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Full text of "Chaos und Ritus. Über die Herkunft der Vegetationskulte"

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Emil Lorenz 



C^liaos und Xvitus 



Über die Herkunft der 
Vegetationskulte 



Internationaler 
Psychoanalytischer Verlag 










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Über die Xlerkuntt der Vegetationskulte 



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Sonderdruck aus der „Imago, ZeitsJirifl für Anwendung der 

Psychoanalyse auf die Natur- und Geistesmissensdiaften" 

(herausgegeben von Sigm. Freu d), XVII. Band 



10,32 

internationaler r syclioanaly tisener Verlag 

"Wien 










Alle Rechte, 

insbesondere die der Übersetzung, 

vorbehalten 




INTERNATIONAL 

PSYCHOANALYTIC 

UNIVERSITY 

DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN 



Druck: Christoph Rcisser's Söhne, Wien V 






Einleitung 



Diese Arbeit nimmt sich vor, an einem denkwürdigen, seiner Form und 
seinem Motivenreichtum nach heute vielleicht schon einzigartig gewordenen 
Brauche, dem kärntischen Vierbergelaufen, eine Reihe in sich zusammen- 
hängender Fragen der Völkerpsychologie einer neuerlichen Beleuchtung zu 
unterziehen. Einweihungsriten, Vegetationskulte, Anfänge des Ackerbaues, 
Erfindung des Feuers, Seelenkult und Totemismus sind sämtlich schon 
analytisch behandelt worden. Es hieße indessen diese Probleme, die ja 
identisch sind mit der Frage nach den Grundlagen menschlicher Kultur 
überhaupt, geringachten, wollte man meinen, es sei, auch vom psycho- 
analytischen Standpunkte aus, schon alles Grundsätzliche darüber gesagt 
worden, von Einzelheiten der Totemtheorie Freuds gar nicht zu reden, 
die ja noch lange viele Helfer in Bewegung setzen wird. Der geringe Um- 
fang dieser Arbeit widerspricht nur scheinbar dem gesteckten Ziele. Er ist 
bedingt durch den Verzicht auf jede Wiederholung alles bereits von anderen 
Gesagten. Demnach ist die Kenntnis der Arbeiten von Freud, Reik und 
Röheim beim Leser vorausgesetzt, so wie sie dem Verfasser selbst als 
immanente Bedingungen gegenwärtig waren und Anlaß zu dankbarem Ge- 
denken bieten. 

Die Ausführungen selbst entfernen sich von dem Leitfaden des fraglichen 
Brauches teilweise ziemlich weit. Es könnte dies einen Konstruktionsfehler dar- 
stellen, wäre nicht das klassische Beispiel von Frazers „Goldenem Zweig", 
das einen auf dieser Grundlage erhobenen Vorwurf zunichte machen müßte. 
Eine weitere autoritäre Stütze ist damit indessen nicht in Anspruch genommen. 






Emil Loren: 



Die Gedrängtheit der Darstellung bedingt es, daß für eine kritische Be- 
urteilung die Kenntnis des vollständigen Zusammenhangs erforderlich ist. 
Die Einteilung in Abschnitte ist nur als Orientierungsbehelf gemeint und 
deshalb cum grano salis zu nehmen. 

Der Vierbergelauf und seine keltische Grundlage 

Die westöstliche Richtung, der die Gebirge, Flüsse und Seen des Landes 
Kärnten fast durchwegs folgen, wird nur an wenigen Stellen durch die 
nordsüdliche Richtung unterbrochen. Die wichtigste von diesen ist die durch 
die Mitte des Landes ziehende Furche des Gurk- und Glantales. Bei der ehe- 



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D'e vier Vieiliqen ßer^e Kärntens 
mittler Wallfa^^t" i-™ Sinn des 

nen lautes ( Aessii. su-nwis« ) 

maligen Hauptstadt St. Veit macht die Glan, von Westen kommend, eine 
scharfe Biegung nach Süden und fließt sodann der Klagenfurter Ebene zu. 
In diesem Gebiete, das die Stätte des alten Virunum, den Dom von Maria- 
Saal, den Ausgangspunkt der christlichen Bekehrungstätigkeit zur bayrisch- 
fränkischen Zeit, ferner das Zollfeld mit dem Herzogstuhl und die Stätte 



Ckaos und Ritus 



des Fürstensteins umschließt, woselbst während des Mittelalters die rechts- 
geschichtlich hochbedeutsame Zeremonie der Einsetzung des Herzogs statt- 
fand, ist ein uralter Bergkult heimisch. Die äußersten Eckpunkte der ge- 
schilderten Landschaft bilden vier Berge, die trotz ihrer tausend Meter nicht 
viel überragenden Höhe seit alten Zeiten als die höchsten Berge des Landes 
bezeichnet werden. Es ist im Osten der Helenenberg (1056 m), im Westen 
der Göse- oder Veitsberg (1175 m), im Süden der Ulrichsberg (1015 m) und 
im Norden der Laurenziberg, der indes nur eine Rückfallskuppe des 1127 m 
hohen Gauerstalles ist. 

Am Abend vor dem zweiten Freitag nach Ostern versammeln sich all- 
jährlich gegen Mitternacht auf dem Gipfel des Helenenberges vor der Kirche, 
die der heiligen Helena, der Auffinderin des Kreuzes Christi, geweiht ist, 
Wallfahrer aus ganz Kärnten, besonders aus Mittel- und Unterkärnten, früher 
auch aus Steiermark und Oberkrain, und warten beim Scheine von Lager- 
feuern die Messe ab, die dort um Mitternacht gelesen wird. Sogleich nach 
deren Beendigung begeben sich die Wallfahrer mit Fackeln, die an den 
Resten der Lagerfeuer angezündet werden, auf den Weg und nehmen die 
Richtung zum ülrichsberg im Süden, hören — seit dem Verfall der einstigen 
Kirche auf dem Gipfel — in einem Dorf am Fuße des Berges eine zweite 
Messe an, eilen auf den Berg hinauf, durchlaufen die Kirchenruine und 
setzen dann die Wallfahrt nach dem Westen fort. Auf dem Wege dahin wird 
noch in Karnberg, Zweikirchen und Wasei eine Messe angehört. Im Laufe 
des Nachmittags wird sodann die Höhe des Göseberges erstiegen, und von 
dort geht es über die alte, hochliegende, nach Süden blickende Ortschaft 
Sorg zum Endpunkt der Wallfahrt, dem Laurenziberg. Dort löst sich nach 
Anhörung eines nachmittägigen Segens die Wallfahrt am späten Abend, auf. 
Der Weg, den die Wallfahrer zurückzulegen haben, ist über vierzig Kilo- 
meter lang. Trotzdem war die Beteiligung in früheren Jahrhunderten sehr 
zahlreich, und es wurden in manchen Jahren einige tausend Läufer gezählt. 
Jetzt sind es nur mehr ein paar Dutzend. 

Eigentümlich ist die Bekränzung der Wallfahrer mit verschiedenartigem 
Grün. Auf dem Helenenberge sind es Wacholdersträußchen, mit denen sich 
die „Vierberger" schmücken, auf dem Ulrichsberg Efeu, in Wasei Fichten- 
zweige, auf dem Göseberge Immergrün, in Sorg Buchsbaum. Der Kärntner 
Volksforscher Georg Gräber 1 hat in der ersten wissenschaftlichen Behand- 
lung unseres Brauches in liebevoller Versenkung in zahlreiche Einzelzüge, 



1) Die Vierberger. Zeitschrift „Garinthia", 1912. 



Emil Lorenz 



die hier aufzuführen nicht der Raum ist, die gesamte Begehung auf einen 
hochaltertümlichen Totenkult zurückgeführt, dem die Anschauung zugrunde- 
liegt, daß die Berge Sitze der Seelen seien, und daß von diesen Seelen das 
Gedeihen der Vegetation abhänge. Dieses von ihnen zu erbitten, dienten 
insbesondere Opfer mannigfacher Art. Unmittelbar erkennbar sind in den 
Motiven unserer Vierbergefahrt nur mehr Getreideopfer, die einstens auf 
den Höhen dargebracht wurden. Doch scheinen die Wachtfeuer auf dem 
Helenenberge und der Fackellauf über den Abhang des Berges Reste einer 
einst viel umfänglicheren Begehung zu sein, zu der nach den Beispielen, 
die Mannhardt in den „Wald- und Feldkulten" liefert, ursprünglich auch 
die Opferung eines Menschen gehörte. Diese Opferung erscheint in zahl- 
reichen Fällen in späterer Zeit ersetzt durch die Verbrennung, Ertränkung 
oder Steinigung einer Puppe, vielfach im Zusammenhang mit der Auf- 
richtung und Verbrennung eines Baumes, in dessen Zweigen oder auf dessen 
Gipfel diese menschliche Gestalt verborgen zu sein pflegte. 

Wir wollen dieses Motiv der Opferung im folgenden näher ausführen. 
Es sind nämlich noch einige Züge nachzutragen, die einen deutlichen Hin- 
weis auf das einstige gedankliche Zentrum der ganzen Begehung enthalten. 
Beim Besteigen des Helenenberges verschlingt nach alter Sitte jeder einen 
jungen Fichtengipfel zu einem Knoten. Im nächsten Jahre sieht jeder bei seinem 
Bäumchen nach. Wer seinen Knoten noch frisch und grün findet, hat auf 
langes Leben zu hoffen, ein abgedorrter Wipfel bezeichnet dagegen frühen Tod." 
(Graber, a. a. O. S. 3.) Der zweite Zug, der hieher gehört, ist die wilde 
Hast, mit der die Wallfahrt sogleich nach Beendigung der Messe auf dem 
Helenenberge beginnt. Man sieht nicht zurück, achtet nicht auf Stürzende 
und schont nicht die Saaten. Daß diese Hast eine Flucht ist, lehrt die Ver- 
gleichung mit dem keltischen Feuerfest, das am 1. Mai gefeiert wurde. Es 
führt den Namen Beltane. Frazer erzählt im „Goldenen Zweig" (auszugs- 
weise) hierüber folgendes: Bei diesem Fest im mittleren Hochland von Schott- 
land wird ein Kuchen verteilt. Ein Stück hievon wird mit Holzkohle 
geschwärzt. Wer (mit verbundenen Augen) das schwarze Stück zieht, ist 
der „Geweihte". Man tut, als wolle man ihn ins Feuer werfen. 1 Im nörd- 

1) Vgl. MacCulloch: The Religion of the ancient Celts, p. 265 ff. Unter den 
Bräuchen beim Bekam erscheint der Kuchen nochmals bei MacCulloch, p. 266: 
Beitane cakes or bannocks, perhaps made of the grain of the sacred last sheaf from theprevwus 
harue,t, and therefore sacramental, were also med in d,fferent wayS in foh-survxvals. They were 
rolled dou,n a slope - a .nagical imitative ac,, symbolising and aiding the course of the sun 
The cake had also a divinatoy character. If it broke an reaching ihe foot of the slope, tn,S 
indicated the approaching death of his owner. 



Cliaos um! Ritus 



liehen Wales wird das Frühjahrsfeuer für jede Familie gesondert entzündet. 
Es hat den Namen Coel-Coeth. Das Feuer wurde an einer sichtbaren Stelle 
des Hauses angezündet, und wenn es fast erloschen war, warf jeder einen 
weißen Stein in die Asche, den er vorher gekennzeichnet hatte. Nachdem 
sie am Feuer ihre Gebete gesprochen hatten, gingen sie zu Bette. Am 
nächsten Morgen, sobald sie auf waren, kamen sie, um die Steinchen heraus- 
zusuchen, und wenn einer fehlte, bildeten sie sich ein, derjenige, der ihn 
geworfen hatte, würde sterben, ehe er einen zweiten Halloween erlebte. 
Nach Sir John Rhys ist die Gewohnheit, den Halloween dadurch zu feiern 
daß man Feuer anzündete, in Wales vielleicht nicht ganz ausgestorben, und 
noch Lebende können sich daran erinnern, daß die Leute, welche an den 
Feuern teilnahmen, warteten, bis der letzte Funken erloschen war, dann 
plötzlich die Flucht ergriffen und, so laut sie konnten, sehnen: .»**" 
geschnittene schwarze Sau ergreife den Letzten!«' Diese Rede*«* gedeutet, 
wie Sir John Rhys bemerkt, daß ursprünglich einer der Gesellschaft tn 
vollem Ernste geopfert wurde» Vor dieser Opferung schützte man sich 
auch auf dem Helenenberg durch schleunige Flucht. Man suchte ihr aber 
noch auf andere Weise vorzubeugen, und zwar durch den Knotenzauber, 
der beim Ersteigen des Berges vorgenommen wurde. Die magische Wirkung 
der Knoten, die darin besteht, daß eine Tätigkeit oder ein Vorgang dadurch 
gehindert wird, daß man im Gedanken an ihn einen Knoten knüpft, wie 
man noch heute das Vergessen zu verhindern trachtet, indem man das 
Taschentuch verknotet, betrifft hier die Abwehr des eigenen Todes, der 
Opferung im Feuer, das auf der Bergeshöhe entzündet wurde. Erst als 
das Opfer selbst weggefallen oder durch Getreideopfer ersetzt war, wird 
das Blühen oder Verdorren des verknoteten Fichtenwipfels im nächsten 
Jahre als Orakel ausgedeutet.» In ähnlicher Weise erfuhr die ursprüngliche 
Flucht vor der Opferung, der jedenfalls der Letzte und Langsamste verfiel, 

caused ftrnlny »JWJ «* L achtenswert der weitere Hinwi. bei demselben Autor: 
necied with ihe Celtic ward for Uli or mount. 

Steinewerfen in Wales statt. 






r. im 1 Lorenz 



später die Umdeutung, daß die weite Wallfahrt innerhalb vierundzwanzig 
Stunden beendet sein müßte, weshalb höchste Eile nottue. Und diese Be- 
gründung war um so unverfänglicher, als ihr die Wirklichkeit ja durchaus 
entgegenkam. Das Motiv von Flucht und Verfolgung kehrt noch mehrmals 
im Bilde unseres Brauches wieder, so in dem Gebote, sich während des 
Weges durch die Teufelsriese beim Aufstiege auf den Göseberg nicht um- 
zusehen, angeblich, um dadurch eine Seele zu erlösen; auch das wieder- 
holte Zählen der Teilnehmer, um festzustellen, ob sich nicht etwa der 
Böse dazugesellt habe, gehört hieher. Die Opferung ist schon vollzogen, 
der Böse ist der Rachegeist des Geopferten, er ist auch die Seele, die erlöst 
werden soll wie im Mythos von Orpheus und Eurydike. 

Es ist nicht schwer, analoge Bräuche unter den sogenannten Vegetations- 
kulten nachzuweisen. Was z. B. Frazer im „Goldenen Zweig", zu einem 
ansehnlichen Teile an dem Material Wilhelm Mannhardts, an Belegen 
vorführt, deckt sich in den wesentlichsten Zügen mit unserem Brauche aus 
Kärnten, wenn wir diejenigen Züge ergänzen, die heute nur mehr mittelbar 
aus dem vorhandenen Bestände der Motive zu erschließen sind. Es sei ins- 
besondere an das Kapitel bei Frazer: „Das Töten des Baumgeistes" und an 
die „Feuerfeste" erinnert. 1 Nichts braucht uns hier vorläufig zu veranlassen, 
von der Linie abzuweichen, die seit Mannhardt und den auf ihm fußenden 
Ethnologen für die Beurteilung dieser Kultformen vorgezeichnet scheint. 

Noch mehr scheint sich diese Auffassung zu verstärken, wenn wir ein 
paar weitere Motive heranziehen, die bei der Besprechung unseres Brauches 
bisher zu kurz gekommen sind. Gemeint ist die Richtung, die die Wall- 
fahrt nimmt, die Zahl und die geographische Lage der Berge. Die Fahrt 
beginnt im Osten, wendet sich dann nach Süden zum Ulrichsberg, von dort 
zu dem ganz westlich gelegenen Göseberg und endet auf dem genau nördlich 
vom Ulrichsberg gelegenen Laurenziberg. Diese Richtung entspricht dem 
Sonnenlauf und damit der Natur der Begehung als eines Sonnen- und Feuer- 
zaubers. St. Laurentius und St. Vitus sind Feuerheilige, jener wird mit dem 
Rost, dieser mit dem Kessel voll siedenden Öles dargestellt. Der Helenen- 
berg führt seinen Namen von St. Helena, der Auffinderin des Kreuzes Christi. 
Darunter verbirgt sich wiederum ein heidnisches Symbol, die im Frühjahr 
wiedergeborene Sonne. 

Ob aus dem Funde einer Statue des keltischen Mars Latobius, des Stammes- 
gottes der im Osten Kärntens und in Krain siedelnden Latobiker, auf dem 

1) Frazer: „Der goldene Zweig", Deutsche Ausgabe, S. 431 ff. und 885 ff. 






Chaos und Ritus 9 

Helenenberge darauf zu schließen ist, daß dieser Berg dem genannten Gotte 
ausschließlich geweiht war, könnte bezweifelt werden. Doch scheint gerade 
dieser Umstand geeignet, uns die Zuordnung der vier Berge an einzelne 
Stämme zu erleichtern. Wenn wir nämlich beachten, daß im Süden der 
Sitz der Karner ist, im Westen die Taurisker sitzen, und die Hauptsitze 
der Noriker auf Grund verschiedener, hier nicht zu erörternder Indizien 
im Norden des Landes zu suchen sind, so ergäbe sich für jeden der ge- 
nannten Stämme ein Stammesheiligtum auf einem innerhalb seines Siedlungs- 
gebietes liegenden Berge. Daß diese vier Berge, wie wir gleich sehen werden, 
ihrerseits wiederum einen gemeinsamen Mittelpunkt hatten, um den sie sich 
symmetrisch lagerten, würde das Sinnvolle dieses Zusammenhanges noch 
nachdrücklicher verstärken. Davon wird später ausführlicher gehandelt werden. 
An der Stelle der Kirche auf dem Ulrichsberg stand zwar vermutlich 
im Altertum kein Mithräum, aber doch ein Noreiatempel, vorausgesetzt, 
daß der Inschriftstein an der Kirche sich dort ursprünglich befand und 
nicht etwa erst zur Zeit der Erbauung der Kirche von einer Tempelruine 
im Tale hinaufgeschafft worden ist. Auf heidnische Kultstätten von be- 
sonderer Pracht scheinen Sagen hinzudeuten, wie sie Graber 1 aufbewahrt 
hat. Die erste betrifft den Schein der Helenakirche, der einen so strahlenden 
Glanz verbreitete, daß die Türken nach der Einnahme von Hochosterwitz 
durch ihn auf den Berg gelockt wurden. Oben angekommen, fanden sie 
ihn nicht mehr. Er war auf wunderbare Weise verschwunden. Nach einer 
anderen Sage soll auf dem Turmknauf eines heidnischen Tempels, der 
einst auf dem Helenenberge stand, ein Diamant gefaßt gewesen sein, der 
weithin seine Feuerstrahlen aussandte. Die Türken hörten davon und zogen 
nach Kärnten. Es entspann sich ein Krieg, der mit dem Untergang der 
Stadt Sala auf dem Zollfeld endete. Eine dritte Sage berichtet, „die prächtige 
Stadt Sala sei von zwei riesengroßen Diamanten beleuchtet worden, deren 
einer am Magdalens- (Helenen-), der andere am Ulrichsberge aufgestellt 
war. Der Schein dieser Diamanten drang bis in die Türkei und lockte 
die Türken herbei, worauf Sala im Kriege unterging." (Graber a. a. O. 
S. 365.) — Sala ist der Humanistenname der Stadt Virunum. Wenn wir 
nach druidischen Bräuchen forschen, in denen etwa diese Tradition wurzeln 
könnte, so finden sich periodische Feuer, die auf Bergen entzündet wurden, 
in Irland. „Der Erzdruide Arad Draoi hatte sein periodisches Feuer auf 
dem Hügel Carn Usnach in der Grafschaft Meath, dem Zentrum des 

1) Sagen aus Kärnten, Leipzig 1914, S. 364 f. 







Emil Lorenz 



Königreichs, wo wie in Chartres fünf Provinzen zusammenkamen. . . . 
Auch Hochzeiten wurden hei dieser Gelegenheit auf den Bergen ab- 
geschlossen, wie Staatsberatungen, Gerichte, Inaugurationen u. dgl. m. hier 
zusammenfielen. ... In einer alten irischen Lebensbeschreibung des heiligen 
Patricius heißt der Palast zu Tarah das große Haus auf dem heiligen 
Hügel der Sonne." 1 Zwischen periodischen Feuern auf den Bergen in 
Irland und dem sagenhaften leuchtenden Biesendiamanten ist freilich ein 
Unterschied, doch handelt es sich hier lediglich darum, einen Schluß aus 
der sagenhaften Überlieferung von leuchtenden Körpern auf den beiden 
heiligen Bergen auf das Bestehen von Kultstätten zu ziehen, die Sonnen- 
und Lichtgöttern geweiht sein mußten. Dem würde ein vergoldetes Sonnen- 
bild auf dem Helenenberge und ein Mondbild auf dem Ulrichsberge ohne- 
weiters entsprechen, und wir mögen zum Vergleich die Tatsache heranziehen, 
daß sich auf den beiden Türmen der Kathedrale von Chartres noch heute 
ein vergoldeter Halbmond und eine vergoldete Sonne befinden. 2 Und der 
schon genannte Eckermann schreibt: „Chartres hat noch viele Gebräuche 
und Gewohnheiten bewahrt, welche im keltischen Heidentum wurzeln. 
Auf einem Kirchturm anderthalb Lieues von Chartres befindet sich ein 
vergoldeter Halbmond, und ein anderer auf einem der Türme der berühmten 
Kathedrale von Chartres selbst. Ein Druide von Autun hält auf der von 
Montfaucon gegebenen Zeichnung einen solchen Halbmond in der Hand. 3 
(Daß übrigens der vergoldete Halbmond, der vor Anbringung des kaiserlichen 
Adlers die Spitze des Wiener Stephansturmes zierte, nicht türkisch war, 
wie die Volkssage meint, ist bekannt.) Ein Halbmond in einem der Isis- 
Noreia geweihten Bezirk wäre sogar sehr verständlich, da die antike Isis 
mit einem solchen gekennzeichnet war. 

Hinter der Bezeichnung Göseberg, was soviel wie Geißberg bedeutet, 
dürfen wir das Tierkreiszeichen des Widders vermuten, in welches die 
Sonne zur Zeit der Frühjahrs-Tagundnachtgleiche tritt. Die Vierzahl der 
Berge ist, wie man sieht, keine zufällige, sie entspricht den vier Welt- 
gegenden, und die Wallfahrt ist eine Nachahmung des Sonnenlaufes, wozu 
die Begel stimmt, daß sie innerhalb von vierundzwanzig Stunden vollendet 
sein muß. Die Bewegung im Sinne des Sonnenlaufes findet sich als magisches 
Motiv im keltischen Brauchtum: so auf der Insel Mull, wo das Bad bei 
der Erzeugung des Notfeuers dem Laufe der Sonne entsprechend von Osten 

1) Eckermann, Lehrbuch der Religionsgeschichte, III. Bd., 2. Abt., S. »1. 

2) Karl Hey er, Das Wunder von Chartres, S. 41. 
5) Eckermann, a. a. O. S. 58 f. 



Chaos und Ritus 



nach Westen gedreht wird. 1 Bei den Beltanefeuern wird das Vieh in der 
Richtung der Sonne (keltisch dessil) um das auf dem Berge entzündete Feuer 
herumgetrieben. 2 Daß auch der im Norden gelegene Laurenziberg in die 
Wallfahrt einbezogen wird, obwohl er ja schon im Nachtbogen der Sonne 
liegt, hängt mit dem Wunsche zusammen, der Sonne für das Empor- 
schrauben ihres Tagesbogens bis zur Mittsommerzeit möglichst viel Kraft 
zu verleihen. Sehr bezeichnend ist auch der Umstand, daß die von Norden 
kommenden Teilnehmer, also die aus dem Metnitz-, Gurk- und oberen 
Glantal, bereits einen Tag früher die Wallfahrt beginnen und über den 
West- und Nordberg zum Ostberge ziehen, mit dessen Ersteigung sie die 
Wallfahrt beenden. Als Nordleute haben sie die Aufgabe, den vollen Nacht- 
bogen der Sonne zu durchmessen. 

Das überwältigend Sinnvolle unserer Begehung ist aber damit noch nicht 
ausgeschöpft. Es liegt nämlich jetzt nahe zu fragen, welcher Ort der Mittel- 
punkt dieses Bergkultes gewesen sein mag. Der Kreis, den die Wallfahrt 
beschreibt, verlangt nach einem Zentrum. Wenn wir nun Ost- und West- 
berg einerseits, Nord- und Südberg andrerseits miteinander verbinden, so 
schneiden sich die beiden Geraden unter einem annähernd rechten Winkel 
in einem Punkte, in dessen unmittelbare Umgebung wir das Schloß 
Hohenstein im oberen Glantal finden. Wir sind damit in jenem Gebiete, 
welches seit mehr als hundert Jahren die zahlreichsten Belege für den 
Kult der Landesgöttin Noreia ans Licht gelangen ließ*. Gemäß dem Bei- 

i) Mannhardt, WFK, I, S. 521. . 

2 ) Weitere Belege für das Dessil bei Eckermann, Lehrbuch der Religions- 
geschichte, Halle 1848, III. Bd., 2. Abt., S. 1.8 ff. „Noch jetzt hat das Landvolk die 
größte Achtung vor den Carnen [die vorgeschichtlichen Steindenkmäler], welchen es 
sich niemals nähert, ohne den Sonnenlauf um dieselben zu gehen. Es ist der Weg 
von Osten nach Westen durch die südliche Region, wie jede gottesd.ensthche Handlung 
der Druiden mit emem dreimaligen solchen Umlauf um den Zirkel Altar oder üarn 
begann. Dieser Weg heißt gälisch densjul (dextrorsum), irisch deueal im _ Gegen atz 
de! Nordweges tuapholl (smistnnsum).« - „Der Sonntag heißt bretagn.ch **•** 
dhjdhsyl, cornisch dezü von deas, rechte Hand, und satt, einem alten Namen der S n,^ 

MacCulloch hebt dieses Motiv wiederholt mit Nachdruck hervor, vg . The 
Religion of the ancient Celts, p. 265, 268, 271. Es handelt s.ch um das dancmg 
sunle round the fire« bei den Behaue- wie bei den M.dsummer-Feuem das w e 
schon die Übersetzung des keltischen dessil oder deiseil durch sunuHSc andeu e, als 
eine Nachahmung der Tätigkeit der Sonne aufgefaßt w,rd. „The cu.stom of walUng 
deiseil round anob,ect still survives, and, as an Imitation of the sun's course, ,t IS supposed 
to bring good luck or ward off evil" (1. c.p. 271). 

3) Corpus Inscr. Lat. III, 4806-4809, wozu noch d,e Inschr.ft auf dem nahe- 
gelegenen Ulrichsberg CIL, III, 4 8io,und eine bei Mommsen noch n.cht erschemende 
Weihinschrift aus einem Tempelchen gehört, das ,m Jahre 1895 unrmttelbar unter 
Hohenstein ausgegraben wurde. 



Emil Lorenz 



namen Isis, den die Römer dieser keltischen Landesgöttin verliehen, dürfen 
wir in ihr eine Muttergöttin erblicken, eine Terra Mater, der die Früchte 
des Feldes und auch die Schätze des Bodens anempfohlen waren. Zu diesen 
gehörte in Noricum insbesondere das hier reichlich gewonnene Eisen und 
Gold. Es ist sicher kein Zufall, daß Pächter von norischen Eisengruben 
unter den Dedicanten der oben angeführten Inschriften erscheinen. Was 
dieses Schloß Hohenstein aber noch besonders auszeichnet, ist der Umstand, 
daß von ihm aus tatsächlich kein Berg sichtbar ist, der an Höhe unsere 
vier Berge überragt, wenn wir von den im Süden den Horizont begrenzenden 
Karawanken absehen. Die noch bis in die Landbeschreibungen der be- 
ginnenden Neuzeit reichende Bezeichnung dieser vier Berge als der höchsten 
Berge des Landes trifft also für jenen Schnittpunkt zu, den wir auf die 
obenerwähnte Weise gewonnen haben. Wir haben es darum im Gebiete 
von Hohenstein mit einem keltischen Kultort, einem Nemeton zu tun 
mit dem es sich um seiner zentralen Lage willen gleich verhalten haben 
mag wie mit jenem Ort, den Caesar in seinem „Gallischen Krieg" er- 
wähnt. „Hi (nämlich die Druiden) certo anni tempore in finibus Carnutum, 
quae regio totius Galliae media habetur, considunt in loco consecrato." * 

Die Siedlung, die mit diesem Orte verbunden war und als welche 
Autricum, das frühmittelalterliche Carnotum und heutige Chartres 
vermutet wird, war jedenfalls als solche ganz unbedeutend, sonst hätte sie 
Caesar sicher mit Namen genannt. Es mag sich mit ihr ähnlich verhalten 
haben wie mit dem hochheiligen Hain der Galater in Kleinasien, den 
Strabo erwähnt: „Südlich von den Paphlagoniern sind die Galater. Sie 
bestehen aus drei Stämmen, die sich weder in der Sprache noch sonstwie 
unterscheiden. Sie haben dann jeden Stamm in vier Teile geteilt und einen 
jeden als Tetrarchie bezeichnet. Jede Tetrarchie hat ihren eigenen Tetrarchen, 
einen Richter und einen Befehlshaber des Heeres, die alle dem Tetrarchen 
unterstehen, sowie zwei Unterbefehlshaber. Die Ratsversammlung der zwölf 
Tetrarchen besteht aus dreißig Mitgliedern. Diese hielten ihre Versamm- 
lungen im sogenannten Drynemeton. Über Klagen wegen Mordes ent- 
schied die Ratsversammlung, über alles andere die Tetrarchen und die 
Richter." (Strabo, Geographica, XII, 5.) 

Wir schließen aus den Angaben des Caesar' und Strabo, daß es kel- 
tischer Sitte entsprach, gemeinsame Angelegenheiten religiöser und recht- 
licher Natur im sogenannten Drynemeton zu entscheiden, einem heiligen 

1 ) Caesar: Bellum Gallicum VI, ] 3 , 10. 



1 .' t — — - 



Cliaos und Ritus 



i3 



Hain, vergleichbar den Nimidas der Germanen im Indiculus superstitionum. 1 
Daß wir nun aus dem Vorhandensein des in der römischen Zeit fort- 
dauernden Kultes der Isis Noreia im Gebiete von Hohenstein auf einen 
analogen Kult der keltischen Zeit zurückschließen dürfen, wird bestärkt 
durch die an Chartres, dem nach Caesar analogen Mittelpunkt des galli- 
schen Landes, haftende Tradition. Dem keltischen Kultbilde der Virgo 
paritura, von dem die Überlieferung spricht, 2 entspricht die Notre Dame 
de Sous-Terre, die unterirdische Madonna in der Krypta der Kathedrale 
von Chartres, zu der die französischen Königinnen zu wallfahrten pflegten, 
wenn sie einen Erben erwarteten. (Sie pflegten eine volle Nacht in der 

Krypta zu verbringen.) 

Das Erbe der keltischen Noreia hat in Kärnten die Landesheilige Hemma, 
Gräfin von Zeltschach und Friesach, übernommen. Ihre Verehrung geschieht 
vorzüglich in der Krypta der von ihr gegründeten Kathedrale von Gurk, 
woselbst sich ein Steintisch mit engem Durchschlupf befindet, durch den 
die Frauen kriechen, um sich Fruchtbarkeit zu sichern. Außerdem wird 
bei den Prozessionen ihres Bildes die Erde an den Stellen, wo Rast gemacht 
wird, aufgekratzt und zur Beförderung der Fruchtbarkeit der Felder auf 
diesen ausgestreut. 3 

Den Kultort der Muttergottheit Noreia umgeben also die annähernd 
gleich hohen und annähernd gleich weit entfernten vier Berge, wie von 
der Natur selber den Weltgegenden entsprechend aufgerichtete Eckpfeiler 
eines natürlichen Templums. Wie die Sonne um die Erde, bewegt sich der 
Vierbergelauf um das der Erdgöttin geweihte Nemeton. Die besondere Lage 
der Berge war es offenbar, die für die Anlage des altkeltischen Nemetons 
bei Hohenstein ausschlaggebend war. Die genaue Beobachtung des Sonnen- 
laufes durch die Druiden ist ja durch Caesar ebenfalls bezeugt. 

Das Prohlem der Vegetationskulte 

Wir sehen eine Begehung, die ihrem ursprünglichen Sinne nach, wenn 
wir Mannhardt und Frazer glauben wollen, ein Zeuge menschlicher 
Lebensangst und Be dürftigkeit ist, in ihrer letzten denkmöglichen Ent- 

i) Grimm: Deutsche Mythologie, «III, 4°5^ ^ sacris süvarum, quas nimidas 

"T)'v g l. Maurice Juss el in: Les traditions de Peglise de Chartres, 1914, und 
Dernieres recherches sur les traditions de l'eglise «^Chartres. lgi7 . 

3) Eduard Nowotny: „Römisch-norische Kulturb.lder«, Korrespondemblatt des 
Gesamtvereines der deutschen Geschichts- und Altertumsverexne. ! 9 2 5 , S. 94 ff- 



_2 . Emil Loreng 

Wicklungsform ins Kosmische ausschwingen. Es wäre diese Entwicklung 
mit ihrem eindrucksvollen Endergebnis fast danach angetan, vergessen zu 
machen, daß unsere ßefassung mit der kosmischen und spirituellen Seite 
des Vorganges vielleicht etwas höchst Einseitiges in Hinblick auf die un- 
geteilte Wirklichkeit eines zugleich im Bewußten wie im Unbewußten 
verlaufenden und in beiden Gebieten seine Vertretung besitzenden Vor- 
ganges ist: } a daß das ausschließliche Verharren bei der Betrachtung einer 
in den Makrokosmos eingemündeten Entwicklungsreihe am Ende gar als 
geistiger Fluchtreflex vor der vermeintlichen Unerträglichkeit im Mikro- 
kosmos vorhandener Tatsächlichkeiten auszulegen wäre. 

Wir sehen bei einer Übersicht der volkstümlichen Kulte, wie sie den 
ganzen Lauf des Jahres begleiten, vorzüglich in seiner steigenden Hälfte, 
von der Winter- bis zur Sommersonnenwende, eine schier endlose Mannig- 
faltigkeit von Begehungen, als deren einhelliger Zweck immer wieder die 
Förderung der Fruchtbarkeit von Pflanzen, Tieren und Menschen, die Be- 
wahrung der Sonnenkraft und die Fernhaltung und Abwehr drohender 
Schäden angegeben werden. Von der Wiedergeburt der Sonne, versinn- 
bildlicht im Julbock, dem schwelenden Holzklotz auf dem Herde des 
dunkeln winterlichen Hauses über die Feuer in der Fastenzeit {Dimanche 
de Brandons, Funkensonntag), die Osterfeuer, das Todaustragen Begraben 
des Carnevals, die keltischen Bellanefeuer, Johannisfeuer und' den spät- 
herbstlichen Halloween oder Samhain zieht sich durch das Jahr eine Kette 
von Gebräuchen, die wohl landschaftlich und zum Teil auch in der Akzen 
tuierung ihrer Elemente verschieden sein mögen, im Wesen aber ein und 
denselben Grundgedanken wiederholen. Daß aber dieser Grundgedanke ver 
mutlich doch von der handgreiflichen Erscheinungsform einer auf Acker- 
bau und Viehzucht gegründeten Weltanschauung verschieden sein wird 
sollte schon jetzt zu erwarten stehen. 

Auch ohne uns vorerst analytischer Gesichtspunkte zu bedienen dürfen 
wir die Feststellung machen, daß die bisherige Auslegung unseres Brauches 
unvollständig ist, trotz ihrer ins Kosmische einmündenden Endentwicklung. 
Bereits der erste wissenschaftliche Bearbeiter unseres Themas, Georg Graber 
(Carinthia 1Q12 ) weist auf den Seelendienst als einen wesentlichen Be- 
standtei und ein Hauptmotiv unserer Begehung hin. Es sind (nach deut- 
schem Glauben) insbesondere Berge, die als Sitz der Seelen gelten. Noch 
der Mensch der frühen Steinzeit brachte es über sich, den Toten an der 
Matte der Lebenden zu bestatten und dieselbe Wohnstätte weiter zu be- 
nutzen. Spater räumte man diese und überließ sie dem Toten vollständig, 



Chaos und Ritus 



wieder später schuf man eigene Wohnungen für die Toten, ließ aber die 
Seelen noch immer an die irdische Behausung gebunden bleiben. Dann 
aber entrückte man sie ins Unwegsame, der menschlichen Nutzung Ent- 
zogene, in den Busch oder auf den Berg. So gelten die Berge (nicht bloß 
nach deutschem Glauben) als Sitze der Seelen. Doch Seelen in abstracto 
sind kein Gegenstand des Kultes. Auch das anonyme Seelenheer der zwölf 
Nächte dient bloß als Folie für Odin und hat sonst keine selbständige 
Existenz. Und die auf den Bergen wohnend gedachten Seelen sind nach 
dem Zeugnis des lange nachwirkenden deutschen Glaubens (Karl der Große, 
Friedrich Barbarossa) die Seelen der Stammesheroen und der vergöttlichten 
Urväter. Wie ist man aber dazugekommen, von diesen das Gedeihen der 
Felder und des Viehes zu erflehen, und zwar allem Anschein nach ursprüng- 
lich mit blutigen Opfern? Wie kommen z. B. schon bei Hesiod die Ur- 
väter des goldenen Geschlechts dazu, als gute Geister, als Wächter über 
Recht und Unrecht und als „Spender der Fülle" und des Gedeihens gepriesen 
zu werden, die auf der Erde weiterdauern und „in Luft gehüllt allüberall 
hin wandeln P 1 

vegetationsJcult und Urverorecnen 

Die bisher von den Mythologen und Folkloristen geschaffenen Gedanken- 
brücken zwischen dem Seelenkult und den Vegetationsriten haben sich 
immer mehr als unzulänglich erwiesen. Es ist z. B. kein Wort darüber zu 
verlieren, daß die Mannhardtsche Theorie von der Entwicklung des Baum- 
geistes zum Vegetationsdämon ein unvollziehbarer Gedanke ist. Es ist nur 
ein Beweis für die Größe dieses Forschers, daß sie von diesem Mangel 
unberührt bleibt. All diese abstrakten Geisler und Dämonen der konkretesten 
Dinge gibt es einfach nicht, zum mindesten nicht als mögliche Ausgangs- 
punkte von Mythos und Kultus. Das Lebendige stammt vom Menschen her, 
dies ist der richtige Gedanke Mannhardts und seiner Nachfolger, der 
Kult lehrt aber, daß es keine gleichsam logische Analogie war, die dieses 
menschliche Leben der Natur introjiziert hat, sondern ein gewaltiges, für 
das unbewußte Gattungsgedächtnis unverlierbares Ereignis. Das Gewalttätige 
und Grausame in den ursprünglichen Formen dieser Kulte ist durch keine 
reale Notwendigkeit begründet. Es ist damit etwas ganz anderes „gemeint", 
als die harmlosen Interpretationen wollen. Sollten wirklich die grausamen 



1) Hesiod: Werke und Tage. v. 121 — 126. 



*" Emil Lorens 

Menschenopfer, die in Verbindung mit den Vegetationskulten überall bezeugt 
sind, nichts weiter bezwecken als das Freimachen der magischen Kraft in 
dem zu Opfernden zugunsten des Wachstumsvorganges in der Natur, der 
dadurch gefördert werden soll? In diesem Falle hätten die Opferpriester 
mit noch größerem Rechte als die Richter der Shaw sehen Heiligen Johanna 
ihr Opfer damit beruhigen dürfen, daß die bevorstehende Hinrichtung keine 
persönliche Spitze gegen es enthalte. Mag dies sogar für die Bewußt- 
seinsseite des Vorganges Geltung haben, eben dieser Vorgang, also die Tat, 
die Aktivierung der gedanklichen Möglichkeit ist ohne einen starken un- 
bewußten Antrieb nicht denkbar. Dieser Antrieb ist für das Individuum 
der Ödipuskomplex, für die Gattung aber das Urverbrechen, die Tötung 
des Vaters der Urhorde, das Urbild jedes individuellen Ödipuskomplexes. 
Es soll hier nicht wiederholt werden, was Freud an Grundsätzlichem über 
diesen wichtigen Gegenstand ausgeführt hat (vgl. „Totem und Tabu", Ges. 
Schriften. Bd. X, S. 173), zumal da auf diesen Punkt noch später zurück- 
gegriffen werden wird. Wir fassen vorläufig nur die Folgen der Urtat ins 
Auge. Sie hat ja ihr Ziel nicht erreicht. Das Schuldgefühl, das sie im 

Gefolge hatte, die — in der Form des „nachträglichen Gehorsams" 

wirksam werdende Kraft des Inzestverbotes, Hand in Hand mit der auch 
praktischen Unmöglichkeit, daß jeder aus der Brüderhorde ans Ziel seiner 
Wünsche gelange, die drohende, späterhin auch wirklich eingetretene Ent- 
zweiung unter den Mitschuldigen, äußerte sich (vielleicht sogar nach an- 
fänglichen Exzessen inzestuöser Natur) in dem seelisch bedingten Unver- 
mögen zu jeglicher Art sexueller Betätigung. Der Erschlagene schien jetzt 
die Kraft der gesamten Horde an sich gerissen zu haben und sie unan- 
greifbar in seiner Rachsucht, der Horde vorzuenthalten. Eine primitive 
Drohung war posthum verwirklicht. Dies blieb aber keine allein die 
Gattung Mensch bedrohende Angelegenheit. Der kosmische Narzißmus des 
Frühmenschen sah durch die Störung seiner eigenen Generationstätigkeit 
auch das Wachsen und Blühen der Tier- und Pflanzenwelt bedroht. So 
war aber der Mensch auch von dieser Seite her durch die Rache des 
erschlagenen Urvaters gefährdet. Wo ein Weg aus diesem Wirrsal, das mit 
jeder Stunde wuchs? Die Tat konnte nicht ungeschehen gemacht, aber sie 
konnte wiederholt werden, und zwar mit umgekehrter Intention: das stell- 
vertretende blutige Opfer. Einer aus der Schar der Schuldigen kauft sie alle 
los, indem er geopfert wird, d. h. dasselbe Schicksal erleidet wie der Urvater. 
Wir haben uns allzusehr gewöhnt, in den Formen des Brauchtums der 
Vegetationskulte gleichsam selbstverständliche Bilder zu erblicken, auf die 



Chaos und Ritus 



der menschliche Geist ohne einen wenngleich zeitlich weit zurückliegenden 
konkreten Anlaß verfallen mußte. Aber auch der Anthropomorphismus 
wächst nicht aus dem Nichts, und der (menschen- oder tiergestaltige) Wachs- 
tumsdämon verdankt seinen Ursprung sicherlich nicht einem langsamen 
Hervorwachsen aus dem vollständig Unpersönlichen. Es ist vielmehr der 
tiergestaltige Wachstumsgeist ebenso an die Stelle des menschengestaltigen 
gerückt wie der Totem an die Stelle des Urvaters. Im Grunde verraten die 
Riten selbst heute noch deutlich genug die wirklichen Zusammenhänge. 
Es hieße das ganze Werk von Frazer, unbeschadet der richtigen Einzel- 
tatsachen und Einzelzusammenhänge, um- und neuschreiben, wenn man 
dies mit demselben Nachdruck und Eindruck erweisen wollte, wie es bis- 
her für die herkömmliche Auffassung geschehen ist. Das will indessen nicht 
besagen, es sollte damit eine ursprüngliche unbestimmte Form der Be- 
lebung geleugnet werden, die ja schon aus dem Narzißmus der primitiven 
Weltansicht hervorgeht. Wir dürfen im übrigen an die Bemerkungen an- 
knüpfen, die Frazer selbst im Anschluß an seine Schilderung der Früh- 
lings- und Mittsommerfeuer macht. 

„Die feierliche Beerdigung, die Wehklagen und die Trauerkleidung, welche 
diese Feierlichkeiten häufig charakterisieren, passen zwar zu dem Tode des 
wohltätigen Geistes der Vegetation. Aber was sollen wir zu dem Vergnügen 
sagen, mit dem das Bild oft hinausgetragen wird, zu den Stöcken und Steinen, 
mit denen man es angreift, und den Schmähungen und Flüchen, die ihm nach- 
geworfen werden? Wie sollen wir die Angst vor dem Bilde erklären, die sich 
in der Hast ausspricht, mit der die Träger heimjagen, sobald sie es fortgeworfen 
haben, und in dem Glauben, daß in dem Hause, in das es hineingeschaut hat, 
bald jemand sterben muß? Diese Furcht geht vielleicht auf den Glauben zurück, 
daß dem toten Vegetationsgeiste eine gewisse Ansteckungsgefahr innewohnt, die 
eine Annäherung gefährlich macht. Diese Erklärung, die einmal recht gezwungen 
ist, erstreckt sich nicht auf die Freude, welche oft das Hinaustragen des Todes 
begleitet. Wir müssen daher zwei deutliche und scheinbar entgegengesetzte 
Faktoren bei diesen Zeremonien unterscheiden: auf der einen Seite Trauer 
um den Tod und Liebe und Achtung vor dem Toten; andrerseits Furcht und 
Haß vor dem Toten und Freude über seinen Tod. ' 

Was uns für den ganzen Typus von Begehungen kennzeichnend und 
damit aufschlußgebend über seine unbewußte Fundierung erscheint, sind 
die folgenden Punkte : 

1) Die Dramatisierung, in der wir das Abbild eines wirklichen Dromenon, 
wie wir meinen, der Urtat, erblicken; 



1) Frazer: Der goldene Zweig. Deutsche Ausgabe, S. 465. 



I'.mil Loren: 



2) die Ersetzung der wirklichkeitsgemäßen Affekte von Trauer über das 
Absterben und Freude über die Erneuerung der Natur durch die ambivalente 
Einstellung zu dem sterbenden Vegetationsdämon; 

5) die Gliederung des ganzen Vorganges nach dem Gesichtspunkt zweier 
Generationen, der Vater- und Sohnesgeneration (Kampf des Winters mit 
dem Sommer, Scheinkampf auf dem Acker, über diesen siehe weiter unten). 

Schließen wir aus der Vernichtung eines den alten Wachstumsgeist 
darstellenden Bildes auf die seinerzeitige wirkliche Tötung eines Menschen, 
wie sie uns die Bräuche bei den Beltanefeuern 1 nahelegen, so ergibt sich 
araus die jährlich im Frühjahr erfolgende Wiederholung des Urver-p 
brechens, aber mit umgekehrtem Vorzeichen, indem jetzt einer aus der 
Menge (der Brüderhorde) den Tod erleidet, der einst dem Vater bereitet 
worden ist. Dieser Opfertod ist es wiederum, der die Hemmungen beseitigt, 
die der zeugenden Kraft der Natur und der Menschen den Winter über 
auferlegt waren. Denn daß auch die Brünstigkeit des Menschen ursprünglich 
an die Jahreszeiten geknüpft war und im Frühling emporschnellte, in dem 
wir am ehesten das Urverbrechen ansetzen dürfen, scheint mir noch heute 
die Frühlingsschwermut zu lehren. Sie ist wohl nichts anderes als die 
Wiederholung der temporären Melancholie nach der Tötung und Verzehrung 
des Urvaters. Wenn die Kirche für diese Zeit ein mehrwöchentliches Fasten 
verordnet, so liegt dies in tief sinnvoller Weise zwischen den Exzessen 
des Karnevals, dessen Lockerungen, beendet mit dem Begraben des Karnevals 
oder dem Todaustragen, die Orgien nach der Urtat wiederholen, und dem 
Sühnakte des blutigen Opfers des Sohnes, an dem die Urtat als dem Stell- 
vertreter der sündigen Brüder horde wiederholt wird. 

Verschiedene Möglichkeiten tun sich jetzt unserem Blicke auf. Ist diese 
aus den Vegetationsriten herauszulesende Beziehung auf die Urtat nicht 
vielleicht sekundär, in der Weise, daß das stets bereitliegende Material 
unseres Unbewußten die praktisch notwendigen Verrichtungen des Acker- 
baus erst nach und nach mit seinen Motiven durchsetzt hätte? Wir hätten 
dann eine schrittweise erfolgte Angleichung der äußeren Realität an die 
latente Dynamik des Unbewußten Vor uns. 

Die andere Möglichkeit wiederum würde in den Vegetationskulten nur 
zeitlich beschränkte Anlässe sehen, an denen sich die ewige Wiederkehr 
der verdrängten Urtat, das dauernde Parricidium der Menschheit und ihre 
Urschuld manifestiert. 



1) Fraier, a. a. O. S. 917 ff. 



Cliaos und Ritus 



Wir dürfen, eingedenk des Jahresrhythmus, in den das Lehen des Menschen 
sowohl wie auch das der Natur eingeordnet ist, auch für die Urtat mit 
der periodischen Wiederkehr des Tatimpulses sowie der Reaktion darauf 
rechnen. In irgend einer symbolischen Form hätte sich also seit Urtagen, 
an der Wende der beiden Jahreshälften, die Tötung des Urvaters wiederholt, 
in fortschreitender "Verschiebung vom Agieren zum Erinnern hin. Theoretisch 
wäre der Verlauf etwa so zu denken : Zu den Symptomen der melancholi- 
schen Reaktion auf das Verzehren des Urvaters gehörte auch die Nahrungs- 
verweigerung. Ein Projektionsmechanismus, der als solcher schon einen 
Heilungsversuch der Melancholie darstellt, läßt als die Ursache der unter- 
bleibenden Nahrungsaufnahme das Stocken der Generationstätigkeit des 
Menschen selbst erscheinen, das ja auch, wie schon früher erwähnt, zu den 
Symptomen der Melancholie gehört. Die psychisch bedingte Hungersnot 
wird nach außen versetzt. Und dies träfe wiederum mit der äußeren 
Realität zusammen, falls wir als geographische Umwelt der Menschheit, 
die diese Urerlebnisse mitmachte, eine gemäßigte Zone annehmen wollten, 
in der gegen Ende des "Winters äußerlich bedingter Nahrungsmangel ein- 
tritt. Hierbei ist es durchaus nicht nötig, schon an Ackerbau zu denken. 
Jäger-, Sammler- und Hackbauwirtschaft werden durch die Ungunst der 
Natur während der kälteren Hälfte des Jahres, jedes in seiner Weise, betroffen. 

Über die Form, die diese Begehungen hatten, ehe sie sich noch zu den 
Vegetationsriten ausgestalteten, eine Aussage zu machen, scheint nahezu 
unmöglich. Zunächst ist es, falls man überhaupt diesen Versuch unter- 
nehmen will, nötig, den engeren Bereich der Pflugkultur zu verlassen, 
um zu erforschen, ob die wesentlichen Züge unserer Riten nach Wegfall 
der religiösen und unbewußten Motive, die im Ackerbau wirksam sind, 
noch erhalten bleiben. Wir wenden uns darum dem der Pflugkultur voran- 
gehenden Stadium des Hackbaues zu und treffen dortselbst — wir nehmen 
als Beispiel Mexiko — das Menschenopfer in vollster Ausprägung an. 
Daß nun der Geopferte dortselbst als Stellvertreter des Gottes bezeichnet 
wurde und kürzere oder längere Zeit auch göttliche Ehren genoß, bis 
eines Tages für ihn die Stunde schlug, liegt ganz in der Linie des Opfer- 
wesens der Pflugkultur. Die Beispiele bei Frazer (S. 855 ff.) lassen noch 
deutlicher als die meisten Belege aus dem uns näherstehenden Kultur- 
bereiche die Doppelrolle dieser Gottmenschen und die Ambivalenz der 
Gefühle ihrer Verehrer erkennen. Das Opfer, welches bei den Azteken in 
den letzten Tagen des April, also ungefähr zur Zeit unseres Osterfestes, 
dargebracht wurde, galt dem Tezcatlipoca, dem höchsten Gotte des aztekischen 



SO Emil Lorenz 



Pantheons. Das Opfer genoß ein Jahr lang göttliche Ehren und wurde 
nach seinem Tode, der durch Herausreißen des Herzens erfolgte, sogleich 
durch einen Nachfolger ersetzt. Wie sehr der, wenn wir recht haben, 
ursprüngliche Sinn dieser Begehungen als einer Erneuerung des (Jrver- 
hrechens schon rationalisiert worden war, lehrt die Tatsache, daß die Mais- 
göttin durch ein Mädchen verkörpert und in deren Gestalt geopfert wurde. 
Die Auslegung, die Frazer allen diesen Begehungen gibt, ist in ihrer Art 
zutreffend: dem Gotte sollte durch die Opferung eines Stellvertreters, der 
in voller Jugendkraft steht, selber neue Kraft zugeführt werden. Aber, so 
dürfen wir fragen, wieso ist das menschliche Denken denn an allen Orten 
und zu allen Zeiten überhaupt darauf verfallen, diese Zufuhr neuer 
Kraft, der die Vegetation oder ihren Quell, die Sonne, stützen soll, gerade 
durch die Tötung eines Menschen erzielen zu wollen? Es scheint so, als 
ob die rituelle Tötung von den Formen der wirtschaftlichen Kultur voll- 
ständig unabhängig und von der Sorge um das Gedeihen der Nahrungs- 
pflanzen nur insoweit bedingt ist, als diese Sorge ein Teilmotiv darstellt 
aus dem Zusammenhang der Konsequenzen der Urtat, zu denen ja auch 
die melancholische Nahrungsenthaltung gehört. 

Australische Riten 

Zum Unterschiede von den europäischen Ackerbauriten, die durchwegs 
die eindeutige Absicht haben, die Kraft des Wachstums der Nahrungs- und 
Nutzpflanzen zu stärken, das Vieh vor Krankheit zu bewahren, demnach 
Fruchtbarkeit in jeder Richtung, auch für die Menschen selbst, zu sichern 
richten sich die australischen mbatjalkatiurna-Riten auf die Vermehrung 
des Totems, der ein Tier, eine Pflanze oder auch ein Naturgegenstand 
wie der Mond, ja sogar ein Naturvorgang wie der Regen sein kann. Als 
Totem ist das betreffende Tier oder die Pflanze für den Stamm selbst nur 
ausnahmsweise wirtschaftlich nutzbar, bei den Totemmahlzeiten nämlich 
oder außerhalb derselben nur unter Einhaltung bestimmter Vorsichtsmaß- 
regeln. Der mbatjalkatiuma-Ritus konnte darum gar nicht in erster Linie 
die Beschaffung von Nahrung für die Stammesmitglieder zum Zwecke 
haben, er war vielmehr eine Wiedergutmachung an dem Totem, der ja 
selber wieder den erschlagenen Urahnen vertritt. Erst mittelbar dient diese 
Wiederherstellung der durch die Urtat gestörten Ordnung auch der psychisch, 
nicht physisch bedingten Nahrungsnot. Dieser Bestandteil der primitiven 
Kultur geht also gar nicht auf Behebung einer realen Not aus, sondern 






L. 



Cliaos und Ritus 



21 



wurde zu einer solchen erst nachträglich in Beziehung gebracht, eben ver- 
mutlich erst dann, als eine solche reale Not, die von außen hereinbrach, 
z. B. Klimaverschlechterung oder Diluvium, die Stämme zwang, Stücke 
ihres sakralen Besitzstandes zu säkularisieren. Auf diesem Wege sind demnach 
die Vegetationsriten des europäischen Typus entstanden. Der Vorgang wäre 
also ganz analog demjenigen, durch den das ursprünglich der Mondgottheit 
heilige Bind in den Dienst des Ackerbaues gestellt wurde. (Vgl. S. 49.) 

Wie nahe die Autoren der richtigen Auffassung gekommen sind, bezeugt 
der Hinweis auf Beth (Religion und Magie bei den Naturvölkern, S. aoo) : „Das 
gleichbleibende Moment in allen diesen Fruchtbarkeitsriten ist die Steigerung 
jener Kraft, welche in den Urvätern als eine ursprüngliche angenommen wird, 
und die für die lebende Generation aufs neue beschafft werden soll . . . wie 
auch schon Durkheim ausgeführt hat; es ist die große Kraft der Urzeit, 
die immer wieder die Generationen belebt und über alle Generationen hinaus 
dieselbe bleibt." (Dieselbe Auffassung findet sich bei Winthuis „Das Zwei- 
geschlechterwesen", S. 243.) Wir wissen durch Freud, daß diese „große Kraft" 
keine abstrakte Größe ist, die aus unerfindlichen Gründen gerade mit den 
Urvätern verbunden war, sondern daß diese Kraft nur darum Gegenstand 
eines nimmer erlöschenden Verlangens der Menschheit geworden ist, weil 
sie einstens durch die Urschuld des Geschlechtes vernichtet wurde, und 
weil schließlich diese Schuld von jedem einzelnen neuerlich kontrahiert 
wird. In diesem mythischen Verlangen nach Wiedergutmachung der Ur- 
schuld liegt endlich die unbewußte Dynamik auch jeder technischen Ent- 
wicklung. Ökonomik, Zentralisierung der physikalischen Kraftquellen, 
„efficiency" in der Verwertung, Rationalisierung, und was es sonst noch 
möglichst Irrationales geben mag, zielen auf das unbewußte Wunschbild 
eines einzigen überdimensionalen Kraftleibes, auf einen Theos epiphanes, 
die sichtbar gewordene Allmacht. 

Die australischen Vegetationsriten in der von Spencer und Gillen, 
zuletzt von Strehlow studierten Form, sind ebensowenig etwas Einheit- 
liches wie die freilich noch viel mehr geschichteten europäischen Acker- 
baukulte. Die mimischen Bewegungen und Tänze bei den Intichiuma- 
(mbatjalkatiuma-) Zeremonien sollen durch nachahmenden Zauber die Vi- 
talität der Totemtiere erhöhen. Das Vergießen von Blut aus frischen Wunden 
der Stammesmitglieder wird von den Autoren als symbolischer Zauber 
bezeichnet: zugunsten des Begentotems soll es zur Erde strömend Regen 
bewirken. Es sind geläufige Gedankengänge des magischen Denkens. Im 
Sinne der ganzen Zeremonie, wie sie früher dargelegt wurde, ist die Hin- 



33 Emil Loren; 

gäbe von Blut noch etwas anderes, in diesem Falle das Wichtigere, nämlich 
eine Zurückgabe der vom Individuum angeeigneten Kraft an den Urahnen, 
dem sie einstens durch das Urverbrechen entzogen wurde. 

Die Ackerbaukulte des europäischen Typus, deren Hauptmotive Mann- 
hardt (WFKI, 498 ff.) zusammenfaßt, sollen später gewürdigt werden, da 
wir uns von dem Umkreis des ursprünglichen Totemismus zunächst noch 
nicht allzuweit entfernen wollen. Es scheint vielmehr jetzt an der Zeit zu 
sein, eine nähere Untersuchung über das Problem der Totemvvahl vorzu- 
nehmen. 

Die Totemwahl 

Es steht wohl außer Zweifel, daß die Ausführungen Freuds im vierten 
Kapitel von „Totem und Tabu" trotz ihrer Leuchtkraft und der Sicherheit 
des Grundgedankens in manchen Punkten nur erst ein Programm dar- 
stellen und der Ausarbeitung bedürfen. Ergänzungen und Weiterbildungen 
der Lehre vom Totem sind ja im wesentlichen die Arbeiten von Reik 
Röheim und Winterstein. Zu den schwierigsten Gedankenbrücken gehört 
nun ohne Zweifel die Ersetzung des Urvaters durch das Totemtier. Daß 
die Tierphobien der Kinder die ontogenetische Parallele zum Totemismus 
darstellen, ist die große Entdeckung Freuds, an der nicht zu rütteln ist. 
Wenn wir aber nunmehr versuchen, die Aufspaltung der ambivalenten 
Einstellung des Kindes zum Vater als einen in der Zeit verlaufenden Vor- 
gang in die Urzeit zu übertragen, so bleibt eine Unstimmigkeit. In der 
ontogenetischen Parallele wird alles Hemmende, Drohende und Feindliche 
von der Person des Vaters weg auf ein Tier projiziert, während die positive 
Einstellung vorläufig ungeteilt mit dem Vater verbunden bleibt. Nachträglich 
freilich (man vergleiche den „kleinen Hahnemann" Ferenczis) kommt 
es zur Übertragung zärtlicher Regungen auf das Tier, was aber mehr ein 
Zeichen des Mißglückens der seelischen Operation zu sein scheint. Denn 
der Heilzweck liegt doch offenbar darin, die auf die Dauer als unerträglich 
empfundene Ambivalenz durch reinliche Scheidung der Komponenten des 
unverträglichen Gefühlspaares loszuwerden. Der Vorgang bei der Entstehung 
der Tierphobie spielt sich also bei Lebzeiten des Vaters ab und stellt einen 
Mechanismus zur Überwindung der Ambivalenz dar, der seinen Grund darin 
hat, daß es dem Kinde unmöglich ist, seine divergenten Affekte dauernd auf 
ein und dieselbe Person zu beziehen; die Bildung des Torems hingegen soll 
doch erst nach dem Tode des Urvaters erfolgt sein und der Totem trägt 
nicht nur die Züge des gefürchteten Tyrannen, sondern er ist als solcher 



T 1— 1 



Chaos und Ritus 3 -- ) 



schon ambivalent besetzt, was aus der Gleichzeitigkeit der rituellen Tötung 
und der rituellen Trauer hervorgeht. Als eine Lücke in der Deduktion 
wird es ferner empfunden, daß über den eigentlichen Hergang der Er- 
setzung des Urvaters durch den Totem, der ja auch ein Vorgang in der 
Zeit war, nichts verlautet. So bleibt gerade jener Übergang im Dunklen, 
wie nach der Urtat, wo sich die Reaktion auf die Tat in Form der Reue 
anbahnt, sich der Urvater-Imago der Totem unterschiebt. Und dieser Über- 
gang ist es ja, wie schon erwähnt, der besonders erklärungsbedürftig wäre, 
weil die Substitution des Tieres in eine Zeit extremer Ambivalenz fallen 
müßte, wenn nicht die ontogenetische Parallele der Tierphobie an Beweis- 
kraft verlieren soll. Es blieben freilich Auswege übrig, die dieser Aporie 
entgehen. Zum ersten ist die plastische Zusammendrängung des ganzen 
Vorgangs bei Freud selbst gewissermaßen nur eine darstellungsmäßige 
Verkürzung, und in Wirklichkeit wäre der Hergang nicht so katastrophen- 
artig zu denken und würde sich vor allem auf mehrere Generationen er- 
strecken, in deren Leben sich immer wieder Tat und seelische Reaktion 
auf sie wiederholt hätten. So wären es also gleichsam gattungsmäßige En- 
gramme in der plastischen Psyche des Frühmenschen, die — von Generation 
zu Generation steigend — schon während der Tat, ja sogar schon bei ihrer 
Vorbereitung die reaktiven Momente wirksam werden lassen. Die einzelne 
Handlung würde damit zu einer aus der Totalität des Seelischen ent- 
springenden, mit anderen Worten, die Reue brauchte nach der Tat nicht 
gleichsam erstmals erlebt zu werden, aber auch der Totem springt dann 
nicht wie Athene aus dem Haupte des Zeus in die Wirklichkeit hinaus. 
Eben dies führt uns auf die zweite Möglichkeit zur Lösung unserer Aporie, 
nämlich dazu, die Entstehung des Totems der einzelseelischen Ent- 
wicklung entsprechend schon in die Zeit vor der Urtat zu versetzen. Die 
Möglichkeit hiezu bietet die folgende Überlegung: 

Jagatiere und Totemtiere 

Es hieße auf jeden Fall die psychobiologische Spannkraft der Brüder- 
horde vor der Urtat überschätzen, wenn man annehmen wollte, daß sie die 
ihr vom Urvater auferlegten Versagungen ohne Kompensation oder stell- 
vertretenden Abfuhrmechanismus ertragen hätte. Es ergab sich als ein die 
Massenbildung verstärkendes Moment eine verstärkte homerotische Bindung. 
Es gab die weitere Möglichkeit der nach außen, gegen Stammesfremde, 
geübten Gewalt und des Raubes fremder Weiber. In welcher Weise war aber 



— _ 



M 



-Eniil Lorenz 



ein Abreagieren der auf den Tyrannen gerichteten Haßgefühle möglich? 
Um die Antwort vorwegzunehmen: in der Jagd, im Quälen und Töten 
von Tieren. Es gilt hier, sich von jener Verengung des Blickfeldes zu be- 
freien, die in allen Dingen nur das Kräftespiel ökonomischer Bedürfnisse 
sehen will. So groß die Bedeutung der Jagd auch in wirtschaftlicher Hin- 
sicht für die Frühzeit der menschlichen Kultur sein mag, ihre symbolische 
Bedeutung für das Unbewußte ist nicht minder wichtig. Es ist hier der 
Platz, auf die aufschlußreichen Darlegungen von Marie Bonaparte 1 zu 
verweisen. Die Verfasserin unterscheidet die Parforcejagd, wie sie insbe- 
sondere in Frankreich heimisch ist, von der Einzeljagd, dem in Mittel- 
europa gebräuchlichen Pirschen. Über die erstere läßt sie sich folgender- 
maßen vernehmen: 

„Die Parforcejagd verdankt zweifellos ihre Entstehung der im Unbewußten 
aufbewahrten Erinnerung an den durch die Urhorde verübten Vatermord und 
an das kollektive Totemopfer, das das von ihnen verdammte und gleichzeitig 
herbeigesehnte Verbrechen periodisch erneuerte, und hat sich mit allen ihren 
Gebräuchen aus diesem Grunde bis heute erhalten" (a. a. O. S. 133 f.). 

Im Gegensatz hiezu sei die Pirschjagd auf den tiefen, unterdrückten 
Wunsch eines jeden aus der Brüderhorde zurückzuführen, der einzige Erbe 
des Vaters und sinngemäß auch der einzige Mörder zu sein. Die Ausfüh- 
rungen von Marie Bon aparte sind durchaus richtig, doch dürfen wir noch 
um ein Stück weiter zurückgehen. Zunächst sei darauf verwiesen, daß die 
Autoren, die sich um die Weiterbildung und tiefere Fundierung der Freud- 
schen Theorie des Totemismus bemüht haben, gerade die der Urtat zeitlich 
vorangehenden Momente noch immer vernachlässigen. Es hilft uns wenig, 
wenn wir den Zustand der Horde in die von Freud nachher aufgestellten 
Begriffe seiner Massenpsychologie umgegossen finden. Wir brauchen als 
noch ausstehendes missing link die Vorgeschichte des Totems, die auf 
jeden Fall vor der Urtat zu suchen ist. 



Die liegende von St. Julian dem Gastfreien 

Die Jagd als Ersatz für den Mord an den Eltern ist der Gegenstand der 
Legende von St. Julian dem Gastfreien, deren klassische Formung durch 
Flaubert sicher der aufschlußreichste Beitrag zur Psychologie der Motive des 
Jagens ist. Daß sie, in ihrer kristallklaren Epik, angewandt auf das dunkelste 



1) Über die Symbolik der Kopftrophäen. Imago XIV (1928), S. 100 ff. 



Chaos und Ritus 20 



Gebiet menschlichen Seelenlebens, zugleich ein ganz großes Kunstwerk ist 
und immanente Sinnhaftigkeit in allen Seinsschichten besitzt, die durch 
ihr Gefüge laufen, sei deshalb vermerkt, damit der Vorwurf abgewiesen 
sei, als handle es sich uns bei der analytischen Durchleuchtung eines 
poetischen Gebildes doch immer wieder um einen Mißbrauch als Vivi- 
sektionsobjekt. (Es will mich bedünken, daß das echte Kunstwerk nach der 
Analyse lebendiger ist als vorher, das unechte aber nach der „Vivisektion" 
begreiflicherweise tot ist, ebendarum weil es auch früher nicht lebendig war.) 
Es scheint zunächst gerade diese Legende am wenigsten in den Zu- 
sammenhang des Ödipusmotives zu passen, weil die Prophezeiung des ge- 
marterten Hirsches an Julian, er werde dereinst noch seine Eltern töten, 
beide Elternteile betrifft. Doch gibt es eine Form dieses Motivs, bei 
welcher auch der Mutter nicht verziehen wird, daß sie das Weib eben 
dieses über alles gehaßten Vaters ist. Über die Bedingungen dieser Schwer- 
punktverlegung sei in diesem Zusammenhange nicht gehandelt. Daß sie 
bei Julian vorhanden ist, zeigen die vielsagenden Worte: „Wenn seine 
Mutter ihn küßte, litt er kalt ihre Umarmung und schien tieferen Dingen 
nachzusinnen." Der erste Anfang zu seiner sadistischen Leidenschaft, Tiere 
zu töten, ist vom analytischen Standpunkte höchst bezeichnend: 

„Als Knabe von etwa sieben Jahren bemerkte er in der Kirche während 
der Messe eine kleine weiße Maus, die aus einem Loch in der Mauer her- 
vorkam . . . Am nächsten Sonntag machte ihn der Gedanke, er könne sie wieder- 
sehen, unruhig. Sie kam, und an jedem Sonntag wartete er nun auf sie, fühlte 
sich endlich belästigt dadurch, faßte einen Haß und beschloß, sich ihrer zu 
entledigen. 

Julian ist allein in der Kirche, wartet auf die Maus und erschlägt sie. 
Die nächsten Opfer sind Vögel im Garten. Eine Taube erwürgt er, die 
Zuckungen des Tieres machen sein Herz klopfen und erfüllen es mit einer 
Lust, daß ihm die Sinne vergehen. Die Situation, in der der Knabe zum 
ersten Male ein Tier tötet, ist analytisch bedeutsam. Sowohl die Kirche 
wie auch die Maus lassen ihren Symbolcharakter ohneweiters erkennen. 
Daß der Knabe bei der Tötung allem Anschein nach allein in der Kirche weilt 
und die Maus wie einen unerwünschten Eindringling erschlägt, entspricht der 
ödipussituation mit intrauteriner Wendung. Das Gemetzel unter den Hirschen 
in einem Kesseltal, die er alle tötet, endet mit der schon erwähnten Szene, 
in der der Hirsch ihm prophezeit, er werde seine Eltern töten. 

„Da gewahrte er auf der anderen Seite des Tales am Waldesrande einen 
Hirsch, eine Hindin und ein Junges. Der Hirsch, welcher schwarz und un- 



Emil Lorenz 



geheuer groß von Gestalt war, trug sechzehn Enden und einen weißen Bart. 
Die Hindin, braun wie die trockenen Blätter, äste das Gras, und das gefleckte 
Junge sog, ohne sie in ihrem Gange zu hindern, an ihrer Zitze. 

Noch einmal schwirrte die Sehne. Das Junge war sofort tot. Da klagte 
seine Mutter, «um Himmel blickend, mit einer tiefen, herzzerreißenden mensch- 
lichen Stimme. Julian streckte sie, außer sich, durch einen Schuß mitten in 
die .Brust zu Boden. 

Der große Hirsch hatte ihn gesehen und machte einen Satz. Julian schickte 
ihm seinen letzten Pfeil entgegen. Der Pfeil traf ihn in die Stirn und blieb 
dort stecken. 

Der große Hirsch schien ihn nicht zu fühlen, er sprang über die Toten 
und näherte sich zusehends Julian, um sich auf ihn zu stürzen und ihn zu 
S P. ieüe ": r unsa g bar « Schreckensangst wich Julian zurück. Das wunderbare 
lier blieb stehen, und mit flammenden Augen wiederholte es wie ein Patriarch 
und Richter, wahrend im Fernen eine Glocke klang, zu dreien Malen- 

Sei verflucht, verflucht, verflucht! Eines Tages, blutgieriges Herz, wirst du 
deinen Vater und deine Mutter ermorden! 

Er beugte die Knie, schloß sanft die Lider und verschied. Julian war 
bestürzt, dann wurde er von einer plötzlichen Müdigkeit befallen, und Ekel 
und eine unendliche Traurigkeit erfüllten ihn. Den Kopf in beiden Händen 
weint er lange. luen ' 



wer- 



Wenn dann der Vater, um den so plötzlich umgewandelten und schw ,, 
mutig gewordenen Sohn aufzuheitern, ihm ein Damaszenerschwert schenken 
will und bei der Herunterholung dieses Schwertes von der Höhe eines 
Pfeilers durch eine versehentliche Bewegung das Schwert auf den Vater 
fällt, so ist diese Fehlhandlung in ihrer Tendenz ganz durchsichtig Das- 
selbe gilt von dem Versehen, daß Julian in der Dämmerung die lang- 
bandnge Haube seiner Mutter für die Flügel eines Storches ansieht danach 
schießt und die Haube an die Mauer heftet. Jetzt flieht er das väterliche 
Schloß, um nie mehr wiederzukehren, tritt in fremde Kriegsdienste und 
wird ein großer Held. Der Kaiser von Occitanien gibt ihm seine Tochter 
zur Frau. Em herrliches Schloß wird sein Wohnsitz. Nie mehr ging er 
auf die Jagd, denn „es schien ihm, als hinge vom Mord der Tiere das 
Schicksal seiner Eltern ab . Je mehr er sich um seiner Eltern willen von 
der Tötung jedes Tieres zurückhält, desto wüster werden seine Träume 
Als eines Tages das Verlangen unüberwindlich wird, greift er zu Bogen 
und Kocher und verläßt das Schloß. Inzwischen sind seine greisen Eltern 
nach langer Wanderung auf der Suche nach ihm in das Schloß gekommen 
und von Julians Gattin zusammen in ihr eigenes Bett gelegt worden. Julian 
selber, nach langer Zeit wieder auf der Jagd, verfehlt in einer magisch 
geheimnisvoll anmutenden Weise jegliches Getier, das ihm in den Weg 



Chaos und Ritus 



tritt. Die Pfeile setzten sich leicht wie Federn auf die Tiere, die Lanze 
glitt ab, als wenn sie auf Erz gestoßen wäre. Hohn ohnegleichen ist es, 
der ihn auf seinem Wege begleitet, und ohne jegliche Beute kehrt er nach 
Hause zurück. Er tastet im ungewissen Schein der Morgendämmerung 
im Bette seiner Frau den Bart eines Mannes und „in maßlosen Zorn aus- 
brechend, stürzte er sich mit Dolchstößen über sie und stampfte und schäumte 
und röhrte wie ein Hirsch". Seine Frau erscheint mit einem Licht und 
läßt es bei dem Anblicke des Gemetzels fallen. Er hebt es auf. „Sein Vater 
und seine Mutter lagen vor ihm auf dem Bücken, mit einem Loch in der 
Brust, und ihre Gesichter, die von einer majestätischen Milde erfüllt waren, 
schienen etwas wie ein ewiges Geheimnis zu verschließen". Julian zieht 
bettelnd in die Welt. Er wird schließlich Fährmann an einem gefährlichen 
Flußübergang und sühnt mit übermenschlichen Entbehrungen das Ver- 
brechen, das er unbewußt begangen hat. Ein aussätziger Bettler, den er 
einmal nachts über den Fluß holt, in sein Bett legt und mit seinem eigenen 
Leibe erwärmt, verwandelt sich in Christus und hebt ihn in den Himmel 
empor. Aus dem Hasse, der ihn durch alle Grausamkeiten und alle Höllen 
trieb, blüht die Liebe hervor, die uranfänglich auf seinem Grunde geruht hat. 
Der Punkte, wo die im Unbewußten verankerte Symbolik nahe an das 
Bewußtsein rührt, sind in dieser Legende gar viele. Es sei erinnert an den 
Hirsch, dessen Schilderung, „wie ein Patriarch oder Bichter", verbunden 
mit seiner unheimlich drohenden Prophezeiung, unmittelbar die Vorstellung 
einer Vaterimago erweckt. Ungemein beziehungsvoll ist die Darstellung von 
Julians letzter Jagd. Da die Ermordung der Eltern nahe bevorsteht, dürfen 
deren Ersatzfiguren, die Tiere des Waldes und der Fluren, sinnvoll und 
mit innerster, in ihrem stellvertretenden Charakter liegender Berechtigung, 
als Opfer von Julians Aggression ausscheiden. 1 

l) Einen weiteren trefflichen Beleg für die unbewußten Motive der Jagd liefert 
Henri de Montherlant in seinem Stierkämpfer-Roman „Lcs Bestiaires" (Paris. 
Grasset, 1926), der anscheinend im wesentlichen autobiographisch ist. Montherlant 
war selbst als Stierkämpfer tätig. — „II les aimait trop, en effet, ces bites, pour pouvoir 
rester longtemps Sans les tuer. II rCy a que la possession qui • delivre. Ici, la possession, c'dtait 
Vacte de tuer, Variante de Pautre sacrifice. D'ailleurs, sitöt que 7ious desirons, nous voulons 
torturer. Les peuples primitifs adoraient le fauve qu'ils chassaient. Le taureau Apis, expression 
la plus parfaite de la divinitd sous la forme animale, les prelres au baut d , un certain temps 
le noyaient dans une fontaine consacre'e au Soleil . . . Profonde dtait la necessite du meurtre 
bienfaisant, du meurtre vraiment cre'ateur. Le culte de Mithra apparaissait toujours vivant. 
Adolescent, vStu d'etoffes transparentes, coiffe du bonnet de Ganymede, Mithra luttait d'abord 
avec Soleil, et voici qu'au fond de la lutte se modelait une Sorte d , amour. Mithra nouait avec 
le Soleil une amitie merveilleuse, fortifide d , une alliance solennelle . . . II etait nomine" ,Pami'. 
Puis, avec Paide de son chien, il poursuivait le Taureau sacre, le domptah, Pentratnait dans son 



Lim] Lorenz 



Jagdtiere und Haustiere 

Unsere Annahme geht also dahin, daß bereits lange vor jener Urtat die 
Aggressionsneigung der Söhne in den erreichbaren Tieren ihrer näheren 
und weiteren Umgebung Objekte fand, an denen sich ihr Haß und ihre 
Vernichtungstendenz austobte. Sollte etwa gar das, was wir als die Zähmung 
der Tiere bezeichnen, anfänglich im Dienste dieser notwendigen Haß- 
befriedigung gestanden haben, so daß diese Tiere nur deshalb vom Menschen 
herangezogen und gehegt wurden, damit er an ihnen seine Mordlust stillen 
könne? Die Hege des Wildes von heutzutage stünde damit in vollständiger 
Parallele. Frühzeitig freilich vollzog sich die Trennung der Haustiere von 
dem jagdbaren Wild. Jene werden sodann geschont, auf Grund von Er- 
wägungen praktischer Nützlichkeit, vor allem aber wohl darum, weil sich 
ihr domestiziertes Wesen aus psychischen Gründen nicht mehr als Haß- 
objekt eignete. Dies gilt aber nur für den Erwachsenen. Die Tierquälereien 
der Kinder erstrecken sich in der Regel auch auf die Haustiere. Die Unter- 
scheidung „nützlicher" und „schädlicher" Tiere liefert sodann eine soziale 
und moralisch scheinende Rechtfertigung für die Mißhandlung der letzteren. 1 

JUioidoschiazsale vor der Urtat 

In einer Zeit, die allem Acker- und Hackbau weit vorausliegt, hatte sich 
unter dem Druck des Verbotes der Väter gen er ation eine neue Verteilung der 
Libido durchgesetzt. Schon vor dem Exil der Brüderhorde bahnen sich in- 
folge der Versagung am andersgeschlechtlichen Objekt homerotische Stre- 
bungen innerhalb der Horde an. Die Haßkomponente der Vaterlibido wird 
auf Tiere übertragen. Die an der Mutter haftende Libido überträgt sich auf 
alles Bergende und Schützende, auf die Höhle, den schützenden Baum, die 
Wohnung und schließlich auf alles, was späterhin Heimat heißt. I n ' der 
Fremde, auf der Wanderung sucht sich die der völligen Verwandlung i n 

antre. La il recevait du Soleil, par la voix d'un corbeau. Vordre de h tuer. II en souffrait 
cor il Vaimait, ce fauve. Combien Alban comprenait cet amour, et que pour s'accomplir, ü dü \ 
tuer, et Vexpresswn du jeune homme — dam le bas-relief de Neuenheim, par exemple — . ■ 
däourne la tele au moment de fe'rir avec une admirable geste de desespoir! Combien eU e J™ 
la sienne propre!" (S. 79 fr.) nait 

1) Zum Gegenstand der Zähmung der Haustiere sind die bezüglichen Werke v 
Eduard Hahn („Die Entstehung der Pflugkultur", „Das Alter der wirtschaftli C n° n 
Kultur der Menschheit" u. a.) bahnbrechend für die voranalytische Kulturgeschich 
forschung und auf jeden Fall ein notwendiges Korrektiv des ökonomischen Ges^V, 18 " 
punktes in der Erforschung der Vorgeschichte. lc hts- 



i. 



Chaos und Ritus 2Q 

Heimatliebe noch nicht fähige Libido ein geeignetes menschliches Objekt. Die 
Horde zieht, teils unter dem Drucke des Urvaters, teils aus eigenem Antrieb in 
die Ferne auf Frauenraub aus. Ist dieser vollzogen, so wird die ursprüng- 
liche Bindung an die Heimat wieder lebendig. Man kehrt zurück unter 
dem Drucke des Heimwehs, d. h. eigentlich zur Mutter. Ein drängender 
Anlaß zu einer Gewalttat gegen den Vater scheint unter diesen Umständen 
nicht gegeben. Es ist, wie man sieht, das wohltätige Vorhandensein anderer 
Horden, die zwar Krieg zwischen den einzelnen Horden, zugleich aber Ent- 
lastung der eigenen Horde von den Aggressionsneigungen der jüngeren Gene- 
ration auslöst. Die Urtat setzt darum voraus, daß es überhaupt nur eine Horde 
gab, oder daß die Entfern im g der Horden voneinander so groß war, daß 
sowohl Krieg wie auch Frauenraub zwischen ihnen unmöglich war. Nur 
die Vertreibung in die Einöde stellt ein hinlänglich starkes Spannungsmoment 
libidinöser Natur her, die die Brüderhorde eines Tages zur Rückkehr und 
zur Gewalttat zwingt. Aber nochmals müssen wir jetzt fragen, worin diese 
Gewalttat bestand. 



Die konkrete Form des TJrverbredx 



ICHS 



Ob es, wie Freud vermutet, eine neue Erfindung war, die den Söhnen 
die Überlegenheit und das Selbstvertrauen verlieh, die sie zu der Gewalttat 
fähig machte, oder ob es nach der ausführlich begründeten Vermutung von 
Röheim die Steinigung war, der der Urvater erlag, läßt sich nicht ohne- 
weiters entscheiden. Auf jeden Fall sind die beiden Annahmen miteinander 
unvereinbar, denn die Steinwaffe, d. h. der geschleuderte Stein, ist bereits 
eine vormenschliche Waffe, da ihre Verwendung auch bei Affen beobachtet 
wird. Röheim erblickt in den churinga der Zentralaustralier einen Hin- 
weis auf die Steinigung des Urvaters. Die churinga (nach Strehlow tjurunga) 
sind Stein- oder Holzsymbole mit Totemzeichen. Sie stellen nach der An- 
nahme von Spencer und Gillen Aufenthaltsorte des Ahnengeistes dar, 
doch ist diese Formulierung vielleicht zu konkret. Auf jeden Fall ist die 
tjurunga die Repräsentation einer besonderen, dem Individuum, das ihr 
Inhaber ist, zugute kommenden schützenden Macht. 1 Über die Herkunft 
dieser tjurunga verlautet folgendes: Einige stammen unmittelbar von den 
großen Vorfahren der Urzeit, den Alcheringa (nach Spencer-Gillen) oder 
Altjirangamitjina (nach Strehlow), von. denen sie während ihrer Wande- 



i) Beth: Religion und Magie bei den Naturvölkern. S. 191. 



E-mil Lorens 



rungen verloren oder sonst zurückgelassen wurden, andere stellen die ver- 
wandelte Gestalt der Vorfahren selbst dar, die also in ihnen fortleben. Doch 
hat sich ein Teil der Vorfahren auch in Bäume oder Felsen verwandelt; 
sie stecken als Kinderkeime in diesen und gehen auf vorübergehende Frauen 
über, um von diesen wiedergeboren zu werden. Dies ist der so merkwürdige 
Konzeptionalismus der Aranda und Loritja in Zentralaustralien. Die Kohabi- 
tation scheint mit der Geburt entweder in gar keinem Zusammenhange zu 
stehen oder nur als Gelegenheitsursache zu gelten. Es ist ersichtlich, daß 
hier keine primäre Unkenntnis des Zusammenhanges zwischen Zeugung 
und Geburt vorliegt, sondern ein ideeller Verzicht auf die Mitwirkung 
bei der Zeugung zugunsten der totemistischen Urahnen. Diesen 
wird ein generelles jus primae et uniuscuiusque noctis zuerkannt. Dies ist 
wohl das gründlichste Ungeschehenmachen der Urtat, und zwar 
durch einen im Grunde recht einfachen Projektionsvorgang. Denn die 
ganze anscheinende Komplexheit dieser Idee geht letzthin auf die Projektion 
des sogenannnten Über-Ichs in ein greifbares, zugleich mit dem Bilde des 
Totem gezezchnetes Gebilde zurück. Tjurunga heißt nach Strehlow der 
eigene geheime (Leib) der Double, damit wohl gekennzeichnet als "der 
eigentliche Sitz der Kräfte des Menschen. Solange diese tjurunga, die für 
jedes (männliche) Kind schon vor der Geburt vorbereitet, d. h vom Groß- 
vater angefertigt wird, an einer geheimen Stelle, arknanaua genannt, auf- 
bewahrt U„bt. >st die geheimnisvolle Verbindung zwischen den Totern- 
vorfahren und dem Individuum aufrechterhaltender iningukZ ££ 
Ich Genius) begleitet den Mann auf seinen Wanderungen tnd b sch ü 
ihn. Es ist uns, als wäre in diesen Worten die „topische« Ausdruckswet 
der Psychoanalyse sozusagen beim Wort genommen. Wir würden sagen 
Solange du deine titanischen Triebregungen, die das Zeichen der Abkunft 
von der Urtat an sich tragen, in das Unbewußte (arknanaua) zu verdrängen 
vermagst, wird dir diese Überwindung zum Heile gereichen, indem sie die 
Kräfte de Uber-Ichs ( lni n g ukua) aufbauen hilft, die dich vor den über^ 
maßigen, dein Ich selbst gefährdenden Triebansprüchen des Unter-Ichs oder Es 
beschützen Daß sich das Verdrängte auch hier wiederkehrend zur Geltun ' 
bringt, steht zu erwarten, doch meine ich, daß die Stein- oder Holznatur 
der tjurunga eher als ein Symbol der männlichen Potenz, nicht aber a ] s 
Erinnerungsmal an die Steinigung des Urvaters zu gelten hat. Die Schilde- 
rung des Aussehens der tjurunga läßt zwar diese Vermutung nicht zur un- 



») Beth, a. a. O. S. 1 



93- 



Cliaos und Ritus 3i 



bedingten Gewißheit werden, denn die tjurunga wird beschrieben als flaches, 
ovales oder längliches Holz mit eingeritzten Totemsymbolen, was nicht gerade 
unmittelbar auf ! phallische Natur schließen läßt. Doch ist die Forderung 
wohl unberechtigt, diese Natur in manifester Weise ausgeprägt zu finden. 
Oder sollte es sich um etwas damit unmittelbar Verwandtes handeln, und 
sollten etwa die bei den intichiuma- (mbatjalkatiuma-) Zeremonien zur Ver- 
wendung kommenden Testikelknäuel in eben diesen Zusammenhang der 
Sicherung der Potenz gehören? Die bei Strehlow abgebildeten tjurunga 
scheinen dieser Auslegung wohl in den meisten Fällen nicht zu wider- 
sprechen. Die von Röheim für Zentralaustralien als kennzeichnend hervor- 
gehobenen vier Motive, nämlich der Konzeptionalismus, das Totem-Essen, 
die intichiuma-Riten und die tjurunga, ordnen sich also sinnvoll um das 
gedanklich- affektive Zentrum der Verehrung des einst erschlagenen Urvaters. 
Er ist der Ahnherr, dessen Zeugungskraft so groß ist, daß er es auch heute 
noch ist, von dem das in den Kindern ans Licht tretende neue Leben 
stammt. Diese seine Potenz wird wirksam in den Bäumen und Felsen, 
bei denen die Ahnen einst in die Unterwelt gegangen sind, und von wo 
sie bei Gelegenheit wieder in eine vorübergehende Frau hineinschlüpfen. 
Sie ist nicht minder wirksam in den intichiuma-Riten, bei denen man die 
Schicksale der Vorfahren mimisch darstellt und dadurch für den Nachwuchs 
der Tiere und Pflanzen zu sorgen glaubt. Auch hier spielen Steine eine 
Rolle, indem man sie mit Zweigen streicht und dann diese Zweige an den 
Magen der Stammesmitglieder reibt, damit sie in Zukunft satt werden. 
(Vierkandt: Globus 92, S. 24.) Die tjurunga stellt sich in diesem Zu- 
sammenhange dar als Bindeglied des Individuums mit seinem Totem, d. h. 
also als das sinnlich wahrnehmbare Mittel, wodurch der einzelne die eigentlich 
noch immer dem Urvater vorbehaltene Kraft für seine eigenen Zwecke zur 
Auslösung bringt und auf magische Weise in sein Individualdasein hinüber- 
leitet. Ich sehe darum keine Nötigung, die tjurunga auf das Steingrab und 
mittelbar auf den Steinhaufen zurückzuführen, der den gesteinigten Ur- 
vater bedeckte. Die tjurunga, die ebenso oft aus Holz wie aus Stein ist, 
entspricht ihrem Stoffe wie ihrer magischen Bedeutung nach den Bäumen 
und Felsen, in denen die Ahnen als Kinderkeime auf Neugeburt harren. 
Sie ist wie diese der Behälter des geliehenen Teiles der zeugenden Kraft 
des Urvaters. 1 

1) In der oben gekennzeichneten Selbstentäußerung- zugunsten des Urvaters, diesem 
ins Große und Dauernde wachsenden „nachträglichen Gehorsam", liegt wohl auch zum 
größten Teile das beschlossen, was Winthuis in seinem so verdienstlichen Werk 



hmil Lorenz 



Die „Erfindung" des Feuers 

Wollen wir die besondere Form der Urtat konstruieren, so steht uns ein 
ganz anderer Weg offen. Es ist die Frage nach der „Erfindung", deren 
Besitz die Brüder der Horde in den Stand gesetzt hat, den Angriff auf den 
Tyrannen zu wagen. Als solche Erfindung kann nur die des Feuers in Be- 
tracht kommen. Es soll darunter die bewußte und willkürliche Hervor- 
bringung des Feuers durch die einfachsten technischen Mittel verstanden sein. 
Die Vermutung Freuds, daß der Mensch irgendwo und irgendwie Wildfeuer 
benutzt und dadurch gezähmt hätte, daß er sich selber bezähmte und sich 
die Lust verwehrte, es mit seinem Harnstrahl zu löschen, 1 vermag ich ebenso- 
wenig mitzumachen wie Albrecht Schaeffer. 2 Zuzugeben ist freilich, daß 
Freud über Beobachtungen aus der Neurosenpsychologie verfügt, die einen 



„Das Zwe.geschlechterwesen bei den Zentral- Australiern" unter dem Gesichtspunkte 
der Zweigeschlechtigkeit betrachtet. Nach diesem Autor vereinigt nicht nur der 
Totem beide Geschlechter in sich, auch der magische Riten ausübende Mensch muß 
andeutungsweise und symbolisch, Zeichen der beiden Geschlechter an sich haben 
damit die magische Handlung gleichsam unter dem Schutzzeichen der magischen 
Handlung kat' cxochen, des Generationsaktes, gelingt. Auch die schon erwähnte tjurunga 
ist ihrer Form nach zweigeschlechtig. — Es ist nicht beabsichtigt, in eine Diskussion 
über die Stichhältigkeit und über die beanspruchte Allbedeutung des Motives der 
Zweigeschlechtigkeit in der Ethnologie einzutreten, zumal daWinthuis trotz Kenntnis 
und beiläufiger Zitierung von Freuds „Totem und Tabu« von jedem wesentlicher, 
Bezug auf dieses Werk absieht. Von unserem Standpunkte sei nur darauf verwiesen 
daß die Verweiblichnng des Totemverehrers sich zwanglos ergibt aus der weiblichen 
Einstellung zum Vater, die mit allen ihren Konsequenzen, auch dem Wunsch nach 
einem Kinde von ihm, aus Analysen geläufig ist. Es sind des weiteren Zeremonien 
wie das Zahnausschlagen, die Subinzision, die Durchlochung der Nasenwand usw 
( W i n th u i s, S. 64) Kastrationsersatzhandlungen aus Anlaß der Jugendweihen, deren Sinn- 
bedeutung ja eben darin liegt, die in die Pubertät eintretende Generation von einerWieder- 
bolung der Urtat abzuschrecken, indem sie die Jünglinge die Macht der älteren Generation 
eindrucksvoll erleben assen. - Im übrigen bemüht sich unser Autor mit anerkennens- 
werter Vorurteilslosigkeit um den immer wiederholten Nachweis, daß das Denken 
der von ihm studierten Primitiven von sexuellen Motiven vollständig durchsetzt ist 
Wenn man dem seine weitere Feststellung entgegenhält, daß der geschlechtliche 
Verkehr schon in frühester Jugend und unter Duldung, ja Billigung von Seiten der 
älteren Generation erfolgt, eine Verdrängung also sozusagen überflüssig ist, so ergibt 
sich als zwingende Folgerung, daß die so zahlreichen Verbote, Riten, Symbole ein- 
schließlich der Bildersprache keine Triebverdrängung schlechthin, sondern ausschließ- 
lich Sicherungen gegen den Inzest bedeuten. Winthuis wird diesem Motiv nur in 
Hinsicht auf das System der Heiratsklassen gerecht und sieht nicht, wie alles übrige 
an Glauben und Brauchtum der Primitiven, das von ihm als zentrales behandelte Motiv 
der Zweigeschlechtigkeit eingeschlossen, einzig von hier aus sein Licht empfängt. 

1) „Das Unbehagen in der Kultur." 1930. 

2) Der Mensch und das Feuer. „Die psychoanalytische Bewegung", II, S. 201 ff. 






Chaos und Ritus 33 

Zusammenhang zwischen Harninkontinenz und Feuer nahelegen. Doch 
wird zu überlegen sein, ob diese Verknüpfung tatsächlich als ein phylo- 
genetisches Erbe aus den Anfängen der Menschheit aufzufassen sei; und 
selbst wenn dies der Fall wäre, ob sie denn wirklich an den Anfang des 
so wichtigen kulturellen Prozesses zu stellen sei. Wildfeuer war wohl zu 
allen Zeiten ein unheimliches und unzähmbares Ding. Die Stelle, wo ein 
Blitz gewütet hatte oder bloß in die Erde gefahren war, mied man. Noch 
im alten Rom wurde sie als Puteal eingezäunt. Feuer, das durch einen 
Blitzschlag entstanden war, durch den Harnstrahl löschen zu wollen, war 
wohl ein aussichtsloses Beginnen, selbst wenn man die Scheu nicht in Be- 
tracht zog, die den erschütterten Zeugen eines solchen Vorganges davon 
abgehalten hätte. Die „Zähmung" des Feuers begann darum überhaupt 
erst mit der Entdeckung des Menschen, daß er durch irgendwelche 
Manipulationen imstande sei, das Feuer, natürlich in ungefährlicher 
Menge und Stärke, willkürlich hervorzurufen. Ich meine nun, daß uns 
Mythos und Folklore in den Stand setzen, selbst zu diesen weit ent- 
legenen ersten Anfängen menschlicher Gesittung zurückzufinden. Die Sach- 
lage ist methodologisch einfach die folgende: Nachdem man allzulange 
Zeit das Gattungsgedächtnis der Menschheit unterschätzt hat und dem 
Menschen lieber möglichst wenig zutraute und auch dieses Wenige nach 
Möglichkeit als eine Summation kleinster Wirkungen ausdeutete, war es die 
Entwicklungslehre selbst, aus deren kontinuierlicher Gedankenentwicklung 
sich die Idee einer im einzelnen Wesen wie in der Gattung allgegenwärtigen 
Totalität erhob. Daß an dieser weltanschaulichen Umstellung die Psycho- 
analyse einen bedeutenden und in geistesgeschichtlicher Hinsicht den aus- 
schlaggebenden Anteil hat, steht außer Zweifel. Wir befinden uns also 
methodisch in völliger Übereinstimmung mit dem Gange der Wissenschaft 
von heute, wenn wir das im Mythos und Brauchtum niedergelegte Gattungs- 
gedächtnis der Menschheit auch zur Lösung dieser anscheinend unzugäng- 
lichen Frage heranziehen. Daß zufolge der säkularen Verdrängung, auf der 
sich die menschliche Gesittung aufbaut, die unmittelbaren Gegebenheiten 
recht lückenhaft sein werden, ist zu erwarten. 

Wir dürfen mit Fug und Recht bei der Lösung dieses Problems an das 
ehrwürdige Werk von Adalbert Kuhn „Die Herabkunft des Feuers und des 
Göttertranks' (1859) anknüpfen, wie es in einer der ersten psychoanalyti- 
schen Arbeiten über mythologische Themen seinerzeit schon Abraham 1 getan 

1) Traum und Mythus. Deuticke, Wien 1908. 






34 Emil Lorenz 



hat. Ehrwürdig darf dieses Werk genannt werden, nicht nur, weil es die 
vergleichende Mythologie begründet hat, sondern auch wegen des Mutes 
mit dem sein Verfasser für seine Überzeugungen einer Mitwelt gegenüber 
einstand, die alles getan hat, um sie zu verketzern und unmöglich zu 
machen. 

Die Feststellungen Kuhns, auf die es uns in diesem Zusammenhange 
ankommt, gehen dahin, daß zwischen dem durch Reibung erzeugten irdi- 
schen und dem himmlischen Feuer der Sonne eine (wie wir heute sagen) 
mythische Identität besteht. Diese äußert sich darin, daß alles, was von 
dem einen (auf Grund einer Erfahrung) ausgesagt werden kann, a priori 
auch von dem anderen Vergleichsgegenstand gilt. Wenn also das irdische 
Feuer durch Bohren oder Reiben zweier Hölzer hervorgerufen wird so 
muß auch das Sonnenfeuer jeden Morgen durch Quirlung neu entfacht 
werden. Dies besorgt das göttliche Brüderpaar der Asvinen: 

Gold ist das Holz, des sich bedienen 
Zur Sonnenquirlung die Asvinen. 

(Brihadaranyaka-Upairisad 6, 4, 22.) 

Die Gemeinsamkeit der quirlenden Drehung ist es, die für die alter- 
tümliche Art der Feuererzeugung wie auch für die Erzeugung der Butter 
denselben Ausdruck (skr. manthami oder mathnami) bedingt hat. Von dem 
Stamme math, der diesem Verbum zugrunde liegt, stammt nun das skr. pra- 
mantha in der Bedeutung eines Holzes an dem alten Holzfeuerzeug, aber 
auch nach Kuhn der Name des griechischen Prometheus, dessen mannig- 
fache Funktionen als Menschenbildner, Feuerbringer und Empörer gegen 
die Macht des Zeus aus dem Mythos wie aus der äschyleischen Tragödie 
bekannt sind. Daß also die Tätigkeit des Feuerreibens oder Feuerbohrens 
dem Generationsakt gleichgesetzt wurde, steht außer Zweifel. Es bleibt nur 
noch auszumachen, auf welchem Wege diese „Sexualisierung" zustande 
gekommen ist. Mit anderen Worten gesagt bedeutet das die Frage, ob die 
Feuererzeugung erst nachträglich eine Bezeichnung erhielt, die auch für 
den Generationsakt in Gebrauch ist, also erst (im landläufigen Sinne) 
„sexualisiert" wurde, oder ob etwa schon bei der Erfindung des Feuer- 
bohrens ein sexuelles Motiv vorgelegen hat. Die dynamische Situation, i n 
der dies vorstellbar wäre, müßte ein Zustand gestauter, an ihrer Abfuhr 
gehemmter Libido sein, die sich an einem Ersatzobjekt befriedigt. Nun ist 
uns in den Schilderungen, die die Mythen von den Erfindern des Feuers, den 
Feuerbringern und den mythischen Schmieden entwerfen, eine Reihe von 
beständig wiederkehrenden Zügen enthalten, die uns zeigen, welche körper- 



I 



Chaos und Ritus 36 



liehen und seelischen Voraussetzungen der Mythos dem Vorgang der Feuer- 
findung unterlegt. Wollen wir uns doch eingestehen, daß er damit der Wahr- 
heit sicher näherkommen wird als wir, wenn wir uns lediglich auf Kom- 
binationen verlegen, die auch dann, wenn sie ins Unbewußte führen, doch 
nicht schon auf archaische Elemente zu führen brauchen. 

Für diese Analyse kommen (zunächst aus dem griechischen Mythos) die 
Gestalten des Prometheus als Feuerbringers, des Heph aistos als Schmiede- 
gottes, des Typhon und der Phlegyer in Betracht, Was uns hiebei auf- 
fällt, ist der Umstand, daß die Erfindung, genauer die Überbringung des 
Feuers an die Menschen als eine Tat der Hybris, des Aufruhrs und Un- 
gehorsams gilt. Als zweites kommt in Betracht, daß der Schmiedegott 
Hephaistos als lahm hingestellt wird, also einen körperlichen Fehler hat, 
der ihn jedenfalls von der Jagd und dem Kriege ausschloß. Nicht zu ver- 
gessen ist schließlich, daß sowohl Hephaistos wie auch Prometheus bestraft 
werden, jener, indem ihn Zeus vom Olymp herabschleudert, dieser, indem 
er an einen Felsen in den Einöden von Skythien gebunden wird. 

Wir müssen die Erzählung über Taten und Schicksale des Prometheus 
aber im Zusammenhange betrachten. Als Leitfaden diene die Theogonie 
des Hesiod. — Atlas, Menoitios, Prometheus und Epimetheus sind Söhne 
des Titanen Iapetos. Iapetos gehört in die Reihe jener Titanen, deren jüngster 
Kronos ist, bekannt durch die Freveltat der Entmannung seines Vaters 
Uranos. 1 Atlas ist wegen seiner Hybris verurteilt, das Himmelsgewölbe zu 
tragen Menoitios wurde wegen seines Frevelmutes und seiner unbändigen 
Kraft von Zeus in den Tartarus gestürzt. Epimetheus ist ein schatten- 
haftes Gegenstück zu Prometheus, auf Grund der sekundären Etymologie 
des Wortes Prometheus als des Vorausdenkenden gebildet. Worin bestehen 
nun die Verbrechen des Prometheus? Zunächst wird erzählt, daß er die 
Götter bei der Opferteilung in Mekone übervorteilt habe, indem er durch 
Trug den Zeus verleitete, sich von dem Opfermahle die schlechteren Stücke 
zu nehmen. Tatsächlich war es Brauch, daß bei den Opfern das Fett und 
die Knochen den Göttern dargebracht wurden, während das Fleisch von 
den Menschen genossen wurde. Es scheint demnach ein ätiologischer Mythos 
vorzuliegen, der diesen Brauch erklären soll. Wir wissen heute, daß sich 
die blutigen Opfer aus dem Totemmahle entwickelt haben, bei dem die 
Teilnahme der Menschen und der Genuß des Opferfleisches etwas ganz 



Hierüber vergleiche meine in manchen Teilen begreiflicherweise schon über- 
holte Abhandlung „Das Titanenmotiv in der allgemeinen Mythologie". Imago II, 
S. 22 ff. 



3* 



36 Emil Lorenz 



Wesentliches ist. Wir stehen also vor einer wenngleich absonderlich ver- 
zerrten und umgedeuteten Form des Totenmahles. Zur Strafe für diesen 
Trug entzieht Zeus den Eschen die Kraft des Feuers, bestraft demnach 
nicht Prometheus, sondern die Menschen. Daraufhin raubt es Prometheus 
— es steht leider nirgends, woher — und bringt es in einem gehöhlten 
Narthexrohr zu den Menschen. Nochmals ergrimmt Zeus und bestraft diese 
neuerliche Widersetzlichkeit des Prometheus — an den Menschen — durch 
die Erschaffung des Weibes. Aber diesmal ereilt auch den Prometheus sein 
Schicksal, und er wird an einen Felsen im Skythenlande geschmiedet Ein 
Adler kommt und frißt seine Leber. Sie wächst indes jede Nacht nach so- 
viel auch der fittichspannende Vogel tagsüber wegfraß. Es ist hier nicht 
alles in der ursprünglichen Reihenfolge und die Besprechung dieser durch- 
einandergeworfenen Motive erfordert ungefähr dieselbe Behutsamkeit wie 
man sie dem Geologen zubilligt und sogar zur Pflicht macht, auch dann 
d h. besonders dann, wenn die richtige zeitliche Reihenfolge der geologi- 
schen Schichten durch die Gewalten der Natur gestört ist und das Oberste 
zuunterst hegt. Wu wollen darum zunächst die Motive dieser Erzählung 
ohne Rucksicht darauf, ob und wie Frevel und Strafe darin wirklich zu- 
sammenhangen, einzeln vornehmen. - Die Strafe des Prometheus besteht 
dann, daß er ausgespannt und gefesselt auf einem Felsen liegt und es 
dulden muß, daß ein Adler seine Leber wegfrißt. Die Leber gilt den 
Alten als Sitz der Begierde und der bösen Lust. Wir suchen nun vergebens 
unter den Freveln des Prometheus nach einem dieser Bestrafung entspre 
chenden Verbrechen. Nach den erprobten Regeln der Psychoanalyse muß 
ein solches aber trotzdem vorliegen, in einer durch die Verdrängung enr 
stellten Form. Der erste Frevel zählt sicher nicht hieher, ich meine d" 
Opferteilung in Mekone. Sie weist, wie schon erwähnt, auf ein TotemmaM 
hin und auf die Verteilung der Opferanteile zwischen Göttern und Mensche 
Das nächste Motiv, daß Zeus den Eschen die Kraft des Feuers entzieh" 
wird zwar von Hesiod mit dem vorangegangenen in eine kausale V ' 
bindung gebracht, doch liegt es zutage, daß diese nur sekundärer Art ^ 
kann. Daß Zeus den Eschen die Kraft des Feuers entzieht (genauer n^h 
dem Text: entziehen will) entspricht keiner Art äußerer Wirklichkeit fTr 
bei der primitiven Feuererzeugung Eschenholz verwendet wurde it 

kannt. Was es bedeuten soll, daß die Eschen nicht mpbr A„„ ' 

u- - ... , ™ n- ,. aazu grauet 

hatten, ist nicht einzusehen. Der SlüU dieser Wendung muß ganz wo anders 

liegen. Es folgt als nächstes Motiv der Feuerraub durch Prometheus. Ich 
hebe ausdrücklich hervor, daß von einem Sonnenwagen, an dem etwa eine 



— *,-,- 



u 



Chaos und Ritus 07 



Fackel entzündet worden wäre, in dieser Überlieferung nirgends die Rede 
ist. Es würde auch aller Wahrscheinlichkeit widersprechen, den in einem 
hohlen Rohr verborgenen glimmenden Zunder als vom Sonnenwagen her- 
rührend sich vorzustellen. Die Feuergewinnung auf diesem letzteren Wege 
würde wohl in einer viel eindrucksvolleren Weise erfolgen, etwa so, wie 
man späterhin ja tatsächlich den Prometheus mit einer brennenden Fackel 
dargestellt hat. Für die ältere Überlieferung trifft dieses Bild aber durch- 
aus nicht zu. Näher zu unserem Ziele scheint die das nächste Motiv bildende 
Erschaffung des Weibes durch Zeus zu führen, insofern, als wir hoffen 
dürfen, hier auf einen Zusammenhang zwischen Schuld und Strafe zu 
stoßen. Doch finden wir bei näherem Zusehen eine Verschiebung in den 
Beziehungen, da ja die Erschaffung des Weibes als eine von Zeus geschickte 
Strafe eben für den Feuerraub erscheint. Sie steht also an einer anderen 
Stelle als wir erwarten. Wir haben uns indessen gleich zu Anfang vor- 
genommen, den Unterschied zwischen Schuld und Strafe innerhalb dieser 
ganzen Motivengruppe vorläufig fallen zu lassen. Diesen Grundsatz auch 
hier anwendend, finden wir bei genauerem Zusehen in der Schilderung 
Hesiods von dem Weibe, das er als eine scharfsinnig ersonnene List be- 
zeichnet, gegen die die Menschen wehrlos sind, zuerst vielleicht nicht viel 
mehr als eine Entwertungstendenz dem Weibe gegenüber, wie sie ja bei 
den Griechen nicht so besonders selten ist, vorgebracht in der Form gemüt- 
oller Übertreibung und in dem schlichten Kleide des böotischen Bauern, 
den wir uns im übrigen als den ersten Hörer der hesiodischen Dichtung 
vorzustellen haben. Auf ihn sind ja die Exkurse ökonomischer Art be- 
rechnet, in denen die ganze Mißlichkeit dargelegt werden soll, die das 
Leben an der Seite eines unzufriedenen und verschwenderischen Weibes 
mit sich bringt, aber freilich auch die Mißlichkeit, die die Ehelosigkeit im 
Gefolge hat. Über diesen so einleuchtenden bourgeoisen Reflexionen sei aber 
nicht vergessen, daß wir unserem eigentlichen Problem noch immer nicht 
nähergekommen sind. Die verworrenen Linien des Zusammenhangs der 
Motive sind noch nicht geschlichtet. 

Feststeht als erstes, daß die Strafe des Prometheus seiner Begehrlichkeit 
gilt. Der nächste Schluß ist, daß auch die Menschen (sagen wir genauer: 
der Mann als solcher) um ihrer Begehrlichkeit willen gestraft werden 
sollen. Diese Begehrlichkeit aber richtet sich auf ein verdrängtes Objekt. 
Wenn wir dann fragen, durch welche Ersatzbildungen sich dieses ver- 
drängte Objekt dem Bewußtsein wiederum kundtut, so werden wir — ein 
anderes Symptom ist nun einmal nicht vorhanden — auf das Feuer ver- 



v 



38 



Kiml J.orcn- 



wiesen. Dieses Motiv stellt sich uns sowohl im Feuerraub selber als auch 
in Zeus' Entschluß dar, den Eschen die Kraft des Feuers zu entziehen. 
Beide Motive vereinigt ergeben also den verbotenen Charakter des Feuer- 
reibens. Darin muß der Frevel liegen, der in so mannigfacher Weise 
bestraft wird. Nun ist es aber für das Unbewußte nicht das Sexuelle 
schlechthin, das mit dem Verbot belegt ist, sondern dieses Sexuelle, inso- 
weit es an den inzestuösen Objekten hängt und von diesen nicht loskann 
Das Schuldgefühl ist demnach dem der Onanie analog. Der Schluß ist 
nunmehr vollzogen: Die Erzeugung des Feuers durch das Reiben zweier 
Holzstücke ist eine Ersatzhandlung für den sexuellen Akt, insofern dieser 
auf inzestuöse Objekte gerichtet ist. 1 Die Frage, wer denn in dieser Weise 
eine Ersatzbefriedigung solcher Art sucht oder suchen muß, führt uns 
wenn wir sie richtig beantworten, zur endgültigen Lösung des Problems' 
In der affektiven Nutzung des Tieres durch das Kind, die sich im 
Wechselspiel von Zärtlichkeit und Grausamkeit äußert, wird Haß und Liebe 
gegenüber dem Vater zu gleicher Zeit abreagiert. Die Jagd ermöglicht es 
auch dem Erwachsenen, unter der anscheinenden Rationalisierung als 
ökonomische Nutzung bestimmter Tiergruppen, diese seine Affekte an 
einem unverfänglich scheinenden Objekte zu betätigen. Wer aber durch 
körperliche Gebrechen davon ausgeschlossen ist; sich durch die Jagd" der 
Affekte zu entledigen, in dem sammeln sie sich bis zu gefährlicher Stauung 
an. In einer sozial ersprießlichen und zugleich für die spätere Entwicklung 
aer menschlichen Kultur ungemein bedeutsamen Form erfolgt die Ent 
lastung im Jagdbildzauber. Es ist kein Zufall, daß die älteste Kunstübung 
Jagdtiere und Frauengestalten zeigt, die letzteren mit besonderer Hervor- 
hebung der Geschlechtsmerkmale. Die urzeitlichen Künstler, die diese Dinge 
geschaffen haben, schufen sie (vgl. die Schnitzwerke und Zeichnungen aus 
dem Jungpaläolithikum bei Hörnes, Urgeschichte der bildenden Kunst) 
sicher nicht aus der Fülle, sondern aus dem Mangel heraus. Sie waren 
Entbehrende, ausgeschlossen von dem unmittelbaren Genüsse der mit d 
Sinnen erlebbaren Welt. Sie schössen selber kein Wild, weil sie lahm 
und gewannen kein Weib, weil sie im Kampfe um das Weib die Schwächeren 
waren. Dafür schufen sie in ihrer darum verstärkten Phantasie die sekundä 
Welt einer auf das Wesentliche reduzierten Vorstellung wie einen tröste d 
Traum. Noch ist Gedanke und äußere Wirklichkeit nicht so streng getrennt 
wie wir es uns zur Richtschnur des Denkens gemacht haben. Ein ge- 



Vgl. Jung: Wandlungen und Symbole der Libido. S. 144 ff. 



Cliaoä tind Ritus 39 



zeichnetes Tier konnte auch gejagt werden, indem man ihm Pfeile in den 
Rücken oder die Flanken ritzt und es dadurch als getroffen kennzeichnet. 
(Vgl. das Wildschwein von Maz d'Azil, dem drei tief eingedrungene Pfeile 
in der rechten Flanke stecken.) Wir dürfen die Kulturstufe des Jung- 
paläolithikums sicherlich nicht mit den „Anfängen" identifizieren. Wir 
werden der Urtat nicht begegnen, aber ihre Spuren werden dort noch 
weniger in der Mannigfaltigkeit weitverzweigter Kulturtendenzen verwischt 
sein. Die Tiere sind noch nicht reine Jagdtiere, sondern tragen noch den 
Charakter des Totems. Dies scheint mir vor allem zu gelten von der viel- 
umstrittenen Zeichnung von Laugerie basse, die eine schwangere Frau, auf 
dem Rücken liegend, unter einem Renntier darstellt; im Hintergrunde undeut- 
liche Umrisse wie von einer Rundhütte. Das Renntier, welches über die weib- 
liche Gestalt hinwegschreitet, wurde schon früher als Symbol der Befruchtung 
gedeutet. Es ist aber eben der totemistisch vorgestellte Ahnengeist, von dem 
die Befruchtung erhofft wird; die Andeutung der Schwangerschaft am Leibe 
der Frau ist im Sinne eines vergegenständlichten Wunsches gedacht. 

Gehen wir zu unserem Künstler der Vorzeit zurück, so entspricht den 
Bedingungen, unter welchen er seine Wunschgebilde in die Außenwelt 
versetzte, am ehesten eine Gestalt, wie sie — ein paar Äonen später — 
der griechische Mythos in dem kunstreichen Schmiede Hephaistos ver- 
körperte. Das größte Wunderwerk, das Hephaistos schuf, ist nicht der 
Schild des Achilles, sondern es sind die weiblichen Automaten in seinem 
Hause die er sich selber zur Bedienung und zur Freude schuf. Hephaistos 
ist häßlich und lahm. Aber wie um auch den letzten und höchsten Trost 
dem körperlich so benachteiligten Künstler nicht vorzuenthalten, wird ihm 
zuletzt — über die von ihm geschaffenen Werke hinaus, die die Lebendigkeit 
und die Vollkommenheit des Lebendigen schon nahezu erreichten — auch 
noch das Urbild der Schönheit selbst, die goldenthronende Aphrodite als 
Gattin zugesprochen. Damit hat der Mythos selbst die tiefsten Tendenzen 
des künstlerischen Schaffens eben an dem Urbilde des Künstlers (der nicht 
der Maler ist) ans Licht gerückt. Wir aber wagen es nunmehr, im gestärkten 
Vertrauen auf die Richtigkeit unseres Weges uns wiederum dem seit längerem 
verlassenen Ausgangspunkte zu nähern. Wir haben inzwischen an Voraus- 
setzungen für unser Erkennen der Zusammenhänge, wie sie wirklich waren, 
sehr viel gewonnen. Wir wollen darum versuchen, den Hergang gleichsam 
erzählend zu schildern. Die dabei verwendeten Motive stammen sämtlich 
aus der vorangegangenen Diskussion und damit auch aus der wissen- 
schaftlichen Erfahrung. 






4o 



'*. im I -Lorenz 



Einer der Söhne des Urvaters, der jüngste und schwächste vielleicht 
oder körperlich benachteiligt wie Hephaistos, war dem in der primitiven 
Gesellschaft dem körperlich Minderwertigen sicheren Tode durch eine 
Fugung entgangen, die wohl der Mutterliebe entstammen mag. Es scheint 
«m5 als wäre das im Mythos und Märchen so häufige Motiv der Ver- 
folgung des Helden nicht einfach als ein paranoischer Zug des Mythos z„ 
erklaren wie es Rank, sicherlich teilweise mit Recht, für den Mvtho^ 
von der Geburt des Helden hingestellt hat. In den Verfolgungsideen de" 

Paranoia wird ,a doch nur in einer dem Grade nach maßlos" übLteigerten 
Form, d q«, nach afeer latem ^ Tendenz g en 

Widerspiel der Väter- und Söhnegeneration abgewandelt. Also- der V. er 

ZZ tu^l Verf ° lger ' DiCht bl ° ß ^ d - P—- h - Kons tLZ 
des ödipushelden. In ]e ner Zeit, die dem lahmen Helden noch nicht dt 

etne uberhmtc Phantasie mehr als alle Jena befähigte, denen der wj 
dte _>bare Wirklichkeit nicht schlössen wL. Gege dtse bIT 
»Chol, er Keile ah und gegen Bannte schlenderte er seinen tZ^Z 
dies ts aber auch für den Frühmenschen trotz seiner überbewTul 1 
Vorstellung „n auf die Dauer unbefriedigender Ersatz Unser HM n 
das spüren. Er begann darum, wie untrer Wirklichk" , noTn^ 
konnten, den Speer mi, Gewalt nachzustoßen „der durch bohrende D^Z 
tn m vorgestellten Objekt zu fixieren. Der Rhythmus dieser Bewegün" 
mußte nach etmger Zet, eine sexuelle Erregung samt ihren Physiologen 
Beg er terschemungen auslösen. Da, Lustvolle dieses Erlebnisses «eh z nr 
Fortsetzung. Dte phystologische Akme des Vorganges bestand nun entweder 
- in nnreifer Form - hr einer Miktion, in der reiferen Form in ei 
Ejakulation. Zu gleicher Zeit war durch die fortdauernde Reibung T 
Holzes dieses selber ins Glimmen geraten. Glimmendes Holzmehl k 
ohne besondere absichtsvolle Veranstaltung trockenes Laub nd»v c. ° nnte 
Brand setzen. btreu ln 

Ich will es mir versagen, darauf hinzuweisen, nach wieviel Richtungen 
beztehungsvoll diese Rekonstruktion der in der Menschheitsgeschichte 
«chttgsten Erfindung ist. Da aber von Freud gerade dem Zusammen- 
hange zwtschen Zündeln und Bettnässen bzw. zwischen Feuer und dem 
"rang, es durch den Harnstrahl zu löschen, solche Bedeutung für die 



Chaos und Ritus <(l 



„Zähmung" des Feuers beigemessen wird, sei daran die Bemerkung ge- 
knüpft, daß sich dieses Motiv, freilich nur als aufgehobenes Moment, in 
unsere Hypothese einfügen läßt. Der erste Erfinder ist sicherlich keinem 
Feuer „begegnet", dem er auf die von Freud vorausgesetzte Art eine Be- 
grüßung zuteil werden ließ. Aber in dem Kinde, das in uns lebt, und in 
dem Vormenschen, dessen Tun und Leiden wir durch den Schleier säkularer 
Verdrängung hindurch erinnern und agieren, besteht als eine allgemein 
menschliche Tendenz die zur Integration der Erlebnisse. Wenn das Kind 
dem Feuer begegnet, integriert es den vorgeschichtlichen Zusammenhang 
zwischen Feuerentstehung und genitaler Erregung, indem es urethro-genital 
reagiert. Daß nicht jedes beliebige Erlebnis in so ausdrücklicher Weise 
integriert wird, liegt zutage. In die Aktualität übergeführt wird die latent 
überall vorhandene Möglichkeit zur Integration bloß bei den traumatischen 
Erlebnissen. Der Charakter des Traumatischen kommt der Feuererfindung 
aber insbesondere durch ihre Folgen zu, über die ausführlicher zu handeln 
sein wird. Nicht umsonst gilt das Feuer und seine Farbe, das lodernde 
Rot, als Symbol des Aufruhrs. Wir wollen darauf aber nicht etwa einen 
Beweis gründen. Unsere Überlegung ist anderer Art. Die willkürliche Er- 
zeugung des Feuers ist zunächst Eigentum und Geheimnis eines Einzelnen, 
sie wird sodann gewiß der Brüderhorde mitgeteilt, schon darum, weil der 
Feuerfinder durch eben diese Erfindung seine bisherige Minderwertigkeit 
behoben, ja überkompensiert sieht. Ausgeschlossen von dem Geheimnis 
bleibt die Vätergeneration. Der (schon damals) unbewußte Grund hiefür 
liegt in dem Zusammenhang zwischen Feuerfindung auf der einen, Haß- 
impulsen und inzestuöser Erotik auf der anderen Seite. Schon durch diese 
Verknüpfung erweist sich das Feuer als symbolisch für den Gegensatz 
zwischen der Väter- und der Söhnegeneration. Diese Gedankenwendung 
wird freilich dem urzeitlichen Empfinden nicht ganz gerecht. Für diese 
Menschheit ist Symbol Wirklichkeit und das Feuer ein unmittelbares Macht- 
mittel zur Brechung der Hordentyrannei. Die Art und Weise, in der das 
erfolgt sein mag, darf man sich — in Anlehnung an die Vegetationsriten, 
in denen der ursprüngliche Sinn der Begehung, der zuerst nicht auf die 
Vegetation ging, umgebogen wurde — am ehesten als einen Angriff 
auf den Urvater mit Feuerbränden — brandons — als Waffe denken. 
Der mit Feuerbränden aus der Entfernung erschlagene oder in seinem 
Baumversteck ausgeräucherte Urvater wurde in seinem angesengten oder 
halbverbrannten Zustande von der Brüderhorde verzehrt. Zwischen der Feuer- 
findung und der Urtat mag eine recht kurze Zeitspanne liegen. Da das 



4a 



Emil Lc 



Feuer ja nicht ein beliebiges Kampfmittel war, sondern seine Findung 
selbst auf den Aufruhr des Sohnes zurückgeht, lag die Anwendung auf die 
erste Ursache jener Empörung so nahe, daß keinerlei Reflexion den Ent- 
wicklungsgang mehr zu verzögern brauchte. 

Daß im griechischen Prometheus der uralte Feuerfinder aus der Brüder- 
horde weiterlebt, erscheint mitbezeugt sowohl durch seine Zugehörigkeit zu 
den Titanen wie auch insbesondere — nach den letzten Darlegungen über 
die Verzehrung des durch Feuer getöteten Urvaters — durch das so rätsel- 
haft anmutende Motiv der Opferteilung von Mekone, die ihm in ihrer 
Parteilichkeit für die Menschen als Frevel gegen die Götter ausgelegt wird 
und zu seiner Bestrafung Anlaß gibt. Die Schilderung dieses Opfermahles 
enthält als Kern nicht das Totemmahl, sondern die Verzehrung des Urvaters 
selbst, den Urfrevel, der freilich verdrängt wurde, worauf der Charakter des 
Frevelhaften auf einen nebensächlichen, dem späteren Opferwesen entsprun- 
genen Zug verschoben wurde, auf die vermeintliche Übervorteilung der Götter 
durch die Menschen beim Opfermahl. Diesem Urfrevel geht zeitlich voran 
die Feuerfindung als eine Tat der inzestuösen Begierde, die der Vater ver- 
hindern will, indem er den Eschen die Kraft des Feuers und damit dem 
Sohne das Werkzeug seiner Begierde entzieht oder wenigstens entziehen will 
die er dann, als sie geschehen ist, wie eine Tat bestraft, die böser Lust ent- 
sprungen ist (Verzehren der Leber durch den Adler). Dieses letzte Motiv ist 
natürlich auch nicht bloße Allegorie. Die Rebellion hatte zwar Erfolg und 
der Urvater konnte unmittelbar nicht mehr strafen, aber um so ausgiebiger 
konnte er es mittelbar durch die inzwischen erfolgte Ausbildung des Über-Ichs 
in realem Zusammenhang mit der körperlichen Introjektion des Urvaters 
Die Brüder, der Feuerfinder im besonderen, lebten in der innerlichen Ent- 
zweiung, die durch das plötzliche Vorhandensein des Vater-Ichs neben ihrem 
ursprünglichen Ich bedingt war. Der von Zeus geschickte Adler, der Pro- 
metheus' Leber wegfrißt, also in sein Inneres eindringt, ist, schon durch 
die Vatersymbolik des Adlers an sich, die Verkörperung jenes Über-Ichs mit 
den von ihm ausgehenden Gewissensbissen. Noch weiter zurückgreifend 
dürfen wir in dieser Situation des passiv den Angriffen preisgegebenen 
Prometheus auch die weibliche Einstellung des Sohnes gegen den Vater 
wiedererkennen. Damit ist aber auch die letzte Spur der Empörung wider- 
rufen und überwunden. Wir sehen neuerlich, wie sehr auch diese „Strafe" 
des Prometheus ein doppeltes Gesicht hat. Es bleibt uns nur noch das 
früher zurückgestellte Motiv der Erschaffung des Weibes durch Zeus zu be- 
sprechen übrig, die ja auch unter die Strafen gerechnet wird. Was in diesem 



CLaos und Ritus 4-' 

Motiv seinen Niederschlag gefunden hat, ist im Gegensatz zur auteroti- 
schen Befriedigung, die durch die sexuelle Erregung beim Feuerreiben 
erzielt wird, die hetererotische Stufe der Objektfindung und des Genital- 
primates. Was unser Mythos sagen will, ist also, daß die Gewinnung 
der späteren Stufe an die Überwindung der früheren geknüpft ist. Zeichnet 
sich doch auch die auterotische Stufe in ihrem späteren Stadium des Über- 
gangs zum Genitalprimat durch Phantasien in der Regel inzestuöser Natur 
aus. Wenn hier die Bezeichnung „Strafe" einen Sinn hat, dann nur in der 
Richtung des Don- Juan-Motivs, d. h. des endlosen und vergeblichen Suchens 
nach dem verlorenen Urbild. 

Was wir an Prometheus beobachten konnten, nämlich die Umdeutung 
einer urpersönlich positiven Funktion in eine Strafe, finden wir, weniger 
kompliziert und in dem wesentlichen Punkte noch deutlicher begründet, 
bei einer Parallelgestalt des Prometheus, nämlich bei Ixion. Er ist eine 
von den Büßergestalten, mit denen die Unterwelt bevölkert ist. 1 An ein 
Rad geflochten, das sich ununterbrochen durch die Luft schwingt, ist er 
das Bild der ewig ungestillten Begierde. Die Grundbedeutung des Rades 
ist aber eine ganz andere. Es ist nach einer schon bei Adalbert Kuhn 
/ q s. 69) vorkommenden Vermutung das Sonnenrad. Da man Feuer 

auch durch Drehung eines Rades um einen in die Nabe gesteckten Stab 
(Quirl) zu erzeugen pflegte, lag es nahe, das Sonnenfeuer durch ein kosmi- 
sches Rad entstanden zu denken, das in folgerichtiger Weiterbildung dieses 
Grundgedankens sich nachher zum Wagen, dem Sonnenwagen, entwickelt, 
dem schließlich auch die Sonnenrosse nicht fehlen durften. In der Zeit, 
da sich persönlich gedachte Helden und Götter ausbildeten, erhielt dieser 
VVae en einen Lenker, den Sonnengott, und neben die beiden Sonnenrosse 
traten die Asvinen, die Dioskuren der Griechen, und ihre Parallelgestalten, 
die lettischen Göttersöhne. 2 Der aus dem Rade das Sonnenfeuer bohrende 
Held Ixion hatte in dieser Entwicklungsreihe keinen Platz mehr, er wurde — 
im wörtlichen Sinne — in die Unterwelt versetzt. Die Begründung dafür, daß 
er seine Tätigkeit als Strafe weiter fortsetzt, wird uns nicht mehr überraschen : 
er hatte in ungeziemender Weise nach der Himmelskönigin Hera begehrt. 
Hier haben wir die ungezügelte Begierde, die wir bei Prometheus nur aus 
der Art seiner Strafe erschlossen hatten, noch in der mythischen Erzählung 
selber erhalten. 

1) Die Belege in Roschers Lexikon der Mythologie, II/i, col. 766 ff. 
a) Vgl. Kuhn, a. a. O. S. 69, und Schroeder: Arische Religion. Bd. II, S. 45 ff . 
und 392 ff. 



■:■— . 



A4 



Emil L 



Orcnz 



Die Frühlings- und Mittsommerfeuer 
Wir verlassen den griechischen Mythos mit einem dankbaren Rückblick 
auf die reichen Ergebnisse, die seine Betrachtung uns gebracht hat. Aus 
dem genealogisch bedeutsamen Zusammenhang der titanischen Sippe, i n 
der wir eine Neuauflage der Urhorde erblicken, erhebt sich die Gestalt' des 
Feuerbringers Prometheus, dessen Tat auf mannigfache Weise durch die 
höhere göttliche Instanz Verurteilung findet. Daß ihr ein sexueller Charakter 
zukommt, erschlossen wir aus der Art ihrer Bestrafung. Daß der sexuelle 
Inhalt des Frevels inzestuöser Natur war, lehrte uns der Vergleich mit dem 
Ixion-Mythos. Daß freilich das Feuer selber das Mittel zur Tötung des 
Urvaters war, ist bis jetzt Hypothese. Dies wäre weiter nicht verwunderlich 
Gerade dieser Punkt mußte ja in erster Linie der Verdrängung unterliegen 
und kann nur mittelbar aus der Art und Weise zu erschließen sein, wie 
die Feuerbringung gewissermaßen verklausuliert und ängstlich von der 
Menschheit als eine nicht mehr leugbare Tatsache ihres Kulturbesitzes hin- 
gestellt wird. Gibt es doch auch noch andere Erfindungen, denen in der 
Dynamik ihres Ursprunges Zuschüsse inzestuöser Natur nicht abzusprechen 
sein werden, ohne daß sie die Affekte dauernd so in Atem hielten Im 
übrigen begegnen wir dem Feuer als einer mythischen Macht viel später 
m der Menschheitsgeschichte wieder, in den Feuern der Vegetations- 
riten, die ja den Ausgangspunkt unserer Betrachtungen gebildet haben. 
Daß in diesen Feuern regelmäßig eine menschliche Figur, der „Wachs- 
tumsgeist , wie ihn die Ethnologen nennen, verbrannt wurde, daß die 
daraus entstehende Asche als segenbringend auf die Felder gestreut wurde, 
wird, wenn wir es mit der von uns rekonstruierten Urtat zusammenhalten, 
als deren sinnvolle Wiederholung erscheinen, und das Dilemma bei Frazer, 
ob es sich dabei um Sonnenfeuer oder um Lustrationsfeuer gegen die bösen 
Einflüsse der Hexen handelt, wird mit dem Augenblick überhaupt über- 
flüssig, wo wir eine Erklärung gefunden haben, die nicht nur alle Haupt- 
und Nebenzüge der fraglichen Begehungen deckt, sondern auch die histo- 
rische Kontinuität mit der Urzeit für sich hat. 

Nehmen wir die Gliederung bei Mannhardt (WFK. I., S. 497 ff.) zum 
Leitfaden, so finden wir dort die folgende Zusammenfassung: 

„Es -wird sich zeigen, daß die Verbrennung einer menschlichen Gestalt, 
meistenteils aus Stroh oder zusammengeflochtenen Reisern, sowohl mit dem 
Todaustragen verbunden, als für sich allein einen wesentlichen Bestandteil der 
Oster- (Fastnachts-) und Mitsommerfeuer büdete, daß als andere ebenso wesent- 
liche Bestandteile dieser Feuer die folgenden Stücke zu betrachten sind: 



; T 



Chaos und Ritus ^5 



1) Das Scheibenschlagen oder Radwälzen; 

2) die Aufrichtung und Verbrennung eines Baumes, in dessen Wipfel die 
Menschengestalt zu sitzen pflegte; den Baum ersetzt häufig eine einfache Stange; 

3) ein Fackellauf beziehungsweise die Anzündung des Scheiterhaufens durch 
Fackeln oder von Fackeln am Scheiterhaufen; 

4) der Glaube an die Befruchtung der Felder und Obstgärten; 

5) das Hindurchspringen und Hindurchtreiben von Menschen und Tieren 
behufs Gesundheit, abgesehen von verschiedenen anderen, auf den Modus der 
Anzündung dieser Feuer bezüglichen Erfordernissen; 

6) ein Scheinkampf auf den Kornfeldern, endlich 

7) als Schauplatz der Feier hohe Berggipfel, Anhöhen oder Kornfelder. 
Zu 5) gehört ... die Erwählung der Maibrautpaare." 

Das erste Motiv enthält die Beziehung auf die Feuergewinnung durch 
Reibung oder durch Drehung eines Rades, sowie die Versetzung dieses 
Vorganges an den Himmel (Ixion-Motiv). 

Im zweiten und dritten Motiv dürfen wir die Wiederholung der ürtat 
erblicken, wobei wir die beiden Motive als alternierend betrachten dürfen, 
insofern es sich entweder um einen zur Verbrennung gelangenden Baum 
oder um einen Scheiterhaufen handeln muß. 

Das vierte und das fünfte Motiv enthält die befruchtende Kraft, die den 
Resten des Totems zugeschrieben wird. 

Der Scheinkampf auf den Kornfeldern stellt die Wiederholung der ambi- 
valenten Einstellung zum Urvater dar, vielleicht wohl auch schon den 
Zwist innerhalb der Brüderhorde. 

Auf Berggipfel, Anhöhen oder Kornfelder erscheint die Begehung ver- 
setzt, wobei es klar ist, daß sie nicht von den Kornfeldern auf die Berge 
gewandert ist, sondern umgekehrt. Der kärntische Brauch bewahrt jeden- 
falls die für den einzelnen sichtlich unbequemere Form der Begehung. 

Das Maibrautpaar und sein Brautlager auf dem Acker stellt die durch 
die Versöhnung des Urvaters wiederhergestellte Ordnung der Natur dar, 
die durch die Melancholie nach der Urtat mit ihrer Abstinenz unterbrochen 
worden war. Sie ist vergleichbar, ja im Wesen identisch mit der Lizenz, 
die sich bei den Initiationsriten an die Zeremonie der Beschneidung an- 
schließt. (Vgl. Reik: Die Pubertätsriten der Wilden. Imago IV, 1915.) 

1 otemwahl 

Man wird sicher gerne geneigt sein, für die totemistische Gesellschaft 
mit ihren drei Hauptinstitutionen, dem exogamischen System, den Knaben- 
weihen und den Intichiumariten, die Durchdrungenheit von dem totemisti- 



4 G 



Lim ( Lorenz 



sehen Urfaktum zuzugeben. Trotzdem wird man aber das Verlangen nicht 
unterdrücken können, den genaueren Modus dieses Fortlebens der Urtat 
in den genannten Brauchgruppen vor Augen geführt zu erhalten. Ferner 
ist es ja überhaupt die Hauptaufgabe unserer Untersuchung, den Übergang 
der totemistisch bestimmten Intichiumariten in unsere Ackerbaukulte sowie 
— wenn dies überhaupt heute schon möglich sein sollte — die Wandlung 
des totemistischen Systems auf religiösem und sozialem Gebiete in die 
Lebensformen der späteren Zeiten aufzuweisen. 

Fassen wir zunächst die Generation der Urtat allein ins Auge, so lebt 
die Tat in ihr einmal in unmittelbarer Erinnerung fort, der wiederum 
eine affektive Amnesie entgegenwirkt, die die Erinnerung fälscht. Die kon- 
kreten Folgen, die in der äußeren Wirklichkeit spürbar werden, sind aber 
jedenfalls greifbarer und ausgiebiger. Es ist die Entzweiung unter den 
Brüdern und die erfahrene Unmöglichkeit, das ursprünglich angestrebte 
Ziel wirklich zu erlangen. Dieses Motiv, sowie das folgende, das darin 
besteht, daß nach der Tat die zärtlichen Regungen gegen den Vater sich 
um so mehr zur Geltung bringen, je deutlicher die Einsicht wird, daß die 
Tat selber unwiderruflich ist, ist von Freud hinlänglich erörtert' worden. 
Warum aber unterlag die Tat nicht überhaupt jener Amnesie, von der 
alles Peinliche betroffen wird, und weshalb wurde sie nicht viel gründ- 
licher verdrängt, als es tatsächlich der Fall ist? Der Grund liegt offenbar 
darin, daß sie sich wiederholte, vielleicht in der Tat, vielleicht bloß der 
Intention nach, jedesmal, wenn eine Generation älter geworden und eine 
andere in das Stadium der Pubertät getreten war. Dieses vitale Gefälle zeugt 
offenbar immer wieder dieselben Wirbel. Das Schuldbewußtsein der älteren 
Generation und ihre Vergeltungsfurcht schafft die Einweihungsriten Diese 
erweisen sich deutlich als etwas, das bewußter Absicht und dem Entschlüsse 
entsprungen ist, leitend und vorbauend gegen die zu erwartenden Exzesse 
der jüngeren Generation zu wirken. Hiebei ist die Rolle des Tieres in seiner 
Eigenschaft als Totem nicht aus dem Auge zu verlieren. Wir stellten ja 
schon oben die Vermutung auf, daß die Wurzeln des Totemismus bereits 
in die Zeit vor dem Urverbrechen zurückreichen. Das an Stelle des über- 
mächtigen Vaters gequälte, gemarterte und getötete Tier, auf welches sich 
also alle feindlichen Affekte konzentrieren, während Bewunderung und Ehr- 
furcht nach wie vor beim Vater verbleiben, eben dieses Tier erfährt nach 
dem Tode des Urvaters eine durchgreifende Änderung in der Affektbesetzung. 
Es übernimmt nämlich jetzt als Stellvertreter des Vaters auch die zärtlichen 
Gefühle, die an jenem gehaftet hatten, und wird eben durch diese ambi- 



r^: — 






Chaos und Ritus 



47 



valente Besetzung erst zum Totem. Zu den schwierigsten Fragen gehört 
die der Totem wähl, wenn man diesen Ausdruck gebrauchen darf. Es 
besteht zunächst gar keine Nötigung, für den ersten Anfang bloß ein 
einziges Totemtier anzunehmen, zum mindesten nicht für jene Torturobjekte, 
die wir als die Vorgänger des Totems vermuten. Je nach dem Lebensalter 
der Söhne werden dies zuerst kleinere und harmlose, dann aber auch größere 
und gefährliche Tiere gewesen sein. Der Urvater hatte demnach von An- 
beginn vielerlei Vertreter, und wenn wir eine mehrmalige Wiederholung 
der Urtat annehmen wollen, so ergeben sich daraus bereits die mannig- 
faltigsten Möglichkeiten. Auch wäre damit die Doppelheit von Stammes- 
totem und Individual totem schon in die Anfänge zurückverlegt. Nicht aus- 
schließen möchte ich die bewußte Leitung begabterer Einzelner. Sowie diese 
vermutlich wirksam war bei der Schaffung der Intichiumazeremonien und 
der Einweihungsriten, wird sie auch für die Totemwahl bestimmend gewesen 
sein, wie uns dies aus dem australischen Kulturkreis ja sogar heute noch 
berichtet wird, wo der Totem des Einzelnen durch eine Art Divination 
bestimmt wird. Die für die Freudsche Theorie der Entstehung des Totemismus 
eine gewisse Aporie darstellende Tatsache der Pflanzentotems sowie der 
Totems, die sich nach Naturvorgängen wie dem Regen benennen, möchte ich 
ebenfalls als einen auf Mithilfe eines leitenden Bewußtseins zurückgehenden 
Verdrängungsvorgang deuten, insofern als der Tiertotem denn doch gewisser- 
maßen noch transparent für die der Verdrängung unterlegene Urtat er- 
scheinen mochte. Totems vom Typus des Regentotems deuten indessen 
wiederum auf eine wichtige Seite der Vater-Imago zurück, auf die Frucht- 
barkeit, wie ja der Begen in der mythischen Anschauung auch späterer 
Zeiten als ein Vorgang aufgefaßt wird, der sich bei der Umarmung des 
Himmelsgottes mit der Erdgöttin abspielt. 

Es ergibt sich aus dem Vorausgehenden die höchst wichtige Folgerung 
— sie ist sozusagen das Um und Auf der Lösung unseres Problems — , 
daß der Totem, der aus dem Torturobjekt zu Lebzeiten des Vaters hervor- 
gegangen ist, indem er nach dessen gewaltsamem Tode die zärtlichen Re- 
gungen aufnahm, die unbewußt auf diesen gerichtet waren, eben durch 
die Kraft dieser zärtlichen Regungen weiterlebt. Er wird zum 
Ahnherrn und Segenspender und zum Behälter der Fruchtbarkeit, 
zum Vegetationsdämon, der an den Boden gebunden ist, in einzelnen 
Fällen aber auf dem Weg über Himmel und Sterne zum Gott wird. 

Sogar die rituelle Tötung ist kein eindeutig feindseliger Akt. Mögen 
immerhin die aktuellen Haßimpulse gegen die jeweils ältere Generation in 



48 



Emil Lc 



dieser Tötung zum Ausdruck kommen — wie bei den australischen Knaben- 
weihen die unbewußten Haßimpulse der älteren Generation gegen die jüngere 
durch die sie sich bedroht fühlt, zum Ausdruck kommen, oder wie in den 
europäischen Frühlingsfesten ein Scheinkampf auf dem Acker stattfindet 
der offenbar die Generationen einander gegenüberstellt — , diese feindseligen 
Impulse werden aufgewogen durch die positive Tendenz zur Introjektion des 
im Unbewußten geliebten Objektes. 



Ursprünge des Ackerbaues 

Vom rein technischen Standpunkte haben wir im Ackerbau wohl nichts 
anderes zu sehen als eine sowohl extensiv — dies in erster Linie — als 
auch intensiv veränderte Form der Nahrungsgevvinnung aus gewissen Gräsern, 
deren körnige Früchte auszuweiten der Mensch anscheinend zuerst in der 
Jungsteinzeit und vermutlich im Zweistromlande oder in Turkestan gelernt 
hatte. Es scheint gar keine Veranlassung vorzuliegen, hierin eine andere 
Problematik als eine solche technischer Natur zu sehen. Es ist das bleibende 
Verdienst von Eduard Hahn, hier Probleme aufgedeckt zu haben, an denen 
man bisher ahnungslos vorbeigegangen war. Wir müssen diesen Forscher 
auf dem Gebiete der lirzeitlichen Wirtschaftsformen zu den wahrhaft wege- 
bahnenden Denkern in der Ethnologie rechnen und dürfen ihn als einen 
würdigen Schüler und Nachfolger des großen Adolf Bastian bezeichnen. 
Von Eduard Hahn stammt die grundlegende Unterscheidung des Hackbaues 
vom Ackerbau, die Würdigung der Hirse als der einst wichtigsten Getreide- 
pflanze, besonders aber die erstmalige richtige Einschätzung des Rades, des 
Wagens und des Ochsen als der für den Ackerbau wichtigsten sachlichen 
und animalischen Hilfsmittel. Eduard Hahn hat dort Probleme zu sehen 
begonnen, wo die abstumpfende Wirkung der Gewohnheit, des ausschließlich 
technischen Zweckdenkens und der materialistisch-ökonomischen Auffassung 
der neueren Zeit Selbstverständlichkeiten zu erblicken glaubte. Er hat des 
weiteren — ähnlich wie Adalbert Kuhn — sich nicht gescheut, die Dinge, 
wenn es nottat, beim rechten Namen zu nennen, und darum auch dem 
sexuellen Moment im Brauchtum jene Gerechtigkeit zuteil werden zu lassen, 
die ihm durch verschämte Hinwegdeutung bis dahin verweigert worden war. 

Die nachstehenden Ausführungen über das Rind als Pflugtier gründen 
sich auf Eduard Hahn. Hahn stellt zunächst den Zusammenhang fest, der 
zwischen den Hörnern des Rindes und dem Monde beziehungsweise der 
Mondgottheit besteht. In Ägypten, in Griechenland, in Indien und Babylonien 



n 



ct. 



id Rit. 



49 



ist die große weibliche Göttin, die Verkörperung des Vegetationsprinzips, in 
ausgesprochener Verbindung mit der Kuh und ihren Hörnern. (Entstehung 
der Pflugkultur, S. 68.) Die bloß wirtschaftliche Nutzung des Rindes — 
uns allein geläufig — ist durchaus nicht ursprünglich. Es scheint vielmehr 
sicher zu sein, daß das Rind als Verkörperung der weiblichen Mondgott- 
heit zuerst in Gehegen gehalten wurde, um nach Bedarf für Opfer an die 
große Muttergottheit zur Verfügung zu stehen. In diesen Gehegen wurde 
das Rind ohne Zwang domestiziert und gewann dabei jene weiße Farbe, 
durch die es seinem himmlischen Vorbilde, dem silbern leuchtenden Monde, 
noch ähnlicher wurde. Zugleich ermöglichten diese Gehege eine ungehinderte 
Fortpflanzung, wie sie sonst bei Tieren, die allzu unvermittelt in die Ge- 
fangenschaft kommen, nicht zu beobachten ist. Das männliche Rind zu 
kastrieren, ist ein Gedanke, der keineswegs aus der Erfahrung stammt, daß 
der Ochse sich für die Arbeit vor dem Pfluge eher eignet als der Stier, 
denn das konnte man ja vorher nicht wissen; die Kastration des männ- 
lichen Rindes hat vielmehr zunächst einen kultischen Sinn. Dieser Sinn 
rührt aus der Verehrung der mütterlichen Erde her, deren Schoß durch 
ein männliches, im Besitze seiner Sexualkräfte befindliches Wesen aufreißen 
zu lassen, als ein Frevel erschienen wäre. Vor den Pflug, dessen phallische 
Symbolik Eduard Hahn durch mancherlei, inzwischen auch in der psycho- 
analytischen Forschung bekanntgewordene Motive belegt, konnte nur ein 
geschlechtsloses Tier gespannt werden. Daß auch der Wagen ursprünglich 
ein Sakralgerät war und erst nachträglich zu einem Beförderungsmittel für 
Lasten, zuletzt auch für Personen wurde, wäre für unseren Zusammenhang 
weniger wichtig, wenn wir nicht seinen Hauptbestandteil, das Rad, bereits 
oben als Sonnensymbol bei Ixion festzustellen gehabt hätten. Das Rad ist 
das Primäre, der Wagen wird wegen des Rades gebaut, um das Sonnen- 
symbol, wir dürfen hinzufügen zwecks nachahmender Magie, in Bewegung 
zu setzen, späterhin auch um das Götterbild zunächst in irgendeiner sym- 
bolischen, dann aber auch in menschlicher Gestalt auf den „heiligen" 
Straßen durch die Lande zu führen. Wieder dürfen wir hinzufügen, daß 
der gesamte profane Gebrauch dieser Dinge auf einer Säkularisation ur- 
sprünglich rein sakraler Einrichtungen beruht. Am nächsten kommen ihnen 
vorgeschichtliche Wagen vom Typus des berühmten Strettweger Wagens (im 
Joanneum in Graz), ferner seine Vorgänger, die wir auf Topfscherben der 
ersten Eisenzeit vorfinden, schließlich die heiligen Wagen des klassischen 
und des germanischen Altertums (Umzug der Nerthus). Greifen wir aus 
diesem nur in groben Umrissen skizzierten Zusammenhang der Hahnschen 

♦ 









5o Emil Lorenz 



Ideen dasjenige heraus, was im besonderen auf den Ackerbau Bezug hat, 
so mündet das Motiv der in besonderen Gehegen gehaltenen Tiere in einen 
schon oben gebrachten Gedankengang ein, wo wir nämlich sagten, daß die 
in eigenen Gehegen gehaltenen Tiere dem Zwecke der Jagd dienten, und 
diese wiederum eine Ersatzhandlung darstellte, die den feindseligen, gegen 
den Urvater gerichteten Tendenzen Abfuhr verschaffte. Wir werden indes 
gezwungen sein, gerade im Zusammenhang mit diesem Motiv die Bahnen 
Eduard Hahns etwas zu verlassen. 

So nahe es uns liegen möchte, besonders vom Standpunkte der Psycho- 
analyse aus, uns mit der Kastration des Rindes im Dienste der Erdgöttin 
als einem hinlänglich begründeten Zusammenhang zufriedenzustellen, so 
weist doch eben dieses Motiv auf noch weiter zurückliegende Zusammen- 
hänge hin. Warum ging die Scheu vor dem Frevel an der mütterlich ge- 
dachten Erde, die durch den Pflug und die Aussaat zu neuen Geburten 
gezwungen werden sollte, nicht so weit, daß sie auch den hinter dem 
Pfluge schreitenden Mann, der das Samenkorn auswirft, betroffen hätte? 
Warum ist überhaupt der Übergang vom Hackbau, der in den Händen 
der Frau liegt, wie noch heute zu einem Teil der Gartenbau auf dem 
Lande (Hausgarten), gerade dadurch gekennzeichnet, daß an die Stelle der 
Frau jetzt — und zwar ausschließlich und sogar mit einer die Agrarreligion 
kennzeichnenden Weihe — der Mann tritt? Eben jener Mann, der sich 
als Mitarbeiter das kastrierte Rind ausbedingt? Der intrapsychische, natür- 
lich unbewußte Vorgang kann im Lichte psychoanalytischer Einsichten kein 
anderer sein, als daß sich in der Situation des Pflügers eine der stärksten 
Wunschideen der Menschheit immer aufs neue realisiert: die Gewalttat 
des Kronos, der mit der Sichel seinen Vater Uranos entmannte, der in Tier- 
gestalt als entmanntes männliches Rind wiederkehrende Vater und die Be- 
zwingung der Erdenmutter. Dies soll nun keineswegs bedeuten, daß diese 
Verknüpfung zusammengehöriger Motive auf einmal erfolgt wäre. Auf jeden 
Fall ist ja die Kastrierung des Ochsen schon früher erfolgt, ehe man noch 
die Erfahrung seiner besonderen Lenksamkeit für die Feldarbeit machen 
konnte. Vermutlich ist sie überhaupt ursprünglich aus einem religiösen 
Grunde, wie Hahn vermutet, oder, noch allgemeiner gesprochen, in einer 
praktisch zweckfreien Absicht erfolgt. Worin hat aber diese bestanden? 

Greifen wir nochmals auf unsere schon mehrfach zitierten Annahmen 
zurück, wonach die Tiergehege zunächst den Zweck hatten, Jagdwild zur 
harmlosen Befriedigung der gegen den Vater oder die Vätergeneration über- 
haupt gerichteten Aggressionsneigungen bereitzustellen, so hindert uns nichts, 






CLaos und Ritus ÖJ 



unsere heutigen Jagdgebräuche, wie sie oben im Anschluß an die Dar- 
stellung von Marie Bonaparte geschildert wurden, für jene Anfänge der 
Jagd in den Mittelpunkt der ganzen Übung zu stellen. Es habe demnach 
deren Hauptzweck in der Befriedigung des Verlangens nach der Entmannung 
der Väter beziehungsweise ihrer tierischen Stellvertreter gelegen. Die Tötung 
brauchte damit gar nicht notwendig und in allen Fällen in der Absicht 
gelegen zu haben. Die Tiere, die die Prozedur überstanden, waren die 
lebenden Belege für die seelischen und körperlichen Wirkungen der Kastration. 
Je stärker das männliche Tier im unverstümmelten Zustande ist, desto 
größer war die Genugtuung, die der Sohnestrotz aus dem Anblick des 
kastrierten Tieres empfing. Gegenüber der Tatsache, daß die Muttersymbolik 
der Erde allen Menschen ohne Unterschied des Alters gegenüber zu Becht 
besteht, verschwand sogar der Unterschied zwischen der Väter- und der 
Söhnegeneration, und so konnte das kastrierte Tier in allen Fällen dem 
Muttersymbol gesellt werden, also, wie Hahn meint, zuerst bei den Um- 
zügen mit dem heiligen Wagen, vor allem aber dann als Helfer des Mannes 

bei der Arbeit mit dem Pflug. 

Viel greifbarer werden uns manche der besprochenen Motive, wenn 
wir uns einmal darüber klar sein werden, aus welchem Teile der Erde 
und aus welchen ethnischen Zusammenhängen die Pflugkultur und damit 
die Verwendung des Ochsen stammt. Die Gründe, die Hahn für das 
Zweistromland bringt, scheinen in der Tat in höchstem Grade beachtens- 
wert. Es wird auch dem psychoanalytischen Denken durchaus naheliegend 
ein wenn als Ursprungsland der Pflugkultur ein Gebiet erscheint, das 
den Getreidebau weder durch eine alles von selber darbietende Natur über- 
mäßig erleichtert, noch auch durch allzu große Schwierigkeiten, die in 
Boden und Klima liegen, in besonderer Weise erschwert. Im ersten Falle 
(per se dabat omnia tellus) erscheint eine besondere Anstrengung von Seite 
des Menschen überflüssig, im anderen wird er den übermäßigen Anforde- 
rungen der Natur auf die Dauer die Gefolgschaft verweigern. Die Alluvial- 
gebiete von Mesopotamien, Ägypten und China, älteste Stätten der Ackerbau- 
kultur, ermöglichen nun den Ackerbau eben dadurch, daß der Mensch die 
Naturgegebenheiten der periodischen Überflutung klug ausnutzt und durch 
künstliche Bewässerung dem Walten der Natur nachzuhelfen gezwungen 
ist. Ich führe die Gedankengänge von Hahn weiter, wenn ich die folgende 
Überlegung anstelle: Steppenvölker, die die Getreidefrucht in ihrer Ur- 
heimat bereits gekannt und, vielleicht als Sammler oder im Wege des 
Hackbaues, sich angeeignet hatten, kommen mit ihren Herden von Bindern 



4* 



5a 



Emil Loi 



in das Alluvial gebiet des Euphrat und Tigris. Der Boden dieses Landes 
nimmt sie in strenge Zucht, denn er ist gleichsam beweglich, ganz anders 
als die in stummer Ruhe unveränderlich daliegenden Steppen Osteuropas 
und Innerasiens. Das Wasser muß gebändigt werden, um nicht von einem 
Jahre auf das andere den Kulturboden zu vernichten und der Wüste wieder 
Raum zu schaffen. Immer wieder pocht die Not an die Pforten des Landes, 
das einst ein Paradies werden soll, aber noch Dornen und Disteln trägt. 
In solcher Not veräußert der in diese bedrohliche Natur geworfene Stamm 
einen Teil seines sakralen Besitzes, indem er den bis dahin heiligen 
Ochsen und den heiligen Wagen in den Dienst der täglichen Notdurft 
stellt. Aber der Pflugochse und der Pflug erhalten aus dem Zusammen- 
hang, in den sie jetzt mit der Erde treten, wieder sekundär die sakrale 
Weihe zurück, die sie zunächst eingebüßt zu haben schienen. Woher rührte 
aber die erste Heiligkeit des Ochsen und des Wagens? Hier darf ich auf 
eine Behauptung Hahns zurückgreifen, die den Wagen betrifft. 

Die Heiligkeit des Ochsen wird von Hahn in unmittelbare Beziehung 
zur Pflugkultur gesetzt, insoferne der Ochse erst geschaffen wurde, als es 
galt, für den „mütterlichen" Wagen, später dann für den die Erde ver- 
letzenden Pflug ein geeignetes Zugtier zu schaffen. Der Wagen selbst ist 
für Hahn dadurch zur Heiligkeit gekommen, daß er ein Götterbild trug. 
Wir müssen aber, womit wir bereits oben begonnen haben, viel weiter 
zurückgreifen. Unsere Annahme ist, daß die Heiligkeit des Ochsen eine 
Folge der ambivalenten Vorgänge ist, die mit einer gewissen Unentrinn- 
barkeit eintraten, sobald einmal an den Tieren, die in den Gehegen gehalten 
wurden, die Kastration in jenem ursprünglich zweckfreien, unbewußt natürlich 
streng determinierten Sinne vorgenommen worden war. Das kastrierte Tier, 
als unbewußter Stellvertreter des Vaters, dem die grausame Handlung im 
Unbewußten eigentlich zugedacht war, unterliegt nun im Unbewußten 
seiner Peiniger einer ambivalenten Bearbeitung. Es wird als Symbol des 
Vaters geheiligt und — eine zweite mögliche Reihe von Vorgängen — es 
vertritt die schuldbewußten Söhne selber, sofern diese nach der symboli- 
schen Wiederholung der Urtat den Tendenzen zur Selbstbestrafung unter- 
liegen. Was nun den Wagen betrifft, so kann es gewiß nicht an diesem 
Orte ausgemacht werden, ob dieser, wie Hahn behauptet, zunächst aus- 
schließlich sakralen Charakter gehabt hat. Die so zahlreichen Darstellungen 
aus der Vor- und Frühgeschichte sowie die noch im Altertume fortdauernde 
Verehrung heiliger Wagen legen den Schluß freilich sehr nahe, doch ist 
über die Möglichkeit, daß daneben an allen Orten auch schon profane Wagen 









■ r 



CLaos und Ritus ^3 



bestanden hätten, die eben aus begreiflichen Gründen keine Darstellung 
gefunden haben, damit noch nichts ausgemacht. In diesem Zusammen- 
hange halte ich es aber für wichtig, auf eine Abhandlung von Just Bing 
hinzuweisen, 1 in der „Der Kultwagen von Strettweg und seine Gestalten" 
behandelt wird. Es ist — dieser Eindruck ist zunächst der stärkste, den 
man aus Bings Ausführungen erhält — ein vergebliches Bemühen, auch 
bei noch so altertümlichen Darstellungen des heiligen Wagens den „Ur- 
sprüngen" näherrücken zu wollen. Was au* dem Strettweger Wagen dar- 
gestellt ist, ist vielmehr eine schon sehr weitgehende Mischung verschieden- 
artiger Kulte, und zwar, wie Bing es ausdrückt, des Kultes des Kesselwagens, 
der Sonne und der Dioskuren. Einfacher und altertümlicher sind heilige 
Wagen vom Typus des Kesselwagens von Krannon in Thessalien. Er wurde 
herumgeführt, wenn Dürre herrschte und man die Götter um Regen an- 
flehte. 2 Einen ähnlichen Kesselwagen, gefunden in Milawetsch in Böhmen, 
bildet Bing auf S. 160 ab. Welcher Art die Zeremonien mit diesem Wagen 
waren ist uns unbekannt. Aus dem Beispiele des Salmoneus, einer Ab- 
spaltung des Zeus, der dafür „bestraft" wurde, daß er versuchte, durch 
Wagenrollen den Donner des Zeus nachzuahmen, dürfen wir schließen, 
daß diese Wagen entweder zur Gänze oder doch zu einem wesentlichen 
Teile magischen Zwecken dienten, demnach bestimmt waren, den ersehnten 
Vorgang am Himmel durch Nachahmung an einem irdischen Objekt hervor- 
zulocken. Das Bruchstück einer Urne aus ödenburg 3 zeigt anscheinend 
schon eine Frauen gestalt, von der freilich nur der untere Teil sichtbar 
ist falls diese Deutung überhaupt zutrifft. Einen dritten Typus heiliger 
Wagen, den Bing nicht bespricht, scheint mir der Sonnenwagen von 
Trundholm darzustellen. 4. Eine aufrechtstehende Sonnenscheibe wird von 
zwei Pferden auf Rädern gezogen. Auf dem Strettweger Wagen wird der 
uns schon bekannte Kessel, freilich stark verkleinert, von einer Frauen- 
gestalt über dem Kopfe gehalten. Der Kessel scheint hier schon als Behälter 
der Regenflüssigkeit zu dienen. Wir sind mit all diesen Zeugen des Wagen- 
kultus natürlich noch weit von den „Ursprüngen" des Ackerbaus, zu 
dem sie doch offenbar in enger Beziehung stehen, entfernt. Den konkreten 
Vorgang nachzubilden, wie — etwa in neolithischer Zeit — eine mütterlich 

1) Mannus: Zeitschrift für Vorgeschichte, herausgegeben von Gustav Kossinna, 

10. Bd.. 1918. 

2) Furtwängler: Meisterwerke der griechischen Plastik, S. 257 ff. 

5) Bei Bin ff, S. 161, nach Hörn es, Urgeschichte der bildenden Kunst in Europa, 

Tafel 23 und Tafel 19. 

4) Sophus Müller: Urgeschichte Europas, Tafel VI. 



5 4 



l'.Tin! Zic 



gedachte Erdgöttin Gestalt gewann und ihr Haupt aus dem Boden emporhob, 
sodann auch segenbringend über die Erde fuhr oder gefahren wurde, dazu 
sind wir heute noch nicht imstande. Doch dürfen wir darauf verweisen, daß 
es sich auch hierin um eine Etappe in der seelischen Verarbeitung der Folgen 
der Urtat handeln mag. Dies ist so gemeint, daß — unterstützt von Fortschritten 
der materiellen Kultur, also dem Aufkommen des Ackerbaus — der 
Versuch gemacht wird, die gesamte seelische Energie auf die Mutter 
beziehungsweise ihre symbolische Vertretung, die nährende Erde, zu werfen. 
Gelingt dieser Versuch, so ist der Mensch zugleich, eben durch die 
symbolische Befriedigung seiner ursprünglichen Tendenz, der Gewinnung 
der Mutter, von dem Drucke des Parricidiums erlöst. Ein gewaltiges, das 
ganze Leben umfassendes mütterliches Symbol fängt die auch durch die 
Einführung des Totemismus nicht völlig paralysierten zerstörenden Tendenzen 
wie in einem Staubecken auf und führt sie sublimierten Zielen zu. Es ist 
das Zeitalter der Muttergottheiten, deren Spuren wir in allen Kulturen 
begegnen. Damit erhalten alle aus der totemistischen Periode stammenden 
Kulthandlungen, ohne daß sie zu verschwinden brauchten, eine neue 
Grundlage, noch besser gesagt, einen neuen Nährboden. Dieses zweipolige 
Weltbild ist es nun, das den Ackerbaukulten und den Mythen vom 
Typus der Weltelternmythe zugrunde liegt. Welch mächtige seelische Panazee 
in diesen Gebilden des Handelns wie des mythischen Denkens liegt, ist 
gar nicht abzusehen. Setzt sie den Menschen doch in den Stand, durch 
wechselseitige Verstärkung beziehungsweise Abschwächung der beiden Pole 
seelische Konflikte intrapsychisch zu erledigen beziehungsweise im kultischen 
Handeln der intrapsychischen Erledigung durch bloße Andeutung der um- 
polarisierten Intention Rechnung zu tragen. Man darf wohl behaupten, 
daß erst mit dem Augenblicke, da die Menschheit einen solchen Regulator 
für ihre seelische Dynamik gewonnen hatte, der Mensch in bewußter 
Weise sich allem, was — seitdem — nur mehr Natur war, gegenüber- 
gestellt hat. Die Antithetik von Vaterrecht und Mutterrecht, wie sie 
seit den Findungen Bachofens immer klarer hergestellt wurde, bedeutet 
nicht zwei im Sinne der Kontradiktion entgegengesetzte Begriffe, sondern 
eben eine Polarität, innerhalb welcher der eine Pol an das Vorhandensein 
des andern begriffsgemäß gebunden ist. So bedingen sich — und lösen 
sich auch in der äußeren Wirklichkeit ab — mutterrechtliche und vater- 
rechtliche Familie, mutter- und vaterrechtlich organisierter Staat, Mutter- 
und Vaterreligionen. Diese Ablösung aber — und damit ein neues Kultur- 
zeitalter — tritt immer dann ein, wenn einer der beiden Pole — sei es 



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Chaos und Ritus 



55 



durch Liebe oder durch Haß - überbelastet ist. Das totemistische Zeit- 
alter, einseitig an die Image- des Urvaters und an deren symbolische Ab- 
kömmlinge gebunden, konnte erst dann ein Ende nehmen, als für den bis 
dahin latent gebliebenen, weil eben der Urverdrängung verfallenen weiblichen 
Pol ein stellvertretendes Symbol gefunden war, dem dann die Libido zu- 
strömen konnte. Dieser entscheidende Wendepunkt war noch nicht erreicht, 
als man die Erde bloß erst als Zufluchtsstätte, sodann auch als Spenderin 
der wildwachsenden Früchte und damit als mütterliche Macht empfand; 
er trat erst ein, als man, jedenfalls durch die Not gezwungen, es gelernt 
hatte, sie zu nötigen: ihr die alimenta debita abzufordern entsprechend 
den Jahreszeiten, ja schließlich abzuzwingen durch eine Technik, die zunächst 
sicherlich als frevelhaft und höchst gefährlich empfunden wurde (tellus 
saucia vomeribus bei Ovid, ferner die Pflug- Phallus-Symbolik bei D-te„ch, 
Mutter Erde, S. io 7 ff.). Die Substituierung eines ^eres als Helfer des 
Menschen bei diesem der Erde angetanen Zwang und gar eines geschlechtslos 
gemachten Tieres ist als Sicherung gegen die Folgen des frevelhaften Ein- 
griffes in die viscera terrae zu verstehen. Eben darin liegt das Wesentliche 
des Ackerbaus. Der Hackbau nämlich braucht all diese Sicherungen nicht, 
weil er in den Händen der Weiber liegt und ihm ebendarum der Charakter 
der männlichen (und inzestuösen) Aggression abgeht. Was aber, wie wir 
schon früher festgestellt haben, für ihn kennzeichnend ist, nämlich das 
blutige Opfer an die ursprünglich totemistisch vorgestellte Gottheit, ver- 
schwindet auf der höheren Stufe noch lange nicht. Ja, man kann sogar 
bemerken, daß unter den Motiven der Vegetationskulte aus dem Kreise 
des Ackerbaus die aus der totemistischen Phase stammenden weitaus in 
der Mehrzahl sind, womit die Ausführungen oben (S. 44 f.) zu vergleichen 
wären. Der Glaube an die Mutter- oder Erdgottheiten, ebenso wje der 
entsprechende Kultus von Göttinnen vom Typus der Isis, der Magna Mater 
und der Demeter steht in einem deutlichen Gegensatz zu dem Kulte der 
Vatergottheit in den Vegetationskulten. An der Vatergottheit lebt sich, bis 
in ihre entferntesten Abkömmlinge im heutigen Volksbrauch, die unaus- 
tilgbare Ambivalenz aus. Der Vatergott wird beklagt, aber auch verwünscht, 
verbrannt, ins Wasser geworfen, aber auch wiederum (auf dem Baume des 
Lebens) erhöht. Die Muttergottheit ist gleichsam die dauernde Verheißung 
der Unsterblichkeit, wofür Demeter und die eleusinischen Mysterien den 
sprechendsten Beleg bieten. Daß damit die uralte Verteilung der Rollen 
zwischen Vater- und Mutter Imago in ihrem vollen Inhalt bewahrt geblieben 
ist, bedarf keiner Hervorhebung mehr. Der Muttergottheit kommt es zu, 



- - - 



•3" Emil Lorcns 

dem Sohne, der wegen seiner Angriffsneigung und seiner Haßgefühle gegen 
den Vater von Vergeltungsfurcht erfüllt ist, die Zusicherung zu geben, daß 
der Tod, den sein Unbewußtes dem Vater zudenkt, sich nicht gegen ihn 
selber kehren werde. Erkauft wurde diese frohe Hoffnung auf Unsterblich- 
keit in den eleusinischen Mysterien freilich durch eine Zeremonie, die 
eigentlich die Aufgabe der Männlichkeit und die Annahme einer schlechthin 
weiblichen Rolle in der Kulthandlung des Apathanatismos bedeutet. 1 

Mutterreckt 

So glaube ich denn, das sogenannte Mutterrecht, wenn es mehr bedeuten 
soll als eben eine rechtliche Ordnung der Abstammung und Verwandtschaft, 
als Ausdruck eines seelischen Fluchtreflexes vor den unerträglich gewordenen 
Ansprüchen der Vateridee und der an sie geknüpften Versuchungsangst vor 
dem Parricidium auffassen zu müssen. Wenn wir — etwa im Übergang 
von der Monarchie zur Republik, am einprägsamsten bei der französischen 
Revolution — diesen Mechanismus auch heute noch beobachten können 
und der wesentlichste Teil der politischen Verwirrung der Gegenwart 
auf den Irrtum zurückgeht, daß man die politischen und sozialen Be- 
ziehungen der Menschen auf eine rein abstrakte Grundlage im Sinne 
einer sozialen Technik stellen könnte, dabei aber — naturam expellas 
furca — die Staaten der Gegenwart von dem Extrem des (mütterlichen) 
Fürsorgestaates in das der Diktaturform hinüberwechseln sehen, so lehrt 
diese Erscheinung, wie unentrinnbar unser Wesen an diese Polarität 
gebunden ist. Sie gehört nicht nur für eine bestimmte Kulturepoche, an 
deren Ende manche glauben möchten, sondern für so lange zum Wesen 
des Menschen als solchem, als dieses eben durch das Vorhandensein der von 
uns oben geschilderten inneren Balance gekennzeichnet ist. Diese wird aber 
eben dadurch ermöglicht, daß polare Gegensätze vorhanden sind, die eine 
abwechselnde Besetzung mit Libido ermöglichen und damit die intrapsychi- 
sche Austragung von Konflikten. Wer es also mit den Menschen gut meint 
wird ihnen weder die Vater- noch auch die Mutteridee entwerten dürfen 
Das gilt auch — und sogar in erster Linie — für Staat und Gesellschaft 
die derzeit an der Vitaminarmut unserer politischen Lebensformen kranken 
Die Gaben der Ceres, in romantisch scheinendem Überschwang von der 
Antike herauf bis zu Schille rs „Eleusischem Fest" gepriesen, sind noch 

. l l .7?? Uieterich: Mithrasliturgie, S. 123 ff.; Jung: Wandlungen und Symbole 
der Libido, S. 321 ff. J 



Chaos und Ritus >>7 



viel reicher, als es eine doch mehr oder weniger in linearen Formen denkende 
Kulturphilosophie ahnen konnte. Thesmophoros ist Demeter erst dadurch 
geworden, daß sie die unerträglich gewordenen Bindungen des totemistischen 
Sozialsystems durch die ihr eigentümlichen, den Mutter-Kind-Beziehungen ent- 
sprechenden Bindungen ersetzte. Es war eine Begression, die erste und dauer- 
hafteste in der Entwicklung der menschlichen Kultur. Sie wird immer wieder- 
holt, wenn der männliche und väterliche Weg zu lange einseitig verfolgt worden 
ist. Heimat ist der letzte Bückhalt für den einfachsten wie für den geistigsten 
Menschen. (Nur vorübergehend kann man das Gegenteil für wahr halten.) 

Daß der Mensch zum Menschen werde, 

Stift' er einen ew'gen Bund 

Gläubig mit der frommen Erde, 

Seinem mütterlichen Grund. (Das eleusische Fest) 

Wir gelangen durch diese Erwägungen dazu, die Periode des Mutter- 
rechtes, die, aus den in historischer Zeit noch fortlebenden Spuren er- 
schlossen, hinsichtlich ihres Ursprunges gleichsam in einem zeitlosen 
Nebel schwebte, in einen historischen und sinnvollen Zusammenhang ein- 
zuordnen. Wenn Bachofen der mutterrechtlichen Periode die sogenannte 
tellurisch-hetärische vorangehen ließ, so läßt sich darüber wohl sprechen, 
doch nur in dem Sinne, daß dieser tellurisch-hetärischen der Promiskuität 
eine extrem vaterrechtliche, eben die totemistische, gefolgt wäre, die nun 
selber wiederum von der mutterrechtlichen abgelöst wurde. Mit dieser Ein- 
schiebung wäre den neueren Einsichten auf unserem Gebiete Genüge getan, 
und es würde dann, in völlig bekannter und anerkannter Weise, die klassi- 
sche vaterrechtliche Periode folgen, die allen Hochkulturvölkern gemeinsam 
ist. Die Einzelanwendung unseres früher gewonnenen Gesichtspunktes der 
Polarität für diese gesamte Entwicklung dürfen wir innerhalb dieses Zu- 
sammenhanges übergehen, zumal da der Übergang vom Totemismus zum 
demetrischen Prinzip schon hinlänglich gekennzeichnet erscheint. Daß ferner 
auch dieses letztere bei all seiner Milde, in der es sich dem aus den totemisti- 
schen Greueln geflüchteten Menschen darstellen mochte, in extremem Ver- 
folg seines naturhaften Prinzips der physischen Abstammung von der Mutter 
sich ins Gegenteil verkehren mochte, hat gerade Bachofen überaus schön an 
dem tragischen Motiv des Muttermörders Orestes gezeigt, indem die Lösung 
darauf beruht, daß das geistig gedachte väterliche apollinische Prinzip den 
Blutbann der mütterlichen Erinnyen bricht. 1 

l) Bachoten: Das Mutterrecht, Kap. 25 ff.; im Auswahlband „Der Mythus von 
Orient und Okzident", München 1926, S. 146 ff. 




58 Emil Lorenz 



Rückblick auf den Jcärntisclien Brauch; germanische Analogien 

Es ist Zeit, einen Blick zurückzuwerfen auf den Punkt, von dem unsere 
Betrachtungen ausgegangen sind. Es soll dies zugleich eine Bechtfertigung 
dafür sein, daß wir unsere Betrachtungen über die Vorgeschichte des Totemis- 
mus gerade an diesen in Kärnten fortdauernden altkeltischen Brauch ge- 
knüpft haben. Vergleichen wir die Züge, aus denen er sich zusammensetzt, 
mit dem von Mannhardt entworfenen Gesamtbild der Frühlingskulte, so 
ergeben sich bezeichnende Abweichungen. Es scheint so, als hätte ein ein- 
ziges Motiv, das der Flucht vor der Opferung, alles andere überwuchert. 
Dieses maßlose Laufen ist gleichsam ein stellvertretendes Symptom für die 
der Verdrängung unterlegene Urtat und das blutige Opfer, das deren Folgen 
aufzuheben bestimmt war. Je geringer die Spuren des zentralen Motivs 
infolge der Verdrängung geworden sind, desto mehr verstärkte sich das 
sekundäre Motiv der Flucht. Analogien aus dem Gebiete der Neurose sind 
so naheliegend, daß sie nicht angeführt zu werden brauchen. Wenn wir 
dann oben von der kosmischen Symbolik gesprochen haben, in deren Dienst 
unser Brauch unter druidischer Leitung getreten ist, so hängt auch diese 
Symbolik keineswegs beziehungslos in der Luft. Wie auch sonst zu bemerken 
ist, daß auf dem Boden solcher Abstraktionen und gerade auf diesen der 
Druck der Verdrängung sich lockert und das Verdrängte wiederkehrt, so 
wird die schon genannte Polarität des väterlichen und des mütterlichen 
Faktors in dem so überaus wesentlichen Motive offenbar, daß sich das im 
Sinne des Sonnenlaufes abspielende wilde Laufen um einen Mittelpunkt 
bewegt, der die Hauptkultstätte der Muttergottheit darstellt: wobei dieser 
beständig umkreiste Mittelpunkt von der Wallfahrt gar nicht berührt wurde. 
Im kosmischen Sinne ist die Wallfahrt eine Umkreisung des ruhenden Erd- 
mittelpunktes durch den Sonnenlauf, seinem unbewußten Gehalte nach 
stellt sie die ursprünglich viermal — auf den vier Bergen — wiederholte Urtat 
dar, die trotz aller Wiederholung das inzestuöse Ziel nicht erreicht. (Eben 
diese Unerfüllbarkeit ist es aber, die seelisch und geistig das Menschen- 
wesen in immer höhere Kreise emporschraubt.) Daß dies, wenn auch nicht 
unmittelbar, sondern vertreten durch ein durchsichtiges Symbol, hervor- 
treten darf, ist ermöglicht durch die weitgehende Entstellung, der der väter- 
liche Pol unterlegen ist. 

Es könnte auffallend erscheinen, daß eine so plastische Antithese der 
beiden Prinzipien nur auf keltischem Boden vorfindbar sein sollte. Wir 
wissen leider zu wenig vom altkeltischen Beligionswesen, als daß uns die 



— 



r 



Chaos und Ritus 09 



Bedingungen klar werden könnten, die gerade dort diese Entwicklungsphase 
so deutlich hervortreten ließen. So wäre es insbesondere überaus erwünscht, 
Näheres über die dabei waltenden Göttergestalten und über die so auf- 
fälligen kosmischen Bezüge zu wissen, die den nach den vier Weltgegenden 
gewählten Bergen zugrunde liegen mögen. Leider wissen wir von der Göttin 
Noreia nur das, was aus ihrer Interpretatio Romana als Isis zu erschließen 
ist, ihr männliches Gegenstück, welches doch postuliert werden muß, bleibt 
völlig im Dunklen. Vermutlich hieß jener Gott Belenus 1 und war so etwas, 
was man einen Lichtgott nennt. 2 Ein solcher muß angesetzt werden in 
Hinsicht auf die Licht- und Feuerheiligen, die zur christlichen Zeit das 
Patronat dieser Berge übernommen haben. St. Ulrich auf dem Südberge, 
der nach der christlichen Legende den faulen Fisch genießbar macht, scheint 
freilich rein christliche Symbolik zu sein. Vielleicht wird nähere Befassung 
mit den von Wilhelm Teudt („Germanische Heiligtümer") aufgedeckten 
astronomischen Orientierungen altgermanischer Heiligtümer im Gebiet der 
Lippequellen und des Teutoburger Waldes rückwirkend auch auf altkeltische 
Verhältnisse erhellend wirken. Es ließen sich jedenfalls aus dem genannten 
Werke ganz bestrickende Analogien entnehmen, besonders was den Abschnitt 

Heilige Linien" (a. a. O, S. 201 ff.) betrifft. Es seien indes nur zwei Bei- 
spiele herausgehoben. Das erste betrifft den Köterberg im Lippeschen mit 
seinen vier Ortungspunkten Hoheluchte im Osten, 14 Kilometer entfernt, 
Heiligengeisterholz bei Höxter im Süden, 5,5 Kilometer, Stoppelberg im 
Westen, 12,5 Kilometer, und Hünenschloß bei Pyrmont im Norden, 18 Kilo- 
meter entfernt. Dieses Beispiel ist auch wegen der eigenartigen Grenz- 
gestaltung beachtenswert. Auf dem Köterberg (Götterberg nach der volks- 
tümlichen Überlieferung) grenzen Westfalen, Lippe und Hannover zusammen. 

Hannover schiebt sich mit einem zum Teil nur 60 Meter breiten Land- 
streifen bis unmittelbar an die alte Kultstätte heran. Was hat das zu be- 
deuten? Da die heutigen Grenzen manchmal unverändert sich aus den 
ältesten Zeiten herübergerettet haben, und da gar kein einleuchtender 
Grund aus christlicher Zeit für diese Grenzerscheinung auf dem Köterberge 
auszudenken ist, SO dürfte die Annahme gerechtfertigt sein, daß einst atif 
dem Köterberge ein gemeinschaftliches Heiligtum der anstoßenden 
drei Gaue gewesen ist. Möglich wäre es, daß ursprünglich der Platz, ähnlich 



1) Belenus kommt gerade im Gebiete von Aquileia und nordwärts häufig vor. 

2) Vgl. das neukeltische Frühlingsfest Beltane. Andrerseits tritt eine Gotthe.t 
B -lestis, jedenfalls weiblich, dem Belenus zur Seite, so daß sich Belenus-Belestis als 
das. Paar Sonne— Mond darstellen würde. 



]•. i.'ni Lorens 



einer Mark, gemeinschaftliches Eigentum war, und daß dann bei der Ver- 
teilung der Marken in fränkischer Zeit alle drei Beteiligten, also auch der 
abseits gelegene östliche Teilnehmer, ihr altes Recht an der Stätte greifbar 
m der Hand behalten wollten. Wahrscheinlicher aber ist, daß die auffällige 
Sache schon m germanischer Zeit eben deswegen entstanden ist, weil hier 
keine Mark war und alle drei an dem Heiligtum Beteiligten sich auf 
Da ge r em ^rr ™***« « «• heiligen Stätte versammeln wollten. 
Das Grenzbild des Koterberges ist ein Scheinwerfer in manche Verhältnisse 
der vorgeschichtlichen Zeit."' Das zweite Beispiel betrifft die Herlingsburg, 
die ebenfalls eine Dreiländerecke mit absonderlichem Grenzverlauf bis auf 
den höchsten Punkt darstellt. Auch hier finden wir einen wirtschaftlich 
und militärisch völlig zwecklosen Gebietsschlauch, der zu Waldeck gehört 
und sich zwischen das Lippesche und das preußische Gebiet anscheinend ganz 
unverrnittelt hineinschiebt. Die Höhe des Berges ist offenbar künstlich geebnet. 
Wir treffen die daraus entstehen de trapezförmige Silhouette auch bei den heiligen 
Bergen Mittelkarntens. Bei diesen letzteren handelt es sich freilich nicht um 
Landergrenzen, die über einen Berg liefen, sondern um vier Berge, die ver- 
mutlich wie schon oben erwähnt, vier verschiedenen Stämmen zugeordnet 
waren. Es mag sein, daß sich deren Gebiete in dem geographischen Zentrum, 
namhch in Hohenstein, trafen. Dort befand sich, was einen kennzeichnenden 
Unterschied gegenüber den germanischen Verhältnissen ausmacht, ein matri- 
archaisches Zentrum, das Drynemeton der Alpenkelten mit dem Heilig- 
tum der Noreia. Daß sich der Brauch, von dem wir ausgegangen sind, das 
Vierbergelaufen, erst durch die Zusammenfassung von vier Stämmen, die auf 
je einem Berge ihr Sonderheiligtum gehabt hätten, entwickelt haben sollte 
daß demnach das so Sinnvolle der ganzen Begehung gleichsam sekundär sein 
sollte, ist schwer anzunehmen. Der große Zentralgedanke und auch das Zentral- 
he.hgtum muß auch bereits „im Anfange" wirksam gewesen sein. Dieser 
„Anfang aber wäre in die Zeit der Besiedlung zu versetzen. 

Es ist nun keine allzu entlegene Annahme, wenn wir uns diese Besied- 
lung als etwas Planmäßiges auch in dem Sinne vorstellen, daß das eroberte 
Land von einem geographisch besonders begünstigten Punkte aus aufgeteilt 
wurde, wobei jedem Stamme eine Weltgegend samt einem Hauptberge zu- 
gewiesen wurde, der dann das Stammesheiligtum trug. 2 Es ist die einzig 



i) leudt. a. a. O. S. 214. 

2) Dies braucht nicht sogleich bei der Landnahme erfolgt zu sein, sondern eini» 
-ieit spater, etwa nachdem s>ch Streitigkeiten um die günstigsten Landstrich« " Jr 
spönnen hatten. e,lt - 



Chaos und Ritus Dl 

mögliche Lösung des ödipusproblems, das Mutterland zu teilen und jedem 
Sohne ein gleiches Stück zuzuweisen. Der geographische Mittelpunkt des 
solcherart aufgeteilten Landes gewann für die vier Stämme eine matri- 
archalische Bedeutung, umso mehr als wir in Gallien selbst etwas ganz 
Analoges vorfinden, den religiösen Mittelpunkt in Chartres mit dem Heilig- 
tum der Virgo paritura, der druidischen Vorgängerin von Notre Dame de 
Chartres. 

War nun einmal dieses matriarchalische Zentrum geographisch gegeben, 
so verlangte es gewissermaßen — nach dem Gesetze der Integration 
die Ergänzung durch den männlichen Pol und seinen unbewußten Unter- 
grund, die Urtat samt ihren Konsequenzen. Nun tritt die kultische Wieder- 
holung der Urtat, wie wir früher sahen, seit neolithischer Zeit nicht mehr 
in Gestalt der Initiationsriten, sondern bereits in der Form der Vegetations- 
kulte auf. Der in seiner Baumfestung in Urzeiten wohnende und in ihr 
durch die Brüderhorde mit Hilfe des Feuers getötete Urvater erscheint in 
dieser Periode durch die als männlich gedachte, am Weltenbaum (Mai- 
baum!) emporsteigende Sonne vertreten, deren Schicksale im übrigen denen 
des Urvaters analog sind. Es ist die „Sühneform" der wiederholten Urtat, 
die hier, wie ja auch sonst bei allen uns erreichbaren Formen, zugrunde 
liegt. Vermutlich wurde das Opfer, wenigstens in der weiteren Entwick- 
lung des Brauches, auch nur einmal dargebracht, auf dem Ostberg, an den 
sich ja die eindrucksvollsten Bräuche knüpfen. Dieses Opfer bewirkte die 
magische Befreiung der geschwächten Sonnenkraft und der noch schlum- 
mernden Vegetation, die sich anschließende Wallfahrt, als die positive 
Sinnwendung der ursprünglich allein geltenden Flucht, wies der erwachten 
Sonne die Bahn für ihren segenbringenden Weg während des Sommers. 
Damit ist sowohl die Urtat rückgängig gemacht als auch die Nahrungsnot 
gebannt, die — für das Unbewußte — ja nur eine Projektion der melan- 
cholischen Nahrungsverweigerung im Gefolge der Urtat ist. 

Projektion an den Himmel; Weltelternmythos 

Die obenerwähnte Analogie zwischen Sonne und Urvater ist sehr weit- 
gehend. Nicht daß sie zunächst in „poetischer Form erlebt worden wäre, 
wie es unserem Empfinden der Natur gegenüber naheläge. Es war der 
ungeheure Druck des Schuldgefühles, von dem sich der Mensch nur da- 
durch zu entlasten vermochte, daß er in analogen — freilich erst jetzt 
erstmals als solchen empfundenen — Vorgängen der Außenwelt die Wieder- 



r.mil Lorenz 



holung eben seiner Tat erlebte und das traumatische Erlebnis, dessen Be- 
wegung mit einem Male unmöglich gewesen wäre, in periodischen Teil- 
akten „ledigte Die Vorgänge an den Himmelskörpern scheinen durch ihre 
Periodizität in besonderem Maße geeignet, diesen seelischen Gesundungs- 

fHiTd" R U t Dle ?***» Mythenforschung hat schon sehr 

früh die Beobachtung gemacht, daß rein menschlich erlebte Vorgänge und 
Beziehungen, insbesondere solche, in denen die Verdrängung wirksam ist 
vom Mythos an den Himmel versetzt werden. Hiefür wurde der Ausdru k 
„Projektion an den Himmel« geschaffen.* Diese Projektion an den Himmel 
ist nur ein Teilausschnitt der sogenannten Naturbeseelung, die allem 
mythischen Denken zugrunde liegt, doch kommt eben die Periodizität d^r 
Himmelsvorgänge dem Streben nach periodischem Abreagieren traumatischer 
Reize ,n besonderem Maße entgegen. Es wäre die Frage zu erörtern ob 
nicht der primäre Narzißmus, als welcher die genannte NaturbeseeW 
psychoanalytisch zu bezeichnen ist, überhaupt im Dienste dieser Trieb 
okonom ik steht, indem er eben den seelischen Raum, die Kapazität für die 
Verarbeitung der Reize erweitert. Kehren wir indes zu unserem besonderen 
F. He zurück, so mußte auf jeden Fall die Urtat samt ihren traumatischen 
Folgen vorangehen, damit insbesondere die Erscheinungen des Sonnenunter- 

Bedfut *T~ ™ "" ^ AUfg3ngeS ^ T ^sgestirns jene seelische 
Bedeutsamkeit gewannen, die im weiteren Verfolg zur Ausbildung von 
Sonnenmythen und schließlich des Weltehemmythus führten. Jene Tat war 

(VeMU?/ TTt n 3US "" ti6riSChen *»*» Seiner »Merkwelt« 
(Uexkull) heraushob. Der bisher unreflektiert erlebte Vorgang des Ver- 

schwindens der Sonne in dem rosenfarbenen Blut der Abendröte wird von 
dem fortdauernden Schuldgefühl als eine Wiederholung der Tat erlebt. Es 
dient zur Besänftigung des eigenen Schuldgefühls, daß diese Wiederholung 
der Gewalttat durch annoch vage, von dem Täter der Urtat aber unter- 
schiedene Helden erfolgt. Agieren und Erinnern treten auseinander. Die 
Tat verliert ihren Stachel, indem sie zu einem sich wiederholenden Schau- 
spiel wird, über das man das leidvolle Urbild (und die Urtatsache) ver- 
gessen darf, ohne daß sie indes aufhörte, unbewußtes Zentrum zu bleiben 
Und was in Wirklichkeit dem aufrichtigsten Sühnewillen verwehrt blieb 
das Opfer wieder lebendig zu machen, der Sonnenheros, der abends den 
Fackeln der Sterne erlag, wird aus dem mütterlichen Schöße der Nacht 
strahlend wiedergeboren. Die Sühnetendenz fortschreitender Erhöhung de 

1) Vgl. Otto Rank: Psychoanalytische Beiträge zur Mythenforschung. 



Symbole des Urvaters begnügt sich im weiteren Fortschreiten nicht mehr 
mit seiner Gleichsetzung mit der Sonne, sondern je eindeutiger sich die 
mythische Gestalt der Erde als der gemeinsamen Mutter alles Lebendigen 
aus ihren beschränkteren Vorstufen entwickelte, desto klarer trat ihr als 
männliches Gegenstück der umfassende Himmel entgegen und zur Seite. 
Es ist der Weltelternmythos, der jetzt an die Stelle des Sonnenheros im 
Nachtmeergefängnis rückt. 1 Auf dieser Stufe der Erhöhung der Urvater- 
Imago mit ihrer kosmischen Verankerung der Vateridee im positiven Sinne 
wird Raum, die Verdrängung zu lockern, die jetzt das seelische Gefüge 
und die kulturellen und sozialen Bindungen nicht mehr ernstlich gefährden 
kann. Das Verdrängte darf wiederkehren, und der Aufruhr der Brüderhorde 
ersteht aufs neue in dem Titanenmotiv, das sich als enge geknüpft an den 
Weltelternmythos erweist. Die metallene Sichel, mit der Kronos das Ur- 
verbrechen erneuert, darf uns nicht vergessen lassen, daß die älteste Waffe 
des Aufruhrs in der Hand eines anderen Titanen liegt, des Feuerraubers 

Prometheus. . 

Es war dies nur eine kurze Umschau in dem mannigfachen Bereich 
von Mythos und Ritus, deren anscheinend noch so weit auseinanderliegende 
Formen ihre gemeinsame Abkunft von dem wichtigsten Ereignis der Menschen- 
geschichte erweisen. Mag die Sinnhaftigkeit der damit entschleierten Zu- 
sammenhänge als ein inneres Kriterium für die Richtigkeit der Grund- 
these dieser Arbeit dienen. 

Der sJtlafende Kaiser im Berg 

Man könnte fragen, ob unser Brauch, das kärntische Vierbergelaufen, 
denn wirklich das geeignetste Objekt sei, um eine neue Theorie über die 
Grundlagen und die Fortentwicklung des Totemismus darzulegen und noch 
nebenbei eine solche über die Erfindung des Feuers vorzubringen. Der 
Versuch muß seine Rechtfertigung in sich selber tragen. Es wäre nur noch 
zu bemerken, daß es zwar viele Erscheinungsformen der Frühlingsbegehungen 
gibt, in denen die Urtat als solche deutlicher wiederholt sein mag, als es 
bei unserer Begehung der Fall ist, doch trägt keine unter diesen die Polarität 
des väterlichen und des mütterlichen Faktors so deutlich an sich wie der 
Vierbergebrauch. Mindestens zwei Jahrtausende drehte sich zu Beginn des 

i) Vgl. hiezu die Schriften von Leo Frobenius: Weltanschauung der Naturvölker, 
und Das Zeitalter des Sonnengottes, 1. Bd., Berlin 1905; für das Titanenmotiv des 
Verfassers gleichnamige Arbeit in lmago, II. Bd. 



6^ Lorenz : Chaos und Ritus 



Frühjahrs das lebendige Ixionrad feuerzeugend und lebenweckend um die 
Nabe, die der Sitz der Erdgöttin war, und symbolhaft wiederholte sich das 
Geschehen, das mit Gewalt begann und zum Mutterboden jeglicher Bindung 
wurde. Und so ist selbst die bäuerlicher Lebenssorge entsprungene Wendung, 
daß mit dem Aufhören der Vierbergefahrt kein Weizen und kein Roggen 
mehr wachsen und keine Saat mehr gedeihen würde, der letzte Ausklang 
eines uralten, nun schon unbewußt gewordenen Wissens um die Grund- 
lagen menschlicher Kultur; und es ist kein Zufall, daß in der Sage der 
jüngste Tag und das Wiedererscheinen des Kaisers Barbarossa, der im sagen- 
haften (Kärntner) Untersberge schläft, an das Aufhören der Vierbergefahrt 
geknüpft ist. 1 

Es ist ein Ahnen um wesentliche Zusammenhänge, wenn ein Unters - 
berger, einer der Mannen des schlafenden Friedrich, auf die Frage, wie 
lange dieser Schlaf noch dauern werde, zur Antwort gibt: „Bis der letzte 
Glaubenskrieg kommt. Wir haben den ersten siegreich und gottgefällig 
überstanden und müssen hier bleiben bis zum letzten." Der im Berge 
schlafende Held oder Kaiser ist für das Unbewußte Symbol materieller wie 
funktioneller Art, und in beiden Arten wiederum höchst mannigfach ge- 
schichtet. Funktionell ist es die reine Triebhaftigkeit, an deren Gehemmt- 
sein („Schlummern") alles höhere kulturelle Wollen geknüpft ist. Doch 
ist dieses „Es geknüpft an seinen Gegenpol, das ÜberTch, und als solches 
wird der schlafende Kaiser vorzugsweise empfunden; die schlummernde, in 
kritischen Momenten sich belebende Kraft des Gewissens. Materiell stammen 
beide Pole von dem verewigten Ereignis der Urzeit: dem Urverbrechen 
aus Leidenschaft, das verdrängt wurde und nun „schlummert , und der 
vergöttlichten Imago des Urvaters, die zum ÜberTch und zur Stimme des 
Gewissens wurde. So ist der „erste Glaubenskrieg" nichts anderes als die 
Urtat und ihre Folge, die Begründung der Gesittung, während die Idee 
des „letzten Glaubenskrieges" aus dem Ahnen entspringt, daß diese Ge- 
sittung etwas dauernd Labiles, bis zum jüngsten Tag den chaotischen Trieben 
Ausgesetztes bleibt. 

Seit jeher wollte der Ritus nichts anderes, als den Einbruch des Chaos 

in die geformte Welt verhindern. 



l) Graber: Die Vierberger, Carinlhia I, 1912, S. 11 f., und Sagen aus Kärnten. 
S. ioo ff. 



J 



20 
22 



Inhalt jverzeidin is 

Seite 

Einleitung 3 

Der Vierbergelauf und seine keltische Grundlage 4 

Das Problem der Vegetationskulte »3 

Vegetationskult und Urverbrechen >5 

Australische Riten 

Die Totemwahl 

Jagdtiere und Totemtiere 2 3 

Die Legende von St. Julian dem Gastfreien 24 

Jagdtiere und Haustiere i 2 ° 

Libidoschicksale vor der Urtat 2 

Die konkrete Form des Urverbrechens 29 

Die „Erfindung" des Feuers 3 2 

Die Frühlings- und Mittsommerfeuer 44 

Totemwahl 45 

Ursprünge des Ackerbaues 4 8 

Mutterrecht 5^ 

Rückblick auf den kärntischen Brauch; germanische Analogien . . 58 

Projektion an den Himmel; Weltelternmythos 61 

Der schlafende Kaiser im Berg- 63 






. 



Im sinternationalen Psychoanalytischen Verlage, VVien 
erschien trüher von 

EMIL LORENZ 
JL/er politische JVjLytnus 

.Beiträge zur .M.ytnologie der Kultur 
Geheftet Marie 3' — 



Diese Schrift aus dem Freudschen Kreise enthält drei Aufsätze, von denen der erste den 
Mythus vom Staat untersucht. Auf drei in letzter Linie erotischen Tendenzen beruht, wie alle 
menschliche Gemeinschaft, so audi der Staat: auf der väterlichen, der mütterlichen und der 
mann-männlichen. Daher Vaterland, Mutterland. Aus jenen Grundtendenzen erklären sich die 
großen politischen Geschehnisse : Tyrannenmord, Revolution, Freiheitskampf. Der zweite Aufsatz 
geht an Hand von Swinburnes „Hertha" dem Gedanken des mütterlichen Staates tiefer auf den 
Grund. Den letzten Schritt in dieser Richtung tut der dritte und wohl auch bedeutsamste Auf- 
satz über die Psychologie des integralen Denkens . . . Mit der Heranziehung und Auswertung 
der Mutter-Imago geht Lorenz über Freud hinaus . . . Namentlich der dritte Aufsatz bleibt auch 
für den Religionsforscher von Bedeutung, da er ihm alte Stoffe und Fragen in neuer Beleuch- 
tung zeigt. (Theologische Literaturzeittmg) 

Vorwiegend programmatische Arbeit. Hält sich an die Traumsprache des Unbewußten, d. h. 
in der Völkerpsychologie an den Mythus, und weist an Beispielen hauptsächlich die Beziehung 
von Vater- und Muttersymbolik zu politischen Vorgängen nach. (Berliner Tageblatt) 

In seiner edlen Wisscnschaftlichkcit die Waage des Für und Wider liebevoll austarierend, ein 
Apotheker magischer Destillate und wiederum — wäre das Wort nicht so zerbeult: ein Barock- 
mensch — dosiert er seine Gedanken. In keiner Bibliothek eines politischen Menschen sollte 
das Buch fehlen. Der „politische Mythos" ist ein endliches Loslösen vom utilitaristischen Starr- 
sinn. (Klagenfurter Zeitung) 

In der Durchleuchtung der Seele von Revolutionen spürt er mit unendlich scharfsinnigem 
und feinfühligem Geiste, geschult an den modernsten Methoden psychoanalytischer Forschung 
den inneren Ursachen und Antrieben von Massenbewegungen nach und findet in den Trägern 
dieser Umstürze geheime unbewußte Motive wirksam, die er geistreich bis zu den Keimzellen 
und Urformen zurückverfolgt . . . Eine besondere Verankerung im Gegenwärtigen erfahren seine 
Ergebnisse durch die Gegenüberstellung der beiden hauptsächlidisten Bestattungsarten: Begraben 
und Verbrennen. (Freie Stimmen) 



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Über die Herkunft der 

vegetationsJculte 



Internationaler 
Psycnoanalytiscner Verlag 

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