt werden, daß wir mit Hilfe
der Psychoanalyse in das Wesen dieses Parallelismus noch tiefere
Einblicke gewinnen,
218
V. Die Herkunft der Sonnen- und Gespensterphobie aus dem
infantilen Totemismus.
Im Laufe der Untersuchung sind uns zweiSymbole begegnet,
denen wir eine vorwiegende Vaterbedeutung zuerkennen mußten:
es sind die Sonne und das Gespenst. Gewisse Neurotiker, so
erfuhren wir, ängstigen sich vor dem Anblick des Sonnenlichtes oder
reagieren in einer andern, vom Verhalten der Gesunden abweichenden
Weise mit Affekten der Auflehnung, des Trotzes auf die Erscheinung
der Sonne. Es ergab sich, daß jeder dieser Neurotiker eine ambivalente
Gefühlseinstellung zur Sonne aufwies; daß er die Sonne liebte
(verehrte) und gleichzeitig Angst vor ihr empfand. Ich habe in letzterem
Sinne geradezu von einer Sonnenphobie gesprochen. Unter den
Grüblern fanden wir das besondere Interesse für Gespenstererscheinungen.
Das Gespenst oder die Vorstellung von einem solchen rief aber ebenfalls
ambivalente Reaktionen hervor: den Wunsch, es zu sehen, und wiederum
die Angst vor seiner Erscheinung, die man als Gespensterphobie
bezeichnen darf. Erblicken wir in Sonne und Gespenst Symbole des
Vaters und sind wir mit der ambivalenten Einstellung des Neurotikers
zu seinem Vater vertraut, so wundert es uns nicht, diese Zwiespältigkeit
der Gefühle auch auf die den Vater vertretenden Symbole übertragen
zu finden. Der Psychoanalyse ist es aber nicht erlaubt, sich mit dieser
Erkenntnis zufriedenzugeben; als eine Entwicklungslehre, welche die
strenge Bedingtheit alles Psychischen erweisen will, muß sie der
Herkunft der Phänomene weiter nachgehen. Um den Zugang zum
Ursprung der uns interessierenden Symbole zu finden, bedarf es
desjenigen Schlüssels, den Freud uns in seinen Abhandlungen über
„Totem und Tabu“ gegeben hat.
Wir finden bei gewissen Völkerschaften mit primitiver Kultur
bis zum heutigen Tag eine Organisation, welche das religiöse und
soziale Leben. regelt; sie wird als Totemismus bezeichnet. Es
handelt sich um eine Form des Ahnenkultus. Im Mittelpunkte des
Kultus steht der Totem, meist ein Tier, welches als Stammvater der
betreffenden Sippe („Clan“) betrachtet wird. Wir verdanken Freud
u. a. die wichtige Erkenntnis, daß jene Primitiven zu ihrem Totem
ambivalent eingestellt sind; d. h. das Totemtier nicht jagen, töten,
verzehren oder auch nur berühren, es also im allgemeinen schonen,
es unter besonderen Umständen aber mit feierlichem Zeremoniell
dennoch töten und verzehren. Der Totem ist ebensowohl Objekt der
Liebe wie der Angst. Viele Gewohnheiten jener Menschen lassen die
zwiefache Einstellung zum Totem deutlich erkennen.
219
Die psychoanalytische Forschung (vgl. die Quellenangaben bei
| Freudl.c.) hat nun die merkwürdige Tatsache eruiert, daß unter
| unseren heutigen Kulturbedingungen der Totemismus im
Seelenleben des Kindes immer von neuem wiederersteht und
im Unbewußten des Individuums unverkennbare Spuren zurückläßt.
Gewisse Phantasieprodukte der Kinder ähneln dem totemistischen
System der Primitiven außerordentlich. Das Kind, das zum Vater oder
| zur Mutter eine oft handgreiflich ambivalente Stellung einnimmt,
| verschiebt vielfach seine Gefühle vom Vater oder von der Mutter auf
| ein bestimmtes Tier, respektive auf eine Tierart, manchmal auch auf
mehrere solche. Für dieses dem Totem durchaus gleichwertige Tier
zeigt das Kind einerseits ein liebevolles Interesse; andererseits spielt
das Tier in den Wachträumereien und nächtlichen Träumen des Kindes
die Rolle eines Angsttieres. Kommt es, wie in der Kindheit so
oft, zur Bildung einer Phobie, so ist das gleiche Tier meist das Objekt,
auf welches sich die Angst bezieht. In nicht wenigen Fällen behält
das Tier seine Bedeutung auch noch weiter bei, um in den Phobien
und Träumen erwachsener Neurotiker ganz so wie in der Kindheit
zu erscheinen.
Ich verfüge über eine beträchtliche Zahl einschlägiger Beobachtungen.
Hier ist jedoch nicht der Ort, sie ausführlich mitzuteilen. Nur einige
| Angaben lasse ich folgen, um im weiteren auf ihnen fußen zu können,
Zunächst erwähne ich, daß die Ambivalenz der Einstellung zum
Totem (Angsttier) manchen Patienten selbst auffällt. Einer meiner
Kranken, der an einer schleichend verlaufenden Hebephrenie litt, hat
mir über diesen und andere wichtige Punkte des Individualtotemismus
mit der Hemmungslosigkeit, die diesen Patienten eigen ist, den besten
Aufschluß gegeben. Eine Hauptrolle als Angsttier spielte bei ihm die
Fliege. Der Patient äußerte einmal spontan, er stehe der Fliege
einerseits „liebevoll“ gegenüber, andererseits habe er den Drang in sich,
das Tier zu töten.
Von Wichtigkeit für das Verständnis des Weiteren ist sodann,
| daß ein bestimmtes Tier (namentlich in den Träumen der Patienten)
nicht nur den Vater (oder die Mutter) vertritt, sondern oft auch den
Träumer selbst. Ich verfüge über einen interessanten Traum dieser
| Art, in welchem der Vater des Träumers, der Träumer selbst und dessen
| Sohn — also drei Generationen — alle durch das gleiche Symboltier
(Hund) bezeichnet werden. Das entspricht vollkommen der bei den
Primitiven herrschenden erblichen Zugehörigkeit zu einem
bestimmten Totem.
“Sodann erwähne ich eine Parallelerscheinung zu dem bei Primitiven
220
gelegentlich (seltener als der Tiertotemismus) beobachteten Pflanzen-
totemismus. Ein Neurotiker, der sich sozusagen beständig auf der
Flucht vor dem Mutterinzest befindet, bietet in wachen Phantasien
wie in Träumen alle Erscheinungen eines Baumtotemismus. Im
Garten eines Schlößchens, welches seine Eltern bewohnten, betrachtete
er schon als Knabe einen sehr großen, alten Baum mit religiöser
Scheu, betete vor ihm und empfing aus seinem Rauschen Orakel.
Die Abwehr der Inzestwünsche war für den Patienten mit schwerer
Angst verbunden; wie erwähnt, ist er von einer ständigen Unruhe
geplagt und wird nirgends seßhaft. In seinen Wachträumen steht er als
Baum im elterlichen Garten, umgeben von den anderen Bäumen (seinen
Angehörigen), nahe dem großen Orakelbaum (= Vater) und hat dort
feste Wurzeln geschlagen. Wie mirscheint, erforderte die Inzestverdrängung
in diesem Falle außerordentliche Maßnahmen, und so durfte, kein
animalisches Wesen die symbolische Elternvertretung übernehmen,
sondern diese mußte dem sexuell indifferenten Baume zufallen. Vielleicht
fällt von hier aus auch einiges Licht auf den Totemismus gewisser
primitiver Stämme, in dessen Mittelpunkt nicht — wie in den meisten
Fällen — ein Tier, sondern eine Pflanze steht.
Im Bereich der kindlichen Tierphobien und der totemistischen
Erscheinungen in der Neurose muß eine Tatsache auffallen, die bisher
noch wenig oder keine Beachtung gefunden hat. Als Totem figuriert
in einem Teil der Fälle, wie bereits erwähnt, eines der vierfüßigen
Tiere, deren Größe und Kraft es uns ohneweiters begreiflich macht,
daß sie vom Kinde mit dem starken Vater identifiziert werden. In
einer beträchtlichen Zahl von Fällen finden wir dagegen als „Angsttiere*“
gerade die kleinsten, dem Kinde bekannten Tiere: Fliege, Wespe,
Schmetterling, Raupe usw.; für eine Anzahl von Neurotikern gilt das
gleiche. Die objektive Gefährlichkeit solcher Tiere kann für diese Form
des kindlichen Totemismus nicht als ausreichende Erklärung dienen,
denn sie trifft nur auf einzelne dieser Tiere zu; andere sind gerade
ganz harmlos, so daß das Kind sie ungefährdet zu töten vermag. Nach
meinen Psychoanalysen bei Neurotikern erscheint mir eine andere,
einfache Erklärung besser begründet. Jene Tiere haben die Eigenschaft
des plötzlichen Erscheinens. Sie nähern sich schnell und unversehens
und berühren ganz unerwartet den menschlichen Körper ; ebenso schnell
aber verschwinden sie auch wieder. In jedem Einzelfalle treten weitere
individuelle Begründungen hinzu. So war bei einem meiner Patienten
die Wespe an die Stelle eines andern Tieres — des Tigers — getreten.
Farbe und Zeichnung der Wespe erinnerten den Patienten an den Tiger.
ı Vgl. hierzu das Orakel von Dodona.
221
Das Brummen der Wespe konnte das Gebrüll des Tigers vertreten;
letzteres wieder erwies sich als determiniert durch die Angst des Kindes
vor der tiefen, drohenden Stimme des erzürnten Vaters. Wie der Patient
sich spontan ausdrückte, assoziierte sich bei ihm an den Eindruck der
Wespe, die mit drohendem Brummen umherflog, die Vorstellung eines
Wutaffektes. Auf Grund meiner analytischen Resultate nehme ich an,
daß jenen kleinen Tieren eine mehrfache Bedeutung zukommt. Sie
repräsentieren den Vater, der das Kind überrascht, indem er plötzlich
in seiner körperlichen Nähe ist oder es mit drohender Stimme schreckt.
Dazu kommt aber die Eigenschaft dieser Tiere, daß sie schnell
verschwinden und daß man sie leichter als die großen Tiere töten
kann. In den kleinen Fliegetieren! wird also einerseits die gefährliche
Macht des Vaters anerkannt, andererseits dienen sie zum Ausdruck der
Beseitigungsvorstellungen, welche sich gegen den Vater richten. Es
sind die gleichen Tiere, welche uns in den Mythologien als „Seelentiere“
begegnen.
Der schon mehrfach erwähnte Patient E., der mir hemmungslos
eine große Menge wichtiger Aufschlüsse über die in ihm erhalten
gebliebenen Infantilismen gab, der u. a. auch die ambivalente Einstellung
. zur Fliege selbst hervorgehoben hatte, vergnügte sich während seiner
Kindheit oft mit dem Töten von Fliegen und Wespen. An dieser Stelle
muß ich aus seiner Psychoanalyse einige weitere Einzelheiten berichten;
ich bemerke, daß gewisse Phänomene, die auch bei anderen Patienten
nachzuweisen sind, in diesem Falle lediglich in einer unverhüllteren
Form zum Ausdruck kommen.
Wenn der Patient eine Fliege oder Wespe getötet hatte, so befiel
ihn regelmäßig die Angst, die toteFliege könnesichrächen.
Dieser spontan gemachten Angabe des Patienten kommt eine
große Tragweite zu. Es handelt sich nämlich um einen individual-
psychologischen Vorgang,dersichvollkommenmitder
Angst der Primitiven vor ihren Toten deckt. Freud hat
in seinen Ausführungen über das Tabu der Toten diese rätsel-
hafte Scheu analysiert. Die feindlichen Regungen, die man einem
Menschen bei seinen Lebzeiten entgegenbrachte, werden nach seinem
Tode durch das Aufkommen entgegengesetzter Regungen (Trauer)
verdrängt und durch einen Projektionsvorgang dem Verstorbenen selbst
zugeschoben. Nun ist er selbst gefährlich für die Überlebenden geworden;
er könnte sie sozusagen nach sich ziehen. Bei dem Patienten zeigte
ı Kleine kriechende Tiere (Raupen usw.) sind den fliegenden insofern gleich-
zusetzen, als sie auch plötzlich am Körper des Kindes erscheinen und dadurch Furcht
erregen.
222
sich für das von ihm getötete Tier ebenfalls ein „liebevolles“ Gefühl;
gleichzeitig aber wurde die Absicht des Tötens dem getöteten Tiere
zugeschoben, so daß eine Angst vor seiner Rache die Folge war.
Der gleiche Patient hatte während der Behandlung einen Traum,
in welchem er einen Tiger mit einer Stange erstechen sollte. Alle
anderen Details des Traumes übergehend, füge ich nur hinzu, daß
das Tier plötzlich an den Himmel versetzt war. Der
Patient kam im Traum nicht dazu, das Tier zu töten.
Hier begegnen wir dem wichtigen Vorgang der Versetzung
an den Himmel; er betrifft ein Objekt, zu dem der
Träumersichineinerambivalenten Einstellung befindet.
Dieser Vorgang ist uns aber keineswegs fremd. Ich brauche nur an
den Patienten B. zu erinnern (vergl. S. 184), der seinen verstorbenen
Vater in einer an das Wahnhafte streifenden Phantasie direkt an den
Himmel, neben die Sonne versetzte. Es drängt sich uns die Schluß-
folgerung auf, daß die Symbolisierung des Vaters durch die Sonne
einer solchen Versetzung an den Himmel entspreche, deren Motivierung
uns nun keine Schwierigkeit mehr bereitet. Wir sind in der Lage, sie
aus der ambivalenten Einstellung des Sohnes zum Vater zu erklären.
Auch hier folge ich zunächst wieder den spontanen, in Form von
-Einfällen gemachten Angaben des Patienten E.; sie motivierten die
Versetzung des Vaters (Tiger, Wespe) an den Himmel zunächst damit,
daß man auf diese Weise von dem gefährlichen Tier möglichst
weit entfernt sei. Sofort folgte ein Einfall, der die Berechtigung
dieser Motivierung erhärtete. Der Patient berichtete nämlich jetzt, wie
er als Knabe verfuhr, um Wespen und Fliegen aus möglichst
weiter Entfernung zu töten. Zu ängstlich, die Tiere direkt
anzugreifen, befestigte er eine Kerze an einer langen Stange, zündete
die Kerze an und näherte sie einem an der Fensterscheibe sitzenden
Insekt; das Tier fiel dann tot oder wehrlos herab!.
Je weiter das Tier, d. h. der Totem oder Vater, entfernt ist, um
so weniger Gefahr geht von ihm aus. Gleichzeitig aber wird der Totem
auf diesem Wege erhöht, er wird von dem irdischen Niveau auf ein
höheres erhoben. Dieser Vorgang muß in seinen Einzelheiten nunmehr
genauer verfolgt werden.
Die ambivalente Bedeutung der Versetzung des Totem an den
Himmel veranschaulicht in besonders instruktiver Weise das folgende
Beispiel aus der Kinderstube. Zwei Geschwister mit stark phantastischer
Anlage beobachten die Wolken und gewöhnen sich daran, ihnen
! Durch diese Angabe wird auch die „Stange“ erklärt, mit welcher der Patient
in dem oben mitgeteilten Traum den am Himmel befindlichen Tiger töten soll.
5-
223
Namen zu geben. In diesen Namen, die ich, aus Gründen der ärzt-
lichen Diskretion, mitzuteilen mir leider versagen muß, ließ sich mit
Leichtigkeit eine Verdichtung zweier Elemente nachweisen. Sie enthielten
eine durchsichtige Entstellung der Wörter „Papa“ respektive „Mama“,
die mit dem Wort „Tier“ verschmolzen war. Hier sind also in naiver
| Weise Vater und Mutter zunächstals Tiere dargestellt |
und dann als außerirdische Gebilde (Wolken) an den |
Himmel versetzt. Das mitgeteilte Beispiel gewinnt an Interesse |
noch dadurch, daß die beiden Geschwister nachweislich ambivalent hl
auf ihre Eltern eingestellt waren, indem sie ihnen einerseits Zärtlichkeit ii
und Verehrung entgegenbrachten, anderseits dazu neigten, insbesondere N
den Vater zu einer lächerlichen Figur zu stempeln. |
In einem Traum einer neurotischen Frau fand ich kürzlich‘
bewundernde Verehrung des Vaters (als Sublimierung einer starken
erotischen Fixierung) und Todeswünsche in sehr charakteristischer
Weise ausgedrückt. Hier repräsentierte ein ungeheurer Kronleuchter,
der sich am Himmel befand und aus lauter Sternen zusammengesetzt
war, den Vater; die Erscheinung des Kronleuchters war übrigens von
einer Menge phallischer Symbole umgeben.
In allen diesen Produkten der individuellen Phantasie, mag es
sich um spielende Gedanken der Kinder, um Träume Erwachsener
oder um Beängstigungen Neurotischer handeln, erblicken wir das
gleiche seelische Geschehen wie in den völkerpsychischeri Prozessen,
| die der Religionsbildung zugrunde liegen. Ich darf mich darauf
| beschränken, hier in aller Kürze auf jene mythologischen Gebilde zu
| verweisen, welche die Spuren der Versetzung des Totem an den
Himmel fast unverhüllt erkennen lassen. Ich nenne den Blitzvogel
‚der indischen, die Sonnenkuh der ägyptischen, den Wolkenbaum der
gesamten indogermanischen Mythologie.
Die Wirkungen der Versetzung des Vaters (respektive der Mutter)
an den Himmel sind sehr vielseitig. Ich beschränke mich hier zunächst
auf die Darstellung des Vaters durch das Sonnensymbol. Mit Rücksicht
| - auf den uns bekannten ambivalenten Charakter des ganzen Vorganges
| darf man seine Wirkungen in zwei Gruppen sondern.
| Die erste Gruppe entspricht den freundlichen, liebevollen Gefühls-
| regungen, die dem Vater zugewandt waren, der Anerkennung der \
| väterlichen Macht. ı
Wird der Vater durch das Symbol der Sonne dargestellt, so |
| bedeutet dies, wie leicht ersichtlich, eine gewaltige Erhöhung seiner
| Macht. Von der Sonne ist alles Leben, das uns umgibt, abhängig. Durch
die Identifizierung mit der Sonne wird der Vater geradezu zum Prinzip
224
alles Leben erhoben, wobei auf die Anerkennung der zeugenden
Kraft des Vaters ein besonderer Akzent zu legen ist. Zweifel und
Unglauben vermögen der Macht des Vaters nunmehr keinen Abbruch
zu tun. Da aber der Sonne auch die Eigenschaft zukommt, die irdischen
Wesen zu überdauern, so wird dem Vater durch die Identifizierung
mit der Sonne ewiges Leben, Unsterblichkeit zugeschrieben. Als Sonne
an den Himmel versetzt, vermag der Vater alles zu schauen, während
er durch die blendende Wirkung seines Lichtes dem Blicke des Sohnes
entzogen ist. Zugleich aber ist der an den Himmel versetzte Vater
den aggressiven Gelüsten des Sohnes entzogen; er ist über sie erhaben,
wie im Sprichwort der Mond, den das Bellen des Hundes nicht zu
kümmern braucht.
Aberall diese Machtfülle istnur Schein. Denn die
Versetzung an den Himmel, die Erhebung zur Gottheit wird — wie
Freud in seinem Aufsatze über den Totemismus überzeugend
. nachgewiesen hat — dem toten (rectius: getöteten) Vater zuteil. Die
Ergebnisse der Psychoanalyse beim Individuum berechtigen uns zu der
ganz analogen Auffassung, daß es der als tot gedachte (eigentlich vom
Sohne tot gewünschte) Vater ist, dem die Erhöhung zur Sonnengottheit
gilt. Die Regungen von Haß, Feindschaft, Eifersucht sind es, die in
den Todesphantasien ihren Ausdruck finden. Sie berauben den Vater
seiner Macht, so daß er eigentlich ohnmächtig, unschädlich wird.
Durch nachträgliche Kompensierung wird ihm dann eineallmächtige
Gewalt eingeräumt.
Ich verweise an dieser Stelle darauf, daß die Völker nicht nur
ihre Gottheiten und andere höhere Wesen an den Himmel versetzen,
sondern daß es nach einer bis zur Gegenwart herrschenden Vorstellung
die Menschen selbst sind, die nach dem Tode „in den
Himmelkommen‘“. Das Seelenleben des einzelnen bringt völlig
analoge Produkte hervor. Ein Traumbeispiel möge dies erläutern.
Einer meiner Patienten brachte während einer bestimmten
Periode der Behandlung eine Menge von Träumen hervor, die seinen
unbewußten inzestuösen Regungen Ausdruck verliehen. Nachdem
er viele Male im Traum gewaltsam von seiner Stieimutter Besitz
ergriffen hatte, folgte ein Traum, welcher inhaltlich von den bisherigen
Träumen scheinbar abwich, in Wirklichkeit aber eine Ergänzung zu
ihnen bildete. In diesem Traume stieg der Patient auf einer Leiter
in den Himmel. Er fand dort Gott auf dem Throne sitzend; die
Gesichtszüge waren aber diejenigen seines Vaters. Aus den Ergebnissen
der Analyse erwähne ich nur als hier interessierend, daß der Patient
seinen Vater in den Himmel versetzt hat, d. h. ihn aus der Liste der
225
Lebenden gestrichen hat. Gleichzeitig erhöht er den Vater zum Gott,
Aber die Macht des Vaters wird dadurch nur scheinbar erhöht. Denn
der Patient steigt ja selbst zur Höhe des Vaters hinauf. Das Besteigen
der Leiter ist ein häufiges Koitussymbol, das hier im Sinne des Inzest-
wurnsches angewandt ist. Der Patient nimmt symbolisch von der
Stiefmutter Besitz, weil der Vater nicht mehr am Leben ist. Die
göttliche Macht des Vaters ist unwirksam; sie kann ihn an der
Ausführung seines Vorhabens nicht hindern.
Gerade in Hinblick auf diesen Traum, in welchem der Sohn nach
den Rechten des zum Gott erhobenen Vaters greift, erscheint mir die
Bemerkung notwendig, daß der Sohn durch jede solche Erhöhung
des Vaters sich selbst erhöht, jenem also an Macht ähnlich wird. Es
genügt, anı die Herrscher- und Priestergeschlechter zu erinnern, die sich,
zur Erhöhung ihrer eigenen Macht als Söhne der Sonne bezeichneten!,
Nachdem es gelungen ist, die Sonnenphobie zu verstehen, läßt die
Gespensterphobie sich ohne besondere Schwierigkeit auflösen.
Das Gespenst ist der tote (oder tot gedachte) Vater. Wird der Vater
durch die Sonne vertreten, so ist sein Anblick unerträglich. Ist er
zum Gespenst umgewandelt, so ist er dem Anblick im allgemeinen
entzogen. Sein unerwarteter Anblick erregt heftige Angst. Nach meinen
Beobachtungen, welche nach dieser Richtung hin jedoch der Ergänzung
bedürfen, scheinen manche Neurotiker zuerst eine Scheu vor dem
Sonnenlicht, respektive dem Lichte überhaupt zu haben, um später
noch die Angst vor Gespenstern zu produzieren. Mit dem Fortschreiten
des gegen den Schautrieb gerichteten Verdrängungsprozesses muß das
Symbol, welches den Vater oder die Mutter vertritt, immer unmaterieller
werden. £
Einer meiner Patienten produzierte innerhalb eines kurzen
Zeitraumes zwei Träume, in deren einem der Vater als Licht erschien,
während er im andern als Gespenst auftrat. Im ersten dieser Träume
‚befindet der Patient sich in der Schule (die er schon vor mehreren
Jahren verlassen hat). Der Schuldirektor, welchem auch in anderen
Träumen eine ausgesprochene Vaterrolle zukam, betritt das Klassen-
zimmer und redet den Patienten an. Dieser widersetzt sich zunächst
in trotziger Weise den Anordnungen des Direktors, muß aber dann
gehorchen, während über dem Kopf des Direktors ein blendend helles
Licht erscheint, bei dessen Anblick der Patient in Ohnmacht fällt.
ı Kurz erwähnen möchte ich, daß bei manchen Neurotikern der Vater nicht
durch die Sonne, sondern durch den Blitz repräsentiert wird, also durch eine andere
Lichterscheinung am Himmel. Der Blitz repräsentiert hier besonders die strafende
(tötende) Macht des Vaters,
226
Repräsentiert hier das blendende Licht die väterliche Macht,
so gilt das Gleiche vom Gespenst in dem anderen Traum. Bemerkens-
wert ist in diesem Falle, daß das Gespenst den Träumer durch
seine weiße Gestalt blendet. Im allgemeinen werden die
Gespenster als weiße, aber fahle, blasse Erscheinungen gedacht. Die
Gespensterphobie findet sich am ausgeprägtesten bei den neurotischen
Grüblern, welche, wie früher ausgeführt, überhaupt die Tendenz zeigen,
das sinnlich Wahrnehmbare, das Klare und Greifbare durch
Unbestimmtes, Verschwommenes, Unmaterielles zu ersetzen.
Wer über eigene psychoanalytische Erfahrung verfügt, wird
unschwer erkennen, daß die vorstehenden Ausführungen das umfassende
Gebiet, auf welches sie sich beziehen, keineswegs zu erschöpfen
vermögen. Sicherlich läßt sich den hier analysierten Phänomenen
manches Weitere an die Seite stellen, besonders aber muß hervor-
gehoben werden, daß diese Studie sich gedrängtester 'Kürze befleißigt
hat. So mußte manches, was zur Aufklärung der Symptome hätte
beitragen können, unerwähnt bleiben; anderes konnte nur angedeutet
werden. Der fragmentarische Charakter des Gebotenen mag aber
gerade zeigen, wie sehr uns symptomatologische Untersuchungen
not tun. Der Weg, den sie zu gehen haben werden, ist vorgezeichnet
durch die uns unentbehrlich gewordene Aufstellung der „Partial-
triebe“ und der „erogenen Zonen“. Im Vorstehenden habe ich
mich bemüht, das an dem Beispiel eines Partialtriebes und einer
erogenen Zone zu erweisen.
Über neurotische Exogamie.
Ein Beitrag zu den Übereinstimmungen im Seelenleben der Neurotiker
und der Wilden!,
Während man früher der Ehe unter Blutsverwandten nur insoweit
ein Interesse entgegenbrachte, als man in ihr ein hereditär belastendes
Moment erblickte, habe ich in einem Aufsatz? darauf hingewiesen, daß
die Verwandtenehe selbst als Phänomen der Neurosen-Psychologie
gewürdigt werden müsse. Ausgehend von den Eigentümlichkeiten der
Sexualität bei den Neurotikern, welche uns durch die Psychoanalyse
bekannt geworden sind, gelangte ich zu der Auffassung, daß bei vielen
. solchen Personen die Übertragung der Libido auf blutsfremde Personen
mißlinge, weil sie auch nach der Pubertät in inzestuöser Gebundenheit
verharre. Für den Neurotiker, der sich dem Objekt seiner ursprünglichen
inzestuösen Wünsche ebenso fern halten muß wie dem blutsfremden
Weibe, bedeutet die Ehe mit einer Verwandten ein Kompromiß.
Schon in der erwähnten Schrift machte ich darauf aufmerksam,
daß man die Neigung zur Inzucht in eine Reihe mit gewissen
anderen Erscheinungen stellen müsse, um ihr psychologisch gerecht
zu werden. An dem einen Ende dieser Reihe hat der reale Inzest
seinen Platz; er ist in psychopathischen Familien nicht gar so selten,
wie man anzunehmen pflegt. Das entgegengesetzte Extrem ist die
völlige und dauernde Ablehnung aller Begelungen zum andern
Geschlecht. |
Dem erstgenannten Extrem steht psychologisch nahe die Neigung
zu solchen blutsverwandten Personen, welche nicht dem allernächsten
Verwandtschaftsgrade angehören. In einem ganz ähnlichen Verhältnis
zu dem oben genannten andern Extrem der Reihe steht eine Erschei-
nung, welche ich mit dem Namen ‚neurotische Exogamie#
1 Aus „Imago“, Zeitschrift für Anwendung der Psychoanalyse auf die Geistes-
wissenschaften. III. Jahrgang 1914, 6. Heft.
2 „Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen,“ Vgl.
S, 45 dieses Buches,
15*
228
belegen möchte. Sie besteht darin, daß der Mann! eine unüberwindliche
Scheu empfindet, in nahe Beziehungen zu einem Weibe zu treten, das
der gleichen Rasse oder Nationalität angehört wie er selbst, oder —
richtiger gesagt — wie seine Mutter. Hier werden also gegen die
Möglichkeit des Inzestes ganz besondere Maßregeln getroffen. Der
Neurotiker flieht vor dem mütterlichen. Typus zu solchen Frauen,
welche in Erscheinung und Wesen der Mutter (oder Schwester) möglichst
entgegengesetzt sind. Diese Flucht ist eine Folge seiner übermäßigen
Inzestscheu.
Ein Beispiel möge zunächst den geschilderten Sachverhalt erläutern:
Ein dem blonden, norddeutschen Typus angehöriger Neurotiker
zeigt die höchste Antipathie gegen den gleichen Typus bei Frauen.
Nichts darf ihn beim Weibe an sein ursprüngliches Liebesobjekt, die
Mutter, erinnern. Er erträgt bei Frauen nicht einmal den heimischen
Dialekt. Nur dunkelhaarige, brünette fremdrassige Frauen ziehen ihn
an. Er hat im Laufe der Jahre verschiedenen Frauen seine Sympathie
geschenkt; sie gehörten stets fremder Rasse oder Nationalität an. Dabei
trat mit größter Deutlichkeit die von Freud hervorgehobene Neigung.
zur „Reihenbildung“* hervor. Der Patient erwies sich als unfähig, seine
Libido nachhaltig und erfolgreich auf eine bestimmte weibliche Person zu
richten. Die Fixierung an die früheste Liebe erwies sich als übermächtig.
Ich habe eine ganze Anzahl ähnlicher Fälle analysieren können
und bin allmählich zu der Auffassung gelangt, daß in dieser
Abneigung gegen Frauen des eigenen (oder mütterlichen) Typus resp.
der eigenen Rasse etwas Gesetzmäßiges liege. Eine interessante
Beobachtung ganz derselben Art hat Dr. Karl Weiß: veröffentlicht.
In seiner Mitteilung handelt es sich um einen Mann, der unfähig
ist, ein Mädchen aus seiner Heimatstadt und Heimatprovinz, oder
aus der Heimatgegend seines Vaters oder seiner Mutter zu heiraten.
Ebenso empfindet er eine Scheu vor Mädchen, die ähnliche Augen
oder Haare haben wie seine Schwestern.
Die Motivierung dieser sexuellen Scheu ist manchen Neurotikern
durchaus unbewußt, anderen dagegen voll bewußt.
Ein Patient erklärte mir, er — der selbst Jude war — werde nie
eine Jüdin heiraten können, weil er in jeder Jüdin unwillkürlich seine
Schwester erblicke. Tatsächlich befand sich dieser Patient in einer-
ungewöhnlich starken inzestuösen Fixierung an Mutter und Schwester,
1 Wie in der zitierten früheren Arbeit berücksichtige ich auch hier wieder in
erster Linie die Erscheinungen, wie sie sich bein männlichen Geschlecht äußern; die
Begründung dafür habe ich am erwähnten Orte gegeben.
2 Internat. Zeitschr. f. ärztl. Psychoanalyse, Bd. Il., p. 161.
229
wovon auch seine Neurose (Straßenangst) Zeugnis ablegte. Im Pubertäts-
alter war es zu einer sexuellen Annäherung der Geschwister gekommen.
Ein zweiter Patient, ebenfalls von jüdischer Abkunft, machte.
hinsichtlich seiner Neigungen ganz ähnliche Angaben wie der Vor-
erwähnte. Er verliebte sich wiederholt in Mädchen, welche dem jüdischen
Typus in ihrer Erscheinung ganz entgegengesetzt waren, so z. B. in
eine blonde Dänin.
In einem dritten Falle war der Sachverhalt ganz der gleiche;
nur befand sich der Patient über die Herkunft seiner Rassenneigung
und -abneigung im Unklaren.
In allen von mir genauer untersuchten Fällen bestand neben
der übermäßigen positiven Fixierung der Libido an die nächsten
Angehörigen gleichzeitig ein ausgesprochener Haß gegen die eigene
Familie, Dieser richtet sich .bald vorwiegend auf die Mutter und
erklärt sich dann aus enttäuschter inzestuöser Neigung; bald gilt er
mehr dem Vater und leitet sich dann zwanglos aus der Ödipus-
Einstellung des Sohnes her. |
Ein solcher Haß wird für den Sohn zum wirksamen Motiv,
sich von seinesgleichen zu trennen. Er sucht nun nicht bloß den
Zusammenhang mit seinen Blutsverwandten, sondern auch denjenigen
mit seinen Stammesgenossen aufzuheben. j
Zweierlei häufige Erscheinungen werden durch diese Betrach- "
tungsweise in ein neues Licht gerückt.
‘ Ich habe zunächst einen Teil der sogenannten Mischehen im
Auge. In den christlichen Ländern handelt es sich namentlich um #
Mischehen zwischen Christen und Juden. Bald ist es mehr die Flucht I
vor dem Inzest, bald mehr die feindliche Ablehnung der eigenen
Familie, welche in nicht wenigen Fällen zur Schließung einer Mischehe
| treibt. Ich könnte für diesen Hergang zahlreiche Belege beibringen. |
| Sodann verdient unser Interesse jener Typus von Männern, |
welche frühzeitig, meist im Unabhängigkeitsdrang des Pubertätsalters,
aus ihrer Heimat auswandern und irgendwo in einem exotischen
Lande mit einem fremdrassigen Weibe die Ehe eingehen. Ich ver-
füge über eine Reihe sehr instruktiver Beobachtungen dieser Art.
Durch die neuesten Untersuchungen Freuds sind wir auf
gewisse Übereinstimmungen im Seelenleben der Neurotiker |
und der Primitiven aufmerksam geworden. An dieser Stelle ist j
in erster Linie an die verstärkte Inzestscheu der Neurotiker und J
| der Primitiven zu erinnern. Diese Inzestscheu kommt am stärksten "
zum Ausdruck in der Gesetzgebung jener Völker, deren wichtigste |
Sorge augenscheinlich die Inzestverhütung ist. Die wirksamste und
230
weitreichendste Maßregel dieser Art ist diejenige bei vielen primi-
tiven Stämmen bestehende Einrichtung, welche man als Exogamie
bezeichnet. Sie verbietet die geschlechtlichen Beziehungen nicht nur
unter Blutsverwandten im eigentlichen Sinne, sondern sogar unter
Angehörigen des’ gleichen Stammes.
Wir sahen, daß manche Neurotiker, einer inneren Nötigung
folgend, ihre Neigung lediglich solchen Personen zuwenden, welche
einem anderen Stamme angehören. Die innere Nötigung hat bei
diesen Individuen den gleichen Effekt wie der äußere, gesetzliche
. Zwang bei den primitiven Völkern. Wir dürfen also mit Fug und
Recht die uns beschäftigende Erscheinung bei Neurotischen als
Exogamie bezeichnen. Das neurotische und das ethnologische Phä-
nomen, die wir mit gleichem Namen belegen, stimmen bezüglich
ihres Ursprungs und ihres Zieles vollkommen überein.
Untersuchungen über die früheste prägenitale
Entwicklungsstufe der Libido‘.
l
In den „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“, welche zuerst im
Jahre 1905 erschienen, hatten Freuds Anschauungen von der
Sexualität des Kindesalters eine zusammenfassende Darstellung _
gefunden, die wir auch heute noch als grundlegend betrachten dürfen.
In neuester Zeit haben diese Anschauungen eine Vervollständigung
erfahren, von der auch die dritte Auflage (1915) der genannten Schrift
Zeugnis ablegt.
Die Fortschritte der psychoanalytischen Erfahrung nötigen zu der
Annahme gewisser Stadien in der frühen Entwicklung der kindlichen
° Libido. Freud bezeichnet sie, weil sie eine vorherrschende Bedeutung
der Genitalorgane noch nicht erkennen lassen, als „prägenitale
Organisationen“ der Libido.
Die folgenden Ausführungen beschäftigen sich mit der frühesten
der von uns angenommenen Entwicklungsstufen. Sie stützen sich auf
ein umfangreiches Beobachtungsmaterial, welches ausschließlich einer
Zeit entstammt, welche der theoretischen Aufstellung der erwähnten
Entwicklungsstadien vorausging. Eine vorgefaßte Meinung im Sinne
der Theorie von den prägenitalen Organisationen kann also bei der
Gewinnung des Materials nicht beteiligt gewesen sein. Es scheint mir
nicht überflüssig, darauf hinzuweisen; denn jede weitere Ausgestaltung
der Sexualtheorie dürfte mit ähnlichen Einwänden aufgenommen werden,
wie sie nach dem ersten Erscheinen der „Drei Abhandlungen“ laut wurden.
Meine Beobachtungen und die Schlüsse, weiche sich aus ihnen
ergeben, kann ich jedoch nicht mitteilen, ohne einen Rückblick auf
die Grundlagen zu werfen, auf welchen die Lehre von den prägenitalen
Stufen der Libidoentwicklung entstanden ist.
In seinen Ausführungen über die frühesten Phänomene des kind-
lichen Geschlechtslebens konnte Freud sich auf einen Gewährsmann
berufen, der lange vor ihm zu neuartigen und kühnen, aber überzeugenden.
ı Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, IV. Jahrgang 1916.
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232
Schlüssen auf diesem Gebiet gelangt war. Diese wichtige Vorarbeit
hatte Lindner 1879 mit seiner Studie über das Lutschen der Kinder
geleistet. Dem genannten Autor war der libidinöse Charakter des
Vorganges nicht entgangen; er machte darauf aufmerksam, wie das
Lutschen, obwohl es nicht dem Zweck der Sättigung diene, vom Kinde
mit einer Intensität betrieben werde, welche dessen Aufmerksamkeit
gänzlich absorbiere. Lindner beobachtete ferner eine mit dem Lutschen
einhergehende Erregung, die sich zu einer Art von Orgasmus steigerte,
und er bewertete das Einschlafen des Kindes nach diesem Vorgang
als einen Effekt der erreichten Befriedigung. Ferner betonte er die
Erscheinungen des Greiftriebes, welche sich mit dem Lutschen verbinden,
und erkannte die fließenden Übergänge vom Lutschen zur Masturbation,
also zu einer unzweifelhaften Sexualbetätigung.
Freud schloß sich Lindners Auffassungen an. Er vindizierte
der kindlichen Sexualität bestimmte Eigentümlichkeiten, die sich gerade
an dem Beispiel jener primitiven Triebäußerung, des Lutschens, besonders
deutlich erkennen ließen. Erstens sei der Trieb nicht auf ein fremdes
Objekt gerichtet, sondern er betätige sich autoerotisch, Zweitens
sei die primitivste Sexualäußerung keine selbständige Erscheinung; sie
lehne sich vielmehr an eine zur Erhaltung des Lebens wichtige Funk-
tion — das Nahrungsaugen — an, sei also eigentlich die Reproduktion
eines lustvollen Reizes, welchen das Kind beim Nahrungsaugen kennen
gelernt habe. Drittens sei die Erzielung der Lust an eine ‚e rogene
Zone“ — die Lippenschleimhaut — gebunden. Die Befriedigung des
Nahrungsbedürfnisses und die Befriedigung der erogenen Zone seien
in ihren Ursprüngen nicht voneinander zu trennen. Die Lippenschleim-
haut müsse übrigens eine dem Grad nach wechselnde, von Kind zu
Kind schwankende Erogeneität besitzen, da die Neigung zum Lutschen
in sehr verschiedener Intensität auftrete.
Eine ähnliche Doppelfunktion wie dem Eingang des Darmkanals
schrieb Freud dem Darmausgang zu. Auch dieser diene im frühen
Kindesalter nicht lediglich der Exkretion, sondern er stehe als erogene
Zone ebenfalls im Dienst der kindlichen Sexualität. Die mit der Darm-
entleerung notwendigerweise verbundenen Reizempfindungen suche das
Kind wieder zu erleben; durch Anhalten des Darminhaltes vermöge
das Kind diese Reize zu verstärken. Wie für die Lippenzone, so sei
eine individuell schwankende Erogeneität auch für die Analzone
anzunehmen. Die gewollie Steigerung des Lustnebengewinnes bei der
Defäkation sei, ganz wie das Lutschen, als Reizung einer erogenen
Zone gleichwertig der genitalen Masturbation, welche ebenfalls bereits
dem frühen Kindesalter eigentümlich ist.
233
Neben den autoerotischen Phänomenen der frühen Kindheit beschrieb
Freud gewisse Triebkomponenten, welche bereits auf andere Personen
als Sexualobjekte angewiesen seien (Schau- und Zeigelust, aktive und
passive Grausamkeitskomponente). Diese „Partialtriebe“ seien zunächst
noch nicht zu einem festen Verbande organisiert, sondern sie gehen
selbständig auf Lustgewinn aus. Erst später ordnen sich die erogenen
Zonen und die Partialtriebe dem Primat der Genitalzone unter;
indem die Sexualität in den Dienst der Fortpflanzung trete, erreiche
die Entwicklung ihren normalen Abschluß.
Diejenigen Entwicklungsstadien der Libide, welche der Einsetzung
des Primates der Genitalzone vorausgehen, hat Freud nun neuerdings
mit dem eingangs erwähnten Namen als „präg enitale“ bezeichnet.
Es handelt sich um Vorstufen der späteren, „normalen“ Sexualität,
welche in der Regel von der Libido des Kindes durchlaufen werden,
ohne daß die Umgebung von den sich vollziehenden Veränderungen
Notiz nimmt. Dieselben Vorgänge, welche unter normalen Verhältnissen
keine besondere Aufmerksamkeit auf sich ziehen, werden in
pathologischen Fällen „aktiviert und für grobe Beobachtung kenntlich“
(Freud).
Aus der Psychoanalyse der Neurosen konnten bisher zwei
prägenitale Organisationen erschlossen werden. Die früheste ist die
orale Organisation; man könnte sie — fügt Freud hinzu — auch die
kannibalische nennen. Wie früher ausgeführt wurde, ist in diesem
Stadium die Sexualtätigkeit von der Nahrungsaufnahme noch nicht
getrennt. „Das Objekt der einen Tätigkeit ist auch das der anderen,
das Sexualziel besteht in der Einverleibung des Objektes.“ (S. 60).
Freud fügt eine für das Verständnis des Lutschens wichtige
Bemerkung hinzu: „Als Rest dieser fiktiven, uns durch die Pathologie
aufgenötigten Organisationsphase kann das Lutschen angesehen werden,
indem die Sexualtätigkeit, von der Ernährungstätigkeit abgelöst, das
fremde Objekt gegen eines am eigenen Körper aufgegeben hat.“
Eine weitere Form der prägenitalen Organisation wurde aus der
Psychoanalyse der Zwangsneurose erschlossen. Freud sagt von ihr:
„Eine zweite prägenitale Phase ist die der sadistisch-analen
Organisation. Hier ist die Gegensätzlichkeit, welche das Sexualleben
durchzieht, bereits ausgebildet; sie kann aber noch nicht männlich
. und weiblich, sondern muß aktiv und passiv benannt werden.
Die Aktivität wird durch den Bemächtigungstrieb vonseiten der
Körpermuskulatur hergestellt, als Organ mit passivem Sexualziel
macht sich vor allem die erogene Darmschleimhaut geltend; für beide
Strebungen sind Objekte vorhanden, die aber nicht zusammenfallen.
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234
Daneben betätigen sich andere Partialtriebe in autoerotischer Weise.
In dieser Phase sind also die sexuelle Polarität und das fremde Objekt
bereits nachweisbar. Die Organisation und die Unterordnung unter die
Fortpflanzungsfunktion stehen noch aus.“
Mit den bisherigen Ausführungen ist der heutige Stand der |
Sexualtheorie, soweit er unser Thema angeht, in großen Umrissen |
skizziert. Während nun in der psychoanalytischen Literatur die
Beobachtungen, welche zur Aufstellung der sadistisch-analen Organisation
geführt haben, eine spezielle Berücksichtigung gefunden haben, —
besonders ist hier auf Jones’ wichtige Mitteilungen hinzuweisen —
harrt die früheste, „orale“ Entwicklungsstufe der Libido noch der
eingehenderen Untersuchung.
Ihre Annahme ist uns, wie Freud sich ausdrückt, von der
Pathologie aufgenötigt worden. Damit ist bereits zum Ausdruck
gebracht, daß es’ sich um Entwicklungsvorgänge handelt, die der
direkten Beobachtung im Kindesalter wenig zugänglich sind. Das
Kind kann in dieser frühen Zeit keinen Aufschluß über die Vorgänge
seines Trieblebens geben. Unter normalen Verhältnissen spielt die.
Entwicklung in den ersten Lebensjahren sich auch so ruhig ab, daß
meistens keine augenfälligen Erscheinungen dem Beobachter die sich
vollziehenden Veränderungen kundgeben. Später, wenn erst die
Verdrängung ihre Macht entfaltet hat, kann das Individuum naturgemäß
über die frühesten Ereignisse am wenigsten Auskunft geben.
Die Tatsachen der normalen Erotik zeigen zwar deutlich, daß
der Mund seine Bedeutung als erogene Zone keineswegs aufgibt.
Mehr noch läßt das Studium der sexuellen Perversionen erkennen,
daß der Mund vollkommen die Bedeutung eines Sexualorganes —
eine Genitalrolle — übernehmen kann. Und weiter zeigt die Psychoanalyse
der Neurosen, daß häufig der Mund seine Bedeutung als erogene Zone
nur im Bewußtsein verloren hat, daß diese im Unbewußten dagegen
fortdauert und sich dem Bewußtsein durch Ersatzbildungen kundgibt, |
die wir als neurotische Symptome kennen. Der Psychoanalyse verdanken
wir die Kenntnis, daß diesen Erscheinungen der Wert von Infantilismen |
zukommt; sie erklären sich teils aus einem Fortbestehen infantiler |
Triebe im Unbewußten, teils sind sie der Ausdruck einer nachträglichen |
Rückkehr zu bereits überwundenen Entwicklungsstadien der Libido.
Daß jene verdrängten Infantilismen durch mannigfache Umwandlungen |
unkenntlich gemacht, ja in ihr gerades Gegenteil verkehrt sein können, ° |
erwähnteFreud1905 gerade im Zusammenhang mit den Erscheinungen, |
welche sich an der Mundzone abspielen. Neurotische, deren Mundzone
ursprünglich durch besondere Erogeneität ausgezeichnet gewesen sei,
235
die sich etwa durch jahrelang fortgesetztes Lutschen äußerte, seien im,
späteren Alter oft mit nervösem Erbrechen behaftet.
Mögen alle diese Erfahrungen uns nun auch ein gutes Recht
geben, Rückschlüsse auf ein frühes, „orales“ Stadium der Libido zu
ziehen, so geben sie uns doch kein greifbares Bild, keine unmittelbare
Anschauung dieses archaischen Zustandes, von welchem sich das
Triebleben des normalen Erwachsenen außerordentlich weit entfernt
hat. Ich möchte deshalb im folgenden auf Erscheinungen psycho-
pathologischer Natur hinweisen, die bisher nahezu unbekannt oder
doch unbeachtet geblieben sind. Sie zeigen, daß bei erwachsenen
Menschen ein positives und unverkennbares Verharren im Triebleben
des Säuglings vorkommt, und daß die Libido dieser Personen ein
Bild darbietet, welches dem von Freud angenommenen oralen oder
kannibalischen Stadium bis in die letzten Einzelheiten entspricht. Ich
werde zunächst die äußerst krassen Erscheinungen eines derartigen
-Falles mitteilen, soweit sie in diesem Zusammenhange von Interesse
sind. Von ihnen aus wird alsdann ein Licht auf eine ganze Reihe von
psychopathologischen Erscheinungen fallen, denen bisher noch keine
spezielle Untersuchung zuteil geworden ist. Endlich wird auf eine
Frage einzugehen sein, die sich aus den neuen Veröffentlichungen zur
Psychogenese der Zwangsneurose ergibt. Die Untersuchungen von
Freud! und Jones? haben gezeigt, daß aus der Abwehr sadistisch-
analer Triebregungen Zwangserscheinungen hervorgehen. Die Erwartung
liegt nahe, daß die Abwehr eines drohenden Rückfalles in die orale
Organisation ebenfalls zur Bildung ganz bestimmter typischer Symptome
führe. Die Richtigkeit dieser Erwartung scheint in gewissen Ergebnissen
der Psychoanalyse ihre Bestätigung zu finden. Es soll versucht werden,
auf Grund der Ermittelungen über die früheste prägenitale Organisation
einen zwiefachen Beitrag zur psychoanalytischen Theorie zu liefern,
nämlich zur Frage der Entstehung psychischer Depressionszustände
und zum Problem der „Neurosenwahl“.
I.
Was ich hier zunächst an Materialien wiedergebe, entstammt der
Psychoanalyse eines Falles von Dementia praecox („Schizophrenie“
Bleulers). Der Patient bot jedoch nicht das allbekannte Bild einer
Psychose mit Wahnvorstellungen, Sinnestäuschungen, usw., sondern
jene Spielart der Krankheit, welche man als „einfache“ Dementia
ı „Die Disposition zur Zwangsneurose.“ Internat. Zeitschr. f. ärztl, Ps.-A.,
Bd. I, 1913.
2 „Haß und Analerotik in der Zwangsneurose,“* Ebenda erschienen.
236
praecox bezeichnet hat. Die Kranken dieser Gruppe, die auch Bleuler
neuerdings wieder als „Schizophrenia simplex* gesondert behandelt
hat, lassen die bereits erwähnten groben Symptome der Geistesstörung
vermissen. Sie weisen dagegen bestimmte assoziative Störungen und
namentlich Veränderungen des Gefühls- und Trieblebens auf, wie man
sie in ausgeprägten Fällen des Leidens neben den Wahnbildungen usw.
findet. Die assoziative Tätigkeit solcher Kranken vollzieht sich insoweit
in geordneten Bahnen, daß man mit ihnen die Psychoanalyse
ebensowohl wie mit einem Psychoneurotiker durchführen kann. Ja,
diese Arbeit wird sogar durch den Wegfall mancher Hemmungen bei
diesen Patienten erleichtert. Vieles, was beim Neurotiker durch intensive
Verdrängung vor dem Bewußtwerden und damit vor der Aussprache
behütet wird, liegt bei solchen Kranken dem Bewußtsein ganz nahe
und wird unter Umständen widerstandslos ausgesprochen.
Mein Patient entstammte einer Familie, in welcher bereits Fälle
von schwerer, katatonischer Dementia praecox vorgekommen waren.
Intellektuell keineswegs schlecht begabt, hatte er eine höhere Schule
absolviert. Dem Zwang der Schule entwachsen, kam er im akademischen
Studium in keiner Weise vorwärts; vielmehr bildeten sich an ihm
gewisse Eigenschaften, durch welche er schon als Schüler aufgefallen
war, immer stärker aus. Als er in meine Behandlung trat, glich sein
Verhalten in vielen Beziehungen demjenigen eines albernen Kindes.
Weder sein Studienfach noch irgend welche Vorgänge in der Außenwelt
vermochten ein ernstes Interesse in ihm zu erregen. Er belustigte sich
höchstens an Kleinigkeiten und Äußerlichkeiten, wandte aber seine
Aufmerksamkeit hauptsächlich in stark narzißtischer Weise dem eigenen
Ich zu. Kleine Einfälle, Wortspielereien u. dgl. konnten ihn intensiv
und lange beschäftigen. Mehr als alles andere aber zog die eigene
Körperlichkeit sein Interesse auf sich. Seine genitalen und analen
Sensationen hatten für ihn die höchste Wichtigkeit. Er war übrigens
ebenso der analen wie der genitalen Masturbation ergeben. In den
Pubertätsjahren vergnügte er sich mit Kotspielereien, beschäftigte sich
auch später viel mit seinen Körperabsonderungen, hatte z.B. auch Lust
daran, das eigene Sperma zu genießen. Eine ganz besondere Rolle als
erogene Zone spielte aber bei ihm der Mund. Wie man esin solchen
Fällen oft erlebt, so war auch diesem Patienten der sexuelle Charakter
gewisser Erscheinungen bewußt, welche der objektive Beobachter nicht
sogleich in diesem Sinne bewertet haben würde. Der Patient lenkte
meine Aufmerksamkeit auf die erogene Bedeutung des Mundes, als er
eines Tages von „Mundpollutionen“ berichtete, als wären diese etwas
Selbstverständliches und Bekanntes. Er schilderte auf Befragen einen
ie
237
Vorgang, der sich bei ihm häufig wiederhole. Er erwache nachts aus
einem erregenden Traum und bemerke, daß ihm der Speichel aus dem
Munde laufe. Seinen Assoziationen freien Lauf lassend, ging der Patient
dazu über, mir eine Fülle weiteren Materials über die erogene Bedeutung
des Mundes vorzutragen; ich gebe die besonders beweisenden
Tatsachen hier wieder. 2
Aus den Angaben des Patienten ging hervor, daß er sich als
Knabe nicht vom Milchgenuß zu trennen vermochte. Als Schüler
— so berichtete er — habe er nie genug Milch zu trinken bekommen
können. Die Neigung sei auch jetzt noch vorhanden, habe sich aber
in gewisser Hinsicht verändert.
Bis zu seinem fünfzehnten Lebensjahre habe er die Milch nicht
einfach aus dem Gefäß getrunken, sondern er habe eine besondere
Methode gehabt, sie einzusaugen. Er trank, indem er die Zunge
aufwärts krümmte und sie hinter den Oberzähnen an den Gaumen
preßte und dann die Milch einsog. Die Milch durfte weder kalt noch
heiß, sondern sie mußte körperwarm sein. Auf diese Weise habe er ein
besonders angenehmes Gefühl erzielt. Spontan fügte er hinzu: „Es ist
so wie ein Lutschen an der Brust.“ „Ich sauge an meiner eigenen
Zunge wie an der Brustwarze.“ Mit 15 Jahren habe er sich diese Art
des Saugens abgewöhnt, habe auch angefangen, Getränke in kaltem
Zustande zu sich zu nehmen.
Das Verlangen nachMilch war damit jedoch keineswegs überwunden;
ja, seine sexuelle Determinierung wurde in den folgenden Jahren
überdeutlich durch häufige Vorkommnisse, von welchen der Patient wie
von etwas ganz Selbstverständlichem berichtete. Er erwache nachts oft
mit heftigem sexuellen Drang. Dann trinke er Milch, die er im
Schlafzimmer bereitstehen habe. Oft sei er auch schon nachts aufgestanden
und habe in der Küche nach Milch gesucht. Fand er einmal keine
Milch vor, so setzte er seiner sexuellen Erregung durch Masturbation
ein Ziel; andernfalls befriedigte er sich durch Milchgenuß. Er
selbst empfand das Verlangen, Milch zu saugen, als den tiefsten und
ursprünglichsten Trieb. Die genitale Masturbation, so stark sie ihn
auch beherrschte, erschien ihm wie etwas erst Hinzugekommenes.
Die Tatsachen sprechen in diesem Falle, soweit ich ihn bereits
mitgeteilt habe, für sich selbst. An der sexuellen Bedeutung des
Milchsaugens, an der Rolle des Mundes als erogene Zone kann auch
nicht der geringste Zweifel bestehen. Das nächtliche Verhalten des
Patienten, wie er es selbst geschildert hat, ist aber, wie sich leicht
ersehen läßt, eine Fortsetzung desjenigen Verhaltens, welches neurotisch
veranlagte Kinder im ersten und zweiten Lebensjahr darbieten. Solche
238
Kinder pflegen der Gewöhnung an einen ununterbrochenen Nachtschlaf
große Schwierigkeiten zu bereiten. Sie erwachen während der Nacht
einmal oder mehrmals und geben durch ihr Geschrei, oder wenn sie
dazu bereits imstande sind, durch andere Zeichen zu erkennen, daß sie
nach der Brust oder Milchflasche verlangen. Gibt man einem solchen
Kinde Milch zu saugen, so tritt alsbald ein Zustand der Befriedigung
und Ruhe ein; andernfalls vermag das Kind sich selbst eine Ersatz-
befriedigung zu verschaffen, indem es den Mund durch den eingeführten
Finger reizt, oder einer anderen erogenen Zone, etwa der Genitalzone,
ihr adäquate masturbatorische Reize zuteil werden läßt.
Das Verhalten unseres Patienten deckt sich mit dem des Säuglings
vollkommen. Indem er aber noch als Erwachsener diejenige Form der
Befriedigung am intensivsten empfindet, welche den Charakter der
Einverleibung trägt, gibt er deutlich kund, daß seine Libido in dem
frühesten prägenitalen Stadium, dem oralen oder kannibalischen, eine
starke Fixierung erfahren hat. Das Saugen dient dem Patienten als
Methode der Nahrungsaufnahme und als Methode der sexuellen
Lustgewinnung. Die erstere Bedeutung des Saugens tritt freilich zurück
gegenüber der letzteren. Es muß hier an die bereits erwähnten, vom
Patienten so genannten „Mundpollutionen“ erinnert werden. Wir
‚ betrachten den Speichelfluß im allgemeinen als Zeichen der Eßlust. Bei
dem Patienten aber, dessen Mundzone in so hohem Maße der Sexualität
dienstbar war, war sie die Begleiterscheinung eines im Schlafe
aufgetretenen sexuellen Dranges. Die Libido zeigte also die Neigung,
auf dem Wege der im frühesten Kindesalter bevorzugten erogenen
Zone abzuströmen.
Von hohem Interesse ist nun, was die Psychoanalyse über die
weitere Entwicklung der Libido bei dem Patienten ergeben hat.
Seine Assoziationen glitten vom Milchsaugen zwanglos hinüber
auf die entwicklungsgeschichtlich spätere Form der Nahrungsaufnahme,
auf das Essen. Der Patient brachte in diesem Zusammenhang eine
Reminiszenz, an welche sich dann weitere wichtige Einfälle anschlossen.
Als kleinem Knaben sei ihm die Vorstellung, jemanden lieb zu haben,
ganz gleichbedeutend gewesen mit der Vorstellung, etwas Gutes zu essen.
Er habe seit seiner Kindheit „kannibalistische Vorstellungen“!,
ı Vielleicht ist es nicht überflüssig zu betonen, daß sowohl der hier wieder.
gegebene Gedanke wie der Ausdruck vom Patienten stammen, Der Ausdruck
„kannibalistische Vorstellungen“ ist nicht etwa aus der Lektüre der „Drei Abhandlungen
zur Sexualtheorie* entnommen. Die Psychoanalyse, aus welcher ich hier berichte,
fand 1912 statt, während die dıitte Auflage der Freudschen Abhandlungen,
welche den Ausdruck zuerst enthält, erst 1915 erschienen ist.
Ir
239
Diese ließen sich auf assoziativem Wege zunächst bis in das vierte
Lebensjahr zurückverfolgen. In diesem Alter — die Richtigkeit der
zeitlichen Angabe ließ sich bestätigen — hatte er eine Pflegerin gehabt,
der er sehr zugetan war. Sie war es, die im Mittelpunkt der kannibalistischen
Phantasien stand. Der Patient wünschte sich noch in späterer Zeit oft,
in sie hineinzubeißen und sie „mit Haut, Haaren und Kleidern zu
verschlingen“. Die Psychoanalyse vermochte jedoch noch tiefer
einzudringen.
Eine weitere Assoziation des Patienten besagte, daß der Geschmack
des Fleisches ihn an denjenigen der Milch erinnere. Beides sei „fett
und süß“. Wie er manchmal ein plötzliches Verlangen nach Milch
verspüre, so auch nach Fleisch. Es komme ihm vor, als suche
er einen Ersatz für Menschenfleisch. Von hier führte die
assoziative Bahn weiter zu der Phantasie, in die weibliche
Brust zu beißen. Hier war die unmittelbare Verknüpfung von
Fleisch und Milch gegeben. Dazu muß bemerkt werden, daß die
Säuglingsperiode für unseren Patienten ungewöhnlich reich an
eindrucksvollen Erlebnissen gewesen war. Verschiedene Umstände
hatten dazu genötigt, eine Reihe von Malen die Amme zu wechseln
und ihm die Ernährung durch die Brust sehr lange zuteil werden zu
lassen. Bei einem Kinde, in dessen Sexualkonstitution die Mundzone
so stark betont war, konnten diese Vorgänge nicht ohne Folgen
bleiben; sie mußten die Fixierung auf einer früheren Stufe der Libido-
Entwicklung, resp. die spätere Regression auf diese Stufe erleichtern.
Zum Schluß sei aus der Geschichte des Kranken noch erwähnt,
daß auch das Essen für ihn eine starke Lustqualität hatte; seine
Neigung zu unmäßigem Essen legte Zeugnis davon ab. Diese
Lustbetonung des Essens trug aber für das Gefühl des Kranken nicht
den gleichen, sexuellen Charakter, erschien ihm auch als etwas erst
Hinzugekommenes. .Doch zeigt auch diese Erscheinung die Neigung
des Patienten, seinen erogenen Zonen Reize aller Art zuzuführen.
Fand seine Libido neue Lusiquellen, so wurden dadurch die früheren
in ihrer Bedeutung nicht geschmälert. Auch in der weiteren Entwicklung
des Trieblebens trat bei dem Patienten diese Eigentümlichkeit sehr
hervor. Sie macht es begreiflich, daß seine Libido im erwachsenen
Alter niemals eine einheitliche Tendenz erhielt. Während er zu keiner
normalen Gefühlseinstellung gegenüber anderen Personen, zu keiner
Objektwahl gelangen konnte, behielten die verschiedenen erogenen
Zonen nebeneinander ihre alte Bedeutung. Unter ihnen war es aber
die Mundzone, deren Reizung der Patient weitaus am lustvollsten
empfand und von deren Bedeutung er mit besonderem Affekt sprach.
240
Die Eigentümlichkeiten des geschilderten Krankheitsfalles lassen
sich folgendermaßen zusammenfassen :
1. Die orale Zone überwiegt an Bedeutung die anderen erogenen
Zonen. Insbesondere tritt die Saugelust hervor. Milchsaugen führt
einen Zustand der Befriedigung herbei.
2. Sexualfunktion und Ernährungsfunktion sind im Saugeakt
miteinander verknüpft.
3. Dem Objekt gegenüber, welches die Wunschphantasien des
Patienten auf sich gezogen hat, besteht das Verlangen nach Einverleibung.
(Vom Patienten selbst als kannibalische Regung bezeichnet.)
Das sind aber die gleichen Merkmale, welche
Freud dem frühesten Stadium der Libido-Entwicklung
im Kindesalter zuzusprechen genötigt war.
Die Übereinstimmung ist vollkommen, überrascht aber denjenigen
nicht, der aus eigener psychoanalytischer Arbeit erkannt hat, wie sehr
die Theorien Freuds aus der unmittelbaren Beobachtung hervorgehen
und wie weit sie von weltfremder Spekulation entfernt sind.
Ein Erwachsener, dessen Libido sich in einem Zustande wie dem
oben geschilderten befindet, weicht in ganz außerordentlichem Maße
von der Norm ab. Das überaus Krasse der Erscheinungen eines solchen
Falles eröffnet uns das Verständnis verwandter Phänomene, wenn sie
‚uns bei anderen Personen in geringerer Ausprägung oder in stärkerer
Verhüllung wiederbegegnen.
I.
Schon bei gesunden Kindern gibt es beträchtliche Unterschiede
hinsichtlich des Zeitpunktes der Entwöhnung. Diese Unterschiede sind
zwar zu einem Teil in äußeren Verhältnissen begründet, zum Teil aber
lassen sie sich nur aus individueller Verschiedenheit der Kinder
erklären. So erfolgt der Übergang von der saugenden Nahrungsaufnahme
zum Trinken im engeren Sinne des Wortes bald früher, bald später.
Von äußeren Gründen kommen ethnologische, soziale und familiäre
in Betracht. Bei nicht wenigen kulturärmeren Völkern werden die
Kinder erst mit vier oder gar mit sechs Jahren entwöhnt. Auch
innerhalb der Bevölkerung eines Landes, ja einer Gegend erfolgt die
Entwöhnung zu recht verschiedenen Zeiten. In den unteren Volksschichten
ist es sogar bei uns nichts Seltenes, daß ein Kind von mehreren
Jahren noch zeitweise die Brust der Mutter erhält, wenn diese wieder
ein jüngeres Kind zum Stillen hat. Neurotische Mütter schieben
manchmal die Entwöhnung ihrer Kinder lange hinaus, weil das Stillen
ihnen die stärksten körperlichen Lustgefühle bereitet. Insbesondere
247
sind es Frauen mit genitaler Frigidität, bei welchen die Brust eine
übergroße Bedeutung als erogene Zone gewonnen hat.
Mehr interessieren uns hier jedoch die Fälle, in denen das Kind
aus Gründen, die in ihm selbst liegen, der Entwöhnung Schwierigkeiten
bereitet. Schon innerhalb des Zeitraums der saugenden Nahrungs-
aufnahme kann man bei einem Kinde diese Widerstände kennen
lernen, wenn es von der Mutter- oder Ammenbrust zur Saugflasche
übergehen soll. Hier beobachtet man sehr merkwürdige Unterschiede
im Verhalten der Kinder. Viele gewöhnen sich im Laufe einiger Tage
an die Veränderung. Manche Kinder, die es beim Trinken aus der
Brust an der genügenden Energie des Saugens fehlen ließen, ziehen
die Flasche sehr bald vor, weil ihnen die Nahrung mühelos aus ihr
zufließt. Endlich aber gibt es Kinder, die sich mit großer Hartnäckigkeit
gegen den Übergang zur Flasche sträuben. Vollends wird dies
Widerstreben deutlich, wenn dem Kinde der endgültige Verzicht auf
die saugende Nahrungsaufnahme zugemutet wird. Es kommt bei
neurotisch veranlagten Kindern nicht selten vor, daß sie auf den
Versuch der Entwöhnung mit so mangelhafter Nahrungsaufnahme
reagieren, daß die Mutter zum vorläufigen Nachgeben gezwungen wird.
Derartige Schwierigkeiten erstrecken sich in ausgeprägten Fällen bis
in das schulpflichtige Alter. Ich erwähne beispielsweise ein neunjähriges
Mädchen, das nicht zu bewegen war, am Morgen vor dem Schulgang
' sein Frühstück mit den Eltern und Geschwistern einzunehmen. Um
die Kleine den Weg zur Schule nicht nüchtern antreten zu lassen,
bringt die Mutter ihr allmorgendlich eine Saugflasche mit warmer
Milch ins Bett. Die sonstigen Mahlzeiten des Tages nimmt die
kleine Widerspenstige in normaler Weise mit der Familie. In
einem von Gött mitgeteilten Fall mußte ein dreizehnjähriger Knabe
von der Flasche entwöhnt werden. Wir werden hier an die beson-
ders krasse Beobachtung erinnert, welche ich oben ausführlicher mit-
geteilt habe, s
Ein solches Verhalten des Kindes kann nicht anders erklärt
werden, als aus einem zähen Festhalten an dem Lustgewinn, welchen
das Saugen dem Kinde durch Vermittlung der Lippen als erogene
Zone gewährt. Die Erfahrung lehrt uns nun, daß Personen, welche an
der kindlichen Saugelust festhalten, regelmäßig in der Entwicklung ihrer
Sexualität schwer gehemmt werden. Nahrungstrieb und Sexualität bleiben
bei ihnen in einem gewissen Umfang miteinander verflochten. Ihre
Libido findet nicht in normaler Weise den Weg zum lebenden,
menschlichen Objekt, sondern sucht ihre Befriedigung in erster Linie
bei Gelegenheit einer saugenden Stoffaufnahme in den Mund.
242
Der Anteil der Sexualität an einer noch in späteren Jahren
persistierenden Saugelust tritt vollends zu Tage bei jenen Personen,
welche im erwachsenen Alter den Drang empfinden, an der weiblichen
Brust zu saugen. Diese Art der Sexualbetätigung reizt sie stärker als die
normale Kohabitation. Einer meiner Patienten erklärte mir, daß er sich
bei einer solchen Liebesbetätigung in einem sonderbaren Zwiespalt der
Gefühle befinde. Einesteils habe er Angst davor, daß aus der Brust
Milch kommen könnte, anderseits sei er ärgerlich und enttäuscht,
wenn sich keine Milch entleere. In diesem Falle ist das Sexualinteresse
am Saugen das weitaus überwiegende; von der anderen Bedeutung des
Saugens ist nichts übrig geblieben als ein neugieriges, gespanntes
Warten, ob die Brust Milch hergeben werde.
Bekanntlich bleibt beim Kinde nach der Entwöhnung eine Neigung
zum Aufsaugen („Lutschen“) süßer Stoffe bestehen. Bei neurotischen
Männern mit stark unterdrückter Libido findet sich nun nicht selten
ein intensives, triebhaftes Verlangen nach Süßigkeiten. Sie haben eine
besondere Lust daran, die Süßigkeiten langsam aufzusaugen. In zwei
sehr ausgeprägten Fällen konnte ich mit aller Sicherheit feststellen, daß
die vom kindlichen Autoerotismus stammende Saugelust es war;welche
die aktiven Regungen der Libido beiseite drängte und den betreffenden
Patienten das stärkste Wohlbehagen brachte. Von dem einen Patienten
erwähne ich hier, daß er mit Vorliebe abends im Bett Süßigkeiten
lutschte, worauf er dann mit dem Gefühl der Befriedigung einschlief.
Die Anlehnung an das Verhalten des Kindes im Säuglingsalter ist hier
ganz unverhüllt zu erkennen. Die normale männliche Liebesbetätigung
war in diesem Falle völlig unterdrückt. Der andere Patient bot infantile
Züge in ungewöhnlicher Menge dar. Die männliche Aktivität fehlte
seiner Libido vollkommen; um so intensiver nutzte er alle autoerotischen
Lustquellen. Wenn er sich morgens auf den Weg zu seiner beruflichen
Tätigkeit machte, pflegte er ein charakteristisches Spiel aufzuführen.
Er tat, als ob er noch ein kleiner Knabe wäre, und sagte zum Abschied
seiner Frau: „Bubi geht jetzt in die Schule.“ Auf dem Wege kaufte er
sich dann — wie Kinder zu tun pflegen — Süßigkeiten und hatte große
Lust daran, sie gemächlich aufzusaugen. Von diesen kindlichen
Belustigungen sprach der Patient mit lebhaftem Gefühlston, während das
Geschlechtliche im Sinne normaler Männlichkeit mit abnorm geringem
Interesse besetzt war. Im Laufe dieser Psychoanalyse ließ sich aus
vielen Anzeichen mit Sicherheit entnehmen, daß das libidinöse Interesse,
das dernormalen Geschlechtsfunktion gebührt, durchaus den autoerotischen
Vorgängen anhaftete. Daß gerade das Aufsaugen süßer Substanzen
mit dem Munde eihe so starke libidinöse Betonung zeigte, läßt die
243
mangelnde Trennung der Nahrungs- und Geschlechtsfunktion auch
hier deutlich erkennen.
Zeigt der soeben kurz skizzierte Fall ein Haftenbleiben des
Patienten an der kindlichen Saugelust, so möge ein anderes Beispiel
die nachträgliche Regression zu dieser Lustquelle demonstrieren.
Ein neurotisches junges Mädchen wird, nach jahrelang geübter
Masturbation, eines Tages durch Lektüre darüber „aufgeklärt“, wie
schädlich und sündhaft ihr Handeln sei. Sie wird von Angst ergriffen
und gerät in eine langdauernde Verstimmung. Der Masturbation enthält
sie sich vollkommen. In dieser Zeit der sexuellen Abstinenz und der
Verstimmung wird sie nun öfter von einem heftigen Verlangen nach
Süßigkeiten befallen. Sie kauft und verzehrt die Süßigkeiten mit größter
Heimlichkeit und unter Gefühlen der Lust und Befriedigung, deren
Intensität sie selbst in Erstaunen versetzt. Die Patientin, welche von
jeher den äußersten Ekel vor der normalen Verbindung mit dem Manne,
empfand, hat durch das strenge Selbstverbot der Masturbation ihre
genitale Sexualität völlig verworfen. So wird es begreiflich, daß ihre
Libido den regressiven Weg einschlägt und sich in der geschilderten
Weise der Mundzon& bemächtigt. Dazu muß noch bemerkt werden,
daß die Psychoanalyse viele Anhaltspunkte für das Vorhandensein
verdrängter Wunschregungen lieferte, die sich auf das Saugen am
männlichen Genitale bezogen.
Nachdem sich uns ergeben hat, daß die saugende Aufnahme von
Stoffen mit Hilfe des Mundes bei. gewissen Menschen als sexuelle
Handlung zu bewerten ist, werden gewisse andere, bei Neurotikern
recht häufige Erscheinungen in ein neues Licht gerückt.
IV.
Viele Neurotiker leiden an abnormen Hungergefühlen.
Besonders Frauen sind mit diesem Symptom häufig behaftet, und wohl
jedem Nervenarzt sind jene Patientinnen bekannt, die auf der Straße
oder. afı anderen Orten plötzlich von Hunger befallen werden und
Vorsorge halber stets Eßwaren bei sich tragen. Auch aus dem Schlaf
werden sie durch nagenden Hunger geweckt und stellen darım am
Abend einige Nahrungsmittel neben dem Bette bereit. Für diesen
neurotischen Hunger ist charakteristisch, daß er ganz unabhängig
vom Füllungszustande des Magens auftritt, daß er in unregelmäßigen
Zeitabständen kommt, und daß er anfallsweise und unter quälenden
Begleiterscheinungen einsetzt, wie sie dem normalen Nahrungsbedürfnis
nicht zugehören. Besonders sind hier Angstgefühle zu erwähnen.
16*
244
Die Kranken klagen selbst über ihre „Anfälle von Heißhunger“.
Sie spüren den Unterschied des normalen Hungers und dieses „Heiß-
hungers“, neigen aber nichtsdestoweniger dazu, beide Zustände
miteinander zu konfundieren. Sie legen die heftigsten Widerstände an
den Tag, wenn die Psychoanalyse den Zusammenhang des neurotischen
Heißhungers mit verdrängter Libido aufdeckt. Verräterisch weisen gewisse
Anzeichen uns dennoch den richtigen Weg. Auffällig ist beispielsweise
die große Häufigkeit dieser Hungeranfälle bei frigiden Frauen. Einer
meiner Patienten, der das Symptom des neurotischen Hungers in aus-
geprägter Weise darbot, hob hervor, daß das Hungergefühl nach den
Hoden ziehe.
Starke libidinöse Regungen, gegen deren unverhülltes Auftreten
das Bewußtsein sich wehrt, können sich besonders gut hinter einem
Hungergefühl — wie hinter einer Maske — verbergen. Hunger, und
auch einen übermäßigen, darf man sich selbst und anderen eingestehen.
Keiner, auch der Patient selbst richt, ahnt, aus welcher Quelle das
neurotische Symptom seine Macht bezieht. Diese letztere ist in einzelnen
Fällen so groß, daß die Kranken genötigt werden, dem krankhaften
Nahrungsbedürfnis ihre ganze Lebensführung anzupassen und unterzu-
ordnen. Ebendiese Gewalt, welche der neurotische Hunger über die
Kranken erlangt, gestattet uns Rückschlüsse auf die Heftigkeit der
verdrängten Triebregungen, diesich in ihm einen Ausdruck gesucht haben.
Ich gebe hier beispielshalber aus einer meiner Psychoanalysen einige
Tatsachen wieder, die nicht anders als monströs genannt werden können.
Eine von mir behandelte, schwerleidende Kranke wurde von
Heißhunger befallen, sobald sie sich um wenige Schritte von ihrer
Wohnung entfernte, Sie verließ niemals das Haus, ohne etliche Nahrungs-
mittel mit sich zu nehmen. Waren diese verzehrt, so suchte sie eine
Konditorei oder sonst ein Lokal auf, um ihren Hunger zu stillen. Am
stärksten wurde sie von diesem Bedürfnis jedoch bei Nacht bedrängt.
Sie war im Laufe der Jahre dazu gelangt, in jeder Nacht zwei bis drei
größere Mahlzeiten zu halten. Obwohl sie sich nicht mit der Abend-
mahlzeit begnügte, sondern unmittelbar vor dem Schlafengehen
nochmals ausgiebig aß, wurde sie doch im Laufe jeder Nacht durch
nagenden Hunger geweckt, dem sie regelmäßig nachgab. Die Folge der
gehäuften Mahlzeiten war natürlich eine bedeutende Zunahme des
Körpergewichtes. Die Patientin genoß — angeblich weil sie dadurch am
wenigsten Fett ansetzte — bei Nacht hauptsächlich Gemüse. Zur Zeit
der psychoanalytischen Behandlung wohnte sie in einem Pensionat. Dort
hatte sie große Vorräte von Gemüsekonserven aufgehäuft. Allabendlich
bereitete sie sich die im Laufe der Nacht einzunehmenden Mahlzeiten.
|
245
War sie etwa um 10 Uhr schlafen gegangen, so erwachte sie etwa um
1, 3 und 5 Uhr. Jedesmal nahm sie eine starke Mahlzeit zu sich. Früh
zwischen 6 und 7 Uhr eilte sie bereits in die Küche und bat um ihr
Frühstück. Das Verhalten der Patientin erinnerte lebhaft an dasjenige
„verwöhnter“ kleiner Kinder, welche nachts wiederholt erwachen und
nur dadurch zu beruhigen sind, daß die Mutter ihnen zu trinken gibt.
Übrigens war die Kranke das einzige Kind ihrer Eltern. Das Verhalten
solcher Kranker, die in kurzen Abständen nach Nahrung begehren und
Qualen erleiden, wenn ihr Verlangen nicht befriedigt wird, erinnert
anderseits in überraschender Weise an dasjenige der Morphinisten
und mancher Trunksüchtiger. Hinsichtlich dieser Zustände ist der
Psychoanalyse der Nachweis gelungen, daß das berauschende Gift dem
Kranken eine Ersatzbefriedigung für ihm versagte Betätigungen seiner
Libido gewährt. Das übermäßige, unter einem krankhaften Zwange
erfolgende Essen mancher Neurotiker muß in ganz gleicher Weise
bewertet werden.
Der zuletzt geschilderte Fall ist von den früher besprochenen
dadurch unterschieden, daß die Kranke nicht nach dem Einsaugen von
Milch oder sonstigen saugenden Betätigungen verlangte, sondern einen
krankhaften Drang nach sehr häufiger Aufnahme fester Nahrung zeigte.
Das gesamte Verhalten einer solchen Kranken wird uns erst verständlich,
wenn wir den Lustwert erkennen, den das Essen für sie — bewußt
oder unbewußt — hatte. Obwohl sie sich in keiner Nacht eines ruhigen,
ununterbrochenen Schlafes erfreuen durfte, setzte sie der Analyse
ihrer Hungeranfälle und der Entwöhnung von den nächtlichen Mahl-
zeiten den äußersten Widerstand entgegen. Auch war nicht bloß das
Essen selbst bei der Patientin mit so starken Affekten betont; vielmehr
genoß sie schon beim Einkauf ihrer Vorräte, bei der Zubereitung der
Mahlzeiten usw. eine gewisse Vorlust!,
V
Die Neurotiker, deren Sexualität in solchem Maße verkümmert ist
daß sie mehr oder weniger an das Nahrungssaugen oder auch an das
Essen gebunden bleibt, zeigen als Erwachsene nach meinen bisherigen
Erfahrungen keine besondere Neigung zum Lutschen am Daumen.
1 Zur Ergänzung des obigen Auszuges aus einer Psychoanalyse, der weit von
Vollständigkeit entfernt ist, sei hier noch auf die Bevorzugung der vegetabilischen
'Kost für die nächtlichen Mahlzeiten hingewiesen. Die von der Patientin selbst
gegebene rationelle Erklärung ist unzureichend und nicht einmal sachlich richtig.
Erblicken wir in dem ganzen Tun der Patientin eine Form autoerotischer Befriedigung,
so wird das nächtliche Meiden des Fleisches leicht verständlich.
246.
Diejenigen erwachsenen Neurotiker hingegen, welche ausgesprochene
Daumenlutscher geblieben sind, zeigen in der Regel keine
besondere libidinöse Betonung der Nahrungsaufnahme, Sehr häufig ist
vielmehr bei ihnen der Ekel vor der Nahrung — und zwar besonders
vor Milch und Fleisch — sowie Übelkeit und Neigung zum Erbrechen.
Es mag seltsam klingen, aber man darf. dennoch behaupten, daß
die erwachsenen -Daumenlutscher, gegenüber derjenigen Gruppe von
Neurotikern, die uns bisher beschäftigt hat, ein fortgeschritteneres
Stadium der Libido-Entwicklung repräsentieren. Ihre Libido hat sich
gegenüber dem Nahrungstrieb insoweit eine gewisse Selbständigkeit
verschafft, als die Lustgewinnung nicht mehr an das Nahrungssaugen
gebunden ist. Die Mundzone hat freilich ihre vorherrschende Rolle
auch bei ihnen beibehalten, und von einer erfolgreichen Übertragung
ihrer Libido auf Objekte sind auch sie weit genug entfernt. Im Gegen-
teil bieten sie im wirklichen Leben vielerlei Anzeichen der
stärksten Sexualablehnung. In ihren Phantasiegebilden spielt anderseits
die Verwendung des Mundes zu sexuellen Zwecken (Fellatio, Cunnilinguus)
eine beherrschende Rolle, freilich meistens — wenn auch nicht immer
— mit dem negativen Affekt des Ekels und Grauens versehen.
Die Zähigkeit, mit welcher diese Neurotiker in praxi an der
autoerotischen Reizung der Lippenschleimhaut und — mindestens in
ihrer üppigen Phantasietätigkeit — an der erotischen Verwendung des
Mundes festhalten, wird uns leicht verständlich, wenn wir unseren-
Blick zu dem Verhalten des kleinen Kindes zurückwenden. Wir brauchen
uns nur der Intensität zu erinnern, mit der das Kind sich schon in den
frühesten Lebenstagen dem Wonnesaugen hingibt. Der Eifer des Säug-
lings, beide Hände in den Mund zu diängen, das Feftige Schnappen
nach den eigenen Fingern, die völlige Hingabe an das rhythmische
Saugen und die endliche befriedigende Wirkung des ganzen Vorganges
lassen uns erkennen, welche Macht den frühen Triebregungen innewohnt.
Diese Macht offenbart sich besonders deutlich darin, daß manche
Menschen ihr noch im erwachsenen Alter untertänig bleiben.
Das Verhalten solcher Neurotiker ähnelt aber noch in anderer
Hinsicht dem des Säuglings. Nach meiner Erfahrung neigen die
Neurotiker, welche das Lutschen nicht überwunden haben, auch in
besonders hohem Maße zur ‚autoerotischen Reizung anderer Zonen,
besonders der Genitalien. Auch beim kleinen Kinde finden wir neben
der Saugelust die Neigung, nach einer Stelle des eigenen Körpers zu
greifen und an ihr rhythmisch zupfende Bewegungen auszuführen. Wir
erinnern uns der Gewohnheit lutschender Kinder, während des Saugens
am Daumen der einen Hand mit der anderen Hand am Ohrläppchen
247
' zu ziehen. Sehr gewöhnlich sucht auch die andere Hand die Genital-
gegend auf, um sie durch ähnliche Bewegungen zu reizen.
Das Daumenlutschen erwachsener Personen, das uns so selisam
anmutet, wird uns noch erklärlicher, wenn wir uns der Tatsache
erinnern, daß auch beim normalen Erwachsenen der Mund seine Rolle
als erogene Zone nicht ganz verloren hat. Den Kuß betrachten wir
als eine durchaus normale Äußerung der Libido. Freilich ist hier die
erogene Zone in den Dienst der Objektliebe getreten. Auch beansprucht
der Kuß nicht die Bedeutung eines eigentlichen Sexualzieles, sondern
er stellt nur eine vorbereitende Handlung dar. Und doch sind auch
hier die Grenzen fließend. Gewisse Formen des Kusses können das
wesentliche Ziel des sexuellen Strebens ausmachen. Namentlich aber
übernimmt mit einer Häufigkeit, die nicht unterschätzt werden darf,
die Lippenzone eigentliche Genitalfunktionen.
Ich lasse nun wieder ausführlichere Mitteilungen aus zweien meiner
Psychoanalysen folgen: sie zeigen die Schicksale des kindlichen Hanges
zum Lutschen in besonders instruktiver Weise und ergänzen einander
in mancherlei Beziehungen.
Ein Mann in mittleren Jahren litt an einer chronisch verlaufenden
Neurose, unter deren Symptomen ihn die hartnäckige Schlaflosigkeit
am meisten belästigte. Bei dem Versuch, den psychosexuellen Ursachen
dieser Störung nachzugehen, kam über die Schicksale seiner Libido
oder — was das gleiche besagt — über die Entwicklung seiner Neurose
unter anderem folgendes zu Tage.
Der Patient neigte in der frühesten Kindheit in ungewöhnlichem
Maße zum Lutschen am Daumen. Als er größer wurde und von seiner
Gewohnheit nicht abließ, wurden die bekannten Mittel der Kinderstube
zur Anwendung gebracht, und wirklich unterließ der Knabe das Saugen
.an dem Finger, der mit einer bitter schmeckenden Flüssigkeit bestrichen
war. Doch der Erfolg war nur scheinbar. Tatsächlich benutzte der
Kleine jetzt einen Zipfel seines Kissens oder seiner Bettdecke, um
daran saugend und kauend einzuschlafen. Seine Erzieher mußten gegen
diese neue Gewohnheit einschreiten, doch geschah dies wiederum mit
dem Effekt, daß der Knabe sich zum Schein fügte, um sich eine neue
Ersatziust zu suchen. Bald entdeckte man Spuren seiner Zähne an dem
hölzernen Bettgestell. Er hatte die Gewohnheit angenommen, abends
das Holz zu benagen.
Im Laufe der Vorpubertätsjahre befestigte sich das Bedürfnis, vor
dem Einschlafen dem Munde seine lustvollen Reize zu gewähren,
immer mehr, und diese letzteren wurden zur Bedingung des
Einschlafens. Unter den autoerotischen Schlafmitteln des Patienten
|
|
248
spielte jahrelang die Masturbation eine wichtige Rolle. Nach der -
Pubertät, besonders um das zwanzigste Lebensjahr des Patienten,
fanden lebhafte Abgewöhnungskämpfe statt, bei welchen alte Verbote
aus der Kindheit wieder in Wirksamkeit traten. Die Abgewöhnung
der Masturbation gelang oftmals für längere Zeit, doch mußte der
Patient diesen Erfolg durch ebenso lange Perioden hartnäckiger Schlaf-
losigkeit erkaufen. Von ärztlicher Seite erhielt er sodann Schlafmittel:
an ihren Gebrauch gewöhnte er sich bald dermaßen, daß auch gegen
sie ein Abgewöhnungskampf geführt werden mußte, welcher sich dann
— abwechselnd mit dem Kampf gegen die Masturbation — im Laufe
der Jahre öfter wiederholte. Als der Patient endlich in meine Behandlung
getreten war und eine gewisse Besserung verspürte, verzichtete er an
zwei aufeinander folgenden Abenden auf: den Schlafmittelgebrauch.
Am Tage, welcher der zweiten schlafmittelfreien Nacht folgte, erschien
er in der Sprechstunde unter deutlichen Äußerungen des Unwillens.
Als er sich dann in gewohnter Weise zur Behandlung niedergelassen
und mir vom«Verlauf der letzten Nacht erzählt hatte, beobachtete -ich,
wie der Patient den rechten Daumen zum Mund führte und, anstatt
weiter zu sprechen, am Daumen lutschte. Sein Widerstand hätte sich
kaum deutlicher äußern können. Dieser Widerstand, ursprünglich gegen
die Eltern und anderen Erzieher, jetzt — durch Übertragung — auf
den Arzt gerichtet, besagte etwa: „Wenn ihr mir das Nagen am Bett-
tuch, die Masturbation oder die Schlafmittel verbietet,-so kehre ich zu
meiner ältesten Befriedigung zurück. Da seht ihr, daß ihr bei mir nichts
erreichen könnt!“ Daß das Lutschen gerade vor den Augen des Arztes
geschah, ist ein unverkennbares Zeichen des Trotzes.
Läßt diese Beobachtung mit unübertrefflicher Deutlichkeit erkennen,
in welchen Beziehungen das Daumenlutschen zur Sexualität steht, so
möge der folgende Auszug aus einer anderen Psychoanalyse zeigen,
welch komplizierte Erscheinungen sich von der kindlichen Saugelust
ableiten.
Es gibt eine nicht eben kleine Gruppe von Neurotikern, bei
welchen die Saugelust von jeher abnorm Stark betont ist, die im
erwachsenen Alter zu perverser Verwendung des Mundes neigen und
dennoch die heftigsten Widerstände gegen Handlungen dieser Art
produzieren, und die endlich nervöse Symptome darbieten, welche
sich im Gebiet der Mundzone abspielen. Dieser Gruppe gehörte der
Patient an, von dem ich zu berichten habe,
Der siebzehnjährige Patient, welcher mich auf Veranlassung
seines Hausarztes aufsuchte, zeigte sich bei der ersten Konsultation
äußerst einsilbig und verschlossen. Während ich nur mit Mühe einzelne
|
|
249
kurze Antworten von ihm erhalten konnte, bemerkte ich, daß der
Patient fast unausgesetzt etwas mit seinem Mund und den umgebenden
Teilen vornahm. Bald biß er die Ober- oder Unterlippe, bald leckte
er sie mit der Zunge. Oft sah man, daß er die Wangen saugend nach
innen zog; dann wieder biß er die Kiefer so fest aufeinander, daß .
das Relief der Kaumuskeln deutlich vorsprang. Zuweilen riß der
Patient den Mund weit auf, dann wieder schloß er ihn; andere Male
war zu erkennen, daß er an den Zähnen oder am Zahnfleisch sog.
Als es der Behandlung gelungen war, die Sprachhemmung des
Patienten wenigstens zeitweise aufzuheben, berichtete er über eine
Menge weiterer, an die Mundhöhle gebundener Vorgänge, denen allen
ein lustvoller Charakter zukam. Besonders trat ein ünbezähm-
barer Hang zum Saugen hervor. Der Patient machte — gleich-
viel, ob er allein oder unter anderen Menschen, ob er beschäftigt
oder untätig war — beständig Saugbewegungen. Wegen einer Anomalie
der Zahnstellung war ihm, als er ca. 13 Jahre alt war, ein Richtapparat
'angelegt worden. Der Druck des Apparates auf das Zahnfleisch war
dem Patienten schmerzhaft; er verschwieg seine Beschwerden aber
und reagierte auf den Reiz lieber mit einem fortwährenden Saugen an
der betreffenden Kieferpartie. Weiter gestand der Patient, daß er sich
noch auf sonstige Art Lustgefühle verschaffe. Er benutzte die Zunge,
um am Gaumen streichende und kitzelnde Berührungen vorzunehmen,
die er als wollüstig empfand. Dem Kranken war die sexuelle Natur
seines Handelns durchaus nicht unbekannt. Man ist berechtigt, in der-
artigen Fällen von einer oralen Masturbation zu sprechen.
Gewisse Symptome des Patienten standen mit der Erogeneität
der Mundhöhle in engstem Zusammenhang. Zunächst hatte das schon
erwähnte Aufsperren des Mundes, das einen „zwangartigen Charakter
trug, zweifellos eine solche Herkunft. Sobald nämlich der Patient mit
einer männlichen Person zusammen war, stellte sich bei ihm zwang-
artig die Phantasie ein, den Penis des anderen in den Mund zu
nehmen. Während er sich nun unter einem Schauergefühl dieser
Phantasie halb hingab, halb sie abzuwehren versuchte, kam es zu der
schnappenden Mundbewegung, an deren Sinn kein Zweifel auf-
kommen kann.
Wir machen nun regelmäßig die Erfahrung, daß ein Organ, welches
in zu hohem Maße als erogene Zone in Anspruch genommen wird, seine
sonstigen Funktionen nicht mehr genügend zu erfüllen vermag!. In dem
1 Freud hat diesen Vorgang besonders am Beispiel des Auges in seiner kleinen
Arbeit über die „psychogene ne behandelt. Vgl. „Kleine Schriften‘, Bd. II,
S. 314.
250
geschilderten Falle versagte der Mund diejenigen Funktionen, welche
keinen sexuellen Charakter hatten. Sobald sich der Patient in Gesell-
schaft anderer Personen befand, war es ihm nahezıı unmöglich, zu
sprechen oder zu essen. So war er beispielsweise außerstande,
sich mit seinen Kollegen in dem gemeinsamen Arbeitsraum zu unter-
halten. Holten die anderen im Laufe des Vormittags ein mitgebrachtes
Frühstück hervor und verzehrten es, so war dem Patienten solches
unmöglich. Er nahm sein Brot jeden Mittag, ohne einen Bissen genossen
zu haben, wieder mit sich und warf es dann irgendwo auf der Straße
fort. Letzteres tat er, um zu Hause keinen Fragen ausgesetzt zu sein.
Bemerkenswert war hier die Wirkung der psychoanalytischen Behandlung.
Kaum hatte die zwangartige, mit ständiger Angst verbundene
homosexuelle Einstellung des Patienten einem normalen Interesse am
weiblichen Geschlecht Platz gemacht, als er auch fähig war, gemeinsam
mit seinen Kollegen zu essen und mit ihnen zu sprechen.
Die beiden mitgeteilten Fälle lassen erkennen, welchen beherrschen-
den Einfluß die im erwachsenen Alter persistierende Saugelust gewinnen,
wie sie auf das gesamte Verhalten eines Menschen bestimmend wirken
kann. Neben einer Minderheit von derart krassen Fällen gibt es in
weit größerer Zahl Personen, die ihrer Mundzone fortdauernd einen
gewissen Tribut zahlen müssen, ohne daß es bei ihnen zur Bildung
schwerer neurotischer Symptome kommt. Der Widerstreit zwischen
ihrem Autoerotismus und anderen Lebensinteressen ist durch Kompromiß-
bildungen zum Ausgleich gebracht. Solche Menschen sind beispielsweise
in ihrem Beruf tüchtig und leistungsfähig — sie vermögen einen Teil
ihrer Libido mit Erfolg zu sublimieren —, aber ihr Autoerotismus schreibt
ihnen Bedingungen vor, von deren Erfüllung ihre Leistungen abhängen.
Ich behandelte einmal einen Neurotiker, der sich nur dann zu geistiger
Arbeit sammeln konnte, wenn er vorher masturbiert hatte. In ähnlicher
Weise können manche Personen nur dann intensiv nachdenken, wenn
sie gleichzeitig einen Finger in den Mund stecken oder an den Finger-
nägeln kauen oder einen Federhalter benagen können. Wieder andere
müssen bei intensiver Tätigkeit auf ihre Lippen beißen oder sie belecken.
Ihr Autoerotismus läßt ein ununterbrochenes Arbeiten nur dann zu,
wenn ihm gleichzeitig ein gewisses Maß von Befriedigung zu teil wird.
Daß bei nicht wenigen Männern das Rauchen zur Arbeitsbedingung
wird, erklärt sich zu einem Teil auf diesem Wege; doch liegen hier
kompliziertere Verhältnisse vor.
Eine scharfe Trennung zwischen normaler Neigung und Gewöhnung
einerseits und pathologischem Zwange anderseits wird sich auf diesem
Gebiet nicht durchführen lassen. Für praktische Zwecke aber wird man
251
sich im allgemeinen an ein Kriterium halten dürfen: an die Art, wie
das Individuum die zeitweise Entbehrung des gewohnten Reizes erträgt.
Die Reaktion auf das Versagen einer Lustquelle, an welche das
Individuum krankhaft fixiert war, trägt einen pathologischen Charakter.
Sie besteht in neurotischer Symptombildung.
VI.
Es ist nicht zweifelhaft, daß die Befriedigung der sexuellen
Bedürfnisse beim normalen Menschen einen starken Einfluß auf das
Gleichmaß seiner Stimmung ausübt. Doch ist der Gesunde fähig, den
zeitweisen Mangel der gewohnten Befriedigung innerhalb gewisser
. Grenzen zu ertragen. Er vermag sich auch auf dem Wege der
Sublimierung gewisse Ersatzbefriedigungen zu verschaffen. Das gleiche
darf man auch von einem großen Teil der Neurotiker aussagen. Andere
unter ihnen sind jedoch äußerst intolerant gegen jede Minderung der
gewohnten Lust, und zwar um so mehr, je weniger sich ihr Triebleben
von dem Niveau der früheren Kindheit entfernt hat. Sie gleichen in
hohem Maße den „verwöhnten“ Kindern. Ihre Libido verlangt unablässig
die gewohnte Befriedigung. Sie werden infolgedessen vollkommen
abhängig und reagieren mit großer Unlust, wenn sie ihrer gewohnten
Lust entraten sollen. Diese Unlust aber geht in ausgesprochene
Verstimmung über.
Dieser Ursprung neurotischer Verstimmungen scheint mir oft nicht
genügend gewürdigt zu werden.
Für den Neurotiker hat die gewohnte autoerotische Befriedigung
praktisch eine zweifache Bedeutung: sie dient zur Verhütung drohender
und zur Beseitigung eingetretener Verstimmungen.
“ In ersterer Hinsicht diene als ‚Beispiel, daß viele Neurotiker früh
am Morgen sofort zu dem gewohnten Mittel der Befriedigung greifen, um
sich vor einer Verstimmung zu schützen. Es handelt sich um Individuen,
die sich morgens schwer vom Schlafe lösen können. Jeder Tag, jede
Rückkehr in das wache Leben beginnt für sie mit lebhafter Unlust. Diese
würde anhalten und ihnen den ganzen Tag verstören, wenn sie nicht zu
der gewohnten Art der Befriedigung — als zum Prophylaktikum gegen
ihre neurotischen Verstimmungen — greifen würden. Gerade die
verschiedenen, bereits ausführlicher besprochenen Reizungen der
Mundzone sind in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Ein solches Verhalten neurotischer Personen kann nicht besser
erklärt werden, als durch den Hinweis auf ein bereits erwähntes Beispiei.
Ich erinnere an die neunjährige Kleine, die am Morgen nicht zum:
252
Verlassen des Bettes zu bewegen war, bevor sie ihre geliebte Sauıg-
flasche mit Milch erhalten hatte.
Ausführlicher muß ich mich mit denjenigen Neurotikern beschäftigen,
welche eine eingetretene Verstimmung durch einen lustvollen oralen
Reiz verscheuchen. Ich gehe dabei absichtlich nicht auf den Alkohol
als Stimmungskorrigens ein, weil hier die narkotische Wirkung das
Bild kompliziert.
Besonders instruktiv ist der Fall einer jungen zyklothymen Kranken,
die ich beobachtet habe. Sie fand außerordentlich Schwer einen seelischen
Kontakt mit anderen Menschen, zog sich vielmehr von ihnen zurück
und ergab sich ganz ihren autoerotischen Neigungen. Kam sie in
deprimierte Stimmung, so half sie sich durch verschiedene Mittel, unter
denen das hauptsächlichste hier von Interesse ist: sie kaufte sich etwas
zu essen und spürte während des Essens alsbald eine Aufheiterung
ihrer Stimmung. Bezeichnend für ihren Autoerotismus war auch ein
anderes Mittel, das auf ihre Stimmung wirkte: sie fuhr stundenlang
auf der Straßenbahn und zog daraus eine sehr ausgesprochene
Bewegungslust!. Fühlte sie sich deprimiert, so verbrachte sie einen
großen Teil des Tages mit Straßenbahnfahrten und mit dem Verzehren
von Eßwaren, die sie bei sich trug. :
Wie sehr alle solche Erscheinungen im Infantilen wurzeln, darüber
belehrte mich die Psychoanalyse eines jungen Mannes, den ich wegen
einer neurotischen Verstimmung behandelte. Stark an seine Mutter
fixiert, vermochte er auch längere Jahre nach der Pubertät seine Libido
nicht auf andere weibliche Personen zu übertragen. Geraume Zeit
hindurch fand er in seiner beruflichen Arbeit eine Ersatzbefriedigung,
bis ihn gewisse Umstände in einen inneren Zwiespalt brachten, dessen
er sich freilich nicht bewußt war. Die Fixierung an die Mutter und die
Tendenz zur Ablösung von ihr gerieten in einen heftigen Widerstreit;
die Arbeit hörte auf, den Patienten zu befriedigen. Das nächste Ergebnis
war eine Verstimmung, in deren Beginn ihn ein eigentümliches
Vorkommnis überraschte. Von starker Lebensunlust befallen, schlafsüchtig
und appetitlos, legte er sich eines Tages zu Bett. Seine Mutter brachte
ihm eine Tasse mit Milch. Als er die Tasse an den Mund setzte und
seine Lippen mit dem Getränk in Berührung brachte, hatte er, wie er
sich ausdrückte, „eine Mischempfindung von warm, weich
und süß“; sie befremdete ihn und kam ihm dennoch wie etwas aus
ferner Vergangenheit Bekanntes vor, gleichzeitig aber übte sie eine ihm
‚ unerklärliche beruhigende Wirkung auf ihn aus. Die Psychoanalyse
‘Vgl. hiezu meinen Artikel: „Über eine konstitutionelle Grundlage der
lokomotorischen Angst‘. S. 159 u. ff,
253
je
brachte bald die Lösung des Rätsels. Der Patient war während seines
ganzen ersten Lebensjahres von seiner Mutter gestillt worden und
hatte — wie sich durch nachherige Befragung der Eltern ergab — mit
besonderer Intensität gesogen. In den folgenden Kindheitsjahren hatte
er noch oft nach der Brust der Mutter gegriffen und von ihr mit
zärtlichen, der Kindersprache angehörigen Ausdrücken gesprochen. Als
nun der erwähnte Ablösungsversuch gescheitert war und der Patient
unter einer heftigen Verstimmung litt, wandte er sich unbewußt
der ältesten Lustquelle seines Lebens wieder zu. Die
von der Mutter gereichte Milch rief älteste, lustvolle Erinnerungsspuren
wach und vermochte so, die Verstimmung vorübergehend zu mildern.
Ein dem Nervenarzt wohlbekanntes Phänomen wird in diesem
Zusammenhang verständlich. Verstimmte oder erregte Neurotiker werden
oft — freilich immer nur vorübergehend — durch das bloße Verschlucken
eines Medikamentes günstig beeinflußt, auch dann, wenn dem Mittel
. keine sedative Wirkung zukommt. Man beruft sich zur Erklärung dieser
Tatsache gern auf die suggestive Wirkung der ärztlichen Verordnung.
Vielfache Erfahrung zeigt aber, daß der Neurotiker ein Irgendetwas
durch den Mund zu sich nehmen kann — ohne ärztliche Verordnung
— und damit für den Augenblick eine, beruhigende Wirkung erzielt.
Man übersieht hier leicht einen wichtigen Faktor. In jedes Menschen
Leben gab es eine Zeit, da er von aller Erregung durch die Aufnahme
einer Flüssigkeit befreit wurde. Die „suggestive“ Wirkung der Arznei-
flasche liegt keineswegs nur in dem behandelnden Arzt, sondern mindestens
ebenso sehr in ihrer Eigenschaft, dem Munde des Kranken etwas zu
spenden, was in ihm .die ältesten lustvollen Erinnerungen zum
Mitschwingen bringt.
Die Neigung Nervöser, sich eine Diät und immer wieder eine neue
Diät vorschreiben zu lassen, die sich möglichst einem rein flüssigen
Regime nähert, erfährt ihre Erklärung zum Teil ebenfalls aus dieser
Quelle. Es sei besonders an jene Kranken erinnert, die sich mit Vorliebe
im Bett von einer Pflegerin päppeln lassen.
Vergessen wir aber darüber nicht die große Häufigkeit der
Nahrungsablehnung bei unseren Patienten. Sie tritt im Rahmen
der neurotischen Erkrankungen in mancherlei Gestalt und vielfach in
verhüllter Form auf. Ich erinnere nur an Appetitlosigkeit, Ekel vor dem
Essen, Übelkeit und Erbrechen. Über die Herkunft dieser Symptome
ist dem bereits früher Gesagten nichts prinzipiell Neues hinzuzufügen.
Bei seelisch Verstimmten findet sich oft eine bewußte, auch offen
ausgesprochene Tendenz zur Nahrungsverweigerung. Am ausgeprägtesten
beobachtet man diese Erscheinung bei denjenigen Verstimmungen, die
Dazu re et un
254
wir den Psychosen zurechnen. Die Erwartung ist daher berechtigt, daß
die Psychoanalyse dieser Erkrankungen uns über die tieferen Ursachen
der Nahrungsverweigerung Aufschluß geben werde.
VI.
Unter den wichtigsten und hervorstechendsten Äußerungen
depressiver Geistesstörungen finden sich zwei Symptome, welche auf die
Nahrungsaufnahme unmittelbaren Bezug haben: die Verweigerung
der Nahrungsaufnahme und die Angst vor dem
Verhungern.
Als ich vor mehreren Jahren einen ersten Versuch! unternahm, die
Struktur der depressiven Geistesstörungen auf psychoanalytischem Wege
aufzuklären, habe ich den soeben genannten beiden Symptomen nicht
die Beachtung geschenkt, die sie mir jetzt zu verdienen scheinen, Ich
glaube, im folgenden einen weiteren Beitrag zur Psychogenese der
Depressionszustände liefern zu können, bin mir aber wohl bewußt, wie
weit ich von einer umfassenden und endgültigen Lösung des Problems
entfernt bleibe.
‚Wer einen melancholisch Deprimierten aufmerksam beobachtet, wird
bald den Eindruck gewinnen, daß der Kranke das Leben verneint. Es
liegt darum sehr nahe, in der Verweigerung der Nahrung den Ausdruck
einer Selbstmordtendenz zu erblicken. Gegen die Richtigkeit dieser
Erklärung ist an sich nichts einzuwenden. Der Psychoanalytiker kann
sich jedoch nicht mit ihr zufrieden geben, weil sie unvollständig und
einseitig ist. Ihm drängt sich die Frage auf, warum denn der zum Sterben
entschlossene Kranke den langsamen und unsicheren Weg des Hunger-
todes wähle. Auch schützt die psychoanalytische Erfahrung davor, allzu
bereitwillig eine Auffassung zu akzeptieren, welche ein psychopatho-
logisches Phänomen auf bewußte, logische Gründe zurückzuführen ‘sucht.
Auch die Entstehung des zweiten der oben erwähnten Symptome —
der Angst vor dem Verhungern — ist nicht durch ein paar einfache
Überlegungen aufzuklären. Die Angst vor dem Verhungern findet sich
mit besonderer Häufigkeit in den Depressionszuständen des Rückbildungs-
alters. Eine primitive psychologische Auffassung dieser Krankheits-
erscheinung würde etwa lauten: der Mensch, der sich altern fühlt, mache
sich Sorgen um seine weitere Existenz. Da im Rückbildungsalter die
Neigung zu nervösen und psychischen Störungen besonders groß sei, so
finde die erwähnte Sorge — je nach der Disposition des Individuums —
\ „Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch-
depressiven Irreseins und verwandter Zustände“. S. 95 u. ff. dieses Bandes.
255
in einer krankhaften Angst oder auch in einer depressiven Wahnidee
ihren Ausdruck.
Eine solche Auslegung trifft nicht das Wesen des Zustandes. Sie
hält sich lediglich an den Wortlaut der krankhaften Vorstellung — an
ihren manifesten Inhalt. Weder die treibenden Kräfte der Psychose noch
der tiefere Gehalt der Symptome werden 'klargestellt.
Die Psychoanalyse spürt dem latenten Inhalt der krankhaften
Vorstellungen nach. In dem früher zitierten Aufsatz konnte ich bereits
nachweisen, daß die depressiv verstimmten Kranken ihrer verloren
gegangenen Liebesfähigkeit nachtrauern. Gerade das Involutionsalter, in
welchem Depressionszustände am häufigsten ausbrechen, bringt eine
Entwertung der genitalen Erotik mit sich. Bei Frauen ist das Gefühl,
nicht mehr Gegenstand der männlichen Wünsche zu sein, von
besonderer Bedeutung. Doch ergibt die Psychoanalyse von depressiven
Geistesstörungen in früherem Lebensalter, daß hier ein ganz ähnlicher
Zusammenhang besteht. Das kranke Individuum wehrt die Wahrnehmung
dieser inneren Veränderung von seinem Bewußtsein ab. Zu gleicher
Zeit aber macht die Libido eine regressive Umwandlung durch, die
wir als besonders tiefgreifend ansehen müssen.
Vertiefte Einblicke in die Struktur der depressiven Psychosen
haben mich zu der Annahme geführt, daß bei den Kranken die
«Libido auf das primitivste uns bekannte Stadium
ihrer Entwicklung regrediere, auf jenes Stadium, welches wir
als das orale oder kannibalistische bezeichnen lernten.
‚ Spuren einer Rückverwandlung der Libido lassen sich auch unter
normalen Verhältnissen im Involutionsalter nachweisen. Bei neurotischen
Personen treten die Anzeichen dieses Prozesses mit unverkennbarer
Deutlichkeit hervor. Nur handelt es sich im allgemeinen um eine weniger
weitgehende Regression, welche überdies einen ruhigen, allmählichen
Verlauf nimmt. Die einschlägigen Erscheinungen sind dem Psycho-
analytiker so bekannt, daß einige Hinweise genügen werden.
Im Involutionsalter wird von vielen Personen der Ernährung eine
gegenüber früheren Zeiten vermehrte Aufmerksamkeit zugewandt. Mit
dem Rückgang der Sexualfunktionen (im engen Sinne des Wortes) wird
dem Essen, seiner Auswahl und Beschaffenheit ein gesteigertes Interesse
entgegengebracht. Die regressive Tendenz dieses Vorganges zeigt sich
deutlich darin, daß häufig die kindliche Vorliebe für das Süße wieder-
kehrt. Bemerkenswert ist auch, daß gleichzeitig die Darmfunktionen
vermehrte Beachtung erfahren. Je mehr die Genitalzone als Lustquelle
außer Kurs gesetzt wird, desto mehr wenden sich viele Individuen zur
Mund- und Anallust zurück. Nicht selten bemerkt man bei Personen
256
im Involutionsalter die wachsende Neigung, die oralen und analen
Interessen zum Gegenstand der Unterhaltung zu machen.
Wie erwähnt, finden sich derartige Erscheinungen bei Neurotikern
in gesteigertem Maße. Die Vorstellungen, welche sich mit der Nahrungs-
aufnahme befassen, nehmen einen hypochondrischen! Charakter an.
Bei den melancholischen Depressionszuständen scheint mir nun
die Libido bis auf die früheste uns bekannte Entwicklungsstufe zu
regredieren. Das soll besagen: der melancholisch Verstimmte richtet
in seinem Unbewußten auf sein Sexualobjekt den Wunsch der Ein-'
verleibung. In der Tiefe seines Unbewußten findet sich die Tendenz,
das Objekt zu verschlingen, zu vernichten.
Als ich in meiner früher zitierten Schrift gewisse auffällige Über-
einstimmungen in der Struktur der Melancholie und der Zwangs-
neurose nachwies, hob ich namentlich die Ambivalenz der Gefühlsregungen
und das ursprüngliche Vorwiegen des Sadismus im Gefühlsleben der
Kranken hervor. Ich sehe mich jetzt genötigt, eine — wie mir scheint
— wesentliche Verschiedenheit der beiden genannten Krankheits-
zustände zu betonen. Unverändert bleibt freilich die Auffassung, daß
die Libido des Kranken dem Objekt seines Begehrens vorwiegend
feindlich gegenüberstehe und es zu vernichten trachte. Im Gegensatz
zum sadistischen Gelüste des Zwangsneurotikers aber scheint mir die
unbewußte Wunschtendenz beim Melancholiker eben dahin zu gehen, °
diese Vernichtung durch das Auffressen des Liebesobjektes zu vollziehen.
Ein Teil der schweren Selbstanklagen der Melancholischen weist
den Kundigen auf solche Triebregungen hin, obwohl dem Kranken
der Zusammenhang völlig unbewußt ist. .
Diese Selbstvorwürfe haben viel Typisches an sich. Mancher
Kranke erklärt sich schlechtweg für den größten Verbrecher aller
Zeiten, ja, er will das Unglück, alle Sünde erst in die Welt gebracht
haben. Wer die Ausdrucksweise der Neurosen und Psychosen kennt,
wird den tieferen Sinn solcher hyperbolischen Selbstbezichtigungen
unschwer verstehen. Der Kranke wehrt ganz bestimmte Vorstellungen
von seinem Bewußtsein ab, die ihm besonders furchtbar und unerträglich
wären, und ich glaube mich zu der Annahme berechtigt, daß es sich
um die kannibalischen Triebregungen handle.
In gewissen Fällen ist dies unschwer ersichtlich, So führt
Kraepelin in seinem Lehrbuch der Psychiatrie unter anderen
1 Ich verweise hier auf Freuds Ausführungen über die Psychogenese der
Hypochondrie. : Sie beruht danach auf einer Regression zum Narzißmus, also eben-
falls einem der frühen Entwicklungsstadien der Libido, (Vgl. Freud, „Zur Einfüh-
tung des Narzißmus“. Jahrb. der Psychoanalyse, Bd. VI, 1914.)
257
Beispielen an: „Der Kranke hat die ganze Welt ins Unglück gestürzt,
die eigenen Kinder gegessen, die Gnadenquelle fortgetrunken.“ Meist
aber geht eine eigentümliche Entstellung mit den Selbstbezichtigungen
des Kranken vor sich.
Mit aller Deutlichkeit spricht die kannibalische Wunschphantasie
auch aus einer bestimmten Form depressiver Wahnbildung. In ver-
gangenen Zeiten war die Wahnvorstellung, die ich fm Auge habe,
außerordentlich verbreitet, doch auch jetzt ist sie noch nicht ganz
verschwunden. Es ist die Wahnvorstellung, in ein wildes
Tier verwandelt zu sein, das Menschen verschlingt.
Der älteren Psychiatrie war diese wahnhafte Selbstanklage so geläufig,
daß man nach ihr einen bestimmten Zustand der „Besessenheit* als
Lykanthropie bezeichnete. Es war der Wahn, in einen Werwolf
verwandelt zu sein.
Häufiger aber vollzieht sich an den Selbstbezichtigungen der
‘* Kranken eine eigentümliche Entstellung. Während der Kranke die
Qualität der erstrebten Handlung vor seinem Bewußtsein verleugnet,
bezichtigt er sich einer Quantität von Untaten, wie er sie in Wirk-
lichkeit gar nicht begangen haben kann.
Nehmen wir an, daß die tiefsten verdrängten Wünsche des Melan-
cholischen kannibalischer Natur seien, daß seine „Sünden“ im letzten
Grunde auf ein verbotenes, ja verabscheutes Essen zurückgehen,
so verstehen wir die große Häufigkeit der Nahrungsverweigerung.
Der Kranke benimmt sich, als könne nur völliges Vermeiden
jeder Nahrungsaufnahme ihn vor der Betätigung seiner
verdrängten Regungen bewahren. Zugleich aber verhängt er über sich
diejenige Strafe, welche den unbewußten kannibalischen Antrieben
allein adäquat ist: den Tod durch Verhungern.
Auch die Angst der Kranken vor dem Verhungern ist nunmehr
leicht zu verstehen. Der Drang nach „Einverleibung“, nach dem Auf-
fressen des begehrten Objektes stößt auf mächtige innere Widerstände.
Ganz wie andere Triebregungen, so verwandelt auch das kannibalische
Verlangen sich in neurotische Angst, wenn seine Verwirklichung auf
übergroße Widerstände stößt. Es droht ihm das Schicksal, niemals
erfüllt zu werden; nie soll die Mundzone jene vom Unbewußten
ersehnte Sättigung erfahren. Die Angst vor dem Verhungern
ist die Folge.
Ich kann das Thema der melancholischen Störungen nicht verlassen,
ohne noch besonders zu betonen, daß ich im obigen nur den Wunsch-
gehalt gewisser depressiver Wahnvorstellungen und die unbewußten
Antriebe zu gewissen Eigentümlichkeiten im Verhalten der Melancholischen
17
258
zu klären versucht habe, nicht dagegen die Ursachen der melancholischen
Depression überhaupt. Dieses umfassende Problem zu lösen, lag nicht
im Plan der vorliegenden Untersuchung.
VI.
Die unbewußten kannibalischen Regungen, welche mir bestimmten
Symptomen der depressiven Geistesstörungen zu Grunde zu liegen.
scheinen, existieren auch beim normalen erwachsenen Menschen. Sie
kommen gelegentlich in seinen Träumen zum Vorschein.
Ein Bekannter berichtete mir einmal folgenden Traum. Er sah
vor sich eine Schüssel mit Essen, das ihm seine Frau zubereitet hatte,
Die Masse in der Schüssel sah wie Gemüse aus: darauf aber lagen —
als wären sie in dem Gemüse gekocht — die Beine eines Kindes. Sie
erinnerten den Träumer während des Traumes an die Glieder seines
kleinen Sohnes. Er erwachte mit größtem Entsetzen; aus dem Schlafe
aufschreckend, wurde er sich klar darüber, daß er im Begriff gewesen
war, im Traume Teile seines eigenen Kindes zu verzehren.
Das Entsetzen, welches dieser Mann bei dem bloßen Gedanken
an eine solche Tat empfand, ist das gleiche, das uns all& gegenüber
den Gewohnheiten der kannibalischen Völker erfüllt. Noch jetzt kommt
es bei gewissen Völkern vor, daß ein Häuptling etwa seinen aufsässigen
Sohn tötet oder töten läßt-und ihn dann verspeist.
Und in verbreiteten Sagen der Kulturvölker begegnen wir dem
Gotte, der seine eigenen Kinder verschlingt. Hier ist nicht der Ort,
auf mythologische und ethnologische Einzelheiten einzugehen. Ich
verweise darum auf das reichhaltige Material, welches Rank in
seinem Werk über das „Inzestmotiv“ verarbeitet hat, besonders auf
das Kapitel, welches dem „Motiv der Zerstückelung“ gewidmet ist.
Alle die mannigfaltigen Tatsachen, die ich im obigen zusammen-
getragen habe, nötigen uns, Freuds Annahme einer frühen
kannibalischen Entwicklungsstufe der Libido anzuerkennen. Diese Phase
des individuellen Trieblebens entspricht ganz der kannibalischen
Kulturstufe, welche sich bei gewissen Völkern bis auf den heutigen
Tag erhalten hat, die aber auch von den „Kulturvölkern“ auf dem
langen Wege ihrer Entwicklung einmal passiert wurde. Und wie
gewisse psychische Produkte des gesunden und kranken Einzelwesens
an jenes frühe Stadium seiner Kindheit erinnern, so bewahrt auch
das Volk in Sagen und Märchen die Spuren seiner entferntesten
Vergangenheit.
Über Ejaculatio praecox‘.
Unter den Störungen der männlichen Potenz kommt in der
nervenärztlichen Praxis keine so häufig zur Beobachtung wie die Ejaculatio
praecox. Der Vorgang selbst ist nicht nur Ärzten, sondern auch Laien
wohlbekannt: die Samenentleerung tritt beim Geschlechtsakt vorzeitig,
d. h. alsbald nach der Immissio penis oder gar schon vorher ein,
während zugleich die Erektion schwindet. Diese Beschreibung wird jedoch
der Affektion nur ganz im Groben gerecht. Wohl hat die Ejaculatio
praecox auch eingehendere Bearbeitungen gefunden, doch auch diese
erfassen ihr eigentliches Wesen nicht; am wenigsten klären sie uns
über die Entstehung des Leidens auf.
In der psychoanalytischen Literatur hat die Ejaculatio praecox
bisher keine gesonderte und gründliche Bearbeitung gefunden. Sie wurde
bisher nur mit den anderen Störungen der Potenz gemeinsam behandelt.
Dies gilt auch für die Schriften von Steiner und Ferenczi. Der
erstere Autor gibt eine gedrängte Übersicht der psychoanalytischen
Erfahrungen auf diesem Gebiet. Eingehender befaßt sich Ferenczi
mit dem Ursprung der Störungen. In seinem Aufsatz kommen die
unbewußten Ursachen der Impotenz zur vollen Geltung. Eine spezielle
Untersuchung der Ejaculatio praecox fehlt aber auch hier.
Und doch enthält die psychoanalytische Literatur bereits die
Grundlagen, auf welchen eine genauere Untersuchung des Gegen-
standes fußen kann. Neben den Werken Freuds hebe ich hier
wichtige Mitteilungen von Sadger? hervor; ich werde im folgenden
auf diese Quellen des öfteren zu verweisen haben.
Ich hatte Gelegenheit, die Ejaculatio praecox bei einer Reihe
von Neurotikern zu behandeln. Es ist nicht meine Absicht, hier den
einen oder anderen dieser analysierten Fälle zur Darstellung zu
bringen; vielmehr sollen die Ergebnisse meiner einschlägigen
Psychoanalysen, soweit ich ihnen allgemeine Gültigkeit zusprechen
darf, in gedrängter Kürze zusammengefaßt werden.
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, IV. Jahrgang, 1916.
2 „Über Urethralerotik*. Jahrb.f,psychoanalyt. Forschungen. II.Bd. 1910. S.409 u ff.
Yr
260
l. Die Urethra als bevorzugte erogene Zone.
Wie schon erwähnt wurde, ist die übliche Beschreibung der
Ejaculatio praecox nach verschiedenen Richtungen unvollständig. Hat
man Patienten, welche sich gut beobachten, und folgt man aufmerksam
ihren Schilderungen und ihren freien Assoziationen, so wird man mit
einer Tatsache bekannt, die keine genügende Beachtung gefunden hat.
Man erfährt nämlich, daß bei den Kranken die Samenentleerung nicht
durch rhythmische Ausstoßung erfolgt, sondern daß ein kraftloses
Abfließen stattfindet. Geschieht demnach der Vorgang nicht unter
energischen aktiven Körperbewegungen und maximaler Erektion noch
unter rhythmischen Zusammenziehungen der Dammuskulatur, und
erfolgt das Abfließen des Samens gar schon „ante portas“, so
erinnert nurnoch das Spermaals Stoff an die normale
Entleerung der Geschlechtsprodukte. Um so auffälliger wird
die Ähnlichkeit der Ejaculatio praecox mit einem anderen physio-
logischen Vorgang: der Harnentleerung. Diese geht bei körperlicher
Ruhe, nicht erigiertem Gliede und unter gleichmäßigen (nicht
rhythmischen) muskulären Zusammenziehungen vor sich.
‘ Man kann die Ejaculatio praecox somit als eine Verquickung
zweier Prozesse auffassen: Hinsichtlich des entleerten
Stoffes ist sie eine Ejakulation, hinsichtlich des
Modus der Ausstoßung dagegen eine Miktion.
Es ist überraschend, mit welcher Regelmäßigkeit die Assoziationen
der Patienten früher oder später zu diesem Ergebnis führen. Ehe man
zu ihm gelangt, erfährt man eine Fülle von Tatsachen, die alle auf
einen besonderen Lustwert der Harnentleerung und eine stark betonte
Erogeneität der Urethra bei dieser Gruppe von Neurotikern schließen
lassen!,
Man wird aber einen erheblichen Unterschied zwischen Ejaculatio
praecox und Harnentleerung nicht übersehen dürfen, auf welchen man
ebenfalls durch die Assoziationen der Patienten geführt wird. Die
Urinentleerung erfolgt jenseits der frühen Kindheit zwar unter dem
Zwange eines Reizes, der auf die Dauer nicht zu überwinden ist; der
Zeitpunkt der Entleerung ist jedoch in ziemlich weitem Umfang von
der Willkür abhängig. In gewissem Umfang gilt das gleiche auch für
die normale Ejakulation.
Die vorzeitige Ejakulation hingegen ist im wesentlichen
unabhängig vom Willen des Patienten. In seinem Bewußtsein wünscht
er sich den normalen Ablauf des Geschlechtsaktes. Von dem vorzeitigen
1 Vgl. hiezu Sadgers zitierte Abhandlung.
261
Eintreten der Samenentleerung wird er jedesmal wieder überrascht,
wie von einem Ereignis, das sich überstürzt vollzieht. Viele
Patienten schildern, daß sie im Augenblick der vorzeitigen Entladung
ein Schamgefühl empfinden, das sich mit Angst oder Herzklopfen
verbindet.
Die Ejaculatio praecox findet also wider den bewußten Willen des
Individuums statt. Erinnerte uns der Vorgang zunächst an die normale
Harnentleerung, so werden wir diese Anschauung jetzt etwas modifizieren
müssen. Wir werden zum Vergleich die Form des Urinabganges
heranziehen, wie sie der ersten Kindheit eigen ist. Das passive Fließen-
lassen des Samens, wie es bei der Ejaculatio praecox geschieht, lehnt
sich in vollkommener Weise an die dem Willen entzogene Urinentleerung
der ersten Kindheit an, die sich bekanntermaßen bei Neurotikern bis
in spätere Lebensperioden in größerem oder kleinerem Umfang zu
erhalten vermag.
Die freien Einfälle des Patienten pflegen ein Material zu liefern,
das uns in eindringlicher Weise auf diese Lösung hinführt. Folgen wir
ihnen ohne jedes Vorurteil, so erhalten wir anamnestische Daten, die
einander von Fall zu Fall erstaunlich ähneln. Wir erfahren — abgesehen
von solchen Reminiszenzen, die sich auf starke Lustbetonung der
willkürlichen Harnentleerung in der Kindheit beziehen —, daß die
Kranken schwer an Reinlichkeit zu gewöhnen waren, daß sie selbst bis
ins erwachsene Alter öfter Urin in kleineren oder größeren Mengen
unfreiwillig verloren, daß sie bis in späte Kindheitsjahre an Bettnässen
litten, daß sie auf Erregungen aller Art sehr leicht mit einem unwider-
stehlichen Harndrang reagieren. Die gleichen Menschen, welche die
normale Beherrschung der Blasenfunktion erst spät oder überhaupt nur
unvollkommen erwarben, neigen auch zum vorzeitigen, überstürzten
Samenabfluß. Sie geben auch an, daß die körperliche Empfindung der
Ejaculatio praecox mit der des unbeherrschten Urinabflusses für sie
identisch sei. Auf andere, sehr wichtige Kindheitserinnerungen wird
später einzugehen sein; sie beziehen sich auf die exhibitionistische Lust
arı der Urinentleerung vor den Augen einer anderen Person und auf
deren Hilfeleistung bei dieser Verrichtung.
Die in Rede stehenden Neurotiker sind nach dem bisher Gesagten
auf einem bestimmten Punkt der Libido-Entwicklung stehen geblieben.
Sie ziehen in infantiler Weise Lust aus dem Abfließenlassen körperlicher
Produkte. Die Ejaculatio praecox hat jedoch für sie gleichzeitig Lust-
und Unlustbedeutung. Außer stande, auf dem Wege kraftvoller männlicher
Aktivität die höchste Lust zu erwerben, sind sie der für sie stärksten
Lust des passiven Fließenlassens hingegeben. Anderseits ist die
262
Ejaculatio praecox für sie die Quelle starker Unlust. Sie leiden unter
quälenden Insuffizienzgefühlen, empfinden beim Eintritt der vorzeitigen
Ejakulation nervöse Angst, nicht selten auch etwas wie Selbstvorwürfe.
Dieser Zustand der Ambivalenz muß besonders hervorgehoben werden,
wie in der Regel der Lustcharakter der Ejaculatio praecox ganz über-
sehen wird. Bei dem einen Patienten ist die Lustbetonung, bei dem
anderen die Unlustbetonung vorwiegend.
Schon aus dem bisher Gesagten ist ersichtlich, daß die Libido der
Neurotiker, welche an vorzeitiger Ejakulation leiden, der durchgreifenden
männlichen Aktivität ermangelt. Wir werden hier mit einer weiteren
Eigentümlichkeit im Geschlechtsleben dieser Neurotiker bekannt; wir
müssen aber zunächst von der Verfolgung dieser Spur absehen und uns
der Exkretionslust der Patienten nochmals zuwenden, werden aber
alsbald die verlassene Spur wieder auffinden,
Ist die Urethrallust übermäßig betont, so wird diesem „Zuviel“ ein
„Zuwenig“ an anderer Stelle entsprechen. Die Untersuchung einer
Reihe von einschlägigen Fällen ergibt — trotz vieler noch zu erwähnender
individueller Abweichungen —, daß bei allen Patienten die
Genitalzone (im strengen Sinne des Wortes) nicht zur
Leitzone gewordenist. Es muß hier an die grundlegenden
Ausführungen Freuds erinnert werden, wie sie schon in der ersten
Auflage der „Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie“ enthalten sind.
Beim männlichen Kinde wird mit dem Eintritt der Pubertät der Primat
der Genitalzone aufgerichtet, indem die übrigen erogenen Zonen dieser
tributär werden. Sie liefern die Vorlust, während die Reizung der
Genitalzone (insbesondere des Glans penis) zur Befriedigungslust führt.
Beim weiblichen Geschlecht muß die höchste Erogeneität im Pubertäts-
alter auf die Vagina übergehen; hier ist die Etablierung der Leitzone
oft dadurch gestört, daß von der Kindheit her die vorwiegende Erreg-
barkeit der Clitoris bestehen bleibt, desjenigen Organes also, welches
das weibliche Analogon des Penis darstellt. Durch Übergang der
stärksten erogenen Bedeutung von der Clitoris auf den Scheideneingang
gibt, wie Freud es ausgedrückt hat, die weibliche Sexualität einen
männlichen Zug auf. Bleibt jedoch der Vorrang der Clitoris erhalten,
dann ist die Unerregbarkeit des Weibes beim Geschlechtsakt, die
sogenannte Frigidität, die Folge.
Tatsächlich ergibt sich nun in sehr vielen Fällen von Ejaculatio
praecox, daß bei den Patienten die Oberfläche der Glans penis
mangelhaft erregbar ist. Sehr häufig ist bei ihnen die Intoleranz
gegen die Verwendung von Kondoms; die deckende Schicht nimmt den
Nervenendigungen derSchleimhaut auch noch den Rest von Erregbarkeit.
263
Ein Teil der Fälle scheint dieser Erfahrung auf das schroffste zu
widersprechen. Es sind diejenigen Neurotiker, bei welchen die geringste
Genitalberührung mit dem weiblichen Körper — besonders aber die
' geringste manuelle Berührung von seiten des Weibes — genügt, um
einen überstürzten Samenabfluß hervorzurufen. Diese Übererregbarkeit der
Genitalzone ist aber keineswegs ein Zeichen ihres Primates, sondern
im Gegenteil der Ausdruck ihrer Ohnmacht. Die eigentlichen männ-
lichen Genitalfunktionen — Erektion, Immission, Reibung der weib-
lichen Teile — kommen vollständig in Wegfall. Ehe es auch nur zum
Beginn der Erektion kommt, tritt ein Samenabfluß ein, der von uns
bereits als einem Urinabgang gleichwertig erkannt ist. Erst später
wird uns dieser Vorgang restlos verständlich werden.
Während also bei der weiblichen Frigidität die Glans clitoridis
sozusagen alle Erregbarkeit an sich gerissen hat, ist bei der Ejaculatio
praecox des Mannes das Umgekehrte der Fall. Die Glans penis hat ihre
normale Erregbarkeit verloren; die Sexualität dieser Männer
hat damit ihren eigentlich männlichen Charakter
E eingebüßt.
| Ejaculatio praecox und weibliche Frigidität entsprechen einander
sogar in noch weiter gehendem Maße.
| Neben der mangelhaften genitalen Empfindlichkeit besteht nämlich
| bei den Patienten häufig eine besondere Erogeneität des Dammes und
der rlickwärtigen Partien des Skrotums. Diese Gegend entspricht aber
| entwicklungsgeschichtlich dem Introitus vaginae und seiner Umgebung.
Das Verhältnis zwischen Ejaculatio praecox und weiblicher Frigidität
wäre nunmehr so zu formulieren: Die dem Geschlecht entsprechende
Leitzone hat die ihr zukommende Bedeutung an diejenige Körperpartie
abgegeben, welche das Äquivalent der Leitzone des anderen
Geschlechtes darstellt..
Derjenige Teil der männlichen Harnröhre, in welchem die
Lustempfindungen der Ejaculatio praecox lokalisiert sind, liegt übrigens
im Damm. Besondere Beachtung verdient ferner die Muskulatur des
Dammes, die der Samenausstoßung dient. Ihre Funktion vollzieht
sich normalerweise in Form rhythmischer Zusammenziehungen; bei
vorzeitiger Ejakulation findet dagegen ein Erschlaffen statt, ganz wie
bei der Blasenentleerung. Es ist nun bemerkenswert, daß die Muskeln
des Dammes sich bei einem Teil unserer Patienten gelegentlich
| spontan kontrahieren. Dieser Vorgang aber hat die Wertigkeit eines
| vom Bewußtsein unabhängigen neurotischen Symptoms, Ich meine die
| von den Patienten öfter geschilderten Dammkrämpfe.
Der Auffassung des Ejaculatio praecox, wie sie sich uns bisher
264
auf Grund psychoanalytischer Untersuchungen gestaltet hat, scheint
eine Tatsache zu widersprechen. In der weitaus überwiegenden Zahl
der Fälle tritt nämlich die vorzeitige Ejakulation nur beim Versuch
des Geschlechtsaktes, nicht aber bei masturbatorischer Reizung ein.
Man darf fragen, warum in diesem Falle jenes von uns angenommene
Kompromiß zwischen Ejakulation und Miktion nicht zustande kommt.
Wir können diesem Einwand vorläufig mit der Vermutung begegnen,
daß eben das Zusammentreffen mit dem Weibe die neurotische Störung
hervorrufe; es erwächst uns dann aber die Aufgabe, die Einstellung -
der uns beschäftigenden Neurotiker zum weiblichen Geschlecht genauer
zu untersuchen.
2. Die Schicksale der männlich-aktiven Triebregungen.
Die Neurotiker, welche an vorzeitiger Ejakulation leiden, kann
man in zwei Gruppen teilen, die freilich nicht scharf gegeneinander
abzugrenzen sind. Man findet das Symptom zunächst bei solchen
Männern, deren gesamtes Wesen schlaff, energielos, passiv, kurz —
unmännlich erscheint. Anderseits begegnen wir ihm bei erethischen,
überlebhaften, beständig hastenden- Männern. Der Widerspruch, der
hier vorzuliegen scheint, löst sich für den Psychoanalytiker unschwer.
auf. Jede Aktivität, die nur in Hast und Überstürzung zu ihrem Ziele
zu gelangen vermag, ist durch Widerstände bedroht. Der hastende
Neurotiker ist auf der Flucht vor den in ihm liegenden unbewußten
Widerständen; er muß seine Vorsätze in fieberhafter Eile zur
Ausführung bringen, ehe seine Widerstände zum Durchbruch kommen
und ihn zu völliger Resignation zwingen. Der schlaffe Neurotiker hat
den Kampf gegen diese Kräfte aufgegeben; der erethische setzt sich
ihnen gegenüber noch zur Wehr, 5
Männer mit vorzeitiger Ejakulation sind solche, welche mit
starken — teils unbewußten, teils bewußten — Widerständen
gegen die spezifisch männlichen, aktiven Leistungen
behaftet sind.
Die Neurotiker mit vorwiegender Schlaffheit äußern in der Regel
einen ganz bewußten Widerwillen gegen jede geschlechtliche Aktivität;
ja, sie haben das direkte Verlangen, die weibliche Rolle zu übernehmen.
Ein solcher Patient, den ich beobachtete, bevorzugte die Rolle des
Succubus und gab für diese Vorliebe einen rationellen Grund an:
wenn er ein Mädchen bezahle, wolle er nicht obendrein noch die
Anstrengung haben; vielmehr solle das Mädchen für das Geld auch
„arbeiten“. Es ist klar, daß Neurotiker mit diesem Höchstmaß von
|
265
Bewegungsunlust nicht eben günstige Objekte der ärztlichen
Behandlung sind, zumal dann, wenn sie für ihre Abnormität bewußt
Partei nehmen. Die geschlechtliche Befriedigung ohne
aktive Anstrengung zu erreichen, ist ihr Hauptinteresse.
Die eretbischen, in dauernder Hast lebenden Neurotiker erblicken
meist im Koitus eine lästige Aufgabe, die schnell abgemacht
werden muß. Sie verlieren ihre nervöse Hast auch nicht im
Zusammensein mit dem Weibe. Unbewußte Faktoren bewirken dann,
daß für diese Neurotiker der Geschlechtsakt sein überstürztes Ende
erreicht, ehe er eigentlich begonnen hat.
Der Widerwille gegen aktive, motorische Leistungen greift auf
andere Gebiete über. Ich erwähne nur das Verhalten solcher Patienten
gegenüber dem Sport. Viele haben einen ausgesprochenen Widerwillen
gegen jede Muskelarbeit; andere betreiben einen Sport mit über-
triebenem Ehrgeiz und in übereifriger, überhasteter Art, um bei einem
Mißerfolg plötzlich ganz zu resignieren.
- Die Schlaffheit und Passivität dieser Neurotiker ist aber, wie jede
Psychoanalyse aufs neue lehrt, eine reaktive Erscheinung. Es
läßt sich erweisen, daß sie an die Stelle allzu heftiger, sadistisch-
gewalttätiger Antriebe getreten ist.
Die Neigung zur Ausfälligkeit in Worten, zum Tas, zu gewalt-
tätigen Handlungen, ist bei diesen Neurotikern außerordentlich groß,
soweit sie nicht gelähmt wird durch einen anderen, ebenfalls höchst
bezeichnenden Charakterzug: die Feigheit. Übertriebene Zornmütigkeit
und Lähmung der normalen männlichen Angriffslust finden sich hier
in naher Nachbarschaft beieinander. Auch das bei dieser Gruppe von
Neurotikern häufige Nebeneinander von übergroßem Ehrgeiz und
schweren Arbeitswiderständen mag an dieser Stelle erwähnt sein.
Mit der soeben gegebenen Schilderung haben wir zwar eine
Reihe von wichtigen Erscheinungen berührt, welche sich bei Neuro-
tikern neben der Ejaculatio praecox vorzufinden pflegen, wir sind
aber nahe an der Oberfläche der Erscheinung geblieben. Lassen wir
uns von den Assoziationen der Patienten leiten, so erfahren wir, daß
ihre Libido ursprünglich keineswegs einer sadistischen Komponente
entbehrte. Im Gegenteil lehrt uns die Psychoanalyse in den meisten
Fällen, daß neben der unmännlich-passiven oder überhastet-aktiven
Einstellung zum Weibe im Unbewußten der Kranken eine andere,
aggressiv-grausame Einstellung zumWeibe besteht. Aus
Träumen und anderen Phantasieprodukten der Kranken erfahren wir
sehr häufig von der Vorstellung, das Weib durch den Koitus zu töten.
In diesen Phantasien ist der Penis die Waffe des Sadismus.
tr
ES
266
Die reaktive Umwandlung solcher Triebregungen führt zu einem
Ergebnis, welches wir bei den Patienten oft genug konstatieren können.
Das männliche Genitale wird seiner Gefährlichkeit beraubt; es darf
dem Weibe gegenüber nicht mehr in den Zustand geraten, in welchem
es dem Sadismus dienen könnte. Vorzeitige Erschlaffung und Ejaku-
lation beseitigen diese Gefahr. Darüber’ hinaus haben viele der Patienten
vor Ausführung des Geschlechtsaktes eine ausgesprochene Angst, dem
:Weibe Schmerzen zuzufügen. Ein Rest von Potenz bleibt ihnen nur,
wenn sie der vollkommenen Einwilligung des Weibes sicher sind;
ihre aggressiven Regungen sind dermaßen unterdrückt, daß ihnen jede
sexuelle Initiative im strengen Sinne des Wortes abgeht. Manche ver-
mögen überhaupt keinerlei Beziehungen zu weiblichen Personen aus
eigener Initiative anzuknüpfen, andere sind zwar fähig, eine Beziehung
einzuleiten, verlieren aber ihre Aktivität in dem Augenblick, da sie
zur körperlichen Aktion übergehen sollen,
Einer meiner Patienten war im Anfang seiner Ehe im allgemeinen
impotent. Er fühlte eine feindlich-aggressive Einstellung zu seiner
Frau. Der geringste Streit mit ihr hatte bei ihm völlige Impotenz zur
Folge. Er beobachtete jedoch bei sich eine verhältnismäßig gute
Potenz, wenn er sich mit seiner Frau gerade ausgesöhnt hatte.
War also für den Augenblick der äußere Anlaß zur Feindseligkeit und
Rache geschwunden, so war ihm eine vorübergehende geschlechtliche
Aktivität gegönnt.
Die Assoziationen der Kranken führen aber weiter zu dem Er-
gebnis, daß für ihr Unbewußtes die Ejaculatio praecox das extreme
Gegenteil des Tötens bedeutet. An die Ejaculatio praecox knüpft sich
mit großer Häufigkeit die unbewußte, nicht selten sogar bewußte Vor-
stellung des eigenen Todes. Sie ist ein kraftloses Ersterben; manche
Krarıke gebrauchen den Ausdruck, daß sie sich hinschwinden, zer-,
fließen fühlen. Bezeichnend ist ein nicht selten mit der vorzeitigen
Ejakulation verbundenes Ohnmachtsgefühl.
Der Verlust der männlichen Aktivität zeigt sich des weiteren in
dem Affekt der Angst, welcher die Ejaculatio Praecox häufig begleitet.
Namentlich diejenigen Patienten, deren Leben sich in dauernder Hast
abspielt, produzieren solche Angst.
Ihre Hast und Angst erinnert uns von neuem an das Verhalten
frigider Frauen, die nach unserer Erfahrung sich ständig in Hetze
befinden. Die diesen Frauen eigentümliche Angst, „nicht fertig zu-
werden“, die sich auf alle Aufgaben des täglichen Lebens ausdehnt,
findet sich bei unseren männlichen Neurotikern wieder. Sie erledigen
ihre geschlechtlichen Funktionen in Hast, als drohte jeden Augenblick
TFT
267
eine Störung. Diese Angst vor dem Gestörtwerden ist im Unbewußten
der Kranken eng verknüpft mit ihrer Einstellung zum Vater. Sie
ängstigen sich vor dem allsehenden Auge des Vaters und vor seiner
strafenden Hand. Wir befinden uns hier auf gut bekanntem Boden;
die Kastrationsangst, deren Bedeutung im Seelenleben des
kleinen Knaben und im Unbewußten des erwachsenden Mannes
Freud erkannt hat, entfaltet ihre Wirkung auch in der Psychogenese
der Ejaculatio praecox.
Die nämlichen Patienten empfinden eine ausgesprochene Angst
vor dem weiblichen Genitale. Es trägt für sie den Charakter des
Unheimlichen. Regelmäßig bestätigt uns die Psychoanalyse, daß der
Mangel des Penis beim Weibe es war, der die Kastrationsangst
ursprünglich hervorgerufen hat. Die körperliche Annäherung an das
Weib erweckt dieses Grauen in den Patienten jedesmal von neuem.
Dieser Angst nahe verwandt ist eine zweite: durch den Geschlechts-
akt selbst den Penis zu verlieren. Nicht selten bringen die Patienten
dem Arzt die Mitteilung von einer Angst entgegen, die seit dem
Pubertätsalter nicht von ihnen gewichen ist. Es handelt sich um die
Phobie, den Penis nicht wieder aus dem Körper des Weibes zurück-
ziehen zu können, sondern ihn darin zurücklassen zu müssen. Die
Angst lehnt sich an eine der infantilen Sexualtheorien an, welche in
der Pubertät neu belebt werden. Nach dieser Theorie beraubt das
Weib bei der ersten und einzigen Vereinigung den Mann seines
Genitalorgans durch Abreißen oder Einklemmen desselben. Die
Angst vor einem solchen Vorgang liefert einen weiteren Beitrag zur
Erklärung der Tatsache, daß bei unseren Patienten vielfach zunächst
Libido und Erektion vorhanden sind, daß aber gleich nach der Immissio
oder schon im Augenblick der körperlichen Annäherung die Erektion
schwindet. Der Patient bringt sich aus solchen unbewußten Motiven im
letzten Augenblick in Sicherheit; bewußt reagiert er auf diesen unmänn-
lichen Rückzug mit lebhaften und peinigenden Insuffizienzgefühlen.
In einigen Fällen lieferten die Assoziationen der Patienten den
Beweis, daß sie sich durch den Vorgang der Ejaculatio praecox vor
den Augen des Weibes gleichsam selbst entmannten. Phantasien dieser
Art werden später ihre Aufklärung finden.
Die mangelnde sexuelle Aktivität unserer Patienten findet ihren
Ausdruck noch in anderer Form. Es ist uns geläufig, daß neurotische
Widerstände gegen eine Verrichtung sich oftmals als Ungeschick-
lichkeit bei ihrer Ausführung kundgeben. Neurotiker, die mit vor-
zeitiger Ejakulation behaftet sind, legen beim geschlechtlichen Verkehr
stets eine deutliche Ungeschicklichkeit an den Tag. Typisch ist für sie
268
die Unfähigkeit zur Immissio penis ohne Hilfe des weiblichen Partners.
Hauptsächlich aus diesem Grunde fürchten sie den Verkehr mit einem
sexuell unerfahrenen Weibe, das ihnen in solcher Weise entweder
nicht beispringen kann, oder dem sie eine solche Hilfeleistung nicht
zumuten dürfen. Eine weitere Erklärung dieses Verhaltens wird -sich
übrigens noch späterhin ergeben.
3. Der Narzißmus als Quelle der Sexualwiderstände.
Die bisherige Untersuchung hat keinen Zweifel darüber gelassen,
daß bei unseren Patienten die Entwicklung der Libido eine Hemmung
erfahren hat. Sie haben die normale Einstellung des Mannes zum Weibe
nicht erreicht; ihre Sexualität weist vielmehr eine große Zahl infantiler
Züge auf. Genauer gesagt: sie empfinden insoweit normal, daß: ihre
Libido sich bewußtermaßen — wenn auch nicht ausschließlich, so doch
in der Hauptsache — auf die normalen Geschlechtsbeziehungen zum
Weiberichtet. Wohl ist einem Teil der Patienten schon die Anknüpfung
mit dem Weibe sehr erschwert; diese Eigentümlichkeit teilen sie aber
mit anderen Neurotikern. In einer abnormen, für sie spezifischen Weise
reagieren sie erst in dem Augenblick, da sie ihre sexuelle Aktivität im
strengen Sinne des Wortes zeigen sollen. Gegen ihren bewußten Willen
macht sich dann eine Störung bemerkbar, die von unbewußten libidi-
nösen Gegenströmungen herrührt. Wir haben bereits erfahren, daß diese
Strömungen infantiler Art sind. Ihre Tendenz ist, den Geschlechtsakt
im eigentlichen Sinne des Wortes nicht zur Ausführung kommen
zu lassen. Statt seiner findet eine kraftlose, dem unwillkürlichen Harn-
abfluß des Kindes ähnliche Samenentleerung statt. Das aktiv-motorische
Verhalten des Mannes ist durch gänzliche Passivität ersetzt.
Es ergibt sich dann die Frage, welcher Art und Herkunft die
unbewußten Widerstände seien, durch welche das Individuum gehindert
wird, sich normal zum anderen Geschlecht einzustellen. Meine Psycho-
analysen verweisen in dieser Hinsicht übereinstimmend auf den Nar-
zißmus; nicht im Sinne einer völligen Regression der Libido auf dieses
infantile Stadium, so wie sie Freud für die paranoischen Erkrankungen
nachgewiesen hat. Vielmehr handelt es sich um störende Einflüsse.
verdrängter narzißtischer Tendenzen, die zu keiner völligen Herrschaft
gelangen. Ihre Macht beweisen sie immerhin dadurch, daß sie dem
Individuum gewisse Kompromisse aufzwingen, zu denen auch die uns
beschäftigende Potenzstörung gehört.
Bei einem Teil der an Ejaculatio praecox Leidenden legt schon
die flüchtige Beobachtung diese Auffassung nahe. Unsere Patienten
269
lassen schon in ihrer Kleidung und ihrem Auftreten ein ungewöhn-
liches Maß von Eitelkeit erkennen. Die geringste kritische Bemerkung
eines anderen Menschen kann sie in maßlose Heftigkeit versetzen. Sie
verlangen, von ihrer Umgebung bewundert zu werden, sind überhaupt
von einem krankhaften Ehrgeize erfüllt.
Die Psychoanalyse deckt den Narzißmus der Patienten vollends
auf. Sie erweist regelmäßig eine ganz mangelhafte Objektliebe; sein
eigentliches Liebesobjekt ist der Kranke selbst. Und ganz entsprechend
den von Freud mitgeteilten Erfahrungen finden wir bei jedem unserer
Kranken eine besonders hohe und mit abnormen Affektäußerungen
verbundene Wertschätzung des Penis. Sie äußert sich unter anderem
in der übermäßigen Angst vor Verlust oder Besehadienne des Organst,
von der bereits die Rede war.
Die Psychoanalyse jedes Falles von Ejaculatio praecox macht
uns aber mit einer Fülle anderer Erscheinungen des Narzißmus bekannt.
Um sie richtig zu würdigen, bedarf es eines kurzen Rückblicks auf
die entsprechenden Phänomene im Kindesalter.
Das Kind erlebt die ersten Befriedigungen seiner Libido bei
Gelegenheit körperlicher Funktionen, wie der Nahrungsaufnahme und
der Exkretionsvorgänge. Seine erste Sympathie wendet das Kind den
Personen zu, welche ihm Nahrung, Pflege usw. angedeihen lassen. Da
sie sich hiebei mit seinem Körper befassen müssen, rufen sie beim
Kinde gleichzeitig durch Reizung erogener Zonen Lustempfindungen
hervor. Das Kind nimmt diese letzteren wie Geschenke entgegen.
Dieses Stadium der Libidoentwicklung, in welchem das Kind
sich selbst der Mittelpunkt seiner noch engen Welt ist und in welchem
es Liebesbeweise von anderen Personen ohne Gegengabe in Empfang
nimmt, bezeichnen wir als Narzißmus.
Die Beziehungen zum Liebesobjekt entwickeln sich weiter,
indem das Kind anfängt, der anderen Person vom Seinigen zu geben.
Die Produkte des eigenen Körpers — sie sind in der Vorstellung des
Kindes Teile des Körpers — stellen in erster Linie die Münze dar,
mit welcher das Kind bezahlt. Diese Stoffe unterliegen der narzißtischen
Überwertung. Hier sei nur ein Beispiel gegeben. Es ist eine öfters zu |
bestätigende Erfahrung, daß ein Kind, wenn es etwa im Familienkreise
von Hand zu Hand gereicht wird, mit einer den Angehörigen rätsel-
haften Auswahl immer eine bestimmte Person mit seinem Urin benäßt.
Das ist einer der primitivsten Liebesbeweise, weit ursprünglicher als
Kuß oder Umarmung, die das Kind erst durch Nachahmung lernt.
Wir werden an die Begrüßungsformen mancher primitiver Völker
1 Freud, Zur Einführung des Narzißmus, Jahrb. der Psychoanalyse, VI. 1914.
|
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270
erinnert. Gibt man einem anderen Menschen von den eigenen Körper-
produkten, z. B. Speichel, so will das bedeuten: ich gebe dir vom
Meinigen, das mir doch kostbar sein muß, also meine ich es gut
mit dir!
Wir konnten aus der Vorgeschichte unserer Patienten “den
besonderen Lustwert der Harnentleerung feststellen, ferner aber auch
die über das gewohnte Maß des kindlichen Narzißmus hinausgehende
Wertschätzung des Penis. Der ersteren Tatsache liegt augenscheinlich
eine konstitutionelle Eigentümlichkeit zu Grunde. Wird nun schon
normalerweise im Stadium des kindlichen Narzißmus dem Penis eine
hohe Wertschätzung zu teil, die sich sowohl auf die Berührungslust
als auch auf die Exkretionslust gründet, so sind die möglichen
Folgeerscheinungen einer konstitutionell verstärkten Urethral-
lust einleuchtend. Das Individuum wird zu einer Zeit, da es sich
längst der normalen Objektliebe zugewandt haben sollte, einen starken
Anlaß zum Verweilen im Narzißmus in sich tragen. Ferner wird sich
in den Vorstellungen des Kindes die Überwertung des Penis als
Organ der Harnfunktion in besonderem Maße fixieren. Tritt
später an das Organ die Anforderung der eigentlichen Geschlechts-
funktion heran, so weigert es sich nun dieser. Die Folge ist
dann jenes Kompromiß, als welches wir die Ejaculatio praecox
bereits erkannt haben.
Erst jetzt vermögen wir das den Patienten unbewußte Sexualziel
der Ejaculatio praecox zu.begreifen. Das normale Sexualziel ist eine
körperliche Vereinigung mit dem Weibe; der Mann hat dabei eine
motorische Leistung zu vollbringen, die ihm selbst, gleichzeitig aber
auch dem Weibe, Befriedigung bringen soll. Die Tendenz der Ejaculatio
praecox ist völlig anderer Art.
Die Libido unserer Patienten verharrt in weiten Umfang im
Stadium des Narzißmus. Wie der kleine Knabe die Mutter mit seinem
Urin benäßt, den er noch nicht zu halten vermag, so benäßt der
Neurotiker durch vorzeitige Ejakulation das Weib, in welchem wir
nunmehr mit voller Deutlichkeit den Mutterersatz erkennen.
Die Mutter oder Pflegerin ist genötigt, den kleinen Knaben am
Genitale zu berühren, sowohl wenn sie ihm zur Urinentleerung
behilflich ist, als auch beim Waschen und Trocknen des Körpers. Die
Lust dieser Berührung offenbaren uns die aus dem Unbewußten
schöpfenden Assoziationen der Patienten. Eines ihrer unbewußten
Sexualziele ist es, vom Weibe am Genitale berührt zu werden! und
danach in einer der Urinentleerung ähnlichen Weise zu ejakulieren.
! Hier ist wieder auf Sadgers Ausführungen zu verweisen,
271
Auch hier wird die mütterliche Bedeutung des Weibes durchsichtig.
Namentlich aber wird uns nun eine früher erwähnte Eigentümlichkeit
unserer Patienten verständlich; ihre Neigung, sich vom Weibe bei
der Immissio manuelle Hilfe leisten zu lassen. Die lustvolle Berührung
des Penis war einer der frühen und bedeutungsvollen Liebesbeweise
von seiten der Mutter. Der an vorzeitiger Ejakulation Leidende
möchte, wie wir bereits wissen, nicht lieben, sondern nur Liebe
entgegennehmen. Sein Unbewußtes versucht, zu diesem Zwecke die
Wege der frühen Kindheit wieder gangbar zu machen.
Unter diesen Wegen ist einer, den wir bisher nicht ins Auge
gefaßt haben, auf den wir aber durch die Einfälle der Patienten mit
Nachdruck hinweisen werden. z
Die Abgabe von Produkten des eigenen Körpers ist nicht die
einzige Liebesäußerung des Kindes im Stadium des Narzißmus. Eine
andere Form des Liebesbeweises und des Liebeswerbens ist die
Exhibition.
Besonders in der zweiten Hälfte des dritten und in der ersten
Hälfte des vierten Lebensjahres pflegen kleine Knaben gern vor der
Mutter zu exhibieren, namentlich bei Gelegenheit der Urinentleerung,
zu der sie nicht mehr der miütterlichen Hilfe benötigen wie in
früherer Zeit. Ein Knabe, dessen Urethralerotik keineswegs die normalen
Grenzen überschritt, fragte in dem genannten Alter öfter seine Mutter,
ob er ihr seinen Penis zeigen solle. Er gebrauchte für diesen
Körperteil übrigens eine selbsterfundene Bezeichnung. Hatte er Urin
entleert, so fragte er öfters, ob es „viel“ sei. Hier trat der Narzißmus,
das Bedürfnis, für seine Leistung bewundert zu werden, mit besonderer
Deutlichkeit hervor. Als die Eltern einmal mit dem Kleinen in einem
Seebad weilten, hatte er Lust daran, sein Bedürfnis in einem
Augenblick zu verrichten, wenn gerade eine Flutwelle herankam. Auf
eine Frage, warum er das tue, gab er zur Antwort: „Damit es recht
viel Wasser ist.“ Der Narzißmus des Kleinen fand offensichtlich eine
besondere Befriedigung in der Vorstellung, daß das ganze Meer sein
Produkt sei. i
Diese narzißtische Eitelkeit auf die Menge der entleerten Stoffe,
die sich bei Neurotikern in mancherlei Formen äußert, kommt auch
bei der Ejaculatio praecox zur Geltung. Wie bereits erwähnt wurde,
sind einzelne Patienten stolz auf die Ejakulation, die sie nicht im
weiblichen Körper, sondern gewissermaßen vor den Augen des Weibes
stattfinden lassen.
Der Ejaculatio praecox wohnt somit auch eine exhibitionistische
Tendenz inne. «In ihr setzt sich der mit dem infantilen Narzißmus
212
verknüpfte Glaube fort, durch die eigenen Vorzüge — besonders durch
den Penis und das Urinieren — einen’ unwiderstehlichen Reiz auf das
Weib (die Mutter) auszuüben.
Eine aus dem Narzißmus zu erklärende Selbsttäuschung wurde
schon früher erwähnt. Einzelne unter den Patienten wiegen sich in den
Glauben ein, die Ejaculatio praecox sei ein Zeichen ihrer besonderen
Leidenschaftlichkeit. Zu dieser Selbsttäuschung gesellt sich gelegentlich
noch eine zweite: die Ejaculatio praecox sei das Zeichen einer feineren,
veredelten Männlichkeit, im Gegensatz zur aggressiven Roheit anderer
Männer. Das aus verdrängtem Narzißmus hervorgegangene Symptom
wird vom Patienten sekundär in einer narzißtischen Weise gerecht-,
fertigt. Die Tendenz dieses Verfahrens ergibt sich leicht, Der Patient
möchte den als gewalttätig und roh betrachteten Vater durch Feinheit
übertreffen und ihn dadurch bei der Mutter ausstechen. Die Vorstellung
von der Gewalttätigkeit des Vaters entstammt gewissen Erlebnissen
des Kindes: es hat den Verkehr der Eltern belauscht und ihn als einen
Gewaltakt des Vaters aufgefaßt. Nach der eigenen Geschlechtsreife
wirkt diese „sadistische* Theorie des Koitus im Unbewußten des
Sohnes nach. Der normale Geschlechtsakt erscheint dann als eine Roheit.
Die Ejaculatio praecox wendet sich gewissermaßen an die weibliche
Zartheit der Mutter ; sie will ausdrücken: sieh, ich komme dir zarter
entgegen als der Vater!
Es darf aber keineswegs übersehen werden, daß dieses Exhibieren
vor dem Weibe (der Mutter) einen ambivalenten Charakter trägt. Es
ist nicht nur ein Liebesbeweis mit der Tendenz des Bewundert- und
Berührtwerdenwollens, sondern zugleich ein Zeichen der Ablehnung
des Weibes. Nach meinen übereinstimmenden psychoanalytischen
Erfahrungen handelt es sich um eine mit schweren Affekten betonte
Feindseligkeit, welche sich besonders als Verachtung des Weibes
geltend macht. Die Feindseligkeit leitet sich aus infantilen Quellen
her, vor allem aus kindlicher Eifersucht. Die Verachtung des Weibes
erklärt sich zwanglos aus der Überwertung des Penis. Das Weib ist
minderwertig, verächtlich, weil ihm dieser Körperteil mangelt. Nicht
wenige der an Ejaculatio praecox Leidenden sind Verächter der Frauen
im allgemeinen; sie können nicht genug über die „Unvollkommenheit“
des Weibes spotten. In manchen Fällen äußert sich diese Einstellung
in einer mit heftigen Affekten betonten Gegnerschaft gegen die heutige
Frauenbewegung.
Wir kommen so zu dem eigentümlichen Ergebnis, daß die Ejaculatio
praecox auch ein Ausdruck der Feindschaft und Verachtung ist, welche
der Patient der Gesamtheit der Frauen wie der einzelnen Frau entgegen-
273
bringt. Verschiedene unter meinen Psychoanalysen klärten mich über
diese von mir früher nicht erkannte Tendenz auf. Die Ejaculatio
praecox — und zwar kommt hier namentlich die ante portas geschehende
in Frage — ist eine Besudelung des Weibes mit einem den Urin
vertretenden Stoffe. Man muß sich hier den ambivalenten Charakter
der Vorgänge vergegenwärtigen, welche in der Abgabe eigener Exkrete
an eine andere Person bestehen. Wir lernten sie vorher als Ausdrucks-
mittel kindlicher Sympathie kennen. Eine Parallele aus der Völker-
psychologie wird hier klärend wirken. Das Anspeien einer anderen
Person, das bei gewissen Völkerschaften eine freundliche Begrüßungs-
form darstellt, wird mit forischreitender Verdrängung, d. h. Kulturent-
wicklung, zum Ausdruck stärkster Verachtung. Jedes Kind durchschreitet
aber ein Stadium, welches der Auffassung jener Primitiven entspricht;
es ist das Stadium des Narzißmus. Ein vierjähriges Mädchen bezeichneie
einmal seinen Speichel, für den es eine von der Erziehung nicht gebilligte
narzißtische Hochschätzung an den Tag legte, als „schönes, reines
Zungenwasser“. Was später als unschön und unrein angesehen wird,
erscheint in diesem Stadium noch in einem ganz entgegengesetzten
Licht. In dem uns beschäftigenden Zusammenhang sei darauf aufmerksam
gemacht, daß dem kleinen Kinde und den Primitiven auch der Ekel
vor dem Urin durchaus abgeht. Man braucht nur daran zu denken, daß
gewisse Negervölker ihre Kochgeschirre mit Urin reinigen. Bei ihnen
herrscht noch in weitem Umfange die narzißtische Bewertung
der Körperprodukte.
Mit der unbewußten Absicht der Besudelung des Weibes ist
eine andere Tendenz aufs engste verknüpft. Meine Psychoanalysen
bestätigen von Fall zu Fall immer wieder, daß das Benässen des
Weibes auch eine Trotzhandlung darstellt. Die Mutter hat die Aufgabe,
das Kind zur Reinlichkeit, zur Beherrschung seiner Schließmuskeln zu
erziehen. Wird die Mutter zum Objekt der Feindschaft und Verachtung,
so setzt das Kind ihren Bestrebungen einen heftigen Trotz entgegen,
der uns oft genug im Charakter des erwachsenen Neurotikers wieder
begegnet. So haben wir in der Ejaculatio praecox auch einen trotzigen
Rückfall in die unbeherrschte Entleerungsform des frühen Kindesalters
zu erblicken.
Es wurde oben dargelegt, daß die Verunreinigung des Liebes-
objekts mit Urin oder einem anderen Körperprodukt ein infantil-
narzißtischer Ausdruck der Sympathie sei. Die tiefer eindringende
Analyse zeigt uns aber gerade hier ein Beispiel ausgeprägtester Ambi-
valenz und lehrt uns von neuem den Kompromißcharakter der vor-
zeitigen Ejakulation Kennen.
18
274
Der zum Weibe ambivalent eingestellte Neurotiker gibt auf dem
Wege der Ejaculatio praecox dem Weibe etwas von seinem körperlichen
Besitz, aber er gibt nur scheinbar. In Wirklichkeit veranlaßt ihn seine
feindselige Haltung, eifersüchtig über seinen Besitz zu wachen. Das
Weib erhält nichts: er spart seine Körperkraft, er gibt seiner Partnerin
keine Lustempfindung; er vergießt sein Sperma, gibt es aber nicht ihr,
gibt ihr also auch kein Kind. Im Gegenteil erregt er in ihr Erwartungen
und enttäuscht sie dann.
Wie früher ausgeführt wurde, befindet sich jeder unserer Kranken
in einer passiven Einstellung gegenüber dem Weibe. Er ist von der
Mutter dauernd abhängig und-kämpft gegen diese in seinem Unbewußten
begründete Abhängigkeit. Der Abwehrkampf tritt in die Erscheinung
als ein Kampf gegen das Weib. Der Patient verfügt aber in diesem
Kampf nicht über die Mittel einer kraftvollen männlichen Aktivität. Er
muß sich darauf beschränken, das Weib zu enttäuschen, und übt damit
an jedem Weibe Rache für Liebesenttäuschungen, denen er als Kind
von seiten seiner Mutter ausgesetzt war, und die sich ihm in späterem
Alter wiederholen.
Ein Hinweis sei hier noch gegeben auf häufige, neben der
‚Ejaculatio praecox einhergehende, aus den gleichen Quellen stammende
Erscheinungen, die sich im ganzen sozialen Verhalten der Patienten
geltend machen. Entsprechend dem Narzißmus und der Ambivalenz
ihrer Gefühlseinstellungen schwanken sie zwischen vorschneller Über-
tragung und allzu ängstlichem Ansichhalten. Mancher dieser Patienten
reagiert auf die abweichende Meinung, auf die Kritik eines anderen
Menschen usw. entweder mit einem Ausbruch von Wut und Jähzorn
oder aber mit einem verbissenen Ansichhalten, durch welches er sich
ganz in sich selbst zurückzieht.
Das Zusammentreffen gewisser Charakterzüge ist für unsere Neu-
rotikergruppe so typisch, daß man aus ihnen mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit auf das Bestehen der Ejaculatio praecox schließen
kann. In einer Sitzung der Berliner psychoanalytischen Vereinigung
wurden einmal in einem ‚Vortrag abnorme Affektzustände eines
Neurotikers besprochen. In der Diskussion äußerte ich auf Grund
des vom Referenten geschilderten sozialen Verhaltens die Vermutung,
daß der Patient an Ejaculatio praecox leide, was mir dann sofort
bestätigt wurde.
Endlich mag hier auf eine seltenere, in Ärztekreisen wenig
bekannte neurotische Störung hingewiesen werden, die der vorzeitigen
Ejakulation als Phänomen entgegengesetzt, ihr innerlich aber nahe
verwandt ist. Man kannsiealsImpotentia ejaculandi bezeichnen,
275
Bei manchen Neurotikern erfolgt nämlich im Geschlechtsakt die
Ejakulation überhaupt nicht. Auch hier liegt ein Zustand der Sexual-
ablehnung vor, der aus dem Narzißmus hervorgeht. Bei diesen Patienten
ist das „Ansichhalten“ die überwiegende Tendenz. Der Effekt ist der
gleiche wie bei der Ejaculatio praecox: der Narzißmus setzt sich durch
und das Weib wird enttäuscht. Daß vom normalen Eintritt der Ejaku-
lation zum vorzeitigen Eintritt einerseits, zum Ausbleiben der Samen-
entleerung anderseits fließende Übergänge bestehen, bedarf kaum der
Erwähnung. Die retardierte Ejakulation ist ein nicht seltenes Symptom
mancher Ne urosen.
Es ist die Aufgabe der psychoanalytischen Behandlung, den
Patienten von seiner narzißtischen Einstellung zu befreien und ihm den ı
Weg zur normalen Gefühlsübertragung zu zeigen. Gelingt es, seine
narzißtische Ablehnung des Weibes aufzuheben, so ist die Bahn frei
gemacht für den normalen Ablauf der Geschlechtsfunktionen; ganz
analog gelingt es ja auch, das weibliche Analogon der Ejaculatio
praecox — die Frigidität — zu beseitigen.
Selbstverständlich sind verschiedene Fälle des Leidens von sehr
verschiedener Wertigkeit. ‘Leichteste Störungen dieser Art treten bei
disponierten Männern episodisch auf und können ohne jede Behandlung
verschwinden ; freilich ist die Gefahr des Rückfalles stets gegeben. Die
Psychoanalyse bringt auch in schweren und hartnäckigen Fällen einen
Heilerfolg oder doch mindestens eine Besserung!. Prognostisch sind
diejenigen Fälle am wenigsten günstig zu beurteilen, in denen die
Ejaculatio praecox sich sogleich im Alter der Geschlechtsreife N
bemerkbar gemacht hat und seither durch eine Reihe von Jahren '
vielemal hervorgetreten ist. Es handelt sich hier um Fälle von außer-
gewöhnlich starkem Vorwiegen der urethralen gegenüber der genitalen
Erotik, in denen die Lust der Ejaculatio praecox die Unlust zu über-
wiegen pflegt.
Die Behandlung des Leidens kann zu den technisch schwierigsten
Aufgaben des Psychoanalytikers gehören, weil er den Kampf mit der
bei diesen Kranken sehr beträchtlichen Macht des Narzißmus aufnehmen
muß. Eine geduldige und konsequente Anwendung der Methode läßt 2
ihn aber auch diese Schwierigkeiten überwinden.
1 Auch in zwei Fällen von Impotentia ejaculandi ist es mir gelungen, auf
psychoanalytischem Weg dauernd Heilung zu erzielen. En
\
18* |
I
]
Einige Belege zur Gefühlseinstellung weiblicher
Kinder gegenüber den Eltern‘.
Eine Mutter berichtet mir von ihrer: vierjährigen Tochter: „Sie
hängt mit besonderer Liebe und Zärtlichkeit an ihrem Vater. In letzter
Zeit spielt sie mit Vorliebe ‚Vaters Frau‘, Als ich sie nun fragte,
warum sie Vaters Frau sein wollte, meinte sie: ‚Ich möchte so gern
wissen, wie das ist; und dann kann ich auch endlich mal probieren,
wie Kaffee schmeckt‘. Auf meine Einwendung, wo ich denn dann
bleiben solle, hatte sie die Antwort bereit: ‚Du bist dann eben
unser Kind!’*
„Einmal“ — so fährt der Bericht der Mutter fort — „erzählte
die Kleine ihrer älteren Schwester eine selbsterdachte Geschichte; die
fing an: ‚Es war einmal ein Zwerg, der hatte sieben kleine Zwerglein,
und die Mutter davon war schon längst gestorben.‘ Ich fragte, warum
denn die Mutter gestorben sei, und erhielt zur Antwort: ‚Ach, die war
ja schon über 100 Jahre alt und sehr krank.‘“
„Vor einigen Monaten bliebE. .... im zoologischen Garten vor
dem Wildschweinkäfig stehen, in dem sich eine Sau mit vielen Jungen
befand. Voll Entzücken rief E.: ‚Sieh mal, da ist ein Vater Schwein
mit seinen Kindern!“ Ich erklärte ihr, das sei die Mutter; darauf sie:
‚Nein, der Vater.‘ Als ich nochmals versicherte, es sei die Mutter,
fragte sie: ‚Aber wo ist dann der Vater?‘ Erst als ich sagte, der sei
wohl nur einmal ausgegangen, nahm ihr Gesichtchen wieder einen
zufriedenen Ausdruck an.“
„Eines Tages sprach E. davon, ‚wenn sie erst einmal eine Braut
wäre‘. Ich fragte: ‚Wer soll denn dein Bräutigam sein?‘ Da kam
prompt die Antwort: ‚Nun, natürlich mein Geliebter, der Vater!‘ Einige
Wochen danach sagte sie zum Vater, als er sich verabschiedete: ‚Adieu,
mein geliebter Mann!“ _
Dies ist nur eine Auswahl aus zahlreichen ähnlichen Äußerungen
desselben Kindes. Sie lassen alle in tbereinstimmendem Sinne
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse®. IV, Jahrgang 1916.
u
|
277
erkennen, wie die vierjährige Kleine ihre Liebe vorwiegend dem Vater
zuwendet, ihn sozusagen der Mutter fortnimmt und ihn als ihren
Mann bezeichnet; wie sie anderseits die Mutter kurzerhand beseitigt
oder aber sie zum Kinde macht (die Rolle also mit ihr tauscht). Die
Beseitigung geschieht in den mitgeteilten Beispielen freilich nur in
einer indirekten Form: nicht das Kind selbst, wohl aber die Zwerge
oder die Schweinchen haben keine Mutter, sondern nur einen Vater!
Das Beispiel eines anderen Mädchens zeigt die gleichen
Tendenzen, nur ist der Todeswunsch gegen die Mutter und das
erotische Empfinden gegenüber dem Vater noch unverhüllter
erkennbar.
Die vierjährige H. .... gab einmal, als sie in Abwesenheit der
Mutter mit dem Vater zu Mittag aß, ihren Gefühlen Ausdruck wie
folgt: „Es ist doch schön, daß die Mama heute nicht zu Hause ist.“
Auf die Frage des Vaters, warum sie denn darüber erfreut sei,
antwortete die Kleine: „Dann kann sie uns doch nicht dazwischen
reden, wenn wir uns unterhalten“. Einige Wochen später wurden diese
Beseitigungswünsche noch deutlicher. H. stellte jetzt ihrer Mutter die
Frage: „Mama, wann stirbst du eigentlich?“ Sie beruhigte sich mit
dem erhaltenen Bescheid nur scheinbar. Schon nach wenigen Tagen
hieß es: „Mama, .... in zehn Jahren, lebst du da immer noch?“
Während eines Zeitraumes von mehr als einem Monat wiederholten
sich diese Fragen viele Male; doch galten sie stets nur der Mutter,
niemals dem Vater. Als die Mutter einmal replizierte: „Wenn ich aber
sterbe, dann hast du doch keine Mama mehr!“, erfolgte prompt die
Antwort: „Dann habe ich doch noch den Papa!“
Im gleichen Alter äußerte die Kleine eines Tages während der
Mittagsmahlzeit: „Papa, ich könnte dich doch mal nackt sehen.“
Dergleichen kam nur dieses eine Mal in so ausgesprochener Form
vor. Dem Kinde gelang es anscheinend leichter, auf die Erfüllung
dieses Wunsches zu verzichten, als auf seine feindselige Einstellung
zur Mutter.
Aus dem Verhalten älterer Kinder und Erwachsener hat Freud
den Schluß gezogen, jene primitiven Regungen seien der Verdrängung
und Sublimierung verfallen; er hat auch auf die so häufige
Umwandlung jirsprünglicher Triebregungen in Impulse entgegen-
gesetzter Art hingewiesen. („Reaktionsbildung.“) Es ist nun gewiß
von Interesse, diesen Umwandlungsprozeß bei einem Kinde direkt zu
beobachten, so wie es in dem Falle der kleinen H. ... . möglich war.
Die Todeswünsche gegen die Mutter waren eine Zeitlang
ungehemmt geäußert worden. Dann vernahm man einige Wochen
278
hindurch weder Äußerungen besonderer Feindschaft noch besonderer
Liebe gegenüber der Mutter. Eines Tages begann H., auf Spaziergängen
ihre Mutter zu bitten, mit ihr an alle möglichen Schaufensterauslagen
heranzutreten, Sie fragte dann — je nach den ausgestellten Waren —:
„Welcher Hut gefällt dir am besten?“ „Welches Kleid möchtest du:
haben?“ so wie sonst Erwachsene Kinder zu fragen pflegen. Zeigte
die Mutter dann, welches Objekt ihr am besten gefiel, so folgte
jedesmal die Versicherung der Kleinen: „Wenn ich groß bin, schenke
ich dir diesen Hut“ [oder sonstigen Gegenstand]. Geschenke sind in
den Augen des Kindes besonders wichtige Liebesbeweise. H, hatte
also bereits die Todeswünsche überwunden und überhäufte nun die
Mutter mit Liebesbeweisen. Freilich konnte sie nur Versicherungen
für künftige Zeiten geben. Aber gerade darin zeigte sich eine
bemerkenswerte Kompromißbildung. H. verlangte nicht mehr, daß die
Mutter tot sein solle, wenn sie selbst „groß“ geworden sei. Sie
begnügte sich mit dem Rollentausch, den ich vorher bei der kleinen
E. ... erwähnte, Sie drückte durch ihr Verhalten den Gedanken aus:
Wenn ich groß bin, habe ich das Geld, weil ich Vaters Frau bin;
dann bist du unser Kind und mußt dir von mir etwas kaufen lassen!
Das Geldausgeben im Angstzustand'.
Das Verhältnis des Neurotikers zum Geldbesitz ist in der
psychoanalytischen Literatur eingehend erörtert worden. Sowohl
Freud als die Autoren, die sich nach ihm mit den „analen“
Charakterzügen beschäftigt haben, behandeln den neurotischen Geiz,
das ängstliche Zurückhalten des Geldes aus unbewußten Motiven. Das
gegenteilige Verhalten mancher Neurotiker hat, obwohl es dem Arzt
in der Psychoanalyse keineswegs selten entgegentritt, nicht die gleiche
Beachtung gefunden. Die Neigung zu übertriebenen Geldausgaben
tritt bei manchen Neurotischen plötzlich, ja anfallsweise hervor und
steht dann in einem auffälligen Gegensatz zu ihrer sonstigen
Sparsamkeit.
Es handelt sich, nach einer kleinen Reihe von Erfahrungen aus
meiner psychoanalytischen Tätigkeit, um eine bestimmte Gruppe von
Neurotischen: Kranke, welche sich in dauernder infantiler Abhängigkeit
vom elterlichen Hause befinden und von Verstimmung oder
Angst befallen werden, sobald sie sich von ihm entfernt haben.
Die Patienten selbst behaupten, daß das Geldausgeben ihre
Angst oder Verstimmung erleichtere. Sie haben auch rationelle
Erklärungen dieser Wirkung zur Hand: das Geldausgeben erhöhe ihr
Selbstgefühl, oder es lenke sie von ihrem Zustand ab. Die Psycho-
analyse fügt dieser rein oberflächlichen Erklärung jedoch eine tiefere,
das Unbewußte berücksichtigende hinzu.
Wie jede Psychoanalyse eines derartigen Falles aufs Neue lehrt,
ist es dem Kranken infolge der Fixierung seiner Libido verwehrt,
sich räumlich von den Eltern oder den sie vertretenden Personen zu
"entfernen. Die Entfernung vom Hause bedeutet seinem Unbewußten
eine Ablösung der Libido von ihren Objekten. Stets lassen sich zwei
entgegengesetzte psychische Strömungen nachweisen: eine konservative
im Sinne der dauernden Fixierung und eine andere im Sinne der
Hinwendung zu den Objekten der Außenwelt.
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“. IV, Jahrgang 1916.
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280
Jeder Versuch der Übertragung der Libido auf neue Objekte ist
bei den Kranken gerade darum mit so schwerer Angst verbunden,
weil das unbewußte Verlangen danach besonders heftig und
ungestüm ist. Es braucht nur daran erinnert zu werden, daß weibliche
Kranke mit Straßenangst in besonderem Maße mit unbewußten, nicht
selten auch mit bewußten Prostitutionsphantasien behaftet sind, Ihr
Unbewußtes will schrankenlose Hingabe an alle; die im Bewußtsein
herrschende Angst aber schränkt die Übertragung der Libido aufs
äußerste ein. So werden die Kranken unfähig, von ihrer Libido freien
Gebrauch zu machen, und zwar keineswegs nur im engen Sinne der
eigentlichen Geschlechtsbeziehungen.
Eine weitgehende Einschränkung der genitalen Geschlechtlichkeit
führt zu ersatzweiser, stärkerer Betonung anderer erogener Zonen. Die
anale Erotik ersetzt die genitale in mehr oder weniger weitem Umfang.
In manchen Fällen läßt sich mit großer Deutlichkeit feststellen, daß
die krankhafte Fixierung der Patienten an den Vater oder die Mutter
durch die Analzone vermittelt wird. Ein kleiner Ausschnitt aus einer
Psychoanalyse möge das belegen.
Die Patientin, welche an schwerer Straßenangst leidet, ist völlig
an ihren Vater gebunden. Ihre immer wiederholten Versuche, die
Fixierung zu lösen, sind mißlungen. Diese Fixierung ist vom Vater
der Patientin während ihrer Jugend dadurch sehr gefördert worden,
daß er sich im Übermaß um die Darmtätigkeit des Kindes kümmerte,
schr häufig Klysmen verabreichte usw, Diese verkehrten Maßnahmen
trugen zur Erhaltung kindlicher Abhängigkeit in verhängnisvoller
Weise bei; die Tochter konnte — mit einem Ausdrucke der Kinder-
sprache gesagt — nichts ohne den Vater „machen“, konnte nur unter
seiner Aufsicht „abseits“ gehen. Wie die Analyse ergab, ließen auch
ihre Ablösungsversuche die anale Fixierung erkennen. Den Darm ohne.
väterliche Aufsicht zu entleeren, bedeutete ihrem Unbewußten Selb-
ständigkeit. Entfernte sich die Patientin vom Hause und wurde sie
unterwegs von Angst befallen, so machte sie zur Abwehr der Angst
allerhand Geldausgaben, die praktisch nicht zu rechtfertigen waren.
Sie verausgabte Geld statt Libido. Daß aber das Geld diese
ersetzende Bedeutung annehmen konnte, erklärt sich aus der im
Unbewußten herrschenden Gleichwertigkeit von Geld und Kot.
Bemerkenswert ist, daß die Patientin sich selbst verdächtigte, sie
steigere manchmal ihre Angst, um sich einen Grund zum Geldausgeben
zu schaffen.
Bei dieser Kranken beobachtete ich, ebenso wie auch in zwei
anderen Fällen, die Neigung, wahllos vielerlei zu kaufen, meist wertlose,
281
nur für den Augenblick begehrte Kleinigkeiten. Sie täuschen sich auf:
diese Weise eine freie Beweglichkeit ihrer Libido vor, während diese
doch in Wirklichkeit aufs äußerste fixiert und gehemmt ist. Das
Kaufen von Gegenständen, die nur einen Augenblickswert haben, das
schnelle Übergehen von diesem Gegenstand zu jenem, wirkt als
symbolische Befriedigung eines verdrängten Begehrens: die Libido in
rascher Folge auf unbegrenzt viele Objekte zu übertragen. Die
Anspielung auf die Prostitution ist hier nicht zu verkennen; auch dort
vermittelt das Geld flüchtige, beliebig wechselnde Beziehungen.
Die Auffassung der Patienten, sie gäben Geld aus, um ihr
Selbstgefühl zu erhöhen, erfährt nun in gewissem Sinne eine Bestätigung.
Das Geldausgeben täuscht sie über die Gebundenheit der Libido und
damit über das peinigende Gefühl sexueller Insuffizienz für kurze
Zeit hinweg. Anders ausgedrückt: die Kranken stehen unter einem
abnorm strengen, von der Eltern-Imago ausgehenden Verbot, ihre
Libido frei zu verausgaben. Es kommt zum Kompromiß zwischen
Trieb und Verdrängung. Die Kranken verausgaben sich dem Verbot
zum Trotz, aber nicht in sexueller Libido, sondern in analen Werten.
Wir werden hier an das dauernde Verhalten gewisser Neurotiker
erinnert, deren Libido gleichfalls übermäßig gebunden ist. Sie sind —
teilweise oder ganz — unfähig zur sexuellen Liebe im seelischen und
körperlichen Sinne. Sie wenden den anderen Menschen nicht Liebe,
sondern Mitleid zu, sie werden zu Wohltätern und geben an Geldes-
wert oft im Übermaß. Sie sind auf diese Ersatzbefriedigung dauernd
angewiesen. In der dunklen Wahrnehmung, qualitativ nicht das
Richtige zu geben, übertreiben sie das Geben quantitativ. Ihr
Geldausgeben wirkt jedoch altruistisch, während in den vorher
besprochenen Fällen diese Wirkung durchaus fehlt. Das Gemeinsame
beider Gruppen liegt aber darin, daß das Geldausgeben einen Ersatz
für die von der Neurose verbotene Sexualübertragung bildet und zur
Abwehr neurotischer Störungen dient.
®
Über eine besondere Form des neurotischen
Widerstandes gegen die psychoanalytische
Methodik!.
Wenn wir eine psychoanalytische Behandlung beginnen, so
machen wir den Patienten mit der Grundregel des Verfahrens bekannt,
die er unbedingt zu befolgen habe. Das Verhalten unserer Patienten
gegenüber dieser Grundregel ist recht verschieden. Manche erfassen
sie schnell und ordnen sich ihr ohne besondere Schwierigkeit unter,
andere müssen wir häufig daran erinnern, daß sie frei zu ässoziieren
haben. Bei allen Kranken erleben wir zeitweise ein Versagen der freien
Assoziationstätigkeit. Entweder bringen sie nun Produkte des überlegten
Denkens vor, oder sie erklären, es falle ihnen nichts ein. Es kann dann
eine Behandlungsstunde ablaufen, ohne daß der Patient in ihr der
Psychoanalyse irgend welches Material an freien Assoziationen zuge-
führt hat. Dieses Verhalten des Patienten weist uns auf einen „Wider-
stand“ hin; ihn verständlich zu machen, ist unsere nächste Aufgabe.
Wir erfahren regelmäßig, daß der Widerstand sich gegen das Bewußt-
werden bestimmter psychischer Inhalte richtet. Haben wir anfangs dem
Patienten erklärt, seine freien Assoziationen vermöchten uns Einblicke
in sein Unbewußtes zu geben, so ist die Ablehnung des freien
Assoziierens die fast selbstverständliche Form, die sein Widerstand
annehmen wird.
Sehen wir in den meisten Fällen einen derartigen Widerstand in
öfterem Wechsel auftauchen und verschwinden, so bietet ihn eine
kleinere Gruppe von Neurotischen während der ganzen Behandlungs-
dauer ohne Unterbrechung dar. Dieser permanente Widerstand gegen
die Grundregel der Psychoanalyse kann zu einer außerordentlichen
Erschwerung der Therapie führen, ja er stellt ihren Erfolg gänzlich in
- Frage. Er hat bisher in der Literatur, ebenso wie manche anderen
technischen Fragen, keine Beachtung gefunden. Seitdem ich der
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“. V. Jahr-
gang 1919.
283
geschilderten Schwierigkeit in einer Reihe von Krankheitsfällen begegnet
bin, habe ich von anderen Psychoanalytikern erfahren, daß es ihnen
ähnlich ergangen ist. Neben dem theoretischen liegt daher ein praktisches
Interesse vor, diese Spielart der neurotischen Reaktion auf die Psycho-
analyse genauer zu untersuchen.
Die Patienten, von denen hier die Rede sein soll, erklären kaum
jemals spontan, daß ihnen „nichts einfalle“. Sie sprechen vielmehr in
zusammenhängender, selten unterbrochener Rede, ja einzelne von ihnen
sträuben sich dagegen, auch nur durch eine Bemerkung des Arztes in
ihrem Redefluß unterbrochen zu werden. Aber sie geben sich nicht dem
freien Assoziieren hin. Sie sprechen programmatisch, bringen ihr Material
nicht zwanglos vor; der Grundregel widersprechend ist es unter
bestimmten Gesichtspunkten orientiert und einer weitgehenden, umge-
staltenden Kritik von seiten des Ichs unterworfen. Die Mahnung des
Arztes zu korrekter Einhaltung der Methodik ist für sich allein ohne
Einfluß auf das Verhalten der Patienten.
Dieses zu durchschauen, ist keineswegs leicht. Dem Arzt, dessen
Blick für die Form des Widerstandes dieser Patienten noch nicht
geschärft ist, täuschen sie eine außerordentliche und nie ermüdende
Bereitwilligkeit zur Psychoanalyse vor. Ihr Widerstand verbirgt sich
hinter scheinbarer Gefügigkeit. Ich gestehe, daß ich selbst längerer
Erfahrung bedurfte, bevor ich dieser Täuschungsgefahr zu’entgehen ver-
mochte. Nachdem ich den systematischen Widerstand erst einmal richtig
erkannt hatte, wurde mir auch seine Herkunft deutlich.
Die Neurotiker von diesem Typus, deren ich eine kleine Reihe
becbachten konnte, boten nämlich in ihren Neurosen zwar eine recht
verschiedenartige Synfptomatik; in ihrem Verhalten zur Psychoanalyse
und zum Arzt wiederholte sich dagegen eine Anzahl von Zügen mit
verblüffender Regelmäßigkeit. Auf diese Züge möchte ich im nachfol-
genden die Aufmerksamkeit lenken.
Was sich unter der geschilderten scheinbaren Gefügigkeit : bei
unseren Patienten verbirgt, ist ein ungewöhnliches Maß von Tro 1%
der sein Vorbild im Verhalten des Kindes gegenüber dem Vater
findet. Lehnen andere Neurotiker das Produzieren freier Einfälle
gelegentlich ab, so trotzen sie der Methode dauernd. Ihre Mit-
teilungen sind quantitativ überreichlich; wie schon erwähnt, täuscht
dieser Umstand den Unerfahrenen über qualitative Mängel hinweg.
Mitgeteilt wird nur, was „ichgerecht“ ist. Die Patienten sind in besonders
hohem Grade empfindlich für alles ihr Ichgefühl Verletzende. Sie neigen
dazu, sich durch jede in der Psychoanalyse getroffene Feststellung
Be: |
284
„gedemütigt“ zu fühlen und sind beständig auf der Hut vor solchen
Demütigungen. Sie liefern Träume in Menge, kleben aber an deren
manifestem Inhalt und verstehen es, aus der Analyse der Träume nur
das zu erfahren, was sie bereits wußten. Meiden sie so mit Beharr-
lichkeit jeden peinlichen Eindruck, so geht ihr Bestreben gleichzeitig
dahin, aus der Psychoanalyse auch positiv das höchste Maß von Lust
zu ziehen.
Gerade diese Tendenz, die Psychoanalyse unter die Herrschaft
des Lustprinzipes zu stellen, läßt sich bei unseren Patienten mit großer
Deutlichkeit erkennen. Diese Erscheinung in Gemeinschaft mit einer
Anzahl anderer Eigentümlichkeiten ist der klare Ausdruck ihres
Narzißmus. Unter meinen Patienten waren es gerade die mit dem
stärksten Narzißmus behafteten, welche sich der Dsycheanalyl schen
Grundregel wie geschildert widersetzten,
Die Neigung, ein Heilmittel lediglich unter dem Gesichtspunkte
des Lusterwerbs zu betrachten und darüber den eigentlichen Zweck
des Heilmittels zu vernachlässigen, muß als ein durchaus kindlicher
Zug aufgefaßt werden. Ein Beispiel möge dies erläutern. Einem acht-
jährigen Knaben wird das Tragen einer Brille verordnet. Er ist über-
glücklich, nicht weil er gewisse unangenehme Sehstörungen verlieren
soll, sondern weil er eine Brille tragen darf. In der nächsten Zeit ergibt
sich, daß er gar nicht darauf achtet, ob die Störungen durch die Brille
behoben sind; der Besitz der Brille, mit der er sich in der Schule
zeigen darf, befriedigt ihn so sehr, daß er darüber ihren therapeutischen
Wert vergißt. Nicht anders ist die Einstellung unserer Patientengruppe
zur Psychoanalyse. Der eine erwartet von ihr interessante Beiträge zu
seiner Autobiographie, die er in Romanform schreibt. Der andere hofft,
die Psychoanalyse werde ihn intellektuell und ethisch auf ein höheres
Niveau bringen; dann wäre er seinen Geschwistern überlegen, denen
gegenüber er bisher peinliche Gefühle der Minderwertigkeit hatte.
Das Ziel der Heilung nervöser Störungen tritt in gleichem Maße
zurück, in welchem diese narzißtischen Interessen beim Patienten
vorherrschen.
Ebenso narzißtisch wie der Behandlungsmethode stehen sie aber
auch der Person des Arztes gegenüber. Das Verhältnis zum Arzt ist
bei ihnen gekennzeichnet durch mangelhafte Übertragung; sie miß-
gönnen ihm die Vaterrolle. Treten Ansätze zur Übertragung hervor, so
zeigen sich die auf den Arzt gerichteten Wünsche besonders anspruchs-
voll. In eben diesen Ansprüchen sind gerade die hier in Rede stehenden
Patienten sehr leicht enttäuscht und reagieren rasch mit einer völligen
Einziehung der Libido. Sie wollen ständig Zeichen des persönlichen
285
Interesses von Seiten des Arztes sehen, sich von ihm liebevoll behandelt
fühlen. Da der Arzt den Ansprüchen ihres narzißtischen Bedürfnisses
nach Liebe nicht gerecht werden kann, so kommt eine eigentliche
positive Übertragung nicht zustande,
An Stelle der Übertragung finden wir bei unseren Patienten die
Neigung, sich mit demArzt zu identifizieren. Anstatt ihm
persönlich näher zu kommen, versetzen sie sich an seine Stelle, Sie
nehmen seine Interessen an und lieben es, sich mit der Psychoanalyse
als Wissenschaft zu beschäftigen, anstatt sie als Behandlungsmethode
auf sich wirken zu lassen. Sie neigen zum Tausch der Rollen, wie
das Kind den Vater spielt. Sie belehren den Arzt, indem sie ihm ihre
Ansichten über die eigene Neurose vortragen, halten letztere für
besonders instruktiv und glauben, durch ihre Analyse müsse die
Wissenschaft eine besondere Bereicherung erfahren. So treten sie aus
der Rolle des Patienten heraus und verlieren dabei den Zweck der
Psychoanalyse aus den Augen. Besonders aber begehren sie, den
Arzt zu übertreffen, seine psychoanalytischen Fähigkeiten und Leistungen
herabzusetzen; für sich selbst nehmen sie in Anspruch, „es besser zu
können“. Überaus schwer sind sie von vorgefaßten Meinungen abzu-
bringen, die im Dienst ihres Narzißmus stehen; sie neigen zum Wider-
spruch und wissen aus der Psychoanalyse ein Wortgefecht mit dem
Arzt, ein Debattieren ums „Rechthaben“ zu machen.
Hiezu einige Beispiele! Ein Neurotiker lehnt nicht nur das freie
Assoziieren ab, sondern auch die geforderte Ruhelage während der
Behandlung. Er springt oftmals auf, geht in die entgegengesetzte Ecke
des Zimmers und beginnt, in selbstbewußter Haltung und in belehren-
dem Tone seine durch Reflexion gewonnenen Anschauungen über seine
Neurose vorzutragen. Ein anderer meiner Patienten bot ein ähnlich
dozierendes Verhalten. Er äußerte geradezu die Meinung, die Psycho-
analyse besser als ich zu verstehen, weil — er doch die Neurose
habe, und nicht ich. Nach langdauernder Behandlung äußerte er ein-
mal: „Ich fange jetzt an zu erkennen, daß Sie von der Zwangsneurose
etwas verstehen.“ Eines Tages stellte sich eine sehr charakteristische
Befürchtung des Patienten heraus: Die freien Assoziationen könnten
ihm fremdartiges, dem Arzt aber vertrautes Material zu Tage fördern ;
der Arzt wäre dann der „Klügere“, Überlegene. Der gleiche Patient,
philosophisch stark interessiert, erwartete von seiner Psychoanalyse
nichts Geringeres, als daß aus ihr für die Wissenschaft die „letzte
Wahrheit“ hervorgehen solle.
In alldem ist ein Zug von Neid nicht zu verkennen. Solche
Neurotiker mißgönnen dem Arzt jede Bemerkung, die sich auf den
286
äußeren Gang der Psychoanalyse oder auf die Materialien bezieht. Er
soll keinen Beitrag zur Behandlung geliefert haben, sie wollen vielmehr
alles selbst und allein machen. Ich komme damit auf einen
besonders auffälligen Zug, den mir diese Patienten sämtlich darboten.
Das in der Behandlungsstunde unterlassene freie Assoziieren holen sie
nach, wenn sie zu Hause sind. Mit der Neigung zur „Autoanalyse‘,
wie sie dies Verfahren gern benennen, verbindet sich eine deutliche
Geringschätzung des Arztes. Die Patienten sehen in ihm geradezu ein
Hindernis des Fortschrittes in den Behandlungsstunden und sind überaus
stolz auf das, was sie ohne sein Zutun glauben geleistet zu haben.
Die so gewonnenen freien Einfälle werden mit Ergebnissen der Reflexion
vermengt und am nächsten Tage, nach bestimmten Gesichtspunkten
orientiert, dem Arzt vorgetragen. Einer meiner Patienten hatte infolge
übergroßer Widerstände in mehreren Behandlungsstunden nur geringe
und in einer weiteren gar keine Fortschritte der Analyse gesehen. Am
nächsten Tage kam er zu mir und erklärte, er habe zu Hause stunden-
lang allein „arbeiten“ müssen. Natürlich sollte ich daraus die Unzu-
länglichkeit meines Könnens entnehmen.
Es handelt sich bei dieser „Autoanalyse“ um ein narzißtisches
Sichselbstgenießen, zugleich um eine Auflehnung gegen den „Vater“,
Die schrankenlose Beschäftigung mit dem eigenen Ich und das bereits
beschriebene Gefühl der Überlegenheit bieten dem Narzißmus reichen
Lustgewinn. Das Bedürfnis, bei dem Vorgang allein zu sein, nähert
diesen der Onanie und ihren Äquivalenten — den neurotischen Tag-
träumereien — außerordentlich an. Solchen waren meine sämtlichen
in Betracht kommenden Patienten schon früher in hohem Maße ergeben.
Die „Autoanalyse“ war ihnen ein durch therapeutisches Interesse
gerechtfertigtes, ja sogar gebotenes Tagträumen, ein vorwurfsireier
Masturbations-Ersatz.
Ich hebe an dieser Stelle hervor, daß die einschlägigen Fälle
meiner Beobachtung vorwiegend der Zwangsneurose angehörten; in
einem Falle lag eine Angsthysterie mit beigemischten Zwangs-
symptomen vor. Bei einem Kranken handelt es sich um. eine paranoide
Störung. Unter Berücksichtigung der neueren psychoanalytischen
Erfahrungen werden wir nicht erstaunt sein, in sämtlichen Fällen aus-
geprägte sadistisch-anale Züge vorzufinden. Die feindselig-
ablehnende Einstellung zum Arzt wurde schon erwähnt. Das übrige
Verhalten der Patienten wird aus analerotischen Motiven voll verständlich.
In dieser Hinsicht seien nur einige Hinweise gegeben.
Das Sprechen in der Psychoanalyse, durch welches man sich
psychischer Inhalte entledigt, wird von unseren Patienten — wie auch
TEE FEÄZEETEETTRRFE
———
287
sonst von Neurotikern mit starker Analerotik — der Darmentleerung
gleichgesetzt. (Einige identifizieren auch die freie Assoziation mit dem
Flatus.) Es handelt sich um Personen, die in ihrer Kindheit zur
Beherrschung ihrer Sphinkteren und zur Regelmäßigkeit der Ent-
leerungen schwer zu erziehen waren. Zur vorgeschriebenen Zeit ver-
weigerten sie die Entleerung, um sie zu ihnen beliebender Zeit nach
Laune zu verrichten. Ganz ebenso verhalten sie sich nun aus unbe-
wußten Gründen der Psychoanalyse bezw. dem Arzt gegenüber. Kürzlich
hat Tausk! darauf hingewiesen, daß kleine Kinder die Erwachsenen
gern hinsichtlich der Entleerung täuschen. Sie strengen sich scheinbar
sehr an, den Vorschriften der Erzieher zu genügen, die Entleerung
findet aber nicht statt. Tausk knüpft hieran die Bemerkung, das sei
vielleicht die früheste Gelegenheit, bei welcher das Kind bemerke, daß
eine Täuschung der Erwachsenen möglich ist. Die’ hier in Rede
stehenden Neurotiker verleugnen diese Vorgeschichte nicht. Sie
kaprizieren sich gewissermaßen darauf, selbst zu bestimmen, ob,
wann und wieviel sie von ihrem unbewußten psychischen Material
herausgeben. Ihre Neigung, fertig geordnetes Material zur Behandlungs-
stunde mitzubringen, läßt nicht nur die analerotische Lust am Ordnen
und Rubrizieren, sondern noch einen weiteren Zug erkennen. Freud?
hat neuerdings auf die unbewußte Identität von Kot und Geschenk
mit besonderem Nachdruck aufmerksam gemacht. Narzißtische Neu-
rotiker mit stark analer Veranlagung haben die Neigung, statt Liebe
Geschenke zu geben?. Die Übertragung auf den Arzt ist bei unseren
Patienten unvollkommen. Ein .zwangloses Sich-ausgeben in freien
Assoziationen gelingt ihnen nicht. Sie bringen dem Arzt gleichsam als
Ersatz Geschenke dar. Diese bestehen in ihren zu Hause vorbereiteten
Beiträgen zur Psychoanalyse, welche der narzißtischen Bewertung —
gleich den Körperprodukten — unterliegen. Der narzißtische Vorteil
besteht für die Patienten darin, daß sie die genaue Kontrolle darüber
‚behalten, was sie geben. x
Einer meiner Zwangsneurotiker mit Grübel- und Zweifelsucht ver-
stand es, während der Behandlung die Psychoanalyse selbst, ihre
Methodik wie ihre Ergebnisse, zum Gegenstand des Grübelns und
Zweifelns zu machen. Von seiner Familie in hohem Maße abhängig,
quälte er sich u, a. mit dem Zweifel, ob seine Mutter oder ob Freud
* „Intern. Zeitschr, fiir ärztl, Psychoanalyse“. V. Jahrg. 1919, S. 15, Fußnote 1.
2 „Aus der Geschichte einer infantilen Neurose*, in „Kl. Schriften zur Neurosen-
iehre“, Bd, 4, 1918,
3 Vgl. hiezu meinen früheren Aufsatz über „Das Geldausgeben im Angst-
zustand“. Seite 279.
288
„recht habe“. Seine Mutter, so erklärte er, habe ihm zur Besserung
seiner Stuhlverstopfung oft geraten, im Klosett nicht zu träumen,
sondern bei der Defäkation immer nur an diesen Vorgang selbst zu
denken. Freud gebe nun gerade die entgegengesetzte Regel: man
solle zwanglos assoziieren, dann „komme alles von selbst heraus“.
Es kostete lange Zeit, bis der Patient die Psychoanalyse nicht mehr
nach der Methodik seiner Mutter, sondern nach derjenigen Freuds
betrieb.
Der bekannten Sparsamkeit der AÄnalerotiker scheint der
Umstand zu widersprechen, daß unsere Patienten für die Behandlung,
die sich aus den besprochenen Gründen in die Länge zieht, bereit-
willig materielle Opfer bringen. Dieses Verhalten wird aber aus früher
Gesagtem erklärlich. Die Patienten opfern ihrem Narzißmus. Die Heilung
der Neurose als Ziel der Behandlung verlieren sie allzu leicht aus dem
Auge. Es muß etwas anderes sein, das sie den Geldaufwand nicht achten
laßt. Eine alte Anekdote variierend, möchte man sagen, für ihren
Narzißmus sei ihnen nichts zu teuer.
Der Charakterzug der Sparsamkeit findet sich bei ihnen übrigens
an anderer Stelle. Sie sparen ihr unbewußtes Material auf. Sie geben
sich mit Vorliebe der Erwartung hin, eines Tages „werde alles mit
einem Male herauskommen“. Sie üben in der Psychoanalyse wie
auf dem Gebiete der Darmtätigkeit das Verfahren der Obsti-
pation. Die Entleerung soll nach langem Aufschub einmal unter
besonderer Lust erfolgen; der Termin wird aber immer wieder hinaus-
geschoben.
Die Analyse solcher Patienten bietet erhebliche Schwierigkeiten.
Diese beruhen u. a. in der scheinbaren Gefügigkeit der Kranken, die
den Widerstand verdeckt. Die Beseitigung eines solchen Widerstandes
ist eine Aufgabe, die man nicht unterschätzen darf; handelt es sich
doch um ein Vorgehen gegen den Narzißmus der Patienten, gegen die-
jenige Triebkraft also, an welcher unser therapeutisches Bestreben
am leichtesten scheitert. Jeder mit den Dingen Vertraute wird also
begreifen, daß keiner der von mir behandelten Krankheitsfälle dieser
Art einen raschen Erfolg gestattete. Ich füge hinzu, daß ich auch in
keinem Falle einen vollkommenen Heilerfolg erzielt habe, wohl
aber eine praktisch wertvolle, bei einigen Patienten sogar recht weit-
gehende Besserung. Meine Erfahrungen ergeben hinsichtlich der
therapeutischen Aussichten eher ein zu ungünstiges Bild. Als ich die
ersten einschlägigen Fälle behandelte, fehlte mir noch die tiefere
Einsicht in die Eigenart der Widerstände. Besonders ist zu bedenken,
Y
289
daß erst Freuds grundlegende Schrift von 1914 uns das Verständnis
des Narzißmus vermittelte. Ich habe durchaus den Eindruck, daß die
Überwindung solcher narzißtischer Widerstände leichter gelingt, seit
‚ich derartige Patienten gleich am Anfang der Behandlung in das
Wesen ihres Widerstandes einführe. Ich lege das größte Gewicht auf
eine erschöpfende Analyse des Narzißmus der Patienten in allen seinen
Äußerungen, besonders in seinen Beziehungen zum Vaterkomplex.
Gelingt es, die narzißtische Verschlossenheit des Patienten zu über-
winden und — was dasselbe bedeutet — eine positive Übertragung
zu bewerkstelligen, so kommen eines Tages zu seiner Überraschung
freie Assoziationen auch in Gegenwart des Arztes zu stande. Anfangs
zeigen sie sich vereinzelt; mit dem Fortschreiten des geschilderten
Vorganges werden sie reichlicher. Wenn ich anfänglich die Schwierig-
keiten der Behandlung hervorgehoben habe, so möchte ich daher zum
Schlusse vor einer prinzipiell ungünstigen Prognosenstellung in solchen
Fällen warnen.
19
Bemerkungen zu Ferenczis Mitteilung über
„Sonntagsneurosen“'.
Temporäre Verschlimmerungen nervöser Zustände im Zusammen-
hang mit Sonn- und Feiertagen, Ferien usw. sind auch mir nicht
selten begegnet. Die folgenden Bemerkungen zur Ätiologie dieser
Schwankungen sollen Ferenczis Ausführungen in keiner Weise
‚widersprechen, sondern sie in gewisser Richtung ergänzen.
Eine erhebliche Anzahl von Menschen vermag sich vor dem
Ausbruch schwererer neurotischer Erscheinungen nur durch intensives
Arbeiten zu schützen. Infolge zu weitgehender Triebverdrängung
besteht bei ihnen dauernd die Gefahr, daß Erregungsquantitäten sich
in neurotische Syınptome umsetzen. Durch die angestrengteste Tätigkeit
im Berufe, im Studium oder in ihrem sonstigen Pflichtenkreis lenken
sie sich gewaltsam von den Forderungen ihrer Libido ab. Sie
gewöhnen sich an Arbeitsleistungen, die weit über das objektiv
Notwendige hinausgehen. Die Arbeit wird ihnen ähnlich unentbehrlich —
und zwar in immer gesteigerten Dosen —, wie dem Morphinisten
sein gewohntes Gift. Bricht bei diesen Neuropathen eines Tages eine
eigentliche Neurose aus, so sind Ärzte und Laien rasch mit einer
Scheinätiologie zur Hand; sie lautet: „Überarbeitung.“ In einem Teile
der Fälle vermag die Arbeit das Drängen der Libido nicht dauernd
niederzuhalten; irgendwann bricht diese sich auf dem Wege der
Konversion dennoch Bahn. In anderen Fällen — die uns hier
besonders angehen — treten neurotische Symptome, mehr oder
weniger schwer und akut, dann hervor, wenn die Arbeit durch
äußere Umstände unterbrochen wird. Das durch die Arbeit
mühsam erhaltene seelische Gleichgewicht geht so für die Dauer des
Sonntags, der Feiertage usw., oder aber für längere Zeit verloren,
Bei Wiederbeginn der Arbeit fühlen sich die Patienten sogleich
wieder wohler.
Aber noch ein anderer Faktor verdient Beachtung. Die große
Mehrzahl der Menschen benützt den Sonntag zum Lebensgenuß, sucht
1 Aus „Internationale Zeitschrift für ärztliche Psychoanalyse“, V. Jahrgang 1919.
291
den Tanz und überhaupt die Gesellschaft des anderen Geschlechtes,
So erinnert der Sonntag unsere Patienten in unerwünschter Weise an
die Gebundenheit des eigenen Trieblebens, besonders an ihre
Unfähigkeit zur Annäherung an das andere Geschlecht. Einer meiner
Patienten mied am Sonntag die Straße, um dem Anblick der Liebes-
paare zu entgehen. In trüber Stimmung und quälender Unruhe hielt
er sich im Hause. Die Pein dieser Insuffizienzgefühle schwindet
mit dem Ablauf des Sonntags. Am nächsten Arbeitstag vermögen
unsere Patienten sich im Gegenteil ihren Mitmenschen üb erlegen
zu fühlen, weil diese ihnen an Arbeitsleistung nicht gleichkommen.
Während des Krieges sah ich eine Reihe von Soldaten den
militärischen Dienst mit übertriebener Gewissenhaftigkeit ausführen.
Sie hielten sich auf diese Weise relativ symptomfrei. Jeder Urlaub
wirkte nachteilig auf sie, indem er stärkere neurotische Erscheinungen
auslöste. Ein Offizier litt während der unfreiwilligen Ruhe des
Stellungskrieges unter starken neurotischen Beschwerden; er bat seine
Vorgesetzten stets, ihn an einen möglichst bewegten Teil der Front
zu versetzen, damit er von seinen Beschwerden frei werde.
Körperliche Erkrankungen oder Unfälle, die den Betroffenen zur
Untätigkeit zwingen, ziehen nicht selten den Ausbruch oder die
Verschlimmerung einer Neurose nach sich. Man bringt dann die
Neurose gern in einen ätiologischen Zusammenhang mit der voraus-
gegangenen Infektion, dem Unfall usw. Nicht selten läßt sich alsbald
feststellen, daß die unterdrückte Libido den Patienten zu der Zeit
überwältigt hat, als er zur Untätigkeit genötigt war.
Mit Hinblick auf die regelmäßige Wiederkehr der „Sonntags-
neurosen“ möchte ich daran erinnern, daß ein anderes, rhythmisch
sich wiederholendes An- und Abschwellen der Neurose zwar in seiner
Erscheinung wohlbekannt ist, aber noch keine Berücksichtigung in
der psychoanalytischen Literatur gefunden hat. Ich meine die
alltäglichen Schwankungen im Zustand der Neurotiker.
Geläufig ist dem Arzte besonders der Typus des Neurotikers mit
depressiver Stimmung am Morgen und Euphorie am Abend. Es würde
sich verlohnen, auch diese Eigentümlichkeit im Ablauf vieler Neurosen
einer gesonderten Bearbeitung zu unterziehen. Aus einer einzelnen
Beobachtung kenne ich ferner die jährliche Exazerbation einer Neurose
(Angsthysterie) im Winter um die Zeit der kürzesten Tage; sie
schwand jeweils mit dem Eintritt der längeren Tage.
19*
Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen
in vorgeschrittenem Lebensalter‘.
Die Frage, unter welchen Bedingungen eine psychoanalytische
Behandlung einen therapeutischen Erfolg verspricht, ist bisher im
einzelnen fast unerörtert geblieben. In einem Aufsatz aus dem
Jahre 1898, der dem ersten Bande der „Kleinen Schriften zur
Neurosenlehre* eingefügt ist, hat Freud sich in allgemeiner Form
zu dieser Frage geäußert”. In den seither verlaufenen Jahren
hat sich die psychoanalytische Erfahrung vervielfacht, die Technik
der Behandlung weiter entwickelt. Es ist daher wohl angebracht,
eine praktisch so wichtige Frage einer genaueren Betrachtung zu
würdigen. Die folgenden Zeilen sollen einen ersten Beitrag zu ihrer
Lösung bringen.
In dem zitierten Aufsatz hat Freud die Meinung vertreten,
daß ein zu weit vorgeschrittenes Alter des Patienten die Wirk-
samkeit der Psychoanalyse begrenze. An der allgemeinen Richtigkeit
dieser Auffassung kann wohl kein Zweifel aufkommen. Daß mit
dem Beginn körperlicher und psychischer Involution das Individuum
weniger bereit sein werde, von einer Neurose zu lassen, die sein
Leber bisher begleitet hat, war ja von vornherein wahrscheinlich.
Die psychoanalytische Erfahrung jedes Tages legt uns aber nahe,
an die seelischen Vorgänge nicht zu starre Normen anzulegen. Sie
warnt davor, mit aprioristischen Erwartungen an die Erforschung
oder an die Behandlung nervöser Zustände heranzutreten. Haben
wir uns doch davon überzeugen müssen, daß gewisse Geisteskrank-
heiten, deren Unbeeinflußbarkeit ein Dogma der Psychiatrie bildete,
der psychoanalytischen Methode zugänglich ‘sind! So scheint es
denn auch unrichtig, die therapeutische Beeinflußbarkeit der
Neurosen im Involutionsalter grundsätzlich zu leugnen. Die Psycho-
analyse als Erfahrungswissenschaft hat vielmehr zu untersuchen,
1 Zuerst veröffentlicht in „Intern. Zeitschrift f. Psychoanalyse“, VI/2. 1920.
2 Seite 198,
293
ob und unter welchen Bedingungen die Behandlungsmethode auch
noch in späteren Lebensjahren Erfolge zeitigen kann.
In den Kreisen der Kollegen wird Freuds oben zitierte
Ansicht vielfach in dem Sinne aufgefaßt, daß Behandlungen im vierten
Lebensjahrzehnt bereits zweifelhafte Aussichten bieten, daß aber
das fünfte Jahrzehnt und besonders das klimakterische Alter die
Prognose psychoanalytischer Behandlungen höchst nachteilig beein-
flussen. Jenseits des fünfzigsten Lebensjahres wird unserer Therapie
oft jede Wirkung abgesprochen.
In meiner psychoanalytischen Praxis habe ich eine Reihe von
Neurosen mit chronischer Verlaufsart bei Personen behandelt, die
das Alter von vierzig, zum Teil das von fünfzig Jahren überschritten
hatten. Besonders die ersten Fälle dieser Art übernahm ich nur
zögernd. Ich wurde aber mehrfach von den Patienten, die schon
anderweitig erfolglos behandelt waren, zu einem Versuch gedrängt.
Auch hatte ich die Zuversicht, den Patienten, falls ich ihnen keine
Heilung verschaffen konnte, doch ein tiefer gehendes Verständnis
ihrer Leiden entgegenbringen zu können, als der psychoanalytisch
nicht gebildete Arzt. Zu meiner Überraschung reagierte ein erheb-
licher Teil dieser Patienten sehr günstig auf die Psychoanalyse.
Ich darf sagen, daß einige unter ihnen mir Heilerfolge gebracht
haben, die zu den besten von mir überhaupt erzielten gehören.
Einige Belege dafür mögen hier folgen.
Der erste Patient dieser Gruppe ließ am wenigsten Gutes
erhoffen: ein Fall von melancholischer Depression im Rückbildungs-
alter, der auf Behandlung ih offener und geschlossener Anstalt
durchaus refraktär geblieben war. Die Psychoanalyse hatte bei
dem gehemmten Patienten, der im 50. Lebensjahre stand, schwere
Arbeit zu bewältigen, aber es gelang ihr innerhalb fünf Monaten,
ihn von seinen Selbstbeschuldigungen und seiner Lebensverneinung
zu befreien und ihn zu beruflicher Tätigkeit wieder tauglich zu
machen. Das Leiden, dem ein jahrelanges nervöses Vorstadium
vorausgegangen war, bestand in ausgeprägter Form bei Beginn der
Behandlung 1?/, Jahre. Lag in diesem Falle auch kein Erfolg
bei einem langjährigen Krankheitszustand vor, so war doch
die Neigung zum chronischen Verlauf nicht zu verkennen. Dazu
kam die Schwere der Krankheitsform. Ich durfte daher die
Behandlung eigentlicher Neurosen im Involutionsalter nicht mehr für
schlechtweg aussichtslos halten.
Ich übernahm später die Psychoanalyse eines nahezu 50jährigen
Zwangskranken. Die „Duplizität der Fälle“ führte mir bald noch
294
einen zweiten Kranken der gleichen Kategorie, 53 Jahre alt, zu. Beide
Patienten gelangten zu einem vortrefflichen Heilerfolg.
Der Eıste, von Jugend auf mit allen Zügen des sogenannten
Zwangscharakters behaftet, hatte bis etwa zu seinem 35. Lebens-
jahre eigentliche Zwangssymptome nur in leichterem Grade
. dargeboten, jedenfalls aber unter ihnen nicht ernstlich gelitten. In
seiner Ehe machte er sich vollkommen abhängig von seiner Frau,
die dem Unentschlossenen alle ernsteren Entscheidungen abnahm.
Eines Tages bemerkte er, daß sie einem Angehörigen eine
Vertraulichkeit gestattete. Dieser Vorfall, der die Eifersucht des
Patienten weckte, führte zum Ausbruch der Neurose in ihrer schweren
Form. Seitdem die Frau, auf die er sein unbedingtes Vertrauen
gesetzt hatte, sich als unzuverlässig erwiesen hatte, gab es für
ihn nichts mehr, worauf er sich verlassen konnte. Er verfiel der
denkbar schwersten Zweifelsucht. Unter anderem war er
beständig im Zweifel darüber, ob er nicht soeben ein Verbrechen
begangen habe. Verschwand vor seinen Augen auf der Straße ein
Mensch in einem Hauseingang, so quälte der Patient sich mit dem
Gedanken, ob er jenen etwa ermordet und die Leiche beseitigt habe.
Hatte der Briefträger ihm eine Sendung gebracht und das Haus
wieder verlassen, so suchte Patient in höchster Angst die Wohnung
ab, um sich zu überzeugen, daß er den Briefträger. nicht ermordet
noch auch die Leichenteile in der Wohnung verborgen hatte, Dazu
gesellten sich die quälendsten Zweifel, ob er auf ein fortgeworfenes
Stück Papier etwa seinen Namen geschrieben habe, so daß mit
diesem ein Mißbrauch getrieben werden könnte. Ich erwähne nur
diese wenigen Einzelheiten aus einer großen Menge, um einen
Begriff von der Schwere des Falles zu geben. Der bei Beginn
der Behandlung völlig verängstigte, hilflos unselbständige Mann
erlangte eine weitgehende Wiederherstellung. Seither sind sechs Jahre
verflossen, ohne daß ein Rückfall erheblicher Art eingetreten wäre.
Gelegentliche Schwankungen des Befindens waren ohne größere
Tragweite.
Der gleichzeitig behandelte andere Zwangskranke litt an
heitigsten Angst- und Depressionszuständen. Auch er war von
jeher mit den Erscheinungen des Zwangscharakters behaftet, unter
welchen besonders Übergüte und Übergewissenhaftigkeit hervortraten.
Bestimmte Konflikte, die mit der Fixierung des Patienten an seine
Familie zusammenhingen, riefen den Ausbruch der eigentlichen
Neurose zwischen dem 30. und 35. Lebensjahre des Patienten hervor.
Der Psychoanalyse gelang es, die schweren neurotischen Symptome,
295
darunter auch die Angstanfälle, krankhaften Zweifel usw., zu beseitigen
und den arbeitsunfähig gewordenen Mann wieder leistungs- und
genußfähig zu machen.
Ich erwähne sodann die Heilung einer im 41. Lebensjahre
stehenden Kranken mit ausgeprägter Straßen- und Reiseangst. Von
Kindheit auf mit mancherlei neurotischen Symptomen behaftet, litt
sie seit mehr als sechs Jahren an den genannten ernsten Störungen.
Sie wurde völlig hergestellt und ist seit nunmehr acht Jahren in
ihrer Bewegungsfreiheit völlig ungehemmt.
Andere Fälle ließen sich anreihen, so auch partielle Erfolge bei
schwersten, eingewurzelten Angsthysterien, Depressionszuständen usw.
Neben diese erfreulichen Resultate stelleich nun die Mißerfolge,
die ich erlebt habe. Nur kurz erwähne ich jene extrem ungünstigen
Fälle, die uns sehr bald nötigen, den Versuch der Behandlung
einzustellen. Es sind Kranke, die auf jedes ihnen unerwünschte
Ergebnis der Analyse, ja schon auf die Notwendigkeit, von ihrem
Triebleben zu sprechen, mit instinktiver Abwehr reagieren. Wichtiger
für die vorliegende Betrachtung sind diejenigen Fälle, in welchen
wir uns trotz fortgesetzter Behandlung mit unvollkommenen, pallia-
tiven Erfolgen zufrieden geben müssen.
Überblickt man eine gewisse Anzahl erfolgreicher und erfolg-
loser Kuren bei unserer Patientengruppe, so klärt sich das Rätsel
eines so verschiedenartigen Ausganges in einfacher Weise auf.
Prognostisch günstig sind auch noch in vorgeschrittenem Alter
diejenigen Fälle, in welchen die Neurose mit voller Schwere
erst eingesetzt hat, nachdem der Kranke sich schon längere Zeit
jenseits der Pubertät befand und sich mindestens etliche Jahre
hindurch einer annähernd normalen sexuellen Einstellung und sozialen
Brauchbarkeit erfreut hat. Ungünstige Objekte sind dagegen
diejenigen Kranken, . welche bereits in der Kindheit ausgeprägte
Zwangsneurosen usw. produziert und in den erwähnten Hinsichten .
später niemals einen annähernd normalen Zustand erreicht haben.
Patienten dieser Art sind es aber auch, bei denen in jugendlichem’
Alter Mißerfolge der psychoanalytischen Therapie vorkommen. Mit
anderen Worten: Das Lebensalter, in welchem die Neurose
ausgebrochen ist, fällt für den Ausgang der Psychoanalyse mehr ins
Gewicht als das Lebensalter zur Zeit der Behandlung. Man kann
auch sagen, das Alter der Neurose sei belangreicher als dasjenige
des Neurotikers.
Hier drängt sich der Vergleich mit der Prognose des
Ablaufes geistiger Störungen auf. Unter den als Dementia praecox
296
(Schizophrenie, Paraphrenie) zusammengefaßten Psychosen bieten die
in der beginnenden Pubertät oder gar im Kindesalter ausgebrochenen
Fälle die ungünstigste Prognose, während die in reiferem Alter
einsetzenden mehr zu Remissionen neigen, die dann auch von
größerer Dauer sind. Der Ablauf der Psychoneurosen folgt ähnlichen
Gesetzen.
Von prinzipieller Bedeutung ist die Frage, wieweit es der
Psychoanalyse gelingt, bei Neurotikern in vorgeschrittenen Jahren
der infantilen Sexualität nachzuforschen. Meine Erfahrungen haben
mir gezeigt, daß ein Vordringen bis in die allerfrühesten Zeiten
hier keineswegs ausgeschlossen ist. In einem neuerdings behandelten,
noch nicht abgeschlossenen Falle von Zwangsneurose gelang diese
Aufgabe so vollkommen, wie man es nur bei jugendlichen Personen
erwarten möchte.
Der äußere Verlauf der psychoanalytischen Behandlungen im
Involutionsalter gestaltet sich in einem Teil der Fälle nicht ganz
gleichartig wie im jüngeren Alter. Während wir im allgemeinen
dem Patienten die Führung der Analyse insoweit überlassen, daß
er selbst in jeder Behandlungsstunde den Ausgangspunkt seiner
ireien Assoziationen wählt, bedürfen bestimmte, ältere Neurotiker
jedesmal eines Anstoßes von Seite des Arztes. In ausgeprägter
Form habe ich dieses Verhalten wiederholt bei Zwangsneurotikern
älterer Jahrgänge beobachtet. Es handelte sich um Kranke mit
allgemein herabgesetzter Initiative, die — von Jugend auf in
bestimmten Hinsichten abhängig und unselbständig — vom Arzt
geführt werden wollen, der ihrem Unbewußten in besonderem Maße
den überlegenen Vater bedeutet. Mit diesen Patienten erlebte ich
am Anfang der Behandlungsstunde viele Male den gleichen
Vorgang. Sie fanden den Zugang zu dem bereitliegenden psychischen
Material nicht selbständig. Sobald man ihnen aber eine kleine
Anregung gab, etwa in Gestalt eines Hinweises auf bereits
Besprochenes, so produzierten sie sogleich Einfälle. Das Verhalten
ist als durchaus infantil zu bewerten. Ich bin ihm auch bei
der Behandlung von Kindern begegnet, so noch kürzlich bei einem
intelligenten elfjährigen Knaben, der sich stark positiv auf mich
als Vaterersatz eingestellt hatte. Bezeichnenderweise hört bei Jugend-
lichen dieses Verhalten auf, wenn die Auflehnung gegen den Vater
(oder Vaterersatz) in den Vordergrund tritt.
Mit den vorstehenden Ausführungen hoffe ich die Auswahl
der zur Psychoanalyse noch in späterem Lebensalter Geeigneten
erleichtert zu haben. Ich mache zum Schluß darauf aufmerksam,
297
daß eingehende Untersuchungen darüber am Platze wären, warum
gewisse Fälle des jugendlichen Alters der Psychoanalyse gegenüber
refraktär bleiben. Gerade eine präzise Indikationsstellung wird uns
Mißerfolge ersparen, die Wirksamkeit der psychoanalytischen Therapie
aber zur vollen Entfaltung bringen.
Zur narzißtischen Bewertung der Exkretions-
vorgänge in Traum und Neurose‘,
Eine in psychoanalytischer Behandlung befindliche Patientin träumt:
„Ich sitze auf einem Korbstuhl an der Mauer eines Hauses. Das
Haus liegt an einem großen See. Der Stuhl steht unmittelbar auf dem
Wasser. Im See befinden sich viele schwimmende Menschen, außerdem
Boote. In einem Boote sehe ich zwei Männer, einen älteren und einen
jüngeren. Während das Boot auf mich zukommt, erhebt sich ein
Windstoß und erzeugt auf dem See eine ungeheure Welle, gerade
hinter dem Boot. Sie verschlingt das Boot mit den Insassen. Auch die
Leute, die im See schwammen, gehen unter. Nur eine Frau hält sich
noch über Wasser, kommt in meine Nähe geschwommen und faßt
nach meinem Stuhl. Ich denke, ich könnte ihr ein Bein entgegen-
strecken, damit sie sich daran halten kann, habe aber für die Frau
ebenso wenig Mitgefühl, wie für die anderen Verunglückten und unter-
lasse es, etwas zu ihrer Rettung zu tun.“
Die Analyse des Traumes, soweit sie hier von Interesse ist, ergibt
folgendes:
Der ältere und der jüngere Mann im Boot sind Vater und
Bruder der Patientin; an beide ist ihre Libido übermäßig fixiert. Die
schwimmende Frau ist ihre Mutter. Die psychische Konstellation, aus
der heraus die Träumerin unbewußt den Tod der sämtlichen Angehörigen
herbeiwünscht, kann hier übergangen werden. Dagegen soll hervor-
gehoben werden, auf welchem Wege die Beseitigung der
Familie geschieht.
Bei der Patientin, deren genitale Erotik ungewöhnlich stark ver-
drängt ist, kommen Anal- und Urethralerotik in Träumen und neuro-
tischen Symptomen überdeutlich zum Ausdruck. Der vorliegende
Traum wird von diesen Tendenzen beherrscht. „Stuhl“, „Wind“ und
„Wasser“ sind seine hauptsächlichsten Requisiten. Von Wind und Wasser
wird die Familie der Träumerin vernichtet. Sie selbst ist, aus Gründen
der Zensur, scheinbar unbeteiligte Zuschauerin. Die Gefühllosigkeit,
1 Zuerst veröffentlicht in „Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse“, VI, 1, 1920.
un
|
| 299
| mit der sie der Katastrophe zusieht, legt die Vermutung nahe, daß
sie selbst das Unheil herbeiführt. Die Vermutung wird zur Gewißheit,
wenn man den Schluß des Traumes berücksichtigt. Die Träumerin
verursacht ja den Tod ihrer Mutter, indem sie ihr die Hilfe versagt.
Wir sind gewohnt, in den Psychoanalysen der Neurotiker die
analen und urethralen Gefühle in enger Beziehung zu den infantilen
Liebesregungen zu finden. Auch die Analyse unserer Träumerin bietet
ein reiches, einschlägiges Tatsachenmaterial. Es entspricht nur unseren
Erfahrungen über die Ambivalenz im neurotischen Triebleben, wenn
wir den Funktionen und Produkten des Darms und der Blase auch
als Trägern feindseliger Regungen begegnen. Selten aber ist der Aus-
| druck solcher feindseliger Regungen so kraß, wie in dem mitgeteilten
| Beispiel. Blasen- und Darmfunktion sind hier in den ausschließlichen
| Dienst des Sadismus gestellt; Urin und Flatus treten als Werkzeuge
des Sadismus- auf. .
Besondere Beachtung verdient die ungeheure Wirkung, welche
die Träumerin ihren Exkretionen zuschreibt. Der uns geläufigen
primitiven Vorstellung von der Allmacht der Gedanken
darf man auf Grund unseres Traumbeispieles diejenige von der All-
macht der Blasen- und Darmfunktion an die Seite stellen.
Sichtlich kommt in beiden Vorstellungen die gleiche narzißtische
Selbstüberschätzung zum Ausdruck. Die hier nachgewiesene
Vorstellung scheint aber die primitivere von beiden, ja geradezu die
Vorstufe zur „Allmacht der Gedanken“ zu sein. Ein zweites Beispiel
mag diesen Eindruck noch verstärken.
Ein Neurotiker, der sich während seiner frühen Kindheitsjahre |
stets als „Prinz“ vorkam, „Kaiser“ spielte und während der späteren |
Kindheitsjahre in Weltbeherrschungs-Phantasien schwelgte, machte mit
elf Jahren eine eigentümliche Wandlung durch. Er war bis zu jenem
Alter ganz an seine Mutter gebunden, die ihn systematisch gegen den
Vater eingenommen hatte. Sie kam der Analerotik des Knaben im i
höchsten Maße entgegen, indem sie mit seinen Entleerungen einen |
|
förmlichen Kultus trieb. Qualität und Menge seines Stuhlganges waren
ihre ständige Sorge. Fast täglich verabreichte sie ihm Klysmen. Der
Sohn produzierte seinerseits einen neurotischen Magenschmerz, durch
den er die Mutter zur Fortsetzung der Klysmen zwang. In dem |
erwähnten Alter machte er nun eine größere Reise mit den Eltern. Im |
Hotel belauschte er eines Nachts den sexuellen Verkehr der Eltern. |
Dieses Ereignis war für ihn umso eindrucksvoller, als die Eltern |
daheim seit Jahren getrennte Schlafzimmer benutzten. Der Patient
erinnert sich nun, wie ihm dieses Vorkommnis ganz unerträglich
300
erschien, und wie er sich ganz bewußt entschloß, seine Wiederholung
zu verhindern. Auf der Weiterreise wußte er es einzurichten, daß er
selbst mit dem Vater das Zimmer teilte. Seit der Beobachtung des
' elterlichen Verkehres identifizierte er sich mit der Mutter und übertrug
die Phantasie vom analen Koitus auf den Vater. Bislang hatte er der
Mutter einen Penis angedichtet, der durch das Kiystierrohr vertreten
wurde. Jetzt dagegen stellte er sich weiblich-passiv auf den Vater
ein!. Bald darauf war er einige Zeit bettlägerig. Als er. einmal ein
paar Tage lang ohne Darmentleerung blieb, nahm er einen Druck im
Leib wahr. In der Nacht träumte er, aus seinem Anus das
Weltallherauspressen zu müssen.
Auch hier findet sich die Vorstellung von der Allmacht der
Defäkation in unverkennbarer Deutlichkeit. Man wird an die Schöpfungs-
mythen erinnert, in welchen der Mensch aus Erde oder Ton, das
heißt aus kotähnlichen Substanzen, geschaffen wird. Der biblische
Schöpfungsmythus hat in dieser Hinsicht zwei verschiedene Fassungen.
In der „elohistischen* Darstellung erschafft Gott das Weltall, den
Menschen inbegriffen, durch sein „Es werde!“ — das heißt also,
durch die Allmacht seines Gedankens, Willens oder Wortes. In der
„jahwistischen“ Urkunde erfolgt die Erschaffung des Menschen aus
einem Erdenkloß, dem Gott seinen Odem einbläst. Hier herrscht
also noch die primitivere Vorstellung von der Allmacht der Darm-
produktion. Auf andere mythologische Parallelen einzugehen, ist hier
nicht der Ort.
Zur sadistischen Bedeutung der Defäkation zurückkehrend, will
ich erwähnen, daß die Patientin, welche ihre Familie im Traum durch
ihre Exkretionen tötet, in hohem Grade mit nervösen Diarrhöen
behaftet war. Die Psychoanalyse ergab neben den uns geläufigen
Ursachen dieses Symptomes eine sadistische Wurzel. Die Diarrhöen
‚stellten sich als Äquivalente unterdrückter Wutausbrüche heraus. Andere
analysierte Krankheitsfälle haben mir diesen Zusammenhang bestätigt;
so kenne ich eine Neurotika, die auf jedes Ärger oder Wut erregende
Erlebnis ebenfalls mit Diarrhöe reagiert.
Es erscheint auffällig, daß ein Wutausbruch seine Vertretung
gerade in diesem neurotischen Symptom findet. Zur Erklärung der
Tatsache muß man das Verhalten des Kindes im frühesten Lebens-
abschnitt heranziehen. Das Kind zeigt im Wutaffekt den gleichen
1 Auch in späterer Zeit hielt der Patient in seinen Phantasien an der Vor-
stellung vom Weib mit männlichem Genitale fest; an seinem eigenen Körper versuchte
er die Genitalien zwischen den Schenkeln zu verstecken, um sich selbst als Weib
betrachten zu können.
MEZTT
301
Blutandrang zum Gesicht, die gleiche Mimik, die gleichen Körper-
bewegungen wie beim Herauspressen des Stuhls, gibt auch bei beiden
Gelegenheiten die nämlichen ächzenden Laute von sich. Diese Gemein-
samkeit der Ausdrucksmittel läßt einen nahen Zusammenhang der
scheinbar heterogenen Antriebe erkennen. So wird es verständlich,
daß eine explosive Darmentleerung dem Unbewußten des Neurotikers
einen Ersatz für eine unterbliebene Entladung zorniger Affekte
bieten kann.
Die ursprünglichste und tiefste Beziehung zwischen Sadismus
und Analerotik ist zweifellos darin zu erblicken, daß die mit der Anal-
zone verknüpften passiven Sexualgefühle zusammen mit den aktiv-
sadistischen Impulsen ein Triebpaar bilden, das die Vorstufe des
späteren Gegensatzes von männlich. und weiblich darstellt. Die beim
Zwangsneurotiker besonders ausgeprägte Ambivalenz des Trieblebens
wurzelt in dieser engen Verbindung aktiver und passiver Antriebe. Der
“ im Obigen hervorgehobene weitere Zusammenhang des Sadistischen
und Analen widerspricht dieser Anschauung nicht. Er erinnert uns
vielmehr daran, daß mit der Darmtätigkeit auch libidinöse Antriebe
aktiver Art verbunden sind! und lehrt uns nur eine Überdeterminierung
jener Zusammengehörigkeit kennen.
Die narzißtische Überschätzung der Exkretionen ist in der psycho-
analytischen Literatur seit langem beachtet worden. Schon 1900
hat Freud in der „Traumdeutung“ einschlägige Beispiele gegeben.
Träume, in welchen die Urinflut gewaltige Wirkungen ausübt, finden
sich namentlich bei Frauen mit stark betontem „Männlichkeits-
komplex“. In einem früheren Aufsatz habe ich selbst von einem drei-
jährigen Knaben berichtet, dessen narzißtische Größensucht noch
gänzlich unverdrängt und in ihrem Zusammenhang mit den
Exkretionen leicht zu erkennen war. Er suchte, als er am Strande der
Nordsee urinierte, den Eindruck hervorzurufen, daß das Meer sein
Produkt sei. . 5 N
Dieser kindlichen Phantasie reihen sich die von mir mitgeteilten
beiden Träume unmittelbar an. Während in den längst bekannten
Exkretionsträumen die Körperprodukte einfach in ihrer Menge über-
schätzt werden, wird hier den exkretorischen Funktionen eine ungeheuere»
ja allmächtige Wirkung im schaffenden oder zerstörenden Sinne
zugeschrieben.
1 Die doppelte — aktive und passive — erogene Bedeutung der Analzone hat
Federn bereits 1914 in seinen „Beiträgen zur Analyse des Sadismus und Masochismus“
ausführlich erörtert. Vgl. Jahrg. II, S. 125 der „Internat. Zeitschrift für Psychoanalyse*,
Inhaltsübersicht.
Seite
Über die Bedeutung sexueller Jugendtraumen für die Symptomatologie der Dementia
RD OU ae oe non E10 0°0 0 8 00,0 00 0 ld. il
Das Erleiden sexueller Traumen als Form infantiler Sexualbetätigung ......
Die psychosexuellen Differenzen der Hysterie und der Dementia praecox ... . 23
‘Die psychologischen Beziehungen zwischen Sexualität und Alkoholismus . ... . 36
"Die Stellung der Verwandtenehe in der Psychologie der Neurosen ....... 45
Über hysterische Traumzustände. .. 2» 2222.02.» RE RE SEE 53
Bemerkungen zur Psychoanalyse eines Falles von Fuß- und Korsettfetischismus . 84
Ansätze zur psychoanalytischen Erforschung und Behandlung des manisch-depressiven
Irreseins und verwandter Zustände. ... . N cken re Net lohe 295
/ Über die determinierende Kraft des Namens ...... na aD 0 el
{ Über ein kompliziertes Zeremoniell neurotischer Frauen .... 2... 0... ..114
/ Ohrmuschel und Gehörgang als erogene Zone . „2... 2... en. 0)
‘Zur Psychogenese der Straßenangst im Kindesalter... . 2.2.2.0... 124
‘ Sollen wir die Patienten ihre Träume aufschreiben lassen?. ....... 126
A Einige Bemerkungen über die Rolle der Großeltern in der Psychologie der Neurosen 129
/ Eine Deckerinnerung, betreffend ein Kindheitserlebnis von scheinbar ätiologischer
Bedeutunge are Pe : BR ae fee .. .183
Psychische Nachwirkungen der Beobachtung a eerlichän Geschlechtsverkehres
bei einem neunjährigen Kinde ... v2. .... 6 0.000.008 . „139
Kritik zu C. G. Jung: Versuch einer Darstellung der Be hosnalylischen Theorie . 143
Über eine konstitutionelle Grundlage der lokomotorischen Angst ........ 159
Über Einschränkungen und Umwandlungen der Schaulust bei den Psychoneurotikern
nebst Bemerkungen über analoge Erscheinungen in der Völkerpsychologie 168
Über neurotische’Exogamieen nennen. 2. 227
Untersuchungen über die früheste prägenitale Entwicklungsstufe der Libido . . . 231:
Über. ‚Ejaculatio! praecox" es ee. 259
Einige Belege zur Gefühlseinstellung weiblicher Kinder gegenüber den Eltern. . 276
Das Geldausgeben im Angstzustand. ........ Dr te 279
Über eine besondere Form desneurotischen Widerstandes gegen die psychoanalytische
Methodik. + 2 rss ern nun 9 A 0008 0 A
Bemerkungen zu Ferenczis Mitteilung über Sonnlagsgenrosene en ...290
Zur Prognose psychoanalytischer Behandlungen in vorgeschrittenem Lebensalter . 292
Zur narzißtischen Bewertung der Exkretionsvorgänge in Traum und Neurose . . 298
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