RENE, LAFORGUE:
DER
GEFESSELTE
BAUDELAIRE
138 wann airn . '
PALESTItfE INSTITUTE > K *J B> * -j
For PSYCH 0AKALYSI3
JERUSALEM ( lY V I V ^
ABESSYNIAN 8TRSIT 138 ^ "*"
LIBRARY )
RENE LAFORGUE :
DER GEFESSELTE
BAUDELAIRE
138 pwnn 3im
PALESTINE INSTITUTE
Fcr PSYC! AIY8IS
JERUSALEM
ab:. SiiittT 138
nnso ) ^
UBRÄ ?lJL
J
DER
GEFESSELTE
BAUDELAIRE
VON
RENE LAFORGUE
1933
INTERNATIONALER
PSYCHOANALYTISCHER VERLAG IN WIEN
AUTORISIERTE ÜBERSETZUNG AUS DEM FRANZÖSISCHEN
VON HEINRICH HOESU UND FRITZ LEHNEB
ALLE RECHTE VORBEHALTEN
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
PRINTED IN AUSTRIA
DRUCK DER JOHANN N. VERNAY A.-G., WIEN IX.
Gewidmet
Herrn Professor Freud
dessen Wissen midi belehrte
und allen jenen, deren Leiden
mich zum Verstehen zwang
VORWORT
Nach der Vollendung dieser Arbeit haben wir feststellen
müssen, daß ihre Veröffentlichung zu einer Gewissensfrage
Veranlassung gab. Der französische Verlag Gallimard, an den
wir uns zur Veröffentlichung des Werkes in französischer
Sprache gewendet hatten, antwortete uns mit folgendem Brief:
„Herr Robert Aron hat mir Ihr Manuskript über Baudelaire
übergeben. Ich habe es persönlich gelesen und es auch lesen lassen.
Dieses Buch wirft beinahe eine Gewissensfrage ziemlich delikater
Natur auf. Die, welche es gelesen haben, erkannten das Gewicht
der Beweisführung und priesen die Vereinigung von literarischer
Tiefe mit dem Interesse für praktische Probleme, die seine Orgina-
lität ausmachen. Aber von einem Gefühlsstandpunkt aus haben die
zahlreichen Verehrer Baudelaires in meinem Hause Widerspruch
dagegen erhoben, daß man Baudelaires Dichtertalcnt überhaupt für
praktische Zwecke, so uneigennützig sie auch sein mögen, benützt.
Obwohl ich persönlich diese Anschauung nicht unbedingt
teile und — meiner Meinung nach — Ihre Absicht sehr wohl
verstanden habe, so machen mir es derartige Widerstände schwer,
Ihr Werk zu veröffentlichen. Ich bedaurc daher außerordentlich,
dieses Mal Ihren Namen im Katalog des Verlags Gallimard nicht
verzeichnen zu können."
Die Meinung dieses Briefes kann, unabhängig von allen
anderen Erwägungen, die für die Herausgabe eines Buches
durch einen Verleger in Betracht kommen, verteidigt werden.
Es ist auch nicht das erste Mal, daß wir derartigen, je nach
dem Fall, mit mehr oder weniger Gehässigkeiten vorgebrach-
ten Einwendungen begegnen. Daher wollen wir uns zuerst
mit der „Gewissensfrage", um die es sich hier handelt, kurz
auseinandersetzen.
Von jeher hat das Bedürfnis bestanden, das menschliche
Genie zu vergöttern. Man kann leicht verstehen, wie der
Dichter dazugekommen ist, sich im Herzen vieler Menschen
an die Stelle der geheiligten Orakel der alten Götter zu
setzen oder wie, anders ausgedrückt, im Laufe seiner Entwick-
lung der religiöse Geist dazu kam, den Dichter unter seinen
Heiligen figurieren zu lassen. Dies ist aber nicht alles. Wie
wir es in dem folgenden Kapitel: „Bemerkungen über die
künstlerische Schöpfung" zu erklären versucht haben, spielt
der Dichter auch die Rolle des Geisteshelden. Daher fühlen
wir uns auch, unabhängig vom religiösen Geist, der seine
Götter nach seinen Bedürfnissen erfindet, durch das Band
der Dankbarkeit an manche Dichter gebunden. "Wie Prome-
theus haben sie uns das Feuer gebracht: <fas Feuer des Geistes
und des Ideals, sodaß wir, im Besitze .dieser Macht, es wagen
konnten, den Göttern, welche unseren Geist unterjochen
wollten, zu trotzen. Vielleicht hat der Mensch in der poeti-
schen Form zuerst jene "Wahrheiten ausgesprochen, deren er
sich nicht direkt bewußt sein wollte. "Wie der Narr, so konnte
der Dichter unbestraft den Königen manches sagen, was aus-
zusprechen andere mit dem Leben gebüßt hätten. Auch dür-
fen wir nicht vergessen, daß uns der Dichter durch die Dich-
tung, wie der Träumer durch den Traum — dessen Deuter
er übrigens wird — oft mit uns selbst, mit dem Leiden der
Liebe und mit denen des Todes versöhnt hat. Er konnte
deshalb einen außergewöhnlich großen Platz in unserem Her-
zen einnehmen, und die Dichtung ist für gewisse Menschen
das erfolgreichste Mittel geworden, diesen Platz zu erwer-
ben. "Wirkt der Dichter nicht wie die Großpriester und die
Könige, die sich von Gottes Gnaden berufen glauben und
sich für "Wesen halten, die sich über den Gesetzen wähnen,
welche das Dasein der Sterblichen regieren?
Doch da kam die Wissenschaft, für die jede und selbst
eine geheiligte Tatsache im Wesentlichen nur Beobachtungs-
.material ist und die sich weder von Illusionen noch von den
Gottheiten, die wir für unantastbar hielten, auf ihrem Wege
aufhalten läßt.
Wir wissen, wie schwer es dem menschlichen Stolz fiel,
zuzugeben, daß die Erde, von der er glaubte, sie sei das Zen-
trum des Weltalls, fernerhin nur noch ein bescheidener und
der Sonne untergeordneter Planet sein soll, und wie unan-
genehm für ihn die Erkenntnis war, daß die Tiere genau so
wie wir selbst, nach dem Ebenbilde Gottes geschaffen sein
könnten. Aber trotzdem die Biologie den Beweis erbringen
konnte, daß die menschliche Zelle mit der tierischen und
pflanzenhaften verwandt sei, blieb dem Menschen ein Weg
offen, seine besondere Stellung zu beanspruchen. Im Ver-
trauen auf seinen Geist oder sein Genie benahm er sich so,
als ob dieser unsterblich sei, d. h. gottähnlich, und daher
den Gesetzen, die das Weltall regieren, entgehen könnte.
Mit Hilfe eines stillschweigenden Vorbehaltes weigerte er
sich, das Faktum zuzugeben, daß auch das Tier, wie er selbst,
eine Seele habe, und beanspruchte im Namen seines eigenen
Genies und dem der Dichter einen besonderen Platz
unter den Geschöpfen.
Dann kam die Psychoanalyse: sie hat uns mit dem Un-
bewußten vertraut gemacht, mit dem verglichen unser so
stolzes Bewußtsein lediglich ein grobes Registriermittel zu
sein scheint. Dank der Psychoanalyse können wir nun sogar
bis zu dem Ursprung des Geistes zurückgehen, bis zu jenen
ergiebigen Quellen, die sowohl für die Erwachsenen als auch
für die Kinder und die Tiere stets die gleichen sind. Die
Analyse deutet das Prinzip Schmerz-Lust, das unseren psychi-
schen Tropismus regiert. Erinnert dieser Tropismus nicht aufs
Seltsamste an die Erscheinung des positiven und des nega-
tiven Pols, die in der Natur jeden Wechsel bestimmen?
Die Psychoanalyse läßt uns die Äußerungen des Unbe-
wußten verstehen oder, besser gesagt, die Sprache des Un-
8
bewußten. So hat sie uns gezeigt, daß das, was sich bei den
einen in der Form einer Dichtung äußerte, bei anderen eine
andersartige, nicht weniger originelle, wenn auch dem Ver-
ständnis der Allgemeinheit weniger zugängliche Form finden
konnte, in der sich das Unbewußte ausspricht.
Der Traum z. B. wurde verständlich, er zeigte die-
selben Eigenschaften wie die künstlerische Schöpfung. Und
genau so wie das Musikverständnis eine gewisse Bildung des
Gehörs voraussetzt, konnte die psychoanalytische Bildung
neue Harmonien offenbaren, die bis jetzt ebenso unsichtbar
gewesen waren wie die Röntgenstrahlen vor ihrer Ent-
deckung.
Die Poesie läuft somit Gefahr, ihre außergewöhnliche
Stellung als das Mittel, durch das die Seelen miteinander
verbunden werden, selbst zu verlieren. Der Dichter sieht
zahlreiche Konkurrenten auftauchen. Er selbst wird zugleich
menschlicher und unserem Verständnis zugänglicher, riskiert
aber dadurch, das Vorrecht dieser Situation zu verlieren, ein
Vorrecht, das ihm unsere Anerkennung und unser Verlangen
nach Illusion gewähren wollten. Er wird ein Mensch, wie
alle anderen Menschen, und die Menschheit hat wiederum
einen Gott verloren.
Die Dichtkunst wird daher künftighin dem Dichter
den Vergleich mit anderen Wesen nicht mehr ersparen kön-
nen, sie wird auf die Geister auch nicht mehr ihre bisherige
unvergleichliche "Wirkung ausüben. Die Wissenschaft ist ein
unerbittlicher Richter, der sich den Argumenten des Gefühls,
der Gefälligkeit und des Mitleids verschließt. Selbst die Kö-
nige des Geistes verlieren vor ihr ihre Unabhängigkeit, wie
vor der Schranke eines Parlaments, das im Bereich des
Geistes keine absolute Verfassung mehr anerkennt. Der
Mensch fühlt, daß ihm die Aussicht, in der Welt eine Aus-
nahmestellung zu behaupten, entgeht. Der Entthronte zürnt
natürlich dem, der ihn besiegt hat.
9
Seit Jahrhunderten schon stellt die Wissenschaft unsere
Eigenliebe auf harte Proben. Wir verfügen nicht mehr wie
früher über die Inquisition, um gegen sie zu kämpfen.
Manche bedauern es. Und hier liegt nun unserer Ansicht
nach die ganze Tragödie der Gewissensfrage, die wir schil-
dern wollten, eine Tragödie, an der wir jedoch nichts
ändern können, denn wir haben es hier mit einer Seite des
Lebens selbst zu tun, das ebensowenig ohne Kampf gedacht wer-
den kann, wie eine Handlung ohne Reaktion. Man muß dies
furchtlos in Betracht ziehen, die Verantwortung auf sich
nehmen, man darf sich ihr nicht entziehen. Niemand wird
die Menschheit von diesem Übel des Kampfes oder von diesem
wohltätigen Kampf - er ist so, wie man ihn sehen will -
retten können.
Was Baudelaire betrifft, so glauben wir, daß der
Mann, der: „Mon coeur mis ä nu" niederschreiben wollte,
über d ie Bedenken derer hinweggegangen wäre, welche die
menschliche Sprache dieses Herzens - die uns die Psycho-
analyse zeigt - einschüchtert, denn Baudelaire war ein leiden-
schaftlicher Liebhaber jener Wahrheit, von der Renan sagte,
es wäre möglich, daß sie traurig sei . . . und er verachtete
die Feigheit.
10
I. Kapitel.
a
Baudelaire und die „Blumen des Bösen
Ein anderer (Arzt) sagte mir, um mich zu trösten,
daß ich „hysterisch" sei. Bewundern Sie, gleich mir, die
elastische Verwendung dieser großen Worte, die so gut
gewählt waren, um unsere Unkenntnis aller Dinge zu
verschleiern. T ,, »
(Brief Baudelaires an Sainte-Bcuve, 15. I. 1866.;
Wir haben nicht die Absicht, die Rolle Baudelaires in
der Literatur darzustellen, wir wollen im Folgenden auch
nicht eine Analyse seiner Kunst geben. Für uns ist Baudelaire
nichts als ein Mensch unter vielen andern Menschen, ein
Kranker unter Kranken, ein vom Leben Geopferter. Er ist
der Wortführer einer ganzen Armee von Verkannten. Der
einzige Grund, warum wir zuerst von ihm sprechen möch-
ten, bevor wir uns den anderen Menschen zuwenden, ist der,
daß er, dank seiner Kunst, unserer Forschung leichter zugäng-
lich und mit unseren Mitteln zum Verständnis eher zu er-
fassen ist als jene. Sein Beispiel illustriert ausgezeichnet ge-
wisse Tatsachen, die aufzudecken uns die Psychoanalyse er-
laubt hat, und die sowohl den Ärzten als auch den Eltern und
Pädagogen bekannt sein sollten.
Die Kunst Baudelaires interessiert uns hier in erster Linie
als ein Mittel, psychische Konflikte nach außen zu projizieren,
Konflikte, die bei andern Individuen je nach den in ihrem
Leben herrschenden Zufällen einen anderen Ausdruck ge-
funden hätten.
Wir hoffen, mit dieser Untersuchung einen speziellen
Typus von Kranken zu ergründen, derjenigen nämlich, die
in die „Blumen des Bösen", d. h. in ihren eigenen Ver-
11
fall verliebt sind. Sie sind oft nur armselige Enterbte der
Liebe, die mit dem abstoßenden Schauspiel einer gräßlichsten
geistigen und moralischen Zerrüttung, das sie boten, nur ein
Ziel verfolgten: verkannt zu werden. Die besondere
Tragödie dabei ist, daß oft nicht viel dazu gehört hätte, ihre
Lage ganz anders zu gestalten. Seine eigene Niederlage
schaffen, die Schätze seiner Seele im Bösen ertränken, oder
wenigstens den Anschein davon zu erwecken, das ist der Sinn
dieses Dramas, das sie spielen.
Unter diesen Armseligen finden wir Verbrecher, Scheu-
sale, die es nur darum sind, weil man sie ihres Rechtes, ihres
Mutes, einfach normale Menschen zu sein, beraubt hat. Unter
diesen Verdammten gibt es Opfer, denen es in vielen Fällen
gelungen ist, sich auf Grund einer Art unbewußten Helden-
tums in den Schmutz hinunter ziehen zu lassen. Ein innerer
Trieb zwingt sie dazu, sich einem dunklen mystischen Ideale
zu opfern, indem sie sich z. B. an die Stelle eines wirk-
lichen Verbrechers setzen oder indem sie ihr Leben zu
einem Golgatha machen und das Kreuz, Christus gleich,
tragen, um damit andere Seelen zu retten. Auf solche Weise
kann sich die Selbstopferung äußern. Die edelsten Gefühle
können so den Weg zu den „Blumen des Bösen" einschlagen.
Diese Selbstgeißelung, dieses Bedürfnis, die grauenvoll-
sten Qualen, die schrecklichsten Ungerechtigkeiten, kurzum
die Hölle zu erdulden, können die Folge einer großen my-
stischen Liebe sein, zu deren Priester man sich auserkoren
sieht, und die einen oft gegen seinen Willen dazu treibt, sich
dem Moloch (sei er nun Gott oder der Teufel), den man an-
betet, zu opfern. Auf diesem Gebiete berühren sich ja die
Extreme, und die Berufung zum Paria kann die Berufung
zum Mönch ersetzen. Die Klöster, die Gefängnisse, die
Irrenhäuser oder ganz allgemein das Unglück, in das man
sich flüchtet, haben weit engere Beziehungen zueinander als
man gemeinhin anzunehmen pflegt.
12
Es ist unmöglich, sich die Mannigfaltigkeit der Mittel
und Wege vorzustellen, über die eine Seele verfügt, um sich
vom Leben abzuwenden und sich im Elend, in den Gräbern
und im Tode der unbefleckten Ewigkeit anzuschließen, von
der wirklich getrennt zu leben eine herbe Sehnsucht ihr nie
erlaubt hat. Diese Sehnsucht oder, wie Baudelaire sagt, dieser
„Spleen", ist der Ursprung des Leidens. Um sie zu verstehen,
wenden wir uns an die Psychoanalyse, oder einfach an Baude-
laire. Außerhalb <des Lebens bleiben heißt sehr oft, an der
Mutterbrust bleiben, noch immer ein Kind sein, ein Kind
mit seiner ganzen Hilflosigkeit, mit seiner Schwäche, seiner
ganzen Einfalt, aber auch mit allen seinen Illusionen, durch
die es die Eltern für Götter hält, die Kathedralen für himm-
lische Orte, die Berge für Riesen. Ist die Sehnsucht nach
dem verlorenen Paradiese etwas anderes als die Sehnsucht
nach der verlorenen Kindheit? Ist sie nicht die Sehnsucht nach
der Zeit der großen Begeisterungen, der großen Leidenschaf-
ten, in der kein Wissen die Gemütsbewegung trübte und diese
ungehemmt das Herz ergriff, in der die Gefühle nicht durch
die despotische Kontrolle, die man sich angeeignet, als man
vergleichen gelernt hatte, bekämpft wurden? Die Kindheit
kennt Leidenschaften, von denen sich manche Menschen nie
erholen, denen sie mit Ausschluß alles andern treu bleiben,
deren sie sich in bitterer Wollust immer erinnern müssen und
wollen. Dieses Bedürfnis kann zum Zwange werden, dieselbe
Situation immer wieder zu erleben, immer wieder hervorzu-
rufen, zu leiden, sich demütigen zu lassen, klein zu sein, wie
das Kind neben der Mutter, der Riesin 1 . Ist dies nicht der
beste Weg, sich die Barmherzigkeit des Gott- Vaters zu sichern
und das Herz der vor dem gekreuzigten Sohne in Tränen
zerfließenden Mutter zu durchbohren? Und so wird diese
Ohnmacht zur gefährlichsten Waffe: Das Kind wird zum
Gottes - Kind unter den Göttern, die ihm die Eltern ge-
») Siehe: „Les ^leurs du Mal" — La Geante.
13
I
blieben sind. In solcher Welt herrscht das Absolute und
alle menschlichen Maße erscheinen lächerlich. Die Lebe-
wesen, welche sie bevölkern, sind wie aus Marmor, „uner-
reichbar menschlichem Leid", über jede Hoffnung hinaus-
gehoben, fern wie die Sterne oder die Augen einer Mutter,
welche ihr Kind in den Schlaf wiegt. Diese Liebe zum Un-
erreichbaren gleicht vielleicht am meisten der Liebe eines
kleinen Knaben zu seinen Eltern, besonders zu seiner Mutter,
sie ist jene Liebe zum Schönen, welche Baudelaire in seinem
Tagebuche geschildert hat:
„Ich fand die Definition meines Begriffes der Schönheit: etwas
Brennendes und Trauriges, etwas ein bißchen Vages, das dem Zwei-
fel die Bahn offen läßt. Nehmen wir z. B. ein sicheres Objekt,
das interessanteste in der Gesellschaft, ein Frauengesicht. Ein ver-
führerisches und schönes Frauenantlitz, das lädt auf eine ver-
wirrende Art zum Träumen ein. Und zwar auf eine wollüstige
und zugleich traurige Art; und damit geht zusammen der Ge-
danke an die Melancholie, die Lässigkeit, die Sättigung sogar —
oder ein entgegengesetzter Gedanke, das brennende Verlangen, zu
leben, dem sich eine immer wiederkehrende Bitterkeit zugesellt,
als ob es von Entbehrung oder Beraubung käme. Geheimnis, Be-
dauern: auch das sind Charaktere des Schönen'."
Francois Porche drückt sich in seinem sympathischen
Buche „La vie douloureuse de Charles Baudelaire"* folgender-
maßen über dessen Liebe zu seiner Mutter aus:
„Wenn wir von der Liebe eines Kindes zu seiner Mutter
sprechen, so täuscht uns das Wort ,Kind\ Nichts wahrlich ist
daran .kindisch'. Oft sind es im Gegenteil die Licbcsbezichungen
der Erwachsenen, die kindlich oder mit einer Menge von Elementen
behaftet sind, die der Liebe selbst fremd sind. Bei dem Kinde,
in dem wohl die eigene Individualität, nicht aber das Gefühl für
soziale Verhältnisse entwickelt ist, findet sich die Leidenschaft
2 ) „Charles Baudelaire, Kritische und Nachgelassene Schrif-
ten", ins Deutsche übertragen von Franz Blei und Heinrich
Steinitzer, S. 325.
8 ) Deutsche Ausgabe: „Der Leidensweg des Dichters Baude-
laire." Berlin 1930. Verlag Rowohlt. S. 22.
14
sozusagen in reinem Zustand. In diesem ausschließlichen Gefühl
zählt nur sein Gegenstand; dieser bemächtigt sich der ganzen Seele.
So ist die Liebe des kleinen Charles. So groß der Kummer
beim Tode seines Vaters gewesen sein mag, wie hätte dieser Ver-
lust in seinem Herzen nicht durch die unermeßliche Glückseligkeit
ausgelöscht werden sollen, die plötzlich über ihn ausgegossen wurde?
Von nun an gehört seine Mutter ihm allein. Dieser Schatz an zärt-
licher Lebhaftigkeit, diese duftenden Haare, dieser weiche und
warme Busen, all das ist nun sein Eigentum.
Im Jahre 1861 ruft der 40jährige Dichter seiner Mutter jene
Zeit mit den "Worten in Erinnerung: ,Das war für mich die glück-
lichste Zeit/ Die glücklichste Zeit! Die der Trauer, der Witwen-
schaft; aber jener Witwenschaft, in der das Kind Alleinherrscher
war 4 .*
Die Psychoanalyse bezeichnet diese Liebe mit dem Na-
men Ödipuskomplex. Er tritt in der Kindheit eines jeden
Menschen zu Tage, beim Knaben wohl mehr der Mutter,
beim Mädchen wohl mehr dem Vater gegenüber. An und
für sich stellt er nichts Pathologisches dar, wenigstens
in der Kindheit nicht. Es gilt aber, sich seiner zu ent-
ledigen, d. h. man muß sich vom Ideal der Mutter,
der Ernährerin, und vom allmächtigen Beschützer, dem
Vater, lösen und in einer Welt zurechtfinden, in der
die Eltern nicht Riesen geblieben, sondern in dem Maß
klein und schwach geworden sind, in dem das Kind heranwuchs.
Leben heißt also, eine ganze, komplexe Entwicklung durch-
machen und die Befriedigungen, welche das Kind in der Fa-
milie gefunden hat, durch die eines in der menschlichen Ge-
sellschaft lebenden Erwachsenen ersetzen. Diese Entwicklung
kann durch tausend Zwischenfälle gestört werden. Sie kann
auf Hindernisse stoßen, ja von unüberwindbaren Schranken
aufgehalten werden. Die Folge eines derartigen Hindernisses
in der Entwicklung ist die affektive Zurückgebliebenheit oder
*) Porche. Seite 22.
IS
„Schizonoia" 5 , wie wir sie mit Pichon und Codet darzustellen
versucht haben. Sie kann sich auf äußerst mannigfaltige Weise
äußern. In allen diesen Fällen haben wir es aber mit einem
Zustande zu tun, den die Psychoanalyse als „Regression" be-
zeichnet. Das Individuum ist gezwungen, auf die infantilen
Befriedigungen zurückzugreifen und sich mit ihnen zu be-
gnügen. Es ist ihm nicht möglich, aus diesem Zustand heraus-
zukommen.
Infantile Befriedigung, affektive Zurückgeblicbenheit sind
Bezeichnungen, die nur im Lichte der Psychoanalyse verstan-
den werden können. Sie enthalten kein Werturteil, denn sogar
im beschränkten Gebiete der affektiven Zurückgeblicbenheit
bleibt Raum übrig für die außergewöhnlichsten Äußerungen
des menschlichen Geistes. Diese sind oft um so bedeutender, als
die affektiv Zurückgebliebenen versuchen, das, was ihnen ab-
geht, mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln zu
kompensieren. Der soziale Wert eines Menschen ist eine außer-
ordentliche komplexe Größe, und aus der Tatsache, daß
wir einen affektiven Infantilismus vor uns haben, kann keines-
wegs der Schluß gezogen werden, die soziale Rolle eines Men-
schen sei kompromittiert. Der Garten der Menschheit kann
viele verschiedene Menschenarten bergen, und oft wird das
Unkraut von heute zur edlen Pflanze von morgen. Der Weg,
der von dem Totemismus zur Turbine geht, ist weit, und zwi-
schen beiden ist Platz für alle Stufen der Entwicklung. Aber
hat man einmal diesen Vorbehalt gemacht, so ist doch zu
sagen, daß dieser affektive Infantilismus, mag es sich nun um
die Neurose bei einem Individuum oder um primitive reli-
giöse Vorstellungen bei einer menschlichen Gemeinschaft han-
deln, die Existenz dieses Individuums oder dieser Gemeinschaft
gefährden ka nn. Er hat dann die Schädlichkeit einer Krank-
ö ) Pichon und Laforguc: „La növrose et le reve, la notion
de schizonoia." Maloine, Paris 1926.
Codet und Laforgue: „La schizonoia.** Evolution psychia-
tnque, Payot, Paris 192$.
16
heit an sich. Wie wir schon erwähnt haben, sind die patho-
logischen Ausdrucksmöglichkeiten des affektiven Infantilismus
mannigfaltige: asoziales Verhalten, Psychoneurose, organische
Krankheit, Süchte oder Verbrechertum.
Bei Baudelaire finden wir alle diese verschiedenen Fak-
toren der affektiven Zurückgebliebenheit in einer Person ver-
einigt: die Neurose, die Syphilis, deren Folgen durch den
Mangel an psychischem Gleichgewicht noch verstärkt wurden,
das Opium, ja sogar den Diebstahl und den Betrug. Diese
letzteren Äußerungen seiner Konflikte drücken sich allerdings
bei ihm in gemilderter Form aus; sie sind aber deutlich sicht-
bar, so daß ein „ehrlicher Mann" wie sein Stiefvater, der
General Aupick, ihn mit Recht für einen Verbrecher halten
und unter Aufsicht stellen lassen konnte.
Ich lasse hier einige Angaben über das Leben Charles
Baudelaires folgen. Baudelaire wurde am 9. April 1821 als
Sohn des Francois Baudelaire und der Caroline Archimbault-
Dufays geboren. Sein Vater war damals 61 Jahre alt, seine
Mutter 28. Baudelaires Vater hatte aus erster Ehe einen Sohn:
Claude. Porche schreibt über Baudelaires Familienverhältnisse:
„Francois, der Vater des Dichters, war ein Bauernsohn, jedoch
scheinen seine Eltern wohlhabend gewesen zu sein, da er in einem
Seminar ziemlich gründliche Studien genossen hatte, die ihn be-
fähigten, beim Herzog von Choiseul-Praslin als Hauslehrer zu
wirken.
Bei diesen Choiseul-Praslin hat der Vater des Dichters gelernt,
wie man grüßt, wie man mit dem Ende eines hohen Spazierstockes
die unehrerbietigen Straßenhunde würdig beiseite schafft und andere
verjährte Feinheiten, an die sich sein Sohn noch erinnerte.
Wir selbst, die wir immerhin noch nicht sehr alt sind, aber
der Provinz entstammen, wo die ehemaligen Traditionen länger
fortleben als in Paris, können uns noch entsinnen, daß unser Vater
bei unseren Spaziergängen gerade die Hunde mit überraschenden,
vornehmen Manieren wegjagte und Bekannte, die er unterwegs
antraf und die er als seinem Range gleichkommend beurteilte, auf
17
eine Art und Weise grüßte, die heute ganz sonderbar erscheinen
würde. Er beugte seinen Körper tief nach vorn, rief die Person,
der er huldigen wollte auf 15 Schritte entfernt laut beim
Namen, richtete sich dann wieder auf und ging mit einem Lächeln
vorbei. Dabei drehte er sogar manchmal seinen Spazierstock, oder
wie er sagte, seinen Stab im Kreise herum, indem er, der kleine
Bürger, das feine Wesen der ehemaligen Aristokraten imitierte.
Francois Baudelaire hatte z. Zt. seiner Hauslehrcrschaft Con-
dorcet und Cabanis gekannt und hatte sich mit dem Bildhauer
Ramey und den beiden Malern Naigeon befreundet. Er selbst
verstand es, mit dem Rötel umzugehen und tuschte die Wasscr-
farbengemälde auf angenehme Weise aus. Bei der Revolution pro-
fitierte er von seinem Talent, um Zeichenstunden zu geben und
teilte seinen Verdienst imit seinen ehemaligen Schutzherren, die
notdürftig geworden waren. Ja noch mehr: Auf Grund seiner Be-
ziehungen zu den regierenden Kreisen soll er es erreicht haben, daß
das Vermögen der Familie Praslin von der Beschlagnahme ver-
schont blieb. Es ist jedoch nicht bewiesen, daß er, wie es seine
Witwe behauptet hat, Condorcet das Gift verschafft hat, das ihn
vor der Enthauptung rettete. Im Repertoire des Herrn Baudelaire
hatten vielleicht die Anekdoten aus der Schreckenszeit einen
pathetischen Inhalt, den er noch verschönerte, d. h. etwas schwärzte
wahrscheinlich, um das Vergnügen zu haben, eine Gemahlin, die er
als ein Kind betrachtete, in seinen Armen schaudern zu fühlen.
Da er ihr gegenüber nicht den Vorzug der Jugend genoß, so
versuchte dieser alte Gemahl seinem Mißgeschick durch eine
heroische Note entgegenzuwirken.
Obwohl wir nicht behaupten können, daß Herr Baudelaire
während der Schreckensherrschaft tatsächlich seine Tage und
Nächte damit verbrachte, von Gefängnis zu Gefängnis zu eilen,
um seinen Freunden zu helfen, so ist es immerhin möglich, daß
er sich in gewissen Fällen, die, wenn sie auch nie geklärt worden
sind, trotzdem nicht zu unterschätzen waren, mutig gezeigt hat.
Setzen wir jedoch nicht diesen galanten Mann herab, denn man
darf nicht vergessen, daß sich während solch unruhiger Tage, bei
denen jede Initiative schnell kompromittierend wirkt, auch die
kleinste Tat, von den Beteiligten selbst ungeahnt, zu einer Art von
tragischer Größe zu steigern vermochte.
In diesem Luxembourgpalast, der unter dem Konsulat zum
Sitz des konservativen Senats wurde, verlebte Herr Baudelaire
18
14 Jahre lang die ruhigen Tage des Bürokraten, willkommen
bei den Prätoren (so nannte man zu dieser Zeit die Quästoren) und
angesehen bei den Senatsdienern. Die Familie Praslin, die ihr Ver-
mögen und ihren Einfluß wieder erworben hatte, und, was noch
bewundernswerter ist, nicht vergeßlich war, veranlaßte, daß ihr
ehemaliger Hauslehrer im Jahre 1801 als Bürovorsteher in die
Verwaltung des Senats aufgenommen wurde.
Dies wurde die Glanzzeit in Francois Baudelaires Leben. Sein
Gehalt belief sich auf 10.000 Franken (ca. 60.000 Franken nach
heutigem Werte) mit freier Wohnung. Diese Wohnung, ein schönes
Haus mit Privatgarten, war nicht weit von dem Gitter des
Luxembourgpalastes entfernt und befand sich nach der Seite der
Rue de Vaugirard zu.
Die zweite Frau Baudelaires, Charles' Mutter, ein Waisen-
kind wie ich bereits gesagt habe, die von der zum Richterstand
gehörigen Familie Perignon erzogen wurde, kam als Kind oft zum
Essen in dieses Haus und zwar in Begleitung ihres Vormundes und
dessen Töchter. Die erste Frau Baudelaires, die ein anständiges Ver-
mögen in die Ehe mitgebracht hatte (Landgüter und Grundstücke
im Ternesviertel und in Neuilly), das der Dichter nach dem Tode
seines Vaters zur Hälfte erben sollte, lebte noch zu dieser Zeit.
Jedoch der liebenswürdige Mann mit seinen dichten, schwarzen
Augenbrauen, von dem seine intimen Freunde sagten, daß er
die Naivität und Treuherzigkeit von La Fontaine besäße, mußte
oft und wider seinen Willen (er war damals beinahe 50 Jahre
alt) dieses kleine Mädchen beobachten, das mit seinen Freundinnen
so gern im Luxembourggarten herumlief, zumal wenn niemand
mehr da und bereits zum Torschluß geblasen worden war.
Ein anderes Mal wieder ging Herr Baudelaire nach Auteuil,
wo Herr Perignon sein Landhaus hatte. Er kam in einem mit
Wappen versehenen Wagen an, von einem weißhaarigen und mit
goldenen Tressen galonierten Lakai begleitet, der während des Essens
hinter ihm stehen blieb, um ihn zu bedienen, wie es gebräuchlich
war. Dieser Aufwand blendete die hübsche Caroline. Erst später
erfuhr sie, ziemlich ironisch, von Baudelaire selbst, der ihr nichts
mehr zu verheimlichen hatte, da gewissermaßen dieser Täuschung
der Nutzen, den er diskontierte, entzogen worden, daß der Wagen
eine Kalesche mit dem Wappen des Senats war und der Diener ein
Saalwärter, der ihm für die Zusammenberufungen, die er zu er-
ledigen hatte, zur Verfügung stand.
2»
19
Nach dem Sturze des Kaisertums beantragte Baudelaire würdig
und klug seine Pensionierung, die ihm auch in sehr günstiger Form
zugesagt wurde, trotzdem ihm sehr wahrscheinlich seine Entlassung
bevorstand. Er nahm wieder Rötel und Pinsel in die Hand und
nannte sich von nun an offiziell und mit Verwegenheit: Kunst-
maler*.
Als seine Frau gestorben war, heiratete er das Pflegekind
seines Freundes Perignon, die treuherzige Caroline. Zu betonen ist,
daß der sechzigjährige Bewerber erst im Scherz als Kandidat auf-
trat. Klugheit, Lebenserfahrung . . . Man kann sich diese Tändelei
unter den grünen Büschen von Auteuil gut vorstellen. Hinter dem
halben Lächeln die greisenhafte, lodernde Leidenschaft. Und plötz-
lich der ernsthafte Antrag. Dieser Mann gehört voll und ganz
zum 18. Jahrhundert." (Ibid. Seite 17 ff.)
Die Verbindung der Eltern Baudelaires war, was sie sein
mußte, die Verwirklichung des Traumes eines kleinen Mädchens.
Francois Baudelaire war nämlich ziemlich vermögend, als er um
die Hand Carolinens warb, deren Vater er hätte sein können.
Seine Ehe war ein Traumspiel, aber dieser in die Wirklich-
keit verlegte Traum scheint sich mit der "Wirklichkeit nicht
vertragen zu haben, wie sehr man sich auch bemühte, dies
nicht merken zu lassen. Wir dürfen annehmen, daß die Ge-
fühle Carolinens, nachdem die ersten Erfahrungen gemacht
worden waren, sich vielleicht unbewußt andern Bildern, einem
andern Ideale zuwandten, als dem, welches der schöne Greis,
Baudelaires Vater, für sie verkörpern konnte. Der Beweis da-
für dürfte in der Art und Weise zu sehen sein, in der Caroline
sich über den Tod ihres ersten Mannes, der in das siebente
Lebensjahr des kleinen Charles fiel, tröstete. Wir werden
später auf Einzelheiten dieser außergewöhnlich komplexen
und zu mannigfachen Deutungen Anlaß gebenden Situation
näher eingehen. Caroline wählte zu ihrem zweiten Gatten
einen prächtigen Offizier, den Major Aupick, der später
General und Gesandter wurde. Diese Umstände waren
zweifelsohne von tiefster Rückwirkung auf die Entwicklung
von Charles Charakter. Man sagt, er vermochte seiner Mutter
20
ihre zweite Heirat nie zu verzeihen. Wir haben den Eindruck,
daß in Wirklichkeit die Dinge nicht so einfach liegen. Wir
werden darauf ebenfalls noch zurückkommen. Der Vater Baude-
laires stirbt also im Jahre 1827; im folgenden Jahre schon ver-
heiratet sich die Mutter zum zweiten Male. Das Kind wird in
eine Pension gesteckt. Man sorgt für seine materiellen Be-
dürfnisse, die seelischen scheint man ein wenig zu vernach-
lässigen. Baudelaire ist vorerst ein guter Schüler, aber sein
Charakter, der mit der Zeit ausgeprägter wird, verursacht ihm
viel Unannehmlichkeiten. Infolge einer ganz alltäglichen
Geschichte wird der 18jährige aus der Schule gewiesen, und
der Krieg, sein Krieg, beginnt. Er bereitet sich zwar noch für
sein Bakkalaureatsexamen vor, zeigt aber schon jenes zügel-
lose Benehmen, das seinen Stiefvater geärgert hat. Er beginnt
sich besonders für Literatur, für Schriftstellern zu interessieren,
was notwendigerweise zu Konflikten mit dem soliden General
führen mußte. Kurzum, von diesem Augenblicke an scheinen
Umstände und Fakten in Baudelaires Leben darauf hinzu-
deuten, daß der Dichter nur ein Ziel im Auge hatte: seinen
Stiefvater gegen sich aufzureizen, indem er sich mit Meinun-
gen und einem Verhalten vor ihn hinstellte, welche dieser nur
als persönliche Beschimpfung von Seiten seines Stiefsohnes
auffassen konnte. Zusammenfassend ist zu sagen: Baudelaire
will Schriftsteller werden.
Die Beziehungen zwischen ihm und dem Vater werden immer
gespannter. Die Auseinandersetzungen nehmen eine immer
heftigere Form an. Eines Abends, bei einem Diner, heftigstes
Aufeinanderprallen von Vater und Sohn. Charles läßt sich
öffentlich von seinem Stiefvater ohrfeigen. Man kommt zum
Entschluß, ihn aus dem Hause zu entfernen. Man schickt ihn
auf Reisen, nicht nach Indien, wie der Dichter später vorgab,
sondern bis auf die Insel Mauritius, von wo man ihn bald
wieder nach Hause zurückbringen mußte. Es wäre unmöglich
gewesen, ihn die Reise fortsetzen zu lassen, da er beständigen
21
Depressionen unterworfen war, mit einem Worte, da er neu-
rotisch erkrankte. Erwähnen wir noch, daß er um dieselbe
Zeit auch an einer syphilitischen Infektion litt, die er sich
wahrscheinlich im vorhergehenden Jahre zugezogen hatte.
Baudelaire kehrt zurück. 1842 ist er mündig und im Be-
sitze eines Vermögens von 75.000 Franken. Er schickt sich
an, dieses Geld so schnell wie möglich zu vergeuden. Er ver-
läßt das elterliche Haus und macht kurz darauf die Bekannt-
schaft von Jeanne Duval, einer Mulattin. Nun beginnt ein
wüstes, ungeregeltes Leben und schließlich endigt alles damit,
daß die Wucherer, mit Arondel an der Spitze, hinter ihm her
sind. Der General Aupick stellt Baudelaire unter die Vor-
mundschaft Ancelles. Von dieser Zeit an lebt Charles in be-
ständigem Kampfe mit Ancelle und seinen Gläubigern, und
läßt nichts unversucht, um sich durchzuschlagen.
Bei seinen Arbeiten hat Baudelaire es mit einer Hem-
mung zu tun, auf die wir noch näher eingehen werden, da sie
eines der wichtigsten Symptome seiner Neurose ist. Trotz
dieser Hemmung beginnen jedoch die ersten „Blumen des
Bösen" zu keimen. Aus dieser Zeit stammen also seine ersten
literarischen Versuche.
Es liegt nicht in unserer Absicht, auf weitere Einzelheiten
seines Lebens einzugehen. Wir verweisen den Leser auf das
bereits angeführte Werk von Porche, das Sympathie für
Baudelaire wecken will und trotzdem nicht davor zurück-
schreckt, seine Fehler aufzudecken. Der Verfasser hat sich, als
er sein Buch schrieb, von jener Barmherzigkeit leiten lassen,
die alles verstehen will, um alles verzeihen zu können. Ferner
möchten wir das interessante Buch von Mauclair: „La vie
amoureuse de Baudelaire" (Baudelaires Liebcsleben) empfehlen.
Wenn wir darauf verzichten, die übrigen Daten aus
Baudelaires Leben anzugeben, so geschieht dies, weil sie zur
Lösung der Probleme, die wir uns gestellt haben, nichts bei-
tragen. Daß die Gläubiger, Jeanne, seine Laster ihn ver-
22
folgten, beruht auf dem, was vorher geschehen war. Erwähnen
wir jedenfalls noch den Selbstmordversuch, der von ihm
wahrscheinlich inszeniert wurde, um der Mutter Geld er-
pressen zu können. Vergessen wir auch nicht, den Todestag
seines Stiefvaters anzuführen, ein Datum, von dem an unleug-
bar eine Wandlung im Charakter des Dichters festzustellen
ist. Allerdings hat diese "Wandlung keine endgültigen Ergeb-
nisse zur Folge: das Unwiderrufliche ist bereits geschehen.
Baudelaire leidet seit 1861 an Syphilis cerebralis. Er stirbt
im Jahre 1867. Auf die wichtigsten Dinge seines Lebens
werden wir übrigens, so weit es nötig ist, im Laufe dieser
Arbeit noch zurückkommen.
23
z. Kapitel.
Die Medianismen der Selbstbestrafung.
Bevor wir auf den Gegenstand unserer Untersuchung
näher eingehen, möchten wir den Leser mit einigen psycho-
analytischen Tatsachen vertraut machen, um nicht Gefahr zu
laufen, uns im Strome der Ereignisse des Baudclaireschen
Lebens zu verlieren. Wir erlauben uns, zu diesem Zwecke
einige Auszüge aus einem Vortrage zu geben, den wir vor
Pädagogen über „die Mechanismen der Selbstbestrafung und
ihren Einfluß auf den Charakter des Kindes" gehalten haben":
„Die Mechanismen der Selbstbestrafung, denen heute
unser besonderes Interesse gilt, können sich in der Praxis auf
äußerst verschiedene Art durchsetzen. Wir würden uns völlig
in den Einzelheiten verlieren, wollten wir auf alle Symptome
eingehen, zu denen sie Anlaß geben können. Uns geht es in
erster Linie darum, Ihnen verständlich zu machen, was diesen
Symptomen gemeinsam ist und welchen affektiven Verhält-
nissen sie im allgemeinen entsprechen.
Dies nötigt uns, Ihnen in aller Kürze einen Umriß der
Entwicklung unserer Affektivität zu geben und auf gewisse
Einzelheiten der Funktionen unseres psychischen Apparates
hinzuweisen.
Wir haben psychisch den falschen Eindruck, eine einheit-
liche Persönlichkeit zu sein und glauben dank unserem Emp-
finden, daß wir wissen, was in uns vorgeht. Infolge eines
fl ) Vortrag gehalten auf dem Internationalen pädagogischen
Kongreß in Helsingfors, veröffentlicht in der „Zeitschrift für
Psychoanalytische Pädagogik", IV, Heft 1/3, 1930.
24
ähnlichen Trugschlusses, der dem Schein vertraut, glaubte man
vor Kopernikus, daß sich die Sonne um die Erde drehe. In
Wirklichkeit sind die Verhältnisse viel komplexer. Was unsere
Psyche anbetrifft, so dürfen wir heute eher sagen, daß wir
einer Pflanze ähnlich sehen; auf den ursprünglichen Stamm
hat man unsere soziale Persönlichkeit aufgepfropft. Die psycho-
analytische Erforschung des Individuums führt uns zur An-
nahme einer Art Dreieinigkeit, die einerseits durch die tiefere
Persönlichkeit des Menschen vertreten ist, welche die Psycho-
analyse als das ,Es* bezeichnet, andrerseits durch die mütter-
liche und väterliche Persönlichkeit, die sich in uns nach den
der Familie eigenen Bedingungen entwickelt haben und zu
dem werden, was wir die Stimme des Gewissens nennen.
Diese drei Persönlichkeiten machen sich jede Tendenz
streitig, die zum Bewußtsein kommen will. Die Elemente
Vater und Mutter bilden die Zensur, sie handeln so wie die
Eltern in der Familie einst gehandelt haben: sie entscheiden,
ob eine Tendenz eingestanden werden darf und Verwirk-
lichungsberechtigung besitzt. Diese Zensur ist also das Ergeb-
nis des Einflusses, den die Eltern und die Umwelt im allge-
meinen auf das Kind ausüben, eines Einflusses, der später und
zwar in Form von Reflexen fortwirkt, die sehr oft nichts
Rationelles mehr an sich haben. Diese Reflexe können in ge-
wissen Fällen der harmonischen Entfaltung der tieferen Per-
sönlichkeit schaden, der tieferen Persönlichkeit, die sich der
Zensur gegenüber genau so verhält wie das Kind den Eltern
gegenüber. Um die Bildung dieser Reflexe zu verstehen, genügt
es, sich an jene Soldaten zu erinnern, die aus dem Militär-
dienst ins tägliche Leben zurückgekehrt sind und trotzdem
weiter militärisch grüßen. Diese Zensur, oder wie wir heute
sagen, dieses ,Über-Ich', kann, wie Sie leicht begreifen, je
nach der Eigenart des Individuums, auf äußerst mannigfaltige
Weise funktionieren. Es spielt die Rolle eines Filters, oder
wenn Sie es vorziehen, die einer Bremse der primitiven unbe-
25
wußten Tendenzen. In gewissen Fällen kann seine Wirkung
so streng und unerbittlich sein, daß damit der tieferen Persön-
lichkeit, dem Es jede Entfaltung unmöglich gemacht wird. Ja
es kann dieses Es geradezu daran hindern, sich auf normale
Weise auszudrücken und es dazu bringen, auf jene tyran-
nischen Einwirkungen mit Empörungen von einem ganz be-
stimmten Typus zu reagieren. Diese Empörungen äußern sich
entweder durch Psychoncuroscn und organische Störungen
oder durch asoziales Verhalten. Auf jeden Fall sind es An-
zeichen eines tieferen Konfliktes, der das Individuum zerreißt,
darin einem Bürgerkrieg gleich, der die Existenz einer Nation
gefährdet. Ein derartiger Konflikt kann verschieden ausgehen
und zu problematischen Ergebnissen führen. Die Empörung
kann zur Errichtung einer neuen erträglicheren Staatsform
führen, aber auch zur Auflösung der Nation, was beim Neu-
rotiker der Zerstörung des Individuums gleichkommt.
Was die Reaktion zur pathologischen macht, hat also
seine Ursache nicht in der — normalen und rein biologischen
— Tendenz des Organismus, auf eine Unterdrückung mit
einer Empörung zu reagieren, sondern in der Kraft, eine allzu
tyrannische psychische Zensur zu bilden, ein Vermögen, das
praktisch nicht nur von der Vererbung abhängt, sondern auch,
und mehr als man glauben könnte, vom Einfluß der Eltern
und der Umwelt auf das Kind. Jeder Konflikt der
Eltern hat seine Rückwirkung auf das
Kind, setzt sich in seinem Organismus in
Form von Reflexen fest und bleibt dort
kristallisiert wie eine unlösliche Masse,
die nicht nur einen Teil der psychischen
Persönlichkeit des Kindes bildet, sondern
wahrscheinlich auch der organischen, und
die, glaube ich, auf die Nachkommen
übertragbar ist. Unser Problem hat also sowohl eine
medizinische als auch eine soziale Seite, denn die Ursachen,
26
welche eine pathologische Strenge des Über-Ichs bedingen
können, liegen nicht nur im Individuum selber; sie sind auch
im Verhalten der Eltern, ja selbst im Einfluß der Lehrer zu
suchen. Das Einverständnis der Eltern untereinander, ihre
Liebe zum Kinde, sowie ihr psychisches Gleichgewicht sind
in dieser Hinsicht von besonderer Bedeutung.
Um die schlechten Tendenzen der Kinder zu unter-
drücken, gebrauchen die Eltern, wie Ihnen bekannt ist, nicht
bloß Mittel der Beeinflussung, sondern auch solche des
Zwanges, durch die man dem Kinde Angst einjagen will. Das
Über-Ich fährt dann fort, sich dieser Mittel zu be-
dienen. In gewissen Fällen sind es vor allem diese
angsteinflößenden Mittel, welche die Oberhand haben. Sie
wollen durch Abschreckung die Hemmung der Person bewir-
ken und dadurch von ihr die Ablehnung der Es-Tendenz er-
reichen. Es hängt von dem geringeren oder stärkeren Maß an
Strenge des Ober-Ichs ab, ob die Person in den weniger schwe-
ren Fällen nur Angst empfindet oder ob sie — in den schlim-
meren Fällen — in allerlei Zeremonien der Selbstbestrafung,
der Selbstdemütigung, der Beichte, der Buße, flieht, um durch
Leiden und Demütigung das allzustrenge Über-Ich zu be-
schwichtigen. Uns interessieren heute besonders diese Mecha-
nismen der Selbstbestrafung.
Aus dem Vorausgehenden ist zu ersehen, daß ein Kind
nicht nur vor den Eltern Angst haben kann, sondern auch
vor dem, was in ihm zum Äquivalent für diese Eltern ge-
worden ist, dem Gewissen. Ein schlechtes Gewissen
haben, heißt für das Kind: eine Züchtigung, eine Strafe ver-
dient zu haben. Dieses schlechte Gewissen ist nicht not-
wendigerweise die Folge einer schlechten Handlung, wie man
anzunehmen geneigt sein könnte. Kinder, die unter dem
Drucke eines allzu strengen Uber-Ichs leiden, kann es als
beständiger Zustand verfolgen. Sie empfinden die Lage
folgendermaßen: Alles was ich denke und tue, ist schlecht.
27
Man darf nicht glauben, daß in jedem Falle diese beständige
Angst beim Kinde auf eine übergroße Strenge oder Miß-
handlung seitens der Eltern zurückzuführen ist. Nein, ein
Kind kann sich aus rein eingebildeten Gründen in diesem
Zustande der Angst befinden. Sein schlechtes Gewissen steht
mit einer äußerst komplexen affektiven Situation in Bezie-
hung, nämlich mit der ödipuseinstcllung. Bevor wir näher
darauf eingehen, möchten wir uns kurz mit der spezifischen
Rolle der Selbstbestrafungsmechanismcn beschäftigen.
Von einem bestimmten Grade der Intensität an scheint
es in einer Reihe von Fällen ein Ding der Unmöglichkeit zu
sein, die Angst länger zu ertragen. Es kommt ein Augenblick,
in dem viele Individuen den Frieden um jeden Preis haben
wollen. Sie suchen ein Mittel, das diesen Frieden herbeiführt.
Haben sie ein solches Mittel einmal gefunden, so bedienen
sie sich seiner als kostbarer Waffe, die man bei der Erledi-
gung der Angst nicht mehr missen kann. Worin bestehen nun
diese Mittel? Es sind dieselben, zu denen man bewußt Zuflucht
nimmt, um sich zu läutern, um ein Verbrechen zu sühnen,
das man sich vorgeworfen hat. Man bedient sich ihrer also,
um eingebildete Verbrechen zu büßen, derentwegen man an
einem starken Schuldgefühle leidet: man erfindet
hiezu sowohl organische als auch morali-
sche Leiden. Auf den Patienten wirkt dieses Leiden wie
eine Befreiung. Er macht aus ihm einen Freund, mit dem er
sich durch unzertrennliche Bande des Interesses und der Dank-
barkeit verbunden fühlt. Das Leiden wird für ihn zum großen
Beschützer. Diesem Leiden (der Buße) verdankt er die Auf-
hebung der Angst. Durch diese Leiden kann man sich ebenso
wie durch die Beichte die Gnade und Nachsicht des ober-
sten Richters, in diesem Falle des Über-Ichs, erkaufen.
Mit anderen Worten, die Psyche des Individuums ge-
wöhnt sich daran, sich mit Hilfe psychischer und organi-
scher Störungen oder sozialer Mißerfolge zu bestrafen; man
28
kann dadurch die Forderungen der Zensur beschwichtigen und
sich das Recht erkaufen, sich auszuleben, wenn nicht gar das
Recht, sich der sozialen Pflichten zu entledigen, um unbe-
wußt das lustvolle Gefühl zu haben, anders zu sein als die
andern, d. h. über ihnen zu stehen. Sie sehen, daß dieser
Prozeß trotz der verursachten Leiden für das Individuum je
nach dem Falle mit einem bedeutenden Lustgewinn verbunden
sein kann. Das Leiden kann weiterhin sogar zu einem
Mittel werden, der Umwelt einen Tribut abzuverlangen und
souverän über sie zu verfügen (Rentenneurose). So können
sich Zustände von einer unentwirrbaren Komplexität ent-
wickeln. Das Interesse für den normalen Zustand ist dann in
gewissen Kranken abgestorben. Genesung hieße für sie, auf das
Leiden, das ihnen gestattet, Angst und Hemmung auf radikale
Weise zu erledigen, zu verzichten. Es hieße ferner, die kost-
bare Illusion der Freiheit zu opfern, eine Illusion, die schwer
erkauft wurde und deren Eroberung den Charakter einer
Ruhmestat an sich hat; denn ganz wie Herostrates, der, wie
Sie wissen, durch die Zerstörung des Tempels von Ephesus
ebenso unsterblich werden wollte, wie Alexander, schöpfen die
Kranken, die uns augenblicklich beschäftigen, ihren Stolz aus
der Art und Weise, in der sie die Zerstörung ihres eigenen
Organismus bewerkstelligt haben.
Wie stellen sich nun diese Fälle in der Praxis dar? Sie
wissen, daß die Möglichkeiten, zu leiden, sehr mannigfaltige
sind. Wir können uns deshalb vor Zustände gestellt sehen, die
äußerst verschieden von einander zu sein scheinen, in Wirk-
lichkeit aber derselben Ursache entsprechen, derselben Störung.
Das gewählte Leiden kann z. B. organischer
Natur sein, d. h. die psychische Störung kann die
Entfaltung einer organischen Krankheit begünstigen. Diese
Reaktionen stehen aber nicht im Vordergrund unseres Inter-
esses. Unser Interesse gilt hier in erster Linie den Fällen, bei
denen die Form des Leidens sozusagen sozialer Natur ist.
*9
Sie haben scheinbar nichts mit Krankheit zu tun. Es kann
z. B. vorkommen, daß ein Schüler trotz glänzender
Studien in seinen Examen regelmäßig durchfällt, sich die
Schläge seiner Kameraden gefallen läßt oder dem Lehrer
gegenüber sich beständig ins Unrecht setzt, oder daß er in
schweren Fällen direkt verbrecherische Handlungen begeht,
wobei aber nicht das Verbrechen das eigentliche Ziel bedeu-
tet, sondern das moralische Leiden, das er sich durch seine
Handlungen verschaffen kann: die Angst, entdeckt zu wer-
den, die Besserungsanstalt, in die der Minderjährige, das
Gefängnis, in das der Erwachsene kommt 7 .
Diese Fälle, die auch heute noch im großen und ganzen
den Gerichtsbehörden und vielen Pädagogen unbekannt sind,
fallen natürlich in den Bereich der Medizin. Ein weiter
Weg ist noch zu durchlaufen, bis diese Erkenntnis so weit in
unser Kollektivgewissen eingedrungen ist, daß sie eine Revi-
sion der Gerichtsbarkeit herbeiführen kann. Ich erlaube mir
in dieser Beziehung auf das interessante, kürzlich erschienene
Buch von Alexander und Staub hinzuweisen: „Der
Verbrecher und seine Richter". Zu erwähnen ist ebenfalls
das wichtige Buch von Rcik: „Geständniszwang und Straf-
bedürfnis", das auf die Orientierung unserer Ideen einen ent-
scheidenden Einfluß ausgeübt hat.
Aus all dem geht hervor, daß wir die von den Selbst-
bestrafungsmechanismen bedingten Symptome bis ins Unend-
liche variieren können, je nach der Art des Leidens, zu dem
die Psyche eines Individuums Zuflucht nimmt, um sich der
Angst zu entledigen, und je nach der Intensität des psychi-
schen Konfliktes, in den sich der Kranke verstrickt sieht.
Was aber die Verhältnisse noch besonders verwickelt macht,
ist das Faktum, daß sich die verschiedenartigsten Symptome
7 ) Siehe Marie Bonaparte, Le cas de Mme Lcjcbvre. (Revue
Francaisc de Psychanalysc 1927, I. Deutsche Ausgabe: Der Fall
Lefebvre. Int. Psychoanalytischer Verlag, Wien, 1929.)
30
untereinander substituieren, ersetzen können. Nehmen wir
z. B. den Fall an, ein Individuum leide auf Grund
gewisser Selbstbestrafungsmechanismen an einem Stottern, das
im Dienst der unbewußten Tendenz steht, eine Minderwertig-
keit der betreffenden Person zu exhibieren, und das gewisser-
maßen das Äquivalent für Rousseaus Exhibitionismus bilden
würde 8 . Nehmen wir weiter an, daß es gelingt, dieses
Stottern durch eine strenge Wiedererziehung zu beheben. Der
Kranke wird als geheilt entlassen. Einige Monate später stürzt
derselbe Kranke, wobei er sich einen Arm bricht. Kaum ist
der Arm geheilt, fällt er aufs neue. Er bricht sich ein Bein.
Nach der Heilung des Beines fällt er bei einem Examen durch,
oder aber er wählt einen Beruf, in dem die Möglichkeit, nur
Mißerfolg zu ernten, überaus groß ist. Verheiratet er sich
später, so tut er es unter solchen Umständen, daß er un-
glücklich sein wird. Nun, „auf den ersten Blick", a priori,
hätten Sie vielleicht nicht daran gedacht, daß alle diese Vor-
fälle untereinander durch eine affektive Beziehung verbunden
sein können und daß sie im Grunde, wenn auch mit verschie-
denen Mitteln und unter verschiedenen Bedingungen, der-
selben, seit der Kindheit fixierten Reaktion dienen.
Sie können sich nicht vorstellen, wie groß die Zahl der
Individuen ist, die mehr oder weniger gegen solche Reaktionen
zu kämpfen haben. Niemandem wird es einfallen, er sei denn
mit den psychoanalytischen Auffassungen vertraut, die ver-
schiedenen Vorfälle miteinander in Beziehung zu setzen und
in ihnen die immer andersartige Wiederholung der gleichen
infantilen Verhältnisse zu sehen.
Sieht man näher zu, so scheinen diese Verhältnisse noch
verwickelter zu sein. Freud fällt das große Verdienst zu, sie
in ihrer ganzen Komplexion erfaßt und beleuchtet zu haben.
8 ) Siehe Laforgue: J. J. Rousseau (Revue Franchise de Psych-
analyse, 1927, I. Deutsche Ausgabe: Int. Psychoanalyt. Verlag,
Wien 1930).
31
Er hat den unbewußten Masochismus unserem Verständnis
näher gebracht, indem er zeigte, daß Angst, Krank-
heit, Schmerz, sozialer Mißerfolg in die-
sem Zusammenhang nicht bloß ein Mittel
bedeuten, sich des Schuldgefühls zu ent-
ledigen, sondern daß sie zugleich auch
eine sexuelle Befriedigung bilden. Man hat
dies nur sehr langsam begriffen. Ein eingehendes Studium der
Fälle von Neurotikern, bei denen der Orgasmus nur durch
Schlagephantasien bedingt ist, hat viel Licht in dieses heikle
Problem gebracht. Das Gefühl der bewußten wie der unbe-
wußten Befriedigung ist bei diesen Individuen weder an
einen normalen Erfolg gebunden, noch auf sexuellem Gebiete
an den normalen Akt, d. h. beim Manne an die sexuelle
Besitznahme der Frau und bei dieser an die sexuelle
Hingabe an den Mann, sondern an eine Schlagephan-
tasie. Je nach den Patienten kann sich diese Notwendig-
keit auf verschiedene Arten ausdrücken. Die Situation kann
in der Phantasie bewußt erlebt und genossen, oder aber mittels
neurotischer Reaktionen erlebt werden, deren Sinn und Trag-
weite dem Kranken entgehen, die aber dennoch unbewußt zur
Befriedigung führen können und nach der „Krise" ein Gefühl
der Entspannung zu hinterlassen vermögen. Gestatten Sic
uns, diese sexuelle Beziehung zwischen Strafe und Orgasmus
besonders hervorzuheben. Sie scheint mit dem Ödipuskomplex
eng verflochten zu sein.
Wir wissen, was Freud mit dem Ausdruck „Ödipus-
komplex" bezeichnet hat. Wir wissen ebenfalls, daß die
sexuellen Regungen nicht notwendigerweise bewußt zu sein
brauchen, um zu existieren, und daß sie schon in der frü-
hesten Kindheit zum Ausdrucke kommen können, in einer
allerdings primitiven, dennoch aber sexuellen Form. Es ist Ihnen
ferner bekannt, wie sehr diese Gefühle verborgen sein können
und von der Zensur bekämpft werden und wie leicht sie dazu
3*
führen, die Verwirklichung in der sogenannten Selbstbefriedi-
gung zu suchen. Das Kind, das unfähig ist, seine Sexualität
auf normalem Wege zu befriedigen, verfügt als Sicherheits-
ventil für seine libidinösen Triebe nur über seine Phantasie
und über die Masturbation, die jedes Kind bewußt oder unbe-
wußt ausübt. Für den Knaben und vielleicht auch für das
Mädchen ist das erste Objekt seiner Wünsche die Mutter,
welche für das Kind die erste Quelle der Lust bedeutet. Wir
können hier nicht auf die verschiedenen Seiten des Ödipus-
komplexes eingehen. Wir möchten nur betonen, daß er in den
meisten Fällen den Ausgangspunkt eines ganz besonderen
Schuldbewußtseins beim Kinde bildet. Er liefert die sexuellen
Phantasien, welche zensuriert in den Vorstellungen und
Symptomen unserer Kranken wiederkehren. Um Ihnen einen
Begriff von den Verhältnisen zu geben, die uns dazu geführt
haben, derartige Beziehungen zu untersuchen, möchten wir
hier ein Beispiel einer Schlagephantasie vorführen, das wir
schon mit H. Codet zusammen in einer Arbeit über die
Selbstbestrafungsmechanismen dargestellt haben.
Ein Mann stellt sich beim Masturbieren vor, ein ande-
rer Mann schlage ein Kind. Er phantasiert von einem Kapi-
tän, der einen Schiffsjungen einstellt. Der Kapitän bestimmt,
daß nur die Vorgesetzten unter der Mannschaft das Straf-
recht haben. Ferner kann die Strafe nur mit Peitschen einer
bestimmten Art vollzogen werden. Die zu bestrafenden Kna-
ben müssen stets eine bestimmte Lage einnehmen. Während
der Züchtigung darf das Opfer nur sechs Seufzer ausstoßen.
Sobald die Zahl sechs überschritten ist, muß die Strafe von
vorne begonnen werden. Der Kapitän wohnt der Züchtigung
bei, um zu kontrollieren, ob sich alles nach den strengen Re-
geln vollzieht, die aus dieser Zeremonie beinahe die Karikatur
eines Ritualaktes machen. Die sexuelle Befriedigung stellt
sich ein, wenn der Knabe nach etwa fünfzig wohlgezählten
Schlägen den sechsten Seufzer ausstößt. Im Augenblicke des
33
fünfzigsten Schlages und des sechsten Seufzers erfolgt der
Orgasmus.
Übersetzen wir diese Schlagephantasic, so finden wir ein
Motiv wieder, von dem hier schon die Rede war. Der Schiffs-
junge ist der Patient selber, der als Kind durch Offiziere
die Strafe erleiden will. Diese Offiziere symbolisieren das Über-
ich, d. h. die Eltern im allgemeinen und den Vater im spe-
ziellen. Der Kapitän, der die Strafausführung beaufsichtigt,
ist aber ebenfalls der Patient. Er stellt sich beim Zu-
schauen sowohl das vor, was der Schiffsjunge erleidet, als
auch das, was die Schiffsoffiziere tun. Fügen Sie noch hinzu,
daß der Knabe, der Schiffsjunge, die Szene eher als Frau er-
lebt, so werden Sie begreifen, warum diese Schlagephantasic
die Bedeutung einer sexuellen Handlung hat, die sich das
Individuum erzählt, indem es sich vorstellt, wie es an Stelle
einer Frau die Wirkung des Gliedes, der Rute, des Vaters
erleidet, eine Phantasie, die uns mitten in das ödipusproblem
hineinversetzt.
Wir versichern Sic, daß diese Phantasie noch relativ
einfach ist im Vergleich mit den meisten andern, welche die
Patienten entwickeln. Solche Phantasien enthalten für jede
neue Masturbation andere Hauptpersonen, aber im Grunde
spielt sich alles jeweils genau so wie das erste Mal ab: Wir
finden die gleiche Rangordnung der vorgestellten Personen,
die einzuhaltenden Anweisungen, in Einzelheiten die verwen-
deten Gegenstände, die Haltungen, die Ausrufe und in vielen
Fällen sogar die Namen. Wir sind jungen Männern begegnet,
die jeden Tag Stunden damit verbrachten, solche Phan-
tasien zu erfinden, wobei sie zwei-, drei-, viermal und öfters
onanierten. Es gibt Menschen, welche diese Phantasien zu
Romanen erweitern, die bisweilen berühmt geworden sind
und hinter denen niemand, der nicht speziell darin ein-
geweiht ist, das Ausgangsmotiv erkennen würde. Denken Sie
an „Schuld und Sühne" von Dostojcwsky. Dieses Buch ist die
34
Geschichte eines Mannes, der ein Verbrechen begangen hat,
um dafür bestraft zu werden. In diesem Romane finden
wir übrigens auch Schilderungen von Träumen mit Schlage-
phantasien.
Glauben Sic nun ja nicht, daß die Individuen, welche
sich diese Geschichten erzählen oder sie erleben, dies nur aus
Zufall tun. Dies alles hat den Charakter einer eigentlichen
Zwangshandlung, der das Individuum trotz aller Anstren-
gungen nicht widerstehen kann. Nur was innerhalb dieser
Vorstellungen, die den Kranken heimsuchen, liegt, empfindet
er als wirkliche Befriedigung. Die Tatsache, daß diese Phan-
tasien das einzig mögliche Kompromiß zwischen den ver-
schiedenen einander entgegengesetzten Libidotendenzen dar-
stellen, die sich die Oberherrschaft im Unbewußten strei-
tig machen, kann uns eine Ahnung von der Bedeutung dieser
Phantasien übermitteln. Die Tendenzen des Es widersprechen
denen des Uber-Ichs, das jene für strafbar hält. Jeder will
in diesem Kampfe auf seine Rechnung kommen. Das Ich
nimmt das Leiden auf sich, um das Recht zur Befriedigung
zu erkaufen und vielleicht den Vorwand zur Auflehnung,
den es braucht, um sich über die Forderungen des Uber-Ichs
hinwegzusetzen."
Wenn wir hier diese Fakten so ausführlich behandelt
haben, so geschah es, weil sie zum tieferen Verständnis von
Baudelaires Leben, seinem Denken und seiner Dichtung
wesentlich beitragen dürften. Wir bitten deshalb den Leser,
unsere Ausführlichkeit entschuldigen zu wollen.
35
3. Kapitel.
Der Ödipuskomplex.
Baudelaire hat die Liebe zur Mutter verdrängt. Selten
kann er frei und bewußt von ihr sprechen. Er zeigt sie nur
in zensurierter Form, d. h. übertragen auf affektive
Äquivalenzen. Er reagiert auf sie immer mit starken Schuld-
gefühlen, die ein intensives Strafbedürfnis zur Folge haben.
Während seines ganzen Lebens ist er jedoch dieser unbewuß-
ten Liebe treu geblieben. Er hat ihr sein Leben und seinen per-
sönlichen Erfolg geopfert. Unter dem Drucke seines Schuld-
bewußtseins hat er alles in Betrieb gesetzt, um kastriert zu wer-
den, um sich den Weg zum Ziele, zum Ideale, zu versperren.
Wie war doch dieser Mensch in seiner Kunst und in
seinen Versen vom Verlangen nach Vollkommenheit beses-
sen! Es genügte nun, daß ihm diese Vollkommenheit zugäng-
lich wurde, damit eine unerbittliche Hemmung Zeit seines
Lebens imstande sein konnte, sich der Verwirklichung seiner
Idee hindernd in den Weg zu legen.
Diese Hemmung, über die er sich so oft wie über eine
Art Laster, eine Art Trägheit beklagte, was war sie anderes
als eine Strafe, ein Scheitern? Geben wir jedoch dem Dichter
selber das Wort:
Der Albatros ■
Oft kommt es dass das scliiffsvolk zum vergnügen
Die albatros. die grossen vögcl. fängt
Die sorglos folgen wenn auf seinen zügen
Das schiff sich durch die schlimmen kuppen zwängt.
") Baudelaire, „Die Blumen des Bösen", Umdichtungcn von
Stefan George, Seite 14. — („Les Flenn du Mal" werden zitiert
nach den „CEuvres complctcs" Lemerre, Paris 1917, Seite 10 j.)
36
Kaum sind sie unten auf des deckes gangen
Als sie. die herrn im azur. ungeschickt
Die grossen weissen flügel traurig hängen
Und an der seite schleifen wie geknickt.
Er sonst so flink ist nun der matte steife.
Der lüfte könig duldet spott und schmach:
Der eine neckt ihn mit der tabakspfeife.
Ein andrer ahmt den flug des armen nach.
Der dichter ist wie jener fürst der wölke.
Er haust im stürm, er lacht dem bogenstrang.
Doch hindern drunten zwischen frechem volke
Die riesenhaften flügel ihn am gang.
Ein trostloses Bild der Hemmung und der Erniedrigung!
Die Idee der Kastration als Strafe für die Liebe zum Meere
(Mutter) ist hier deutlich ausgedrückt. „Der eine neckt ihn
mit der tabakspfeife", „L'un agace son bec (Penis) avec un
brüle-gueule". In diesem Zusammenhange müssen auch einige
Stellen aus seinem Tagebuche und aus Briefen an seine Mutter
erwähnt werden.
L' Albatros
Souvent, pour s'amuser, les hommes d'£quipage
Prennent des albatros, vastes oiseaux des mers,
Qui suivent, indolents compagnons de voyage,
Le navire glissant sur les gouffres amers.
A peine les ont-ils deposes sur des planches,
Que ces rois de Pazur, maladroiis et honteux,
Laissent piteusement leurs grandes ailes blanches
Comme des avirons trainer a cöte d'eux.
Ce voyageur aile, comme il est gauche et veule!
Lui, naguere si beau, qu'il est comique et laid!
L'un agace son bec avec un brüle-gueule,
L'autre mime, en boitant, l'infirme qui volait!
Le Poete est semblable au prince des nuees
Qui hante la tempete et se rit de l'archer;
Exile sur le sol au milieu des huees,
Ses ailes de geant l'empechent de marcher.
37
„Im Moralischen wie im Physischen hatte ich immer die
Sensation des Abgrundes. Nicht nur eines Abgrundes des Schlafes,
sondern auch eines der Handlung, des Traumes, der Erinnerung,
des Verlangcs, des Bedauerns, der Gewissensangst, des Schonen,
der Zahl usw. .
Ich pflegte meine Hysterie mit Wonne und Schrecken. Jetzt
habe ich immer Schwindel und heute, am zy Januar 186a, erfuhr
ich eine seltsame Mahnung: ich fühlte über mich den Luftzug
vom Flügel der Verblödung streichen."
Schon im Juli 1839 schrieb der achtzehnjährige Baude-
laire seiner Mutter:
Und wenn ich fühle, wie sich ein Etwas in mir auflehnt,
ein ungestümes Verlangen, alles zu umfassen, eine Angst, keine
Bildung erwerben zu können, die Furcht vor dem Leben, oder ganz
einfach wenn ich einen schönen Sonnenuntergang beim Fenster
sc he, — wem soll ich mich da anvertrauen? Du bist nicht hier
und mein bester Freund auch nicht.
Was ist daher geschehen? Daß ich schlimmer daran bin als
im Gymnasium. Ich arbeitete wenig im Gymnasium, aber ich
arbeitete. Als ich von der Schule fortgeschickt wurde, rüttelte
mich dies ein wenig auf und ich habe bei Dir zu Hause noch ein
wenig gearbeitet — jetzt nichts, nichts mehr und es handelt sich
dabei nicht etwa um eine angenehme, poetische Gleichgültigkeit,
nein, um eine trübsinnige und stumpfe Gleichgültigkeit. Ich habe
es nicht gewagt, ganz offen davon mit meinem Freund zu sprechen,
noch mich ihm in meiner ganzen Häßlichkeit zu zeigen, denn er
hätte mich zu verändert gefunden — er hat mich in guten
Stunden gesehen — im Gymnasium arbeitete ich von Zeit zu Zeit,
ich las, ich weinte und war manchmal zornig; aber ich lebte
wenigstens — jetzt, nicht mehr — ich bin so heruntergekommen, wie
man nur sein kann - voll Fehl«, die keine angenehmen Fehler
mehr sind. Wenn mich dieser peinliche Anblick wenigstens dazu
getrieben hätte, mich stracks zu ändern - aber nein, von diesem
Geist der Tätigkeit, der mich bald zum Guten, bald zum Bösen
hindrängte, ist nichts übriggeblieben als Gleichgültigke.t, Verdrieß-
lichkeit und Langeweile.
Ich habe Herrn Laseguc geärgert — ich bin in meiner eigenen
Achtung um eine Stufe gesunken — wäre ich allein gewesen, so
hätte ich vielleicht schlecht gearbeitet, aber ich hätte wenigstens
gearbeitet — bei Dir oder mit einem intimen Freunde hatte ich
38
richtig gehandelt - aber in fremder Umgebung war ich ganz
verändert, zerrüttet und verwirrt. Es sieht aus, nicht wahr, als
ob ich große Worte und Spitzfindigkeiten gebrauchte, um die
recht gemeinen Fehler zu verschleiern. Alle diese Verdrießlich-
keiten werden durch das Bakkalaureat noch ärger. Ich bin so an-
maßend, damit plötzlich Schluß zu machen und meine Prüfungen
so schnell wie möglich zu bestehen. Ich werde, und habe .auch be-
reits mit der Durchführung der Absicht begonnen, mein Mög-
lichstes tun, um alle Gegenstände in 14 Tagen durchzuarbeiten
und in den ersten Augusttagen bereit zu sein. Ich muß deshalb
24 Fragen pro Tag durchgehen. Den Concours mache ich nur als
Ersatzmann mit, d. h. ich werde zur Prüfung zugelassen,
wenn jemand fehlen sollte. Immerhin hat man wegen dieser Mög-
lichkeit von mir den Geburtsschein verlangt.
Wer weiß, vielleicht war es gut, daß ich fremde Menschen
gesehen habe, ich werde meine Mutter nur umso lieber haben. Es
war vielleicht ein Glück, von Güte entblößt gewesen und ernüchtert
worden zu sein, ich verstehe so besser, was mir fehlte - viel-
leicht war es, wie man zu sagen pflegt, ein Übergangsstadium -
während all dieser Zeit taten mir Deine Briefe weh und machten
meine Lage nur noch unleidlicher.
Schreibe dennoch immer wieder; ich habe Deine Briefe gern.
In meinen traurigen Stunden bin ich froh, die Liebe meiner
guten Mutter in mir reifen zu fühlen; immer ist es so. In Deinem
nächsten Briefe erzähle mir viel von meinem Vater. Bitte sage
Herrn Lasegue nichts von alldem; er ist so gut, daß es ihn be-
trüben würde." .,
Später, in einem Briefe vom Monat März 1853, druckt
sich Baudelaire auf die gleiche Art und Weise aus:
„Ich bin mir selbst gegenüber schuldig - dieses Mißver-
hältnis zwischen Willen und Fähigkeit ist mir etwas Unbegreif-
liches. Warum mache ich immer das Gegenteil von dem, was ich
tun soll, obwohl ich von der Pflicht und dem Nützlichen eine
so klare Vorstellung habe?"
Und einige Zeilen später:
„Aber diese abscheuliche Existenz und der Branntwein — den
ich abschaffen werde — haben mir auf einige Monate hin den
Magen verdorben, und dazu habe ich noch unerträgliche Nerven-
schmerzen, genau so wie die Frauen. — Übrigens war dies un-
vermeidlich."
39
In einem andern Briefe schreibt er:
„Aber was ich empfinde, ist eine unsägliche Entmutigung,
ein unerträgliches Gefühl der Einsamkeit, eine ständige Angst vor
einem unbestimmten Unheil, ich mißtraue völlig meinen Kräften,
es fehlt mir an Wünschen, es ist mir unmöglich, an irgend etwas
Vergnügen zu finden."
Erwähnen wir endlich eine besonders bezeichnende
Stelle aus einem Briefe vom Monat Februar i8j8:
„Füge diesem Leiden noch dies andere hinzu, das Du nicht
verstehen wirst: wenn die Nerven eines Menschen durch Leiden
und Besorgnis sehr geschwächt sind, dann schleicht sich der
Teufel allen Entschlüssen zum Trotz jeden Morgen in sein Hirn
in der Form des Gedankens: Warum soll ich mich nicht einen
Tag im Vergessen aller Dinge ausruhen? Ich werde diese Nacht,
und zwar auf einmal, alle dringenden Dinge verrichten. — Und
dann kommt die Nacht; der Geist ist entsetzt über die Men"e
der hinausgeschobenen Sachen; eine erdrückende Traurigkeit führt
das Unvermögen zu handeln herbei, und am nächsten Morgen
wiederholt sich in aller Aufrichtigkeit dieselbe Komödie mit dem-
selben Vertrauen und demselben Gewissen . . ."
Erwähnen wir auch noch einige Stellen des „Journal in-
time", die den Kampf Baudclaires gegen die Hemmung deut-
lich erkennen lassen:
CX.
„Hygiene, Moral." — Nach Honflcur! Schleunigst und
noch bevor ich tiefer falle.
Wie viel Zeichen und Mahnungen sind mir schon von Gott
geschickt worden, daß es „allerhöchste Zeit" sei, zu handeln, die
gegenwärtige Minute für die wichtigste zu halten und meine
gewöhnliche Qual, d. h. die Arbeit, zu meiner „ständigen Wol-
lust" zu machen!
CXI.
„Hygiene, Benehmen, Mori 1." — In jeder Minute
werden wir von der Idee und der Empfindung der Zeit zermalmt,
und es gibt nur zwei Mittel, diesem Alpdruck zu entgehen, ihn
zu vergessen: das Vergnügen und die Arbeit. Das Vergnügen ver-
braucht uns. Die Arbeit stärkt uns. Wählen wir.
40
Je mehr wir uns eines dieser Mittel bedienen, um so größeren
Widerwillen flößt uns das andere ein.
Man kann die Zeit nur vergessen, indem man sich ihrer be-
dient.
Alles wird nur allmählich.
De Maistre und Edgar Poe haben mich denken gelehrt.
Schwer scheint nur das Werk zu sein, das man nicht zu
beginnen wagt. Es wird ein Alp.
cxv.
„Hygiene, Moral, Führung." — Vielleicht ist es zu
spät! — Meine Mutter und Jeanne. — Meine Gesundheit aus Mit-
leid, aus Pflicht! — Krankheiten Jeannes. Altersschwäche und
Einsamkeit meiner Mutter.
— Jeden Tag seine Pflicht tun und auf Gott vertrauen für
den andern Tag.
— Die einzige Art Geld zu verdienen ist die, auf uneigen-
nützige Weise zu arbeiten.
— Eine abgekürzte Weisheit. Toilette, Gebet, Arbeit.
— Gebet: Mitleid, Weisheit und Stärke.
— Ohne Mitleid bin ich nur eine klingende Schelle.
— Meine Demütigungen sind Gnaden Gottes gewesen.
— Ist meine egoistische Phase beendet?
— Die Fähigkeit, dem Notwendigen jeder Minute zu ent-
sprechen, mit einem Wort: die Exaktheit, muß ganz bestimmt ihren
Lohn finden.
Das beständige Unglück wirkt auf die
Seele wie das Alter auf den Körper: man kann
sich nicht mehr rühren; man legt sich nieder...
Anderseits nimmt man höchste Jugend zum
Vorwand für einen Aufschub; wenn man viel
Zeit zur Verfügung hat, dann redet man sich
ein, daß man jahrelang vor den Ereignissen
spielen kann.
Chateaubriand.
Mit dieser Strafe des Scheiterns, des Gehemmtseins erkauft
sich der Dichter aber auch das Recht, seine Liebe für das
Meer, die Wüste, den Stein, kurz für alles, was groß, außer-
gewöhnlich, übermenschlich ist und ihm irgendwie „Mutter"
bedeuten mag, zu besingen.
41
Wir erinnern uns an das Sonnet „La Geante", in dem
die ödipussituation klar wiedergegeben wird:
Die Riesin 10
Ich hätte damals als der kräftcvollen
Natur noch Kinder wurden wild und
Bei einer jungen riesin leben wollen
Wie eine katze auf der fürstin schooß.
groß
Und sehen wollen wie ihr körper blühte
Und wüchse, frei bei fürchterlichem spiel.
Wie ihr im herzen dunkle flamme glühte
Am feuchten dunst der ihrem aug entfiel.
Und über ihre prächtigen glioder eilen.
Auf ihrer riesenkniee rücken weilen
Und manchmal wenn in giftigem Sonnenschein
Sie müd sich niederläßt in weitem räume
Im schatten ihrer brüst gebettet sein
So wie ein friedlich dorf am hügclsaume.
10 ) Stefan George, S. 38 („Lcs Fleurs du Mal", S. 128).
La Geante
Du temps que la Nature en sa verve puissante
Concevait chaque jour des cnfants nionstrueux,
J'eusse airne - vivre aupres d'une jeunc geante,
Comme aux pieds d'une reine un chat voluptueux.
J'eusse aime" voir son corps flcurir avec son äme
Et grandir librement dans ses terriblcs jeux,
Dcvincr si son cceur couve une sombre flamme
Aux humides brouillards qui nagent dans ses yeux;
Parcourir & loisir ses magnifiques formes,
Ramper sur le versant de ses genoux Enormes,
Et parfois en 6t6, quand les soleils malsains,
Lasse, la fönt s'foendre ä travers la campagne,
Dormir nonchalamment k I'ombre de ses scins,
Comme un hameau paisible au pied d'une montagne.
4*
Das folgende Gedicht ohne Überschrift läßt das Wesen
dieser Liebe noch greifbarer erscheinen:
XXV».
Wie ich im dorn der nacht gebete summe:
Gefäß der traurigkeit und große stumme!
So flehe ich zu dir, ob du auch fliehst
Und. meiner nachte schmuck, vorüberziehst
Um höhnisch noch den abstand auszuweiten.
Den weg zu blauen unermeßlichkeiten.
Ich rücke vor berenne und bestürme.
So stürzt auf einen leichnam das gewürme . . .
Und gar. o grausam unversöhnlich tier!
In deiner kälte bist du teuer mir.
Um die Verhältnisse und Maße der infantilen Situation
zu erhalten, macht Baudelaire, wie wir schon gezeigt haben,
aus der Frau eine Mutter, eine „den menschlichen Leiden un-
zugängliche Riesin", ein allmächtiges, männliches Wesen,
vor dem der Mann als Kind dasteht. Diese Bezeichnung ist
von höchster Wichtigkeit für das Verständnis der homosexuel-
len, der masochistischen und sadistischen Tendenzen bei
Baudelaire. Aber schreiten wir planmäßig vor und horchen
wir vorerst auf den Dichter, wenn er seinen Hymnus an die
Schönheit singt:
") Stefan George, S. 46 (,Xes Flettrs du Mal", S. 136).
XXV.
Je t'adore a l'egal de la voüte nocturne,
O vase de tristesse, 6 grande taciturne,
Et t'aime d'autant plus, belle, que tu me fuis,
Et que tu me parais, ornement de mes nuits,
Plus ironiquement accumuler les lieues
Qui separent mes bras des immensites bleues.
Je m'avance a l'attaque, et je grimpe aux assauts,
Comme apres un cadavre un chceur de vermisseaux,
Et je cheris, 6 bete implacable et cruelle,
Jusqu'a cette froideur par oü tu m'es si belle!
43
Die Schön heit' 3
Ihr menschen, ich bin schön, ein träum von stein!
Mein busen der zu blutigen küssen treibt:
Dem dichter flößt er eine liebe ein
Die stumm ist wie der stoff und ewig bleibt.
Ich bin die sfinx die keiner noch erfaßt.
Die herz von schnce und schwanenkleid vereint.
Die jedes rücken an den linien haßt —
Ich habe nie gelacht und nie geweint.
Die dichter all vor meinem großen wesen
— An stolzen bauten scheint es abgelesen —
Zerquälen ständig sich in strengen schulen.
Für sie besitz ich. die gefügen buhlen.
Wo alles schöner spiegelt, eine quelle:
Mein aug. mein weites aug von ewiger helle.
Loblied auf die Schönheit* 3
Entsteigst du dem himmcl oder den nächtlichen Schlünden.
O Schönheit? dein blick zugleich höllisch und göttlich rein
Gießt durcheinander die wolthatcn aus und die sünden
Und deshalb magst du dem weine verglichen sein!
") Stefan George, S. 36 („Lei Fleurs du Mal", S. 126)
Lx Beauti
Je suis belle, ö mortels! comme un rgve de pierrc,
Et mon sein, 06 chaeun s'est meurtri tour ä tour.
Est fait pour inspirer au poete un amour
Eternel et muet ainsi que la matiere.
Je trdne dans l'azur comme un sphynx incompris;
J'unis un coeur de neige ä la blancheur des cygnes;
Je hais lc mouvement qui d^place les lignes
Et jamais je ne plcurc et jamais je nc ris.
Les poetes devant mes grandes attitudes,
Que j'ai l'air d'cmpruntv.r aux plus fiers monumenw,
Consumcront leurs jours en d'austcres Itudes;
Car j'ai, pour fasciner ces dociles amants,
De purs miroirs qui fönt toutes choses plus heiles.
Mes yeux, mes larges yeux aux clart^s eternelles!
1S ) Stefan George, S.41 („Les Fleurs du Mal", S. 131).
44
Du hast deinen blick vom morgen- und abendstrahle.
Du schüttelst dufte wie eine gewitternacht.
Dein kuß ist ein filter und dein mund eine schale
Die helden zu feiglingcn. kinder zu tapferen macht.
Enttauchst du dem abgrund oder entschwebst du den himmeln?
Der dämon folgt gefiig deiner Zauberkraft —
Du lassest nach laune freude und unheü wimmeln.
Du lenkest alles und nie gibst du rechenschaft.
Hymne a la Beaute
Viens-tu du cid profond ou sors-tu de l'abime,
O Beaute? Ton regard, infernal et divin,
Verse confusement le bienfait et le crime,
Et Ton peut pour cela te comparer au vin.
Tu contiens dans ton oeil le couchant et l'aurore;
Tu repands des parfums comme un soir orageux;
Tes baisers sont un philtre et ta bouche une amphore
Qui fönt le h£ros lache et l'enfant courageux.
Sors-tu du gouffre noir ou descends-tu des astres?
Le Destin charm^ suit tes jupons comme un chien;
Tu semes au hasard la joie et les d6sastres,
Et tu gouvernes tout et ne reponds de rien.
Tu marches sur des morts, Beaute, dont tu te moques;
De tes bijoux, l'Horreur n'est pas le moins charmant,
Et le Meurtre, parmi tes plus cheres breloques,
Sur ton ventre orgueilleux danse amoureusement.
L'ephemere ebloui vole vers toi, chandelle,
Crepite, flambe et dit: B£nissons ce flambeau!
L'amoureux pantelant incline sur sa belle
A l'air d'un moribond caressant son tombeau.
Que tu viennes du ciel ou de l'enfer, qu'importc,
O Beaute! monstre enorme, effrayant, ingenu!
Si ton ceil, ton souris, ton pied, m'ouvrent la porte
D'un Infini que j'aime et n'ai jamais connu?
De Satan ou de Dieu, qu'importe? Ange ou Sirene,
Qu'importe, si tu rends, — fee aux yeux de velours,
Rythme, parfum, lueur, 6 mon unique reine! —
L'univers moins hideux et les instants moins lourds?
45
Du trittst über tote, o Schönheit, und höhnst unsrc leiden.
Die Schrecknis ist dir ein schmuck der dich reizvoll umschmiegr.
Der mord ist das liebste dir unter allen gcschmcidcn
Das schmeichelnd an deinem stolzen leibe sich wiegt.
Der faltcr flattert geblendet hinauf zu dir — kerzc!
Er knistert und spricht verbrennend: ich segne dich licht!
Es beugt sich, ein sterbender der sein grabmal herze.
Der liebende zuckend auf seiner geliebten gesicht.
Komm du nur aus himmcl aus höllc. gleichviel welchen orten»
O Schönheit bald maaßlos erschrecklich und bald wie ein kind!
Erschließt nur dein lächeln dein blick und dein fuß mir die
pforten
Des alls das ich liebe die stets mir verschlossen sind!
Ob gott oder satan ob engcl oder sirene:
Mach nur. sammtäugige zauberin. daß nicht zu sehr
— O klang duft und licht! o herrin die ich ersehne! —
Die erde mir häßlich ist und der augenblick schwer!
Wir sehen hier schon die äußersten Grenzen der infan-
tilen Situation, von der weiter oben die Rede war: „Tu rrujr^
ches sur des morts . . ." Die sklavische Unterwerfung unter
diese absolute Leidenschaft wird in einem ewigen Todeskampf
zu verwirklichen versucht, bisweilen auch in einer Rückkehr
in den Mutterleib, in einer Rückkehr zur Mutter Erde, i n
der Sehnsucht nach dem Grabe. In einem bezeichnender Weise
„Vorleben" (La vie antericure) iiberschriebenen Gedichte ver-
setzt sich Baudelaire ins Paradies des Mutterleibes zurück.,
d. h. in die intra-uterinc Situation:
Vorleben '*
Ich wohnte lang in weiten Säulengängen
Die in der mecressonnen feuerbad
Des abends sich erheben stolz und grad
Und wie basaltnc grotten überhängen.
") Stefan George, S. 28 {„Lei Fleurs du Mal", S. 119).
46
Der wellen die des Himmels bilder wiegeln
Musik in mystisch feierlicher art
Sich mächtig tönend mit den färben paart
Wie sie beim Sonnenuntergänge spiegeln:
Dort lebte ich in stiller wollust landen
Inmitten woge glänz und blauer luft
Und nackter sklaven ganz getränkt in duft
Die neben mir mit palmenwedeln standen
Nur einer sorge voll: würd ihnen kund
Mein schwer geheimnis. meines leides grund!
Vergessen wir auch nicht eines der schönsten Gedichte
unter denen, welche die Liebesleidenschaft einer unzugäng-
lichen und unfruchtbaren Welt besingen:
XXVIII 15
In ihren kleidern die mit schillern flattern
Erscheint es daß sie tanzt, auch wenn sie geht.
Wie eines heiigen gauklers lange nattern
Die er auf einem stab im takte dreht.
La vie antericure.
J'ai longtemps habite" sous de vastes portiques
Que les soleils marins teignaient de mille feux,
Et que leurs grands piliers, droits et majestueux,
Rendaient pareils, le soir, aux grottes basaltiques.
Les houles, en roulant les images des cieux,
Melaient d'une fa9on solennelle et mystique
Les tout-puissants aecords de leur riche musique
Aux couleurs du couchant reflete par mes yeux.
C'est lä que j'ai vecu dans les voluptes calmes,
Au milieu de l'azur, des vagues, des splendeurs
Et des esclaves nus, tout impregnes d'odeurs,
Qui me rafraichissaient le front avec des palmes,
Et dont l'unique soin etait d'approfondir
Lc secret douloureux qui me faisait languir.
Stefan George, S. 47 („Les Fleurs du Mal", S. 139)-
47
Wie toter sand und wolkcnrand der wüsten
Zu denen fruchtlos menschlich leiden schreit.
Wie wellcnnetze an den meeresküsten
Entfaltet sie sich ohne achtsamkeit.
Ihr glänzend aug ist herrlich mincral.
In diesem wesen. sinnbild seltner art.
wo reiner chcrub mit der sfinx sich paart
Wo alles gold ist diamant und stahl
Liegt wie der eitle glänz der stcrncnschaarcn
Die kalte hoheit einer unfruchtbaren.
Baudelaire hat seine Liebe am besten in seinen Ge-
dichten ausgedrückt. Zu diesem Zweck mußte er seine Sätze
auseinanderreißen, umstellen und sich der Tyrannei des Reimes
unterwerfen. Seine Poesie steht also im Dienste der Verdrän-
gung seiner wahren Gefühle, ihr eigentliches Ziel besteht
darin, diese Gefühle zu verkleiden, unkenntlich zu machen.
Es gibt in seinem Tagebuch einige, wenn auch wenige
Stellen, in denen er offen von seiner Mutter sprechen kann.
Meistens sind die Gedanken, die sich auf sie bezichen,
XXVIII.
Avec ses vetements ondoyants et nacr^s,
Memc quand eile marche, on croirait qu'cllc danse,
Comme ces longs serpents que les Jongleurs sacres
Au bout de leurs bätons agitent en cadence.
Comme lc sable morne et l'azur des diserts,
Insensibles tous deux ä l'humainc soufTrancc,
Comme les longs rdscaux de la houle des mers,
Elle sc developpc avec indiff^renec.
Ses yeux polis sont faits de minc'raux charmants,
Et dans cette nature Strange et symbolique
Ou Tange inviole* sc milc au sphynx antique,
Ou tout n'est qu'or, acier, lumiere et diamants,
Resplendit a jamais, comme un astre inutile,
La froide majest^ de la femme sterile.
48
verdrängt und der Text bedarf eines Kommentars. Zur lllu-
strierung des Gesagten lassen wir hier einige Auszüge aus sei-
nem Tagebuch folgen:
XVI.
„Ein schöner Männerkopf muß in den Augen des Mannes —
wenn' auch vielleicht in den Augen der Frau — nicht diese Idee
der Wollust enthalten, die im Antlitz der Frau eine um so ver-
lockendere Herausforderung darstellt, als das weibliche Gesicht
im allgemeinen melancholischer ist. Aber diese Idee enthält auch
etwas Brennendes und Trauriges, geistige Bedürfnisse — dunkel
verdrängte Ambitionen — , die Idee einer zürnenden und unbe-
schäftigten Macht — manchmal auch die Idee einer rächenden
Unempfindlichkeit (denn der ideale Typus des Dandys ist hier
nicht außer acht zu lassen), manchmal auch — und das ist einer
der interessantesten Charakterzüge des Schönen — das Myste-
rium, und schließlich . . . das Un glü ck.
Ich behaupte nicht, daß sich die Freude nicht mit der
Schönheit verbinden könne, aber sie ist ein recht gewohnlicher
Schmuck, der billigste, während die M e 1 a n c hol i e sozusagen ein
derart erlauchter Gefährte ist, daß ich mir (sollte mein Hirn ein
Zauberspiegel sein?) keinen Schönheitstypus vorstellen kann, in
dem nichts vom Unglück enthalten ist. Da ich mich auf Ideen
stütze — mancher wird sagen, ich sei von ihnen besessen — ist es
begreiflich, daß es mir nicht leicht fallen würde, zu einem andern
Schluß zu kommen als zu dem: Satan ist der vollendetste Typus
männlicher Schönheit (Milton!) 16 .
XLV.
Der frühreife Geschmack der Frauen. Ich verwechselte den
Geruch, der vom Pelzwerk mit dem, der von der Frau ausströmt.
Ich erinnere mich . . . Kurz, ich liebte meine Mutter ihrer Eleganz
wegen. Ich war also ein frühreifer Dandy 17 .
XXV. Gebet.
Züchtigt mich nicht in meiner Mutter und züchtigt nicht
meine Mutter um meinetwillen. Ich empfehle Dir die Seelen
meines Vaters und Mariettens. Gib mir die Kraft, unverzüglich
") „Fusies" („Raketen"), S. }2$l}26.
17 ) ibid. S. 330.
49
meine Pflicht zu tun jeden Tag und so ein Held und ein Heiliger
zu werden 18 ."
Das Besondere an dieser Liebe des Kindes für seine Mut-
ter ist darin zu sehen, daß die Mittel, durch die es vom Liebes-
objekt Besitz ergreift, nichts mit dem fleischlichen Akte ge-
meinsam zu haben scheinen, obwohl ihnen im Grund ein deut-
lich sexueller Charakter anhaftet. Alles, was sexueller Natur
ist, wird verdrängt, als ob es ein Verbrechen wäre, und aus
dem manifesten Wunsche heraus, aus der Mutter eine unbefleckte
Jungtrau zu machen, anderswohin verschoben. Dies erklärt
sich aus der Tatsache, daß das Kind, unentwickelt, wie es ist,
nicht daran denken kann, den Geschlechtsakt mit der Mutter
zu realisieren. Auf diesem Gebiete weiß es sich im voraus vom
Vater gedemütigt und geschlagen. Überdies fühlt es sich ihm
gegenüber als schuldbeladen, da es ihn ebenfalls liebt. Es bleibt
ihm daher nichts anderes übrig, als diese Demütigung zu
leugnen, die Existenz des Vaters zu leugnen, die Existenz
der elterlichen Sexualität im besonderen, die der
Liebe im allgemeinen — die Trauben sind noch zu sauer.
Je nach dem Fall kann das Kind seine minderwertigen
sexuellen Organe durch das allmächtige Denken
ersetzen und dann durch eine Krankheit, das Unglück usw.,
um auf diese Weise die mütterliche Liebe dem Vater streitig
zu machen und über ihn triumphieren zu können. Aber dies
alles ist nur ein schwacher Trost, um eine Demütigung zu ver-
gessen, die in Baudelaire unerbittlich fortlebt. Er kann auf sein
Ideal, in unserem Falle auf den Inzest, nicht verzichten. Er
versucht es, ihn auf verborgene Weise zu verwirklichen und
zwar mit Hilfe von Ersatzmitteln. Alles, was den Charakter
des Abnormalen, des Außergewöhnlichen, des Verbrechens an
sich trägt, ist nun geeignet, ein affektives Äquivalent für den
Inzest zu werden. Alles, was man auf normalem Wege zu
w ) „Mon cceur mit et ruf („Mein entblößtes Herz"), S. 343.
verwirklichen imstande ist, läßt eine große Leere und Ent-
täuschung zurück. Wir haben Patienten gekannt, bei denen
der zensurierte und verbildete Inzestwunsch, sich durch das
Bedürfnis, auf der Straße Auswürfe und Exkremente zu ver-
schlingen, kund tat. Diese abstoßende, aber außergewöhnliche
Handlung, deren Verwirklichung von der Schranke des Grau-
sens verhindert wird, wurde so zu einer Heldentat, welche
die Verwirklichung, die Erfüllung des Inzestes darstellte, zu-
gleich aber auch die Strafe für das schuldbeladene Verlangen.
Von diesem Gesichtswinkel aus gesehen, versteht man es,
daß Baudelaire schreibt:
„Ich aber sage: die einzige und höchste Lust der Liebe ruht
in der Gewißheit, das Böse zu tun. Und Mann und Weib wissen
von Geburt an, daß sich im Bösen alle Wollust findet 18 ."
„Die Liebe gleicht sehr einer Folter oder einer chirurgischen
Operation, ein Gedanke, der nun auf das Bitterste weitergedacht
werden kann. Selbst wenn die beiden Liebenden innigst vonein-
ander eingenommen und ganz erfüllt sind von wechselseitigem
Verlangen, so wird doch dei eine immer viel ruhiger oder weniger
besessen sein als der andere. Der ruhige ist der Operateur oder
der Henker; der andere ist der Patient oder das Opfer. Hörst
Du das Stöhnen, dieses Vorspiel einer Tragödie der Entehrung,
hörst Du die Seufzer, Schreie, das Röcheln? Wem entzwang es
sich nicht, wem ist es nicht erpreßt worden? Gibt es in dem pein-
lichen Verhör, das von sorgfältigen Foltermeistern angestellt
wird, etwas Schlimmeres? Weder diese Augen eines Somnambulen,
noch diese Glieder, deren Muskeln sich dehnen und herausspringen
wie unter der Leitung eines galvanischen Stromes, noch der
Rausch, das Delirium und das Opium in ihren wildesten Effekten
liefern gleich schreckliche und seltsame Beispiele. Und aus dem
menschlichen Antlitz, das nach Ovid dazu geschaffen war, die
Sterne widerzustrahlen, spricht nichts als die tollste Wildheit oder
dem Tod ähnliche Entspannung Für solche Zersetzung das Wort
,Ekstase* gebrauchen, käme mir wahrhaft wie ein Sakrileg vor.
Die Finsternis beruhigte seine Eitelkeit und sein Dandytum einer
kalten Frau. Diese zwei Wesen, die zwar gefallen waren, aber
noch an einem Rest von Adel litten, umarmten sich spontan und
ie ) Fusees, S. 322.
4* 5 1
ließen, im Regen ihrer Tränen und Küsse, die traurigen Erlebnisse
ihrer Vergangenheit und die noch ungewissen Hoffnungen auf eine
Zukunft ineinander übergehen. Man darf vermuten, daß sie nie
von süßerer Wollust ergriffen worden waren als in dieser Nacht
der Melancholie und Barmherzigkeit — die Wollust war mit
Schmerz und Gewissensbissen gesättigt 20 ."
Merken wir uns die Verwendung, welche der Verfasser
im Laufe seiner verschiedenen, diesen Gegenstand betreffenden
Erörterungen von den Worten Dandytum und Melancholie
gemacht hat.
Wir haben schon gesehen, daß die Mutter durch ein
phallisches Wesen dargestellt sein kann und durch Melancholie
symbolisiert wird.
„Du trittst über tote, o Schönheit, und höhnst unsre leiden.
Die Schrecknis ist dir ein schmuck der dich reizvoll umschmiegt.
Der mord ist das liebste dir unter allen geschmeiden
Das schmeichelnd an deinem stolzen leibe sich wiegt.
Ihr menschen, ich bin schön, ein träum von stein!
Mein busen al der zu blutigen küssen treibt:
Dem dichter flößt er eine liebe ein
Die stumm ist wie der Stoff und ewig bleibt 13 ."
Es überrascht uns nicht, daß Baudelaire seinen Begriff
des Schönen unterschiedslos sowohl von einem Frauenantlitz
als von einem Männerantlitz herleitet, das „Ideal des Dandy
darf nicht vernachlässigt werden . . .". Und er schreibt: „Ich
liebte meine Mutter ihrer Eleganz wegen. Ich war also
M ) Fusies, S. 321.
2> ) Busen Penis.
") Tu marches sur de morts, Beaute, dont tu te moques.
De tes bijoux, l'Horrcur n'cst pas le moins charmant,
Et Je Meurtre, parmi les plus cheres breloques,
Sur ton ventre orgueilleux danse amoureusement.
Je suis belle, ö mortels! comme un r£ve de pierre.
Et mon sein, ou chaeun s'est meurtri tour .1 tour,
Etc., etc. . . .
>2
ein frühreifer Dandy . . . Die Finsternis festigte ihre Eitelkeit
und ihr Dandytum einer kühlen Frau . . ."
Indem er selber zum Dandy wurde, identifizierte sich
Baudelaire mit seiner Mutter, um so in sich selber von ihr Be-
sitz zu nehmen. Auf diese Weise konnte er sich über die
sexuelle Ohnmacht seiner Jugend hinwegtrösten und die „un-
reinen" Gedanken, welche sich ihm seine Mutter betreffend
aufdrängten, im Zustande der Verdrängung erhalten.
Die Verdrängung seiner Liebe zur Mutter ist aber noch
durch andere Motive bedingt: Baudelaire war sechs Jahre alt,
als sein Vater starb.
53
4- Kapitel.
Der Vater.
Unsere psychoanalytischen Beobachtungen lehren uns,
daß ein an seine Mutter fixierter und infolgedessen zum Ri-
valen des Vaters gewordener Knabe auf diese affektive Situa-
tion in äußerst komplexer und verschiedener Weise reagieren
kann. Stirbt der Vater, wie dies bei Baudelaire der Fall war,
so ist der Knabe dafür empfänglich, den Verlust des Vaters
mit seinen eigenen, auf den Rivalen hinzielenden Todes-
wünschen in Beziehung zu bringen. Er glaubt infolgedessen
an die Allmacht seiner Gedanken, was in dem angeführten
Fall das Schuldbewußtsein, welches die affektive Situation
des Ödipuskomplexes schon normalerweise bei einem Men-
schen auszulösen vermag, ganz beträchtlich steigert. Der Ge-
danke von der Strafbarkeit sexueller Wünsche tritt damit
noch deutlicher in den Vordergrund. Dies kann bewirken,
daß das Kind jeden Wunsch nach freudiger Entfaltung,
der im Bewußtsein auftauchen will, systematisch zu unter-
drücken versucht, da sonst die Rivalität mit dem Vater, das
Verlangen, dessen Platz einzunehmen, groß, stark und glück-
lich zu werden wie er, ohne Gewissensbisse anerkannt wäre.
Da solche Wünsche ohne starke Eifersuchtsbildungen undenk-
bar, da sie an den Gedanken gebunden sind, den Vater seiner
Vorrechte zu berauben, verfallen sie — infolge der Angst vor
einer magischen Verwirklichung und der damit verbundenen
Strafe (Kastrationsangst) — der Verdrängung, und mit
ihnen alles, was die geistige und seelische Entfaltung des klei-
nen Knaben fördert.
54
Durch diese jenen Wünschen entgegenwirkende Strömung,
eine Strömung, von der Baudelaire in seinen „Fitsees" über das
Schöne spricht, wird der Lebensdrang aufgehalten, die Freude
zur Sünde, zum Unglück, denen man aus dem Wege gehen
muß. Die Entwicklung des Knaben ist gehemmt: er wird
zum Mädchen, und aus dem Tatkräftigen, der er sein sollte,
wird der passive, empfindsame, phantasierende Mensch. Der
Haß, den der Knabe gegen den Vater hegt, wird dann durch
eine übertriebene Liebe kompensiert, die in ihrer Art einer sekun-
dären, dem ersten spontanen Gefühle entgegengesetzten Äuße-
rung entspricht und oft etwas Gekünsteltes an sich hat. Diese
Kompensierung bedeutet für den Knaben: Begünstigung der
Entwicklung alles dessen, was seinem Geschlechte und Denken
widerspricht. Wir gehen hier nicht weiter ein auf die Kom-
plexität der psychischen, infantilen Vorgänge, die zur mani-
festen oder, latenten Homosexualität führen, wobei die
letztere rein psychisch geblieben sein kann, wie wir ge-
rade bei Baudelaire feststellen können. Wir verweisen den
Leser auf die kürzlich erschienene gewissenhafte und ausführ-
liche Arbeit unseres Mitarbeiters Dr. Hesnard 23 .
Trotz aller Bemühungen des Individuums, den Kon-
flikt zu verdrängen, wird dieser nicht so leicht erledigt. Das
Verdrängte kommt in entstellter Form wieder, sogar Reue
kann es den Zielen einverleiben, welchen man unbewußt
nachstrebt. Der Inzest bekommt den Reiz der verbotenen
Frucht — er flößt Grauen ein, wird aber trotzdem
weiter begehrt, und zwar gerade auf Grund des auf ihm
lastenden Verbotes. Alles, was Gewissensbisse hervorzurufen
imstande ist, kann so zum Äquivalent für den Inzest werden
und dieser Kult der Reue wird zu einer besonderen Seite des
Leidenskults im allgemeinen. Wir werden weiter unten auf
dieses Problem zurückkommen, das von Reik in musterhafter
Weise verarbeitet worden ist.
23 ) Hesnard: Psychologie homosexuelle (Stock, Paris).
SS
So erklärt sich die Anziehungskraft, die für Baudelaire
von allem Grauenhaften ausgeht, und so erfassen wir auch,
warum er weder vor der Vorstellung, noch manchmal vor
der Verwirklichung der niedrigsten Handlungen zurück-
schreckte. Wir stoßen in seinem "Werke zu verschiedenen
Malen auf Stellen, wo die Vorstellung des Mordes das Bild
der Liebe ersetzt hat. Man darf wohl annehmen, daß er, im
Widerspruch zu seinem Gebete, nichts unversucht gelassen
hat, um von seinem Gott gezüchtigt zu werden und so in
sich seine Mutter zu züchtigen, zu demütigen, zu töten, ins
Laster und in den Schmutz zu ziehen. Es handelt sich hier
um die Vorstellung von magischen Verbrechen. Lesen wir
dazu, was Baudelaire über die Frau und die Magie sagt":
„Von der angewandten Magie bis zur Beschwörung der
großen Toten, zur Wiederherstellung und Vervollkommnung der
Gesundheit.
Die Inspiration kommt immer, wenn der Mensch will, aber
sie geht nicht immer, wenn er will.
Von der Sprache und der Schrift als magische Handlungen,
beschwörende Zauberei.
Über das Aussehen der Frau.
An reizvollen Mienen, welche die Schönheit ausmachen,
kennen wir:
Sie sieht blasiert drein,
Sie sieht gclangweilt,
leichtsinnig,
schamlos,
kühl,
in sich gekehrt,
voll Herrschsucht,
willensstark,
boshaft,
wie eine Kranke,
wie eine Katze, ein kindisches Wesen, bei dem Bosheit mit
Gleichgültigkeit gepaart ist, drein.
34 ) „Jourtiaux intimes", S. 22.
56
Ein Mann geht in Begleitung seiner Frau zum Pistolenstande.
Er zielt auf eine Puppe und sagt zu seiner Frau: „Ich stelle mir
vor, ich ziele auf dich." Er schließt die Augen und streckt die
Puppe nieder. Darauf küßt er seiner Gefährtin die Hand
und sagt zu ihr: „Lieber Engel, ich danke dir für meine Ge-
schicklichkeit!" - ? ;
Es gibt nur zwei Orte, wo man bezahlt, um das Recht zu
haben, etwas auszugeben: die öffentliche Bedürfnisanstalt und die
Frauen.
Diese Stelle findet sich einige Zeilen vor der andern, in
der Baudelaire seine Liebe zu seiner Mutter beichtet: „Ich
liebte meine Mutter ihrer Eleganz wegen. Ich war also ein
frühreifer Dandy."
Es wird uns nun nicht überraschen, wenn wir sehen, daß
die Verdrängung dieser Liebe den Wunsch mit sich führt,
auch deren Objekt zu verdrängen, das ist, alles in allem ge-
nommen, die Frau. Man wünscht, sie zu töten, und versucht,
den Mord zu rechtfertigen, indem man aus ihr eine Ver-
brecherin macht. Wir lassen hier einige Stellen aus dem Tage-
buche folgen, die sich auf die Frau beziehen:
Die Frau ist das Gegenteil des Dandy. Infolgedessen muß sie
Grauen einflößen. , , , ...
Die Frau ist hungrig und will essen; sie ist durstig und will
trinken. ,
Sie ist läufig und will besprungen werden.
Schöne Vorzüge!
Die Frau ist natürlich, das heißt scheußlich.
Darum ist sie auch immer gewöhnlich, das heißt das Gegen-
teil des Dandy. , . , c- P (i-
Über George Sand. Das Frauenzimmer Sand ist der bpieis
bürger der Immoralität.
Sie ist immer Moralistin gewesen.
Nur machte sie früher in Gegenmoral. _
Daher war sie nie Künstlerin. Sie hat den berüchtigten
flüssigen Stil, der den Bürgern so teuer ist.
Sie ist dumm, sie ist schwerfällig, sie ist geschwatzig. Sie
hat in den moralischen Ideen dieselbe Tiefe des Urteils und die-
57
selbe Delikatesse des Empfindens wie die Hausbesorgerinnen und
die ausgehaltencn Mädchen.
Was sie über ihre Mutter sagt.
Was sie über die Dichtkunst sagt.
Ihre Liebe zu den Arbeitern.
Daß einige Männer sich in diese Latrine verlieben konnten,
ist ein Beweis für den Tiefstand der Männer in diesem Jahr-
hundert.
Die folgende Stelle bezieht sich wahrscheinlich auf seine
Mutter und auf die Ehrenlegion des General Aupick:
Gewisse Frauen sehen dem Band der Ehrenlegion ähnlich.
Man begehrt sie nicht mehr, weil sie sich an gewissen Männern
beschmutzt haben.
Aus demselben Grunde würde ich auch nicht die Hosen eines
Krätzigen anziehen.
Das Ärgerliche in der Liebe ist, daß sie ein Verbrechen ist,
bei dem man einen Komplizen haben muß.
In der Liebe wie in fast allen menschlichen Angelegenheiten
ist das herzliche Vertragen das Ergebnis eines Mißverständnisses.
Dieses Mißverständnis ist: die Lust. Der Mann ruft aus: „O mein
Engel!" Die Frau gurrt: „Mama! Mama!" Und diese beiden
Narren sind davon überzeugt, im Einklang miteinander zu denken.
Der unüberschreitbare Abgrund, welcher die Ursache der Un-
mittelbarkeit ist, bleibt unüberschritten.
Um diese Überlegungen richtig zu verstehen, muß man
dem Umstände Rechnung tragen, daß bei Baudelaire die Ver-
hältnisse invertiert sind: der Mann tritt bei ihm an die
Stelle der Frau, die Mama! Mama! girrt.
Wir lassen noch einige weitere Bemerkungen Baudelaires
über die Frauen folgen:
Das junge Mädchen beim Verleger.
Das junge Mädchen bei den Chefredakteuren.
Das junge Mädchen als Vogelscheuche, Scheusal, Mörderin
der Kunst.
Was das junge Mädchen in Wirklichkeit ist.
Ein einfältiges Ding und eine kleine Schlampe; die größte
Blödheit verbunden mit der größten Verderbtheit.
58
Im jungen Mädchen findet sich die ganze Verworfenheit des
Gauners und des Gymnasiasten.
Von der Notwendigkeit, die Frauen zu schlagen.
Man kann züchtigen, was man liebt. So wie die Kinder.
Aber dies schließt den Schmerz ein, daß man verachten muß.
was man liebt.
Über die Hahnreischaft und die Hahnreie.
Der Kummer des Hahnreis.
Er kommt von seinem Stolz, von einer falschen Ansicht über
die Ehre und das Glück und von einer albern von Gott weg-
gewandten und den Kreaturen zugeteilten Liebe.
Je mehr ein Mensch die Künste pflegt, um so weniger
f ... er. . ,
Es vollzieht sich eine immer fühlbarere Scheidung zwischen
dem Geiste und der Bestie.
Nur der bestialische Mensch f... gut und die Umarmung
ist die Poesie des Volkes. ,
F i st das Bedürfnis, in einen andern hineinzugehen
und der Künstler geht nie aus sich heraus.
Ich habe den Namen dieser Schlampe vergessen. Ach, was,
ich werde ihn beim jüngsten Gerichte wiederfinden.
Wir haben schon gesagt, daß die Libido Baude-
laires in erster Linie durch Selbstbestra-
fungsmechanismen und Kastration sang st
gehemmt ist: diese machen aus ihm das geschlagene
Wesen, von dem wir gesprochen haben, als wir uns über
die Schlagephantasien auseinandersetzten. Aber er ist auch
deshalb das geschlagene Wesen, weil er die der Mutter vorge-
worfene Sünde auf sich nimmt und weil er so vielleicht
an seinem eigenen Leibe die Züchtigung erlebt, welche für die
„Hure", die sich mit dem General Aupick verheiratet hatte,
bestimmt war. ,
Diese fehlerhafte Erledigung des Ödipuskomplexes beob-
achten wir im täglichen Leben öfters als man gemeinhin an-
zunehmen pflegt. Beim Manne äußert sich diese Situation sehr
oft in der Notwendigkeit, ständig zwischen sich und der
$9
Frau, die er an die Stelle der Mutter setzt, eine uniibcr-
schreitbare Schranke zu errichten. Diese Schranke
ist besonders in puncto Sexualität unüberschreicbar. Die Ver-
ehrung der Frau ist jedoch meistens gestattet. Die Frau wird zu
einem Ideale, das man über alles stellt, aber dieses Liebesideal
ist rein platonischer Art und kann ebenso gut, wenn nicht
besser, durch einen Mann verwirklicht werden, wie wir es zum
Beispiel in Fällen von manifester Homosexualität beobachten
können. Die Realisierung des Geschlechtsverkehrs mit einer
solchen Mutterimago erweist sich gewöhnlich als unmöglich. Es
entsteht ein Vorgang, den man in der Psychoanalyse eine Spal-
tung zwischen Zärtlichkeit und Sexualität nennt". Vor jener
Frau steht dann oft der Mann demütig wie ein Kind, und bestän-
digen Schuld- und Minderwertigkeitsgefühlen preisgegeben da.
Seine Sexualität vergeudet er in öffentlichen Häusern, sein
Geld in Spielhöllen. Ein derartiges Verhalten ist schon
deutlich pathologisch. Der manifeste Masochismus äußert sich
dann sehr oft in dem Zwang, sich eine Geschlechtskrank-
heit oder irgend ein anderes Leiden zuzuziehen, wobei
die Krankheit eine Strafe sein soll, zugleich aber auch die
Reproduzierung der infantilen Situation bezweckt. Der
Kranke hat in der Tat Aussicht, wieder zum kleinen Kinde
zu werden, das von einer zärtlichen Mutter gepflegt und be-
schützt wird. In weniger heiklen und besser kompensierten
Fällen „sublimiert" der Mann, d. h. anstatt sich im Ver-
kehr mit Prostituierten auszugeben, lenkt er seine Energie in
die Richtung geschäftlicher Unternehmungen, zu deren Sklaven
er sich macht. Er wirft sich etwa in Börsenspekulationen
und zwar immer mit dem mehr oder minder manifesten Be-
dürfnis, sein Geld zu verlieren, zu Gunsten von Leuten, die
2 "") Erinnern wir uns an die Bemerkung Baudclaires, die wir
oben bereits zitiert haben: „Je mehr ein Mensch die Künste pflegt,
um so weniger f .... er. — Es vollzieht sich eine immer fühlbarere
bcheidung etc "
60
ihn bestehlen oder zu Gunsten eines Teilhabers. Allerdings
verliert er dieses Geld auch, um anderswo, wenigstens schein-
bar, das Recht zum Erfolg zu haben. Im Verkehr mit ihren
Frauen sind diese Männer meistens impotent. Dies ist auch der
Grund, warum sie sich an den Analytiker wenden. Bei diesen
Opfern des „Ödipuskomplexes" ist daher der Mißerfolg oft
maskiert, ja sogar durch einen scheinbaren materiellen Erfolg
kompensiert, ein Erfolg, der einem erstaunlichen Energie-
aufwand für ein Werk zu verdanken ist, das im affektiven
Sinne für diesen Mann praktisch die Rolle des öffentlichen
Hauses spielt, in dem er geschlagen wird und in dem er
sich bis zur Erschöpfung verbraucht. In solchen Fällen
verrät sich die sexuelle und affektive Störung oft anläßlich
eines besonders glänzenden Erfolges, indem der Betreffende
gezwungen ist, eine Handlung zu begehen, die ihn öffentlich
bloß stellt. (Siehe Freud: Jene, die am Erfolge scheitern.) Es
kommt auch vor, daß der Betreffende krank wird oder
Bankerott macht. Wehe dem Geschäfstunternehmen, das
einem solchen Konflikte ausgesetzt ist. Es gibt nun Fälle,
in denen eine ganze Nation dieses Unternehmen ist.
Wir wollen jedoch nicht näher auf diese Fragen ein-
gehen und uns lediglich merken, daß eine ganze
Gemeinschaft in den Wirbel geraten kann, der einen Men-
schen dem Zusammenbruche, dem Abgrund zuführt. Napo-
leon! Sankt Helena!.-. 20
M ) Siehe Jekels, „Der Wendepunkt im Leben Napoleons I.
in „Imago", Band III.
61
y. Kapitel.
Der Masochismus bei Baudelaire.
Überschaut man das Leben und das Werk Baudelaires,
so fällt es nicht schwer, jene Selbstbestrafungsmcchanismen zu
entdecken, von denen wir gesprochen haben, jenes Bedürfnis,
auf irgend welche Art geschlagen zu werden. Wir verstehen,
warum er sich öffentlich vom General Aupick ohrfeigen ließ 27 ,
27 ) Porche schreibt darüber: „Dem Heim der Seinen
zog Baudelaire die Kaffeehäuser des linken Ufers vor. Er
war fast nie zu Hause, oder aber, wenn er an den Empfangs-
abenden des kürzlich zum Kommandanten der Generalstabsschule
ernannten Generals einmal erschien, verstand er es, sich durch be-
ständige Sticheleien unangenehm zu machen. Herr Aupick runzelte
die Stirn, Caroline zitterte. Mit einem Wort, seit einigen Monaten
war ein neues Gewitter im Anzüge.
Im Laufe eines festlichen Diners brach es aus. Auf eine un-
schickliche Bemerkung des Jünglings hin gab ihm der General
einen scharfen Verweis. Um den Tisch herum tiefes Schweigen.
Baudelaire, gedemütigt, sprang bleich vor Wut auf und obwohl er
c- u r u ic}l ^ ar ' Sagte er hö ™ ch zu se i nen * Stiefvater: .Monsieur,
Sie haben mir gegenüber schwer gefehlt. Dies verdient eine Zurecht-
weisung, ich werde die Ehre haben, Sie zu erwürgen.'
Der ruhige Ton, in dem diese Drohung ausgesprochen wurde,
gab der ganzen Szene noch einen Schein von Überlegung und
Wahnsinn zugleich, der die Gäste und den General selber in Be-
stürzung versetzen mußte. Aber schon machte der Rasende Miene,
sich auf Aupick zu stürzen. Da ohrfeigte ihn dieser und Baude-
laire hatte im Tumulte umgeworfener Sessel einen Nervcnanfall."
(S. 44.)
, J«j* 8 e ben hier eine weitere Stelle wieder, in der die Rolle
der Schlagephantasien deutlich zum Ausdruck kommen:
„Aber das Folgende war noch unvorhergesehener: Von der
.Heise, an die Herr Aupick als erster gedacht hatte und die von
6z
warum er es erreichte, daß ihm die Türe gewiesen wurde,
warum er mit den Wucherern ständig Verdrießlichkeiten
hatte, mit seinem Vormund, mit der Mulattin Jeanne, warum
er die Beute der Geschlechtskrankheit, des Opiums, des Alko-
hols wurde. Viele, oft sehr ernste Vergehen haben bei der-
artigen Kranken meistens keinen andern Zweck als den, sich
für die Auflehnung gegen die väterliche Autorität eine Strafe
zu sichern, für die Auflehnung gegen den Vater, den man
einerseits haßt und verachtet, dem man anderseits aber, ohne
es sich eingestehen zu wollen, seine Bewunderung zollt. So
lagen die Verhältnisse sicher auch für Baudelaire, was seinen
Stiefvater, ja vielleicht sogar, was Ancelle anbetrifft. Man for-
dert diesen Vater heraus, um ihn zu bekämpfen, dann aber
auch, um diesen Haß, den man braucht, wenn man Baude-
laire ist, wenigstens scheinbar zu rechtfertigen, diesen Haß,
der zum Lebenszweck wird, in Wirklichkeit aber nur eine
Fiktion ist. Man stürzt sich auf ihn, entweder um dem
Eingeständnis einer schrecklichen Minderwertigkeit zu ent-
gehen, dem Einbekennen seiner Schwäche, die man sich nicht
verzeiht, oder um in einem künstlichen Kampf, der das
den vorsichtigsten Bekannten allgemein gebilligt wurde, bringt
Baudelaire eine einzige Erinnerung zurück, die einzige wenigstens,
welche ihn augenblicklich verfolgt, ja sogar quält, die an eine
Negerin, welche auf der Insel Mauritius ausgepeitscht wurde. Die
Szene hatte ihn, wenigstens im Augenblicke selber, eher abgestoßen.
Es handelte sich um eine öffentliche Züchtigung, welche von einem
Pflanzer für einen geringfügigen Diebstahl verabfolgt wurde. Die
Sklaverei war auf der Insel erst seit dem Jahre 1834 abgeschafft
worden und die früheren Sitten lebten noch lange fort. Nun aber
tauchten alle Einzelheiten dieses Bildes im Geiste des Reisenden
wieder auf. Das Groteske paart sich mit der Grausamkeit und
diese mit der Unanständigkeit. Aus dieser Zusammensetzung wächst
eine späte, vergebliche Begierde, hartnäckig wie ein Nerven-
schmerz." (S. 62.) .
Es liegt auf der Hand, daß Baudelaire nicht auf die Reise
nach der Insel Mauritius gewartet hatte, um diese Schlagephantasie
zu züchten. Schon längst hatte er es erreicht, „geschlagen zu
werden".
63
Leben ersetzt, stark zu scheinen, oder um eine Angst, ein
Unglück, deren man sich schämt, ableugnen zu können.
Eine tragische Komödie! Die Auflehnungen Baudelaires
maskieren im Grunde genommen ein überfeines Empfindungs-
vermögen, das schamvoll sich zu äußern zögert, aus Angst vor
dem Lichte und dem Lächerlichsein sich nicht zu behaupten
wagt und das anstatt in Kinderaugen zu lächeln, sich oft in
Überspanntheiten, ja zuweilen sogar ins Verbrechen flüchtet.
Das ist vielleicht bei manchen Exhibitionisten der Fall. Ihre
neurotische Hölle besteht darin, eine strafbare Handlung be-
gehen zu müssen: sich zu e x h i b i e r e n. Sie exhibieren
sich, um entdeckt, gedemütigt, gestraft zu werden und dazu
verdammt zu sein, ewig Mißerfolg zu haben. Der Fall Baude-
laires weist ebensolche, wenn auch nur latente, Exhibitions-
tendenzen auf. Seine Gewohnheit, den Gegner mit paradoxen
Argumenten zu entwaffnen, und sein Zynismus bezwecken wohl
unbewußt nicht anderes, als den Schlag und Gegenschlag her-
auszufordern. Denselben Zielen dient seine Tendenz zur
Unordnung und zur Lüge. Und ebenso hat der Dichter aus
seiner Sprache ein allmächtiges Organ gemacht, um die Men-
schen bis ins Herz zu treffen. Dieses Organ ersetzt für ihn
gewissermaßen ein „wundenschlagendes, seufzerlösendes
Schwert" ... Er erreicht durch sein Wort, daß das Herz von
Millionen von Menschen rascher schlägt, was sein großes
Minderwertigkeitsgefühl kompensiert. Aber auch auf diesem
übertragenen Gebiete benimmt er sich so, daß es zum Prozesse
kommen muß, d. h. zur öffentlichen Verurteilung seiner
Werke. Alles was er unternimmt, führt zu einer Art unfrucht-
barer Unrast.
Betrachten wir in diesem Zusammenhange, wie Porcne*
den Aufrührer Baudelaire darstellt:
Die ersten Schüsse der Februartage fielen auf dem Boule-
vard des Capucines; schon werden die Barrikaden aufgestellt.
Was für ein Hasten und Jagen in der Nacht vom 23. auf den 24.
64
im Herzen der alten Faubourgs. Bei Tagesanbruch steht ganz
Faris in Waffen. Schon schlägt man sich in der rue de Valois,
in der rue Saint-Honore. Bugeaud wird überrannt. Der König,
Louis Philipp, dankt, angsterfüllt, in seniler Nachgiebigkeit ab
und flieht in einer Kutsche auf der Avenue de Neuilly, während
die Revolutionäre die Tuilerien besetzen.
Wo ist indessen Baudelaire? Er steht auf der Seite des
Aufstandes. Erinnerungen an Gelesenes, Erinnerungen an selbst-
ei lebte Geschehnisse, Erinnerungen aus dem Jahre 1830 in Paris,
aus dem Jahre 1834 in Lyon, steigen ihm in den Kopf mit der
unbedeutenderen an ein kleines Scharmützel lokaler und
ökonomischer Natur, dem er 1844 auf der Ile Saint-Louis bei-
gewohnt hatte, als das Pariser Volk sich gegen die Gesellschaft
auflehnte, welche an den Brückeneingängen eine Gebühr erhob
und deren Büroräume plünderte.
Heute aber greift der Tumult weiter um sich. An der Ecke
der Rue Buci plündert die Menge einen Waffenladen. Baudelaire
gehört zur Rotte. Seine blutrote Krawatte zeigt seine politische
Überzeugung. Er bemächtigt sich eines Gewehres und einer
gelbledernen Patronentasche. „Ich habe mitgekämpft", bemerkt
er einen Augenblick später zu seinem Freunde Buisson, der sich
zufällig dort befindet. Die Waffe und das Lederzeug sind sicht-
lich neu. Baudelaire übertreibt. Vielleicht hat er ein wemg zu
viel Weißwein zu sich genommen. Auf jeden Fall haben die
Kneipen in diesen Tagen der Gewalttätigkeit nicht gestreikt.
Der Dichter ist äußerst erregt. „Man muß den General Aupick
erschießen", wiederholt er wie einen Refrain. Es handelt sich
jetzt um nichts weniger als um politische Ideen. Was scheren ihn,
selbst jetzt in dieser Minute, wo er in ihren Reihen steht, die
Republikaner? Auch die Bürgerlichen mteressieren ihn kaum.
Beim bloßen Gedanken an das Gesicht, das Ancelle in diesem
Augenblick schneiden muß, schüttelt er sich vor Lachen. Etwas
anders noch beschäftigt ihn. In erster Linie sucht ^ m *#**
Handgemenge Sensationen. Ist er nicht ein Kunstler, « n KunstIe r ,
der in sein Notizbuch diesen fürchterlichen kleinen Satz ge-
schrieben hat: „Ich verstehe, daß man eine Sache aufgeben kann,
einzig um zu wissen, was man empfindet, wenn man einer an-
deren dient.» Und anderswo: „In jedem Wechsel liegt etwas
Niederträchtiges und Angenehmes zugleich, dem etwas von der
Untreue und dem Flüchten anhaftet. Dies genügt, um die trän-
65
zösische Revolution zu erklären." Dies, könnte man wenigstens
hinzufügen, dürfte genügen, um die Beteiligung Baudelaires an
der Revolution des Jahres 1848 zu erklären, gibt er uns in diesem
Ausspruche doch gewissermaßen sein eigenes Gefühl preis.
Und wenn von den Straßen jener heiße Hauch weht, daß
man die winterliche Brise nicht mehr spürt, wie könnte man mit
einem so reizbaren, von den Betäubungsmitteln zerrütteten
Nervensystem einem solchen Sturme widerstehen? Außerdem
macht das Opium alles unwirklich, oder übertreibt das Geschaute.
Einige Schüsse werden zu einem ununterbrochenen Gewehrfeuer.
Die Barrikade ist riesengroß. Ein im Rauche erspähter roter
Fetzen an einem Stockende wird zum gewaltigen Symbol. In den
tiefsten Schichten der Seelen weben und erwachen Dinge, von
deren Dasein man keine Ahnung hatte: das Bedürfnis, Rache zu
üben, persönliche Rache zuerst, gewiß (man muß Herrn Aupick
erschießen), dann aber auch anonyme, allgemeine Rache, die
teuflische Lust der Zerstörung. (S. 121 — 123.)
Wir möchten hier auch die Schilderung jener Zeit wieder-
geben, in der Baudelaire sich als Kandidat der französischen
Akademie aufstellen läßt. (Es ist ihm natürlich nur gelungen,
„geschlagen" zu werden.)
Baudelaire war also der Meinung, wenn es ihm gelänge, die
Schwelle der Akademie zu überschreiten, würde das gegen ihn
gehegte Mißtrauen auf der Stelle aufhören. Seine Überlegung
war gewiß richtig, enthielt aber einen Zirkelschluß, denn dieses
Mißtrauen war es gerade, welches jede Erfolgsmöglichkeit aus-
schloß.
Wie zu erwarten war, wurde andererseits die Kunde von der
Kandidatur des Verfassers der „Blumen des Bösen" für den Fau-
teuil Scribe in den literarischen Kreisen und Kaffees, sowie von der
kleinen Presse mit Zetergeschrei und Witzen aufgenommen.
Baudelaire wurde als ein Abtrünniger, der aus dem Lager der
Unabhängigen in das der Offiziellen überging, beschimpft und
verhöhnt. Baudelaire antwortete Flaubert, der aus seiner Abge-
schiedenheit in Croisset diesen unüberlegten Streich mißbilligt
hatte: „Wie, haben Sie nicht erraten, daß Baudelaire bedeutete:
Auguste Barbier, Theophile Gautier, Flaubert, Leconte de Lisle,
das heißt: reine Literatur?"
66
Kurzum, im Monat Dezember begann der Dichter seine Be-
suche zu machen, und zwar zu Fuß, wie er sagt, und „zerlumpt".
Aber hüten wir uns, diesen letzten Ausdruck wörtlich zu nehmen.
Baudelaire war immer sehr sorgfältig, ja gewählt gekleidet. Erst
zwei, drei Jahre später begegnete man ihm manchmal in schäbigen
Kleidern. Aber auch dann noch, ja selbst im äußersten Elend,
ließ er vom Luxus der weißen, makellosen Wäsche nicht ab.
Mehrere Akademiker wichen ihm aus. So war es ihm unmög-
lich, Ponsard anzutreffen, für den ihm Asselineau einen Einfüh-
rungsbrief mitgegeben hatte. Ebenso wenig Glück hatte er mit
Legouv£, de Sacy, mit Saint-Marc Girardin, er traf nicht einmal
Prosper MeVimee, obwohl er ihn persönlich kannte.
Villemain, der ständige Sekretär der Akademie, empfing ihn
von oben herab. „Ich habe nie irgendwelche Originalität be-
sessen, mein Herr", soll er zum Kandidaten gesagt haben. Worauf
der andere, nicht ohne Heimtücke erwidert haben soll: „Mein
Herr, was wissen Sie davon?" Vom Besuche bei Viennet brachte
er folgende berühmt gewordene Definition mit: „Es gibt nur
fünf Gattungen der Poesie, mein Herr, die Tragödie, die Komödie,
die epische Poesie, die Satire und die leichte Dichtungsart, zu der
die Fabel zählt, in der ich Meister bin." Aber ist dies alles
authentisch?
Henri Patin, der Latinist, war sehr liebenswürdig. Ebenso
Sandeau, für den ihm Flaubert eine Empfehlung mitgegeben hatte.
In den von Sandeau an den Dichter gerichteten Worten liegt in-
dessen nicht wenig (wohl unfreiwillige) Ironie: „Vielleicht, viel-
leicht gelingt es Ihnen, in der Wahl für den Fauteuil Lacordaire
die Stimmen einiger Protestanten zu ergattern."
Baudelaire hatte in der Tat die seltsame Idee gehabt, auf die
Kandidatur für den Fauteuil Scribe zu verzichten, um sich um den
Fauteuil Lacordaire zu bewerben. Für diese zum mindesten uner-
wartete Wahl gab er folgenden Grund an: „Lacordaire ist ein Prie-
ster der Romantik und ich liebe ihn." Dieser Grund war aber
selbst denen unannehmbar, die dem Dichter das größte Wohl-
wollen bekundeten (ich meine natürlich seiner Person, denn seine
Kandidatur nahm niemand ernst). Man sah darin nur eine neue
Exzentrizität.
Sainte-Beuve, ein schwankender Charakter, der aber über
eine glänzende Intelligenz verfügte, war diesmal sprachlos: Wie
konnte ein Mann wie Baudelaire, dessen Überlegenheit keinem
Zweifel unterlag, mit 40 Jahren noch solche Eseleien begehen?
Diesem durchtriebenen Kritiker, der vor der Autorität, der
Hierarchie eine hohe Achtung besaß, und der in der Kunst, die
Einflüsse abzuwägen, sehr erfahren war, mußte ein solches Ver-
kennen der sozialen Beziehungen, ihrer Regeln, ihres Spiels und
ihrer Handhabung unverständlich sein.
Für so viel Einfalt gibt es in der Tat nur eine Erklärung.
Baudelaire kannte von der Gesellschaft nur einen kleinen Zipfel:
die Boheme.
Als Sohn bürgerlicher Eltern hatte er schon in seinem frü-
hesten Alter mit der Gesellschaft gebrochen. Er war ein Dandy,
aber nicht ein Dandy der Salons wie Musset, sondern eher ein
Dandy der Kaffees, der Restaurants, der Ateliers, der Kasinos
und der verrufenen Häuser.
„Onkel Beuve" hatte am Anfang, freilich ohne sich zu kom-
promittieren, seinem „teuren Kinde", das in dieses tolle akademische
Unternehmen verwickelt war, einen Beweis seiner zärtlichen Be-
sorgnis geben wollen. Bei dieser Gelegenheit hatte er in einer Art
von Übersicht der verschiedenen Kandidaturen, die am 20. Ja-
nuar 1862 im „Constitutionnel" erschien, Baudelaire jenen be-
kannten Paragraphen gewidmet, in welchem von Kiosk und
Kamtschatka die Rede ist. Aber jetzt beging der Kandidat, dem
er die Ehre erwiesen hatte, seine Ansprüche öffentlich zu ver-
teidigen, eine große Ungeschicklichkeit, indem er sich, er, der
Verfasser „der Blumen des Bösen", für den Fauteuil Lacordaires
bewarb! Man mußte es bei diesem Phantasten durchsetzen, daß
er sofort dem ständigen Sekretär der Akademie seine Verzicht-
leistung anmeldete. Am 9. Februar schrieb Sainte-Beuve an
Baudelaire: „Lassen Sie die Akademie so, wie sie ist, viel mehr
erstaunt als chokiert, und verletzen Sie sie nicht, indem Sie Ihren
Versuch anläßlich eines Toten wie Lacordaire erneuern." Dieser
Ton seitens des weibischen Sainte-Bcuvc war der einer Drohung.
Der Dichter täuschte sich nicht darüber. Ohne weiter darauf zu
beharren, zog er sich vom Kampfplatze zurück.
Einer ersten Regung folgend, die ihm eigentümlich ist, und
um sich zu rächen, beabsichtigte er dann, über den Geist und
den Stil des Herrn Villemain, „diese seelenlose Mandragora" einen
Artikel zu schreiben, von dem man nach seinem Tode
einen Entwurf in seinen Papieren gefunden hat. Dieser Plan
eines Artikels ist sogar so weit ausgeführt, daß man sich fragt,
68
was Baudelaire zurückhalten konnte, ihn zur Veröffentlichung zu
vollenden. In einer Stunde wäre die Sache erledigt gewesen.
Wollte er sich, nachdem er sich die Sache überlegt hatte, doch
die Zukunft offenhalten?
Aber der unheilbarste Schaden im bittern Schicksal
Baudelaires bestand darin, daß selbst sein Denken, der schöpfe-
rische Geist, auf den er so stolz war und der ihn unsterblich
machen sollte, gezüchtigt worden war. Sein Gehirn war der
Gehirnsyphilis verfallen, der klaffenden Wunde einer physi-
schen und seelischen Kastration. Aber schon vor diesem letz-
ten Untergang war sein Denken gezeichnet. Wir haben uns
bereits weiter oben über die Hemmung Baudelaires geäußert,
wir haben aber dabei nicht Zeit gefunden, auf eine andere
Selbstbestrafung, auf ein Versagen einzugehen, die sein
Geistesleben treffen: auf die Lüge im Leben Baudelaires 2 «.
Wir können begreifen, von welch absoluter Leiden-
schaft, einer Leidenschaft, die zur Qual werden konnte,
und die selbst vor der Selbstaufopferung nicht zurück-
schreckte, seine Wahrheitsliebe beseelt war. Er hat bewiesen,
welch heroischer Selbstverleugnung er fähig gewesen, wenn es
galt, für das, was ihm wahr und recht erschien, einzustehen.
Und trotzdem wird er nie dazu kommen, diese Wahrheit —
die auch ein Ideal, auch eine M u 1 1 e r ist — je zu erfassen.
Er muß lügen, ob er will oder nicht, aber dieser Drang zur
Lüge, der ihn sogar dazu treibt, gegen sich selbst unwahr zu
sein, zeigt sich nach dem vorher Gesagten in einem völlig an-
deren Lichte. Die Wahrheit spontan und direkt zu äußern
wird für dieses subtile und gequälte Gewissen zum Äquivalent
einer Inzesterfüllung, und gerade da, wo er es mit seinem Jon
sens" hätte tun können. Ich glaube auch nicht, daß man in
dieser Beziehung zufällig von Jon sens" spricht. In den
28 ) Siehe R. Laforgue: „L'imagination et ses troubles" in „Le
Temps" v. 27. XI. 1930 und E. Dupre: „Pathologie de l'imagma-
tion et de l'emotivite", Paris, Payot, 1925.
69
Fällen, in denen die normale Sexualität verdrängt wird,
ist der „gesunde Menschenverstand" dazu verurteilt, sein
Ziel mehr oder weniger sichtbar zu verfehlen, und zwar je
nachdem es dem Individuum gelingt, diese schreckliche Min-
derwertigkeit zu maskieren. Das Denken drückt sich nur in
gewundener Form aus und darf sein wahres Gesicht nur durch
eine mehr oder minder poetische Symbolik hindurch zeigen.
Die wahre, wirkliche Gedankenwelt, gleichsam eine im Feuer -
kreise gefangene Walküre, offenbart sich nur, wenn man durch
dieses Produkt der Zensur hindurch zu lesen versteht.
Meistens tritt die Lüge bei dieser Art von Kranken offen
zu Tage. Sie zeichnen sich durch eine Ausdrucksweise aus,
welche um der von ihr ausgehenden starken Imagination willen
wirkt, durch eine Sprache, die aber in bezug auf die Tat-
sachen an den Problemen vorbeigeht. Der Autor verbietet es
sich selbst, das Problem zu lösen und bemüht sich vergebens,
zum wirklichen Verständnis der Dinge vorzuschreiten. Der
ganze "Wirbelwind von Ideen läuft auf ein unfruchtbares
Sichquälen hinaus, es irrlichtert in der Phantasie eines Mytho-
manen. Wir berühren hier eine besonders tragische Seite ge-
wisser Existenzen, deren Denken nicht über den „Saum" der
Erkenntnis hinauskommt, obwohl es ständig um die ihm
unzugängliche Wahrheit kreist. In diesem Zusammenhange
muß daran erinnert werden, daß die „Fleurs du Mal" zuerst
„Les Limbes" (der Saum) heißen sollten.
Es ist bekannt, daß Baudelaire oft bei offener Lüge er-
tappt wurde, daß er sich häufig in offensichtliche Wider-
sprüche verstrickte.
Um aber zu verstehen, welcher Grad des Verfalles durch
diese Bestrafung des „bon sens" erreicht werden kann, muß
man sich das Verhalten der Schizophrenen in Erinnerung
rufen. Man findet unter ihnen Kranke, die jede Möglichkeit
verloren haben, sich in einer normalen Sprache auszudrücken.
Die Inkohärenz ihrer Rede, das Gansersohe Symptom, gewinnt
70
nun von unserem Gesichtswinkel aus gesehen eine ganz be-
sondere Bedeutung; das gleiche gilt auch von dem Faktum,
daß sie unmöglich aus eigenen Kräften dem Abgrund, von
dem ihr Denken verschlungen wird, entrinnen können. Es
liegt aber nicht in unserer Absicht, hier auf das Problem der
Beziehungen zwischen Genie und Irrsinn näher einzugehen,
wir kehren zu den Symptomen Baudelaires zurück.
•
7 1
6. Kapitel.
Der Sado-Masochismus in der Poesie
Baudelaires.
Wir wenden uns jetzt dem Sado-Masochismus in der
Dichtung Baudelaires zu. Nach dem Vorausgegangenen wird
der Leser nicht mehr überrascht sein, wenn er erfährt und
sieht, daß sich die Frau bei Baudelaire (was der invertieren-
den geistigen Gegenströmung entspricht) in einen Mann mit
einem Schwert (Penis) verwandelt. Andererseits wissen wir
auch, daß der strafende Vater von Baudelaire direkt zum
Liebesobjekt auserkoren werden konnte. Wir stehen hier also
der latenten Homosexualität des Verfassers der „Blumen des
Bösen" gegenüber. Geben wir dem Dichter selber das Wort:
Duellum* 9
Ein krieger trifft den andren im turnci.
Es sprizt das blut. der stahl der warfen schimmert . .
Dies spiel dies eisenrasseln ist der schrei
Der jugend die im bann der liebe wimmert.
Der stahl — wie unsre jugend — ist gebrochen
Mein lieb! doch zahn und nagel sind bewährt.
Sie haben bald geschütz und dolch gerochen . .
Wut reifer herzen drin die liebe schwärt!
In einer Schlucht wo luchs und panther stecken
Versanken unsre helden kampfes-toll
Und ihre haut beblümt die dürren hecken.
In diese höllenschlucht von freunden voll
Komm rolle mit mir, grausame miegäre.
Daß unsres hasses glut dort ewig währe!
29 ) Stefan George, S ji („Les Fleurs du Mal", S. 151).
72
Ferner:
Der Besessene 30
Die Sonne ward vom schwarzen Flor umhüllt,
O meines Lebens Mond verlösch' die Strahlen;
Umwölk' dich, schlummre ein, verstumm' in Qualen
Und sink ins Leere tief und leiderfüllt:
So lieb' ich dich. Doch bist du heut gewillt,
Ein neuer Stern aus Schatten, neblig fahlen,
Mit deinem Glanz vor Toren hell zu prahlen,
So funkle Dolch, dein Sehnen sei gestillt!
Entflamme deinen Blick an tausend Kerzen!
Entflamme Gier in tausend rohen Herzen!
Wild oder matt, nur Lust kann dir entblühn;
Sei, was du willst, sei Nacht, sei rosiges Glühn;
All meine Fibern fühl' ich nach dir beben: .
Mein König Beizebub dein ist mein Leben!
Duellum.
Deux guerriers ont couru l'un sur l'autre; leurs armes
Ont 6clabousse l'air de lueurs et de sang.
— Ces jeux, ces cliquetis du fer sont les vacarmes
D'une jeunesse en proie ä l'amour vagissant.
Les glaives sont brises! comme notre jeunesse,
Ma chea-e! Mais les dents, les ongles acer&s,
Vengent bientöt tifefc et la dague traitresse.
— O fureur des cceurs mürs par 1 amour ulceres!
Dans le ravin hante de chats-pards et des onces
Nos heros, s'etreignant mechamment, ont rouie,
Et leur peau fleurira l'aridite" des ronces.
— Ce gouffre, c'est l'enfer, de nos amis peuple!
Roulons-y sans remords, amazone inhumaine,
Afin d'etcrniser l'ardeur de notre haine!
30 ) Terese Robinson, S. 59 („Les Fleurs du Mal", S. 154).
73
„Der Vampir" (Le Vampire) zeigt uns, daß Baudelaire
mit Ketten an dieses Wesen geschmiedet ist, durch das er sich
erdolcht, besessen fühlt — ganz so wie eine Frau von einem
Manne besessen wird — und daß er sich wehrt, weil ihn diese
„Nabelschnur" erwürgt.
„Ein Aas" (Une cbarogne) schildert uns die Verwesung
(so sieht Baudelaire die Liebe), die Verwesung der „Mutter",
welche von diesen Larven, den Kindern angenagt wird . . .
die Zerstörung des Vampirs, den Orgasmus der völligen Ver-
nichtung des einen im andern.
Wir nehmen nun ein Gedicht vor, in dem der gleiche In-
halt in eine andere Sprache transponiert ist; in diesem Zu-
sammenhange berühren und decken sich ja die Extreme.
Einer Madonna? 1
(Gelöbnis-Tafel in spanischem Geschmack)
Madonna, meine gebieterin. dir will ich bauen
Verborgenen altar aus meiner nöten tiefe
Und in meines herzens finsterem winkel graben
Le Possede
Le soleil s'est couvert d'un crepe. Comme lui,
O Lune de ma vie! emmitoufle-toi d'ombre;
Dors ou fume ä ton gre; sois muette, sois s'ombre,
Et plonge tout entiere au gouffre de l'Ennui;
Je t'aime ainsi! Pourtant, si tu veux aujourd'hui,
Comme un astre öclipse qui sori de la penombre,
Te pavaner aux lieux que la Folie encombre,
C'est bien! Charmant poignard, jaillis de ton 6tui!
Allume ta prunelle ä la flamme des lustres!
Allume le d6sir dans les regards des rustres!
Tout de toi m'est plaisir, morbide ou pötulant;
Sois ce que tu voudras, nuit noire, rouge aurore;
II n'est pas une fibre en tout mon corps tremblant
Qui ne crie: O mon eher Belzebutb, je t'adore!
31 ) Stefan George, S. 78 („Les Fleurs du Mal", S. 189).
74
"Weit von der weltlichen lust und dem spöttischen blick
Eine nische ganz mit azur und gold überzogen
Wo du dich, verwundertes Standbild, erheben sollst.
Aus meiner geglätteten verse reinem metall
Verständnisvoll übersät mit kristallenen reimen
Will ich für dein haupt eine mächtige kröne bereiten.
Aus meiner eifersucht. sterbliche madonna.
Will ich einen mantel dir schneiden barbarischer art
Schwer und starr und ausgefüttert mit argwöhn
Und der wie ein schützendes zeit deine reize umschließt
Mit perlen nicht sondern mit all meinen thränen bestickt.
Dein kleid soll mein verlangen werden das zittert
A une Madone
Ex-voto dans le goüt espagnol
Je veux bätir pour toi, Madone, ma maitresse,
Un autel souterrain au fond de ma d<kresse,
Et creuser dans le coin le plus noir de mon coeur,
Loin du desir mondain et du regard moqueur,
Une niche, d'azur et d'or tout emaillee,
Oü tu te dresscras, Statue emerveillfce.
Avec mes Vers polis, treillis d'un pur metal
Savamment constelle de nmes de cnstal,
Je ferai pour ta tcte une Enorme Couronne;
Et dans ma Jalousie, 6 mortelle Madone,
Je saurai te tailler un Manteau, de facon
Barbare, raide et lourd, et double de soupcon,
Qui, comme une guerite, enfermera tes charmes;
Non de Perles brode, mais de toutes mes Lärmes!
Ta Robe, ce sera mon Desir, fr^missant,
Onduleux, mon Desir qui monte et qui descend,
Aux pointes se balance, aux vallons se repose,
Et revet d'un baiser tout ton corps blanc et rose.
Je te ferai de mon Respect de beaux Souliers
De satin, pour tes pieds divins humilies,
Qui, les imprisonnant dans une molle fitreinte,
Comme un moule fidele en garderont 1 empreinte.
Si je ne puis, malgre tout mon art dihgent,
Pour Marchepied tailler une Lune d'argent,
Je mettrai le Serpent qui me mord les entraüles
Sous tes talons, afin que tu foules et railles,
Reine victorieuse et feconde en rachats,
Ce monstre tout gonfle de haine et de crachats.
75
Und wogt, mein verlangen das steigt und sich senkt.
Auf höhen sich schaukelt und in den thälern sich ausruht.
Mit küssen den weißen und rosigen leib dir umhüllt.
Mit meiner Verehrung bereit ich dir schöne schuhe
Aus atlas. gedemütigt durch deinen göttlichen fuß.
Die ihn umschließend in einer weichen umschlingung
Wie eine getreue form dem eindruck sich schmiegen.
Wenn ich es nicht trotz meiner emsigen künste vermag
Als schemel dir einen silbernen mond zu schneiden
So setz ich die schlänge die in den geweiden
mir n a gt
(Dies ungeheuer mit haß und geifer geschwollen)
Dir unter die fuße damit du es trittst und ver-
höhnst.
O siegreiche königin und an erlösungen große!
Dann siehst du meine gedanken. geordnet wie kerzen
Vorm blumigen altar der Jungfrauenkönigin
Mit Widerscheinen die blaue decke bestirnend
Und immerfort dich mit feurigen äugen betrachtend.
Und weil dich alles in mir bewundert und liebt
Wird alles zu benzoe Weihrauch oliban mirre
Und unaufhörlich, o weißer und schneeiger gipfcl.
Erhebt sich in dämpfen zu dir mein stürmischer geist.
Tu verras mes Pensers, ranges comme les Cierges
Devant l'autel fleuri de la Reine des Vierges,
Etoilant de reflets le plafond peint en bleu,
Te regarder toujours avec des yeux de feu;
Et comme tout en moi tc chcrit et t'admire,
Tout se fera Benjoin, Encens, Oliban, Myrrhe,
Et sans cesse vers toi, sommet blanc et neigeux,
En Vapeurs montera mon Esprit orageux.
Enfin, pour completer ton röle de Marie,
Et pour meler l'amour avec la barbarie,
Volupte noire! des sept Peches capitaux,
Bourreau plein de remords, je ferai sept Couteaux
Bien affites, et, comme un Jongleur insensible,
Prenant le plus profond de ton amour pour ciblc,
Je les planterai tous dans ton Cceur pantelant,
Dans ton Cceur sanglotant, dans ton Cceur ruisselant!
76
Zum Schluß, um ganz dich zu einer maria zu machen
Und um mit der liebe diegrausamkeitzu vermischen—
O schwarze lust! aus den sieben entsetzlichsten sünden
Verfertig ich reuvoller henkersknecht sieben
Schwerter.
Wolgeschliffene. und wie ein gefühlloser gauk-
ler
Erwähl ich mir deiner liebe tiefstes als Scheibe:
Ich pflanze sie alle in dein zuckendes herz
In dein schluchzendes herz in dein rieselnde;
herz.
Nun folgt die Zerstörung, die sich in Baudelaire voll-
zieht, der selber zum „Aas" geworden ist:
Die Zerstörung 33
Der dämon ohne laß mich rings berennt
Wie eine luft ungreifbar mich umhüllend.
Ich schlürfe ihn. ich fühle wie er brennt
Mit einem ewigen schuldigen wünsch mich füllend.
Mit meinem großen drang zur kunst bekannt
Gebraucht er manchmal buhlerische ranke.
In die verführendste gestalt gebannt
Gewöhnt er mich an die verruchten tränke.
So leitet er mich fern von gottes blick
Gebrochen keuchend unter dem geschick
Fort durch des grames wüste weite länder
Und wirft in meine äugen hohl und irr
Der offnen wunden fleckige gewänder
Und der Zerstörung blutiges gesebirr.
=») Stefan George, S. 156 („Les Fleurs du Mal", S. 287).
La Destruction.
Sans cesse ä mes c6t£s s'agite le Demon,
II nage autour de moi comme un air impalpaoie,
Je l'avale, et le sens qui brule mon poumon
Et Pemplit d'un desir Kernel et coupable.
77
Eine Märtyrin 33
Zeichnung eines unbekannten Meisters
Inmitten von Flakons, matthcllen Seidenbändern
Und üppigem Gerät,
Marmorner Bilder Pracht und duftenden Gewändern
Voll schwerer Majestät,
Im engen Zimmer, drin wie zwischen Treibhauswänden
Bedrückend schwül die Luft,
Wo in kristallnem Sarg sterbende Blumen spenden
Den schalen Moderduft,
Da läßt auf seidnen Pfühl sein rotes Blut entfließen
Ein Leichnam ohne Haupt;
Das Kissen saugt den Strom voll Gier wie trockne Wiesen,
Die durstig und verstaubt.
Parfois il prend, sachant mon grand amour de l'Art,
La forme de la plus söduisante des femmes,
Et, sous de sp^cieux pretextes de cafard,
Accoutume ma levre a des philtres infames.
II me conduit ainsi, loin du regard de Dieu,
Haletant et brise* de fatigue, au milieu
Des plaines de l'Ennui, profondes et dösertes,
Et jette dans mes veux pleins de confusion
Des vetements souill^s, des blessures ouvertes,
Et l'appareil sanglant de la Destruction!
M ) Terese Robinson, S. 227 („Les Fleurs du Mal'*, S. 288).
Une Martyre
Dessin d'un maitre inconnu.
Au milieu des flacons, des Stoffes langes
Et des meubles voluptueux,
Des marbres, des tableaux, des robes parfumecs,
Qui trainent ä plis somptueux,
Dans une chambre tiede oü, comme en une serre,
L'air est dangereux et fatal,
Oü des bouquets mourant dans leurs cercueils de verre
Exhalent leur soupir final,
78
Und bleichem Spukbild gleich, das ich voll Grauen wähne
Dem Schattenreich entrückt,
Seh' ich ein düstres Haupt mit wirrer, dunkler Mähne
Gold- und juwelgeschmückt
Starr auf dem Nachttisch ruhn, — fast gleicht es der Ranunkel.
Gedankenlos und leer
Stiehlt sich ein bleicher Blick, dämmernd aus fahlem Dunkel,
Unsicher zu mir her.
Un cadavre sans tcte epanche, comme un fleuve,
Sur l'oreiller desaltere
Un sang rouge et vivant, dont la toile s'abreuve
Avec raviditi d'un prL
Semblable aux visions päles qu'enfante l'ombre
Et qui nous enchainent les yeux,
La tete, avec l'amas de sa criniere sombre
Et de ses bijoux precieux,
Sur la table de nuit, comme une renoncule,
Repose; et, vide de pensers,
Un regard vague et blanc comme le crepuscule
S'echappe des yeux revulses.
Sur le lit, le tronc nu sans scrupules etale
Dans le plus complet abandon
La secrete splendeur et la beaute fatale
Dont la nature lui fit don;
Un bas rosätre, orne decoins d'or, ä la jambe
Comme un Souvenir est resti;
La jarretiere, ainsi qu'un ceil sccret qui flambe,
Darde un regard diamante.
Le singulier aspect de cette solitude
Et d'un grand portrait langoureux,
Aux yeux provocateur comme son attitude,
Revele un araour ten£breux,
Une coupable joie et des fetes Stranges
Pleines de baisers infcrnaux,
Dont se rejouissait l'essaim de mauvais anges
Nageant dans les plis des rideaux;
79
Der Rumpf ruht auf dem Bett. Nackt, sorglos hingegeben
Enthüllt er ohne Acht
Den unheilvollen Reiz, den ihm Natur gegeben,
Unseliger Schönheit Macht.
Ein rosafarbner Strumpf, umsäumt von goldnen Spitzen,
Blieb noch am Fuß zurück,
Das Strumpfband leuchtet auf wie eines Auges Blitzen
Und schießt demant'nen Blick.
Der Anblick seltsam fremd, des schwülen Bildes Flimmer
In dem verlass'nen Raum,
Die lockende Gestalt, der Augen blasser Schimmer
Weckt düstern Liebestraum.
Et cependant, ä voir la maigreur elegante
De l'epaule au contour heurte,
La hanche un peu pointue et la taille fringante
Ainsi qu'un rcptile irrite,
Elle est bien jeunc encor! — Son äme exasp£r£e
Et scs sens par l'ennui mordus
S'6taient-ils entr'ouverts a la mcute alterte
Des d&irs crrants et perdus?
L'homme vindicatif que tu n'as pu, vivante,
Malgre - taut d'amour, assouvir,
Combla-t-il sur ta chair inerte et complaisante
L'immensite" de son dösir?
Reponds, cadavre impur! et par tes tresses roides
Te soulevant d'un bras fievreux,
Dis-moi, tete effrayante, a-t-il sur tes dents froides
Colle" les supremes adieux?
— Loin du monde railleur, loin de la foule impure,
Loin des magistrats curieux,
Dors en paix, dors en paix, Strange cr£ature,
Dans ton tombeau mystirieux;
Ton tombeau court le monde, et ta forme immortelie
Veille pres de lui quand il dort;
Autant que toi sans doute il te sera fidele,
Et constant jusques a la mort.
80
Weckt schuldbeladnes Glück und toller Feste Rauschen
Voll Küssen wild und matt
Und böser Engel Lust, die in dem Vorhang lauschen
Rings um die Lagerstatt.
Noch jung ist dieser Leib, die Linie schlank gezogen,
Ein wenig mager schier,
Die Hüfte spitz, der Leib erregt zurückgebogen,
Wie ein gereiztes Tier.
Ward einst dies bittre Herz des Überdrusses Beute?
Gab sich der heiße Sinn
Der Träume wirrem Schwärm, der hungrig wilden Meute
Verworfner Wünsche hin?
Hat der rachsüchtige Mann, des nimmersatte Triebe
Du lebend nicht gestillt,
Auf deinen toten Leib das Übermaß der Liebe
Gehäuft und angefüllt?
Unkeuscher Leichnam sprich! Rieht auf die starre Mähne
Mit fieberschwercr Hand,
Hat er, sprich furchtbar Haupt, auf deine kalten Zähne
Den letzten Kuß gebrannt?
Ruh 5 aus, der Welt entrückt, fern ihrem Spott und Grolle
Und strengem Richterstab,
In Frieden ruhe aus, du fremd Geheimnisvolle
Im wunderlichen Grab.
Dein Mann durchirrt die Welt, und dein unsterblich Wesen
Folgt ihm in Nacht und Not,
Und er bleibt stark und fest, so wie du es gewesen,
Und treu bis in den Tod.
Ferner ein Gedicht mit ähnlichem Gedankengang:
Die beiden barmherzigen Schwestern 3 *
Lust und vergängnis sind ein kräftig prangend
Ein lieblich viele küsse spendend paar.
Ihr leib jungfräulich und von lumpen hangend
Bei ewiger arbeit niemals noch gebar.
34 ) Stefan George, S. 164 („Les Fleurs du Mal", S. 293).
6 81
Der unheimliche dichter, feind der ehen
Der hölle günstling hofmann ohne brot.
Hat bei dem grab und freudenhause stehen
Ein bett das kein gewissensbiß bedroht.
Gemach und bahre reich an freveleien
Sind zwei barmherzige Schwestern, sie verleihen
Entsetzlichen genuß und süße quäl.
Wann kommst du. ekle lust. den sarg mir klopfen.
Und wann wirst du. ihr reizender rival.
Zipressen auf die faulen mirten propfen?
Wir zitieren ferner:
Die Verwandlungen des Vampirs™
Das Weib mit rosigem Mund begann den Leib zu recken,
Wie sich die Schlange dreht auf heißem Kohlenbecken,
Und in den Schnürleib fest die Brüste eingezwängt,
Sprach diese Worte sie, von Moschus ganz durchtränkt:
„Mein Mund ist rot und feucht, und auf des Lagers Kissen
Kann alle Tugend ich und alle Weisheit missen.
Les deux bonnes sceurs
La Debauche et la Mort sont deux aimables filles,
Prodigues de baisers et riches de sante\
Dont Je flaue toujours vierge et drape' de guenilles
bous 1 eternel labeur n'a jamais enfantd.
Au poete sinistre, ennemi des familles,
Favori de l'enfer, courtisan mal rente\ '
Tombeaux et lupanars montrent sous leurs charmilles
Un lit que le remords n'a jamais frequenti.
Et la biere et Palcdve en blasphemes fecondes
Nous offrent tour a tour, comme deux bonnes sceurs,
De terribles plaisirs et d'affreuses douceurs.
Quand veux-tu m'enterrer, Debauche aux bras immondes?
O Mort, quand viendras-tu, sa rivale en attraits,
Sur ses myrtes infects enter tes noirs cypres?
5 ) Terese Robinson, S. 248 („Les Fleurs du Mal", S. 390).
82
Die Tränen trockne ich auf meines Busens Pracht,
Mach' Alte fröhlich, wie man Kinder lachen macht.
Wer ohne Hüllen schaut des nackten Leibes Wonnen,
Dem ist der Mond verlöscht und Himmelswelt und Sonnen!
Ich bin, mein Weiser, so geübt in Wollustglut,
Daß tödlich fast dem Mann wird der Umarmung Wut,
Und wenn ich meinen Leib den Küssen überlassen,
Die frech und schüchtern mich und zart und roh erfassen,
Dann über meinem Pfühl, der sich vor Wonne bäumt,
Ohnmächtiger Engel Schar von meinen Reizen träumt."
Les Metamorphoses du Vampire
La femme cependant de sa bouche de fraise,
En se tordant ainsi qu'un serpent sur la braise,
Et petrissant ses seins sur le fer de son busc,
Laissait couler ces mots tout impregnö de musc:
« Moi, j'ai la levre humide, et je saxs la science
De perdre au fond d'un lit Pantique conscience.
Je seche tous les pleurs sur mes seins triomphants
Et fais rire les vieux du rire des enfants.
Je remplace, pour qui me voit nue et sans volles,
La lune, le soleil, le ciel et les etoiles!
Je suis, mon eher savant, si docte aux voluptes,
Lorsque j'etouffe un homme en mes bras veloutes,
Ou lorsque j'abandonne aux morsures mon buste,
Timide et libertine, et fragile et robuste,
Que sur ces matelas qui se päment d'emoi
Les Anges impuissants se damneraient pour moi!»
Ouand eile eut de mes os suce toute la moelle,
Et que languissamment je me tournai vers eile
Pour lui rendre un baiser d'amour, je ne vis plus
Ou'une outre aux flancs gluants, toute pleme de pus!
Je fermai les deux yeux dans ma froide epouvante,
Et, quand je les rouvris ä la clarte vivante,
A mes cotis, au lieu du mannequin puissant
Oui semblait avoir fait provision de sang,
Tremblaient confusement des d6bris de squelette,
Qui d'eux-mSmes rendaient le cri d'une girouette
Ou d'une enseigne, au bout d'une tnngle de ter,
Que balance le vent pendant les nuits d hiver.
83
Nachdem aus dem Gebein sie mir das Mark gesogen,
Dreht' ich mich matt zu ihr, von Liebe hingezogen,
Um sie zu küssen, doch nichts hat mein Aug' entdeckt,
Als einen leeren Schlauch, besudelt und befleckt!
Ich schloß die Augen schnell, gepackt von kaltem Grauen,
Und öffnete sie dann, beim hellen Licht zu schauen
An jener Puppe Statt, die neben mir geruht,
Und die zu strotzen schien von Leben, Kraft und Blut,
Ein zitterndes Skelett, verwirrter Knochen Trümmer,
Daraus ein Stöhnen klang wie Wetterhahns Gewimmer,
Wie eines Schildes Schrei, das in den Angeln kracht,
Wenn es der Windstoß dreht in stürmischer Winternacht.
Aus allen diesen Gedichten spricht das gleiche Sehnen
und man fühlt, wie der Dichter, auf der Suche nach seiner
großen Wollust, immer tiefer in einen grauenerregenden Ab-
grund, den Tod, hinabstürzt. In diesem Zusammenhange
möchten wir den Leser auf die Erotisierung der Angst und
des Grauens 30 ) aufmerksam machen, die an die Stelle des
normalen Orgasmus treten können. Jeder Weg, ob über Gott
oder über den Teufel, ist gut genug, um zu den Ekstasen zu
führen, welche das Ziel einer ungeregelten Sexualität ge-
worden sind, einer Sexualität, die nichts von Heim, Familie
und Kind weiß. Das Leiden wird hier zu einer Religion, die
Mutter zu einem Vampir:
Segen 37
Wenn nach den allerhöchsten Urteilssprüchen
Der dichter auf die trübe erde steigt
So schaudert seine mutter und mit fluchen
Bedroht sie Gott der selber mitleid zeigt:
3B ) Siehe R. Laforgue: „Über die Erotisierung der Angst" in
„Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse", Bd. XVI, 1930.
") Stefan George, S. 9 („Lei Fleurs du Mal", S. 101).
Benediction.
Lorsque, par un decret des puissanecs supremes,
Le Poete apparait en ce monde ennuye\
Sa mere epouvantee et pleine de blasphemes
Crispe ses poings vers Dieu, qui la prend en pitiö:
84
.
— Ach! was gebar ich nicht ein nest von schlangen
Eh ich ernährte solch ein zwitterding!
Verwünscht die macht mit flüchtigem verlangen
In der mein leib die sühne mit empfing!
Was hast du mich erwählt aus allen frauen
Dem blöden mann der vor mir abscheu hat.
Weshalb kann ich den flammen nicht vertrauen
Die mißgeburt wie ein verfänglich blatt?
Den haß der mich erdrückt will drum ich lenken
Aufs grause Werkzeug deiner schadensucht.
So gut will diesen schlechten stamm ich renken
Daß nie er zeitigt die verseuchte frucht. —
So würgt sie nieder ihres grolles eiter
Mit keiner ahnung von des himmels rat
Und türmt sich in der hölle selbst die scheiter.
Den lohn für mütterliche greuelthat.
« Ah! que n'ai-je mis bas tout un nceud de viperes,
Plutot que de nourrir cette d£rision!
Maudite soit la nuit aux plaisirs ephemeres
Ou mon ventre a coneu mon expiation!
« Puisque tu m'as choisie entre toutes les femmes
Pour etre le degoüt de mon triste mari,
Et que je ne puis pas rejeter dans les flammes,
Comme un billet d'amour, ce monstre rabougri,
« Je ferai rejaillir ta haine qui m'accable
Sur l'instrument maudit de tes m^chancetis,
Et je tordrai si bien cet arbre miserable,
Qu'il ne pourra pousser ses boutons empestes!»
Elle ravale ainsi l'ecume de sa haine,
Et, ne comprenant pas les desseins £ternels,
Ellc-memc prepare au fond de la Gehenne
Les büchers consacr£s aux crimes maternels.
Pourtant, sous la tutelle invisible d'un Ange,
L'Enfant d£sh£rite s'enivre de soleil,
Et dans tout ce qu'il boit et dans tout ce qu'il mange
Retrouve l'ambroisie et le neetar vermeil.
85
Doch unter eines engeis sicherm schütze
Haucht der enterbte froh im Sonnenschein
Und was er ißt und trinkt ist ihm zu nutze
Wie götterbrot und roter götterwein.
Er spielt mit winden, spricht mit wolkenflügen.
Berauscht sich an der kreuzweg-lieder laut.
Der geist. sein führer auf den pilgerzügen.
"Weint da er ihn so frisch und heiter schaut.
Die er zu lieben brennt vor ihm erschrecken.
Und andre die sein friede kühn gemacht
Versuchen eifrig klagen ihm zu wecken
Erprobend was die roheit ausgedacht.
In wein und brot eh er zum mund es führte
Vermischten eklen Speichel sie und ruß.
Sie werfen heuchelnd weg was er er berührte
Und fluchen, ging durch seine bahn ihr fuß.
II joue avec le vent, cause avec le nuage
Et s'enivre en chantant du chemin de la croix;
Et l'Esprit qui le suit dans son pelerinage
Pleure de le voir gai comme un oiseau des bois.
Tous ceux qu'il veut aimer l'observcnt avec crainte,
Ou bien, s'enhardissant de sa tranquillitc,
Cherchent ä qui saura lui tirer une plainte,
Et fönt sur lui l'essai de leur ferocite.
Dans le pain et le vin destin^s a sa bouche
II« melent de la cendre avec d'impurs crachats;
Avec hypoerisie ils jettent ce qu'il touche,
Et s'aecusent d'avoir mis leurs pieds dans ses pas.
Sa femme va criant sur les places publiques:
« Puisqu'il me trouve assez belle pour m'adorer,
Je ferai le metier des idoles antiques,
Et comme elles je veux me faire redorer;
« Et je me soülerai de nard, d'encens, de myrrhe,
De genuflexions, de viandes et de vins,
Pour savoir si je puis dans un coeur qui m'admire
Usurper en riant les hommages divins!
86
Sein weib schreit auf dem öffentlichen platze.
— Da er mich liebenswert erklärt und hold
Treib ich das handwerk einer götterf ratze:
Stets laß ich schmücken mich mit frischem gold.
Betrinken will ich mich an Weihrauch mirren.
An kniefall tief im staub, an fleisch und wein.
Im sinn den meine reizungen verwirren
Nehm ich mit lachen Gottes stelle ein.
Und macht mir diese lästerposse mühe
So faßt mein starker schwacher arm ihn an
Und meine nägel. nägel der harpye.
Verfolgen bis zu seinem herz die bahn.
— Dem jungen vogel gleich der zuckt und schüttert
Dies herz ganz rot reiß ich aus seiner brüst.
Auf daß mein liebling-tier sich daran füttert
Werf ich zu boden es mit kalter lust.
« Et, quand je m'ennuirai de ces farces impies,
Je poserai sur lui ma freie et forte main;
Et mes ongles, pareils aux ongles des Harpies,
Sauront jusqu'ä son coeur se frayer un chemin.
« Comme un tout jeune oiseau qui tremble et qui palpite
J'arracherai ce cceur tout rouge de son sein,
Et, pour rassasier ma bete favorite,
Je le lui jetterai par terre avec dedain! »
Vers le Ciel, oü son ceil voit un tröne splendide,
Le Poete serein leve ses bras pieux,
Et les vastes eclairs de son esprit lucide
Lui derobent l'aspect des peuples furieux:
« Soyez beni, mon Dieu, qui donnez la souffrance
Comme un divin remede ä nos impuretes,
Et comme la meilleure et la plus pureessence
Qui prepare les forts aux saintes voluptes!
« Je sais que vous gardez une place au Poete
Dans les rangs bienheureux des saintes Legions,
Et que vous l'invitcz ä l'eternelle fete
Des Trones, des Vertus, des Dominations.
87
Am trimme] strahlen reiche königsitze.
Der dichter heiter hebt den frommen arm
Und seines lichten geistes weite blitze
Verhüllen ihm der Völker wilden schwärm.
— Preis dir o Gott der uns zur drangsal leitet.
Uns die wir unrein sind zum heilungs-fluß.
Zum klaren filter der uns vorbereitet.
Die starken auf den heiligen genuß!
Ich weiß: der dichter hat der sitze besten
Mit seliger legionen schar gemein.
Ich weiß du lädst ihn zu den ewigen festen
Der kräfte mächte und der thronen ein.
Ich weiß: vom adel ist der schmerz der echte
Den erde nie und hölle niederwarf
Und daß wenn ich mein göttlich Stirnband flechte
Ich aller weitenkreise zins bedarf.
Doch schätze lang verschütteter palmyren
Verborgen gold und perlen in dem meer
Von dir emporgeholt dürft ich nicht küren
Zu dieser kröne sonnenhell und hehr.
Denn sie wird nur geprägt aus reinem lichte
Das ich vom heiigen strahlenherd erlas
Dem aller glänz der menschlichen gesichte
Nichts ist als armes trübes Spiegelglas. —
« Je sais que la douleur est la noblesse unique
Oü ne mordront jamais la terre et les enfers,
Et qu'il faut pour tresser ma couronne mystique
Imposcr tous les temps et tous les univers.
« Mais les bijoux perdus de l'antique Palmyre,
Les mitaux inconnus, les perles de la mer,
Par votre main montis, nc pourraient pas suffire
A ce beau diademe dblouissant et clair;
« Car il ne sera fait que de pure lumiere,
Puis6e au foyer Saint des rayons primitifs,
Et dont les yeux mortels, dans leur splendeur entiere,
Ne sont que des miroirs obscurcis et plaintifs! »
88
Die Gedichte Baudelaires deuten und verherrlichen die
Gefühle, die der Dichter für seine Mutter hegte und für seinen
verstorbenen, in die Ewigkeit eingegangenen Vater, dessen
Bild über seinem Schreibtisch hing.
Es liegt nicht in unserer Absicht, hier noch näher auf
die Analyse dieser Gedichte einzugehen. Nach dem Gesagten
wird es dem Leser nicht schwer fallen, sie mit Baudelaires
Leben und Leiden in Zusammenhang zu bringen. Im Lichte
der Psychoanalyse gesehen erhalten sie dann einen erstaun-
lich deutlichen und menschlichen Sinn.
89
7. Kapitel.
Die Briefe Baudelaires").
In diesem Kapitel möchten wir nun einige besonders
bezeichnende Stellen aus den Briefen Baudelaires an seine
Mutter zitieren. Man wird aus ihnen entnehmen können, wie
er selbst seine Konflikte sieht und wie er sich über sich selbst
täuscht. Wir geben ihm das Wort:
„Ich lasse alles das bei Seite, und will mich wieder meinen
Träumereien hingeben . . Wer weiß, ob ich Dir noch einmal meine
Seele, die Du nie gewürdigt noch gekannt hast,
erschließen kann.
Dann kam die Place Saint-Andre" des Arts und Neuilly.
Lange Spaziergänge, Zärtlichkeiten ohne Ende. Ich erinnere mich
an Quais, die am Abend so traurig waren. Ach, das war für mich
die Zeit, in der Du Mutter gut und zärtlich zu mir warst. Verzeihe
mir, wenn ich jene Zeit, die für Dich wohl schwer gewesen ist,
eine gute Zeit nenne. Aber damals war ich immer in Dir leben-
dig; Du gehörtest mir allein, Du warst mein Idol und zu gleicher
Zeit meine Kameradin. Du wirst darüber vielleicht erstaunt sein,
daß sich im Augenblick das Vergangene so lebhaft in meinem
Geiste malt; es geschieht vielleicht, weil ich wieder einmal den Tod
herbeiwünsche.
Du weißt, was für eine scheußliche Erziehung Dein Gatte mir
angedeihen lassen wollte; ich bin jetzt vierzigjährig, aber ich denke
nicht ohne Schmerz an die Schuljahre zurück, noch an die Furcht,
die mir mein Stiefvater einflößte. Ich habe ihn zwar lieb gehabt
und bin übrigens heute vernünftig genug, um ihm Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen. Aber man muß schließlich zugeben, daß er
38 ) Charles Baudelaire: „Lettres inedites d sa mere", preface
et natfS de Jacques CrSper, Louis Conard, Paris 19 1 8. (Unver-
on-enthehe Briefe an seine Mutter.)
90
sich in seine Ungeschicklichkeit versteifte. Ich will rasch darüber
hinweggleiten, denn ich sehe Tränen in Deinen Augen.
Schließlich bin ich ausgerissen und von da an völlig verlassen
gewesen. Ich habe einzig nur an immerwährender Aufreizung Lust
gehabt: ich liebte Reisen, kostbare Möbel, Gemälde, Dirnen ... Ich
trage heute schwer an den Folgen. Über die Bevormundung habe
ich nur ein Wort zu verlieren: ich verstehe heute den ungeheuren
Wert des Geldes, und die Wichtigkeit aller mit ihm in Beziehung
stehenden Dinge; ich begreife, daß Du geschickt zu handeln glaub-
test und zu meinem Nutzen, aber Du mußt mir dennoch eine Frage
beantworten, eine Frage, die mich beständig verfolgt. Wie kommt
es, daß der Gedanke Dir nie in den Sinn gekommen ist: „Es ist
möglich, daß mein Sohn nie im gleichen Maße wie ich wissen wird,
wie man sich zu benehmen hat; aber es wäre immerhin möglich,
daß er in anderer Hinsicht ein bedeutender Mann wird. Was werde
ich in einem solchen Falle tun? Werde ich ihn zu einem sich selbst
widersprechenden Doppelleben verurteilen, zu einer ehrenhaften
Existenz einerseits, zu einer verhaßten und verachteten anderseits?
Werde ich ihn dazu verurteilen, bis ins Alter ein so bedauerliches
Zeichen an sich zu tragen, ein Mal, das ihm nur schaden kann
und Unvermögen und Traurigkeit verursacht?" Wäre diese Vor-
mundschaft nicht über mich verhängt worden, ich hätte gewiß
alles Geld verausgabt, und wohl oder übel an der Arbeit Geschmack
finden müssen. Die Vormundschaft wurde eingesetzt, und trotz-
dem ist alles Geld aufgezehrt, und ich bin alt
und unglücklich.
Kann man zu seiner Jugend wieder zurück? Darauf zielt die
ganze Frage hin. Dieser Rückblick auf die Vergangenheit hat
keinen andern Zweck als den, zu zeigen, daß ich einige Entschul-
digungen vorbringen kann, wenn nicht eine völlige Rechtfertigung.
Fühlst Du aus dem, was ich Dir schreibe, Vorwürfe heraus so
sage Dir, daß diese doch nicht meine Bewunderung für Dein großes
Herz zu ändern vermögen, noch meine Dankbarkeit für Deine
Hingebung schwächen. Du hast Dich immer geopfert. Du bist dem
Geist der Aufopferung verfallen gewesen. Du handelst weniger aus
Vernunft als aus Barmherzigkeit. Ich verlange aber von Dir mehr,
ich verlange von Dir Rat und Unterstützung und restloses Einver-
ständnis zwischen uns beiden, Du mußt mir aus der Not helfen. Ich
flehe Dich an, komm, komm zu mir, ich bin mit meiner Nerven-
kraft, ich bin mit meinem Mut, meiner Hoffnung zu Ende. Ich
sehe Greuel und wieder Greuel. Ich sehe, daß meine literarische
91
Laufbahn für immer erledigt ist. Ich sehe mich vor einer Kata-
strophe. Du kannst doch Deine Freunde bitten, daß sie Dich für
acht Tage als Gast aufnehmen, Ancelle zum Beispiel. Ich weiß
nicht, was ich dafür gäbe, Dich zu sehen, Dich zu umarmen. Ich
sehe eine Katastrophe voraus, und kann Dich jetzt nicht aufsuchen.
Paris bekommt mir nicht. Schon zwei Mal habe ich eine schwere
Unvorsichtigkeit begangen, für die Du eine schärfere Bezeichnung
finden würdest. Ich werde schließlich noch den Kopf verlieren."
Einige Zeilen später:
„Es befinden sich unter meinen gegenwärtigen Angelegenheiten
einige schrecklich eilige Dinge. So habe ich neuerdings
denFe hl erbegangen, beidiesenunvermeidlichen
Manipulationen auf der Bank für meine persön-
lichen Schulden mehrere hundert Franken zu
entwenden, die mir nieiht gehörten. Ich war förm-
lich dazu gezwungen. Natürlich glaubte ich, das Übel sofort
wieder gut machen zu können. Ein Jemand in London verweigerte
mir nun die vierhundert Franken, die er mir schuldet. Ein anderer,
der mir ebenfalls dreihundert Franken schuldig ist, befindet sich auf
Reisen. Überall Unvorhergesehenes. Ich habe Jicute den außer-
ordentlichen Mut gehabt, der an der Sache interessierten Per-
son mein Vergehen einzugestehen. Was wird geschehen? Ich habe
keine Ahnung. Aber ich wollte mein Gewissen entlasten. Ich hoffe,
daß man mit Rücksicht auf meinen Namen und mein Talent keinen
Skandal machen und zuwarten wird."
Einige Absätze weiter unten lesen wir:
„Ich bin allein, ohne Freunde, ohne Mätressen, ohne Hund
und Katze, bei wem soll ich mich beklagen? Ich habe nur das Bild
meines Vaters, das immer stumm bleibt."
Wir führen hier auch einige Stellen an, in denen er sein
seelisches und physisches Elend schildert, sowie die Sorgen,
welche ihm Jeanne Dural bereitete:
„Ich bitte Sie mit gefalteten Händen, so sehr fühle
ich, daß ich an der Grenze der Geduld, und zwar nicht nur der,
welche die andern für mich aufbringen, sondern auch meiner eige-
nen bin, schicken Sie mir, und wenn es Sie auch tausend
Mühen kosten sollte, ja selbst, wenn Sie auch
nicht an die wirkliche Notwendigkeit dieses
letzten Dienstes glauben, schicken Siemirnicht
9 2
bloß die in Frage kommende Summe, sondern
außerdem einen Betrag, von dem ich drei Wo-
chen lang leben könnte. Sie werden die Sache erledigen,
wie Sie es für gut halten. Ich glaube so fest an die Macht meines
Willens, und daran, daß Zeit verwendbar ist, daß ich positiv
sicher bin, meine Intelligenz zu retten, wenn ich
2 oder 3 Wochen lang ein regelmäßiges Leben führen könnte.
Dies ist ein letzter Versuch, ein Glücksspiel. Wagen Sie
es, liebe Mutter, auf das Unbekannte zu setzen, ich bitte Sie
darum! Sie verlangen eine Erklärung für diese zehn letzten Jahre,
die ausschließlich seltsam und unheilvoll gewesen wären, wenn ich
nicht über eine geistige und körperliche Gesundheit, die nichts
töten konnte, verfügt hätte - sie ist sehr einfach: ich war leicht-
sinnig, ich verschob notwendigerweise vernünftigste Pläne auf den
folgenden Tag, daraus entstand Elend und immer wieder Elend.
Wollen Sie ein Beispiel dafür? Es ist vorgekommen, daß ich drei
Tage hintereinander im Bette blieb, manchmal aus Mangel an
Wäsche, manchmal aus Mangel an Holz. Aufrichtig gesprochen,
Opiumtinktur und Wein sind schlechte Mittel gegen Kummer. Ja
selbst zum Verkommen braucht man Geld. Als Sie das letzte Mal
so gütig waren, mir 15 Francs zu geben, hatte ich seit 2 Tagen
seit 48 Stunden, nichts gegessen. Daß ich wach blieb, verdanke ich
dem Branntwein, den man mir geschenkt hatte, mix, der ach die
Liköre verabscheue und dem sie den Magen verderben. Niemals
sollten Geständnisse wie dieses — das für mich ist oder für Sie —
einem lebenden Menschen oder der Nachwelt bekannt werden.
Denn ich glaube immer noch fest daran, daß die Nachwelt mit
mir zu tun haben wird! Man sollte es nicht für möglich halten,
daß ein vernünftiges und von einer guten und zärtlichen Mutter
geborenes Wesen so tief sinken konnte... nie wagte ich es, mich
so laut zu beklagen. Ich hoffe, daß Sie so gütig sein werden, diese
Erregung meinen Ihnen unbekannten L e 1 d en zuzu-
schreiben. Der völlige Müßiggang, Kennzeichen meines sichtbaren
Lebens, und die ewige Ruhelosigkeit meiner Gedanken, die zu ihm
in so schroffem Gegensatze steht, versetzen mich in unerhörte Aut-
reeung. Ich leide zu sehr, um diesem Zustande nicht zum letzten
Mal ein Ende machen zu wollen. Dieses Wort ist, wie mir
scheint, schon mehrmals wiedergekehrt."
Im folgenden, an einen Freund gerichteten Brief, denkt
Baudelaire daran ins Ausland zu gehen:
93
„Ich werde dort eine leicht auszufüllende Stellung finden,
eine schöne Besoldung für ein Land, in dem es sich leicht leben
läßt, wenn man einmal untergebracht ist, und den Welt-
schmerz, den gräßlichen Weltschmerz und die
geistige Entkräftung der heißen und blauen
Länder. Aber ich werde es als Strafe und Sühne für meinen
Stolz tun, wenn ich meine letzten Entschlüsse nicht zu halten
vermag.
Ich bin gezwungen, nachts zu arbeiten, um Ruhe zu haben
und den unerträglichen Stänkereien der Frau, mit der ich zusam-
menlebe, auszuweichen. Manchmal fliehe ich aus dem Hause, um
schreiben zu können, und ich gehe in die Bibliothek oder in ein
Lesezimmer, in eine Pintc, oder ein Kaffeehaus, wie zum Beispiel
heute. Jeanne ist nicht nur für mein Glück ein Hindernis gewor-
den — dies wäre von geringer Bedeutung, denn auch ich kann
meine Vergnügungen opfern, ich habe es Dir bewiesen — sie hat
auch die Vervollkommnung meines Geistes verhindert. Die Erfah-
rungen der letztem neun Monate sind entscheidend für mich.
Nie wird es mir unter solchen Umständen gelingen, die
großen Verpflichtungen verwirklichen zu können, die ich zu er-
füllen habe, die Bezahlung meiner Schulden, Eroberung meiner
Glücksansprüche, berühmt zu werden, die Schmerzen zu lindern,
die ich Dir bereitet habe. Früher besaß sie einige
gute Eigenschaften, aber seither hat sie diese verloren;
ich hingegen habe an Einsicht gewonnen. Mit einem Wesen zu
leben, das einem für sein Streben keinen Dank weiß, das durch
seine beständige Ungeschicklichkeit oder Bosheit zum Hindernis
wird, das einen als seinen Dienstboten und sein Eigentum betrachtet,
mit dem es unmöglich ist, ein politisches oder literarisches Gespräch
zu führen, mit einem Geschöpf zu leben, das auch dann nichts
lernen will, wenn man ihm vorgeschlagen hat, ihm selber die
Stunden zu erteilen, das mir keine Bewunderung zollt
und sich nicht einmal für meine Studien interessiert, und das meine
Manuskripte ins Feuer werfen würde, wenn ihm das mehr Geld
einbrächte als ihre Veröffentlichung, das meine Katze, meinen ein-
zigen Zeitvertreib, aus dem Hause jagt und dafür Hunde ins Haus
nimmt, obwohl es weiß, daß mir Hunde zuwider sind, und das
nicht weiß oder nicht verstehen will, daß ein Monat äußerst
sparsamer Lebensführung, da ich augenblicklich ausge-
rastet bin, es mir möglich machen würde, ein dickes Buch zu voll-
enden, — kurzum, kann man das aushalten, ist das möglich? Ich
94
habe Tränen der Scham und der Wut in den Augen, während ich
Dir das schreibe; im Grunde genommen bin ich froh, daß ich
keine Waffe zu Hause habe. Ich denke daran, daß ein Fall ein-
treten kann, in dem es mir unmöglich ist, klare Vernunft zu
bewahren, und denke auch an jene schreckliche Nacht, in der
ich sie mit einer Konsole am Kopf verwundet
habe. Ja, dies alles habe ich da gefunden, wo ich vor
10 Jahren Linderung und Ruhe zu finden glaubte. Etwas muß
geschehen. Schon seit vier Monaten denke ich daran. Aber
was soll ich tun? Eine gräßliche Eitelkeit war immer
stärker als meine Leiden: ich wollte diese Frau nicht sich
selbst überlassen, ohne ihr eine entsprechende Summe zu geben.
Aber wo sollte ich diese Summe hernehmen? Das Geld, das ich
verdiente, ging täglich drauf, man hätte es aufsparen müssen, und
meine Mutter, der ich nicht zu schreiben wagte, der ich nichts
Gutes anzukünden hatte, war außerstande, mir diese Summe zu
geben, da sie sie selber nicht besaß. Du siehst, ich habe mir alles
gut überlegt. Und doch muß ich fort von hier. Aber fort für
immer... Ich habe zehn Jahre meines Lebens mit diesem Kampf
vergeudet. Alle Illusionen meiner Jugend sind verschwunden. Nichts
ist mir geblieben als eine vielleicht ewig dauernde Bitterkeit.
Was ich empfinde, ist unendliche Entmutigung, das uner-
trägliche Gefühl, einsam zu sein, eine ständige Angst vor irgend-
einem Unglück, ein völliger Mangel an Selbstvertrauen, gänzliche
Wunschlosigkeit, das trostlose Gefühl, unmöglich an irgendetwas
Vergnügen zu finden. Ich frage mich unaufhörlich: Wozu ist
dieses gut? Wozu ist jenes gut? Dies ist der wahre Spleen. Dazu
kommt die ewige Verzweiflung über meine Armut, über die
Schwierigkeiten, die durch meine alten Schulden verursacht werden,
Schwierigkeiten, die mich auch zwingen, meine Arbeit zu unter-
brechen ... der beleidigende, ekelhafte Gegensatz zwischen meiner
geistigen Ehrenhaftigkeit und diesem unbeständigen und elenden
Leben, und schließlich kommen dazu, um alles zu sagen, jene seit
einem Monate andauernden seltsamen Erstickungsanfälle, Magen-
und Darmstörungen. Was immer ich esse, ruft bei mir Beklem-
mungen und Durchfall hervor. Alles, was ich esse, nimmt mir den
Atem und verursacht Leibschmerzen. Wenn es wahr ist, daß das Gei-
stige das Physische zu heilen vermag, so kann mich eine intensive be-
ständige Arbeit heilen; da ich aber nur mit einem geschwächten
Willen wollen kann — circulus vitiosus!
95
Wenn Du wüßest, was für Gedanken ich in mir nähre: die
Angst zu sterben, bevor ich vollbracht habe, was ich zu tun habe; die
Angst, Du könntest sterben, bevor ich Dich glücklich gemacht habe,
Du, einziges Wesen mit dem ich in Frieden leben kann, ohne List,
ohne Lüge; das Entsetzen vor der Vormundschaft (das Wort muß
gesagt werden), das mich Tag und Nacht quälend verfolgt; und
schließlich, was vielleicht trauriger ist als alles übrige, die Angst,
davor, daß ich mich nie von meinen Lastern werde befreien können.
Dies sind meine ständigen Gedanken. Und wenn ich am Morgen,
allen diesen traurigen Wirklichkeiten gegenüber erwache: mein
Name meine Armut, usw.!
Es wäre sinnlos, sich vor Dir zu schämen. Du weißt, daß ich
sehr jung eine unselige Krankheit hatte, von der ich später glaubte,
sie sei vollständig geheilt. In Dijon brach sie nach dem Jahre 1848
neuerdings aus. Sie wurde nochmals vorübergehend geheilt. Jetzt
ist sie wieder da . . . Vielleicht hält das Entsetzen, in das ich durch
meine Traurigkeit geraten bin, die Krankheit für ärger als sie
ist. Ich habe eine strenge Lebensweise nötig, aber in dem Leben, das
ich führe, werde ich mich kaum einer solchen Kur unterziehen
können."
9«
8. Kapitel.
Die sexuelle Hemmung.
Unter den bei Baudelaire manifest auftretenden Sym-
ptomen befindet sich eines, das man bei ihm vielleicht nicht er-
wartet hätte, es sei denn, man verfüge über die Erfahrung des
Psychoanalytikers: wir meinen die sexuelle Hemmung. Nir-
gends finden wir in seinen Schriften darüber genauere Auf-
zeichnungen, ausgenommen vielleicht an den seltenen Stellen,
wo er sich über die Kunst äußert, „die am f . . . r hindert"
oder in seinen intimeren „Gedanken", in denen er erklärt,
daß man „zum ßeischlafe aus sich herausgehen müsse, ein
wirklicher Künstler sei dazu aber unfähig". Porche* schreibt
über dieses Thema folgendes:
„Auf jeden Fall steht fest, daß der Hang zum Sonderbaren
in der Wahl des Jünglings den Sieg über die elementarste Vorsicht
davontrug. Was suchte er, schon damals, in gewissen Erniedrigun-
gen? Den herben Geschmack der Sünde? Vielleicht. Vergessen
wir nicht, daß er eine religiöse Erziehung genossen hatte; seine
Mutter war fromm und auch der General ging in die Messe. Ich
will damit nicht behaupten, daß die Frömmler die schlimm-
sten Wüstlinge seien, aber es muß doch betont werden, daß
Glaube und Sittlichkeit zwei verschiedene Dinge sind. Gewiß sind
Glaube und sittliche Haltung des öftern miteinander eng verbun-
den, insoweit, als jener diese stützt, bestärkt, aber anderseits habe
ich genug .Gläubige' und Ungläubige genau kennengelernt, um mich
vergewissern zu können, daß die aufrichtige Religion und diepeinüch
genaue Beobachtung der Gebote und Zeremonien nicht immer mit
der Tugend einhergehen, so wie die Tugend ebenso gut außerhalb
der Religion existieren kann. Ja mehr noch, ich kenne manche
ausübende Katholiken, denen die Verwechslung des Glaubens mit
der Sittlichkeit oder die auf Kosten der Glaubensfrage erfolgte
7 97
Betonung der sittlichen Gebote als eine Hcresic erscheint, als der
Irrtum, der dem Protestantismus zu Grunde liegt. Ich bin selber
Katholik und glaube, daß meinen Brüdern nichts antipathischer
ist, als der tugendhafte Mann, der keine Religion besitzt und den
man einen ,weltlichen Heiligen' zu nennen pflegt. Ich glaube fast,
daß sie ihm die verworfenste Kreatur vorziehen, vorausgesetzt,
daß sie auf den Knien ihre Sünde bereut. Nichts ist übrigens logi-
scher. Sich vor Gott anklagen, bedeutet immer noch, seinen
Glauben an ihn bekennen; seine Irrungen für Sünden zu halten,
schließt eine Huldigung in sich, die dem obersten Richter gilt,
bei dem man Vergebung der Sünden zu finden hofft. Jeder Fehl-
tritt liefert dem Sünder eine neue Gelegenheit, seine Schwäche ein-
zugestehen, die Schwäche der Söhne Adams, und sich vor dem
Herrn zu demütigen. Aber hat man der Schwäche und der Unrein-
heit diese Wichtigkeit eines unauslöschlichen Gezeichnctseins, diese
unvergleichliche kanonische, jenseits der Moral liegende Bedeutung
zugestanden, liegt dann nicht die Gefahr vor, daß gewisse kom-
plexe Naturen es soweit treiben, daß sie ihre Laster züchten, ja
beinahe verehren? In Rußland, bei den Orthodoxen, ist eine solche
Venrrung des christlichen Gefühls nicht selten: aus ihr erklärt
sich Rasputin.
War Baudelaire verdorben? Mit 20 Jahren ist man es nur
äußerlich, aus Prahlerei. Allerdings, eine gewisse herausfordernde
Großsprecherei verließ ihn nie, ja war ihm sogar als Kind schon
eigen. Aber ich glaube, daß dieser Zyniker in sexu-
eller Beziehung ein schüchternes Kind war, das
sich nur mit Kreaturen der niedrigsten Sorte
im vollen Besitz seiner Potenz fühlte 38 ."
Wir kennen auch eine sehr charakteristische Anekdote
über Baudelaires Liebesbeziehungen: Jahrelang hatte der
Dichter Gedichte und anonyme Briefe einer „Dame" ge-
schickt, der „Präsidentin", Madame Sabaticr, die er als
seine Königin auf das Piedestal der vergötterten Frau er-
hob, zu der man in seiner Demut, unbekannt und verachtet
wie man ist, kaum den Blick zu heben vermag. Aber die
Umstände wollten, daß die Dame selber aus ihrer Rolle fiel
39 ) Frangois Porche\ La Vie douloureuse de Charles Baudelaire,
S. 37 (Deutsche Ausgabe, S. 42).
98
und sich nach greifbaren Wirklichkeiten sehnte, die in Besitz
zu nehmen, Baudelaire nie die Initiative ergriffen hätte.
Lesen wir aufmerksam die Schilderung dieser Geschichte
durch, die wir bei Porche finden:
Der Erfolg der „Blumen des Bösen" hatte ebenfalls dazu
beigetragen, die lebhaft interessierte Aufmerksamkeit der „Präsi-
dentin" auf Baudelaire zu lenken. Sie sah nun den seltsamen, bis
jetzt ziemlich unbeachteten Anbeter, dessen Anonymat sie, wie wir
wohl annehmen dürfen, schon längst durchschaut hatte, mit ganz
andern Augen an.
Madame Sabatier hatte eine jüngere Schwester, die, als sie
eines Abends mit Baudelaire zusammentraf, ihm herzlich ins Ge-
sicht laohte: „Sind Sie immer noch in meine Schwester verliebt
und schreiben Sie ihr immer noch so herrliche Liebesbriefe?" Der
Dichter begann zu verstehen, daß sein Geheimnis zum Tages-
gespräch der Rue Frochot geworden war. Aber hatte er im Ernst
erwartet, daß die Verse, welche er seinen Zeilen zum Begleit mit-
gab, ihn nicht schnell kenntlich machen würden? Und wurden sie
dies nicht erreicht haben, hätte er sich nicht als erster davon
betroffen gefühlt? , • ' „
Kurzum, das Geheimnis nahm ein Ende und Aglae" war es,
die kühn und ohne Umsehweife den entscheidenden Schritt tat.
Wir wissen, daß ihr Zweideutigkeiten nicht unlieb waren und
Baudelaire wurde eben wegen Verletzung der guten Sitten ver-
urteilt. Wie verlockend! Überdies ließen die „Blumen des Bösen
diese leichtlebige Frau prickelnde Verwicklungen der Sinnlichkeit,
ja eine ganze fleischliche Kasuistik vorausahnen.
Der Prozeß fand am 20. August statt und am 30. gab sie sich
ihm hin. Sic gab sich wohl hin, aber . . . die Schätze,
welche sie anbot, diese berühmten „schwarzen und rosigen
Dinge" hat man, wie ich vermute, nicht angenommen oder nicht
anzunehmen gewußt noch nehmen können. Kurz, ich glaube, daß das
Abenteuer zu denen gehört, welche Stendhal ins Kapitel der
Fiaskos eingereiht hätte. Die Enttäuschung ist beiderseits eine voll-
kommene. Die Schwierigkeit mußte, nachdem man sich zu weit ein-
gelassen hatte, darin bestehen, sich mit einer gewissen Ritterlichkeit
zurückzuziehen. Die vom 31. August an zwischen dem Idol von
gestern und seinem ohnmächtigen Anbeter gewechselten Briefe zeigen
*°) Die Präsidentin.
7. 99
das Bild dieses stufenweisen Rückzugs: so überstürzt als möglich
von Seiten Baudelaires, den man der Panik nahe fühlt, langsamer
von Seiten der gekränkten Schönheit, der es schwer fällt, zuzu-
geben, daß sie ganz und gar das Feld räumen muß, ohne Huldi-
gungen eingeheimst zu haben.
Der Dichter gesteht, daß ihm der Glaube fehlt. Wir müssen
verstehen, was das besagen will. „Vor einigen Tagen, seufzt er,
warst Du eine Gottheit, was so bequem, so unverletzlich ist. Jetzt
bist Du eine Frau geworden." Andere hätten sich über die Wand-
lung gefreut. Aber wie kann man, wenn man für die Magerkeit
und die „braunen Körper" (ja für ein bis ins Schwarze stechen-
des Braun) einen so ausschließlichen und eingefleischten Hang hat,
sich in die Lage versetzen, eine mollige Blonde mit andern Rhyth-
men als denen der Verse ehren zu müssen! Oder aber es galt,
nachdem man einmal aius dieser hübschen, weißen und vollen Frau
fünf Jahre lang eine „Madonna" gemacht hatte, sie auch weiter-
hin in ihrer Nische zu lassen. Dieser Meinung ist auch Baude-
laire: „Sacre Saint-Ciboire! (so pflegte er zu fluchen), was habe
ich auf dieser Galeere gesucht?"
Wenn wir hierüber ein wenig scherzen, so geschieht es,
weil es uns unmöglich ist, in diesem Ausgange etwas anderes
zu sehen als Verlegenheit und Enttäuschung, die beide leicht
komisch wirken können. „Mein Zorn", schreibt die Präsidentin, „war
sehr berechtigt. Was soll ich von Deiner Flucht vor meinen Lieb-
kosungen denken, wenn nicht dies, daß Du in Gedanken bei der
andern bist, deren Seele und schwarzes Gesicht sich zwischen uns
drängen? Ich fühle mich gedemütigt und erniedrigt. Ohne die Ach-
tung, die ich für mich habe, würde ich mich zu Beleidigungen
hinreißen lassen." Dies ist deutlich genug.
Glücklicherweise war Madame Sabatier was man ein gutes
Herz zu nennen pflegt: sie trug dem Dichter diese lächerliche
Geschichte nicht nach.. Was diesen anbetrifft, so vermied er, we-
nigstens auf einige Monate hin, das tete-a-tete, vor dem er eine
„heillose Angst" hatte, begab sich aber doch jeden Sonntag in die
Rue Frochot. Er machte der „Präsidentin" kleine Geschenke, bald
ein Tintenfaß, bald einen Fächer. Nach und nach reiften bei beiden
Gefühle heran, die ebenso weit von den mystischen Ekstasen als
von der bloßen sinnlichen Glut entfernt waren und die zwischen
ihnen diesmal der Wahrheit entsprachen: die einer aufrichtigen
Kameradschaft.* 1
41 ) Deutsche Ausgabe, S. 200 ff. Französische Ausgabe, S. 213 ff.
100
Baudelaire war zu dieser Zeit 36 Jahre alt. Porche
schreibt ferner:
Für diese durch "Wutausbrüche unterbrochenen Krisen der
Entmutigung suchte der Unglückliche zuerst Zerstreuungen in
Eintagsliebschaftcn. Das „Notizbuch der Liebe", wo er die „guten
Adressen" sorgfältig eintrug, zeugt von der Häufigkeit der Ab-
wechslung, wenn nicht seiner Bedürfnisse, so doch seiner Neugierde.
Aber von all diesen kurzen Trunkenheiten, wie von denen des
Haschisch oder des Opiums bleibt dem Wüstling bald nichts
mehr als eine völlige Zerschlagenheit der Glieder und vor allem
eine seltsame Schwere im Genick. Vom Ekel gar nicht zu spre-
chen. Wir dürfen nicht vergessen, daß in dieser Epoche die Aus-
schweifung eine ernste Sache war. Sie hat den Ton des Leicht-
sinns, der geistreichen Galanterie, den sie im 18. Jahrhundert
hatte, verloren und sogar bei den Zynischsten hat sie noch nicht
jene Form der gleichgültigen und schlappen Zustimmung zur
Betäubung, die sie heutzutage kennzeichnet, angenommen. Zu
Baudelaires Zeiten war die Ausschweifung etwas Verborgenes.
Wenn sie sich so schamhaft erweist, so heißt das, daß sie nicht
ohne Reue ist. Sie ist eine letzte Zuflucht für den Verzweifelten,
eine Art Vergessen, eine Art feigen Selbstmords.
Wie hätte übrigens Baudelaire in der Sinnenlust auch nur
das geringste Glück finden können? Vergleicht er die Umarmungen
der Liebe in seinen Tagebuchblättern nicht einer Folterung, einer
chirurgischen Operation? Das menschliche Gesicht drückt für ihn in
der Umarmung nur noch eine tolle Grausamkeit aus. Und was die
Entspannung anbetrifft, welche die Liebenden in einer Art Tod
vereinigt, so weigert er sich, diesen Zustand Verzückung zu
"'""soviel über das Physische; aber sogar im Seelischen (und das
Seelische durchdringt in der Leidenschaft das Physische färbt die
Welt der Empfindungen, ja bringt sie geradezu hervor) sagt er,
„besteht die Wollust in der Gewißheit, Böses zu tun. Wie man
sieht, hat dieser sinnliche Wüstling etwas vom Theologen an ach;
vom Theologen, der mit dem Teufel ein Bündnis geschlossen hat,
etwas vom schlechten, besessenen Priester. Für ihn ist Liebe
synonym mit Hurerei, Unzucht; die fleischliche Vermischung ist
eine schwarze Messe.
Auf diesem Umweg, dem der Entweihung, trifft Baudelaire
mit dem christlichen Gefühle zusammen. Keine Seele ist geteilter
als die dieses in die Materie verstrickten Idealisten, in der er
IOI
wühlt oder sich wohl eher, mit dem Blick zum Himmel, herum-
schlägt. Baudelaire ist, wenn ich so sagen darf, der Sünder im
wahrsten Sinn des Wortes. Ja auf den ersten Blick scheint er
sogar nur durch seinen Begriff der Sünde religiös. Er leidet
darunter, das Gesetz zu übertreten, aber er muß es übertreten, um
sich in Erinnerung zu rufen, daß es existiert.**
Später, gegen das Ende seines Lebens, wird er, ohne je das
zu sein, was man einen ausübenden Katholiken nennt, sich die
Gewohnheit des Betens aneignen; aber Jahre lang war ihm das
Beten etwas Ungewohntes; er hat Gott nur mittelbar gekannt, durch
die auf die Sünde folgende Qual, durch die Reue oder die schreck-
liche Lust der Lästerung. Baudelaire hat sich nach und nach über
tausend Leiden zur Anbetung erhoben. Als er diesen Gipfel er-
reichte, war sein Werk geschrieben und es blieb ihm nur noch
wenig Zeit zum Leben übrig. Darin liegt der Grund, warum der
Seelenfriede aus seinen Dichtungen ausgeschlossen ist. Keine Gnade,
kein Segen; nichts als Traurigkeit und Asche. Was in den „Blumen
des Bösen" triumphiert, ist eben jenes Böse; jede Seite beschwört
jene Zeit des Irrens und der Prüfungen herauf.
Ja die Sünde nimmt in diesem Buche einen so gewaltigen
Platz ein, daß sie sich manchmal nicht mehr als Ungehorsam gegen
das Gesetz, sondern als eine Art Gehorsam gegenüber einem an-
deren Gesetz darstellt. Dies nennt man den Satanismus Baude-
laires. Wären die „Blumen des Bösen" nicht das Zeugnis eines
schwierigen Aufstieges, betrachteten wir sie nicht als einen Über-
gang, sondern als ein Ziel, so wären sie ein eigentliches Evangelium
des Manichäertums."
In diesem Dualismus des Guten und Bösen, und in diesem be-
ständigen Ringen zwischen den beiden Prinzipien liegt nicht nur
die Seele der Baudelaireschen Dichtung, er ist Baudelaire selbst.
Der Dichter ist eine Doppelnatur, die von der Ausschweifung ge-
hetzt trunken ist nach einer keuschen, unbefleckten Liebe und zu-
gleich nach einwiegenden Worten, mütterlichen Liebkosungen lechzt.
Hier finden wir entschieden die unauslöschlichen Spuren der
großen Leidenschaft seiner Kindheit wieder. Diese Leidenschaft hat
vor allem gewisse Tendenzen seiner Sinnlichkeit beeinflußt. Was
suchte er in den Wohlgerüchen, die ihn bezauberten, unbewußt,
wenn nicht den betäubenden Wohlgcruch des mütterlichen Muffs, in
den er als siebenjähriger Knabe so gerne sein Gesicht vergraben
*2\
? ) Ohne Sünde keine Religion. Siehe Rcik: „Geständniszwang
und Strafbedürfnis". Int. Psychoanalyt. Verlag, Wien 1925.
102
hatte? Warum bat er Jeanne, zu einer Zeit, als sie noch jung und
schön war und sich vor ihm auskleidete, ihren Schmuck anzube-
halten, wenn nicht deshalb, weil das Geflimmer der Halsbänder und
Anhängsel in seinem Gedächtnis die Erinnerung an weit zurück-
liegende Ekstasen wach rief?
Was aber sein Herz aus seiner frühesten Kindheit vor allem
bewahrt hat, ist ein unstillbares Bedürfnis nach Zärtlichkeit,
nach reiner Zärtlichkeit. Groß ist die Zahl der Frauengestalten, bei
denen er, ohne es sich immer einzugestehen, um Befriedigung dieser
Sehnsucht bettelt. Einige bleiben rätselhaft, so J. G. F., die Unbe-
kannte, welcher der Dichter das „Heautontimoroumenos" über-
schriebene Gedicht gewidmet hat und später „Die künstlichen
Paradiese". Dagegen wissen wir, daß jene M. D., welcher der
prachtvolle „Herbstgesang" gewidmet ist, eine Künstlerin des
,Thcätre de la Gaite* war, Marie Daubrun, der Baudelaire jahre-
lang seine Aufmerksamkeit zollte.
Marie Daubrun war hübsch und sanft und was in Theater-
kreisen gar nicht selten ist, ehrlich und tapfer. Ihre Arbeit half
ihr ihre Familie zu unterstützen. Der Dichter suchte die Sängerin
oft am Abend in ihrer Loge auf. Er nahm Anteil an ihren Sorgen
und an ihrem bescheidenen Streben. Er bewunderte dieses tapfere
Mädchen, das, nachdem es, wie er sagte, die fünf blöden Akte her-
untergespielt hatte, noch die Kraft hatte, am Bette seiner kranken
Eltern zu wachen. ^
Vielleicht wird man finden, daß sich Baudelaire in dieser
Rolle eines guten und aufrichtigen Freundes sonderbar ausnimmt.
Auf jeden Fall spielt er sie sehr gut, mit Ernst und Zartgefühl.
Und alles geht dabei so unschuldig zu, daß der Sohn ohne in Ver-
legenheit zu geraten, seine Mutter davon in Kenntnis setzen kann.
An Mariens Namenstage wendet er sich, da es ihm an Geld fehlt,
und er der Künstlerin, wenn nicht ein Geschenk, so doch einige
Blumen geben möchte, offen an Madame Aupick, die immer leicht
zu rühren ist.
Ein anderes Mal setzt er sich für sie beim Direktor des Thea-
ters der .Porte-Saint-Martin* ein, um das Engagement seines Schütz-
lings in diesem Theater durchzusetzen. Er gibt ihr auch eine Empfeh-
lung für George Sand und Ponson du Terrail. Schließlich entzweit
er sich mit seinem Freunde Banville, der sich von dem holden Kinde
ebenfalls angezogen fühlte.
Aber Baudelaire kennt noch eine andere Marie, ein Modell,
die nach einem Gespräch mit ihm den Entschluß gefaßt hatte, nicht
103
mehr Modell zu stehen. Diese Frau hegte im Herzen eine Leiden-
schaft für einen andern. Sie hatte dem Dichter ihr Geheimnis an-
vertraut und dieser liebte sie dafür nur umso mehr. Sie war für
ihn, gestand er, ein Gegenstand der Verehrung; es wäre ihm un-
möglich gewesen, sie zu beschmutzen. Ein Gefühl der Tugend
kettete ihn an diese Frau, eine süße und keusche Neigung wie die
des Christen zu seinem Gott. Einer so körperlosen und geheimnis-
vollen Verehcrung einen irdischen Namen geben, würde einer
Heiligtumsschändung gleichkommen. „Sie werden von nun an",
schreibt er ihr, „mein Talisman, meine Kraft sein. Durch Sie,
Marie, werde ich groß und stark sein. Wie Petrarca werde ich
meine Laura verewigen. Seien Sie mein Schutzengel, meine Muse und
meine Madonna, und führen Sie mich auf der Straße des Schönen* 3 ."
Anläßlich der Frage von der Spaltung der Sexualität
haben wir von Männern gesprochen, die den Analytiker
ihrer sexuellen Impotenz wegen aufsuchen, einer Impotenz
wegen, die jeden Verkehr mit der legitimen (geachteten) Frau
unmöglich macht, aber den Prostituierten gegenüber ihr Veto
nicht aufrecht hält. Wir halten es nun für möglich, daß sich
bei Baudelaire eine ähnliche sexuelle Hemmung vorfand. Der
Zufall will es, daß Baudelaire uns von einem Traum berichtet,
der dafür besonders aufschlußgobend ist.
Wir entnehmen ihn einem Briefe, den Baudelaire am
13. März 1856 an seinen Freund Asselineau gerichtet hat:
Mein lieber Freund!
Da ich weiß, daß Träume Sie unterhalten, sende ich Ihnen
hier einen, der Ihnen sicher nicht mißfallen wird. Es ist $ Uhr
morgens, der Traum also noch ganz warm. Bedenken Sie, daß er
nur einer der tausend Träume ist, von denen ich bestürmt werde
und ich brauche Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das sonderbare
Wesen dieser Träume, ihr Charakter, der meinen Beschäftigungen
und meinen Liebesabenteuern völlig fremd ist, mich immer auf
den Gedanken bringen, daß sie eine Hieroglyphensprache sprechen,
zu der mir der Schlüssel fehlt.
Es war (in meinem Traume) zwei oder drei Uhr früh, und
ich spazierte allein auf der Straße umher. Ich begegne Castille, der,
* 3 ) Ibid., S. 176. Französische Ausgabe, S. 188.
104
wie ich glaube, mehrere Gänge zu machen hatte und ich sage ihm,
daß ich ihn begleiten und den Wagen auch für einen persönlichen
We<* benutzen werde. "Wir nehmen also einen Wagen. Ich betrach-
tete es als meine Pflicht, der Besitzerin eines großen Bordells
ein Buch von mir, das soeben erschienen war, zu schenken. Wie ich
mein Buch, das ich in der Hand hielt, betrachtete, zeigte es
sich, daß es ein obszönes Buch war, was die Notwendig-
k e ; t ' _ es dieser Frau zu geben, verständlich machte. In meinem
Geiste war diese Notwendigkeit im Grunde genommen nur ein
Vorwand, eine Gelegenheit, eine der Dirnen des Hauses im Vor-
beigehen zu . . . , was besagt, daß ich ohne die Notwendigkeit,
das Buch herzuschenken, es nie gewagt hätte, in ein solches Haus
ZU g Von allem dem sage ich Castille nichts; ich lasse den Wagen
vor der Türe jenes Hauses halten, Castille bleibt im Wagen, und
ich nehme mir vor, ihn nicht lange warten zu lassen.
Gleich nachdem ich geläutet habe und eingetreten bin, bemerke
ich daß mein zum Schlitz meiner aufgeknöpften Hose heraus-
hängt und ich halte es für unanständig, mich (selbst an einem
solchen Orte) so vorzustellen. Ich fühle ferner, daß meine Füße
z na ß s ind und bemerke plötzlich, daß sie dazu noch nackt sind
und daß ich unten an der Treppe in eine Wasserlache getreten bin.
Ach was! sage ich mir, ich wasche sie, bevor ich .....
und bevor ich das Haus verlasse. Ich gehe hinauf. -
Von diesem Augenblicke an ist vom Buche nicht mehr die Rede.
Ich befinde mich in langgestreckten Sälen, die untereinander
in Verbindung stehen — schlecht beleuchtet sind, traurig und
düster aussehen - wie die alten Kaffeehäuser die alten Lese-
zimmer, die häßlichen Spielhäuser. Die Dirnen, die in den weiten
Sälen verstreut sind, plaudern mit Männern, unter denen ich einige
Gymnasiasten bemerke. Ich fühle mich sehr traurig und bin sehr
eingeschüchtert; ich fürchte, daß man meine Fuße sieht. Ich sehe
sie an und bemerke, daß einer einen Schuh anhat. Kurz nachher
bemerke ich, daß beide beschuht sind. Es fällt mir auf, daß die
Wände dieser weiten Räume mit allen möglichen, eingerahmten
Zeichnungen geschmückt sind. Nicht alle sind obszön. Es sind
darunter sogar Zeichnungen von Architekturen und ägyptischen
Figuren. Da ich immer schüchterner werde, und es nicht wage, eine
Dirne anzusprechen, unterhalte ich mich damit, die Zeichnungen
genau zu besichtigen.
In dem rückwärtigen Teile eines dieser Räume, finde ich eine
besonders seltsame Serie. In vielen kleinen Rahmen erblicke ich
105
Zeichnungen, Miniaturen, photographische Abzüge. Sie stellen bunte
Vögel dar mit glänzendem Gefieder und lebenden Augen.
Bisweilen sind es nur Vogelhälften. Manchmal sind es Bilder von
seltsamen, mißgestalteten Wesen, die beinahe gestaltlos sind wie
Meteore. In der Ecke einer jeden Zeichnung steht eine Anmerkung:
Die Dirne so und so, Jahre alt, hat diesem
Fötus in dem und dem Jahre das Leben geschenkt.
Und noch andere Anmerkungen dieser Art.
Dazu fällt mir ein, daß solche Zeichnungen wenig geeignet
sind, Liebesgedanken einzuflößen.
Eine andere Überlegung ist die: Es gibt in der Welt tatsäch-
lich nur eine einzige Zeitung, den „Siecle", der einfältig genug sein
könnte, ein Bordell zu eröffnen, und dort zugleich eine Art medi-
zinisches Museum einzurichten. Ich sage mir plötzlich: Tatsäch-
lich ist der „Siecle" der Urheber dieser Spe-
kulation, und das medizinische Museum ent-
spricht seiner Art, Fortschritt, Wissenschaft
und Aufklärung zu verbreiten. Dann überlege ich, daß
die moderne Dummheit und Torheit ihre geheimnisvolle Nützlich-
keit haben, und daß oft das, was für das Böse gemacht worden
ist, sich durch eine geistige Mechanik zum Guten wendet. Ich be-
wundere in mir selber di^ Schärfe meines philosophischen Geistes!
Aber unter allen diesen Wesen findet sich eines, das gelebt
hat. Es ist eine Mißbildung, die in diesem Hause geboren wurde und
ewig auf einem Piedestal steht. Trotzdem sie lebt, gehört sie zum
Museum. Sie ist nicht häßlich. Ihr Gesicht ist sogar hübsch, ge-
bräunt von orientalischer Farbe, es ist viel Rosiges und Grünes in
ihr. Sie sitzt zusammengekauert, aber in sehr seltsamer und ver-
drehter Haltung da. Forner windet sioh etwas Schwärzliches mehr-
mals um ihren Leib und ihre Glieder wie eine große Schlange.
Ich frage sie, was das eigentlich sei; sie sagt mir, dies sei
ein ungeheurer großer Wurmfortsatz, der von ihrem Kopfe aus-
gehe, etwas Elastisches wie Kautschuk und so lang, so riesig
lang, daß das Gewicht des Wurmes, wenn sie diesen Fortsatz wie
einen Zopf um ihr Haupt schlingen würde, viel zu schwer wäre,
als daß er getragen werden könnte; daß sie deshalb gezwungen sei,
ihn um ihre Glieder zu rollen, was übrigens eine nur noch
schönere Wirkung hervorrufe. Ich spreche lange mit dem Unge-
heuer. Es berichtet mir von seinen Sorgen und seinem Kummer.
Schon seit Jahren ist es gezwungen, sich in diesem Saale auf
diesem Piedestal aufzuhalten, und zwar der Neugierde des Publi-
106
kums wegen. Aber die größte Sorge verursacht ihm die Stunde
des Nachtmahls. Da es ein lebendes Wesen ist, muß es mit den
Mädchen des Hauses speisen, schwankend mit seinem Kautschuk-
fortsatz ins Eßzimmer gehen, wo es ihn um sich herum gerollt
behalten oder wie ein Pack Stricke auf einen Stuhl legen muß,
denn ließe es ihn auf dem Boden nachschleppen, so würde der
Fortsatz ihm den Kopf nach hinten reißen.
Diese kleine und gedrungene Mißgeburt ist außerdem ge-
zwungen, neben einer großen und wohlgestalteten Dirne zu essen.
Die Mißgeburt liefert mir übrigens alle diese Erklärungen ohne
Bitterkeit. Ich wage nicht, sie zu berühren, aber ich inter-
essiere mich für dieses Wesen. _
In diesem Augenblicke, — dies ist kein Traum mehr —
macht meine Frau mit einem Möbel Lärm im Zimmer; ich er-
wache — Ich erwache erschöpft, zerschlagen, der Rücken, die
Beine und Hüften sind wie gerädert. — Ich nehme an, daß ich
in der verdrehten Lage des Ungeheuers geschlafen habe.
Ich weiß nicht, ob Ihnen dies alles so drollig vorkommen
„ird wie mir. Ich vermute, daß es dem guten Minos schwer
fallen dürfte, aus diesem Traumgesicht eine Lehre zu ziehen.
Ganz der Ihre...
Mit dem uns zur Verfügung stehenden Material sind
wir in der Lage, eine Deutung dieses vom psychoanalytischen
Standpunkte aus sehr typischen Traumes zu versuchen.
Wir haben zwar nicht auf diesen Trauminhalt gewartet
um festzustellen, daß Baudelaire in Bezug auf sein Glied
an Minderwertigkeitsgefühlen leidet, die hier in seinen
„nackten" Füßen, in seiner Schüchternheit usw.. zum
Ausdruck kommen. Wir haben schon auf den Exhibitionis-
mus aufmerksam gemacht, der sich sowohl in seinem Voka-
bular als auch in den schlüpfrigen Themen äußert, die oftent-
lich zu behandeln Baudelaire sich gedrängt fühlte. Es war
auch schon von jener Kompensierung die Rede, welche die
das Glied ersetzenden Gedanken für ihn bedeuten. Man
wird darum nicht sonderlich erstaunt sein, wenn man am
Schluß des Traumes vernimmt, daß Baudelaire beim Er-
wachen die Empfindung hat, in der verdrehten Lage des Un-
107
geheuers geschlafen zu haben. Das Ungeheuer dieses Trau-
mes ist wahrscheinlich Baudelaire selber mit all seinen Sor-
gen und seinem entsetzlichen Glied-Kopf. Wie die Zeichnun-
gen, welche Baudelaires Aufmerksamkeit auf sich lenken,
ist außerdem dieses Ungeheuer ein Fötus: „Die Dirne so und
so, ... Jahre alt, hat diesem Fötus in diesem und diesem
Jahre das Leben geschenkt." Die Dirnen sind demnach Mütter
und noch dazu Mütter von Ungeheuern, d. h. von Wesen,
wie Baudelaire eines war. Wie wir also sehen, maskiert die
Zensur für Baudelaire die Tatsache, daß er im Bordell seines
Traumes ganz einfach den Inzest zu verwirklichen sucht. Wir
geben hier in großen Zügen eine Deutung des Traumes: Baude-
laire geht mit Castille (wahrscheinlich sein Stiefvater, der
General Aupick) ins Haus seiner Mutter. Castille-Aupick bleibt
vor der Türe und wartet; in der Wirklichkeit ist das Gegenteil
der Fall. Mit seinem Buche (Poesie) will Baudelaire zuerst
das Äquivalent des Inzests verwirklich eh**. Aber immer
wird er durch etwas aufgehalten. Zuerst durch
die Wasserlache unten an der Treppe, was in ihm das Be-
dürfnis lost, sich zu waschen, weil er schmutzig ist. Dann
durch die Zeichnungen, die er aufmerksam studiert und von
denen einige - farbigen Vögeln (Phallus) gleichsehen, deren
Augejebendig ist. Andere stellen nur Vogelhälften dar (Kastra-
U; r J*l In - dieS ^ Zusammei J ha ng erscheint uns ein Brief Baude-
laires an seine Mutter besonders charakteristisch:
und TW,? r^^ terche " >, ich danke Dir für alle Deine Güte
Za Jk ■ G ^? J Reiten. Ich werde von Deinem Tee trinken
und dabei an Dich denken. Lies mir zuliebe dieses Manuskript, das
fertig und an dem nur mehr wenig zu korrigieren ist. Ich habe
es heute Morgen von der Zeitung („La Democratic"), wo es als
unmoralisch abgewiesen wurde, zurückverlangt. Das Beste dabei
W St " u ,eSe "r *?? r , rCn Bewun ^rung genug abgezwungen
nat, daiS sie mich aufs liebenswürdigste und höflichste mit der
ßitte um ein anderes Manuskript beehrten
Du kennst den Schluß nicht: Lies ihn und sage mir offen,
welchen Eindruck er auf Dich gemacht hat."
108
tion) 45 , wieder andere sind ungeheuerliche, formlose Wesen
wie Meteore. Derartige Zeichnungen, meint Baudelaire,
sind wenig dazu angetan, zum sexuellen Verkehr anzuregen.
Damit ergibt sich für die „ägyptischen Figuren", diese
„Hieroglyphen", von denen Baudelaire zu Beginn seines
Traumes spricht, eine ganz besondere Bedeutung. Alle diese
Symbole übersetzen die Minderwertigkeitsgefühle des Träu-
mers in Bezug auf seinen Penis, seine Kastrationsangst und
sehr wahrscheinlich auf den Abscheu, den er vor dem weib-
lichen Geschlecht empfindet, das er als „amorph" oder als
einen „Halbvogel" betrachtet, d. h. als abgeschnitten. Beson-
ders bezeichnend in dieser Hinsicht ist -die Stelle:
„Es gibt in der Welt nur eine einzige Zeitung, den „Siecle".
. . . Ich bewundere in mir selber die Schärfe meines philosophischen
Geistes!" (s. Seite 106.)
Mit anderen Worten will der Träumer ungefähr sagen:
.Meine Erfindung eines Bordells ist eine einzigartige. Ich be-
gnüge mich damit, die Männer, die, beiläufig bemerkt, Gym-
nasiasten, d. h. Kinder sind, in ihrem Verkehr mit den Dir-
nen (Mutter) zu beobachten. Ich hüte mich aber wohl,
selber aktiv zu werden und bleibe ein passiver Zuschauer,
der nicht aus der Rolle eines objektiven und wissenschaftlichen
Beobachters herausgeht, eines Beobachters, für den dies alles
nur insofern von Interesse ist, als es durch die Phantasie,
die Wissenschaft, d. h. zerebral (ohne Affektivität) erlebt
werden kann." Die moderne 48 Dummheit und
Albernheit haben so ihre geheimnisvolle
Nützlichkeit, und durch eine geistige Me-
chanik wendet sich oft das, was zum Bösen
bestimmt war, zum Guten. Diese geistige Mecha-
nik, von der im Traume gesprochen wird, ist das Werk der
* 5 ) Siehe unsere Arbeit über J. J. Rousseau, Int. Psycho-
analit. Verlag, Wien 1930.
* 6 ) Baudelaire hielt sich gern für „modern".
109
Zensur, die Hemmung, die Neurose Baudelaires, ein wahres
Meisterwerk in seinem Unbewußten, ein Werk, das dazu
dient, das „Böse" zum Guten zu wenden, d. h. seine Sexu-
alität (das Böse) zu verdrängen und zu verhindern, daß sie,
um der Kastrationsdrohung zu entgehen, seine Mutter je an-
ders als auf eine maskierte Art berühren kann.
Sehr aufschlußreich ist auch die Stelle vom Ungeheuer
des Hauses, das gelebt hat, und die sich auf Baudelaire
selbst bezieht: „Ich nehme an, daß ich in der verdrehten* 821
Lage des Ungeheuers geschlafen habe." Ich weise beson-
ders darauf hin, daß das Ungeheuer ewig auf
einem Piedestal steht". Wie deutlich bezieht sich
dieses Bekenntnis auf Baudelaire, der sich so hoch einschätzte
und überaus ernst nahm. (Siehe das Gedicht vom Alba-
tros.) Bezeichnend ist auch „das Schwärzliche, das sich mehr-
mals um den Leib des Ungeheuers windet". Ist das nicht
Jeanne Duval, die Mulattin? Eine „tanzende
Schlange", die die Glieder fesselt? Jeanne Duval
bedeutet in diesem Zusammenhange nichts anderes als ein
*•») „Verdreht" scheint hier die invertierte, d. h. homosexuelle
fc.instelJ.ung des Traumers auszudrücken.
- . 1 F£* Asselineaus: „Ich habe zu wiederholten Malen ge-
sagt daß Baudelaire einer jener seltenen Männern war, in deren
Gesellschaft ich mich nie gelangwcilt habe. Mit ihm kannte das
Gesprach keine Langen. Sein Hang zur Diskussion feuerte ihn
beständig an. Nur dauerte die Diskussion manchmal von Mittag
bis ii Uhr abends. Sein kindlicher Glaube an seine Unfehlbarkeit
äußerte sich bisweilen auf die komischste Weise. Mitten in einer
lebhatten Diskussion über die Notwendigkeit eines Planes in der
Dichtung sagte er mir eines Tages im Bois de Boulogne in befehls-
habenschem Tone: „Aber ich bitte Sie! Ich habe Ihnen dieses
gesagt: Sie haben mir jenes erwidert. Und ich habe Ihnen darauf
mit großer Folgerichtigkeit geantwortet!!!" Ich fiel
«st um vor Lachen; er aber war ernst wie ein Brahma, rot und
pra r\ t,g an ? usehen in seiner Entrüstung. „Na ja", fuhr er fort,
nachdem wir einige Schritte weitergegangen waren. „Ich muß es
a? j W j- sa & en > da i a Sic es nicht sagen." Am
Abend dieser denkwürdigen Diskussion rühmte er sich vor
Monselet, mich übertölpelt zu haben.
HO
ihm aus dem Kopfe wachsendes Organ, das
ein Teil seines Körpers ist, eine Art schwarzer Penis, den er
überall zur Schau trägt, mit dem er sich martert, und der
so lang, so riesig lang ist, daß er, wenn er ihn wie einen
Zopf um sein Haupt schlingen würde, viel zu schwer wäre,
um getragen werden zu können. Es muß ihn deshalb
um seine Glieder rollen, was übrigens eine noch schönere
Wirkung hervorruft. "Wir brauchen nicht besonders zu be-
tonen, daß auch Jeanne Duval unter diesem Gesichtspunkte
gesehen nichts anderes bedeutet als ein Element in einer
Summe von Fakten, deren lebendiges Symbol sie wird, genau
so wie das z. B. in den „Litaneien Satans" der Fall ist. Wir
werden in einem späteren Kapitel nochmals auf dieses Thema
zurückkommen. Es genügt uns vorläufig, darauf hinzuweisen,
daß der Traum besonders gut verständlich machen kann,
warum es Baudelaire nie gelingen konnte, sich von Jeanne
Duval, an die er affektiv geschmiedet war, zu trennen, selbst
dann nicht, als jeder sexuelle Verkehr schon lange zwischen
ihnen aufgehört hatte, Bemerkenswert ist auch folgende Stelle
des Traumes:
„Ich spreche lange mit dem Ungeheuer . . ., denn ließe es ihn
auf dem Boden nachschleppen, so würde der Fortsatz ihm den
Kopf nach rückwärts reißen."
Es ist klar, daß die vorliegenden Betrachtungen den
Inhalt des Traumes nicht erschöpft haben. Es bliebe noch
viel zu sagen über das Buch, das am Anfang des Traumes
erwähnt und von dem fast wörtlich gesagt wird, daß es nur
ein Vorwand sei, „eine der Dirnen des Hauses im Vorbei-
gehen zu . . .". Und wie streng fiel das Urteil aus, das Bau-
delaire über den Sinn und Zweck seiner Dichtung fällte! Es
ist sehr interessant und nützlich, diese Stelle mit einer Situ-
ation im Tragödienentwurf „Der Marquis der Einser-Hu-
saren" zu vergleichen, wo von einem Edelmann die Rede
ist, der seine Frau in der Hochzeitsnacht gleichsam nur geistig
in
besessen hat, ein Besitz, der für Baudelaire das Ideal des
Geschlechtsaktes zu schein scheint, wenn man in Betracht
zieht, daß dieser Edelmann in diesem Tragödienentwurf sehr
wahrscheinlich niemand anderen symbolisiert als Baudelaires
Vater. Wir werden übrigens auch auf dieses Thema noch
zurückkommen.
Begnügen wir uns für den Augenblick damit, diesen
Trauminhalt, der manifest sexueller Natur ist, mit den
Symptomen Baudelaires, u. zwar besonders mit denen der
sexuellen Impotenz in Verbindung zu bringen. Auf diesen
Traum hin darf man wohl annehmen, daß Baudelaire sogar
den Prostituierten gegenüber sexuell gehemmt war, und die
Frage drängt sich auf, ob er jene Lokale nicht in erster Linie
als „Voyeur" aufsuchte. Es ist nicht leicht, sich darüber ein end-
gültiges Urteil zu bilden, aber wir halten es für wahrschein-
lich, daß er den Geschlechtsakt sogar mit Prostituierten nicht
völlig normal erleben konnte. War seine Haltung dabei vor-
wiegend passiv? Benötigte er einen aktiven Eingriff von Seiten
der Mädchen, um sich seiner Aufgabe gewachsen zu fühlen?
Alle diese Fragen sind berechtigt. Sicher wissen wir nur,
daß in Fällen dieser Kategorie nicht der normale Akt aus-
geführt wird. Wie Raskolnikow in „Schuld und Sühne" von
Dostojewsky, scheint auch Baudelaire seine Sonja unter den
unglücklichen Geschöpfen der Bordelle gesucht zu haben.
Dies ist übrigens bei vielen Kranken der Fall, die sich
in einer analogen affektiven Situation befinden. Diese Män-
ner — oft handelt es sich um ganz besonders bedeutende
Intellektuelle, und niemand würde ahnen, wie groß ihre
Seelennot ist — diese Männer sind in den Augenblicken
schrecklichster Einsamkeit oder beklemmendster Angst nicht
imstande, sich einzugestehen, daß sie eines mitfühlenden
Herzens bedürfen. Daher haben sie auch gewöhnlich ihr
ganzes Leben auf die Illusion aufgebaut, die sie bei andern
von sich hervorrufen wollen. Aber sobald sie sich von ihrer
112
Haltung und der Lüge gefesselt fühlen, sobald sie sehen, daß
sie von jedem menschlichen Wesen getrennt, verlassen sind,
dann suchen sie meistens Menschen auf, die eben so elend
daran sind wie sie, Menschen, die nichts von ihrer Persönlich-
keit noch von ihrem Range wissen, denen ihre Titel unbekannt
sind und vor denen sie über das große menschliche Elend,
über diese gräßliche Verzerrung der Liebe, von Mitleid er-
griffen wie Kinder weinen. Diese Geschichte hat fast immer
den gleichen Ablauf, und trotz aller Varianten wiederholt sie
sich immer auf die gleiche Weise. Ein Blick auf unsere
Krankengeschichten, die Beichten enthalten, welche der fol-
genden ähnlich sind, vermag vielleicht davon eine Vorstel-
lung zu geben:
Der gestrige Abend hätte sehr schön sein können. Ich war
bei Frau X. eingeladen. Eine reizende Frau, mit vorzüglichen
Manieren. Sie hat mich sehr gern. Ihr Mann hat eine bedeutende
Stellung. Sie hat sich eine Zeit lang für einen anderen
interessiert, aber da sie wahrscheinlich enttäuscht worden ist, sucht
sie weiter und wagt es nicht mehr, die Liebe zu finden, noch an
sie zu glauben. Sie ist daher für mich eine gute Kameradin ge-
worden, die ich für unglücklich halte, obschon sie nie ein Wort
darüber verliert. Aber sie hat jenen Hunger der Intelligenz, der
die Unerfülltheit des Herzens verrät... und ich fühle, daß es
nicht sehr schwierig wäre . . . nun, Sie verstehen, was ich meine;
und wenn ich diesen reizenden Busen sehe, mit dieser köstlichen
Linie, diese zarte Haut, hinter der man die Schwingungen des
Herzens zu fühlen vermeint, so scheint mir, ich könnte... Aber
im selben Moment werde ich von einer eigentümlichen Unruhe
gepackt. Ich habe den Eindruck, daß es doch nicht ganz so ist,
wie ich glaube. Man erzählt von ihr, daß sie sich leicht über die
Leute lustig mache; kurzum, mit solchen Frauen weiß man viel-
leicht nie, woran man ist. — Wir haben an diesem Abend bei ihr
über viele Dinge gesprochen. Ich fühle, daß ich geglänzt habe.
Ich habe Dinge gesagt wie: „Jedem Erfolge muß man immer die
Sehnsucht nach dem, was (nie sein wird, vorziehen. Diese Sehn-
sucht hält einen ewig jung. Sie befähigt einen, in jeder Frau
eine Heilige zu sehen, oder einen Teufel, mit einem Wort: etwas
Übermenschliches. Die Kunst zu leben besteht gerade darin, diese
113
Sehnsucht richtig zu dosieren, die Enttäuschung zu züchten, die
einen zu glauben hindert, ist doch der Glaube gewöhnlich etwas
Demütigendes, Banales und schwer vereinbar mit jener wahren
Intelligenz, deren Aufrcchterhaltung nur dank des Pessimismus
möglich zu sein scheint. Die Wissenschaft wäre demnach ledig-
lich das Kind dieses Pessimismus, der im Grunde nichts anderem
als einer inneren Auflehnung gegen alles, was uos überragt,
gleichkäme, einer Verachtung der Angst, welche die Betrachtung
der Welt in uns auslöst etc. . . " Natürlich war alles, was ich sagte,
nur eine Pose, um zu gefallen. Daher beeilte ich mich auch, dieses
Milieu zu verlassen, denn was kann man schließlich in einer
Gesellschaft sagen, die einen bewundert und auf ein Picdestal
stellt? Man kommt sich wie ein Sieger vor, der zum voraus
besiegt ist, da ihm doch nichts zu erobern übrig bleibt ... Ich
"ehe allein weg und entschließe mich, noch einen kleinen Rund-
gang zu machen, um ein wenig Luft zu schnappen. Ich gehe auf
Montmartre in eine mir bekannte Bar, in der es hübsche Weiber
gibt. Sie interessieren mich gar nicht. Ich weiß nicht, warum ich
dort hingehe. Ich bemerke ein hübsches Mädchen. Seine Brüste
verfolgen mich. Es setzt sich neben mich und will mich küssen.
Ich sage ihm irgend etwas Unartiges, z. B. daß mir seine Huren-
manieren mißfallen. Ich habe es beleidigt, gekränkt. Es läßt
mich allein. Im Grunde genommen war ich gemein zu ihm. Warum
habe ich es zurückgewiesen? Es ist nett zu mir gewesen und
hat nichts von mir verlangt. Ich trinke ein Glas, ein zweites, ein
drittes. Wieder bin ich aiuf der Straße. Ich kann mich nicht
entschließen, nach Hause zu gehen. Die Menschen, die ich beob-
achte, scheinen glücklich zu sein. Sind sie es wirklich? Ich
schlendere durch die Straßen und fange an, mich recht unglück-
lich zu fühlen. Warum, weiß ich nicht. Ich kann mich über nichts
Bestimmtes beklagen. Ich sehe einen dicken Kerl auf der Straße,
der mir Entsetzen einjagt. An jedem Arm hat er ein Weibsbild.
Ich sage mir, daß ich dasselbe tun könnte. Aber mit wem? Unter-
dessen bin ich in eine andere Bar geraten. Ich bin, wie mir scheint,
schon bei meinem zweiten Glas Likör. In solchen Augenblicken
muß ich Liköre trinken, ich würde sonst einer wahren Melan-
cholie verfallen. Ich sehe lachende Gesichter. Ein ganz junges
Mädchen mit einem Amerikaner. Das Mädchen sieht unerfahren
aus. Es lacht, wie wenn es an all diesen tollen Jubel, an all
diese Großmut um sie herum glauben würde. Man bezahlt
Champagner über Champagner. Der Besitzer macht Kasse. Dies
114
alles erfüllt mich mit Ekel und ich bin wieder auf der Straße.
Ich fühle, daß ich in jenes Haus gehen werde, in dem ich schon
so oft gewesen bin. Aber ich kenne alle Mädchen drin . . . Sie
interessieren mich gar nicht. Ich erinnere mich besonders gut an
eine. Als ich das letzte Mal dort war, kam sie eben aus dem
Spital. Sie war krank gewesen, auch ihr Kind. Denn ich weiß,
daß sie eine kleine Tochter hat, um die sie sich übrigens selbst
kümmert, wie sie mir gesagt hat. Ich kann die Erinnerung an sie
nicht verscheuchen. Ich war das erste Mal mit ihr beisammen, als
sie das Spital verlassen hatte. Ich sehe sie immer noch die Treppe
hinaufsteigen, etwas mager, mit hängenden Brüsten und in den
Augen die große Müdigkeit eines gehetzten Tieres. Sic war gerne
einverstanden, zuerst ein wenig mit mir zu plaudern. Ich öffnete
das Fenster, um Luft und Lärm von Paris ins Zimmer herein zu
lassen, den Lärm der Stadt mit ihren unzähligen Existenzen, der
Stadt, von der Napoleon gesagt hatte, daß sie die Verluste der
mörderischsten Schlacht in einer Nacht wieder gut mache. Wir
sprechen nun miteinander — bei mir beginnt es immer so. Ich
erfahre, daß sie einen Liebhaber hatte, der die Schwangere sitzen
ließ. Nach der Geburt ihres Kindes versuchte sie ihr Glück zu-
erst auf der Straße, dann im Bordell. Mit der Liebe war es aber
zu Ende. Übrigens hat sie niemals gewußt, was Liebe ist. Man
sagt ja auch, daß solche Frauen oft unempfindlich sind und nur so
tun, als ob sie während des Geschlechtsaktes, leidenschaftlich
erregt wären.
Ich entschließe mich also, in jenes Haus zu gehen. Ich
frage nach der Kleinen. Man läßt mich ein wenig warten. Dann
gehen wir in ihr Zimimer hinauf. Ich treffe die nötigen Vorbe-
reitungen. Alles vollzieht sich wie gewöhnlich. Sie reizt mich. Ich
bilde mir ein, ich sei verpflichtet, ihr alles das zu machen, was sie
mir macht. Wie Ihnen bekannt ist, habe ich mir so schon mehrere
Krankheiten zugezogen. Aber es ist stärker als ich. Ich hoffe, sie
entschuldigen mich, daß ich Ihnen alle diese gräßlichen Einzelheiten
schildere. Was soll ich jedoch tun? Erst nachdem ich all diese
schmutzigen Dinge gemacht habe, bin ich imstande, den Ge-
schlechtsverkehr auszuüben. Dabei ist es vermutlich etwas schnell
zugegangen. Ich kann mich nicht mehr genau daran erinnern. Auf
jeden Fall war es schrecklich, ekelhaft, wohl eher eine Qual als
eine Befriedigung, wie übrigens immer. Gegen zwei oder drei Uhr
morgens bin ich ganz stumpfsinnig nach Hause gekommen. Am
nächsten Morgen fühle ich mich wie immer nach solchen Nächten,
8» 115
die ich jetzt seit bald 20 Jahren kenne. Ja, ich bin in dem Alter,
in dem ich einen großen Sohn haben könnte, wenn sich alles dies
nicht ereignet hätte — "
Was Baudelaire anbelangt, so können wir uns sehr gut
vorstellen, daß er sich vielleicht öfter in einer ähnlichen Lage
befunden hat. Wir fühlen uns zu dieser Annahme umso eher
berechtigt, als der erwähnte Traum mit denen, welche uns
solche Kranke erzählen, manche Analogie aufweist. Merken
wir uns in diesem Zusammenhange, daß am Anfang des
Traumes von Langen, das Bordell abschließenden Sälen und
Gängen die Rede war. Diese Vorstellung eines Ganges kommt
sehr häufig wieder. Es handelt sich dabei z. B. um einen
Tunnel, aus dem man nicht herauszukommen vermag oder
um eine Festung mit dunklen Gängen, in denen man einge-
schlossen ist. Diese Vorstellung von Gängen entspricht oft
derjenigen der geistigen Mechanik, von der in Baudelaires
Traume die Rede ist. Es handelt sich um die Art und
Weise, auf welche die betreffende Person sich eingekerkert,
von der Außenwelt abgeschlossen hat, da sie den Eindrücken
aus dem Wege gehen wollte, welche die Erinnerung an eine
infantile, durch diese Verdrängung erledigte Situation wach-
rufen könnten. Sehr oft besagt diese Vorstellung vom Ge-
fängnis: ich schließe mich in ein Gefängnis ein, weil ich hier
allein und darum allmächtig bin. Ich interessiere mich ein-
zig und allein für das, was ich tue, damit ich nicht schul-
dig werde, mich für die andern (die Mutter) interessiert
zu haben und mich so einem Konflikte auszusetzen. Oft
handelt es sich dabei um Menschen, die in ihrer frühesten
Kindheit (als sie 1 oder 2 Jahre alt waren) den sexuellen
Verkehr ihrer Eltern oder der Dienstboten, denen sie anver-
traut worden waren, beobachtet und die deshalb die Gewohn-
heit angenommen haben, jeden sexuellen Eindruck zu ver-
drängen. Die Verdrängung bezweckt, aus dem
Bewußtseinsfeld alles das zu eliminieren,
116
was in der Kindheit für ihr affektives
Leben von tiefgehender Störung wiar. Die
Tatsache, daß ein Kind einen Koitus -beobachtet oder be-
lauscht hat, kann zu schwerem Mißgeschick führen. Die Zahl
der Fälle, bei denen ein Ereignis dieser Art zum Ausgangs-
punkt von schweren Neurosen wurde, ist eine beträchtliche.
Man kann sich gar nicht vorstellen, wie sehr Eindrücke
dieser Art geeignet sind, die zarte Psyche des Kindes völlig
zu zerrütten. Solche Situationen können beim Knaben die
Ursache für jenes schreckliche Minderwertigkeitsgefühl wer-
den, welches die jungen männlichen Kinder empfinden, wenn
sie entdecken, daß sie das nicht besitzen, was dem Vater
oder dem Freunde der Mutter oder der Amme, mit denen
sie sich vergleichen, zu ihrem sexuellen Triumphe verhilft.
Nicht zu vergessen ist auch die Kastrationsangst als Folge
dieser Verhältnisse. Die infantile Psyche kann auf diese
Eindrücke sexueller Natur mit charakteristischen Reaktionen
der noch unentwickelten Sexualität reagieren: das Kind ver-
hält den Stuhl, uriniert ins Bett, begeht Verstöße, um be-
straft zu werden. Und wie oft drohen nicht Kindermädchen
und manchmal auch Eltern bei solcher Gelegenheit mit den
Worten: „Man wird es Dir abschneiden; man wird es Dir
mit einem glühenden Eisen abbrennen; die Katze wird es Dir
abfressen usw." Ohne psychoanalytische Kenntnis ist es un-
möglich, sich von den unheilvollen Folgen solcher Drohungen
ein Bild zu machen.
Darf man nun bei Baudelaire das Vorhandensein eines
infantilen, der Beobachtung des Geschlechtsaktes analogen
Traumas annehmen? Es ist schwierig, darauf eine befriedi-
gende Antwort zu geben. Auf jeden Fall erscheint es uns
nach allem, was die Psychoanalyse bis jetzt gelehrt hat, als
wahrscheinlich, daß Baudelaire in seiner frühesten Kindheit
Konflikte dieser Art erlitten hat, denn vom Freudschen
"7
Standpunkt aus gesehen haben sie in ihm unzweideutige
Spuren hinterlassen.
Beobachtete er Mariette, das Mädchen, an dem er so
innig hing, oder seine Mutter? Wir wissen darüber nichts
Sicheres. . , a
Was wir aber mit Bestimmtheit wissen, ist dies, daiS er
seit jeher von wirklichen sexuellen Zwangsvorstellungen ver-
folgt wurde. Ferner hatte er ein derartiges Bedürfnis, den
Koitus mit infantilen Mitteln auszuführen, daß man die An-
nahme nicht von sich weisen kann, diese Reaktionsweise sei
im frühesten Kindesalter in ihm fixiert worden.
Dazu gesellt sich noch seine Tendenz, „Voycur" zu
sein, und ein außergewöhnlich scharfer Beobachtungssinn, der
bei 'den Menschen sehr häufig ist, bei denen das Auge zum
Leitorgan des Sexualgenusses wurde. Er verfügt ferner auch
über ein erstaunliches Verständnis für Werte, Bedeutungen,
über jene Empfindsamkeit des Künstlers, der bei der Berüh-
rung mit allem, was groß und wahr ist, sich in tiefe Schwin-
gung versetzt fühlt, über jenen akuten Spürsinn für die durch
Vorurteile verschüttete und hinter bürgerlicher Scheinheilig-
keit vermummte Wahrheit. Vergegenwärtigt man sich dies
alles, so geht daraus mit Sicherheit hervor, daß einem Manne
wie Baudelaire die Geheimnisse des Lebens, in die er für
immer verliebt blieb, sehr früh offenbart worden sein mußten,
und daß er für die Illusionen, mit denen man in der Regel
aufwächst, um schließlich zu einem wohlerzogenen und ge-
wöhnlichen Gliede der menschlichen Gesellschaft zu werden,
nur Verachtung übrig haben konnte.
All dies halten wir für sehr wichtig und wir werden
in dem Kapitel über die Psychologie der künstlerischen
Schöpfung noch darauf zurückkommen.
Hier bemerken wir lediglich, daß — von unserem Stand-
punkt aus gesehen — die ganze Geschichte von der Wieder-
verheiratung der Mutter Baudelaires als Ursache seiner Neu-
118
rose an Bedeutung einbüßt. Wir sind ernstlich versucht, die
Tatsache in Betracht zu ziehen, daß Baudelaire auch ohne
Aupick Baudelaire geworden wäre, gewiß mit anders ratio-
nalisierten Reaktionen, aber mit Reaktionen, die den gleichen
tiefgehenden Störungen seiner Psyche entsprochen hätten,
welche in der oben behandelten sexuellen Hemmung ihren
Ausdruck gefunden haben.
n 9
cj. Kapitel.
Einige Ideenverbindungen bei
Baudelaire.
Nach dem bisher Vorgebrachten wird es interessant
sein, einige Gedankenassoziationen Baudelaires zu einander
in Beziehung zu bringen. Wir geben hier eine Stelle aus sei-
nem Tagebuche wieder, die keines Kommentars mehr bedarf:
Gibt es mathematische Unsinnigkeiten und Narxen, die den-
ken, daß zwei und zwei drei ist? Mit andern Worten, vermag die
Halluzination, wenn diese Worte nicht aufheulen (so miteinander
verkuppelt zu werden), auf Dinge rein vernünftigen Denkens
hinüberzugreifen? Wenn ein Mensch einen andern, der die
Gewohnheit, faul, verträumt und ein Müßiggänger zu werden, in
der Weise annimmt, daß er immer das Wichtige auf den nächsten
Tag verschiebt, jeden Morgen mit Peitschenhieben
aufwecken und ihn ohne Mitleid so lange hauen
würde, bis er, da er aus Lust nicht zu arbeiten
vermag, nun aus Furcht arbeitet, ist der Peit-
schende nicht des andern Mannes wahrer Freund
und Wohltäter? Man darf übrigens behaupten,
daß die Lust sich nachher einstellen würde, und
diese Behauptung mit viel mehr Recht wagen als jene andere:
die Liebe folgt der Hochzeit.
Ebenso ist in der Politik der wahre Heilige derjenige, der
das Volk zum Wohle des Volkes prügelt und totschlägt.
Und nun lesen wir folgende besonders charakteristische
Zeilen: t
Bei der Zeugung eines jeden sublimen Gedankens gibt es
einen nervösen Chok, den man im Kleinhirn (hinten!) spürt.
Spanien versetzt die natürliche Roheit der Liebe in die
Religion.
120
Bezeichnend ist auch eine Stelle über die Todesstrafe;
sie ist besonders dann aufschlußreich, wenn man in Be-
tracht zieht, welche Verbindung der Dichter zwischen der
Liebe und der Folterung herstellt:
Die Folter als Kunst, die Wahrheit aufzudecken, ist ein
barbarischer Stumpf rinn; man verwendet dieses materielle Mittel
um ein geistiges Ziel zu erreichen.
Die Todesstrafe ist das Ergebnis einer mystischen, heute völlig
unverstandenen Idee. Die Todesstrafe bezweckt nicht, die Gesell-
schaft zu retten, wenigstens nicht, sie materiell zu retten. Ihr
Zweck ist, die Gesellschaft und den Schuldigen
(geistig) zu retten. Damit das Opfer vollkommen sei, muß
der Schuldige freudig zustimmen. Einem zum Tode Verurteilten
Chloroform zu geben, wäre eine Ruchlosigkeit, denn das nähme
ihm das Bewußtsein seiner Größe als Opfer und
würde ihm die Aussicht, das Paradies zu gewin-
nen, zerstören.
Was die Tortur anbelangt, sie wird aus dem schamlosen,
nach Wollust dürstenden Teile des menschlichen Herzens ge-
boren. Grausamkeit und Wollust sind, wie die äußerste Hitze und
die äußerste Kälte, identische Empfindungen.
Die ganze masochistische Homosexualität Baudelaires
läßt sich in dem Satze zusammenfassen: „Damit das Opfer
vollkommen sei, muß der Schuldige freudig zustimmen."
Dieses Bekenntnis wirft ein besonderes Licht auf eine Stelle,
die wir einige Seiten später finden:
Ein Kapitel über die unzerstörbare, ewige, allgemeine, sinn-
reiche Grausamkeit des Menschen.
Über die Blutliebe.
Über den Blutrausch.
Über den Rausch der Massen.
Über den Rausch des Gefolterten (Damiens).
Die Stelle über die Franzosen geht natürlich in erster
Linie ihn selber an:
Der Franzose ist ein so gut gezähmtes Hühnerhoftier,
daß er keine Pallisade zu überklettern wagt. Siehe seinen Ge-
schmack in Kunst und Literatur.
121
Er ist ein Tier lateinischer Rasse; der Dreck mißfällt ihm
nicht; zu Hause und in der Literatur ist er Scatophage. Er
lechzt nach Exkrementen 48 . Die Kaffeehausliteratcn nennen das
das gallische Salz.
Schönes Beispiel französischer Niedrigkeit, der Nation, die
vorgibt, unabhängiger zu sein als jede andere.
Auch vom psychoanalytischen Standpunkte aus ge-
sehen, könnte man kaum präziser sein. Das Einzige, was
wir hinzufügen möchten, ist dies, daß in einer Neurose wie
in der Baudelaires, wenn sie einen gewissen Grad erreicht
hat, das Individuum tatsächlich dazu kommen kann, seine
Exkremente zu verschlingen und seinen Urin zu trinken.
Wir lassen hier eine weitere Stelle aus seinem Tage-
buche folgen:
Im Herzen des Mannes eingefleischte Neigung zur Prosti-
tution 49 , aus dieser Neigung kommt sein Abscheu vor der Ein-
samkeit. Er will zwei sein. Das Genie will eins bleiben, also ein-
sam sein. Der Ruhm bedeutet, eins zu bleiben und mit sich selber
auf besondere Art Unzucht zu treiben.
Diese entsetzliche Angst vor der Einsamkeit, das Bedürfnis,
sein Ich im Fleische des andern zu vergessen, nennt der Mensch
vornehm sein Bedürfnis nach Liebe.
Zwei schöne Religionen, für ewige Zeiten auf die Mauern
geschrieben, ewige Qualen des Volkes: der P... (der antike
Phallus), und „Es lebe Barbes!" oder „Nieder mit Philippe" oder
„Es lebe die Republik"!
Seine trostspendenden Maximen über die Liebe bekom-
men, unter diesem Gesichtswinkel gesehen, einen ganz beson-
deren Sinn:
Wer immer Maximen schreibt, wechselt gerne seinen Cha-
rakter; der Junge malt sich Runzeln, der Alte verwandelt sich in
einen Adonis.
Die Welt, dieses umfassende System von Widersprüchen —
sie zollt jeder Hinfälligkeit große Achtung, — schnell Kohle her,
malen wir uns Runzeln: da das Gefühl im allgemeinen einen
48 ) Tortur oder Erniedrigung.
") D. h. Erniedrigung.
122
Ehrenplatz einnimmt, behandeln wir unser Herz wie einen
Hausgiebel.
Aber wozu? Wenn ihr nicht wahre Menschen seid, so seid
doch wenigstens wahre Tiere. Seid naiv und ihr werdet not-
wendigerweise einigen Menschen nützlich und angenehm sein.
Mein ... — wäre er rechts — wird unter den 3 Milliarden Wesen,
die die Nesseln des Gefühls abgrasen, tausend Mitparias finden.
Wenn ich mit der Liebe beginne, so geschieht es, weil die
Liebe für alle — sie leugnen es vergebens — das große Ereignis
des Lebens ist!
Ihr alle, die ihr irgendeinen unersättlichen Geier nährt —
ihr hoffmannesken Dichter, welche die Harmonie in den kri-
stallenen Regionen zum Tanzen einlädt und die Geige wie eine
Klinge zerreißt, die nach dem Herzen fahndet, — ihr gestrengen,
gierigen Beobachter, bei denen selbst der Anblick der Natur ge-
fährliche Ekstasen auslöst — möge Euch die Liebe ein schmerz-
stillendes Mittel sein.
Friedliche Dichter, objektive Dichter, edle Anhänger plan-
mäßigen Schaffens, Architekten des Stils, Weltkluge, die Ihr eine
tägliche Pflicht zu erfüllen habt, möge die Liebe Euch ein Reiz-
mittel sein, eine stärkende Arznei und die Gymnastik der Lust
eine fortwährende Ermutigung zur Tat!
Für diese die einschläfernden, lindernden Arzneien, für jene
der Alkohol!
Euch, zu denen die Natur grausam und denen die Zeit kostbar
ist, möge die Liebe ein beseeligendes und brennendes Stärkungs-
mittel sein.
Mau muß also seine Liebschaften zu wählen wissen.
Ohne die Möglichkeit zu leugnen, daß man sich auf der Stelle
verlieben kann — siehe Stendhal, (Über die Liebe, Buch I,
Kap. XXIII) — darf man annehmen, daß die Schicksalsfügung
über eine gewisse Elastizität verfügt, die sich menschliche Frei-
heit nennt.
So wie für die Theologen die Freiheit darin besteht, die
Versuchungen zu fliehen, nicht aber, ihnen zu widerstehen, so be-
steht auch in der Liebe die Freiheit darin, die Frauen, die
Euch gefährlich sind, zu meide n 50 .
Die Frau, die Euch zu gebieten hat, die auf Eurem Himmel
leuchtet, wird genügend deutlich durch Eure natürliche Sympa-
50 ) durch die neurotische Schranke.
123
thien, die ein Lavater, die Malerei und Plastik bestätigen, gekenn-
zeichnet.
Die physiognomischen Kennzeichen wären unfehlbar, würde
man säe alle kennen und gut kennen. Ich kann hier nicht
aufzählen, welche physiognomischen Merkmale der Frau zu
diesem oder jenem Mann passen. Vielleicht werde ich einmal
diese ungeheure Aufgabe unternehmen und zwar in einem Buche,
das ich überschreiben will: der Katechismus der geliebten Frau.
Aber ich bin überzeugt, daß jeder von uns, unterstützt durch
gebieterische und unbestimmbare Sympathien, geleitet von der Be-
obachtung, in einer gegebenen Zeit die zu ihm passende Frau
finden kann.
Übrigens sind unsere Sympathien im allgemeinen nicht ge-
fährlich; die Natur läßt uns im Essen wie in der Liebe selten an
Dingen Geschmack finden, die uns nicht gut bekommen.
Da ich das Wort Liebe in seiner vollsten Bedeutung nehme,
sehe ich mich genötigt, für gewisse heikle Fragen einige beson-
dere Maximen anzugeben.
Mann des Nordens, glühender Schiffer im Nebel, der Du
schönere Nordlichter suchst als die Sonne, unermüdlich nach Edlem
strebender Idealist, fahnde nach kühlen Frauen. — Liebe sie innig,
denn die Mühsal ist hier größer und härter als anderswo, und eines
Tages wird Dir vor dem Gerichtshofe der Liebe, der jenseits der
blauen Weiten der Unendlichkeit Sitzung hält, dafür umso
größere Ehre zufallen.
Mann des Südens, dem die heitere Natur den Sinn für
Geheimnisse und Mysterien verschließt — leichtlebiger Mensch
aus Bordeaux, Marseille oder Italien, mögen Dir die glühenden
Frauen genügen. Ihre Beweglichkeit und Lebhaftigkeit sind Dein
natürliches Reich — Dein kurzweiliges Reich.
Jüngling, der Du ein großer Dichter werden willst, hüte
Dich in der Liebe vor dem Paradoxen. Laß die von ihrer ersten
Pfeife begeisterten Schüler aus voller Kehle das Loblied der feisten
Frau singen; überlaß diese Lügen den Ncophytcn der pseudo-
romantischen Schule. Wenn die feiste Frau bisweilen auch eine
köstliche Laune bedeutet, so ist die magere Frau ein Brunnen
düsterer Wollust.
Verhöhne nie die großartige Natur und wenn sie Dir eine
Mätresse ohne Busen zugewiesen hat, so sage Dir: „Ich besitze
einen Freund — mit Hüften!" und geh in den Tempel, um den
Göttern zu danken.
124
Du mußt es verstehen, sogar aus der Häßlichkeit Nutzen
zu ziehen. Mit Deiner eigenen geht dies allzuleicht. Jedermann
weiß, daß Trenk, das verbrannte Maul, von den Frauen ver-
göttert wurde, ja selbst von der eigenen!
Ich will nun von etwas noch Seltenerem und Schönerem spre-
chen, das die Ideenassoziation leicht und natürlich erscheinen lassen
wird. — Ich nehme an, Dein Idol sei krank. Seine Schönheit ist
unter der scheußlichen Kruste der Windpocken verschwunden
wie das Grün unter den Eisblöcken des Winters. Noch beunruhigt
von unaufhörlicher Angst und den wechselnden Ereignissen wäh-
rend der Krankheit, betrachtest Du traurig die unauslöschlichen
Male auf dem Körper der lieben Genesenden. Plötzlich hörst Du
eine Weise in Deinen Ohren tönen, die von dem wahnsinnig ra-
senden Bogen Paganinis gespielt wird, und diese sympathische Weise
spricht Dir von Dir und scheint Dir Dein ganzes inneres Gedicht
von den verlorenen Hoffnungen zu singen. Von diesem Augenblicke
an gehören die Male der Windpocken zu Deinem Glücke und sie
werden Deinem gerührten Blicke stets die geheimnisvolle Weise
Paganinis singen. Sie werden von nun an nicht bloß ein Gegenstand
süßer Sympathie sein, sondern auch ein Gegenstand physischer
Wollust, wenn Du wirklich zu jenen feinfühligen Geistern gehörst,
für welche die Schönheit das Versprechen des Glückes ist. Die
Ideenassoziation verhilft vor allem dazu, die Häßlichen zu lie-
ben, denn Du wagst es sehr wohl, Dich mit einer pockennarbigen
Frau zu trösten, wenn Dir Deine pockennarbige Mätresse untreu ist.
Für manche noch wunderlichere und blasiertere Geister rührt
aber die Lust an der Häßlichkeit von einem noch geheimnis-
volleren Gefühle her, von dem Verlangen nach dem Unbekannten
und der Sehnsucht nach dem Schrecklichen. Dieses Gefühl, dessen
mehr oder minder entwickelten Keim jeder in sich trägt, treibt
manche Dichter in die Amphitheater und Kliniken und die Frauen
zu den öffentlichen Hinrichtungen. Ich muß diejenigen, welche
hiefür kein Verständnis aufbringen könnten, lebhaft bedauern —
sie sind eine Harfe ohne dunkle Saite.
Was die orthographischen Fehler anbelangt, die nach der
Meinung einiger Idioten ins Gebiet der seelischen Häßlichkeit ge-
hören, ist es vielleicht nicht unangebracht, zu bemerken, daß sie
geradezu ein naives Gedicht an Erinnerungen und Befriedigungen
sein können! Der reizende Alkibiades stotterte so lieblich, und wie
göttlich ist das Kauderwelsch der Kinder! Hüte Dich also, junger
125
Eingeweihter der Wollust davor, Deine Freundin franzosisch zu
lehren, es sei denn, Du willst dadurch ihr Liebhaber werden.
Es gibt Menschen, die darüber erröten eine Frau gehebt zu
haben, sobald sie sich dessen gewahr werden, daß sie dumm ist.
Das sind alberne Esel, gerade recht dazu, die gemeinsten Disteln
der Schöpfung abzugrasen oder die Gunst eines Blaustrumpfes zu
genießen. Die Dummheit ist oft geradezu der Schmuck der
Schönheit; sie gibt den Augen jene düstere Durchsichtigkeit der
dunklen Teiche und die ölige Ruhe der tropischen Meere. Die
Dummheit erhält die Schönheit; sie behütet vor Runzeln; sie ist
ein göttliches Kosmetikum, das unsere Idole vor den Wunden be-
wahrt, welche das Denken für uns gemeine Gelehrte bereit hält.
Andere wieder sind ihren Mätressen böse, weil sie verschwen-
derisch sind. Das sind die Geizhälse oder Republikaner, welche
die wichtigsten Grundsätze der Nationalökonomie nicht kennen.
Die Laster einer großen Nation bedeuten ihren größten Reichtum.
Andere wieder, gesetzte Leute, vernünftige und ruhige
Dei'sten, gemäßigte Dogmengläubige, sind darüber wütend, wenn
sie mitansehen müssen, wie sich ihre Frauen der Frömmigkeit in
die Arme werfen. O, diese Ungeschickten, die nie auf einem
Instrumente werden spielen können! O, diese dreifachen Narren,
die nicht begreifen, daß die verehrungsvollste Form, in der die
Religion auftreten kann, ihre Frau ist. Einen Gatten bekehren,
welch köstlicher Apfel! Was für eine schöne verbotene Frucht ist
doch eine großzügige Gottlosigkeit — in einer tobenden Winter-
nacht, am Herdfeuer bei Wein und Trüffeln — stummer Choral
des häuslichen Glückes, Sieg über die gestrenge Natur, die selbst
die Götter zu lästern scheint.
Ich wäre nicht so bald damit fertig, wollte ich alle schönen
und guten Seiten dessen aufzählen, was man Laster und moralische
Häßlichkeit nennt; aber die Menschen mit Herz und Geist stehen
oft vor einem Fall, der schwierig und angsteinflößend ist wie
eine Tragödie, dann nämlich, wenn sie zwischen dem ererbten und
vom Vater übernommenen Sinn für die Sittlichkeit — und dem
tyrannischen Verlangen nach einer Frau, die sie nur verachten
müssen, eingeklemmt sind. Beständige und gemeine Untreue, niedere
Gewohnheiten, schamlose, zu ungelegener Zeit entdeckte Geheim-
nisse flößen einem Grausen ein vor dem Idol und es kommt manch-
mal vor, daß einen die Lust erschauern macht. Dadurch ist man in
seinen platonischen Überlegungen gar arg behindert. Tugend und
Stolz rufen einem zu: Fliehe sie! Die Natur flüstert einem ins Ohr:
Wohin entfliehen? Schreckliches Entweder-Oder, durch das die
126
stärksten Seelen beweisen, wie unzulänglich unsere philosophische
Bildung ist. Da die Menschen nun von Natur aus dazu ver-
urteilt sind, ewig den Roman von Manon Lescaut und Leone
Leoni zu spielen, ziehen sich die Geschicktesten unter ihnen mit
der Erklärung aus der Klemme, daß die Verachtung sehr gut mit
der Liebe vereinbar sei. Ich will Dir hier ein viel einfacheres Rezept
vorschlagen* das Dich nicht nur von solch beschämender Recht-
fertigung dispensiert, sondern Dir sogar gestattet, Dein Idol nicht
zu beschädigen und Deine Kristallisation nicht zu stören.
Ich nehme an, daß die Heldin Deines Herzens, nachdem sie
alle erlaubten und unerlaubten Mittel mißbraucht hat, an den
Grenzen des Verderbens angelangt ist, zwar nicht ohne vorher —
letzte Untreue, höchste Pein — die Macht ihrer Reize auf die Ge-
fangenenwärter und Scharfrichter ausgeübt zu haben. Wirst Du so
leicht Dein Ideal verleugnen oder, wenn die Natur Dich, treu und
weinend, in die Arme dieser bleichen Geköpften wirft, mit dem
gekränkten Ton der Entsagung erklären: Verachtung und Liebe
sind verwandte Gefühle? Gewiß nicht, denn dies sind Paradoxa
einer furchtsamen Seele und matten Intelligenz. — Sag kühn und
mit der Unschuld des wahren Philosophen: „Weniger ruchlos
wäre mein Ideal unvollständig gewesen. Ich betrachte es und bin
ihm ergeben. Bei einem so mächtigen, schurkischen Geschöpf weiß
die große Natur allein, was sie machen will. Höchstes Glück und
höchste Vernunft! Unbedingtheit! Resultante aus Gegensätzen!
Ormuzd und Ahriman, Ihr seid eins!"
Dank solch synthetischer Auffassung der Dinge wird Dich die
Bewunderung ganz natürlich zur reinen Liebe zurückführen, zu
dieser Sonne, deren Intensität alle Flecken in sich aufsaugt.
Erinnere Dich daran, daß man sich in der Liebe vor allem
vor dem Paradoxon hüten soll. Die Naivität allein vermag zu
retten, die Naivität allein macht glücklich, und wäre Deine
Mätresse auch so häßlich wie die alte Mab, die Königin der
Schrecknisse. Im allgemeinen ist die Liebe in den vornehmen
Kreisen — ein geschickter Moralist hat es gesagt — nur Liebe
zum Spiel, zum Gefecht. Es ist dies ein großer Fehler, denn Liebe
muß Liebe bleiben. Gefecht und Spiel sind nur als Politik im Falle
Liebe gestattet.
Die moderne Jugend tut unrecht, die Tat vorzubereiten.
Nicht wenige Verliebte sind eingebildete Kranke, die viel für
Arzneien ausgeben. Sie bereichern die Herren Apotheker, ohne
dabei die Befriedigungen und Privilegien einer wirklichen Krank-
127
heit zu genießen. Sie verderben sich ihren Magen und vermindern
so die Verdauungspotenz der Liebe. Obwohl man mit seinem Jahr-
hundert Schritt halten muß, hüte Dich, den berühmten Don Juan
nachzuäffen, der nach Moliere nur ein ungestümer, in der Liebe
bewanderter und mit den Verbrechen und Listen verbrüderter
Kerl war. Dank den Herren Alfred de Musset und Theophile
Gautier ist er zum künstlerischen Müßiggänger geworden, der in
den verrufenen Häusern der Vollkommenheit nachspürt, um
schließlich nur noch ein alter Dandy zu sein, der von all seinen
Reisen gebrochen heimkehrt und als ärgster Narr der Welt neben
einer treuen, in ihren Gatten zärtlich verliebten Frau das
Leben fristet.
Zusammenfassende allgemeine Regel: Hüte Dich in der Liebe
vor dem Mond und den Sternen, hüte Dich vor der Venus von
Milo, den Seen, den Gitarren, den Strickleitern und allen Ro-
manen, ja sogar vor dem schönsten, und wäre er von Apollo
selber geschrieben.
Aber die, welche Du 'liebst, liebe sie ernstlich, stark, keck,
orientalisch und grausam. Möge Deine Liebe nicht die Liebe eines
andern belästigen; möge Deine Wahl den Staat nicht stören. Bei
den Inkas liebte man seine Schwester; gib Dich mit Deiner Base
zufrieden. Erklettere nie die Balkone, beschimpfe nie die öffent-
liche Gewalt. Nimm Deiner Mätresse nicht den Glauben an die
Götter und wenn Du sie ins Gotteshaus begleitest, tauche Deine
Finger anständig ins reine und frische Wasser des Weihfasses.
Jede Moral zeugt vom guten Willen des Gesetzgebers. Jede
Religion ist höchster Trost für alle Betrübten. Jede Frau ist ein
Teil der wesentlichen Frau, die Liebe allein ist der Mühe wert,
daß man ein Sonnet drechselt und feine Wäsche trägt. Alle diese
Dinge verehre ich mehr als irgendjemand und ich zeihe jeden der
Verleumdung, der behauptet, hinter diesem Fetzen Moral stünden
Zeichen des Kreuzes, er sei Nahrung für einen Skandal. Eine
schillernde Moral, nicht wahr? Buntfarbige Gläser, welche die
ewige Lampe der Wahrheit, die darin leuchtet, vielleicht gar zu
stark färben? Nein, durchaus nicht! Hätte ich beweisen wollen,
daß in der besten der möglichen Welten alles aufs beste bestellt
ist, der Leser würde das Recht haben, mir wie dem genialen
Affen zu sagen: Du bist boshaft! Aber ich habe beweisen wollen,
daß alles aufs beste bestellt ist in der schlimmsten der möglichen
Welten. Es wird mir daher viel verziehen werden, weil ich viel
geliebt habe, mein Leser... oder meine Leserin!
128
io. Kapitel.
Die Schranke.
Einer Malabresin* 1
Dein fuß so fein wie deine hand, der hüfte breite
Bestände mit der schönsten weißen frau im streite,
Dem denker-künstler ist dein körper lieb und traut
Und schwärzer ist dein sammtnes aug als deine haut.
In blauem heißem lande hat dich Gott geborgen.
Es ist dein amt des herren pfeife zu besorgen.
Du giebst den frischen duftigen krügen ihren ort.
Du treibst vom bett die schwärmenden insekten fort.
Und singen in dem morgenwinde die platanen
So gehst du ananassc kaufen und bananen.
Dann wandelst du wohin du wünschest stundenlang
Und murmelst einen alten unbekannten sang.
Und bringt der abend mit dem scharlachmantel schatten
So legst du sachte deine glieder hin auf matten
Und deine träume fliegen kleinen vögeln gleich
Und sind wie du an anmut und an blumen reich . . .
51 ) Stefan George, S. 108/109 („Les Fleurs du Mal", S. 338).
A une Malabraise
Tes pieds sont aussi fins que tes mains et ta hanche
Est large ä faire envie ä la plus belle blanche;
A I'artiste pensif ton corps est doux et eher;
Tes grands yeux de velours sont plus noirs que ta chair.
Aux pays chauds et bleus oü ton Dieu t'a fait naitre
Ta täche est d'allumer la pipe de ton maitre,
De pourvoir les flacons d'eaux fraiches et d'odeurs.
De chasser loin du lit les moustiques rodeurs,
Et, des que le matin fait chanter les platanes,
D'acheter au bazar ananas et bananes.
129
Warum du. glücklich k i n d. nach unseren gestaden
Dich sehnst die übervölkert sind und leidbeladen.
Der schiffer starke arme dir zum schütz be-
stimmst.
Von deinen lieben tamarinden abschied nimmst?
Du halb bekleidet nur mit leichten musselstoffen
Da drüben von dem schnee- und hagelsturm getroffen.
Wie wirst du weinen um die tage frei und unbewußt!
Du mußt mit rohen schnüren fesseln deine brüst.
Nach einem abendbrot in unsrem schmutze laufen
Und deiner reize seltsam fremden duft verkaufen.
Dann suchst du starren blicks im ncbel schwarz und kalt
Der fernen kokosbäume schwankende gcstalt.
Ist man einmal, dank der Psychoanalyse, mit den affek-
tiven Konflikten Baudelaires einigermaßen vertraut, so wird
man sich dessen bewußt, daß Jeanne Duval, die Mulattin,
die anscheinend eine so wichtige Rolle im Leben des Dich-
ters gespielt hat, doch nur ein Element im Dienste jener
psychischen Konstellation war, die auch ohne sie existiert
hätte und für die diese Frau, im Grunde genommen, nur das
allen sichtbare Symbol gewesen ist. War nicht das Schwarze
die große Leidenschaft des Dichters — weil es mit dem
Tout le jour, oü tu veux, tu menes tes pieds nus,
Et fredonnes tout bas de vieux airs inconnus;
Et quand descend le soir au manteau d'ecarlate,
Tu poses doucement ton corps sur une natte,
Oü tes reves flottants sont pleins de colibris,
Et toujours, comme toi, gracieux et flcuris.
Pourquoi, l'heureuse enfant, veux-tu voir notre France,
Ce pays trop peuple que fauche la souffrance,
Et, confiant ta vie aux bras forts des marins,
Faire de grands adieux ä tes chers tamarins?
Toi, vetue a moitie' de mousselines freies,
Frissonnante la-bas sous la neige et les greles,
Comme tu pleurerais tes loisirs doux et francs,
Si, le corset brutal emprisonnant tes flancs,
II te fallait glaner ton souper dans nos fanges
Et vendre le parfum de tes charmes Stranges,
L'ceil pensif et suivant, dans nos sales brouillards,
Des cocotiers absents, les fantomes 6pars!
130
"Weißen nicht ging? Brauchte er nicht das Mißlingen als
Schranke, um die wirkliche Liebe zu fliehen, um sich zum
Ausgangspunkt zurückgeworfen zu fühlen, im Feuerkreis ge-
fangen, der wie ein Panzer oder eine Gebärmutter seine
Seele umschließen sollte, die einem andern Kult als dem des
Lebens und des Glückes geweiht war? Vergessen wir nicht,
daß Baudelaire sein ganzes Leben lang sich geweigert hat.
irgendeinen Beruf zu erwählen. Er wollte um jeden Preis
frei sein und bleiben, selbst wenn er sich damit hätte ab-
finden müssen, bloß König in einer Wüste zu sein. Für ihn
kam jede Entwicklung einer Untreue gleich. Um zu ver-
stehen, in welchem Maße für ihn ein bürgerliches Leben etwas
Infames bedeutete, genügt es, sich die Familienverhältnisse
Baudelaires vor Augen zu halten. Es im Leben zu etwas
bringen, bedeutete für ihn, ein ehrenhaftes Leben, wie das
des Generals, seines Stiefvaters, zu führen. Ein ehrliches
Leben führen, schließt die Notwendigkeit in sich ein, dem
Vater, mit dem man sich identifiziert, zu folgen, dem Vater,
den man irgendwie ersetzt. Wir haben gesehen, wie Baude-
laire diese Rivalität des Sohnes seinem Vater gegenüber
erledigt hat, um sich nicht schuldig zu fühlen, den Tod
des Vaters gewünscht zu haben. Es zu etwas bringen, wie
Aupick es zu etwas gebracht hatte, oder gar wie jedermann
einfach im Kreis der Familie leben, bedeutete für dieses Kind,
dem Vater gleich zu werden; dies verbot er sich aber der
Kastrationsangst wegen wie ein Verbrechen 52 . Vor dem Er-
folg, Offizier, Mann, Familienvater zu sein, mußte er ins
Dunkle fliehen, in die Rolle eines Dandy-Offiziers, in die
eines gebrochenen Mannes, eines Priesters des Teufels und
der Hölle, da er kein Priester des hellichten Tages, des
52 ) Man erinnert sich an das Urteil Baudelaires über „die
Blumen des Bösen": „Dieses Buch ist nicht für meine Frauen,
meine Töchter und meine Schwestern . . . Ich habe Angst vor diesen
Dingen."
9* 131
Himmels sein durfte. Er brauchte eine Brustwehr, eine
Schranke, die ihn vor dem normalen Wege zurückzuhalten
und im besonderen von der Familie, im allgemeinen von der
menschlichen Gesellschaft zu trennen vermochte. Jcanne Duval
und vielleicht sogar Aupick, spielten die Rolle dieser Schranke.
Er brauchte die berühmte „Mechanik", jene Erfindung, die
es ihm erlaubte, zuerst seinen Stiefvater, dann Jeanne Duval
gegen sich zu verwenden. Er brauchte alles, was ihm gestat-
tete, den Mißerfolg zu organisieren, von dem wir in den vor-
hergehenden Kapiteln gesprochen haben. Die Rolle Aupicks
und die Jeannes nehmen in unserem System einen sichtlich
anderen Charakter an als den, welchen man ihnen zuerst
zuschreiben wollte.
Es ist durchaus möglich, daß der General, was immer
auch seine Witwe darüber in ihrem Briefe an Asselineau B2a
52a
)
„Lieber Herr Asselineau,
„Ich teile Ihnen im folgenden mit, was ich Ihnen auf Ihre
Fragen über Charles Reisen zu sagen habe:
Vor allem müssen Sie wissen, daß mein Mann, General
Aupick, Charles vergötterte. Als mein Sohn noch ein Kind war,
hat er sich persönlich sehr um dessen Erziehung gekümmert. Er hatte
es mit einer so prachtvollen Intelligenz zu tun, mit einem so lern-
begierigen, neugierigen, ihn überraschenden Geist, daß er ihn von
Tag zu Tag lieber gewann.
Als dann die Erfolge im Lycee Louis-Le-Grand dazukamen
und die Studien beendigt waren, träumte er für Charles eine glän-
zende Zukunft: er wollte ihn in einer hohen sozialen Stellung sehen,
die er ihm, da er mit dem Herzog von Orleans befreundet war,
verschaffen konnte. Aber wie bestürzt waren wir, als Charles sich
allem widersetzte, was man für ihn tun wollte, als er mit eigenen
Flügeln fliegen und Schriftsteller werden wollte! Was für eine Ent-
täuschung war das in unserem bis dahin so glücklichen Familien-
leben! Was für ein Kummer! Um seinen Ideen eine andere Rich-
tung zu geben und vor allem, um einigen schlechten Bekannt-
schaften ein Ende zu machen, sind wir dann auf den Gedanken
gekommen, ihn auf Reisen zu schicken.
132
schreiben mag, unbewußt einige Schwierigkeiten empfunden
hat, das Kind des ersten Mannes seiner Frau zu akzeptieren.
Es ist wahrscheinlich, daß Aupick auf dieses von einer
sanften und schwachen Mutter verhätschelte Kind sehr eifer-
süchtig war. Während ihrer Witwenzeit hatte sie zu ihrem
kleinen Kinde Zuflucht genommen, dieses Kind war von ihr
ganz ungewöhnlich herzlich und innig liebkost worden, es
lernte Tränenausbrüche kennen, die manchmal an Ekstase
grenzten und eine laue und animalische Wollust, die der
Dichter später vergeblich in den exotischen Ländern suchte.
Dies mußte eine verwickelte, weil schuldbeladene Beziehung
zwischen Mutter und Sohn zur Folge haben, ebenso jene Treib-
hausatmosphäre schaffen, in der die Sinne Baudelaires sich zu
früh und ungewöhnlich entwickelten — eine Atmosphäre, die
in gewissem Sinne an eine Widernatürlichkeit streifte, die zwar
unbewußt, aber darum nicht weniger real war. Auf diese
Atmosphäre konnte Aupick, der ehrliche Mann und gute
Katholik, nicht anders als mit der größten Energie reagieren,
dies umso mehr, als er bei einer solchen Mutter und einem
solchen Stiefsohn nie genau wissen konnte, ob der Platz des
wahren Liebhabers nicht vom andern eingenommen wurde,
von diesem Kinde mit einer so frauenhaften Empfindsamkeit,
daß sie sich jeden Augenblick — ohne wahrnehmbare Bewe-
gungen noch Gesten — mit der seiner Mutter vereinen und
diese überglücklich machen konnte. Aus dieser Zeit stammt
wohl das leidenschaftliche Verlangen Baudelaires, seine Mut-
Der General, der in einer Hafenstadt aufgewachsen war,
das Meer leidenschaftlich liebte, und in Charles Alter begeistert
gewesen wäre, hätte er aufs Meer hinausfahren dürfen, nahm daher
an, eine Reise zu Wasser sei einer Reise zu Lande vorzuziehen.
Er konnte sich dabei täuschen, aber er war von den besten Ab-
sichten für meinen Sohn durchdrungen. Dieser hätte ohne Zweifel
vorgezogen, mit uns zu bleiben; jedoch ohne irgend einen Wider-
willen zu zeigen, ließ er alles kommen, wie es kam."
133
tcr zum Weinen zu bringen, sie in Tränen zu sehen. Er ge-
steht dies übrigens in einem an seine Mutter im Juli 1839
gerichteten Brief, also in seinem 18. Lebensjahr, ein: „Gewiß
sind sie" (die Lasegue, bei denen der Gymnasiast Baudelaire
in Pension war) „glücklicher als wir. Bei Dir habe ich Tränen
gesehen, Verdrießlichkeiten mit meinem Vater erlebt und Deine
Nervenanfälle gekannt, aber ich habe Euch lieber
so." Zietieren wir t>ei dieser Gelegenheit das Gedicht:
HeautontimorGumenos* 3
Ich trefP ins Herz dich ohne Hassen,
Ein Henker ohne Zorn und Pein,
So schlug einst Moses auf den Stein!
Und Fluten will ich strömen lassen.
Aus deinem Aug', ein Meer von Weh,
Um meine Wüste neu zu tränken,
Und stolz will ich die Wünsche lenken
Auf deiner Tränen salziger See.
Dein liebes Schluchzen und dein Klagen,
Dein wilder, hoffnungsloser Schmerz
Wird mir berauschend an das Herz
Wie Sturm und Trommelwirbel schlagen.
53 ) Terese Robinson, S. 166 („Les Fleurs du Mal", S. 221).
L'Hcautontimoroumenos
A. J. G. F.
Je tc frapperai sans colere
Et sans haine, comme un boucher r
Comme Moise le rocher!
Et je ferai de ta paupicre,
Pour abreuver mon Sahara,
Jaillir les eaux de la souffrance.
Mon desir gonfle" d'csperance
Sur tes pleurs salcs nagcra
134
Bin ich der grelle Mißklang nicht
In diesem reinen Weltentönen
Dank der Gewalt, die, mich zu höhnen,
Die Seele rüttelt, reizt und sticht?
Denn in mir ist ein Schrei voll Grauen!
Ein Gift in mir, so schwarz und wild!
Ich bin der Spiegel, drin ihr Bild
Die Furien und Megären schauen!
Ich bin die Wange und der Streich,
Ich bin das Messer und die Wunde,
Glieder und Rad zur selben Stunde!
Opfer und Henkersknecht zugleich!
Der Vampir, der sein Blut muß saugen,
Der Einsamkeit verlorener Sohn,
Mein Mund, verdammt zu ewigem Hohn,
Will nimmermehr zum Lächeln taugen!
Comme un vaisseau qui prend lc large,
Et dans mon cceur qu'ils soüleront
Tes chers sanglots retentiront
Comme un tambour qui bat la charge!
Ne suis-je pas un faux aecord
Dans la divine Symphonie,
Gräce ä la vorace Ironie
Qui me secoue et qui me mord?
Elle est dans ma voix, la criarde!
C'est tout mon sang, cc poison noir!
Je suis le sinistre miroir
Ou la magere se regarde!
Je suis la plaie et le couteau!
Je suis le souflet et la joue!
Je suis les membres et la roue,
Et la victime et le bourreau!
Je suis de mon cceur le vampire,
— Un de ces grands abandonnes
Au rire eternel, condamn^s,
Et qui ne peuvent plus sourire!
135
Wir wissen, daß Baudelaire diese Leidenschaft durch
die Schranke, die ihn vor dem Bösen behüten sollte, zurück-
drängen wollte, jene Leidenschaft, die vielleicht noch durch
Kindheitserinnerungen anderer Natur aufgestachelt war. Wir
sprachen davon im Kapitel über die sexuelle Hemmung Bau-
delaires, dort, wo wir die Möglichkeit in Betracht gezogen
haben, daß der Ausgangspunkt dieses Verdrängungssystems
bei Baudelaire mit gewissen Geschehnissen, gewissen Ein-
drücken der frühesten Kindheit in Beziehung stehen könnte,
nämlich mit der Beobachtung oder der Belauschung eines
Geschlechtsaktes, bei dem seine Mutter oder sein Kinder-
mädchen Mariette eine wichtige Rolle gespielt hatten. Wir
möchten hier eine besondere Seite des Problems nicht über-
sehen, eine Seite, die jeder Psychoanalytiker in Betracht zu
ziehen gezwungen wäre, auch wenn er sich nicht dazu be-
rechtigt fühlen würde, präzise Folgerungen zu ziehen. Die
psychoanalytische Praxis macht uns in der Tat überaus emp-
findlich für eine Menge von Kleinigkeiten, von denen jede,
einzeln genommen, vielleicht keine Berechtigung hätte, die aber,
wie die verschiedenen Elemente eines Puzzles, manchmal
äußerst kostbare Auskünfte über gewisse Fakten und Daten
des Lebens einer Person geben können, wenn sie zu einander
in Beziehung gesetzt werden. So sind wir dazu geführt wor-
den, gewisse Elemente in dem Traum Baudelaires, den wir
weiter oben zitiert haben, mit der folgenden Stelle eines an
seine Mutter gerichteten Briefes in Beziehung zu setzen:
Es hat in meiner Kindheit eine Zeit gegeben, in der ich Dich
leidenschaftlich liebte; hör' zu und lies ohne Furcht weiter. Ich
habe Dir nie davon etwas gesagt. Ich erinnere mich einer Spazier-
fahrt im Fiaker; Du kamst aus einem Krankenhaus, in das Du für
einige Zeit verbannt worden warst und Du zeigtest mir Feder-
zeichnungen, die Du für mich gemacht hattest, zum Beweis dafür,
daß Du an Deinen Sohn gedacht. Hab ich nicht ein schreckliches
Gedächtnis?
136
Es ist im Traume Baudelaires anläßlich der Zeichnungen
von Vögeln und Foeten die Rede, welche von diesem oder
jenem Mädchen an einem bestimmten Datum in die Welt ge-
setzt wurden und auch von einer Fahrt im Wagen mit
Castille. Die Spazierfahrt, an die Baudelaire in seinem Briefe
erinnert, hat nun aber vor der Wiederverehelichung seiner
Mutter stattgefunden. Wir müssen uns daher fragen, ob die
Eindringlichkeit, mit der er seiner Mutter sein schreck-
liches Gedächtnis in Erinnerung ruft, nicht einen
Vorwurf enthält und nicht auf etwas Bestimmtes hindeutet,
dessen Existenz bei seiner Mutter Baudelaire unbewußt er-
raten hatte und das, wenn es auch verdrängt wurde, doch
nie von ihm vergessen noch verziehen worden war. Um bei
unserer Untersuchung noch tiefer in die Materie eindringen
zu können, müßte man tatsächlich wissen, warum Caroline
zu jener Zeit in einem Krankenhaus gewesen war, und welche
Ereignisse sich damals in ihrem Leben zugetragen hatten. So-
lange wir davon keine Kenntnis haben, müssen wir uns
absoluter Zurückhaltung befleißen, und dies trotzdem unsere
tägliche Erfahrung uns lehrt, daß Assoziationen von Ideen
und Einzelheiten, wie jene, die wir in seinem Traume und
in seinem angeführten Briefe vorfinden, wenn wir sie mit-
einander in Beziehung setzen, uns auf wichtige Spuren brin-
gen könnten und uns dann dank einer sorgfältigen Erkundi-
gung erlauben würden, Einzelheiten über gewisse im Leben
einer Person verborgenen Ereignisse ausfindig zu machen; in
gewissen Fällen haben z. B. das Datum einer Fehlgeburt oder
einer Krankheit der Mutter auf das affektive Leben eines
Individuums eine tiefgehende Wirkung ausgeübt, obwohl jede
Erinnerung an das Ereignis selbst aus seinem Bewußtsein ver-
schwunden ist; in anderen Fällen wirkt sich die Beobachtung
des Koitus der Eltern oder von Dienstboten aus, die Beobach-
tung eines Ehebruches, den der Vater mit einer Gouvernante
137
begeht, oder die Mutter mit einem Hauslehrer, einem
Priester usw. . . .
Bei Baudelaire könnten wir uns fragen, ob die Geschichte
vom Foetus, die Idee von den anatomischen Schaustücken
aus einem Museum, die in seinem Traume ihren Ausdruck
findet, nicht mit der Erinnerung an eine Fehlgeburt oder an
irgend etwas Analoges, das ihm in seiner früheren Kindheit
aufgefallen war und ihn beunruhigt hatte, in Beziehung stehen.
Wenn wir damit die Anziehung in Verbindung bringen,
welche das Blut, der Tod und -die Wollust auf ihn ausgeübt
haben, so können wir uns fragen, ob nicht ein Ereignis
dieser Art die Orientierung seiner Neigungen frühzeitig fest-
gelegt hat. Wie dem auch sein mag, solange wir über seine
früheste Jugend nicht besser informiert sind als bisher, ist es
unmöglich, den Grund seines wirklichen Grolles gegen seine
Mutter, der er immer mehr oder weniger offen vorgeworfen
hat, die Ursache seines Unglückes zu sein, auf zufriedenstel-
lende Weise zu verstehen.
In unserer Praxis haben wir oft Fälle, in denen die
Empfindsamkeit eines Kranken durch einen in seiner frühe-
sten Kindheit eingetretenen affektiven Schlag endgültig und
unheilbar gezeichnet ist. Leider unterschätzen die Eltern zu
häufig die Intelligenz eines Kindes, und zwar besonders eines
Kindes, das in dem Alter ist, dn dem es noch nicht sprechen
kann. Man kann nie vorsichtig genug sein, zumal, wenn
es sich um Kinder handelt, deren früh entwickelte, bestän-
dig wache Intelligenz sich nichts entgehen läßt. Diese Kinder
können durch gewisse Fakten bis ins Innerste aufgewühlt
werden, da sie diese Fakten richtig erfassen und ihren Sinn
und ihre Tragweite instinktiv erraten, obwohl sie sich die-
selben nicht bewußt erklären können. Belanglosigkeiten kön-
nen manchmal für ein geängstigtes, durch gewisse Ein-
drücke, gewisse Drohungen oder gewisse Grausamkeiten ge-
schrecktes Kind von der Bedeutung sein, die für einen Er-
138
wachsenen z. B. ein Erdbeben hat. Die Phantasie wird dann
von der Erinnerung an die Katastrophe heimgesucht, aus der
man im Traume, wie in der Mythologie, ein außergewöhn-
liches Ereignis macht, wobei man sich einbildet, der Held der
Katastrophe gewesen zu sein. Die Erinnerung an derartige
„Sündfluten" verewigt sich im Individuum ebenso wie auch
in der Menschheit, obwohl man, bewußt, die Spur, die vom
ursprünglichen Ereignis ausgeht, verloren hat. Wir können
hier nicht auf die Einzelheiten der infantilen Psychologie ein-
gehen, die ja außerhalb unseres Themas bleibt. Wir dürfen
uns aber nicht der Nachlässigkeit schuldig machen, die Auf-
merksamkeit des Lesers nicht auf jene besonders wichtige
Seite des Problems gelenkt zu haben, welches die Entstehung
von Baudelaires Krankheit aufwirft, eine Seite des Problems,
die man auch kennen muß, um die Rolle Aupicks im Leben
unseres Helden in ihrer wahren Bedeutung würdigen zu
können.
Allgemein wird angenommen, daß die Wiederverheira-
tung der Mutter den Ausgangspunkt von Baudelaires Gleich-
gewichtsstörung gebildet hat. Trotzdem verdient es die Hypo-
these, nach der die Konflikte Baudelaires mit Aupick nicht
die Ursache, sondern lediglich eine Folge von Baudelaires
Neurose gewesen seien, die selbst wiederum in einer früheren
Zeit seiner Kindheit entstanden wäre, sorgfältig untersucht zu
werden.
Wir befinden uns hier auf einem Gebiet, auf dem wir
leider nur über ein allzu beschränktes Material verfügen,
als daß wir die Sachlage gründlich durchschauen könnten.
Die Erinnerungen, die Baudelaire über den Vater aufgezeich-
net hat, helfen uns dabei nur wenig. Wir können daher nichts
mit absoluter Sicherheit behaupten.
Zu unserem Zweck zitieren wir vorerst eine Stelle des
Tagebuchs:
139
Grundsätze und Generationen: Den herrschenden
Fürsten Verdienste und Laster des Volkes zuzuschreiben, das sie
gerade regieren, ist eine Ungerechtigkeit.
Diese Verdienste und diese Laster sind fast immer, wie Sta-
tistik und Logik beweisen könnten, der Atmosphäre der vorherigen
Regierung zuzuschreiben.
Ludwig XIV. erbt die Menschen Ludwigs XIII.: mit ihnen
Ruhm. Napoleon I. erbt die Menschen der Republik: mit ihnen
Ruhm. Louis-Philippe erbt die Menschen Karls X.: mit ihnen Ruhm.
Napoleon III. erbt die Menschen Louis-Philipps: durch sie Schande.
Immer ist die vorherige Regierung für die Sittlichkeit der
nachfolgenden verantwortlich, insofern eine Regierung überhaupt
für irgend etwas verantwortlich gemacht werden kann.
Wenn wir an Stelle von „Regierung" „Vater" schrei-
ben, so könnten wir den Sinn dieser Sätze etwa wie folgt
auslegen: nicht der jetzige Vater, sondern der vorherige ist
an den Übeln der Nation, d. h. des Kindes, schuld. Wir
hätten es daher mit einer zensurierten Beschuldigung zu tun,
die Baudelaire direkt gegen seinen Vater richten würde. Aber
wir besitzen für sie noch deutlichere Belege. Wir haben schon
vom „Marquis der Einser-Husaren" gesprochen und wollen
jetzt dieses Thema genauer studieren. Wir geben daher das
Szenarium des Dramenentwurfs wieder:
Der Marquis der Einser-Husaren
I. Akt. Das Schloß von Hermorah, Residenz
des Grafen von Ca d olles, am Ufer des Rheins.
Wolfgang ist der Sohn des Grafen von Cadolles und einer
mystischen Deutschen, die er während der Emigration geheiratet
hat. Wolfgang ist ein romantischer Charakter, der bald von
seiner Mutter träumt (das Grab seiner Mutter
befindet sich im Park selber), bald wie ein Wahn-
sinniger die Berichte in den französischen Zeitungen liest, die sein
Vater erhält. Er hat selbstverständlich einen Abscheu vor Bona-
parte, aber er hat das Bedürfnis zu handeln; er strebt nach Ruhm,
beneidet jeden, der ihn besitzt und erinnert sich, daß er Franzose
ist. — Das alles kann in einem Monolog ausgedrückt werden.
Szene zwischen dem Grafen von Cadolles (echter Typus des
angenehmen Franzosen „a n c i e n regim e") und seinem Sohn,
140
dem Marquis, dem er seine unheilbare Traurigkeit
vorwirft. Man hat gute Nachrichten erhalten (falsche Nach-
richten, die sich auf die Hoffnungen der Koalition und der Emi-
gration beziehen). Im Schlosse findet ein Essen statt, zu dem
Freunde geladen sind.
Szene zwischen Frau von Timey und dem Grafen von
Cadolles. Der Graf kennt die Liebe seines Sohnes für Frau von
Timey. Er bittet sie, ihren Einfluß zu benützen, um den
Charakter seines Sohnes anzufeuern und ihn
aufzustacheln. Wolfgang wird übrigens für eine geheime,
politische Mission bestimmt.
Szene zwischen Frau von Timey und Wolf gang. — (Im
dritten Akt, in Paris, wird sich der Charakter Frau von Timeys
vollständig aus den Geständnissen, die sie Wolfgang über ihr Vor-
leben macht, entwickeln.)
Die Szene beim Essen. Man unterhält sich hauptsächlich über
die Hoffnungen der Partei, über Politik und Bonaparte. — Einige
leichte Entgleisungen Wolfgangs, der zw a r den Haß all
seiner Freunde teilt, trotzdem aber nicht kühl
ihre Scherze und Dummheiten anhören kann, be-
sonders, wenn sie die Fähigkeiten des Kaisers
leugnen wollen.
Gegen Ende des Essens meldet ein Diener dem Grafen, daß
ein verwundeter französischer Soldat um Gastfreundschaft bittet.
Der Graf, ein gutmütiger Mensch, will, daß man sich des
Verwundeten in jeder Weise annimmt; um die Neugierde
seines Sohnes zu befriedigen, wird Robert
Triton blutend, zerlumpt und hinkend herein-
geführt.
Nachdem der Trompeter auf sein Zimmer geführt worden ist,
merkt der Graf, der seinen Sohn sucht, daß dieser verschwunden
ist. „Ich möchte wetten", sagt er, „daß Wolfgang, der Schlachten-
erzählungen über alles liebt, die Aufnahme unseres seltsamen
Gastes beaufsichtigt."
Triton, geheilt, ist Oberreitjäger beim Grafen von Cadolles
geworden. Wolfgang verbringt sein Leben mit Triton
auf der Jagd. Der Trompeter verdirbt und ver-
führt den Marquis, ohne daß dieser es merkt.
Er erklärt ihm in seiner Sprache in wilder, malerischer, grober,
naiver Manier, was ein Gefecht, ein Kavallerieangriff, der Ruhm,
die Freundschaft im Regiment usw. bedeuten.
141
Seit langer Zeit hat Triton keine Familie mehr; seit Beginn
der großen republikanischen Kriege ist er nicht mehr in sein Dorf
zurückgekehrt und er weiß nicht, was aus seiner Mutter geworden
ist. Das Regiment der Einser-Husaren ist zu seiner Familie
geworden.
Eines Nachts befiehlt Wolfgang dem Trompeter, die beiden
besten Pferde zu satteln.
Auf dem Wege sagt er zu ihm: „Errätst du, wohin wir gehen?
Wir wollen zur Großen Armee stoßen. Ich will nicht mehr,
daß man sich schlägt ohne mic h."
2. Akt. Enzersdorf und Wagram.
Sie kommen im französischen Lager an. Triton, den man für
tot gehalten, wind von den Kameraden wieder erkannt.
Der Oberst Herbin ißt gerade mit zwei Offizieren. Er um-
armt Triton und fragt Wolfgang, wer er sei und was er wolle —
Dieser zeigt einige Papiere und wird sofort eingestellt.
Cadolles läßt die Marketenderin kommen und zahlt seiner
Schwadron die willkommene Antrittsrunde.
Wegen seines vornehmen Benehmens (das ihn
niemals verlassen darf, selbst wenn er ein voll-
endeter Kriegsmann geworden ist) geben ihm seine
Kameraden den Spitznamen: der Marquis der Einser-Husaren.
Die Armee hat die Donaubrücke überschritten. — j. Juli. —
Wagram. — Der Kaiser reitet die Front der Einser-Husaren ab.
Wolfgang, der viel (Böses) über den Kaiser reden
gehört hat, sträubt sich gegen die allgemeine Be-
geisterung und befiehlt sich selbst, nicht: Es
lebe der Kaiser! zu rufen. Noch ist er der Sohn
der Anhänger Condds.
Mit ausgestrecktem Arm zeigt Napoleon den Soldaten
Wagrams Hochebene, auf denen die Truppen des Erzherzogs
staffelweise aufgestellt sind. Donnernder Beifall. W o 1 f g a n g
möchte am liebsten weinen, als ob er sich von
einem mächtigen Komödianten hätte hinreißen
lassen.
Die Schlacht.
Wolfgang hat drei Gefangene gemacht und eine Wunde am
Kopf erhalten.
Em Adjutant benachrichtigt ihn, daß der Kaiser ihn sprechen
wolle. Napoleon ist von Generalen und Obersten umgeben, unter
142
denen sioh Oberst Herbin befindet. Er betrachtet Wolfgang auf-
merksam und sagt zu ihm: „Man hat mir gesagt, daß Sie Franzose
und Sohn eines Emigranten seien. Sie machen wieder gut, was Ihre
Familie schlecht gemacht hat, und setzen das fort, was sie an
Gutem tun konnte. Ich will mich an Sie erinnern. Hier, das wird
mir helfen, Sie wiederzuerkennen." (Das Kreuz der Ehren-
legion. — Es ist gut, auf diese Weise den überaus
verführerischen Charakter des Kaisers zu be-
tonen, um den sich viele Historiker zu wenig
gekümmert haben.)
Wolfgang ist völlig besiegt und gewonnen. (Ich glaube, daß
dieser Akt, der auf dem Papier vielleicht sehr kurz ist, bei der
Aufführung sehr lang sein muß.)
3. Akt. Das Kaiserreich ist erledigt. 18 14.
Ein Dorf. Zwei mit Staub bedeckte Offiziere, die Kleider in
Lumpen, kommen todmüde herbei und suchen eine Unterkunft.
Sie sind der Marquis der Einser-Husaren (jetzt Oberst) und
sein alter Kamerad, der Hauptmann Graff (den er im Lager,
einige Tage vor Wagram, kennengelernt hat).
(Dieses Dorf ist zufällig Cadolles, wo man die Rückkehr des
alten Grafen feiert.) Wolfgang eilt zu seinem Vater, der sich auf
der Freitreppe des Schlosses befindet, wo er von Bauern umgeben
ist. Der Vater hat seinen Sohn für tot gehalten. Umarmungen und
Wiedererkennung. Wolfgang befindet sich bald darauf in einem
ihm unsympathischen Salon. Sein Vater stellt ihn Charles
Stown vor, einem englischen Offizier, und dem Grafen von Beval,
einem politischen Pedanten, der von Urkunden, Verfassungen und
Versöhnungen des Königs mit der Revolution träumt. Dann Frau von
Timey, die mit dem Grafen von Cadollcs zurückgekehrt ist, und
immer kokett und Politik betreibend, sich von Charles Stown und
dem Grafen B£val die Cour schneiden läßt.
Wolfgang wird sogleich wieder von Liebe ergriffen, seine
Abneigung gegen von BeVal und den englischen Offizier wächst
natürlich nur noch mehr an.
Frau von Timey versucht sofort, ihn durch Koketterie und
Aufmunterungen für die gute Sache zu gewinnen.
Eine Hand legt sich auf seine Schulter und eine Stimme sagt
ihm: „Der Kaiser hat abgedankt! Aber vielleicht ist dies ein Ge-
rücht, das seine Feinde verbreitet haben. Wenn es Verräter gibt,
so muß man sie erschießen. Eilen wir dorthin, wo es heiß zugeht."
143
Es ist Graff. Wolfgang flieht mit ihm.
Paris. — Die Restauration in Paris. Die Einser-Husaren sind
in Paris in Garnison. Häufige Streitigkeiten zwischen den Offi-
zieren dieses Regiments und den Offizieren der verbündeten
Armeen. — Besonders Graff sucht Duellgegner, und zwar an
allen öffentlichen Stätten. (Man könnte hier als Dekoration
Paphos oder die Tivoligärten auf die Szene bringen.)
Auch Wolfgang führt, um sich zu betäuben, ein sehr
verschwenderisches Leben, aber seine Liebe zu Frau von Timey
wächst immer heftiger an. Diese hat übrigens an Charles Stown
und Beval den Geschmack verloren. Das Ungestüm, das zärtliche
und aufbrausende Wesen Wolfgangs gefallen ihr, aber sie möchte
die Sympathien ihres Geliebten dem neuen Königtum zuwenden.
Wolfgang fühlt öfters, daß in ihm die Manieren und der Stolz
des Edelmannes wiedererwachen, aber das vermindert keineswegs
seine Sympathie und Bewunderung für Bonaparte.
Frau von Timey ist in einer Zeitung beleidigt worden. Wäh-
rend von Beval und Charles Stown sich bei ihr besprechen, was
in einem solchen Falle zu machen sei, erscheint Wolfgang, den
Arm in der Binde. Ohne etwas zu sagen und ohne ihn zu warnen,
hat er den Urheber des Angriffs gezüchtigt.
Diese Angelegenheit bringt den Marquis der Frau von
Timey noch näher und bei einem intimen tete-ä-tete, während
Wolfgang ihr ihren seltsamen Charakter vorwirft, erzählt sie ihm
ihr früheres Leben.
Der Graf von Timey, ein sehr kluger und sehr schlechter
Mensch, war der Geliebte ihrer Mutter gewesen, einer Frau von Evre,
Gemahlin eines anderen französischen Emigranten. Vor demTode,
nach seiner Beichte, wollte der Graf von Timey
Fräulein von Evre heiraten, die vielleicht, ja
sogar wahrscheinlich seine Tochter war. Die
Hochzeitsnacht. Der Sterbende hatte seine Hoch-
zeitsnacht dazu benützt, seine Frau seine
moralische und politische Verderbtheit zu
lehren. Er sagte ihr zum Schlüsse: „Meine liebe
Tochter, ich lasse in deiner jungfräulichen
Seele die Erfahrung eines alten Wüstlings zu-
r ü c k." Dann war er gestorben. So war sie auf
einmal plötzlich reich, Witwe, wenn auch Jung-
frau, und voll Erfahrung, wenn auch unschuldig.
Wolfgang, tief betrübt, schreit auf; er behauptet, daß es noch
ein Glück gebe, daß die Seele seiner Geliebten wieder jung werden
144
könne, daß er voll Jugend und Vertrauen sei, und daß es sich nur
darum handle, all diese düstern Eindrücke im gegenwärtigen Glück
und in einer sofortigen Heirat zu begraben.
Frau von Timey, der ihre ehrgeizigen Träume wieder ein-
fallen, macht die Heirat von einer Bedingung abhängig: daß
Wolfgang den König und den Grafen von Artois aufsuche und
die Einser-Husaren verlasse, um bei der Leibgarde einzutreten.
Wolfgang ist ganz erschüttert, er will bereits nachgeben, als
Graff unerwartet erscheint, und ihm mitteilt, daß der Kaiser ge-
landet sei.
4. Akt — oder 2. Teil des 4. Aktes.
Die ganze Liebe Wolfgangs für Bonaparte erwacht wieder,
in der Kaserne liest er den Offizieren die königliche Proklamation
so vor, daß sie seine wahren Empfindungen ahnen müssen.
Auf einer Straße. — Das Regiment schweigsam, traurig;
Wolfgang reitet voraus, gewissen Zeichen nach. Plötzlich, von
allen Seiten, ein lauter Schrei: „Das ist er!" und dann: „Es lebe
der Kaiser!"
5. Akt. — Bei Frau von Timey.
Brief Wolfgangs: „Ich bin angeklagt, man sucht mich; wenn
man mich findet, werde ich erschossen . . . Kommen Sie . . . und
fliehen wir miteinander."
Frau von Timey zögert und antwortet schließlich: „Nein!"
— beteuert jedoch ihre Liebe und bittet Wolfgang, sich gut zu
verbergen und zu warten.
Zweiter Brief: „Da Sie nicht mit mir fliehen wollen, lieben
Sie mich nicht mehr, und ich stelle mich freiwillig zur Haft."
Im Gefängnis. — Graff besucht seinen alten Kameraden und
sagt ihm, man sollte den Royalisten nicht das Vergnügen lassen,
einen Offizier der Großen Armee zu erschießen. Gleichzeitig gibt
er ihm eine Pistole.
Wolfgang erwidert, daß in solchen Angelegenheiten jeder
seinen Empfindungen folgen dürfe und er sich ruhig erschießen
lassen werde. (Denn er will sterben.)
Ein Leibgardeoffizier überbringt die Nachricht, daß der
König ihn aus freiem Willen begnadigt habe.
Wolfgang ergreift im Augenblick, als Graff ihm freudig um
den Hals fallen will, die Pistole und tötet sich. (Denn er will
sterben.)
10 I4J
Der Graf von Cadolles und Frau von Timey kommen herein.
Wolfgang bildet sich nun ein, daß seine Geliebte seine Be-
gnadigung erreicht habe und stirbt, während er ihr dankt.
Graff, der auf ein früheres Wort von Wolfgang hin die
Wahrheit erraten hat, sagt zu Frau von Timey: „Sie sind es, die
den tapfersten Offizier der Großen Armee, den Marquis der
Einser-Husaren, getötet haben."
Die Frage erscheint uns berechtigt, ob Graff, Napoleon
usw., denen sich der Marquis anschließt, nicht Aupick sym-
bolisieren, und durch diese Tatsache mit der homosexuellen
Neigung Baudelaires zu seinem Stiefvater in Beziehung stehen
sollen. Der wirkliche Vater wird in dieser Geschichte durch
den Grafen von Cadolles vertreten und vor allem durch den
Grafen von Timey, der in der Hochzeitsnacht gestorben ist,
nachdem er die geistige Verführung seiner Frau, hinter der sich
Caroline, die Mutter Baudelaires, verbergen würde, vollzogen
hat. Baudelaire selbst würde im Stücke die Rolle des Helden
spielen, d. h. des Marquis der Einser-Husaren (immer korrekt
angezogen [wie Baudelaire], trotzdem er einfacher Soldat
ist), der es verschmäht, sein Gefängnis (seine Neurose) zu
verlassen, um seiner Frau zu folgen (d. h. seine Mutter zu
lieben). Von diesem Gesichtspunkte aus gesehen, wäre das
Stück, von dem wir hier sprechen, eine vollkommen imasochi-
stische Phantasie von der Art, die wir oft bei unseren Kranken
finden. Die Lösung wird immer durch einen Mißerfolg, eine
Demütigung erzielt: die Frau kommt, um ihren Liebhaber
aus dem Gefängnis zu befreien, aber dieser zieht die Kastra-
tion vor, den Tod. Anstatt die Frau zu lieben, identifiziert
er sich mit ihr im größten Opfer seines Lebens: er begeht
Selbstmord, er weigert sich, an der Seite der Frau von Timey
glücklich weiter zu leben.
Auf diese Art und Weise stoßen wir auf eine ganz uner-
wartete Auslegung der Rolle, die Aupick seinem Stiefsohn
gegenüber gespielt hat. Nach dieser Auslegung hat sich Baude-
laire nicht bloß unbewußt des Generals als einer Art Brust-
146
wehr gegen seine Mutter und gegen die Liebe zu ihr bedient,
er hat sogar diese Liebe seinem Stiefvater geopfert, um von
ihm geliebt, um gedemütigt zu werden und als verlassenes
Wesen alles Leid, das im tränenüberströmten Antlitz seiner
Mutter einen so ergreifenden Ausdruck fand, zu erleben.
Daraus ergibt sich also, daß Baudelaire unbewußt Aupick
geliebt, daß er seinen Stiefvater dauernd aufgereizt hat, um
von ihm geliebt zu werden, in der Absicht, auf ihn einen
Einfluß auszuüben, ihn so von der Mutter zu trennen,
und diese zu isolieren, indem er ihren Platz einnimmt.
Diese Deutung würde uns gestatten, eine Besonderheit im
Benehmen Baudelaires zu verstehen, die das Geld betrifft.
In zwei Dritteln der Briefe an seine Mutter ist von Geld die
Rede, das er ihr zu entziehen weiß, wobei er kein Mittel un-
versucht läßt, das einem Sohne dazu verhilft, seine Eltern
zu hintergehen. Dieses Geld, das Caroline Aupick verdankte,
symbolisierte vor allem Aupick selbst. Bedeutete es für das
Unbewußte Baudelaires ganz kurz: Aupick? Eine Frage, die
gewiß ihre Berechtigung hat,
Hier deckt sich Baudelaires Fall vielleicht mit dem Fall
Jean-Jacques Roussieaus 53a , dessen Verhalten in Bezug auf Geld
ebenfalls abnormal war, konnte er sich doch nicht zurückhalten,
seine teure Mutter, Madame de Warrens, „zu bestehlen". Was
Jean-Jacques betrifft, so hat er uns übrigens selber das
Bekenntnis von gewissen homosexuellen Phantasien hinter-
lassen. Wir weisen auf seine Tendenz hin, das Hinterteil zu
exhibieren, auf sein Verlangen, geschlagen zu werden, ein
Verlangen, das er, wie wir wissen, nicht nur dem mit einer
Peitsche versehenen Frl. Lambercier gegenüber geäußert hat,
sondern jedermann gegenüber; Exhibitionstendenzen, die
sich übrigens durch Bekenntnisse zu befriedigen suchten.
Auch Baudelaire mußte seine Bekenntnisse schreiben;
DSa ) Laforgue, Jean- Jacques Rousseau. Internat. Psychoanalyt.
Verlag, Wien 1930.
10- 147
sein „bloßgelegtes Herz" (Mon Cceur mis ä nu) ist sicherlich
nichts anderes als sein Versuch dieser Art. Wie Jean Jacques
empfand er ebenfalls das Bedürfnis, geschlagen zu werden (er
hat sich öffentlich von seinem Stiefvater ohrfeigen lassen). Wie
Jean Jacques litt auch er an Obstipation und — so merk-
würdig es dem mit der Psychoanalyse nicht Vertrauten auch
scheinen mag — er drückte, indem er seinem Stiefvater gegen-
über seine Sündhaftigkeit und seine „schwarze'" Minderwertig-
keit exhibierte, den unbewußten Wunsch aus, sich den Wirkun-
gen der „Rute" zu unterwerfen, das heißt, von seinem Vater
geschlagen zu werden. Die zahlreichen Schläge, die er sich zu
verschaffen wußte, wären somit nichts anderes als das affektive
Äquivalent für einen homosexuellen Verkehr, den Baudelaire
allerdings nie bewußt ausüben wollte. Und wenn das Geld in
diesem Zusammenhange die männliche Potenz des Stiefvaters
darstellt, so können wir es mit dem berüchtigten Wurmfortsatz
des Ungeheuers, von dem im Traume Baudelaires die Rede
ist, in Beziehung bringen, der „so lang, so riesig lang (ist),
daß das Gewicht des Wurms, wenn es diesen Fortsatz wie
einen Zopf um sein Haupt schlingen würde, viel zu schwer
wäre, als daß es getragen werden könnte . . ., ließe es ihn auf
dem Boden nachschleppen, so würde der Fortsatz ihm den
Kopf nach hinten reißen." Dieser Wurmfortsatz ist, der Be-
schreibung nach zu schließen, sehr wahrscheinlich am Hinter-
kopf des Ungeheuers (am Hinterteil) festgemacht, und stellt
eine Verschiebung von unten nach oben dar. Wenn nun Jeanne
Duval für die Affektivität des Dichters eine Aupick analoge
Rolle gespielt hat, so verstehen wir, warum Baudelaire ge-
zwungen war, sie in erster Linie dazu zu benützen, sich von
ihr schlagen zu lassen, beim Kontakt mit ihr zu leiden, das
heißt, von ihr sexuell besessen zu werden. Und dieses Ver-
hältnis würde allem Anscheine entgegen eine homosexuelle
Bindung darstellen, bei der Baudelaire hauptsächlich die pas-
sive Rolle, die der Frau, der Gefangenen, spielt und dies
i48
trotzdem seine Natur sich von Zeit zu Zeit heftiges gegen
diese „Verdrehung" auflehnte und ihn eines Abends sogar so
weit brachte, daß er mit einer Lampe seiner Mulattin ein
Loch in den Schädel schlug.
Durch die Psychoanalyse bekämen wir daher eine uner-
wartete Antwort auf die Frage, welche Baudelaire an die
Malabresin stellte:
Warum du. glücklich kind. nach unseren gestaden
Dich sehnst die übervölkert sind und leidbeladen.
Der Schiffer starke arme dir zum schütz bestimmt.
Und die Rolle der Jeanne Duval, die zum Teil wenig-
stens die des Generals Aupick ersetzte, scheint nicht weni-
ger paradox zu sein als der Sinn der Vereinigung der beiden
Menschen und ihr Schicksal, gehen doch „beide Feinde" am
selben Übel zu Grunde: Jeanne Duval fällt dem Alkoholis-
mus zum Opfer und verschwindet, ohne daß man weiß wie,
und Baudelaire wird von der Gehirnsyphilis umnachtet:
„Duellum!"
Diese affektiven Verhältnisse werden durch das Szena-
rium eines anderen Dramenentwurfs Baudelaires, und zwar
durch: „Der Trunkenbold" (L'lvrogne) besonders gut
illustriert.
Geben wir Baudelaire das Wort:
Samstag, den 28. Januar i854 Mb .
. . . Obwohl es wichtig ist, habe ich noch nicht an den Titel
gedacht: Der Brunnen? Die Trunkenheit? Der Abhang des Bösen?
usw. . . .
Als ich über meinen Entwurf nachzudenken begann, beschäf-
tigte mich vor allem die Frage: Welcher Klasse, welchem Beruf
soll die Hauptperson des Stückes angehören? Ich habe mich end-
gültig für einen schwerfälligen, alltäglichen und harten Beruf ent-
schlossen: für den des Brettschneiders. Zu diesem Entschluß hat
mich ein Lied von furchtbar melancholischem Charakter beinahe
63b ) Brief an J.-H. Tisserant.
149
gezwungen, und ich bin der Ansicht, daß es im Theater eine präch-
tige Wirkung haben könnte, wenn wir den gewöhnlichen Arbeits-
platz auf die Szene brächten, oder wenn ich im dritten Akt eine
musikalische Scherzszene oder einen Liederwettkampf vorführen
würde, wozu ich übrigens große Lust habe. Dieses Lied ist von
einer sonderbaren Herbheit, es beginnt:
Rien n'est aussi-z-aimable
Fanfru-cancru-lon-la-lahira,
Rien n'est aussi-z-aimable,
Que le scieur de long.
Was mir am besten daran gefällt ist, daß es beinahe prophe-
tisch ist und die „Romanze von der Weide" unseres Volksstücks
werden kann. Der liebenswürdige Brettschneider wirft schließlich
seine Frau ins Wasser und sagt, indem er zur Sirene spricht (ich
bin mir noch nicht im klaren, was vor dieser Stelle kommt):
Chante, Sirene, chante,
Franfru-cancru-lon-la-lahira,
Chante, Sirene, chante,
- T'as raison de chanter.
Car t'as la mer ä boire,
Franfru-cancru-lon-la-lahira,
Car t'as la mer ä boire,
Et ma mie a manger!
Mein Held ist ein Träumer und faul; er hat Bestrebungen,
oder er glaubt, solche zu haben, die über seinen monotonen Beruf
hinausgehen, und betrinkt sich, wie alle faulen Träumer.
Die Frau muß hübsch sein, — ein Muster der Sanftmut, Ge-
duld und Vernunft.
Die Scherzszene hat den Zweck, die lyrischen Instinkte des
Volkes aufzuzeigen, die oft recht komisch und ungeschickt sind.
Früher einmal habe ich mir diese lustigen Schwanke angesehen.
Ich muß sie jedoch nochmals anschauen — gehen wir miteinander
hin. Vielleicht können wir dort sogar ein Muster für einen
poetischen Text vorfinden. Außerdem soll unsere Szene eine Er-
holung sein mitten in diesem jammervollen und quälenden Traum.
Ich will hier kein eingehendes Szenarium niederschreiben, da
ich doch in einigen Tagen ein regelrechtes anfertigen werde. Wir
gehen es dann genau durch, damit ich eventuelle Unbeholfenheiten
vermeide. Heute gebe ich Ihnen nur einige Andeutungen.
150
Die zwei ersten Akte werden durch einige Szenen des Elends,
der Arbeitslosigkeit, der häuslichen Zwistigkeiten, der Trunkenheit
und der Eifersucht ausgefüllt. Sie werden sofort die Notwendigkeit
dieses neuen Elementes erkennen.
Im dritten Akt: die lustige Szene, in der seine Frau, von
der er getrennt lebt und die um ihn besorgt ist, ihn holen kommt.
In diesem Moment zwingt er ihr ein Rendez-vous für den nächsten
Abend — Sonntag — ab.
Im vierten Akt das Verbrechen — das gut bedacht und wohl
überlegt ist. — Die Ausführung des Verbrechens selbst werde ich
Ihnen noch genau erzählen.
Im fünften Akt (in einer anderen Stadt) die Auflösung, das
heißt, der Schuldige zeigt sich selbst an und zwar unter dem Druck
quälender Gedanken. Wie finden Sie das? — Wie oft sind mir
ähnliche Fälle beim Lesen der „Gazette des Tribunaux" aufgefallen.
Sie sehen, wie einfach das Drama ist. Kein Durcheinander und
keine Überraschungen. Ganz einfach die Entwicklung eines Lasters
und die der aufeinanderfolgenden Ergebnisse einer Situation.
Ich führe zwei neue Personen ein:
Eine Schwester des Brettschneiders, ein Mädchen, das Bänder,
billigen Schmuck, Wirtshäuser und Tanzkneipen liebt und das die
christliche Tugend seiner Schwägerin nicht begreifen kann. Sie ist
der Typus der frühreifen Pariser Perversität.
Ein ziemlich reicher junger Mann, der einen höheren Beruf
ausübt, ist in die Frau unseres Arbeiters sehr verliebt. Aber er bleibt
anständig und bewundert ihre Tugend. Ab und zu gelingt es ihm,
dem Haushalt heimlich etwas Geld zuzustecken.
Was die Frau betrifft, so denkt sie manchmal ein wenig an
diesen reichen Mann; trotz ihrer starken Gläubigkeit, aber unter
dem Druck all der Leiden, die ihr Mann ihr zufügt, kann sie nicht
umhin, von dem zärtlicheren, reicheren und angenehmeren Dasein
zu träumen, das sie an der Seite jenes Mannes hätte führen können.
Aber sie wirft sich diesen Gedanken wie ein Verbrechen vor und
kämpft gegen diese Tendenz. Ich vermute, daß hierin ein drama-
tisches Element liegt. Sie haben schon erraten, daß unser Arbeiter
gern den Vorwand einer überreizten Eifersucht ergreift, um sich
selbst zu verhehlen, daß er seiner Frau wegen ihrer Resignation,
ihrer Sanftmut, ihrer Geduld und ihrer Tugend zürnt. Und dennoch
liebt er sie, aber das Getränk und das Elend haben schon seinen
Verstand getrübt. Bemerken Sie auch, daß das Theaterpublikum
151
mit der sehr feinen Psychologie des Verbrechens nicht vertraut ist,
und daß es sehr schwer gefallen wäre, ihm eine Greueltat ohne
Grund verständlich zu machen.
Außer diesen Personen kommen nur nebensächliche Rollen
vor. Vielleicht ein Arbeiter, der ein Spaßvogel und Taugenichts ist,
der Geliebte der Schwester, Dirnen, Vorstadtpöbel, Wirtshaus- und
Kneipengäste, Matrosen und Polizisten.
Den Schauplatz des Verbrechens denke ich mir folgendermaßen.
Vergessen Sie nicht, daß es vorbedacht ist. Der Mann kommt zuerst
zum Rendez-vous. Der Ort wurde von ihm gewählt. Sonntagabend.
Eine finstere Straße oder eine finstere Gegend. In der Ferne Tanz-
kneipenmusik. Eine düstere melancholische Landschaft in der Um-
gebung von Paris. Eine möglichst traurige Liebesszene zwischen
dem Mann und der Frau. Er will, daß sie ihm verzeiht und ihm
erlaubt, wieder zu ihr zurückzukehren und mit ihr zu leben. Noch
nie hat er sie so schön gefunden ... Er wird aufrichtig zärtlich.
Er ist beinahe wieder verliebt, begehrt sie und bittet. Ihr blasses
und mageres Aussehen macht sie noch interessanter und wirkt ge-
radezu erregend. Das Publikum muß erraten, um was es sich handelt.
Obwohl die arme Frau auch ihre alte Liebe wieder erwachen fühlt,
verweigert sie sich dieser wilden Leidenschaft an einem derartigen
Orte. Diese Abweisung erzürnt den Mann, der ihre Keuschheit
einer ehebrecherischen Leidenschaft oder dem Verbot seitens eines
Liebhabers zuschreibt. „Ich muß damit Schluß machen; ich werde
jedoch nie den Mut dazu haben, ich kann es nicht selbst tun."
Da fällt ihm ein genialer, feiger und abergläubischer Gedanke ein.
Er heuchelt eine Ohnmacht, was ihm ziemlich leicht fällt,
zumal seine tatsächliche Erregung ihn dabei unterstützt: „Sieh', dort,
am Ende dieses kleinen Weges, links, wirst du einen Apfelbaum
finden; geh' und hole mir eine Frucht." (Er kann natürlich auch
einen anderen Vorwand finden — und ich gebe diesen nur vor-
läufig an.)
Die Nacht ist tiefschwarz und der Mond hat sich versteckt.
Während die Frau in der Finsternis verschwindet, steht er von
dem Stein auf, auf dem er sitzt: „In Gottes Namen! Wenn sie
davon kommt, um so besser; wenn sie hineinfällt, dann hat Gott
sie verurteilt!"
Er hat ihr einen Weg angegeben, wo sie auf einen offenen
Brunnen stoßen muß.
Man hört das Geräusch eines schweren Körpers, der ins Wasser
fällt, dem aber ein Schrei vorausgeht; das Schreien dauert fort.
152
„Was soll ich jetzt tun? Es kann jemand vorbeikommen und
ich kann — und muß für den Mörder gehalten werden. — Sie
ist ja doch gerichtet... Ah! Es gibt Steine, — Steine, die den
Rand des Brunnens bilden!"
Er läuft davon und verschwindet.
Leere Szene.
Je stärker das Geräusch der fallenden Steine wird, um so
schwächer wird das Schreien. Es hört auf.
Der Mann erscheint wieder: „Ich bin frei! Armer Engel, sie
muß viel gelitten haben!"
All das soll von der fernen Tanzmusik ab und zu unterbrochen
werden. Am Ende des Aktes kommen singende Gruppen Betrunkener
und Grisetten auf diesem Weg zurück und unter ihnen befindet
sich auch die Schwester.
Ich gebe Ihnen hier in wenigen Worten die Lösung des
Knotens an. Unser Mann ist geflohen. Wir befinden uns jetzt
in einem Meereshafen. Er hat die Absicht, sich als Matrose heuern
zu lassen. Er trinkt schrecklich viel: Wirtshäuser, Matrosenkneipen,
Musik. Dieser Gedanke: „Ich bin frei, frei, frei!" ist die fixe und
ihn verfolgende Idee geworden. „Ich bin frei! Ich bin ruhig! Man
wird niemals etwas erfahren." Und da er immer trinkt, und da er
seit mehreren Monaten furchtbar trinkt, wird sein Wille immer
schwächer, und die fixe Idee macht sich schließlich durch einige
laut ausgesprochene Worte Luft. Sobald er dies bemerkt, sucht er
sich durch Trinken, durch Gehen und durch Laufen zu betäuben;
aber die Sonderbarkeit seines Benehmens fällt auf. Ein Mann, der
läuft, hat natürlich etwas verbrochen. Man verhaftet
ihn. — Mit einer außerordentlichen Geläufigkeit, einem außer-
ordentlichen Eifer und Nachdruck, mit großer Genauigkeit, sehr
schnell, sehr schnell, erzählt er dann sein ganzes Verbrechen. Dar-
aufhin fällt er in Ohnmacht. Polizisten führen ihn in einer
Droschke fort.
Das ist sehr fein und sehr schlau ausgedacht, nicht wahr?
Aber man muß es unbedingt verständlich machen. Geben Sie zu,
daß es wirklich schrecklich ist. — Man kann die kleine Schwester
in einem der Lasterhäuser oder in einer Matrosenschenke wieder
auftreten lassen.
Ich bin ganz der Ihre.
"Wir wollen jetzt diesem Dramenszenarium das Gedicht
„Der Wein des Mörders" zur Seite stellen:
153
Der Wein des Mörders* 1
Mein Weib ist tot, und ich bin frei!
Nun trink' ich, bis ich nicht mehr kann.
Kam ich sonst ohne Groschen an,
Zerriß mich fast ihr Wutgeschrei.
Nun fühl' ich wie ein König mich;
Die Luft ist mild, der Himmel klar,
Fast ist's, wie's jenen Sommer war,
Als wir uns liebten, sie und ich!
Den schlimmen Durst, der mich zerreißt,
Hab' ich mit soviel Wein gestillt,
Als ihre letzte Grube füllt;
Was wahrlich nicht zu wenig heißt.
Ich senkt' sie in den Schacht, und dann,
Dann warf ich Steine ihr ins Grab,
Soviel's am Brunnenrande gab, —
Ich will's vergessen, wenn ich kann.
M ) Terese Robinson, S. 220 („Les Fleurs du Mal", S. 279).
Le Vin de l'Assassin
Ma femme est morte, je suis libre!
Je puis donc boire tout mon soül.
Lorsque je rentrais sans un sou,
Ses cris me d£chiraient la fibre.
Autant qu'un roi je suis heureux;
L'air est pur, le ciel admirable . . .
— Nous avions un h6 semblable
Lorsque je devins amoureux!
— L'horrible soif qui me dechire
Aurait besoin pour s'assouvir
D'autant de vin qu'en peut tenir
Son tombeau; — ce n'est pas peu dire.
Je l'ai jetee au fond d'un puits,
Et j'ai mcme pousse sur eile
Tous les pavfo de la margelle.
— Je l'oublierai si je le puis!
r 54
^
Ich hatte voller Zärtlichkeit,
Des Schwurs gedacht, der uns verband,
Versöhnlich ihr gereicht die Hand,
Wie einst, in jener trunknen Zeit,
Und sie bestellt, von Glut entflammt,
Des Nachts nach einer stillen Flur;
Sie kam! — Die dumme Kreatur!
Wir sind ja Narren allesamt!
Sie war noch lieblich anzusehn,
Nur manchmal müde und betrübt,
Und weil ich sie zu sehr geliebt,
Hieß ich sie aus dem Leben gehn.
Niemand begreift mich, der da lebt.
Hat je in solcher finstern Nacht
Ein blöder Trunkenbold bedacht,
Wie man aus Wein ein Bahrtuch webt?
Au nora des serments de tendresse,
Dont rien ne peut nous dclier,
Et pour nous reconcilier
Comme au beau temps de notre ivresse,
J'implorai d'elle un rendez-vous,
Le soir, sur une route obscure,
Elle y vint! folle creature!
Nous sommes tous plus ou moins fous!
Elle kait encore jolie,
Quoique bien fatiguee! et moi,
Je l'aimai trop! — Voilä pourquoi
Je lui dis: « Sors de cette vie!»
Nul ne peut me comprendre. Un seul
Parmi ces ivrognes stupides
Songea-t-il dans ses nuits morbides
A faire du vin un linceul?
Cette crapule invuln£rable,
Comme les machincs de fer,
Jamais, ni 1*&2, ni l'hiver,
N'a connu l'amour v£ritable,
r 5S
i$6
Die unverwundbar stumpfe Brut,
Wie tote Masse kalt und leer,
Kennt Sommer nicht und Winter mehr,
Kennt nicht der Liebe Qual und Glut,
Mit ihrem Taumel schwarz und bang,
Mit ihrem höllischen Geleit
Aus Tränen, Gift und Bitterkeit,
Mit Knochenklappern, Kettenklang!
Ich bin, schaut her, allein und frei!
Wenn ich heut' nacht betrunken bin,
Streck' ich mich auf die Erde hin,
Ganz ohne Reu' und Angstgeschrei.
Ich werde schlafen wie ein Hund!
— Der Karren schwerbeladen naht
Voll Kot und Steinen, — links das Rad
Senkt tiefer sich im weichen Grund,
Fährt über mich, zermalmt sogar
Mein schuldig Haupt, und voller Spott
Lach' ich dann über euren Gott
Und über Teufel und Altar.
Avec ses noirs enchantements,
Son cortege infernal d'alarmes,
Ses fioles de poison, ses larmes,
Ses bruits de chaine et d'ossements!
— Me voila libre et solitaire!
Je serai ce soir ivre-mort;
Alors, sans peur et sans remords,
Je me coucherai sur la terre,
Et je dormirai comme un chien!
Le chariot aux lourdes roues,
Charg£ de pierres et de boues,
Le wagon enragd peut bien
Ecraser ma tete coupable
Ou me couper par le milieu,
Je m'en moque comme de Dieu,
Du Diable ou de la Sainte Table!
^
In Brettschneider erkennen wir ohne weiteres den
Trunkenbold, das Antlitz Baudelaires. Auf die symptoma-
tischste Weise wird er zum Manne seiner Mutter, die sich
von einem jungen Manne, der einen höheren Beruf ausübt
(Aupick), Geld geben läßt. Wir gehen aber nicht weiter auf
Analogien ein, die zwischen den Charakterzügen des Gatten
und denen Baudelaires feststellbar sind. Sie springen einem in
die Augen und werfen ein grelles Streiflicht auf die Motive,
um derentwillen Baudelaire seiner Mutter zürnte.
Besonders bezeichnend in der sadistischen Phantasie,
die der Gegenstand dieses Dramenentwurfes darstellt, ist das
Verbrechen und sind die Bedenken des Mörders, die Ver-
antwortung auf die Vorsehung abzuwälzen. Die Frau in den
Brunnen werfen, heißt, sie ins Unbewußte werfen, also sie
verdrängen. Wenn wir uns an die Mechanismen erinnern,
von denen wir in früheren Kapiteln ausführlich gesprochen
haben, so werden wir begreifen, daß das Verbrechen gleich-
zeitig zum Äquivalent für den Inzest werden kann, der Tod
zum Äquivalent für den Orgasmus. (Übrigens wird es nicht
schwer fallen, im Brunnen ein Symbol des weiblichen Organs
zu erkennen.) Weil Baudelaire dieses Verbrechen begangen
hat, läßt er — der Mörder — sich schlagen, ins Gefängnis
werfen und im Gedicht vom „Karren" gar überfahren, d. h.
sich entmannen. Beachten wir außerdem, daß die Mutter des
Recht hat, wieder aus dem Brunnen herauszusteigen, unter der
Bedingung jedoch, .daß sie als die Schwester des Brettschneiders
verkleidet ist, d. h. als Prostituierte, mit der der Geschlechts-
verkehr möglich bleibt, wie wir es in dem Kapitel über
Baudelaires Hemmung gezeigt haben.
Dieses Thema des „Trunkenboldes" (Uivrogne) hat
Baudelaire in seiner Studie über Edgar Poe und dessen Er-
zählungen wieder aufgegriffen. Er fühlte, was alles er mit
diesem geistigen Bruder gemeinsam hatte, und schloß sich
leidenschaftlich an ihn an, war doch das Leben Poes in so
157
vielen Punkten dem seinigen gleich. Die Erzählung, welche
Poe „Die schwarze Katze" überschrieb und von der Baude-
laire in seinen Werken eine Zusammenfassung gibt, ist in
dieser Hinsicht besonders aufschlußreich, da die Symbolik
des Themas sehr leicht zu verstehen ist — noch leichter als
die des „Trunkenboldes". Wir geben hier diese aufschluß-
reiche Zusammenfassung, die Baudelaire darüber geschrieben
hat, in extenso wieder:
„Meine Frau und ich waren dadurch miteinander verbunden,
daß wir den gleichen Geschmack hatten und beide die Tiere über-
aus liebten; diese Leidenschaft hatten wir von unseren Eltern ge-
erbt. Unser Haus sah aber auch einer Menagerie ähnlich, denn
wir besaßen Tiere aller Art." Geschäftlich geht es den beiden
schlecht. Statt sich nun richtig zu regen, gibt sich der Mann trüben
Phantasien im Wirtshause hin. Die schöne, schwarze Katze, der
liebenswürdige Pluto, der früher so zutraulich gewesen, wenn der
Herr nach Hause kam, kümmert sich jetzt weniger um ihn und lieb-
kost ihn seltener als früher. Es sieht fast so aus, als ob er ihm aus
dem Wege gehen wolle und die Gefahren wittere, die der Brannt-
wein und der Wacholder mit sich bringen. Der Mann ist beleidigt.
Seine Traurigkeit, sein schweigsames und einsames Wesen nehmen
in dem Maße zu, in dem er sich an das Gift gewöhnt. Wie gut
ist das trübselige Wirtshausleben, sind die wortlosen Stunden der
trostlosen Trunkenheit geschildert! Und dabei rasch und kurz. Der
stumme Vorwurf der Katze ärgert ihn immer mehr. Eines Abends
ergreift er aus irgendwelchem Grunde das Tier, zieht sein Taschen-
messer hervor, und sticht ihm ein Auge aus. Das einäugige und
blutende Tier flieht ihn von nun an, sein Haß schwillt daher immer
mehr an. Schließlich hängt er die Katze auf und erwürgt sie.
Dieser Absatz muß vollständig zitiert werden:
„Inzwischen heilte die Katze langsam. Die leere Augenhöhle
ist allerdings schrecklich anzusehen; immerhin schien das Tier nicht
mehr zu leiden. Es lief, wie gewöhnlich, im Hause herum, aber
es lief natürlich sehr erschreckt weg, sobald ich mich ihm näherte.
Es war mir noch Gefühl genug übriggeblieben, daß ich im Anfang
diese offensichtliche Abneigung eines Geschöpfes, das mich so sehr
geliebt hatte, bitter empfand. Dies Gefühl wich bald dem der
Gereiztheit und um meinen letzten und unwiderruflichen Fall zu
erreichen, gesellte sich der Geist der Verkehrtheit, der P c r v e r s i-
158
tat hinzu. Die Philosophie beachtet diesen Geist nicht. Trotzdem
aber glaube ich, ebenso fest wie ich an die Existenz meiner Seele
glaube, daran, daß die Perversität einer der tiefsten Triebe des
menschlichen Herzens ist, eine jener primären, unzerlegbaren Fähig-
keiten oder Empfindungen, die den Charakter des Menschen konsti-
tuieren. Wer hat nicht hundert Mal eine tolle und gemeine Hand-
lung nur deshalb begangen, weil er wußte, daß er nicht so handeln
dürfe? Haben wir nicht eine beständige Neigung, das Gesetz zu
übertreten, bloß, weil wir wissen, daß es das Gesetz ist? Diese Per-
versität war also schuld an meinem endgültigen Fall. Dieser uner-
gründliche Trieb, den die Seele empfindet, um sich selbst zu quälen,
ihre eigene Natur zu vergewaltigen, dieses Verlangen, Böses aus
Liebe zum Bösen zu tun, zwang mich dazu, noch weiter zu gehen,
um schließlich die Qual, die dieses unschuldige Tier durch mich
erleiden mußte, aufs Höchste zu steigern. Eines Morgens band ich,
völlig geistesgegenwärtig, einen Strick um seinen Hals und hing es
an einen Baumast. Beim Aufhängen vergoß ich viele Tränen und das
Herz war von bitterster Reue erfüllt; ich hängte die Katze auf, weil
ich wußte, daß sie mich geliebt, und weil ich fühlte, daß sie mir zu
keinem Zornausbruch Veranlassung gegeben hatte; — ich hängte sie
auf, weil ich wußte, daß ich damit ein Verbrechen beging, eine
Todsünde, die meiner unsterblichen Seele derart Gefahr brachte,
daß diese Seele, wenn dies überhaupt möglich sein könnte, der
Sphäre der unendlichen Barmherzigkeit des barmherzigsten und
schrecklichsten Gottes entzogen wäre."
Eine Feuersbrunst ruiniert die beiden Gatten vollständig, sie
ziehen sich in ein Armenviertel zurück. Der Mann trinkt weiter.
Seine Krankheit macht schreckliche Fortschritte, denn welche
Krankheit kommt der Trunksucht gleich? Eines Abends bemerkt
er auf einem der Fässer der Kneipe eine überaus schöne, schwarze
Katze, die der seinigen aufs Haar gleicht. Das Tier läßt ihn heran-
kommen und erwidert seine Liebkosungen. Er nimmt es mit, um
seine Frau zu trösten. Am folgenden Morgen entdeckt man, daß
die Katze einäugig ist, und zwar am gleichen Auge sieht wie die
frühere. Dieses Mal aber bringt ihn die Anhänglichkeit der Katze
allmählich aufs äußerste auf; ihre lästige Unterwürfigkeit macht
auf ihn den Eindruck der Rache, einer Ironie, einer in einem
geheimnisvollen Tiere verkörperten Reue. Man sieht, wie der
Unglückliche immer verdüsterter wird. Als er nun eines Abends
mit seiner Frau in den Keller geht, um für den Haushalt etwas
zu holen, verfängt sich die Katze, die beide begleitet und an ihm
159
anstreift, in seinen Beinen. Wütend will er sich auf sie losstürzen;
seine Frau wirft sich ihm entgegen; mit einem Axthieb streckt er
sie nieder. Wie schafft man einen Leichnam beiseite? Dies ist sein
erster Gedanke. Die Frau wird eingemauert, die Mauer mit ge-
schickt beschmutztem Mörtel frisch beworfen und vermacht. Die
Katze ist davongelaufen. „Sie hat meinen Zorn verstanden und
es für klüger gehalten, sich aus dem Staub zu machen." Unser
Mann schläft dann den Schlaf des Gerechten und am Morgen, bei
aufgehender Sonne, ist er unendlich erfreut darüber und erleichtert,
bei seinem Erwachen nicht von den ihm verhaßten Liebkosungen
des Tieres gelangweilt zu werden. Das Gericht hat inzwischen
mehrere Hausdurchsungen durchgeführt und die entmutigten
Richter wollen sich gerade zurückziehen, als er ihnen
plötzlich sagt: „Sie vergessen den Keller, meine Herren." Man
durchsucht den Keller, und, wie sie die Stufen hinaufsteigen, ohne
auch nur den geringsten Beweis für seine Schuld vorgefunden zu
haben, „ . . . da erfaßte mich plötzlich eine teuflische Idee und
eine Aufwallung unerhörten Stolzes, und ich rief: Schöne Mauer!
Schöner Bau, in der Tat! Man macht keine solchen Keller mehr!
Dabei schlug ich mit meinem Spazierstock an die Mauer, und
zwar an der Stelle, wo das Opfer verborgen war." Ein tiefer,
ferner, wehklagender Schrei wird hörbar; der Mann wird bewußt-
los; das Gericht steht still, reißt die Mauer nieder und der Leich-
nam fällt nach vorne heraus. Eine grauenvolle Katze, halb Fell,
halb Gips, springt heraus, mit ihrem einzigen, blutenden und
tollen Auge."
Wir wissen, welche Nebenbedeutung im Französischen
der „Katze" zukommt. Zweifler müssen sich nur daran er-
innern, daß in der Geschichte Poes die Frau schließlich rund-
weg an die Stelle der Katze tritt. Das ins Auge der Katze ge-
stoßene Messer bedeutet also ganz dasselbe, was für „den
Trunkenbold" die in den Brunnen geworfenen Steine be-
deuten. Die Geste kommt einer sexuellen Handlung gleich,
welche von schrecklichem, verbrecherischem und schänd-
lichem Charakter ist, das heißt: dem Inzest.
Mit Hilfe dieses symbolischen Verbrechens rationalisiert
der Künstler das Schuldbewußtsein ganz so, als ob er das
Verbrechen tatsächlich begangen hätte, er, der es wahrschein-
160
lieh nicht anders erleben konnte als im Traume. Um die
Illusion, es begangen zu haben, für sich retten zu können,
nimmt er in der Krankheit die Strafe, das Gefänignis, den
Tod auf sich. Und hauptsächlich um sich davon zu ent-
halten, im normalen Leben, in der Wirklichkeit, ein derartiges
Verbrechen zu begehen, bei dem er an Steile der Mutter ganz
einfach eine Frau setzen könnte, bedarf er des Gefängnisses,
der Brustwehr, der Schranke.
In dieser Hinsicht weist der Fall Baudelaires, ja vielleicht
sogar der Poes, eine gewisse Analogie mit dem gewisser
Vampire auf, die soweit gehen, wirkliche, schwere Verbre-
chen zu begehen, um sich nachher auf der Polizei anzu-
zeigen, wie das z. B. der berüchtigte Vampir von Düssel-
dorf zu tun pflegte. Es besteht natürlich ein krasser Unter-
schied zwischen der Symptomatologie im Falle Baudelaire
und der im Falle eines Vampirs, eines wirklichen Verbre-
chers, wie es jener ist, von dem wir soeben gesprochen haben.
Aber das affektive Problem kann in beiden Fällen genau das-
selbe sein. Um seine Verbrechen zu verwirklichen, verfügte
Baudelaire über das weite Feld seiner Phantasie, vielleicht
sogar über das seiner Dichtung. Dies gestattete ihm wahr-
scheinlich, sich in der "Wirklichkeit mit jenen kleinen Delikten
zufrieden zu geben, von denen wir im Laufe unserer Arbeit
gesprochen haben. Aber was wäre aus ihm ohne dieses
Sicherheitsventil geworden? Was den Vampir von Düsseldorf
betrifft, so kann man annehmen, daß es sich wahrscheinlich
um einen Mann handelt, dem eine normale psychische
Aktivität untersagt war, da sein Mangel an Kultur ihm nur
einen geringen Kontakt mit der Umgebung gestattete. Er kann
auch an einen Mann oder eine Frau gekettet gewesen sein, die
ihn ausbeuteten, wie dies beim Vampir von Hannover 55 der
65 ) Wir erinnern hier an den Fall Fritz Haarmann,
den Metzger von Hannover, der auf Anstiftung seines Freundes
Hans Grans, an den er wie ein ohnmächtiges Opfer gebunden
11 l61
Fall war, der von Grans (wie Baudelaire von Jeanne) ausge-
beutet wurde, oder an einen Mann, der ihn sogar martert,
denn der Vampir braucht solche Qualen, um das ganze Ge-
wicht seines Schuldbewußtseins abzulasten und sich das
Recht zu erkaufen, neue Verbrechen begehen zu dürfen.
So scheint uns Baudelaire zu seiner Berufung gekommen zu
sein, Priester des Schwarzen, des Satans zu werden. Kehrt man
jedoch, um den ursprünglichen Zustand herzustellen, diese Um-
kehrung nochmals um, übersetzt man Schwarz mit Weiß, Hölle
mit Himmel, Satan mit Gott, Aas mit Jungfrau, so verwandelt
sich der Priester der schwarzen Messe, der Ausschweifung, vor
uns in einen erzbischöflichen Baudelaire, in „Seine Hoch-
würden Brummer', wie ihn seine Freunde nannten. Nach dem
bisher Besagten verstehen wir nun auch klarer, welche Rolle
Jeanne Duval hier spielt. Sie ist das Symbol für die Schranke;
Baudelaire liebt in ihr das Gegenteil von dem, was sie ist.
Er hat sie gerade deshalb erwählt, um sich dagegen zu weh-
ren, je zu lieben, was er verehrt und vergöttert hat, und
um die Zurückweisung seiner normalen Sexualität zu recht-
fertigen. Seine trostspendenden Maximen über die Liebe er-
weisen sich in diesem Zusammenhang als besonders
charakteristisch.
Jeanne Duval ist auch der „Deckel" zur Gruft Baude-
laires. Sie ist das nächtliche Gewölbe, in dem er unterliegt,
das Herz an dem er scheitert, die Rechtfertigung für das
Verbrechen und den Inzest. Durch sie, die „Fremde", hin-
durch träumt er von dem, was seinem Fleische am nächsten
steht, von seiner Mutter, deren Seele und Körper er im Gegen-
teile dessen sucht, was Jeanne für ihn gewesen ist. Lesen wir
dazu:
war > , . VOni September 1918 bis zum Oktober 1923 mehr als
30 Jünglinge tötete. Ein Individuum, mit dem er verkehrte,
verriet ihn, und Haarmann wurde verhaftet. Zwei Tage später
folgte ihm Grans. Beide wurden zum Tode verurteilt. Haarmann
wurde am 15. April 1925 hingerichtet.
162
^
Der böse Mönch 50
Die alten klöster stellten an den mauern
Die heilige Wahrheit in gemälden aus,
Die brüder füllte sie mit tiefen schauern
Und wärmte so das kalte, strenge haus.
Es war die zeit wo Christi saaten sproßten.
Manch' edler mönch von dem man heut' nichts weiß
Nahm auf dem leichenfelde seinen posten
Und feierte den tod mit schlichtem fleiß . . .
In meiner zelle schleppe ich mein leben
Seit ewiger zeit — ein schlechter büßervater —
Mit nichts verschönte ich die kahlen wände.
O träger mönch! wann schaffe ich ergeben
Aus meines elends lebendem theater,
Der äugen weide und das werk der bände?
Nach dem Gesagten werden wir verstehen, warum
Baudelaire nadi dem Tode des Generals Aupick un-
59 ) Stefan George, S.25 („Les fieurs du Mal", S. 116).
Le mauvais Moine.
Les cloitres anciens sur les grandes murailles
Etalaien t en tableaux la sainte Verite\
Dont l'effet, rechauffant les pieuses entrailles,
Temperait la froideur de leur austeriti,
En ces temps ou du Christ florissaient les semailles,
Plus d'un illustre moine, aujourd'hui peu cite,
Prenant pour atelier le champ des funerailles,
Glorifiait la Mort avec simplicite.
— Mon äme est du tombeau que, mauvais cenobite,
Depuis l'eternite je parcours et j'habite;
Rien n'embellit les murs de ce cloitre odieux.
O moine faineant! quand saurai-je donc faire
Du spectacle vivant de ma triste misere
Le travail de mes mains et l'amour de mes yeux?
11*
163
möglich mit seiner Mutter in Honfleur zusammen wohnen
konnte und dies trotzdem er dazu fest entschlossen war.
Denn auch nach dem Tode Aupicks bestand die Schranke
weiter, wie sie wohl auch schon vor ihm aufgerichtet ge-
wesen war. Wir können jetzt auch die Beschreibung ver-
stehen, die Asselineau von Baudelaire gibt, der seine Freunde
oft gebeten hat, ihn über Nacht zu beherbergen:
Er hatte lange Zeit die Gewohnheit, seine Freunde für eine
Nacht, einen, zwei oder mehrere Tage, um ihre Gastfreundschaft
zu bitten. Er tat dies aus zwei Gründen: erstens aus Abscheu vor
seiner oft allzukleinen und unbequemen Wohnung, vor den Un-
annehmlichkeiten, die er in seinem Heim manchmal zu erdulden
hatte, vor den Verdrießlichkeiten mit den Gläubigern usw., und
dann, weil er unaufhörlich das Bedürfnis hatte zu plaudern. Wie
oft ist er gegen 4 oder j Uhr mit geschäftiger Miene zu mir
gekommen: „Lieber Freund, ich komme mit einer Bitte, die Ihnen
sehr unangenehm sein wird, denn ich weiß, daß Sie das nicht
gerne haben. Aber es muß absolut sein. Ich habe der ,Revue de
Paris' für morgen Mittag einen Artikel versprochen. Sie verstehen
wohl, daß mich dies nicht in Verlegenheit bringen kann. Sie wissen,
wäe schnell ich arbeite (er arbeitete, im Gegenteil, sehr langsam,
wie alle sorgfältigen Menschen), ich habe für diesen Artikel sech-
zehn Stunden Zeit! Das genügt mir! Aber verschiedene Stänkereien
und Unannehmlichkeiten machen es mir unmöglich, bei mir zu
Hause zu arbeiten. Sie müssen mir also auf jeden Fall bis morgen
Mittag Gastfreundschaft gewähren. Ich werde Sie nicht stören.
Ich werde keinen Lärm machen. Sie können mich unterbringen,
wo sie wollen. Ich werde brav sein, wie ein kleines Kind ..." —
„Das trifft sich ausgezeichnet, lieber Freund, denn ich muß aus-
gehen und werde nur zum Schlafen nach Hause kommen. Sie
werden also ganz wie zu Hause sein." — „Oh! bei Ihrer Rück-
kehr wird die Arbeit schon recht vorgeschritten sein... Na! Es
ist 5 Uhr. Soll ich jetzt Nachtmahl essen gehen oder erst essen,
wenn alles fertig ist?" „Das ist Ihre Sache. Auf jeden Fall werde
ich Ihnen ein Bett zurechtmachen lassen." — „Oh! ein Bett!...
Übrigens, warum nicht? Ich werde zwei oder drei Stunden schla-
fen, um mich auszuruhen." Ich kam um Mitternacht nach Hause
und war (die ersten Male natürlich) darauf gefaßt, Baudelaire bei
der Arbeit vorzufinden. „Nimmt der Herr nicht seinen Schlüssel?"
164
sagte mir der Hausbesorger. „Ja, hat ihn der Herr, der mich heute
besuchte, nicht geholt?" — „Aber, mein Herr, der ist nicht zurück-
gekommen." Ich fand das Zimmer tatsächlich leer und auf
meinem Tische lagen das kleine Paket Baudelaires, das englische
Wörterbuch, der Band Poe, die Papierrolle und die neuen, beim
Krämer gekauften Federn. Ich ging zu Bett. Gegen ein Uhr
klingelt es. Es war Baudelaire. „Sacre Saint-Ciboire!" fluchte er
mit zusammengebissenen Zähnen und rieb sich die Hände. —
„Was ist los?" — „Was los ist? . . . Daß ich mein Nachtmahl
essen gegangen bin, wie ich es Ihnen gesagt hatte. Um aber
ein wenig Bewegung zu machen, habe ich nach Tisch die Idee
gehabt, bis auf die Boulevards zu gehen. Dort traf ich S . . .,
diesen zudringlichen Schwätzer und Nichtstuer, der mich bis Mitter-
nacht schwätzen ließ. Ich mußte mit ihm Bier trinken. Weiß Gott,
was ich noch alles gemacht habe? Das ist jedoch einerlei, denn
während des Geschwätzes dachte ich an meine Arbeit . . . und
alles steht schon in meinem Kopf geschrieben. Ich brauche
nur noch die Zeit, um es mir zu diktieren (er schaute auf
die Uhr). Eins... Ich habe noch elf Stunden vor mir! Wenn
ich für vier Seiten eine Stunde rechne, so genügen mir vier
Stunden. Ich habe dreimal mehr Zeit, als ich brauche! Ah! Sie
haben mir ein Bett zurechtmachen lassen. Es wird kaum gebraucht
werden. Wie wäre es aber, wenn ich trotzdem versuchen würde,
eine oder zwei Stunden zu schlafen, um mich vom Lärm des
Mundwerks dieses S . . . auszuruhen . . .?" — „Verschlafen Sie
sich aber nicht!" — „Ach, natürlich, Sie glauben, ich sei ein
Genießer wie Sie? Wissen Sie denn nicht, daß ich aufwachen kann,
wann ich will, nach einer halben Stunde, wenn es mir beliebt?
Gut, ich will mich zuerst ein Stündchen ausstrecken, um besser
aufgelegt zu sein, und meine Nacht so gegen vier Uhr morgens
aufhören lassen." — „Also, gute Nacht!" Am folgenden Morgen
als ich gegen acht Uhr aufwachte, lag mein Baudelaire, in
die Decken eingehüllt, die Nase der Wand zugekehrt. „Ich sehe
Sie", sagte er zu mir nach einer Weile mit seiner hellen Stimme,
„ich sehe Sie! Ich bin schon seit langer Zeit wach." Auf dem
Tische lag das Papier, immer noch nicht aufgerollt, und die Bücher
waren noch nicht geöffnet. „Nun", sagte ich, „was ist's mit dem
Artikel? — und der Postarbeit?" — „Sie sind ein Spaßvogel!
Immer diese Witze!" — „Aber Sic haben ja nicht eine einzige Zeile
geschrieben." — „Nun, und was weiter, — ich habe eben meiner
Trägheit nachgegeben." — „Aber was wird man in der Redaktion
165
dazu sagen?" — „Ich werde ihnen alles erklären." — „Eigent-
lich ist es ja erst acht Uhr und es bleiben Ihnen immer noch
Ihre vier Stunden. Sie haben noch Zeit!" — „Ach! Sie sind ein
Spaßvogel, immer haben Sie einen Spaß bei der Hand!" Natür-
lich ging Baudelaire nicht in die Redaktion der Revue. Er speiste
mit mir zu Mittag und wir plauderten den ganzen Nachmittag
miteinander. Diese Szene wiederholte sich sehr oft 57 , immer gab
er vor, trachtete er danach, jedes Hindernis wegzuräumen, Seite
um Seite hcrunterzuschreiben und andern als Beispiel der Arbeit
zu dienen, jedoch stets ohne Erfolg. So hauste er bei Nadar, bei
Lespcs und bei Dupont. Einmal schlief er sechs Wochen hinter-
einander auf dem Sofa bei einem Freund in der Cito TreVise.
Wir müssen uns nun vor allem fragen, ob nicht die nie
endenwollenden Diskussionen, die er mit seinen Freunden
führte, und die oft seine Hauptbeschäftigung waren, seinem
Bedürfnisse zuzuschreiben sind, das Ringen „der beiden
Feinde" auf ein anderes Feld als auf das der direkten
Schläge zu verschieben, auf ein Feld jedoch, auf dem die in
einer Diskussion erhaltenen Schläge gar wohl jene er-
setzen konnten, die er, wie Rousseau, von irgend einem Fräu-
lein Laimbercier bekommen wollte oder von der Volksmenge,
vor der „das entblößte Herz" Baudelaires, wie das von Jean-
Jacques, blutend aufbrach. Ecce horaol
57 ) Das bezeugen besonders die Briefe, in denen die Leiter
der Zeitschriften ihrem Mitarbeiter seine UnZuverlässigkeit vor-
werfen.
166
ii. Kapitel.
Beitrag zur
Psychologie der künstlerischen Schöpfung.
Die folgenden Überlegungen erheben in keiner Weise
Anspruch darauf, den Fall Baudelaire in einem neuen Lichte
darzustellen. Sie sind lediglich das Ergebnis der Betrachtun-
gen, zu welchen das Problem der bei Baudelaire aufge-
deckten Beziehungen zwischen psychischem Konflikt und
Künstlertum Anlaß gegeben hat. Zum Teil sind es nur Ver-
mutungen, deren einziger Zweck darin besteht, die Abgren-
zung gewisser Seiten eines sehr komplexen psychologischen
Problems zu erleichtern: ich meine das der künstlerischen
Schöpfung im allgemeinen.
Wir haben gezeigt, wie Baudelaire infolge der hemmen-
den „Schranke" sich auf dem Wege der vom Leben ge-
forderten, praktischen Verwirklichungen zurückgehalten sah.
Er wurde hierdurch zum Gefangenen des Düstern, Schwarzen,
der Mulattin Jeanne Duval, der Wucherer, des Lächerlichen,
des Elends. Wir wissen, dieses trostlose Leben rührte nicht
davon her, daß Baudelaire dem Schönen und dem Glücke
gleichgültig gegenüberstand. Unsere vorangehenden Ausfüh-
rungen ermächtigten uns zur Annahme, daß jede Besitz-
nahme dieses Schönen und dieses Glückes für ihn mit dem
Interdikt belegt war. Er konnte sie höchstens aus der Ferne
bewundern, was deutlich aus einigen seiner Liebesbeziehungen
hervorgeht sowie aus der Analyse des Traumes vom Bordell,
in dem Baudelaire, statt Protagonist zu sein, in erster Linie
167
Zuschauer bleibt. Das heißt: er hält sich schüchtern außerhalb
des Spieles und befriedigt seine Sinne einzig und allein im
Beschauen des „Ungeheuers".
Nun führt uns die psychoanalytische Erfahrung zu
der Frage, ob nicht diese Tendenz, den „Voyeur" zu
spielen und sich nur unter Wahrung der „Schranke" ver-
wirklichen zu können, bei Baudelaire auf gewisse Konflikte
der frühesten Kindheit zurückzuführen sein dürfte, die mit
den ersten sexuellen Enthüllungen in engster Beziehung stehen.
Wir können in der Tat oft beobachten, daß gewisse auf
infantilen Konflikten fußende Neurosen sich beim Kranken
in der Notwendigkeit äußern, das genitale Organ durch
Organe zu ersetzen, die beim normalen Menschen keine sexuelle
Funktion vertreten, aber geeignet sind, sekundär erotisiert zu
werden. So werden die Verdauungsorgane häufig zum
Sexualorgan (der Anus z. B. beim Päderasten). Selbst das
Auge kann in den Dienst der Sexualität gestellt werden und
in diesem Falle eine ganz eigene Entwicklung durchmachen,
so daß es sozusagen zum eigentlichen Zentralorgan wird, das
allen andern Organen überlegen ist. Es fällt nicht schwer zu
beweisen, daß diese Tatsache für die Ökonomie der psy-
chischen Energie eines Kindes von großer Wichtigkeit ist.
Denn sehen heißt in der Tat sich durch das Auge mit
allem identifizieren, was wahrgenommen wird, und zwar aus
der Entfernung, im Geheimen, ohne daß man seinen Platz
wechseln muß, ohne daß man die Aufmerksamkeit der
Umwelt auf sich lenkt. Das Sehen ermöglicht es durch die
von ihm vermittelte augenblickliche Identifizierung, die
Lebenserscheinungen unmittelbar und zugleich präzis zur
Kenntnis zu nehmen. Aus der Lust zu sehen, geht die Lust
zu verstehen, zu messen, zu kritisieren hervor, die jedoch
immer mit dem Bedürfnis, objektiv zu bleiben, d. h. außer-
halb des Spiels, in gewisser Entfernung zu stehen, um „vom
168
Schauspiel nichts zu verlieren" 58 verbunden ist. Diese Lust, die
sich mit jener deckt, die man bei der reinen Logik empfindet,
scheitert im Gewühle der Schlacht, als die das Leben und die
Liebe anzusehen sind. Aus Furcht, sich mitreißen zu lassen und
ihre Objektivität zu verlieren, betrachten daher die der Objek-
tivität fröhnenden Liebhaber die geschlechtliche Liebe als eine
Befleckung und entehrend im Vergleiche zu dem, was ihnen das
Auge alles an Subtilem, Verfeinertem und Überlegenem zu ver-
wirklichen gestattet. Sehen bedeutet für sie dem Adler gleich
und sicher über allem erhaben im Äther zu kreisen und durch
die gleichzeitige Identifizierung mit dem Manne und der Frau
eine Art Allmacht zu erlangen 58 .
Um jedoch auf Baudelaire zurückzukommen, so sind
wir der Ansicht, daß sein Auge mit der Zeit die Rolle eines
regelrechten Sexualorgans gespielt hat, welches ihm — unter
der Bedingung jedoch, daß er Zuschauer bleibt und sich damit
befriedigt — die außergewöhnlichsten Erlebnisse verschaffte,
indem er zugleich an den Erregungen des Mannes und der
Frau Anteil hatte, deren Sexualverkehr er, wie wir ver-
muten können, in der Kindheit beigewohnt haben dürfte.
Die Feststellung dieser Tatsachen hat uns dazu geführt, uns
zu fragen, ob sich das Leben Baudelaires bis zu einem ge-
wissen Grade nicht aus dem Zwang erklärt, immer wieder
dieselben affektiven Situationen herzustellen, die denjenigen
analog wären, an die sich seine Sexualität in der Kindheit
fixiert hat.
Diese Situation müßte genau erforscht werden, wenn wir
uns völlig Rechenschaft geben wollen über alle Folgen, ■ die
sie für das affektive Leben und die Charakterbildung einer
68) siehe J. Frois- Wittmann: „Moderne Kunst und Lust-
prinzip." Die psychoanalytische Bewegung, II'*.
50 ) Es handelt sich um eine Regression der Libido zu einem
oralen und analen Stadium der affektiven Organisation, einem Sta-
dium, durch das alle Individuen im Laufe ihrer Entwicklung hin-
durchgegangen sind.
169
\
Person haben kann. An Hand der psychoanalytischen Er-
forschung gewisser Neurosen und der direkten Beobachtung
am Kinde, können wir hierüber folgende Erläuterung geben:
Das zarte, schwächliche und hilflose Kind liegt in der
Wiege. Seine zur Aufnahme der Außenwelt bestimmte
außergewöhnlich rege Empfindsamkeit wird notwendigerweise
von allem, was das Leben der andern Wesen, an die es ge-
bunden ist, betrifft, tief berührt, denn im Unbewußten des
kleinen Wesens ist virtuell alles vorhanden, was die Empfind-
samkeit des Erwachsenen kennzeichnet. Ein Kind, das so
z. B. dem Sexualakte seiner Eltern beiwohnt, ist, wie die
psychoanalytische Praxis es täglich zeigt, den größten affek-
tiven Stürmen und gefährlichsten Reaktionen ausgesetzt.
Seine zarte Psyche ist derartigen Regungen nicht gewachsen
und unfähig, sie auf normalem Wege zu erledigen. Das Kind
reagiert nun in solcher Lage auf eine sehr komplexe Weise,
die wir hier nicht näher darstellen können. Im Großen und
Ganzen spielt es in dieser Liebessituation die Rolle des Dritten,
und zwar mit der ganzen Eifersucht und Empörung, mit
dem Haß und der Verstellungskunst, die schwache Personen
kennzeichnen. Durch eine progressive Anpassung an das
Übel gelingt es dem Kinde, sich mit seiner Lage abzufinden,
und es reagiert gegen die Hilflosigkeit seines Zustandes, in-
dem es aus dem Zuschauen selbst Lustbefriedigungen zu
ziehen lernt. Wir sind darum nicht erstaunt, wenn wir
Menschen finden, die das Glück anderer mit Wollust be-
trachten können, Menschen, denen jede Möglichkeit fehlt,
seiner anders teilhaftig zu werden als durch den Gesichtssinn.
Zahlreiche schmerzliche Mißerfolge im Bereiche der akti-
ven Verwirklichungen haben sie nämlich belehrt, daß ihnen
jede andere Handlung als das Schauen untersagt bleibt. Die
Versuche einer aktiven Verwirklichung äußern sich beim
kleinen Knaben nicht bloß in despotischen Wutausbrüchen
und in ständiger Erregbarkeit, sondern vor allem in Äuße-
170
rungen wie Bettnässen, Unreinlichkeit, Starrköpfigkeit, Bos-
heit usw was die größten Unannehmlichkeiten zur Folge
haben kann, jedoch den unbestreitbaren Vorteil mit sich
bringt, auf das Kind die Aufmerksamkeit der Per-
sonen, die ihm lieb sind, zu konzentrieren. Über den Aus-
gang dieses ungleichen Kampfes besteht aber nicht der ge-
ringste Zweifel, denn ein Kind, das seine Seelennot allein be-
kämpfen muß, also ohne auf den Beistand der Personen rech-
nen zu können, die für es verantwortlich sind und die oft
sein Unglück eigentlich verursacht haben, ein Kind, das un-
fähig ist, dem, was in ihm vorgeht, Ausdruck zu verleihen,
um dadurch eine gerechtere Behandlung zu erzielen, muß
schließlich den einzigen Ausweg wählen, der ihm irgendeine
Beruhigung verschaffen kann und seine Kastrationsangst zu
dämpfen vermag, und der darin besteht, sich jeden anderen
Ausweg als den durch den Gesichtssinn abzuschneiden, selbst
dann, wenn es sich hinterher auf diese einzige Möglichkeit
beschränken muß; denn es ist an die Verhältnisse seiner Kind-
heit gebunden und gewohnt, sich lediglich auf sich selbst zu
verlassen, in seinem Herzen die verständnislosen Erwachse-
nen zu verachten, und es hat in seiner Seele das Bedürfnis,
einsam, verkannt, stolz, mißtrauisch und verborgen zu sein
und zu bleiben. Gerade diese Menschen entwickeln dann den
unglückseligen Hang zum Absoluten in sich, von dem wir
bereits gesprochen haben, und vergessen auf ihrer Flucht in
die reine Phantasie das Herz. Auf diese Art und Weise bil-
det sich nach und nach die unübersteigbare „Schranke", die
bei Baudelaire zur tiefgreifenden Folge hatte, daß sie ihm
jeden normalen und direkten Kontakt mit dem Leben unter-
sagte, indem sie ihm lediglich die eine Möglichkeit ließ: durch
die Vermittlung des Auges der Außenwelt das Bild, der Idee
das Symbol, der Handlung den Traum zu substituieren und
daraus den bestmöglichen Vorteil zu ziehen, um sich so allen
Hindernissen zum Trotz zu verwirklichen.
171
Auf diese Weise ist es Baudelaire gelungen, alle Schwie-
rigkeiten zu überwinden, seine Liebe und seinen Haß
trotz aller Hindernisse in die Welt hinauszuschreien und bis
zum letzten Atemzug gegen sein Leid, die Krankheit, die
„Schranke" zu kämpfen. All dies repräsentiert für uns seine
Kunst, in deren Dienst er eine so subtile Erfassungsgabe, ein
so seltenes Evokationsvermögen, vor allem aber jenes Helden-
tum des zur Kreuzigung bereiten Menschen, gestellt hat, ein
Heldentum, mit dem er nicht nur gegen „die Schranken"
seines eigenen Denkens stritt, um sie niederzureißen, sondern
auch gegen die „Schranken", die das Denken seines Zeit-
alters, das vielfach Scheuklappen trug, beschränkten.
Denn unter den sozialen Bedingungen, unter denen wir
leben, führt der Kampf gegen die individuellen Schranken,
wie wir ihn bei Baudelaire finden, oft zum Kampfe gegen
die Schranken, welche das kollektive Denken, das der
Nation, einschließen. Als Beispiel genügt es, den Prozeß,
zu dem die „Blumen des Bösen" Anlaß gaben, in Er-
innerung zu rufen, diesen Kampf gegen die öffentliche Mei-
nung und Zensur, der auch heute noch nicht beendet ist. Der
Sieg über die Zensur, die in uns allen existiert, wird so zu
einem Triumphe für uns alle. Sie macht den Denker und
Gelehrten zu dem gleichen Helden wie den Soldaten, der
gegen die Front des unsere Existenz bedrohenden Feindes
kämpft. Wenn man dabei die seelischen Prüfungen, denen die-
ser Kämpfer die Stirne bieten muß, die Einsamkeit und die
Verachtung, mit denen er sich abzufinden hat, in Betracht
zieht, so darf man wohl sagen, daß der Kampf auf dem Ge-
biete des Geistigen für viele unter uns vielleicht härter ist
als der Kampf in den Schützengräben. Wir wissen, wie viel
Achtung unsere Kultur den Helden des Geistes, dem soge-
nannten Genie, zollt. Dies ermöglicht uns vielleicht, die un-
geheuren Dienste, die sie der Menschheit erweisen konnten,
zu würdigen. Erst muß das Genie gegen den individuellen
172
Irrsinn kämpfen — es fällt ihm oft zum Opfer — dann erst,
nachdem jene ersten Prüfungen seine Kräfte verzehnfacht
haben, kommt es dazu, gegen den der Masse zu kämpfen. Es
ist unmöglich, das Problem auf befriedigende Weise zu lösen,
wenn man nicht beachtet, daß unsere ganze Kultur das Er-
gebnis eines unerbittlichen Kampfes gegen die irrsinnigen Glau-
benslehren und die primitive Mentalität unserer VoraJinen ist.
Diese Glaubensanschauungen sind oft in demselben Sinne wie die
Neurosen oder der Irrsinn Schranken, von denen wir heute
noch lange nicht befreit sind, denn sie bestehen weiter in den
verschiedenen Formen der religiösen Glaubenslehren und so-
zialen Vorurteile. Wie die Menschheit, so ist auch jeder
einzelne von uns im Laufe seiner Entwicklung in ein (in
gewisser Hinsicht dem Kampf Baudelaires analoges) Ringen
mit einbezogen, jeder einzelne natürlich in der ihm entspre-
chenden Stärke. Dies ist übrigens der Grund, warum wir am
schmerzensreichen Leben Baudelaires einen so großen affek-
tiven Anteil zu nehmen vermögen, am Ausgang dieses Kamp-
fes, der auch der unsrige ist, am Ansturm gegen die Schranke
der Kollektivneurosen, der sozialen Vorurteile und schließlich
gegen die des Todes. Denn der Tod ist es, welcher der alles
verschlingenden Materie, der unser Genie unser Dasein aufzu-
zwingen wußte, gestattet, ihre Rache zu nehmen. Jedoch
trotz all der Siege, welche es der Wissenschaft erlauben, die
Schranke des Todes zu verrücken, wissen wir im Voraus, daß
wir eines Tages in diesem Kampfe unterliegen werden, der,
unter diesem Gesichtswinkel betrachtet, nichts anderes bedeu-
tet als den Kampf unserer Individualität gegen die Materie,
den Tod. Aber verfügen wir denn nicht über die Möglich-
keit, der Natur unseren Teil Unsterblichkeit zu entreißen,
um so die letzte Niederlage zu überwinden: indem wir Nach-
kommen und geistige Schöpfungen zeugen? 60
00 ) Siehe O. Rank: „Der Künstler", Internat. Psychoanalyt.
Verlag. Wien 1925.
173
Bewegt sich also das Problem der künstlerischen Schöp-
fung im allgemeinen, mag es sich nun um Baudelaire han-
deln oder um einen andern, um etwas anderes als um die
Art und Weise, auf welche diese Unsterblichwerdung auf gei-
stigen Gebiete ins Werk gesetzt wurde, und zwar unabhän-
gig von der Sexualität, ihren Bahnen und ihren Gesetzen?
Die künstlerische Schöpfung wäre dann ein letzter Protest
gegen die biologischen Bedingungen, deren Sklaven wir
sind, und die uns nur dann erlauben wollen, uns zu ver-
ewigen, wenn wir den normalen Sexualakt akzeptieren und
uns mit dem Dasein eines Partners abfinden. Sie wäre daher
vor allem der übermenschliche Kraftaufwand einer Persön-
lichkeit, die infolge der neurotischen Schranke gehindert ist,
ihre Lebenssubstanz auf ein durch die normalen sexuellen
Organe empfangenes Kind zu übertragen 01 . Diese Bega-
bung für die künstlerische Schöpfung könnte also in vielen
Fällen auf eine Fixierung der Libido an eine infantile Situa-
tion zurückzuführen sein, wie es z. B. jene ist, welche
die Orientierung der Entwicklung Baudelaires entscheidend
beeinflußt zu haben scheint. Der Künstler wäre demnach
mehr oder weniger unfähig, seine Unsterblichkeit auf sexuel-
lem Wege völlig zu verwirklichen, und er will diese Nieder-
lage durch die Schöpfung des Geistes siegreich wieder über-
winden, indem er dem Schöpfungstrieb bis dahin unbekannte
Wege eröffnet.
Auf solche Weise hätte sich dann jene feine Künstler-
empfindsamkeit herangebildet, die sich an die übermensch-
lichen Ekstasen eines in den Schöpfungsakt der Götter einge-
weihten Kindes erinnert und von nun an alles, was nicht
jenem Ideale entspricht, verachtet; eine Empfindsamkeit, die
ganz dem Jenseits der großen Strebungen zugewandt ist und
61 ) Siehe die interessante Arbeit von B. Grasset: Psychologie
de l'immortalitc. (Über die Psychologie der Unsterblichkeit.) Ver-
lag der Nouvelle Revue Francaise. Paris 193 1.
174
—
sich selbst und ihre Zeit um jeden Preis überholen oder in
diesem Unternehmen, das für einen Menschen die Eroberung
der Unsterblichkeit bedeutet, unterliegen muß.
Nur so gelingt es diesen Menschen, für den Verzicht
auf alle normalen Verwirklichungen, für ein nie erreichtes
Glück eine Kompensation zu finden, die es ihnen erlaubt, auf
das Glück, das den andern zuteil wird, zu verzichten, ja es
sogar zu verachten, denn glücklich sein bedeutet für sie vom
Glücke und von der Vernichtung besiegt werden. Das Glück
erleben heißt gewissermaßen den Tod erleiden, und zwar
mit allem Entwürdigenden, das es für den an sich hat, der
nicht zu sterben weiß. Um glücklich sein zu können, darf
man seinem Glücke nicht zürnen; man muß vor allem
ertragen können, daß es uns überragt, daß wir nie hoffen dür-
fen, es zu meistern. So paradox die Meinung auch aussehen
mag: das Glück würde demnach vor allem jenen zu teil
werden, die es ohne Reue und Schuldbewußtsein untergehen
lassen können. Für Baudelaire war es wahrscheinlich eine Art
Feigheit, nur um den Preis glücklich zu sein, daß man nicht
mehr weiß, was Glück bedeutet, nicht der alleinige Schmied
dieses Glücks, und von einem anderen abhängig zu sein. Man
stelle sich vor, was dies für einen Menschen bedeutet, der
seinen Reichtum nur sich selbst zu verdanken hat. Er wird
beständig nach Definitionen des Glückes suchen und glauben,
es zu erreichen, wenn er sein Wissen und seine Vernunft
nach der Deutung fragt. Und so wird es allen seinen
Schöpfungen ergehen: sogar mit der Natur wird er rivali-
sieren. Er wird ihr ihre Existenz nur unter der Bedingung
verzeihen, daß sie seine Phantasieerlebnisse fördernd beein-
flußt, die Erlebnisse, welche durch den Künstler den wirk-
lichen Erregungen, die nun vor seinen künstlichen Paradiesen
zurückzutreten haben, substituiert worden sind. Mehrere kri-
tische Betrachter haben auf das Nachdrücklichste auf jene
Grundhaltung des künstlerischen Schöpfers hingewiesen, die
175
darin besteht, die Enttäuschungen und Niederlagen, die das
praktische Leben seiner anspruchsvollen und überaus reiz-
baren Sensibilität bereitet, durch die häufig sehr bitteren
Genüsse des Phantasielebens, des Ichs, zu ersetzen, das die
Trivialitäten des Triebs stolz verachtet. Wir glauben, daß
die durch die Kunst „narzißtische Kultur", von der Hes-
nard schöne Beispiele gegeben hat, sehr oft durch das Be-
dürfnis, sich einer unbewußten Schuld zu entledigen, hervor-
gerufen wird: durch die Ehre, leiden zu dürfen, entschlüpft der
Künstler der Angst flla . Wir können uns daher fragen, ob nicht
bei den meisten Künstlern affektive Bedingungen, die denen in
Baudelaires Leben ähnlich sind, bewirken, daß die Achse der
Welt durch ihr Gehirn geht, da die Tragödien ihres Lebens
in ihrer Phantasie gelebt werden müssen, wobei die Natur,
die Frau und das Kind nichts anderes sind als die tönernen
Modelle, die lediglich durch (den schöpferischen Hauch des
Künstlers belebt werden können. Es ist dabei nicht nötig,
die allgemein bekannte Tatsache speziell zu betonen, daß
zahlreiche Genies an einem mehr oder minder starken Ge-
hemmtsein litten, d. h. wenig praktisch, neurotisch, ja sogar
dem normalen Leben nicht gewachsen waren. Seit Lombroso
ist die Beziehung zwischen Genie und Irrtum oft diskutiert
worden. Und um nur vom literarischen Genie zu sprechen,
wie oft hat man nicht festgestellt, daß es mit dem wohl-
geordneten bürgerlichen Leben eines Gatten, eines guten
Familienvaters kaum vereinbar ist?
Ist das der Grund, warum das Thema der in den Brun-
nen geworfenen Frau so oft in der Literatur auftaucht, mag
es sich um Ophelia im „Hamlet", um Nastasia Filipowna
im „I d i o t" oder um Brunhilde im „Siegfried" han-
deln? Eigentlich stehen wir ja immer vor derselben Phantasie,
die aus Mephisto-Hagen — ein väterliches Symbol macht,
61a ) Siehe dazu Hanns Sachs: „Gemeinsame Tagträume", In-
ternat. Psychoanalyt. Verlag. Wien 1924.
176
genau so wie aus den Polizisten in der „Schwarzen Katze"
von Poe.
Müssen wir in diesem Thema nicht den Ausdruck eines
infantilen Konfliktes sehen, der den Dichter dazu gedrängt
hat, vor allem der „Voyeur" dessen zu sein, was sich auf
der Bühne seiner Phantasie abspielt? Zeigt es nicht die Stelle,
von der aus sich die literarische Produktion einzig und allein
als Erscheinungsform eines neurotischen Konflikts darstellt,
der dem analog ist, den wir bei Baudelaire erforscht haben?
Wir könnten uns somit fragen, ob nicht gewisse Formen
von Neurosen, weit entfernt davon, für die Menschheit eine
Gefahr zu sein, im Gegenteil für sie manchmal eine Bereiche-
rung bedeuten, und zwar eine derartige, daß sie von der
Menschheit als ein Privilegium angesehen werden, das ihr er-
laubt, jede Schranke und jeden Tod, der uns zu vernichten
droht, mit dem Fehdehandschuh des unsterblichen Geistes
herauszufordern.
12
W7
12. Kapitel.
Baudelaires Neurose.
Mit Hilfe der psychoanalytischen Erfahrung und des
Materials, das wir aus Baudelaires Leben kennen gelernt
haben, könnten wir jetzt den Versuch unternehmen, die ver-
schiedenen Seiten seiner Neurose darzustellen. Sie entspricht
nicht den klassischen Typen, die uns in der Psychiatrie ge-
schildert werden, deren Erforschungsmittel außerdem zu pri-
mitiv sind, die Einzelheiten, die man kennen muß, um eine
Psycho-Neurose wirklich zu verstehen, in allen Schattierungen
zu erfassen. Die Psychoanalyse jedoch hat uns mit gewissen
Neurosenarten vertraut gemacht, in die wir Baudelaires Fall
einreihen können, und die nicht die klassische psychische
Symptomatologie, Angst, Zwang usw. zeigen. Diese letzt-
genannten Symptome treten zwar bei Baudelaire ebenfalls
auf, sind aber von geringerer Bedeutung, wenn man sie
mit der Unmenge von Reaktionen asozialen Charakters
vergleicht, z. B. mit dem Bedürfnis zu mißfallen, be-
straft zu werden, zu lügen, zu stehlen, mit Reaktionen,
welche die Psychiatrie bis jetzt lieber in die Kategorie
der Symptome der Perversdon eingereiht hat. Wir wissen,
daß Reaktionen, die das Strafbedürfnis zu befrie-
digen bezwecken — Baudelaires Fall bildet dafür ein Beispiel
— noch auf eine andere Art zu Tage treten können: das mora-
lische Leiden asozialer Reaktionen — das selbst oft einer
Zwangsneurose, der man einen Sinn gegeben hat, substitu-
iert ist — kann durch das Erleiden einer Krankheit ersetzt
werden, die für den Kranken selbst oder für die Allgemein-
heit eine Entartung darzustellen vermag. Wir behaupten,
178
daß bei Baudelaire die Syphilis diese Rolle gespielt hat und
daß er, wenn man ihn seinerzeit so hätte heilen können, wie
dies heute möglich ist, alles daran gesetzt hätte, um sich
wieder anzustecken, ein Faktum, das wir bei derartigen Kran-
ken oft beobachten können.
Das seelische und physische Leiden, das aber keineswegs,
wie man zu glauben pflegt, eine Fügung des Schicksals
ist, sondern, vom psychoanalytischen Standpunkte aus ge-
sehen, als Folge einer tiefgehenden psychischen Erregung, die
zur Gestaltung des Leidens geführt hat, auftritt, beherrscht
also das klinische Bild jener Neurosen, die man masochistische
Neurosen nennt. Und diese Benennung kann nur eine pro-
visorische sein, da sie sich an eine Unmenge von Reaktionen
eines allzu disparaten klinischen Gesichtspunktes anpassen
läßt, Reaktionen, die allerdings mit dem ursprünglichen, psy-
chischen Konflikt in direkter Verbindung stehen.
In dem Abschnitt über die Selbstbestrafung haben wir
diese sehr verwickelte Frage in ihren Einzelheiten behandelt,
indem wir zeigten, wie sich die verschiedenen Symptome zu-
weilen untereinander ersetzen und wie sie durch ihre psy-
chische sowie organische Symptomatologie sehr komplizierte
Zustände begründen können. Auch die Symptomatologie der
Baudelaireschen Neurose hat sich im Laufe ihrer Entwick-
lung verändert. In seiner Jugend beklagte sich Baudelaire
vor allem über die Langeweile und darüber, daß er keinen
Freund habe, mit dem er so offenherzig sein könnte wie mit
seiner Mutter; dann beklagt er sich, daß er seiner Arbeit
gleichgültig gegenüberstehe, was wir eine „sich selbst bestra-
fende Untersagung" genannt haben. Zu diesen Symptomen,
die ausführlich behandelt wurden, glauben wir noch folgende
hinzufügen zu können: Unordnung, ständiges Zuspätkommen,
um sich zu erniedrigen und getadelt und bestraft zu werden,
Onanie, Mythomanie, Künstelei in der Sprache und im Be-
12* 179
nehmen, aus denen späterhin das Dandytum hervorging. Wir
dürfen aber auch nicht die Schwierigkeiten vergessen, die
der junge Baudelaire mit Aupick hatte, an dessen Stelle er,
nachdem er das väterliche Haus verlassen hatte, Jeanne
Duval, Ancelle und die Gläubiger setzte. Anstatt sich von
seinem Stiefvater quälen zu lassen, fällt er Geldschwierig-
keiten, die ihn aus seiner Wohnung vertreiben und vom nor-
malen Leben ablenken, zum Opfer, wie wir im Abschnitt
über die „Schranke" gezeigt haben. Zu dieser Zeit nimmt
Baudelaires Neurose eher einen paranoiden und querulanten
Charakter an, indem sich die Idee einer Verfolgung
durch den Vater in den Scherereien, denen er von Seiten
der Gläubiger ausgesetzt war, rationalisierte. Wir wissen, wie
schwer es diesen Kranken fällt, offenherzig und selbständig
zu sein, denn das unbewußte Ziel selbst der schrecklichsten
Leiden liegt für sie oft nur darin, sich in einer Rolle zu sehen,
die sie befriedigen und zuweilen sogar unterhalten kann.
Die menschlichsten und edelsten Gefühle sind ihnen ver-
boten, für sie unzugänglich und können von ihnen nur
hinter einer Maske wahrgenommen werden. Obgleich Neu-
rotiker vom Typus Baudelaire vollkommen aufrichtig sein
wollen, müssen sie sich darüber beklagen, ihre Gedanken
nicht ausdrücken zu können und gleichsam eine wüstenartige
Trockenheit zu empfinden. Zu dieser Unmöglichkeit, sich
ausdrücken zu können, kommt noch ein anderes ähnliches
Symptom hinzu, und zwar das der Obstipation, ein Symptom,
das in einem scheinbar von dem bisherigen ganz verschiede-
nen Bereich dem gleichen psychischen Reflex und der gleichen
Zurückhaltung entspricht.
Wir haben die Frage der Erotisierung von Baudelaires
Auge ausführlich behandelt. Wir haben ebenfalls auseinander-
gesetzt, wie sich dieser für das Kind benutzbare Sinn ent-
wickeln konnte, ohne es riskieren zu müssen, mit der Um-
welt in Kollision zu geraten, und wie dieser Ausgang offen
180
geblieben ist, damit sich Baudelaires Libido mit der Umgebung
verbinde. Von hier stammt die Bedeutung, die für Baude-
laire das Auge im Bereich aller affektiven Fixierungen, die
durch dieses Organ realisiert werden können, hatte:
seine Leidenschaft für die Malerei oder für alles, was in
den Bereich des Gleichgewichtes, der Harmonie und der
Komposition fällt. Selbst Baudelaires Satz verdankt alles
dem Auge und ist architektonisch gesehen. Der Dichter be-
sitzt die außerordentliche Gabe der Synthese, eine Gabe,
die lediglich die Erfüllung jener bei ihm ganz besonders ent-
wickelten Fähigkeit ist: die Gesamtlage überblicken und
sich das gesehene Bild im Augenblick aneignen zu können.
Wir müssen noch auf eine besondere Folge dieser Fixie-
rung der Libido an ein infantiles Stadium hinweisen. Das
Auge war nicht die einzige Quelle, an der die gierige Seele
des Dichters ihren Durst stillen konnte; auch der Mund hat für
ihn die gleiche Bedeutung wie für einen Säugling beibehalten
und substituierte sich ebenfalls den Organen, deren normaler
Gebrauch Baudelaire verboten war. Er genoß nicht nur die
Wollust des Schauens, sondern auch die des Trinkens, wie
übrigens auch die des Riechens. Wir glauben auch be-
haupten zu können, daß bei unserem Kranken der Brannt-
wein die Milch einer Amme, seiner Mutter, deren Brust er
nie vergessen hatte, ersetzte. Baudelaires Trunksucht sowie
seine Arzneisucht wären also mit der neurotischen Erregung,
die ihn affektiv in einer ewigen Säuglingssituation (Typus
Salavin" 2 ) festgehalten hatte, eng verbunden, da bei ihm die
Assimilations- und Empfängnislust der Schaffenslust gegen-
über vorherrschten. Außerdem hatte die Identifizierung mit
der Frau Baudelaire dazu geführt, seinem Verdauungsorgan
einen ganz besonderen Gebrauch zuzuschreiben; auch dieses
gleichfalls erotisierte Organ sollte andere Bestrebungen be-
° 2 ) H. Codet und R. Laforgue: Der „Salavin" von Georges
Duhamel. Im Almanach der Psychoanalyse 1929.
181
friedigen als jene, für die es normal bestimmt ist. Die Gesamt-
heit der Symptome, — die ebensowohl aus der Benutzung des
Darmes als weibliches Organ (Empfängnis, Schmerzen etc.)
hervorgehen, wie aus dem Umstand, daß dieses Organ, wenn
man es benützt, auf solche Weise häufig zum Gegenstand
der Bestrafung wird, und zwar dafür, daß es bei Kranken
vom Typus Baudelaires zur selbsterotischen Realisierung der
von dem „Ober-Ich" verbotenen Wünsche gedient hat, —
dient wesentlich jenen Bestrebungen. Andere Symptome er-
scheinen in einem, oberflächlich gesehen, vom Darm verschie-
denen, jedoch affektiv mit ihm analogen Bereich: z. B. in
dem der Hirntätigkeit. Diese Tätigkeit ist ebenfalls durch die
Aufnahme, die Verdauung der intellektuellen Nahrung und
durch das Faktum, daß sie diese zum Ausdruck bringt, cha-
rakterisiert. Daher wird auch die besondere Symptomato-
logie, die sich auf den Kopf und den Bauch bezieht, von der
Schmerzempfindung des Darmes und des Kopfes beherrscht.
Baudelaire hat sich oft über solche Schmerzen beklagt, und
zwar besonders von dem Zeitpunkte an, wo seine endgültige
sexuelle Impotenz (er war damals ungefähr 35 Jahre alt) seine
Libido veranlaßte, sich hauptsächlich durch die Verdauungs-
organe zu befriedigen. Die Schmerzen werden durch das Be-
dürfnis hervorgerufen, sich anders als die übrigen Menschen zu
ernähren, anders als jene zu denken und sich mit schlechter
Nahrung, welche die von dem Organismus gesuchten Reak-
tionen hervorzurufen vermag, vollzustopfen. Asselineau schil-
dert uns als eine Besonderheit Baudelaires, daß er jene Wirts-
häuser aufsuchte, in denen er die meiste Aussicht hatte,
schlecht zu essen, und zwar tat er dies unter dem Vorwand,
daß man sich dort ganz spezielle Gänge servieren lassen
könne. Auf dem psychischen Gebiet kennen wir die schlechte
Nahrung, mit der sich Baudelaire sein Hirn vollgestopft hat;
das sterile Grübeln hat höchstwahrscheinlich den Haupt-
teil seiner Existenz aufgezehrt, genau so wie die Sor-
182
gen, die sich auf die Arzneien, auf das Geld (das hier
die Rolle eines Nahrungsmittels spielt), auf seine Lebens-
weise, auf den Wein und den Branntwein beziehen, ihn zer-
stört haben.
"Wir haben gesagt, daß alle diese Symptome wahrschein-
lich von dem Tag an besonders stark hervortraten, an dem
Baudelaire sexuell impotent wurde, und zwar trotz allem,
was er unternehmen mochte, um über diese Impotenz hinweg-
zusehen oder sie zu verheimlichen.
Diese Impotenz, die wir im Einzelnen beschrie-
ben haben, hat sich sehr wahrscheinlich in jener Form kristal-
lisiert, die erst nach dem dreißigsten Lebensjahre diagnosti-
ziert werden konnte. Zuvor spielte sich sicherlich noch ein
Kampf auf dem Gebiet der Sexualität ab, da sich Baude-
laires Libido nicht damit begnügen konnte, den ihr von den
Verhältnissen zugesagten schrecklich begrenzten Platz einzu-
nehmen.
Wir wollen nicht länger bei dieser Seite der Baude-
laireschen Neurose verweilen, zumal wir sie bereits mit der
ganzen Aufmerksamkeit, die sie verdient, behandelt haben.
Nach dem Tode von Baudelaires Stiefvater ist ein ziem-
lich deutlicher Umschwung in seinem Charakter eingetreten.
Seine Briefe werden zärtlicher, der Dichter zeigt eine größere
Selbstkritik und wird vielleicht sogar ordnungsliebender.
Es ist ihm aber trotzdem noch unmöglich, das Vorhaben,
mit seiner Mutter in Honfleur zu leben, zu verwirklichen.
Die Familie bleibt ihm verboten. Das einzige Neue, zu dem er
nun fähig geworden ist, besteht darin, daß er in den Briefen an
seine Mutter wahrheitsgetreuer, unmittelbarer und menschlicher
wurde und daß er ihr nun auch sein Leid anvertrauen konnte,
anstatt lediglich von Geld reden zu müssen, wie es in den
langen vorhergehenden Jahren der Fall war. Nach all dem,
was uns die Psychoanalyse gelehrt hat, erscheint es jedoch
zu einfach, diesen Umschwung einzig und allein dem Tode
183
l
seines Stiefvaters zuzuschreiben. Wir müssen annehmen, daß
der Fortschritt der Syphilis dazu beigetragen hat, seinem
Charakter diese Richtung zu geben; womit aber nicht ge-
sagt werden soll, daß wir ihn lediglich durch den Einfluß
der Krankheit selbst auf die Psyche des Dichters erklären
wollen. Wir glauben jedoch, der Rolle, die die Syphilis
als Mittel zur Selbstbestrafung spielen konnte, einen be-
deutenden Platz einräumen zu müssen. Das auf solche Weise
befriedigte Bedürfnis dispensierte den Kranken davon, sich
psychischer Symptome oder sozialer Schwierigkeiten zu be-
dienen, und das Feld des affektiven Planes wurde freier. Die
Syphilis ersetzte eine gewisse Anzahl neurotischer Komplika-
tionen, die dazu bestimmt waren, das Strafbedürfnis zu be-
friedigen, und Baudelaire schien sich auf anderen Gebieten
freier verwirklichen zu können.
Wir wissen aber, daß diese Besserung kider nicht an-
dauern konnte. Das Nichtwiedergutzumachende blieb weiter
bestehen. Die Hirnsyphilis trat mit der ihr eigenen Symptomato-
logie ins Spiel. Es ist natürlich schwierig, anzugeben, in wel-
chem Augenblick die Symptome der Hirnsyphilis Baudelaires
auftraten: je besser man das komplexe Problem einer Neurose
versteht, um so schwerer fällt es, eine feste Behauptung auf-
zustellen. Wir glauben jedoch, daß die organische Schädi-
gung im Gehirn Baudelaires bereits ab 1859 un ' d *86o sowohl
psychische, als auch organische Verwirrungen zur Folge hatte,
Störungen, die noch zu denen der eigentlichen Neurose hinzu-
kamen. Für das Thema, das uns hier interessiert, ist es
jedoch nicht nötig, genau zu bemessen, welcher Anteil von
diesem Augenblick an der Neurose und welcher der Syphi-
lis zufällt. Merken wir uns lediglich, daß nach unserer Mei-
nung die Hirnsyphilis, die den Tod Baudelaires bewirkte,
die Konsequenz seiner Neurose sein mußte, die — im Beson-
deren mit Hilfe einer organischen Krankheit — alles zu ver-
nichten suchte, was Baudelaires Persönlichkeit darstellte.
184
13. Kapitel.
Die Neurose vom sozialen Standpunkte
aus betrachtet.
Zu Anfang des ersten Kapitels haben wir gesagt, daß
Baudelaircs Fall uns hier in den Punkten interessiert, die uns
erlauben, andere, ihm ähnliche Fälle zu verstehen. Wir hofften
außerdem, auf diese Weise den Leser mit gewissen Arten
sozialer Neurosen vertraut zu machen, mit Neurosen, deren
klinische Symptomatologie bisher vielleicht gar zu unvoll-
kommen bekannt ist. Eine Kategorie dieser Neurosen inter-
essiert uns ganz besonders, und zwar jene, bei denen die Re-
aktionen des Individuums von sozialer Bedeutung sind, wie
z. B. der Fall des Neurotikers, der ein Verbrechen begeht,
um sein Bestrafungsbedürfnis zu befriedigen und sein Schuld-
bewußtsein zu rechtfertigen.
Wir haben bereits die Tatsache besonders hervorgehoben,
daß diese Reaktionen, je nach dem Fall, sehr verschiedene
sind, und sich ebensowohl in dem Bedürfnis, im Geschäfts-
leben (durch einen Konkurs z. B.) zu scheitern, äußern kön-
nen als auch durch ein Scheitern im sozialen oder Familienleben.
Dieser Umstand hat uns veranlaßt, die Existenz von
Familienneurosen in Betracht zu ziehen, die über den Rah-
men einer individuellen Neurose deutlich hinausgehen und
daher eine ganze Anzahl von Problemen stellen, die nicht
nur medizinischer, sondern auch sozialer Natur sind. Man muß
sich in der Tat fragen, ob gewisse Neurosen nicht die lo-
gische Reaktion einer ganzen Gruppe von Individuen auf die
185
sozialen Verhältnisse sind, in denen sie sich entwickelt haben,
d. h. ob nicht die Allgemeinheit selbst für gewisse Neurosen,
welche die Familien zu Grunde richten, oder für gewisse
Verbrechen, die für die Allgemeinheit eine Gefahr bedeuten,
verantwortlich ist.
Der Begriff der Neurose würde dadurch zu einem über-
aus komplexen werden; in diesem erweiterten Sinne hätte sie
nur sehr entfernte Beziehungen zu der Neurose im gewöhn-
lichen klinischen Sinn.
Ja noch mehr; es würde sich herausstellen, daß der
gewöhnliche klinische Sinn unfähig ist, Tatsachen wie sie
uns heute im Lichte der Psychoanalyse erscheinen, zu
offenbaren. Die Analyse zwingt uns, mit allen Vorurteilen
— sie sind überaus zahlreich — mit dem, was dem heute
realisierbaren wissenschaftlichen Begriffe nicht zu entsprechen
scheint, zu brechen.
Die Unzulänglichkeit des gewöhnlichen Begriffs der Neu-
rose ist erst nach und nach deutlich geworden, da das Stu-
dium der klassischen Neurosen im Anfang tatsächlich nicht
voraussehen ließ, daß es uns dazu führen würde, unsere Auf-
fassung von den Affekten des Menschen zu revidieren.
Aber die Lehre Freuds, die bewies, daß der Ursprung
jeder Neurose in der Beschaffenheit des Ödipuskomplexes,
d. h. im infantilen Leben, gesucht werden muß, ferner die
Entdeckung, daß die Zensur (oder vielmehr das „Über-Ich"),
je nachdem sie sich gebildet hat, die Neurose erzeugen
kann, hatte zur Folge, daß wir zu den bekannten Ursachen,
auf die man sich beruft, um die Genese einer Neurose zu
erklären (Vererbung, Syphilis etc.), jene hinzufügen muß-
ten, von denen wir gelegentlich des Mechanismus der Selbst-
bestrafung gesprochen haben: das Verhalten der Eltern z.B.,
über das wir an anderer Stelle gesagt haben:
»Der Grund dieser pathologischen Reaktionen liegt
daher nicht in der Tendenz des Organismus, durch den Auf-
186
rühr gegen eine Unterdrückung zu reagieren, was eine nor-
male und rein biologische Tendenz ist, sondern in der Fähig-
keit, eine überaus tyrannische psychische Zensur zu bilden,
eine Fähigkeit, die praktisch nicht nur von der Vererbung
abhängig ist, sondern auch, und viel mehr als man glauben
könnte, von dem Einfluß, den die Eltern oder die Umgebung
während der Kindheit auf den Menschen ausüben. Jeder
Konflikt der Eltern hat seine Rückwirkung auf das Kind,
setzt sich in seinem Organismus in der Form von Reflexen
fest, und bleibt in ihm wie eine unauflösliche Masse kri-
stallisiert, die nicht nur zu der psychischen Persönlichkeit
des Kindes gehört, sondern wahrscheinlich auch zu der orga-
nischen Persönlichkeit und unserer Ansicht nach den Nach-
kommen vererbt werden kann. Das in solcher Art auftretende
Problem hat daher nicht nur eine medizinische, sondern auch
eine soziale Seite" 03 .
Nachdem wir also das Vorhandensein sozialer Ursachen
beim Ursprung gewisser Neurosen zugeben mußten, sahen
wir uns beim Studium ihrer verschiedenen Arten gezwungen,
zuerst unsere Auffassungen der Perversion (eine hauptsäch-
lich soziale und nicht wissenschaftliche Vorstellung) und
dann die, welche wir vom Verbrechen haben, zu revidieren.
Was den Begriff der Perversion betrifft, so hat Freud
geradezu heldenhaft in die Schranke der sozialen Vorurteile
eine Bresche geschlagen, indem er bewies, daß, vom psycho-
« 3 ) Siehe unseren Artikel über „La Psychologie de l'angoisse"
(Psychologie der Angst) in „Le Medecin d'Alsace et de Lorraine",
I.April 1930-
Hesnard und Laforgue: „Lei mecanismes d'autopunition" (Der
Mechanismus der Selbstbestrafung) in „Revue Frangaiie de Psycho-
analyse", IV, i. _ ....
Codet und Laforgue: „Echecs sociaux et besom inconscient
d'autopunition" (Soziale Mißerfolge und unbewußtes Selbstbestra-
fungsmittel) in „Revue Francaise de Psychoanalyse", III. 3.
Laforgue: „Über die Sperrungsmechanismen in der Neurose
und ihre Beziehungen zur Schizophrenie." Internat. Zeitschrift f.
Psychoanalyse, Bd. XV, 1929.
187
analytischen Standpunkte aus, jedes Kind bis zu einem ge-
wissen Alter für einen polymorph Perversen gehalten wer-
den kann. Nachdem er dadurch präzisiert, daß die Perversion
nur eine infantile Art der Sexualität sein kann, und die
bedeutende Rolle, welche die Homosexualität während der
affektiven Entwicklung eines jeden menschlichen Wesens
spielte, anschaulich gemacht hatte, zeigte er, daß das, was
vor ungefähr 30 Jahren (z. B. im Fall Oskar Wildes) von
der Allgemeinheit als ein Verbrechen angesehen wurde, sich
von nun an in einem ganz anderen Licht darstellte: die ver-
brecherische Perversion wurde zu einer einfachen neuroti-
schen Reaktion.
Hierauf wurde der Begriff des Verbrechens im allge-
meinen, im Anschluß an die Werke von Reik über das Straf-
bedürfnis, dann von Alexander und Staub über „den Ver-
brecher und seine Richter", einer scharfen Kritik unterzogen.
Was das Verbrechen anbelangt, so ist das letzte Wort noch
nicht gesprochen, man kann jedoch bereits bemerken, daß:
i. eine Anzahl von Verbrechen in die Kategorie der neuro-
tischen Reaktionen einzureihen ist, und daß 2. das augenblick-
lich bestehende Unterdrückungssystem, das weit davon ent-
fernt ist, die Allgemeinheit gegen diese Verbrechen zu
schützen und für die Verbrecher eine Züchtigung zu sein
(eine Züchtigung, die als Besserungskur aufzufassen ist, in-
dem sie aus dem Verbrecher einen normalen Menschen macht),
in vielen Fällen geradezu das Verbrechen zu begünstigen ge-
eignet ist, indem dieses System den affektiven Beweggründen,
die aus gewissen Menschen Verbrecher machen können, ge-
radezu einen Anreiz bietet. Wir haben uns deshalb zur An-
nahme veranlaßt gesehen, daß in gewissen Fällen die Allge-
meinheit selbst die Ursache gewisser Verbrechen bildet und
infolgedessen im juridischen Sinn für sie verantwortlich ist.
Der Verbrecher wird dann gewissermaßen das Opfer des
Richters.
188
Wir mußten daher feststellen, daß das augenblickliche
Strafsystem, statt aus einem wissenschaftlichen Verstehen des
Problems hervorzugehen, im großen und ganzen nur die
affektive Reaktion eines Menschen darstellt, der einem an-
deren gegenübersteht, den er mit Recht oder Unrecht für
einen Verbrecher hält, und daß das Gesetz in diesem Sinne
ganz und gar nicht das der Gerechtigkeit, sondern lediglich
das des Stärkeren ist 64 . Selbstverständlich hindert uns dies nicht
daran, zu verstehen, daß es so sein muß, solange man nicht
die Möglichkeit in Betracht ziehen kann, es besser zu machen.
Wir wollen damit sagen, daß es vielleicht notwendig ist, alle
augenblicklich geltenden Rechtsbegriffe — kurzum den Be-
griff des Guten und des Bösen — umzuformen.
Dadurch würde man jedoch den alten Streit der Pro-
pheten wieder heraufbeschwören und den Kampf gegen den
Pharisäergeist wecken.
Das Studium der Neurose (im gewöhnlichen Sinne des
Wortes) hat uns aber jetzt sehr weit von unserem Ausgangs-
punkt weggeführt; wir sehen, daß gewisse geheiligte soziale
Gesetze fernerhin unter demselben Gesichtspunkte betrachtet
werden können wie manche neurotische Reaktionen unserer
Kranken. Wenn wir der Neurose den Prozeß machen wollen,
so müssen wir daher wohl oder übel allen affektiven Reak-
tionen des Menschen im allgemeinen den Prozeß machen.
Dies beweist uns, daß auch die Allgemeinheit selbst auf
Schwierigkeiten stoßen kann, wie wir sie bei gewissen
Neurotikern beobachten. Daher gilt für uns die berühmt ge-
wordene Bemerkung Freuds über die Religionen: „Die Reli-
gion ist eine kollektive Zwangsneurose und die Zwangsneurose
ist eine individuelle Religion." Vergleichen wir das Studium
der Neurosen mit dem der Glaubenslehren, so finden wir tat-
sächlich eine Analogie zwischen gewissen religiösen Erschei-
"*) Die Situation ist die gleiche im Bereich der politischen
und internationalen Gerichtsbarkeit.
189
nungen und gewissen Neurosenarten — zwischen dem reli-
giösen Ritus und dem Ritual, das die Zwangsneurotiker, kurz
die Abergläubischen praktizieren.
Nun hat uns das Studium der Seele der Primitiven
— nach den meisterhaften Untersuchungen Levy-Bruhls —
den Schluß gestattet, daß das Entwicklungsstadium der
Affektivität bei den Primitiven und bei den Neurotikern in
vielen Punkten übereinstimmt, und zwar in einem Maße, daß
man sich fragen muß, ob die Zustände affektiven Rück-
standes, die wir bei unseren Kranken beobachten, nicht ge-
wissen Zuständen entsprechen, die jedermann (und auch die
ganze Menschheit) in einer gewissen Entwicklungsperiode
überwunden hat; diese Entwicklung muß späterhin zu un-
serer gegenwärtigen Kultur geführt haben. Die heutige Kultur
ist jedoch von den Hemmungen einer primitiven, archa-
ischen und neurotischen Vergangenheit, die noch in gewissen
sozialen Institutionen und religiösen Glaubenslehren bestehen,
noch lange nicht befreit. Wenn man bedenkt, daß es gar
nicht so lange her ist, daß Kopernikus und Galiläi vor der
Inquisition kapitulieren mußten, so merkt man, daß die
Wissenschaft noch ganz jung ist und bis jetzt vielleicht weder
die Gelegenheit noch das Recht hatte, die wesentlichsten
Probleme unserer sozialen Organisation anzugehen. Wird
der wissenschaftliche Fortschritt nicht heute noch oft für
einen Heiligtumsschänder gehalten? Können wir hoffen, daß
der Fortschritt, den eine primitive soziale Organisation ge-
wöhnlich im Keime erstickt und den man den Primitiven
oft mit Waffengewalt aufzwingen muß, sich heute ohne
Kampf in unserem sozialen Kreise verwirklichen läßt? Wir
glauben nicht an eine kampflose Lösung, die „Schranke"
weicht nicht. Wir wissen, daß soziale Entwicklungen nur
langsam vorwärts schreiten, und daß sie mehr die Folge
einer unbewußt von der Kollektivität empfundenen Notwen-
digkeit sind, als die Wirkung eines bestimmten Willens. Und
190
die Reaktion der Allgemeinheit gegen allzu heftige Ver-
fechter des Fortschrittes wird eine Bedingung, ja selbst ein
unentbehrliches Element dieses Fortschrittes, dem man sich,
wie dem Leben im allgemeinen, anzupassen wissen muß.
Wir haben daher nicht die Absicht, die religiösen
Glaubenslehren und die sozialen Institutionen, die von un-
serer Kultur überholt zu sein scheinen, vor den Kopf zu
stoßen, da wir davon überzeugt sind, daß sie im Laufe
unserer Entwicklung notwendig waren und nicht von heute
auf morgen ersetzt werden können. Wir lenken lediglich die
Aufmerksamkeit des Lesers auf die Tatsache, daß die psycho-
analytische Auffassung des menschlichen Affektes es uns er-
laubt, die Dinge von einem neuen Gesichtspunkte aus zu
betrachten, und zwar nicht nur die Erscheinungen auf dem
klassischen Gebiet der Neurosen, sondern auch die auf dem
Gebiet des sozialen Lebens.
Wir wollen jedoch auf bestimmte Beispiele zurückkom-
men: an einer Stelle seines Buches über Baudelaire hat Porche
mutig eines der verwickeltesten Probleme aus dein Gebiet der
Moral und Religionen zu lösen versucht, und zwar das
Problem der Reue. Die Fälle sind zahlreich, bei denen die
Sünde zum Vorwand wird, sich vor Gott schuldig zu fühlen
und vor ihm auf die Knie zu fallen. Als Porche diese Frage
anschnitt, hatte er aber kaum die Absicht, mit der Mehrzahl
der Menschen, welche die religiösen Bräuche beobachten, Pro-
zeß zu führen. Ohne Reue gibt es tatsächlich keinen reli-
giösen Ritus; um den Bestand eines ganzen Ritualzeremoniells
zu rechtfertigen, das im Grunde genommen mit dem Glau-
ben an sich nichts gemein hat, trotzdem aber mit ihm leicht
verwechselt wird, muß daher die Sünde oder die Illusion
der Sünde notwendig beibehalten werden. Der Glaube selbst
ist, wie der Mut und das Vertrauen, eine psychische
Fähigkeit, die man nicht dadurch kaufen kann, daß man ihn
mit dem Zeremonial eines Zwangsneurotikers einhandelt.
191
Daher ist dieser Glaube oft auch in hochstehenden Menschen-
seelen, die außerhalb eines Ritus stehen, existent, und die
übertriebene Ausübung des Ritus strebt danach, das Ritual
als das Wesentliche jeder religiösen Moral gelten zu lassen.
Außerdem sind die rituellen Übungen mit der sittenverder-
bendsten Korruption der Seele eines Individuums sehr gut
vereinbar, ja sie können ein Mittel werden, diese Verderbt-
heit nicht nur zu verstecken, sondern auch zu rechtfertigen.
Von diesem Gesichtspunkte aus wird, in gewissen Fällen, das
religiöse oder neurotische Ritual zu dem moralischen Laster, das
seit dem Beginn des Kampfes gegen die Pharisäer sehr gut
bekannt ist. Auf einem anderen, von dem bisherigen scheinbar
verschiedenen, aber affektiv analogen Gebiet — dem der
Rechtspflege — kann daher die Strafe ein Mittel werden,
die Wollust der Reue zu empfinden und die Sünde des Ver-
brechens zu rechtfertigen. Durch das System der Strafe kann
die Allgemeinheit, wie wir es bereits gesagt haben, an ge-
wissen Verbrechen indirekt mitschuldig werden, entweder da-
durch, daß sie diese Verbrechen durch ein zu strenges Ver-
fahren herausfordert, durch ein Verfahren, welches das
Strafbedürfnis eines Menschen, der lediglich danach trachtet,
mit seinem Leiden das Recht der Realisierung seiner
unsozialen Antriebe zu erkaufen, befriedigen kann, oder da-
durch, daß sie dem masochistischen Verbrecher, für den das
Verbrechen nur ein Mittel ist, um zu seiner Strafe zu kommen,
geradezu eine Genußprämie gewährt. Baudelaires Schicksal
ist ein ausgezeichnetes Beispiel für den Fall jener verbrecheri-
schen Neurotiker, die ihr Verbrechen lediglich deshalb be-
gehen, damit sie zuerst die Wollust der Angst und dann die
der Reue und der Strafe empfinden. Die affektive Rolle, die
das Strafsystem in einer Kollektivität spielt, muß allerdings
erst untersucht werden. Allein diese Untersuchung, nicht die
subjektive Vernunft der Gerichtsbarkeit, würde es uns mög-
lich machen, zu einer rationellen Behandlung der verbreche-
192
irischen Neurotiker zu gelangen und dadurch das Individuum,
ebenso wie die Familie und die Allgemeinheit, gegen die
asozialen Reaktionen eines Menschen schützen.
Unserer Ansicht nach kann man dieses Problem nicht
gut erfassen, wenn man nicht vorher die affektiven Bezie-
hungen zwischen einem Individuum und der sozialen Auto-
rität genau studiert hat. Die letztere ersetzt in unserer Kul-
tur die Autorität der Eltern über ein Kind. Man kann je-
doch leicht feststellen, daß diese väterliche Autorität im An-
fang unseres Lebens das Zentrum bildet, um das der Affekt
eines Individuums kreist, und zwar zu einer Zeit, in der sich
die Sexualität weder bereits entfaltet, noch zu einem bestimm-
ten Ziel entschlossen hat. Wir nehmen an, daß der Orgasmus,
der die Vollführung des Geschlechtsaktes begleitet, bereits
in den affektiven Beziehungen zwischen Kind und Eltern
auftritt, und zwar in einer infantilen Art. Die Formen, in
denen er auftritt, bestehen unserer Ansicht nach in der
Angst, der Furcht und dem Schmerz, denen zufolge das
Kind und ebenso der Primitive oder das infantil gebliebene
Individuum, statt nach der Wollust des normalen Orgasmus
zu trachten, die Wollust der Angst und der Furcht aufsucht,
und zwar mit Hilfe komplexer Mittel, die aber dann ledig-
lich die Rolle eines erotischen Reizes spielen. Diese Reiz-
mittel der Erotik kennen wir alle ein wenig. Die einfachste
Form, in der sie uns entgegentreten, wäre die der schrecken-
erregenden Geschichten, durch die man, wie im Grand-
Guignol, Angst einflössen will.
Die religiösen Glaubenslehren, die Furcht vor Gott und
der Hölle, können ähnliche Wirkungen haben und man kann
tatsächlich feststellen, bis zu welchem Punkt die primitiven
religiösen Glaubenslehren sexuaüsiert sind.
Genau so können aber auch die sozialen Institutionen
erotisiert sein, d. h. zum Mittel werden, das einem Angst und
Furcht beibringt oder fühlen läßt. Statt nur eine soziale
13 x *3
Institution im abstrakten Sinne des Wortes zu sein, ist daher
die Behörde ein Mittel, einem Schrecken einzujagen oder
empfinden zu lassen, wie dies sich überall dort ereignet, wo
der Sadismus einen Menschen dazu drängt, von seiner Fähig-
keit lediglich einen erotischen Gebrauch zu machen 05 .
Wir glauben sogar, daß Zusammenhänge solcher Art die
Organisation der affektiven Beziehungen jeglicher mensch-
lichen Schicht charakterisieren, und daß sie selbst in der
primitiven Gemeinschaft vorherrschen. Diese letztere, weit
davon entfernt, sich die Verteidigung des Individuums
gegen die Gefahren, die es bedrohen, zum Hauptziel
gesetzt zu haben, würde demnach besonders dazu dienen,
nach der Befriedigung des infantilen Orgasmus zu trachten,
d. h. Angst und Leiden in seiner eigenen Person und
in den anderen Menschen hervorzurufen. An Geschichten über
die sadistischen, mörderischen und erschreckenden Handlun-
gen, die aus diesem Zustand hervorgehen, wimmelt es nur so in
jenen Büchern und Berichten, welche die Sitten der „Wilden"
beschreiben. Wir haben die Absicht, die Sexuaüsierung
der primitiven sozialen Organisation, in der die eigentliche
Sexualität des Individuums dem Kultus des primitiven und
kollektiven Orgasmus ausweichen muß, genau zu untersuchen.
Bei solcher Betrachtung und auf unsere gegenwärtige Kultur
bezogen, wird der ganze Gerichtsapparat für ein Indivi-
duum, dessen Sexualität infantil geblieben ist, zu einem Mittel,
Angst, Schmerz oder Grausamkeit erdulden zu können, in-
dem es ein Verbrechen begeht oder aber zu einem Mittel,
diese Grausamkeiten einem Dritten zuzufügen, was der
Fall ist, wenn dieser Apparat von einem sadistischen und
primitiven Neurotiker gehandhabt wird. Anstatt für die
Allgemeinheit ein Schutzmittel gegen das Verbrechen zu
bilden, wird daher die Institution der Justiz zu einem Vor-
es ) Sie he Laforgue: Libido, Angst und Zivilisation. Internatio-
naler Psychoanalytischer Verlag, Wien 1932.
194
wand, Neigungen zu befriedigen, die um so schwerer zu be-
schreiben sind, als es bis jetzt unmöglich war, objektiv und
frei von der Leber weg darüber zu sprechen.
Was nun Baudelaire anlangt, so glauben wir, daß
Aupick mit seinem blinden System von Strafe und Tadel
lediglich auf die gleiche Art und Weise gehandelt hat, wie
es heute die Allgemeinheit tut. Er war weit davon entfernt,
seinem Stiefsohne zu helfen, er hat ihn nur noch mehr in
seine Schwierigkeiten hineingetrieben und statt Herr der
Situation zu sein, ist er selbst durch .die Neurose Baudelaires
— selbstverständlich unbewußt — geleitet worden.
Dies wäre jedoch nur von relativer Bedeutung, wenn
wir nicht feststellen müßten, daß die Allgemeinheit heute
noch den „Verbrechern" vom Typus Baudelaire gegenüber
auf die gleiche Weise handelt; das gilt auch für Erzieher
und sogar für Ärzte, wenn sie es mit Personen seiner Art
zu tun haben. Die Psychoanalyse erlaubt uns nun, den
Umfang dieses Problems zu ahnen, sie erlaubt uns aber
auch, zu hoffen, daß man mit der notwendigen Erfahrung
dazu kommen wird, dem Übel abzuhelfen.
Was die rationelle Behandlung von Neurotikern betrifft,
so hat uns die Psychoanalyse bereits zu bedeutenden Fort-
schritten verholfen. Über die Behandlung gewisser Verbrecher
masochistischer Art, haben wir zwar nur eine sehr relative
Erfahrung; wir halten uns aber für berechtigt, eine vollstän-
dige Umwälzung in der gesamten Psychologie des Verbrechens
und im Gebrauch der Mittel zu einer Unterdrückung
schon für die nächste Zeit vorauszusehen. Und gerade um
dieser Entwicklung zum Durchbruch zu verhelfen, haben wir
diese Zeilen geschrieben. Sie werden ihr Ziel nicht ver-
fehlen, wenn es ihnen gelingt, alle Menschen, die gegen die
Elendszustände unserer Kultur kämpfen, für dieses Problem
zu interessieren.
195
INHALT
Seite
Vorwort < • 6
i. Baudelaire und die „Blumen des Bösen" U
2. Die Mechanismen der Selbstbestrafung *4
3. Der Ödipuskomplex 3 6
4. Der Vater * » 54
5. Der Masochismus bei Baudelaire 62
6. Der Sado-Masochismus in der Poesie Baudelaires ... 72
7. Die Briefe Baudelaires 9°
8. Die sexuelle Hemmung 97
9. Einige Ideenverbindungen bei Baudelaire 120
10. Die Schranke ; 12 9
11. Beitrag zur Psychologie der künstlerischen Schöpfung . . 167
12. Bauddaires Neurose 178
13. Die Neurose vom sozialen Standpunkt aus betrachtet . . 185
■
2o0 r <£
. OL 2.
I