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Full text of "Der geschichtliche Jesus [microform] : mit einer Einführung Grundsätzliches zur Leben-Jesus-Forschung"

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NIELSEN / DER GESCHICHTLICHE JESUS 



DITLEF NIELSEN - -.- ,* '-, , 
v : M ' - ' ' 

DER GESCHICHTLICHE JESUS 

MIT EINER EINPtTHRUNG 

GRUNDSATZLICHES ZUR LEBEN- 

JESU-FORSCHUNG 




MIT ACHTUNDFtTNPZIG ABBILDUNGEN 



MEYER & JESSEN/MtTNCHEN/ 1928 




DEUTSCHE BEARBEITUNG VON 
HILDEBREGHT HOMMEL NACH DEM 
ERWEITERTEN DANISCHEN ORIGINAL 



ALLE RECHTE VORBEHALTEN 

COPYRIGHT 1928 BY MEYER & JESSEN, MttNCHEN 

DRUCK VON HERROSE & ZIEMSEN, WITTENBERG 

PRINTED IN GERMANY 



INHALTSVERZEICHNIS 

SEITE 
GRUNDSATZLICHES ZUR LEBEN-JESU-FORSGHUNG . VII 

RELIGION UND KULTUR 1 

EINE NEUE REFORMATION 9 

BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 21 

DIE EVANGELIEN UND DAS. EVANGELIUM ... 24 

HAT JESUS EXISTIERT? 27 

DIE ERSTE BIBEL UND DAS ALTESTE EVANGE- 
LIUM . . .' 32 

ZWEI RELIGIONEN IM NEUEN TESTAMENT . . 59 

LIGHT VOM OSTEN 46 

DIE JUDEN 50 

DIE BABYLONISCHE KULTUR 54 

DIE ALTE RELIGION VORDERASIENS 59 

FRIEDE AUF ERDEN 70 

JUSUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT .... 78 

DIE JUNGFRAUENGEBURT 101 

JESU GEBURT Ill 

JOSEPH DER MAURER / JESU VATER 120 

DIE KINDHEIT JESU . 129 

DIE JUGEND JESU 140 

JOHANNES DER TAUFER 142, 

JESU RELIGION 154 

DAS NEUE GLAUBENSBEKENNTNIS 167 

DIE NEUE SUNDENVERGEBUNG 172 

JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT .... 179 

HEIMATLOS! . . 185 

IN DER FESTEN BURG DES FEINDES 208 

LEBEN ODER TOD? 215 

DIE PERSONLICHKEIT JESU 226 

VERZEICHNIS DER TAFELN 237 



GRUNDSATZLICHES 
ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

n lch harm, Gott TiaV Lob, als ein 
Unparteiischer, Ungefangener einen 
jeden lesen und -bin keiner Sekt oder 
Menschen auf Erden also gefangen, 
da/3 mir nit zugleich alle Frommen 
von Herzen gef alien . . . und tin des 
Irrens und Fehlgreifens an alien 
Menschen so gewohnt, daJ3 ich keinen 
Menschen auf Erden darum haJ3, 
sondem mich selbs, mein Elend und 
Rendition in ihnen bewein, erkenn, 
siehe. K Sebastian Franck, Geschichts- 
bibel 



DER gewesenen Wirklichkeit stehen wir frei gegen- 
uber. DaB es eimnal so und so gewesen 1st, ver- 
pflichtet uns nicht mehr, einen moglichst ahnlichen 
Zustand herzustellen. Hoffnungslosigkeit oder Mangel 
an Furcht sind an dieser Abkehr nicht schuld. Unsere 
voile Klarheit uber die Grenzen der Wiedergabe des 
Wirklichen, der sogenannten historischen Treue, die 
Fragwiirdigkeit unserer Krafte zu sehen und darzustel- 
len, wie es eigentlich gewesen ist, haben die echte lau- 
tere Geschichtsforschung nur in sich festigen konnen 
und eine klare Situation geschaff en. 
Dieser unbeeinflufibaren, voraussetzungslosen, kriti- 
schen Geschichtsforschung gehort das Buch des aus- 
gezeichneten danischen Gelehrten Ditlef Nielsen in 
seinem Hauptteil an. Die streng wissenschaftliche Hal- 
tung der folgenden Blatter spricht fiir sich selbst und 
verteidigt sich an keiner Stelle gegen fremde Wege, 



VIII ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

den historischen Jesus zu vergegenwartigen. Fremde 
Wege, das sind theologische und geschichtsphilosophi- 
sche Vorbehalte, die den Zugang zu den eindeutig er- 
kennbaren Hergangen, die sich an einem bestimmten 
Ort und zu einer bestimmten Zeit ereignet haben,tyran- 
nisch oder dialektisch abriegeln. Von drei Seiten kommt 
heute diese Absperrung in der Hauptsache, nachdem 
neunzehn Jahrhunderte ohne Unterbrechung an einer 
bewufiten oder unbewufiten Verdunkelung des Tatbe- 
standes, an seiner Unkenntlichmachung gearbeitet ha- 
ben. Das Neue Testament*, d. h. die Vereinigung der 
darin enthaltenen 27 Schriften zu einem untrennbaren 
und unantastbaren Ganzen, war ein Werk des prakti- 
schen Interesses der altchristlichen Gemeinde und hat 
die wirklicben Vorgange, den geschichtlichen Ursprung 
und den Sinn der einzelnen Dokumente und Schriften, 
von Anfang an gleich am wirksamsten verwischt und 
entstellt. Erst in den letzten 150 Jahren haben dann 
Generationen von Philologen, Historikern und Theolo- 
gen aller Zungen mit einer beispiellosen Hingabe an 
die Sache der wissenschaftlichen Wahrheit (in ihrer 
Unentwegtheit, ihrem bohrenden Spiirsinn und in ihrer 
Beharrlichkeit nur dem echt religiosen Impulse selbst 
vergleichbar), unter der uber den eigentlichen Her- 
gangen lagernden Schicht von Dogmen, Denkgewohn- 
heiten, elementaren Mythenbildungen, kurz, unter einer 
Schicht aller erdenklichen Arten lichtfernhaltender 
Glaubensvorstellungen und Wiinsche, die noch erkenn- 
baren Spuren wirklicher Ursprunge auf gedeckt und be- 
schrieben. Von drei Seiten hauptsachlich aber kommt, 
wie angedeutet, gerade heute wieder Verdunkelungs- 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG IX 

gefahr. Da sind zuerst die Geschichtsphilosophen und 
tiefsinnigen Deuter der Geschichte, die Verachter des 
Historismus zugunsten einer hoheren Wahrheit, 
die mit priesterlicher Haltung und in f eierlich getrage- 
her Tonart anspruchslose Feststellungen philologi- 
scher oder historischer Art beiseite schieben, um die 
angeblichen echten seelischen Gehalte, das Lebens- 
gefiihl einer Zeit geistesgeschichtlich zu zelebrieren, 
das heiflt subjektive Erlebnisse und private Gefiihle 
zur Schau tragen, als wirksame Geschichte hinstellen 
und oft in wunderschoner Rede historischen Feststel- 
lungen aus dem Wege gehen. Helmut Berve, der junge 
Althistoriker, dessen hinreifiender Versuch einer Ent- 
wicklung des Lebens Alexanders des Grofien (Die An- 
tike, Bd. Ill, 1927, S. 128ff.) unvergessen bleibt, hat mit 
dieser Richtung im Jahr 1926 (Gnomon, 2. Bd., Heft 8, 
S. 455 f.) abgerechnet. 

Die starksten Worte gegen die gedeutete Geschichte, 
also gegen die nicht einfach schlicht anerkannte, hat 
Friedrich Gogarten (besonders in seinem Buch Ich 
glaube an den dreieinigen Gott) gebraucht, aber von 
einem ganz anderen Standort aus und zu einem ganz 
anderen Zweck als etwa Berve. Diese Sucht nach Ge- 
schichtsphilosophie, die als Pest nachgerade unser heu- 
tiges geistiges Leben vergif tet und es verf aulen lafit und 
die die Geschichte zu einem Spiel der Geistreichigkeit 
macht, ist der eigentliche Ausdruck fur die tiefe Gott- 
losigkeit, die das heutige Tun und Denken auch da be- 
herrscht, wo man ihr mit ernstester Gedankenarbeit 
und Geschichtsdeutung beizukommen sucht (Gogarten 
in dem zitierten Buch S. 181). Diese Geschichtsfeind- 



X ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

lichkeit uberschlagt sich in der Tat heute derart, daB 
man den Geist schlechthin als gegenlebiges Prinzip 
zu enthiillen unternommen hat (Theodor Lessing, Ge- 
schichte als Sinngebung des Sinnlosen, 4. Aufl., Leip- 
zig 1927, S. 206 f.). Vor lauter erkenntniskritischen Pur- 
zelbaumen, tiefsinnigen Spiegelfechtereien uber die 
wirksame Geschichte, iiber die Mythe, die angeblich 
die hohere Wahrheit darstelle, vor lauter Schwierig- 
keit, das Verhaltnis der drei Spharen Leben, Wirk- 
lichkeit und Wahrheit zueinander zu klaren, ist man 
vor der freilich unendlich entsagungsvolleren Arbeit 
der Klarung des Quellentatbestandes und der einfachen 
Darstellung des historisch Erkennbaren in gefahrlicher 
Weise abgekommen. 

Gogartens eigene Gedanken und die der Verfechter der 
Einzigartigkeit der Christusoffenbarung (ich meine 
darunter auch Barth, Thurneysen, Peterson, Brunner) 
bedeuten aber trotz der Treffsicherheit der Angriffe 
, .gegen die gedeutete Geschichte die zweite grofie jge- 
^ genwarti^e Verdunkelun^sgefahr fur die Erkenntnis 
des wirklich Gewesenen in den Urspriingen des Ghri- 
stentums, namentlich des Lebens von Jesus. Gogarten 
und die Neubegriinder des christlichen Offenbarungs- 
begriff s wenden sich namlich nur deshalb dagegen, daB 
die historische Realitat, das wahre einfache Perf ektum, 
von den Geschichtsphilosophen in Frage gestellt wird, 
weil damit auch die Realitat der Offenbi 



Geoffenbarten fragwurdig gemacht wird. Das wahrhaf t 
Geschichtliche ist fur Gogarten das grundsatzlich Un- 
erkennbare und lediglich Anzuerkennende; die gesamte 
neuere Geschichtsforschung Hegel-Rankescher Prove- 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XI 

nienz wird auf das Entschiedenste abgelehnt und die 
Forderung deutungsloser Verantwortung erhoben. 
Der moderne Geschichtsforscher betrachte die Ge- 
schichte nur als ein Werden zu sich her; alles was vor 
ihm da war, erscheine ihm blofi als der Weg zu seiner 
eigenen Vervollkonunnung, als Ich-Werdung, als Zu- 
sich-selbst-Konunen des Geistes im menschlichen 
BewuBtsein und sei fur ihn somit wert- und bedeu- 
tungslos, weil es nicht mit irgendwelchem Anspruch an 
das Jetzt-Ich an ihn herantreten konne. Davon mache 
nicht einmal die christliche Religionsgeschichte in ihrer 
heutigen Gestalt eine Ausnahme, weil auch sie die Ver- 
gangenheit aus der Isolierung des subjektiven Geistes 
gestalte. Fur Gogarten ist der Inhalt der neutestament- 
lichen Schriften die Erlosertat Christi, und diese Er- 
losertat besteht wiederum in der Diirchbrechung des 
Ichpanzers, in der Aufhebung der bloBen Immanenz. 
Die moderne Geschichtsforschung aber gebe nur das 
Vergangenheitsbild, das der eingekapselte Mensch 
sehen will, der heutige Historiker sei deshalb der Anti- 
christ, der Jesushenker. Indem er das Einst zum Jetzt 
in Beziehung setzt, statt umgekehrt die Realitat des 
historisch Gewesenen schlicht anzuerkennen, tilgt er 
das Du aus der Geschichte, das heiBt tilgt er Jesus aus. 
Auch Emil Brunner erkennt dem modernen Historiker 
den Titel christlich im Sinne des klassischen Christen- 
tums ab, weil er von einem allgemeinen Begriff der 
Religion (und damit der Offenbarung) ausgeht und ihm 
die Ghristus-Offenbarung nur eine spezifische, inter- 
essante Aufierung des Religiosen sei. Gogarten und die 
ihm folgen haben nur leider nicht gesehen, daB, wie 



XII ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

ihnen ein Kritiker (Erwin Reisner Zwischen den Zei- 
ten, 6. Jahrg. 1928, S. 1261) entgegengehalten hat, mit 
dem meinetwegen anerkannten Verbot, das Du 
und die historische Realitat zu deuten, doch logischer- 
weise nicht auch die Deutung der Geschichtlichkeit, das 
heiflt der Zeitlichkeit und der mit ihr gegebenen Her- 
abminderung des Du durch das Ich und endlich dieses 
Ichs selbst verboten sei. Aber die kurze trockene Fest- 
stellung dieser Herabminderung geniigt dem Histo- 
riker, er geht alsbald an die wirkliche Arbeit. 
Der orthodoxen Anschauung von Friedrich Gogarten, 
Emil Brunner, Karl Barth ist am tapfersten und ehr- 
lichsten Hugo Grefimann, der unlangst verstorbene Ber- 
liner Vertreter der ^Ittestamentlichen Wissenschaft, 
entgegengetreten (Christliche Welt 1927, Nr. 21 
Sp. 1050 ff.). Er hat wiedef den Mut gehabt, eindeutig 
zu erklaren, dafl die Methode der Geschichtsforschung 
und der wissenschaftlichen Quellenexegese immer die- 
selbe bleiben muB, ob es sich nun um die Erklarung 
des Alten oder JNeuen Testaments oder um die der Ve- 
den, des Avestas, des Korans oder der Germania des 
Tacitus handelt; denn uberall sei der Exegese dieser 
Urkunden dieselbe Aufgabe gestellt, namlich aus den 
uberlieferten Schriftwerken die Tatsachen festzustel- 
len, die wirklich gewesen sind, oder die Gedanken her- 
auszuarbeiten, die die Verfasser gedacht haben. Wer 
wie Barth den Romerbrief auslegt, indem er mit Be- 
wufitsein von den religiosen Bedurfnissen des gegen- 
wartigen Menschen ausgeht und auf die Gegenwart 
wirken will, der lehrt uns nicht den Paulus kennen, 
wie er wirklich war, sondern den Paulus, wie er nach 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XIII 

Barth hatte sein miissen, der macht aus einem Brief 
des Paulusjm^ die Homer einen Brief Earths an seine 
Gemeinde. Diese Art der Auslegung ist, vom Stand- 
punkt der wissenschaftlichen Exegese aus betrachtet, 
cine Falschung derGeschichte. Das ist das erlosende 
Wort. Hier ist uns kein Wort zu scharf, fahrt Grefi- 
mann fort (und seine folgenden Worte diirfen auch 
dem aufklarenden ja aufklarenden Buch von 
Nielsen vorangestellt werden): Hier miissen wir im 
sittlichen Zorn reden uber eine Art von Theologie, die 
das Wesenjier geschichtlichen Wissenschaf t vollig ver- 
kermt. Die Frage Was ist Theologie? soil hier nicht 
von neuem angeschnitten werden. Nichts bringt so weit 
ab von der Erkenntnis der Vorgange um das Leben 
von Jesus als die dialektischen Streitigkeiten dariiber, 
wer der wahre Dialektiker sei, Streitigkeiten, uber die 
der Jesuit Erich Przywara am souveransten und klar- 
sten berichtet hat (Neue Theologie? in den Stimmen 
der Zeit, Jahrg. 1925/26, Heft XI, S. 348 ff.). Erik Peter- 
son, der Bonner evangelische Theologe, hat in seiner 
der eben erwahnten Frage gewidmeten Schrift den Satz 
aufgestellt: Wenn etwas gegen einen Theologen miC- 
trauisch machen kann und mag es sich dabei selbst 
um Luther handeln , dann ist es die GroBe seiner 
schriftstellerischen und seiner sprachlichen Leistung. 
Peterson hat gleichzeitig durch seine historisch-phi- 
lologischen Arbeiten (besonders EI2 6E02 Gottingen 
1926), nachhaltig dafiir gesorgt, daB sich sein Satz nicht 
gegen ihn selbst kehrt. Die grofite Verdunkelungsgefahr 
gegenuber der Frage, was es eigentlich um Jesus ge- 
wesen ist, kommt jedenfalls von den heutigen theolo- 



XIV ZUn LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

gischen Schriftstellern der Richtung Earth, Brunner, 
Gogarten. 

Nicht verschwiegen werden endlich darf aber auch die 
dritte Art t wie der historischen Wahrheit der Weg ver- 
sperrt wird, und zwar von der historischen Theologie 
selbst, oder wie sie auch genannt wird von der prote- 
stantischen liberalen Theologies die von der ebenange- 
deuteten orthodoxen Richtung so wuchtig als der Anti- 
christ und Jesushenker verworfen wird. In Albert 
Schweitzers, des groften Gelehrten und vorbildlichen, 
liebenswerten Menschen, Geschichte der Leben- Jesu- 
Forschung (1913) sind die nicht zu verkleinernden 
bahnbrechenden Verdienste der liberalen historischen 
Theologie aller Schattierungen um die historische For- 
schung gesanunelt und beschrieben; davon kann hier 
nicht wieder im einzelnen die Rede sein. Diese Ver- 
dienste um die reine Geschichtswissenschaf t seien un- 
widersprochen. Schweitzer hat es einfach und klar ge- 
sagt, als er zum SchluB uber den Ertrag der Leben- 
Jesu-Forschung die Summe zieht: Diejenigen, welche 
gern von negativer Theologie reden, haben es nicht 
schwer. Es ^ibt nichts Neffativeres als das Ergebnis 
der Leben-Jesu-Forschung. Per Jesus von Nazareth, 
der als Messias auftrat, die Sittlichkeit des Gottesreiches 
verkundete, das Himmelreich auf Erden griindete und 
starb, um seuiem Werke die Weihe zu geben, hat nie 
existiert. Es ist eine Gestalt, die vom Rationalismus 
entworfen, vom Liberalismus belebt und von der mo- 
dernen Theologie mit geschichtlicher Wissenschaft 
uberkleidet wurde. Dieses Bild ist nicht von auCen zer- 
stort worden, sondern in sich selbst zusammengefallen, 



ZUR LBBEN-JESU-FORSCHUNG XV 

erschiittert und gespalten durch die tatsachlichen histo- 
rischen Probleme, die eines nach dem andern auftauch- 
ten. Infolgedessen bleibt bei Schweitzer der Weisheit 
SchluB: Die historische Erkenntnis muC zum Argernis 
fur die Religion werden. Nur die von ihrem Zeit- 
boden geloste Christusidee, der Geist Jesu. wird die 
Welt uberwinden. Damit stehen wir unmittelbar vor 
dem Schauspiel eines immer wiederkehrenden Salto 
mortale, den man in jedem liberal-theologischen Le- 
ben Jesu beobachten kann: Der gemaJBigt konservative 
Flugel genau so wie die extreme Richtung mit ihren 
bis zur Unertraglichkeit psychologisierenden Neigun- 
gen legen zuerst ruhig und besonnen in umf angreichen, 
umstandlichen wissenschaftlichen Kapiteln von erheb- 
lichem Niveau nach strenger kritischer Methode (nicht 
anders wie bei der Exegese sonstiger Literaturdenk- 
maler der Antike) die Quellen des Lebens Jesu ausein- 
ander und kommen schliefilich zu dem Ergebnis, das 
schon vor 54 Jahren in der Habilitations-These Har- 
nacks (1874) in funf Worten formuliert war: Vita Jesu. 
Christi scribi nequit. Und dann kommt der Salto mor- 
tale; Die wissenschaftliche Geschichtsforschung fuhrt, 
wie bewiesen wurde, nicht weiter; also liegt ein abge- 
steckter Bezirk fiir den Glauben vor; das Versagen der 
Geschichtswissenschaft schafft Raum dem Dogma, dem 
theologischen Raisonement ubeiTdie tJbernaturlich- 
keit oder t?bergeschichtlichkeit des historisch nicht 
Erkennbaren. Bei den radikalen Zerstorern des dogma- 
tischen Jesus-Glaubens aus dem Lager der protestan- 
tischen liberalen Theologie, den Verfassern der reli- 
gionsgeschichtlichen Volksbiicher (Bousset Wrede 



XVI ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

Julicher Wernle Holtzmann), fallt der Salto 
mortale in die Kirchenfrommigkeit etwas anders aus. 
Im Grunde sammeln aber auch die Anhanger dieser 
Auffassung apologetische Feigen von skeptischen Di- 
steln, wie Harnack resigniert in Anlehnung an den 
Satz des Evangeliums (Matth. 7, 16 und Luk. 6, 44) ge- 
sagt hat. Der Glaube verliere durch das Aufgeben des 
Dogmas nichts, beschwichtigen sich die Verfasser der 
Volksbiicher selbst. Das Geheimnis der Person Jesu 
hangt jiicht an der Art ihrer auBeren Entstehun^, 
sagt Wilhelm Bousset in seinem 3esus (3. Aufl., 21. 
bis 30. Tausend! Tubingen 1907, S. 3). Und weiter: Ja, 
die ersten Kapitel des Lukas werden uns in ihrer wun- 
dervollen Schonheit und Poesie erst recht wertvoll und 
hochbedeutsam, wenn wir sie als Legende betrachten. 
Nach einem kargen, sachlichen Bericht iiber die trber- 
lieferung und ihre Widerspriiche, der freie und grofie 
Satz (S. 10 im gleichen Volksbuch): Man wkd daher 
gut tun, alien Versuchen eines ,Lebens' oder einer ,Ge- 
schichte' Jesu den Abschied zu geben. Dann wieder, 
nachdem die meisten Erzahlungen der Evangelien uber 
das Leben des Jesus als ungeschichtlich, legendar und 
post festum gedichtet, mit sauberen, unwiderleglichen 
Methoden erwiesen sind, der kleinlaute Zuspruch: Sie 
(die Erzahlungen) sind ein schimmernder Kranz, den 
der dichtende Gemeindeglauben Jesu aufs Haupt ge- 
setzt und tragen so ihren Wert fiir alle Zeiten in sich 
selbst Das tun auch die Marchen aus 1001 Nacht. Der 
Verfasser des Markus-Evangeliums wird sogar vor- 
wurfsvoll geriigt (S. 20): Es kann nichts verkehrter 
sein, als wenn der Evangelist Markus und ihm folgend 



ZURLEBEN'JESU'FORSGHWG XVE 

V 

die ahderen Evangelien, das Urteil fallt, Jesus babe 
seine Gleichnisse zuin Zwecke der Verstockung des 
Volkes gesprochen. Das : sei dogmatische Weisheit 
einer spateren Zeit, die nichts tauge. Jetzt wird ver- 
standlichTwaruiJi von denlnodernen dialektischen 
evangelischen Theologen (besonders Gogarten) Bousset 
und seinesgleichen, Wellhausen und Troeltsch, dieHen- 
ker Jesu genannt werden. In Wahrheit sind Bousset, 
Wrede, Jiilicher, Wernle, Holtzmann, die Verfasser der 
VolksMcher, ebenso wie Wellhausen, der grofieKenner 
beider Testamente und epochemachendeArabist, ferner 
Ernst Troeltsch, dessen Name nur mit der groCten Ehr- 
furcht ausgesprochen werden sollte, lautere, ehrliche, 
tapfere Kampfer, deren grofie Gelehrsamkeit und intel- 
lektuelleRedlichkeit im Streit liegt mit ihremGhristen- 
tum. Das Kapitel Die Glaubensbedeutung Jesu in 
Troeltschs herrlicher, uniibertroffener Glaubenslehre 
(Miinchen 1925, S. 100117) wiegt ein Dutzend der mo- 
dernen antihistorischen Dogmatik-Biicher der oben 
charakterisierten Offenbarungsprotestanten auf. Trotz- 
dem bleiben auch diese so vielgelasterten historischen 
Theologen Verdunkler der einzigen historischen Wahr- 
heit, denn sie erklaren in einem Atem: Die Abweisung 
der rein geschichtlichen Forschung soil und darf nicht 
dem Traditionalismus und Dogmatismus dienen 
Unhistorisches und was gesicherternaturwissenschaft- 
licher Erkenntnis zuwiderlauft, kann auch der Glaube 
nichthinnehmen; andererseits: Ghristus istundbleibt 
dasGeheimnisGottes, in welchem alleSchatzeder Weis- 
heit und Erkenntnis verborgen sind. Mit solchem 
Doppelgesicht darf man keine religionsgeschichtlichen 

Nielsen, Der geschichtliche Jesus II 



XVIH ZUR LEBEN-JESU-FORSCHVNG 

Volksbucher schreiben, well der vertrauende, unge- 
lehrte Leser auf die Weise verwirrt und geblendet wird. 
Man kann noch weniger, wie es Friedrich LoofsWer_ 
war Jesus Ghrlstus. 2. Aufl.. Halle 1922) oderMartin 
Kahler (Der sogenannte historische Jesus und der ge- 
schiehtliche biblische Christus, 2. Aufl., Photomechan. 
Druck, Leipzig 1928) tun, vor sich selber die Annahme 
eines notwendig bedingten und jeder Zufalligkeit ent- 
hobenen Geschicbtsablaufes, also die Forderung nach 
deutungsloser Hinwendung zur Realitat des dogmati- 
schen Jesus Christus, in aller Strenge obne Hintertiir 
und Dialektik hinstellen und sich nichts davon erlassen 
und gleichzeitig sich der kritischen Methode des mo- 
dernen Geschichtsforschers nicht enthalten. 
Und damit kommen wir zu der besonderen Bedeutung 
von Ditlef Nielsens Jesus-Bild. Was hier der hervor- 
ragende Kopenhagener Gelehrte, der Herausgeber des 
groften internationalen Handbuches der altarabischen 
Altertumskunde, der Verfasser weithin anerkannter 
Arbeiten auf dem Gebiet der vergleichenden Religions- 
geschichte, der Arabistik und Assyriologie uns gibt, 
ist in den Einzelheiten nichts Neues, als Games jedoch 
ein neues und souveranes Bild^dessen, was wir^lich 
unverruckbar gewesen ist und ein dicker Strich durch 
gezwungene Wahrheitsverrenkungen auf der einen 
Seite und durch langweilige Vermenschlichungen 
des Ghristuslebens und auf den Sand gebauter fliich- 
tiger, psYchologisierender, sentimentaler und ratio- 
naler Evangelienharmonien a la Frenssen oder Lud- 
wig. Das Nielsensche Jesusbuch ist in den skandhia- 
vischen Landern langst stark verbreitet und genieCt 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XIX 

Ji 

das hohe Ansehen eines Volksbuches. Nielsen erliegt 
den oben beschriebenen Gefahren der Verschleierung 
und Zweideutigkeit in keinem Augenblick. Er stellt das 
historische Problem Jesus mitten hinein in das groJBe 
Forschungsgebiet vom Alten Qrient Ti entlastet die 
fliefiende, quellende Darstellung von allem gelehrten 
Apparat und legt im letzte'n Teil die Fesseln der reinen 
Forschung ab, deutet das Wirken Jesus als neue Gesell- 
schaftslehre, als Lehre und Forderung der Bruderlich- 
keit. als das Ggsetz^der Liebe gegendas Gesetz der 

Macht. 

Diese letzten deutenden und Menschlichkeit fordern- 
den Teile des Buches gehoren nicht mehr der wissen- 
schaftlichen Forschung an. Denn die nach den Quellen 
moglichen Handlungen und Worte Jesu tragen keinen 
innerweltlicben Sinn in sich. Martin Dibelius (Ge- 
schichtliche und ubergeschichtliche Religion im Chri- 
stentum,G6ttingen 1925) hat zuletzt diesen wahren Gha- 
rakter der Predigt Jesu eindringlich und schlussig nach- 
gewiesen (besonders S. 40ff . (1). In Wahrheit hat Jesus 
jLuf^allen Umbau der Welt verzichtet. Der apokalyp-A 
tische Glaube an das umnittelbar bevbrstehende Welt- \ 
ende lieC ihn religiose, politische oder gesellschaftliche 
Einrichtungen dieser Welt ganz gleichgiiltig ansehen. 
Nicht irgendwelche ethische Praxis noch in dieser 
Welt durchzusetzen, war seine Absicht. Es lag ihm 
nur daran, durch das Gebot dieses oder jenes Verbal- 
tens dem Menschen zu der bei der Weltwende notwen- 



(1) Wilhelm Michaelis, Taufer, Jesus, TJrgemeinde (Neutest. 
Forsclmngen II, 3; 1928) fuhit jetzt diesen Beweis von Dibelius 
mit neuen Beobachtungen durch. 

II* 



XX ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

digen inneren Haltung zu helfen. Angesichts der 
kosmischen Entscheidung fragt man nicht: was ist not 
fiir Welt, Volk und Gesellschaft, damit dieser oder jener 
Zweck erreicht werde? Es ist im wahrsten Sinne des 
Wortes nur eines not: zu wissen, was ich sein soil 
(nicht: was ich geleistet haben soil), wenn die Ewig- 
keit hereinbricht. Die Gebote fiir das menschliche Ver- 
halten in der alten Welt nicht mehr durchzufiihren, 
in der neuen Welt unnotig umschreiben nur eine 
menschliche Haltung; was aussah wie zweckbedingte 
Ethik, ist unbedingtes Ethos ein neues Sein im An- 
gesicht des Reiches, in der von alien Bedingtheiten frei- 
en Atmosphare der Ewigkeit, in der Nahe des in die 
Welt hereintretenden Gottes (Dibelius, S. 45). Also 
Jesu Wort oder Tat hatte gar keinen innerweltlichen 
Zweck. Jesu Hilfe dringt gar nicht bis an die Wurzel 
der sozialen Schaden; er fordert weder Fiirsorge fiir 
Kranke noch Beschaftigung fiir Bettler^ioch auskomm- 
liche Bezahlung fiir Lohnarbeiter, er redet nicht von 
wirtschaftlichen und kulturellen Mangeln, nicht von 
schlechten Wohnungen und schlechten StraBen, nicht 
von der Deklassierung ganzer Berufe wie der Zollner, 
nicht von der unfruchtbaren Haufung des Kapitals 
(Dibelius, S. 48). Die Lehre des historischen Jesus ist 
keine soziale Botschaft; die Forderung nach Ausgleich 
der Klassenunterschiede, nach Weltfrieden undKinder- 
fiirsorge, nach Losung der Frauenfrage und Abschaf- 
fung der Sklaverei ist von Jesus nicht erhoben worden. 
Der Geschichtswissenschaft gehoren somit die letzten 
Teile unseres Buches nicht mehr an^schon nicht mehr 
der Teil iiber das neue GlaubensbekenrifmsT<. Darum 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XXI 

brauchte sich unser Autor bei seinem Urteil uber das 
Vaterunser weder mil den an dieses iibergeschicht- 
liche Urteil nicht ruhrenden Erlauterungen aus Tal- 
mud und Midrasch zu Matth. 6, 9ff. (Strack-Billerbeck, 
Kommentar zmn Neuen Testament aus Talmud und 
Midrasch, Bd. I, S. 406 ff.) noch mit den Ausfiihrungen 
von Dibelius (in dem angefiihrten Buch S. 66 68) liber 
das Vaterunser auseinandersetzen. 
Da aber der Verfasser selbst entscheidenden Nachdruck 
auf die geschichtswissenschaftliche, namentlich reli- 
gionsgeschichtliche Gewichtigkeit seines Jesus-Buches 
legt und auch der deutsche Verleger dieses Buch der 
Off entlichkeit vorlegt aus der tfberzeugung heraus, eine 
wirklich spiirbare Liicke unseres landlaufigen Bildes 
uber den historischen Jesus zu schlieCen (nicht eine 
Liicke der gelehrten Forschung), seien hier zur Er- 
ganzung und ZMT leichteren Moglichkeit des Weiter- 
gehens auf den wissenschaftlichen Wegen, zu denen 
Nielsen einen allgemeinen Zugang 6'ffnen will, die mo- 
dernsten Grundwerke kurz genannt, die die Richtigkeit 
der groJBziigigen Anlage unseres vorliegenden Buches 
zeigen und die mit dazu beizutragen berufen sind, der 
uber alles~erEabenen Wahrheit und den edlen Absich- 
ten des Verfassers den Weg zu bahnen. Mehr als eine 
zwanglose Fplge der wir.h^jjgstp.n Literatur ^hne das 



Streben annahernder Vollstandigkeit soil hn folgenderi" 
nicht gegeben werden. Die vorderasiatische Sprach- 
und Altertumswissenschaft, die Kultur des alten 
Orients, in die der Verfasser so gliicklich das Leben 
von Jesus hinemstellt, wird von den Werken zweier 
Altmeister gekront: Fritz Hommel, Ethnologic und 



XXII ZVR LEBEN-fESU-FORSCHUNG 

Geographic des Alten Orients; seit 1926 1st das uber 
1100 Seiten starke Werk innerhalb des Handbuchs der 
Alter turns wissenschaft gliicklich fertig geworden; und: 
Eduard Meuer. Geschichte des Alter turns, aus der Die 
Zeit der agyptischen GroBmacht (4. Aufl., Stuttgart 
1928) eben vollkommen neu gearbeitet erschienen 1st. 
Die beiden groBartigen Werke, die unmittelbar in den 
babjdonisch-assyrologischen Arbeitskreis einfuhren, 
sind: Bruno Meifiner, Babylonien und Assyrien, I. Bd. 
1920; II. Bd. 1925, und die der Vergleicbung der Kultur 
Israels mit den anderen Kulturen des vorderen Orients 
gewidmeten Altorientalischen Texte und Bilder zum 
Alten Testament*, herausgegeben von Hugo Grefimann 
(2 Bde., Berlin 1926/27), ein iiberwaltigendes Material, 
das in der Tat 3000 Jahre v. Chr. in das voile Licht ur- 
kundlicher Geschichte riickt. Dazu J. Benzinger, He- 
brdische Archdologie (3. Aufl., Leipzig 1927). 
In das neu entdeckte Licht vom Osten fuhrt vor allem 
Adolf Deipmanns gleichbetiteltes prachtvolles Werk 
(4. Aufl., Tubingen 1923) ein. Den Reichtum der ein- 
schlagigen Forschungen zeigen der zweite Abschnitt 
und Teile des dritten von Walter Ottos Kulturge- 
schichte des Altertums (Miinchen 1925). In die Umwelt 
des entstehenden Christentums und in die damit zu- 
sa m menhangenden grofien wissenschaftlichen Pro- 
bleme fiihren von mehreren Seiten ein: Eduard Meyer, 
Ursprting und Anfdnge des Christentums, 3 Bde. (Stutt- 
gart 1921/23) und natiirlich noch der unentbehrliche 
Schiirer: Geschichte des judischen Volkes im Zeitalter 
Jesu Christi (4. Aufl., Leipzig 1901 1909, 3 Bde. mit 
Reg.-Bd. 1911). Ferner: Otto Stahlin, Die hellenistisch- 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XXIII 

judische Literatur (Miinchen 1921, aus Christs Griechi- 
scher Literaturgeschichte, II. Tell, 1. Halfte, 6. Aufl.); 
Harnack, Mission und Ausbreitung des Christentums 
indenersten drei Jahrhunderten (2. und folgende Aufl., 
Leipzig 19061); Reitzenstein, Die hellenistischen Myste- 
rienreligonen (3. Aufl., Leipzig. 1927); Reitzenstein und 
Schaeder, Studien zum antiken Synkretismus (Leipzig 
1926); Paul Wendland, Die hellenistisch-romische Kul- 
tur in ihren Beziehungen zu Judentum und Christen- 
tum (2. Aufl., Tubingen 1912); Norden, Agnostos Theos 
Leipzig 1923; Wilhelm Bousset, Die Religion des Ju- 
dentums im spdthellenistischen Zeitalter (3. Aufl., neu 
herausgegeben von GreJBmann, Tubingen 1926); Wil- 
helm Weber, Der Prophet und sein Gott. Eine Studie 
zur vierten Ekloge Vergils (Leipzig 1925); Edgar Hen- 
necke, Neutestamentliche Apokryphen (2. Aufl., Tu- 
bingen 1924). J^^iidische Umwelt behandelt jetzt be- 
sonders eindnnglich Gerhard Kittel, Die Probleme des 
palastinischen Spatjudentums und das Urchristentum 
(Stuttgart 1926) und das vierbandige, schon kurz er- 
wahnte Monumentalwerk Strack-Billerbeck, Kommen- 
tar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch, 
Bd. I III (Munchen 1922/26), der IV. Band mit den 
Exkursen ist im Erscheinen. Dieser Kommentar be- 
endigt die Diskussion uber den jiidischen Anteil an der 
Ideenwelt des Neuen Testaments: Trotz der anti jiidi- 
schen Tendenzen in fast alien Biichern des Neuen T&- 
staments ist sein Geistjinverfalschter und echter iii- 
Geist. Joseph Klausners grofies hebraisch ge- 



schriebenes, in Jerusalem "gecfrucktes Werk liber Jesus 
von Nazai-eth (eine englische trbersetzung erschien 



XXIV ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

1925) ist mit dem ganzen Rustzeug moderner, nament- 
lich deutscher Forschung gearbeitet und bleibt, allge- 
mein von der Wissenschaft aller Lander anerkannt, 
mit Richtung gebend fiir unsere historische Er- 
kenntnis der wahren Vorgange um Jesu Leben und 
Streben; es zeigt nicht den Bruch der protestantischen 
historischen Theologie und gestaltet den Stoff iiber- 
legen, umsichtig und erschopf end. Ferner fur eineReihe 
von spezielleren Fragen wichtig: Die Bande von Lietz- 
manns Handbuch zum Neuen Testament, die bekann- 
ten Einleitungen in das Neue Testament, namentlich 
die neuen Auflagen der Kommentare zu den Schriften 
des Neuen Testaments, Aufhausers Textbuch Antike 
Jesus~Zeugnisse (2. Aufl., Bonn 1925), dann vor allem 
Flavius Josephus vom jiidischen Krieg, Buch I TV, 
nach der slavischen Ubersetzung deutsch herausgege- 
ben und mit dem griechischen Text^veralichen von 

^R^^^^^^^^v __ 

f Mag. theol. Alexander Berendts (jJorpat) und Dr. 
theol. Konrad Graf] (Dorpat) 2 Teile Dorpat 1924 27, 
dazu Robert Eisler, J Ir,oovQ Baailevc ov Baadsvaac (Re- 
ligionswissenschaftl. Bibliothek Bd. 9), Heidelberg 
1928 f.; dieses wichtige Werk beginnt eben in Liefe- 
rungen zu erscheinen. Endlich zur Erganzung Eduard 
Konig, Die messianischen Weissagungen des Alien 
Testaments (Stuttgart 1923). 

Diese etwa zwei Dutzend Grundwerke, ausschlieClich 
ganz groCe wissenschaftliche Leistungen von aner- 
kanntem Wert, sollen nur an die Schwelle der viel- 
maschigen und verwickelten Problemenkreise des hi- 
storischen Jesus heranf uhren, uno! zwar den Nichtge- 
lehrten, der sich nicht auf die Lektiire der Biicher der 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XXV 

Bibel beschranken und doch nicht obskuren Trak- 
taten oder einfaltiger moderner schongeistiger Litera- 
tur iiber Christus in die Hand fallen will. Ditlef Niel- 
sens neues Buch ist der beste Schutz dagegen. Die auf- 
gezahlten wissenschaftlichen Werke fuhren dann 
weiter. 

Die Grundlagen eines tieferen Studiums aber und einer 
selbstandigen Urteilsbildung iiber den gewaltigen Kom- 
plex religionswissenschaftlicher, historischer und 
archaologischer Fragen, die sich auf diesen Gebieten 
offnen, werden ausschliefilich durch strenge sprach- 
wissenschaftliche Schulung, vor allem auch durch das 
viele Jahre erfordernde Eindringen in die semitischen 
Sprachen (einschlieBlich der semitischen Sprache der 
Keilschrif tdenkmaler, des sog. Akkadischen) gewonnen, 
wozu jetzt Gotthelf Bergstrassers Einfiihrung in die 
semitischen Sprachen (Sprachproben und gramrnati- 

^^^^^^M|^k 

sche SkizzenjBl^chen 1928, der beste zuverlassigste 
Wegweiser ist. 

Jesus Christus als Inhalt des Glaubens und als Teil ; 
der Religionssysteme der Kirchen mag an Wirkung , 
weiter dem geschichtlichen Jesus unendlich uberlegenj 
bleiben. Von dem dogmatischen Jesus war hier nicht 
zu sprechen. Wenn Theologen aber von dem histori- 
schen Jesus und den Urkunden reden, die sein Dasein 
bezeugen, so kann nur ein einziger Standpunkt als 
christlich gelten: Die Bibel, die Evangelien sind absolut ) 
irrtumslos, weil Gott ihr Urheber, absolut vollkommen ^ 
und irrtumslos ist. Wissenschaftliche Probleme und 
historische Schwierigkeiten sind damit im vornherein 
ausgeschaltet. Die katholische Lehre hat diese Haltung / 



XXVI ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG 

rein bewahrt. Die Dokumente dieser sehr verastelten 
Lehre sind von Christian Pesch in dem grofien Werk 
De inspirations scripturae sacrae, Freiburg 1906 (seit 
1926 erganzt durch ein Supplementum continens dis- 
putationes et decreta de inspiratione sacrae scripturae) 
gesammelt und erklart. Hier steht jeder Satz in seiner 
lateinischen lapidaren Form wie aus Granit gefiigt, 
gesichert vor Vernunfteinwanden, dreifach gepanzert 
gegen jede kritische wissenschaftliche Fragestellung. 
Wie zerzaust und zerbeult nimmt sich dagegen die 
protestantische Lehre von der gottlichen Wahrheit der 
Bibel aus! Wohl haben noch Luther, Zwingli, Calvin, 
ihre zeitgenossischen und spateren Anhanger die ab- 
solute Gottlichkeit und Irrtumslosigkeit der biblischen 
Schriften betont, da sie ja die reine Lehre wieder auf 
die Bibel zu griinden versuchten. Seit dem 18. Jahr- 
hundert begann dann der kritische Eyrijruch. Die Ver- 
suche, historische wissenschaftlicne^tmtik mit der 
Lehre von der Gottlichkeit der Bibel zu vereinigen, 
haben wir kennengelernt. Es existiert ein ans Herz 
greifendes, ziemlich unbeachtetes Dokument daruber, 
zu welchen unloslichen inneren Verwicklungen bei 
aufrechten, ehrlichen protestantischen Theologen die 
geschichtliche Theologie, namentlich die Lehrfacher 
der Kirchengeschichte und Religionsgeschichte, fiihren 
mufi. Es sind die schmerzenden Gedanken und fliich- 
tigen Anmerkungen zur modernen Theologie, die Carl 
Albrecht Bernoulli aus dem NachlaB keines Geringeren 
als Franz Overbecks un Jahre 1919 unter dem un- 
passenden Titel Ghristentum und Kultur herausge- 
geben hat. Verkorpert das machtige in jedem lateini- 



ZUR LEBEN-JESU-FORSCHUNG XXVII 

schen Satz hieb- und sticbfeste Werk von Pesch die 
katholische Lehre und ihre Konsequenz, so mag Over- 
beck fur die neuere protestantische von jedem Hauch 
der wissensehaftlichen Kritik bin und her gewehte 
Ansicht zeugen. Overbeck nimmt zum SchluB seiner 
nachgelassenen Aufzeichnungen die protestantischen 
Theologen von dem Vorwurf der Unredlichkeit und 
Heuchelei inSchutz; nur theologischeUnbildung kdnne 
einen solchen haClichen Vorwurf zeitigen. Waren 
sie (die einen solchen Vorwurf erheben) theologisch 
gebildeter, so besaBen sie Kenntnis von der unabseh- 
baren Reihe der Mittel, welche religios interessierte/ 
Menschen besitzen, um sich in ihren Illusionen zu er-U 
halten. Hier haben wir den Schliissel zu der son- 
derbaren Zwiespaltigkeit der modernen Leben-Jesu- 
Forschung. 

L. F. 



RELIGION UND KULTUR 



Es sind nicht die Dinge selbst, sondern 
dieDogmen herkommliche Meinun- 
gen liter die Dinge , die dieMensch- 
heit verwirren. Epiktetos 

DIE Religion macht den Adel des Menschen aus. 
Das Tier trottet stumpf dahin und stiert zuBoden, 
der Mensch hat seinen Blick zum Himmel, zu den Ster- 
nen erhoben. Mit zunehmender Kultur gewinnt der 
Glaube der Menschheit an einen Gott, an ein Leben 
nach dem Tode reinere und festere Gestalt. Dem Men- 
schengeschlecht auf seinem Pilgrimsweg dringt starker 
und starker die Musik des Himmels ans Ohr. 
Auf niederei^Wtestufe, wo der Eampf urns tagliche 
Brot des MereKH^Tiraft verzehrt, finden wir das erste 
schiichterne Aufkeimen religioser LebensauBerungen. 
Der Mensch kniet vor Sonne, Mond und Sternen, macht 
sich Gotterbilder von Stein und Holz und hegt die kind- 
lichen Vorstellungen vomWesen der Gottheit, die seiner 
primitiven Kultur entsprechen. Als geistige Lebens- 
macht spielt die Religion nur eine geringe oder docE 
unbewufite Rolle. Im. taglichen Leben ist Gott fern, nur 
an religiosen Festen oder wenn Gefahr droht, ruf t man 
ihn an. Die Hoffnung auf Unsterblichkeit ist gering 
oder schlaft noch ganz. 

Erst hoheren Kulturformen wird die Gottesidee zum 
Ideal, zum Leitstern, der uber dem Leben strahlt. Die 
Religion wird lebensmachtig, sie durchdringt den ein- 

Nielsen, Der gesehichtliche Jesua 1 



2 RELIGION UND KULTUR 

zelnen wie die Gesellschaft als eine gewaltige Kraft, die 
sich in der Geschichte offenbart. Kein menschlicher 
Trieb oder Gedanke, nicbt Wissenschaft, nicbt Kunst 
haben je solche Glut im Menschenherzen entziindet wie 
die Religion, die es vermocht hat, daB der Mensch sein 
eigenes Ich, seinen eigenen Vorteil beiseitesetzt, um 
sich fur fremdes Wohl zu opfern. Man denke an den 
langen Zug der Martyrer, die urn eine religiose Idee 
die Erde mit ihrem Blut genetzt haben. Man denke 
an jene grofien Massenbewegungen in der Geschichte, 
die Kreuzziige, die Reformationskriege usw. Bei jeder 
neuen Etappe auf dem Weg der Menschheit zu dem 
Licht, das von oben leuchtet, wird das religiose Ideal 
irgendwie und sei es auch noch so mangelhaft 
verwirklicht, als Realitat in Leben verwandelt, bis dann 
einmal plotzlich aus eines uberragenden Fuhrers Mund 
eine neue Losung durch die ReihejMSMind ruckartig 
die Entwicklung hoher fuhrt. 



Daher ist es ein Irrtum, wenn heutzutage manche 
Menschen meinen, dafl Religion nur bei niedrigeren 
Kulturen ihre Heimstatt habe und sich mit Fortschritt 
und Aufklarung nicht vereinbaren lieJBe. Es laBt sich 
leicht zeigen, woher diese Annahme riihrt, und es ist 
verstandlich, dafi sie gerade in unserer Zeit aufge- 
taucht ist. 

Massenreligion, auch Staats-oder Volksreligion, halt nie- 
mals gleichen Schritt mit der zunehmendenKultur. Der 
einzelne gottbegnadete Mensch, der grofie religiose Seher 



RELIGION UND KULTUR 3 

1st seiner Zeit oft um Jahrhunderte voraus, wahrend 
die Volksreligion in der Regel in manchen Dingen um 
Jahrtausende zuriick ist; denn sie halt ihrem innersten 
Wesen nach starr am Cfberlieferten fest. Auf anderen 
Gebieten pflegt das Neue das Alte abzulosen, in der 
Volksreligion dagegen bleibt das Alte fast stets neben 
dem Neuen bestehen. In beinahe alien Religionen fin- 
den sich Elemente aus langst entschwundenen Kultur- 
epochen, die moderner Weltanschauung und Aufkla- 
rung widerstreiten. Je mehr die Aufklarung wachst, 
desto fuhlbarer wird dieser Konflikt. Es kommt zur 
Disharmonie, zum Streit zwischenGlauben undWissen, 
zwischen Kultur und Religion. 

Solcher Perioden gibt es genug in der Geschichte der 
Religion. Sie enden in der Regel mit einer religiosen 
Revolution oder Reformation, die die alten trberreste 
wegfegt und em^Mue Religionsform schafft, die sich 
in besserer ura^^mimung mit dem Zeitgeist be- 
findet. 

Eine solche Zeit war, als das Christentum emporkam, 
und wir stehen nun mitten in einer ahnlichen. 
In Jesu Tagen waren die bestehenden Religionen mehr 
oder minder veraltet und bildeten in Griechenland und 
Rom den Gegenstand der Verachtung der gebildeten 
Stande. Man spottete hier bffen uber die vielen einfal- 
tigen Mythen in der Religion, ebenso wie moderne Gei- 
ster langst die Mythen unserer Religon oder ihre Dog- 
men (Jungfrauengeburt, Abendmahlslehre, Dreieinig- 
keit usw.) lacherlich gemacht haben. Daher brach das 
Alte rasch zusammen, das Christentum siegte iiberall. 



1* 



4 RELIGION UND KULTUR 

Augenblicklich stehen wir, wie gesagt, in einer ahn- 
lichen Periode. Eine Disharmonie, die deutlich un- 
serer Zeit ihren Stempel aufdriickt, ist eben diese stan- 
dig zunehmende Spannung zwischen Glauben und 
Wissen, zwischen der iiberlieferten kirchlichen Lehre 
und moderner Weltanschauung und Wissenschaft, na- 
mentlich moderner Naturwissenschaft und Bibelkritik. 
In den Religionsstunden lernen die Schulkinder bibli- 
sche Geschichten und kirchliche Lehren, die in schar^- 
fern Widerspruch zu dem stehen, was sie sich in der 
nachsten Stunde als sichere wissenschaftliche Resul- 
tate einpragen sollen. Der gleiche Zwiespalt bleibt auch 
dem Erwachsenen nicht erspart, wenn er sich spater 
auf eigene Faust im Dasein zu orientieren sucht. Wie- 
der steht da allzuoft Kirche gegen Wissenschaft, Panier 
gegen Panier. 

Kein Volk, kein Geschlecht irgen^wy^iat leben kon- 

eWBP^Ti 



nen ohne Religion. Drum gibt eTioch viele, die 
der Kultur ihrer Zeit zum Trotz nicht lassen konnen 
von ihrem Kinderglauben, mag sein Inhalt noch so 
sehr der modernen Wissenschaft widersprechen, mag 
er auch Ziige aufweisen, die andere Leute nurbelaeheln. 
Man halt sich eben an den alien festen Stab, der nun 
einmal jahrhundertelang die vor uns dahingegange- 
nen Geschlechter durchs Leben geleitet hat. Andere 
haben mit ihrem Kinderglauben alle Religion iiber- 
haupt iiberBord geworfen, leben ein Leben ohne eigent- 
liches Ziel, fahren dahin wie ein Schiffer ohne Kom- 
pafi, kommen deshalb aus dem Kurs und leiden Schiff- 
bruch. 
Die meisten Menschen fiihlen sich mehr und mehr 



RELIGION UND KVLTVR 5 

fremd in Gottes Haus. Es treibt sie vielleicht aus reli^ 
giosem Drang zur Kirche, aber sie konnen die Anf orde- 
rungen nicht erfiillen, die hier an sie gestellt werden. 
Sie konnen nicht glauben an einen dreieinigen Gott, 
der in drei Personen doch einer bleibt, an einen Gott, 
der auf Erden wandelt, aller Naturgesetze spottet und 
schliefilich zum Himmel auffahrt. Sie konnen nicht 
glauben an die Jungfrauengeburt oder an Brot und 
Wein, das sich zu Fleisch und Blut verwandelt. Die 
groBe Masse aber steht der Kirche gleiehgultig oder 
f eindlich gegemiber, der Kirche, die in alten Zeiten das 
geistige Leben vollstandig umfing und beherrschte. 



Einstens lag Friede und Einklang uber dem Dasein der 
Menschen. Da^fl^H^eltbild und die alte kirchliche 
Religion gabenn^5i Sicherheit und Geborgensein. 
Himmel und Gott waren ihnen naher. Wie ein schiitzen- 
des Dach war der Himmel uber die Erde gespannt und 
beriihrte sie am Horizont. Gott stieg hernieder zur Erde, 
und die Menschen fuhren auf gen Himmel. Hielt man 
sich nur zur Kirche, so war kein Grund zur Todes- 
furcht. Man ging dann ja im Tode nur ein in das oberste 
Stockwerk des Weltenbaues. Der Nachthimmel gab dem 
Herzen diese Zuversicht, die Sterne gruBten heriiber 
aus der jenseitigen Heimat. 

Nun ist das festeHimmelsgewolbe uber unserem Haupt 
zusammengesturzt, und wk starren mit Entsetzen hin- 
auf in den leeren Raum, in dem ungezahlte Himmels- 
korper in ihren ewigen Bahnen kreisen. Mit der Sicher- 



6 RELIGION VND KULTUR 

heit 1st es vorbei. Die Kirche kann uns nicht helfen. 
Wir fiihlen uns hilflos und unglucklich. Nie hat es den 
Menschen mehr zur Religion gedrangt als gerade in 
unserer Zeit. 

Die Naturwissenschaft hat in diesen Tagen Siege er- 
rungen wie nie zuvor. Sie hat uns einen neuen Himmel 
erschlossen mit vielen Wohnungen in Gestalt neuer 
himmlischer Welten, die z. T., wie man annahm, wirk- 
lich bewohnt seien, und hat so der alten Lehre der Re- 
ligion von einer himmlischen Welt ein neues Gesicht 
gegeben; aber was sie uns nicht gegeben hat und nie- 
mals wird geben konnen, ist eine neue Religion. Uns 
Heutige muB es frieren in dem elektrisch erleuchteten 
Palast der Naturwissenschaft. 




Heute, wo das alte kirchliche Wel^Rnmit seinen drei 
Geschossen Erde, Himmel und Holle gleichsam als 
ErdgeschoB, Boden und Keller geschwunden ist, gibt 
es schon aufierlichgarkeinenPlatz furdie entsprechende 
kirchliche Gottesdreiheit. Ist die Erde nicht mehr das 
Zentrum der Welt und existiert keine Holle oder Unter- 
welt, so ist kein Platz fur einen Gottessohn, dessen Er- 
losungswerk Erscheinen auf der Erde, Niederfahrt 
in die Unterwelt und Wiederkunft auf die Erde vom 
Himmel unaufloslich mit diesem falschen Weltbild 
verkniipft ist. Gibt es eine Unendlichkeit bewohnter 
Welten, so konnen wir nicht mehr an einen Gott oder 
Gottessohn glauben, der sich nur um eine Erde kum- 
mert, die blofi einen unendlich kleinen Bruchteil der 



RELIGION UND KULTUR 7 

Welt ausmacht, und ebensowenig konnen wir an einen 
Gott glauben, der nur ein auserwahltes Volk hat. 
Die Lehre der Kirche befindet sich in Widerspruch mit 
der modernen Wissenschaft und mit dem Kulturbe- 
wuBtsein der Zeit. Sie liegt in hoffmingslosem Streit 
mit unsern sittlichen und religiosen Vorstellungen, mit 
den besten und edelsten Gefiihlen in unserer Brust. 
Wir konnen nicht mehr glauben an einen personlichen 
Teufel als den ebenbiirtigen Widerpart des allmach- 
tigen und allgiitigen Gottes, an eine ewige Hollenpein, 
in der selbst kleine ungetaufte Kinder in Ewigkeit 
schmacbten sollen, oder an eine Menschennatur, die in 
ihrem innersten Wesen durch die Erbsunde vergiftet 
ist und daher unrettbar der Verdammnis anheimfallt. 
Fiir uns ist das Bose, dessen Bedeutung nicht uiiter- 
schatzt werden soil, nur die Folie des Guten, ein tieferer 
moralischer 2^rik^l, ein unvollkommenes Glied der 
Entwicklun^^^HRleicht notwendiges Stadium in der 
ewigen Wanderung der Menschbeit zum Licht. 
Ein noch grofierer Abstand trennt uns von jener kirch- 
lichen Auslegung von Jesu Tod als einem notwendigen 
Suhneopfer menschlicher Schuld, Bluttheologie kon- 
nen wir sie nennen. Es gab eine Zeit, da der Prie- 
ster ein blutbefleckter Schlachter war, da allenthalben 
Gottes Altare von Blut troffen. Nach dem barbarischen 
Gedankengang, der der Blutrache zugrunde liegt, muBte 
des Menschen Siinde mit Blut gesuhnt werden, mit 
schuldigem oder unschuldigem Blut. Der Priester sam- 
melte die Siinde gleichsam auf des Opfers Haupt, und 
so brachte man dem Gott, der wie ein blutdurstiger 
Tyrann seine Freude daran hatte, Tiere und Menschen 



8 RELIGION UND KULTUR 

kleine Kinder wie Erwachsene zum Opfer dar, 

um dadurch selbst frei von Strafe zu werden. So auch ] 

reinigt uns sagt der Priester Jesu Blut von aller | 

Schuld, denn er hat die Strafe auf sich genommen. Aber 1 

was hilft das mir und meiner religiosen Entwicklung | 

fragt verwundert der moderne Mensch , wenn ein J 
anderer fiir meine Siinde gestraft wird? 

Aus den dunkelstenZeiten der Religionsgeschichte end- 
lich, von den Kinderopfern der Phoniker und Hebraer, 
stammt die unmenschliche Sitte, daB ein Vater seinen 

'*5 

erstgeborenen Sohn opfert. Ebendies muBte nach der i 

Lehre der Kirche Gottvater tun, um die Menschen aus 1 

der Gewalt des Teufels und der Holle zu erlosen. ^ 

In all solcher Barbarei der Urzeit ist die erhabene Lie- ,! 

bes- und Friedensbotschaft des Ghristentums nach und < 

nach beinahe erstickt. Die Priesterschaft der Blut- < 

theologie segnet Kanonen und Gew&bA^id das Leben : 

der Menschen in den sogenannten cli^HTOien Staaten \ 

hat sich dementsprechend gestaltet. ; 



EINE NEU-E REFORMATION 



Des Christenvolkes Lebensfiihrung ist 
arger geworden derm der Heiden, well 
das Christentum selber verf'dlscht war- 
den ist. Tolstoi 

MAN hort darum von alien Seiten den Ruf : Das 
Christentum hat Bankroll gemacht, wir brauchen 
eine neue Religion! Ja, so meinte man vielfach auch 
in Luthers Tagen; aber als die Besten jener Zeit, weil 
sie in der Kirche heimatlos geworden waren, nach 
neuen religiosen Lebenswerten suchten, da zeigte sich, 
dafl esjuditjlasCM das Bankrottge- 

macEt hatte, sondern die Kirche. "~ r ~~~ 
Die Kirche hatt^yfcChristentum verfalscht. Als man 



in den Buchenr^pmsah, stimmte die Abrechnung 
nicht. Die Lehren, die damals die Kirche fiir den zen- 
tralen Inhalt des Christentums ausgab, die Stellung des 
Papstes als oberste Autoritat der Kirche, Marienkult, 
Heiligenverehrung, Fegfeuer, MeBopfer tmd AblaB, 
dies Dogmenwesen, an das aufgeklarte und religiose 
Menschen nicht glauben konnten, weil es gegen das 
KulturbewuBtsein der Zeit stritt, all das hatte es im 
Urchristentum nicht gegeben. Als im 16. Jahrhundert 
die Reformation kam, war es wie eine machtige geistige 
Befreiung. Die alte Kirche wankte, aber eine neue er- 
stand, es gab von nun an ein Christentum, das sich in 
reformierter, reinerer Form darbot. 
Ahnlich wird es im 20. Jahrhundert gehen. Die Alter- 



10 EINE NEVE REFORMATION 

tumswissenschaft hat Jesu Lehre und das Urchristen- 
tum in neues Licht geruckt. Aus dieser Richtung kann 
die Befreiung kommen. Es wird offenbar, dafi gerade 
die Dogmen, welche die Kirche als Ecksteine des 
Christenglaubens gelten lassen will: Dreieinigkeit, 
Jungfrauengeburt, die Lehre von Jesus als Gottes na- 
tiirlichem Sohn, seine den Naturgrenzen widerstreiten- 
den Wunder, der Tod des Gottessohnes als Suhnopfer 
menschlicher Schuld, die Bluttheologie und Abend- 
mahlslehre, daB all diese Lehren, welche die Menschen 
von heute nicht mehr anzunehmen imstande sind, sich 
ini Urchristentum gar nicht finden. 
Viele werden da das Gefuhl haben: so stiirzt denn alles 
zusammen; doch die Kirche wird weiterleben durch 
den echten, geschichtlichen Jesus und durch die Werte, 
die er in die Religion eingefuhrt hat, und die von jeher 
des Christentums innersten Keu^j^rnachten. Eine 
neue Kirche hat weiterbestanderSMWem Grund der 
Bibel, als die Papstdogmen gefallen waren, und wenn 
nun der Rest der Dogmen fallt, wird sie weiterleben 
in dem Jesus, wie er sich trotz aller Triibungen stets 
auf dem Grunde der Bibel finden lafit. 



Der Jesus, den die Kirche als ein gottliches Wesen hin- 
stellt, ist alhnahlich fur den gemeinen Mann zu einer 
seltsam ratselhaften Gestalt geworden, die ein mysti- 
scher Schimmer mehr verdunkelt als erhellt. Einige 
glauben, dafi er existiert hat. Andere sind von dem 
Gegenteil iiberzeugt. 



EINE NEUE REFORMATION H 

Wenn es sich urn den ge^hjchUichgn Jesus handelt, 
kann jedoch nimmermehr die Redfi-smn von Glauben 
oder Unglauben. Hier steht eine historische Tatsache, 
an der man nicht riitteln kann. Der Jesus, der in Gali- 
laa lebte und wirkte,und den ein Pilatus kreuzigen lieB, 
ist so gut erwiesen wie irgendeine andere Gestalt aus 
dem Altertum. Er gehort ebenso der Wirklichkeit an 
wie etwa Alexander der GroBe und Kyros, wie Buddha, 
Sokrates und Muhammed. 

Jesu Lehre enthalt nichtsVernunftwidriges, nichts, was 
einen modernen Menschen abstoBen miiBte. Das Juden- 
tum und das davon ausgehende Urcbristentum hebt 
sich mit deutlicher Scharfe von den gleichzeitigen Re- 
ligionen des Altertums ab; denn Mythologie oder Dog- 
men, der Glaube an mehrere gottliche Wesen, die mit 
magisch wirkenden Kulthandlungen oder Sakramen- 
len verehrt wurden, all das war hier peinlich aus- 
geschieden. Dagegen enthalt Jesu Botschaft, auBer den 
neuen religiosenWerten, die er dem einzelnen unmittel- 
bar schenkt, eine Reihe ewig verbindlicher Ideale fur 
die menschliche Gesellschafts.ordnung, die den heutigen 
Menschen ganz besonders in ihren Bann ziehen, weil 
sie erst heute allmahlich realisiert zu werden beginnen. 
So wurden moderate Gedanken, wie sie beispielsweise 
dem sozialen Zeitgeist von heute zugrunde liegen, der 
nach Verbesserung der Lage der Armen, nach Aus- 
gleichung der Klassenunterschiede in der Gesellschaft, 
nach Weltfrieden, nach Losung der Frauenfrage, nach 
Hebung der Kinderfiirsorge strebt, schon vor rund'2000 
Jahren in Verbindung mit der groBen internationalen 
Liebesbotschaft bewuBt und klar ausgesprochen von 



12 EINE NEVE REFORMATION 

dem, der unserer Religion Namen und Inhalt gegeben 
hat. 

Dieser lebenskraftige Kern im Christentum war es, der 
ihm seinerzeit den Sieg verlieh iiber alle anderen Re- 
ligionen des Altertums, und der noch heute seine kul- 
turelle tJberlegenheit iiber andere Weltreligionen, 
Judentum, Muhammedanismus oder Buddhismus, er- 
weist, wenn es auf dem Missionsfeld mit ihnen zu- 
sammentrifft. Die auflere Schale Dogmen, Dreieinig- 
keitsbegriff, Sakramente war vielleicht eininal eine 
notwendige Anpassung an die Zeitverhaltnisse, als 
Menschen des Altertums am Mittelmeer lebten und in 
derlei Vorstellungen zu Hause waren, aber jetzt ist sie 
eine tote unniitze Hiille geworden, die dazu angetan 
ist, den heutigen Menschen von dieser Religion abzu- 
schrecken. Fur einen glaubigen Juden oder Muhamme- 
daner ist die Sakramentenlehre oder die Dreieinigkeit 
eine unverstandliche Formel und Mehrgotterei ein 
iiberwundenes Stadium. Er beifit sich lieber seine Zunge 
ab, als daB er die Existenz anderer gottlicher Wesen an 
der Seite des allmachtigen Gottes einraumt. 
Fur eine religionsgeschichtliche Betrachtungsweise ist 
das Christentum die Religion der Zukunft, es ist seinem 
innersten Wesen und seiner ursprunglichen Form nach 
alien anderen Religionen unbedingt uberlegen; aber 
diese Zukunftsreligion kann nur ein organisch weiter- 
reformiertes Christentum sein. Es muC zuruckgefiihrt 
werden auf seinen altesten geschichtlichen Bestand. 
Die Arbeit der Reformatoren muJB fortgesetzt werden 
bis dahin, wo wir wieder beim historischen Jesus an- 
gelangt sind. 



EINE NEVE REFORMATION 13 

Auf eine solche neue Reformation zielt auch im Grunde 
die Entwicklung in alien protestantischen Landern. 



Die Wissenschaft der Religionsgeschichte, genauer ge- 
sprochen der Zweig dieser Wissenschaft, der den Ur- 
sprung der biblischen Schriften und Religionen unter- 
sucht, hat in dieser Sache das entscheidende Wort. 
Das Christentum ruht ja doch auf historischer Grund- 
lage. Es ist in einer bestimmten Zeitepoche entstanden, 
von einer historischen Personlichkeit gestiftet und auf 
eine Reihe geschichtlicher Dokumente oder Schriften 
gestutzt, in erster Linie auf die biblischen Schriften, 
die von der Zeit und der Personlichkeit, um die es sich 
handelt, berichten. Nur sie konnen entscheiden, was 
wahr ist am Christentum. Nur diese Urkunden geben 
die Aufklarung iiber die Urform des Christentums und 
iiber Jesu eigentliche Lehre. 

Zwar wenn es sich um religiose Fragen in allgemeinem 
Sinn handelt, darf sich die Wissenschaft nicht ein- 
mischen. Religion ist das Verhaltnis zu einer ubersinn- 
lichen Macht, die man mit einer Art von sechstem Sinn 
auffafit, wahrend die Wissenschaft nur das angeht, 
was sich mit unseren funf Sinnen begreifen lafit. Re- 
li^ion^eginnt erst da>jwp 
nis abbricht. In^iesen^Sinn 

zwjei Paraj^ej^jd^s^cJby^emafe^Jb^ Aber wenn 
es sich darum handelt, festzustellen, wie die alteste ge- 
schichtliche Erscheinungsform einer bestimmten Re- 
ligion aussah, oder welches die Religion einer bestimm- 




14 BINE NEVE REFORMATION 

ten historischen Personlichkeit war, da kann die Ent- 
scheidung nur bei der Geschichtswissenschaft liegen. 
Der Protestantismus, der gegen die papstliche Allge- 
walt der romischen Kirche die Bibel als einzige Norm 
in Glaubenssachen ins Feld fiihrt, ruht selbst auf die- 
sem historischen Prinzip. Das unter der Decke glim- 
mende MiBvergniigen innerhalb der Kirche, das gegen 
Ende des Mittelalters mehr und mehr zunahm, hatte 
seinen Grund eben in der zunehmenden Kluft zwischen 
.der kirchlichen Lehre und der Bibel. Die Kirche war in 
allzu offenbarenGegensatz zu ihrer historischen Grund- 
lage geraten. Ein Sichvertiefen ins Neue Testament, 
ein wissenschaftliches historisches Studium war es 
grofienteils, was Luther und die anderen Reformatoren 
in den Kampf um die Ausrottung des Heidentums 
trieb. Mit der Bibel in der Hand, mit Hilfe histo- 
rischen Zeugnisses fuhrte man die kirchlichen Refor- 
men durch. Man reinigte die Kirche, um ihr ihre alteste 
geschichtliche Erscheinungsform wiederzugeben, so- 
weit diese damals wissenschaftlicher Erforschung zu- 
ganglich war. 

Alle spateren Neubildungen innerhalb der protestanti- 
schen Kirche haben standig eine Stutze in der Bibel 
oder in den altkirchlichen Schriften gesucht, und wenn 
friiher oder spater eine neue Reform kommen wird, so 
beruht sie ganz einfach darauf, daB die neuere Bibel- 
wissenschaft die Bibel in neues Licht geruckt und uns 
eine neue Auffassung von Judentum und Urchristen- 
tum vermittelt hat. Man kann mit den heute zu Gebote 
stehenden Mitteln das Ghristentum noch einen Schritt 
weiter seiner Urform annahern, noch mehr Elemente 



EINE NEVE REFORMATION 1 5 

als spater hinzugefugtes Heidentum ausscheiden, als 
das zu Luthers Zeit moglich war. 



DaB eine Religion sich zu stetig neuer Lebenskraft zu 
verjiingen sucht, indem sie zu ihren ersten Quellen 
hinaufsteigt, 1st em in der Religionsgeschichte wohl- 
bekannter Prozefi. Fur jede von einer geschichtlichen 
Per sonlichkeit gestiffete Religion 1st dies notwendig, 
und daher haben die grofien Weltreligionen stets dies 
Prinzip befolgt. Sowohl der Buddhismus wie der Mu- 
hammedanismus, ja sogar eine so konservative Reli- 
gion wie das Judentum hat oftmals Reformen durch- 
gefuhrt, die eine bessere ttbereinstimmung mit der 
Ausgangsform schaffen sollten. 

Bei den hoheren Religionen verlauft die Entwicklung 
eben nicht in gerade aufsteigender Linie, sondern in 
steilen Kurven, in plotzlichen StoBen, die man mit dem 
Ausbruch eines Vulkans vergleichen kann. Darauf fol- 
gen dann in der Regel als Reaktion nivellierende Stro- 
mungen, die das Alte mit dem Neuen zu vereinigen 
suchen. Das religiose Genie ist seiner Zeit oft um Jahr- 
tausende voraus, dagegen ist die Religion der groBen 
Masse wohl der bestandigste Faktor, der sich in der 
Kulturgeschichte iiberhaupt denken laBt.) Hier werden 
bis in spateste Zeit uralte Elemente aus langst ent- 
schwundenen Kulturepochen abgelagert und bewahrt, 
darunter sogar ganz primitive Vorstellungen und Sitten 
aus der Kindheit des Menschengeschlechts. Deshalb ist 
es nicht moglich, daB ehie neue Lehre, die einen wirk- 



1G EINE NEVE REFORMATION 

lichen Bruch mil der bestehenden Religion bedeutet, 
nach dem Tode ihres Stifters auf die Dauer ihre Rein- 

* 

heit bewahrt. Sie pafit sich gesellschaftlichen, prak- 
tischen oder politischen Anspriichen an, und vor alien 
Dingen drangen sich aus der iiberwundenen Religion 
heidnische Elemente ein, die spater wieder aus- 
geschieden werden miissen. 

Eine so hochstehende Religion wie das Christentum, 
das von einem religiosen Genie sondergleichen ver- 
kiindet seiner Zeit so ungeheuer weit voraus war, 
mufite nach des Meisters Tod diesem Schicksal ganz 
besonders ausgesetzt sein. Kaum hatte es die Grenzen 
des Judenlandes iiberschritten, als es noch im ersten 
nachchristlichen Jahrhundert von heidnischen Vor- 
stellungen beeinfluCt wurde, indem es sich seinen Weg 
mitten zwischen den anderen Religionen des ausgehen- 
denAltertums bahnte. Bevor dasGhristentum auf seiner 
Wanderung nach dem Westen Asien verliefi, war es 
schon, wie wir aus den paulinischen und johanneischen 
Schriften sehen, in hohem Grade vom nichtjudischen 
orientalischen Heidentum angesteckt, das fur das 
spatere Judentum bereits ein iiberwundener Stand- 
punkt war und sich schon deshalb in Jesu Lehre iiber- 
hauptnicht findet. Weitere heidnischeBestandteile(Ma- 
donnenkult, in zunehmendem Mafie Mirakel- und Sa- 
kramentenlehre und dieAusbildung einerhierarchisch- 
papstlichen Gewalt) lagerten sich fernerhin um das 
Christentum in Europa, als dieses Staatsreligion wurde, 
das heifit sich dem Staate anpassen muCte, der auf ganz 
anderen Grundlagen ruht. 
Diese von Luther, Zwingli und Calvin nur teilweise ge- 



EINE NEVE REFORMATION 17 

reinigte Stoff masse 1st es, von der eine neue Reformation 
das Christentum befreien muB, nachdem die neuere ge- 
schichtliche Forschung ihren fremden, heidnischen 
Charakter erkannt hat. Die Reformation fand namlich 
nach dem Tod der Reforinatoren ein janes Ende in dem 
sogenannten Zeitalter der Orthodoxie. Es war, als hatte 
es die Zeit wieder ihres Fortschritts verdrossen, man 
klammerte sich mit desto zaherer Gewalt an die noch 
iibrigen Dogmen, indem man die Annahme der reinen 
Lehre zur Grundbedingung der Seligkeit machte, und 
so ist es in der offiziellen kirchlichen Lehre bis zum 
heutigen Tage geblieben. 



Doch hat es nicht an klar schauenden Geistern gefehlt, 
die eine neue Reformation verlangt haben. Hier wie 
auf so vielen anderen Gebieten steht Goethe an der 
Schwelle des Tors, das in eine neue Zeit hinuberfuhrt. 
Mit weitem Blick hat er in grofizugiger Zusammen- 
schau all das erkannt, was eine Schar von Forschern 
spater im einzelnen erarbeitet hat. 
Wie die moderne Naturwissenschaft Wege begeht, die 
Goethe gewiesen hat, so auch die neuere religions- 
geschichtliche Forschung und Bibelwissenschaft. ^Als 
Theologe blieb Luther in manchen Punkten in den 
grauen Spinngeweben der Dogmen hangen; aber fur 
Goetiiebedeutete die dogmatischeMythologie derKirche 
mit Jesu Opfertod als Mittelpunkt einen Widerspruch 
zu Jesu eigener Religion, es erschien ihm als ein totes 
Fossil aus den Schichten tieferstehender Religion, das 

Nielsen, Der geschichtliche Jesua 2 



18 BINE NEUE REFORMATION 

der Vorgeschichte angehort und das religiose Leben der 
Gegenwart hemmt. 

Goethe war eine religiose Natur mit einem festen Glau- 
ben an Gott und an ein Leben nach dem Tode, er sah 
in der Bibel das Buch der Biicher und in Jesu Lehre, 
/wie sie die Evangelien bieten, die hochste religiose 
Offenbarung,aber erverlangte einehistorische,mensch- 
liche Betrachtung des Christentums und der Ghristus- 
gestalt. 



Die Reformbewegung, die vor 100 Jahren von dem 
Danen Grundtvig (gest. 1872) ausging, konnte nicht 
wie es sich der grofie Freiheitsmann eigentlich ge- 
dacht hatte den Dogmenspuk vertreiben. Mit dem 
hellen Blick des Genies sah er, der Dichter und Seher, 
dafi neben dem grofien Dogmengebaude, das Kirche 
und Christenheit in verschiedene Lager teilt, daB auch 
neben der hochentwickelten theologischen Literatur in 
unserem Neuen Testament eine schlichtere, einfachere 
Grundlage als Kern des Christentums bestanden haben 
muB: ein Urchristentum, um das sich alle Christen wie- 
der sammeln konnten. 

Mit Recht suchte er diese urspriingliche, historische 
Grundlage in Jesu eigener mundlicher Rede und 
Satzung, also im historischen Jesus und seiner Lehre, 
aber man hatte zu seiner Zeit noch nicht die Hilfsmit- 
tel, um zu entscheiden, worin dieses Urchristentum 
eigentlich bestand. Grundtvig glaubte es in dem so- 
genannten Apostolischen Glaubensbekenntnis gefun- 



EINE NEVE REFORMATION 19 

den zu haben; aber die Untersuchungen des vergange- 
nen Jahrhunderts haben gezeigt, dafi dies Symbolum 
nicht von den Aposteln und nicht von der altesten pa- 
lastinensischen Gemeinde herstammt, sondern von der 
romischen Kirche und aus dem 3. Jahrimndert n. Chr. 
Es ist nicht alter, sondern jiinger als die neutestament- 
lichen Schriften und enthalt einen spaten Extrakt ihrer 
heidenchristlichen Dogmatik. 

Es ging mit den Anhangern Grundtvigs so wie mit 
den Lutheranern. Anstatt in Luthers und Grundtvigs 
Geist fortzufahren in dem Kampf gegen die Dogmen, 
die nicht Bestandteile des Urchristentums sind, und 
anstatt den verlorenen Weg zum historischen Jesus 
wieder zu suchen, erstarrten sie selbst in Dogmen. 



Die grofie Masse des Volkes hat, wie gesagt, langst den 
Dogmen der Kirche den Riicken gekehrt, die fuhrenden 
Geister des modernen Geisteslebens, unter ihnen auch 
Leo Tolstoi (gest. 1910) des Danen Grundtvigs 
groJBer russischer Bruder haben von Mai zu Mai eine 
kirchliche Reformation verlangt auf dem Boden des 
geschichtlichen Jesus und seiner Lehre, viele Glaubens- 
gesellschaften, besonders die sogenannten Unitarier, 
die in Amerika und England so zahlreich sind, und die 
TheosophischeGesellschaft, die sich seit!875 in einem 
Siegeszug iiber den ganzen Erdball ausgebreitet hat, 
haben eine ahnliche Reformation schon durchgefuhrt; 
aber die protestantische Kirche als Ganzes ist fur eine 
Reformation erst jetzt, im 20. Jahrhundert, wieder reif 

2* 



20 EINE NEVE REFORMATION 

geworden, wo offizielle Reprasentanten der Kirche an 
den Universitaten, die den werdenden Geistlichen ihre 
Ausbildung geben, durch Arbeitsgemeinschaft der theo- 
logischen und historisclien Wissenschaft uber das Ur- 
christentum das klare, fruher mir dunkel geahnte Licht 
der Wissenschaft verbreiten, wo es nottut objektive 
Erkenntnis an die Stelle subjektiven Glaubens treten 
lassen, und mit unumstofilichem Beweismaterial dar- 
tun, dafi die Lehre der Kirche sich in wesentlichen 
Punkten von Jesu Lehre entf ernt hat. 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 



Ein Gott, eine Bibel, ein Evangeliwn 

DER Protestantismus kann die Resultate der mo- 
dernen Bibelwissenschaft heute nicht mehr ver- 
leugnen, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu ge- 
raten. Er wiirde sonst, wie man zu sagen pflegt, den 
Zweig absagen, auf dem er. sitzt, denn die protestan- 
tische Religion ist im Gegensatz zum Katholizismus die 
Bibelreligion. 

Mit dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes hat 
sie auch das Dogma von dem unbedingten Traditions- 
wert und der Unfehlbarkeit der Kirche abgeschiittelt. 
Die Kirche nmB allezeit ihre Lehre aus der Bibel be- 
griinden konnen und sich hi standiger trbereinstim- 
mung mit dem zunehmenden Verstandnis derselben 
befinden. In religiosen Fragen erkennt der Protestant 
uberhaupt keine andere auCere Autoritat uber sich an 
als die Schriften, die die alteste historische XJberliefe- 
rung von Jesus und seiner Lehre enthalten. Die Bibel 
ist fur ihn die einzige Richtschnur und Norm, nach der 
alle Dogmen und jegliche Lehre zu beurteilen ist. Nicht 
Reden und Handeln der Vater soil, so sagt Luther, be- 
stimmen, was wir glauben sollen, sondern einzig und 
allein Gottes Wort, sonst aber nichts, und sei's auch ein 
Engel vom Himmel. 



18 EINE NEUE REFORMATION 

der Vorgeschichte angehort und das religiose Leben der 
Gegenwart hemmt. 

Goethe war eine religiose Natur mit einem festen Glau- 
ben an Gott und an ein Leben nach dem Tode, er sah 
in der Bibel das Buch der Biicher und in Jesu Lehre, 
wie sie die Evangelien bieten, die hochste religiose 
Offenbarung,aber erverlangte einehistorische,mensch- 
liche Betrachtung des Christentums und der Christus- 
gestalt. 



Die Reformbewegung, die vor 100 Jahren von dem 
Danen Grundtvig (gest. 1872) ausging, konnte nicht 
wie es sich der grofie Freiheitsmann eigentlich ge- 
dacht hatte den Dogmenspuk vertreiben. Mit dem 
hellen Blick des Genies sah er, der Dichter und Seher, 
daB neben dem grofien Dogmengebaude, das Kirche 
und Christenheit in verschiedene Lager teilt, dafi auch 
neben der hochentwickelten theologischen Literatur in 
unserem Neuen Testament eine schlichtere, einfachere 
Grundlage als Kern des Ghristentums bestanden haben 
muB: ein Urchristentum, um das sich alle Christen wie- 
der sammeln konnten. 

Mit Recht suchte er diese urspriingliche, historische 
Grundlage in Jesu eigener mundlicher Rede und 
Satzung, also im historischen Jesus und seiner Lehre, 
aber man hatte zu seiner Zeit noch nicht die Hilfsmit- 
tel, um zu entscheiden, worm dieses Urchristentum 
eigentlich bestand. Grundtvig glaubte es in dem so- 
genannten Apostolischen Glaubensbekenntnis gefun- 



EINE NEUE REFORMATION 19 

den zu haben; aber die Untersuchungen des vergange- 
nen Jahrhunderts haben gezeigt, dafi dies Symbolum 
nicht von den Aposteln und nicht von der altesten pa- 
lastinensischen Gemeinde herstammt, sondern von der 
romischen iirche und aus dem 3. Jahrhundert n. Chr. 
Es ist nicht alter, sondern jiinger als die neutestament- 
lichen Schriften und enthalt einen spaten Extrakt ihrer 
heidenchristlichen Dogmatik. 

Es ging mit den Anhangern Grundtvigs so wie mit 
den Lutheranern. Anstatt in Luthers und Grundtvigs 
Geist fortzufahren in dem Eampf gegen die Dogmen, 
die nicht Bestandteile des Urchristentums sind, und 
anstatt den verlorenen Weg zum historischen Jesus 
wieder zu suchen, erstarrten sie selbst in Dogmen. 



Die grofle Masse des Volkes hat, wie gesagt, langst den 
Dogmen der Kirche den Rucken gekehrt, die fuhrenden 
Geister des modernen Geisteslebens, unter ihnen auch 
Leo Tolstoi (gest. 1910) des Danen Grundtvigs 
grofier russischer Bruder haben von Mai zu Mai eine 
kirchliche Reformation verlangt auf dem Boden des 
geschichtlichen Jesus und seiner Lehre, viele Glaubens- 
gesellschaften, besonders die sogenannten Unitarier, 
die in Amerika und England so zahlreich sind, und die 
TheosophischeGesellschaft, die sich seit!875 in einem 
Siegeszug iiber den ganzen Erdball ausgebreitet hat, 
haben eine ahnliche Reformation schon durchgefuhrt; 
aber die protestantische Kirche als Ganzes ist fur eine 
Reformation erst jetzt, im 20. Jahrhundert, wieder reif 



20 E1NE NEUE REFORMATION 

geworden, wo offizielle Reprasentanten der Kirche an 
den Universitaten, die den werdenden Geistlichen ihre 
Ausbildung geben, durch Arbeitsgemeinschaf t der theo- 
logischen und historischen Wissenschaft iiber das Ur- 
christentum das klare, fruher nur dunkel geahnte Licht 
der Wissenschaft verbreiten, wo es nottut objektive 
Erkenntnis an die Stelle subjektiven Glaubens treten 
lassen, und mit unumstoClichem Beweismaterial dar- 
tun, daC die Lehre der Kirche sich in wesentlichen 
Punkten von Jesu Lehre entfernt hat. 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 



Eiin Gott, erne Bibel, ein Evangelium 

DER Protestantismus kann die Resultate der mo- 
dernen Bibelwissenschaft heute nicht mehr ver- 
leugnen, ohne in Widerspruch mit sich selbst zu ge- 
raten. Er wiirde sonst, wie man zu sagen pflegt, den 
Zweig absagen, auf dem er sitzt, denn die protestan- 
tische Religion ist im Gegensatz zum Katholizismus die 
Bibelreligion. 

Mit dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes hat 
sie auch das Dogma von dem unbedingten Traditions- 
wert und der Unfehlbarkeit der Kirche abgeschiittelt. 
Die Kirche muB allezeit ihre Lehre aus der Bibel be- 
griinden konnen und sich in standiger Ubereinstim- 
mung mit dem zunehmenden Verstandnis derselben 
befinden. In religiosen Fragen erkennt der Protestant 
uberhaupt keine andere aufiere Autoritat uber sich an 
als die Schriften, die die alteste historische Uberliefe- 
rung von Jesus und, seiner Lehre enthalten. Die Bibel 
ist fur ihn die einzige Richtschnur und Norm, nach der 
alle Dogmen und jegliche Lehre zu beurteilen ist. Nicht 
Reden und Handehi der Vater soil, so sagt Luther, be- 
stimmen, was wir glauben sollen, sondern einzig und 
allein Gottes Wort, sonst aber nichts, und sei's auch ein 
Engel vom Himmel. 



22 B1BELRELIGION UND BIBELKRITIK 

Deshalb haben die neutestamentlichen Schriften, das 
heifit die alteste geschichtliche Tradition uber dasGhri- 
sfentum, stets Grundlage und oberste Norm fur die pro- 
testantische Auffassung dieser Religion abgegeben. Die 
Lekture und Erklarung jener Urkunden war en von je 
der Mittelpunkt des Religionsunterrichts in der Schule 
sowie des Gottesdienstes und des Lebens in der Ge- 
meinde. Das Studium dieser Schriften ist noch immer 
in der Ausbildung der Pfarrer an oberster Stelle ge- 
standen und hat die Hauptaufgabe der weiterschreiten- 
den wissenschaftlichen Theologie gebildet. Protestan- 
tische Theologie ist Bibeltheologie, so wie katholische 
Theologie Kirchentheologie ist. 

Dieses intensive Bibelstudium auf protestantischer 
Seite hat uns allmahlich ein besseres Verstandnis der 
Bibel vermittelt, als es die Reformatoren besafien. Sie 
unterstrichen die grofie Bedeutung der Bibel, indem sie 
dem katholischen Dogma von der Unfehlbarkeit der 
Kirche dasjenige von der Unfehlbarkeit der Bibel ent- 
gegenstellten. Dies Dogma war indessen selbst nichts 
anderes als ein auf einen einzelnenPunkt beschranktes 
Dogma von der Unfehlbarkeit der Kirche, in dem Sinn 
namlich, daJB alle die Schriften, die die Kirche seiner - 
zeit auswahlte, um ihre Lehre zu begrunden, Jesu 
Lehre in unverfalschter Form enthielten. Dies Dogma 
hat die neuere protestantische Theologie aufgegeben, 
sie unterstreicht die Bedeutung der Bibel in anderem 
Sinn. 

Sie halt zwar nach wie vor daran f est, hier, und n u r 
hier, das echte Urchristentum finden zu konnen, das 
heifit: die wahren christlichen Lebenswerte in unver- 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 23 

falschter Form. Wir treffen in der Tat nur hier den 
Jesus, der allezeit die feste Grundlage des Ghristentums 
gewesen ist; aber nicht alle neutestamentlichen 
Schriften wissen gleich zuverlassig um diesen Jesus. 
Einige haben sich stark vom historischen Jesus und 
seiner Lehre entfernt ein Gesichtspunkt* den schon 
Luther beachtete , sie geben wieder, was andere Per- 
sonen und Zeiten uber ihn dachten, in manchen aber 
begegnen wir Jesus selber. In einigen lesen wir Worte 
von Jesus, in anderen Worte uber Jesus. 



Die neuere protestantische Theologie hat nicht nur das 
Verstandnis des Inhalts der einzelnen Schriften tiefer 
gegriindet, sondern auch ihre besonderen Eigentum- 
lichkeiten und ihr Verhaltnis zueinander erklart. Sie 
hat Zeit und Ort ihrer Abfassung zu bestimmen gesucht 
und sich Miihe gegeben, zu scheiden zwischen dem ur- 
sprunglichen Text und spateren Einschiebseln, zwi- 
schen primaren und sekundaren Quellen, zwischen den 
verschiedenen Schichten der trberlieferung. Unter An- 
wendung des kritischen Riistzeugs, das die moderne 
Geschichtswissenschaft der gesamten iibrigen antiken 
Literatur gegenuber handhabt, hat sie den geheimnis- 
vollen Schleier ein wenig geliiftet, der bisher liber dem 
Ursprung der Bibel lag, und so bahnt sie das richtige 
Verstandnis des Buchs an, das stets des Protestanten 
wertvollster Besitz gewesen ist. 

Ganz besonders ist es da das Neue Testament, was uns 
interessiert. Fur die kirchliche Lehre und die ineisten 



24 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

Laienchristen bildet es eine kompakte Einheit, ein gott- 
liches, gleichsam vom Himmel gefallenes Buch, das 
ohne Unstimmigkeiten in alien seinen Teilen von der 
Religion zeugt, die Jesus uns gebraeht hat. Protestan- 
tische Theologen und gebildete Laien wissen indessen, 
daB wir es hier mit einer bunten Mannigfaltigkeit von 
verschiedenen, teilweise einander widersprechenden 
Schriften zu tun haben, die entstanden sind und ge- 
sammelt wurden in einem Zeitraum von etwa 100 
Jahren von ca. 50 bis 150 n. Chr. Geburt. Von dieser 
reichhaltigen Literatur hat die Bibelkritik bei ihrem 
Suchen nach dem geschichtlichen Jesus die sogenanrite 
Johannesoffenbarung, die Episteln und die Apostel- 
geschichte mehr in den Hintergrund geriickt und dafiir 
mit aller Kraft sich der Erforschung der sogenannten 
Evangelien oder Jesusuberlieferungen gewidmet, 
um sich dadurch dem einen ursprunglichen Evange- 
lium zu nahern. 

DIE EVANGELIEN UND DAS EVANGELIUM 

Wenn die Kirche ihre Lehre nicht auf spatere Autori- 
taten stutzen will, auf Generalversammlungen von 
Priestern und Bischofen (die sogenannten Konzilien) 
oder auf das Wort des Papstes, sondern wie andere 
Kulturreligionen auf eine geschichtliche Grundlage, so 
muB sie ein Evangelium, eine Jesusuberlieferung be- 
sitzen. Eine biblische Religion darf nur eine Bibel 
haben, nicht mehrere einander widerstreitende, und in 
dieser Bibel ein Evangelium, nicht mehrere, die sich 
gegenseitig widersprechen. 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 25 

Dieses richtige Gefuhl haben Manner der Kirche von 
jeher besessen. Die altesten Bibeln waren den spateren 
nicht gleich. Die alteste christliche Gemeinde auf jiidi- 
schem Boden hatte bn 1. Jahrhundert nur eine kleine 
Bibel. Sie bestand aus einer Schrift: einem einzigen 
Evangelium mit den sogenannten Jesusworten. Diese 
waren namlich fruh zu Papier gebracht worden und 
geben uns des Meisters Ausspriiche wieder, ebenso wie 
die prophetischen Schriften uns Prophetenworte uber- 
liefern und wie der Koran, die Bibel der Muhamme- 
daner, die Lehre Muhammeds enthalt. In den heiden- 
christlichen Landern kam bald eine erbaulicbe Litera- 
tur dazu, die ihren Platz nach den Jesusworten erhielt; 
aber die alteste heidenchristlicbe Bibel in Syrien, die 
sogenannte Markionsbibel aus dem 2. Jahrhundert, die 
im Orient mehrere Jahrhunderte in Gebrauch blieb, 
hatte knmer noch nicht mehr als ein Evangelium (das 
Lukasevangelium), das durch zehn Paulinische Briefe 
erganzt wurde, die erbauliche, heidenchristliche Be- 
trachtungen liber dies Evangelium enthielten. 



Die rasche Ausbreitung des Christentums bewirkte ein 
entsprechendes Anschwellen der altchristlichen Lite- 
ratur, und als die Kirche im 2. Jahrhundert aus diesem 
reichen und uppig wuchernden Feld einzelne besonders 
wertvolle Stiicke auswahlen wollte, um einen festen 
Kanon oder eine Bibel fur alle Gemeinden oder fiir die 
Gesamtheit der Kirche zusammenzustellen, war das 



26 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

keine leichte Aufgabe. Man hatte sich damals bereits 
weit entf ernt von dem einfachen Ausgangsstadium der 
ganzen Entwicklung. Jesu Worte gingen beinahe unter 
in der groBen Flut der Literatur. Es gab auch schon 
mehrere Evangelien, da von einer Anzahl von Gemein- 
den eine jede ihr eigenes Evangelium besafi (1). 
In den Kanon von 27 Schriften, den damals die Kirche 
aufstellte,und der spater unserNeues Testament bildete, 
wurden anstatt des einen nicht weniger als vier Evan- 
gelien aufgenommen. Diese waren namlich damals so 
tief im Gemeindeleben verwurzelt und genossen alle 
einen so guten Ruf, daB man keines von ihnen meinte 
ausscheiden zu diirfen. Man nahm sie also alle vier auf 
und suchte ihre Einheit zu behaupten, indem man sie 
alle als unfehlbare Jesusuberlieferungen ausgab, die 
einander erganzten,unddie obschon augenscheinlich 
verschieden doch zusammengelegt das eine richtige 
Evangelium ergeben muflten. Die syrische Kirche im 
Osten arbeitete sie schon im 2. Jahrhundert zu einem 
fortlaufenden Bericht ineinander, Evangelienharmonie 
genannt, und gewann so aus den vieren eines. Die 
abendlandische Kirche lieB sie in der Bibel nebenein- 
ander stehen,aber kam inWahrheit zudem gleichenRe- 
sultat durch einen umfassenden Vereinheitlichungs- 
prozeB. Zuerst korrigierte man die Handschriften der 
Evangelien durch Auslassungen und Einschiibe, um sie 
so auf einander abzustimmen. Als man auf diese Weise 
einen brauchbaren Text zustande gebracht hatte, stellte 
man die ganze kirchliche Auslegungskunst in den 

(1) Einige von diesen nichtbiblischen Evangelien sind fragmen- 
tarisch noch erhalten. 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 27 

Dienst ihrer Harmonisierung, um ein Evangelium dar- 
aus zu gewinnen. 

Heute versucht man es auf andere Art, zu dem einen 
urspriinglichen Evangelium zuruckzugelangen, nach 
dem die Kirche jederzeit gestrebt hat. Indem die Bibel- 
wissenschaft sowohl auf trbereinstimmungen wie auf 
Differenzen im uberlieferten Material den Finger legt, 
sucht sie dieEvangelien nachRang undttberlieferungs- 
wert einzuordnen und Ort und Zeit der Abfassung so- 
wie die alteren und jiingeren Bestandteile des Textes 
festzustellen. So ist sie auf dem Weg iiber die Evange- 
lien zum Evangelium vorgedrungen; sie hat sich damit 
dem Bild des geschichtlichen Jesus genahert, das dem 
spateren kirchlichen Jesus zugrunde liegt. Sie hat auf 
dem Grunde des unwirklichen Evangeliums und des 
unwirklichen Jesusbilds, das die Kirche geschaf f en hat, 
doch wahrhafte geschichtliche Wirklichkeit gefunden. 
Sie hat die ursprungliche Jesusiiberlieferung gefunden, 
die die alteste Ghristengemeinde besaB, die erste 
schlicht-einfacheBibel und darin den wirklichen,histo- 
rischen Jesus. 

HAT JESUS EXISTIERT? 

Den AnstoB zu dieser modernen Evangelienforschung 
gab eine gewaltsame negative Kritik an dem wunder- 
samen kirchlichen Jesusbild, das aus der unkritischen 
Zusammenlegung unserer vier kirchlichen Evangelien 
entstanden war. Im Lauf der Geschichte der Kirche hat 
es namlich nicht an Stimmen gefehlt, die sich gegen 
dies Bild erhoben und von Zeit zu Zeit die Frage ge- 



28 BIBELRELIGION VND BIBELKRITIK 

stellt haben: Hat dieser Jesus uberhaupt irgendeinmal 
existiert? 

Fruher lautete da die Antwort von seiten der Kirche: 
Du sollst es glauben. Die romische Kirche weist auf die 
Kirchenlehre als Autoritat bin, der Protestantismus auf 
die Bibel. Die moderne protestantische Theologie hat 
diese Frage zu einem historischen Fachproblem ge- 
macht, sie aus dem Zusammenhang mit Glauben und 
Irrglauben gelost; es handelt sich seitdem nicht mehr 
um eine personliche Frage, die abhangig ist von sub- 
jektivemDafurhalten,sondern um eine objektiveWahr- 
heit, die niemand mehr ernstlich bestreiten kann. 
Vielen Christen wird es schmerzlich an die Seele grei- 
fen, wenn sie horen, daB die Frage der Existenz Jesu 
von der Bibelwissenschaft uberhaupt erortert worden 
ist. Es wird ihnen zumute sein, als ob das Fundament, 
darauf ihr Leben ruht, zu wanken drohe, ja sie werden 
eine solche Frage beinahe als Gotteslasterung ansehen. 
Die sogenannte Bibelkritik ist von vornherein bei den 
meisten religiosen Menschen schlecht angeschrieben. 
Man verbindet fur gewohnlich mit diesem Wort die 
Vorstellung von christentumfeindlichen, niederreifien- 
den und negativen Tendenzen, und wenn nun besagte 
Bibelkritik sich vermiflt, in das Allerheiligste einzu- 
dringen und gar die Frage von Jesu Existenz zu er- 
ortern, so wkd man wohl nur noch weiter in dieser Auf- 
fassung bestarkt. 

Die Bibelkritik ist indessen nicht gottf erner als andere 
Menschen. Hier wie sonst uberall gilt das Wort: 

Ohne Ueben kein Verstehen. 
Will man glauben, dafi ein unmusikalischer oder nm- 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 29 

sikfeindlicher Mensch seines Lebens Kraft daransetzen 
wird, Beethovens oder Wagners Schopfungen zu studie- 
ren, und wenn ja, was wurde dabei wohl herauskom- 
men? Ein Blinder weiB nicht von Farben zu reden, ein 
unmusikalischer Mensch hat kein Verstandnis fur Mu- 
sik, und ein irreligioser Mensch steht der Religion fremd 
und verstandnislos gegenuber. 

In Wirklichkeit mufi jeder christlich eingestellte und 
bibelinteressierte Mensch der modernen Bibelkritik 
Dank wissen. Denn diese Wissenschaft hat nicht nur 
jene Frage gestellt, sondern sie auch beantwortet; ein 
Laie ware dazu nicht imstande gewesen. Es ist eine 
historische Frage, die sich nur durch historische Stu- 
dien beantworten laCt. 



Erwagungen allgemein religioser Natur, Hinweise auf 
religiose Erfahrungen oder personliche innere Erleb- 
nisse haben damit nichts zu tun. Auch in diesem Punkt 
gilt, daB das Christentum ein Stuck Geschichte ist, das 
auf historischer Grundlage ruht und sich auf eine Reihe 
historischer Tatsachen und auf eine historische Per- 
sonlichkeit stiitzt. Das Christentum hat gewiB eine 
Seite, und zwar fiir viele sicher eine wertvollere, die 
nur durch innere wenn man will unwissenschaft- 
liche Erlebnisse. der Seele erfafit werden kann, aber 
es sind da andererseits auch eine Reihe von nackten 
Tatsachen, die nur durch wissenschaftliche historische 
Studien greifbar gemacht werden konnen. Die innere 
Wahrheit des Ghristentums kann jeder noch so unge- 



30 BIBELRELIGION UND B1BELKRITIK 

bildete Mensch erfahren, aber die Kenntnis dessen, was 
das wahre Christentum als historische Erscheinung 
1st, laBt sich nur durch wissenschaftliche Beschaftigung 
gewinnen. 



Wenn man von dem groBen religiosen Wert der neu- 
testamentlichen Schriften noch so sehr iiberzeugt 1st, 
wird man damit niemals beweisen konnen, dafi der Stif- 
ter desChristentums Jesus hieB, seine Eltern Joseph und 
Maria, dafi er in Palastina zu Beginn unserer Zeit- 
rechnung lebte und starb, daB dies oder jenes Wort von 
ihm oder von anderen stammt usw. Es handelt sich da 
urn eine Summe von geschichtlichen Einzelheiten, die 
sich nur durch historische Studien erfahren lassen. 
Aber gerade diese historischen Begebenheiten sind fur 
den Christenglauben von zentraler Bedeutung, sowohl 
nach moderner wie nach fruherer theologischer An- 
schauung, denn auch nach der Kirchenlehre lieB ein 
gottliches Wesen sich in einem bestimmten Zeitpunkt 
als Mensch hier auf die Erde nieder und trat damit ein 
in die Geschichte. Die Geschichte muB also von ihm 
zeugen konnen. 



Das war damals wie ein Bombenschlag mitten ins Zen- 
trum des Ghristentums, als der junge Theologe DAVID 
FKIEDRICH STRAUSS im Jahr 1835 in einem Alter von 
27 Jahren sein beruhmtes Werk erscheinen lieB Das 
Leben Jesu kritisch bearbeitet. Das Buch bedeutete 



BIBELRELIGION UND BIBBLKRITIK 31 

eine einzigartige Sensation, erlebte rasch mehrere Auf- 
lagen, wurde in verschiedene Sprachen iibersetzt und 
gab Anlafi zu einer wahren Sintflut von Gegenschrif- 
ten. 

Es waren in erster Linie die Mythen und Mirakel des 
Neuen Testamentes, um die es sich handelte. In dem 
vorhergegangenen rationalistischen Zeitalter hatte man 
diese vernunftmaBig zu erklaren gesucht. Man kon- 
statierte in ihnen einen historischen Kern und war 
eifrig bestrebt, durch strohtrockene Auslegung das 1 
Mirakulose zu entfernen. StrauB dagegen schlug 
einen anderen Weg ein, er bewies klar und scharf- 
sinnig unter Hinweis auf die iibrige antike Literatur, 
dafi die Mythen als unwirklich zu betrachten sind, er 
strich in Bausch und Bogen alles in der Bibel weg, was 
mystische Einkleidung hatte, und strich so beinahe die 
ganze Evangelien-Historie aus. 

Kein Wunder, dafi die theologische Welt wie gelahmt 
war vor Schrecken. Durch diesen Angriff wurde nam- 
lich das iiberlieferte Jesusbild iibrigens dasselbe, 
das noch heutzutage unbeirrt in Schule und Kirche 
dargeboten wird in Stiicke geschlagen, und keine 
theologische oder historische Wissenschaft hat es seit- 
dem wieder ganz zusanunenflicken konnen. 
Der Schrecken hatte sich wieder gelegt und der trbel- 
tater seine Strafe bekommen (1), da nahm man den an- 
gerichteten Schaden in Augenschein. Protestantische 



(1) Straufi verier seine Anstellung an der Tubinger Universitat, 
und als er spater eine Prof essur in Zurich erhielt, zwang als- 
bald die Volksstimmung die Eegierung, ihn wieder zu verab- 
scbieden. 



32 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

Theologen stromten aus aller Welt zur Unglucksstatte, 
vertieften sich mit AmeisenfleiB in die neutestament- 
lichen Schriften, lernten kritische Methode und Quel- 
lenanalyse bei der modernen Geschichtsforschung, die 
begriindet von den deutschen Historikern Barthold 
Georg Niebuhr und Leopold von Ranke soeben durch 
F. G. Baur erstmals in den Dienst der neutestament- 
lichen Forschung gestellt worden war, und man hat 
nun seitdem in beinahe hundertjahriger unablassiger 
Arbeit, die in einer riesenhaft angewachsenen, beinahe 
uniibersehbaren wissenschaftlichen Literatur nieder- 
gelegt ist, aus den altesten neutestamentlichen und alt- 
kirchlichen Schriften eine wirkliche geschichtliche 
Jesusuberlieferung herausgeschalt, die bestehen kann 
vor den Anlaufen der historischen Kritik. Straufi' An- 
griff hat also doch seinen Vorteil gehabt, denn heute 
kann die Wissenschaft mit Recht von einem histori- 
schen Jesus reden; das war vor seinem Auftreten noch 
nicht moglich. 

DIE ERSTE BIBEL UND DAS ALTESTE 
EVANGELIUM 

Da die Methoden und Ergebnisse der Evangelienfor- 
schung in zahlreichen popularen Darstellungen nach- 
gelesen werden konnen, bedarf es hier nur einer kurzen 
Skizzierung der Hauptresultate. 

Das anonyme vierte Evangelium wurde fruhzeitig von 
der Kirche als ein Werk des Apostels Johannes ange- 
sehen. Es stammt jedoch nicht aus dem Judenland 
und aus Jesu Zeit, sondern aus dem Syrien des be- 



BIBELRBLIGION UND BIBELKRIT1K 33 

ginnenden 2. Jahrhunderts. Es 1st eine heidenchrist- 
liche Schrift und enthalt eine heidnisch gefarbte Jesus- 
iiberlieferung, die nur sehr wenig historische Ziige ent- 
halt. Bei all der uberwaltigenden Mystik und stim- 
mungsvollen Religiositat, die in ihm lebendig sind, hat 
es nur geringen Wert als Quelle iiber Jesu Leben. Es 
enthalt in Wirklichkeit Reden uber Jesus, nicht Reden 
Jesu, und lafit sich als dichterisehe Bearbeitung eines 
historischen Stoffes charakterisieren, als eine Art histo- 
rischen Romans: der erste Jesusroman, dem noch viele 
weitere folgten. 

Die Hauptmasse der drei ersten Evangelien enthalt da- 
gegen echte palastinensische Jesusiiberlieferung von 
historischem Wert. Die zwei groBen Evangelien von 
Matthaus und Lukas, zwar unabhangig voneinander 
an verschiedenen Orten entstandeh, enthalten dennoch 
wesentliche Stoffgruppen, sowohl Berichte wie Jesus - 
worte, in genau der gleichen auBeren, sehriftlich fixier- 
ten Form, mit den gleichen stilistischen Wendungen 
und den gleichen kleinen Ungenauigkeiten in der Form. 
Also haben sie aus gemeinsamen schriftlichen Quellen 
geschopft. Bei naherem Zusehen erweist es sich, dafi 
diese aus dem judischen Land stammenden Quellen 
aus zwei Schriften bestehen: einer Sammlung lose ver- 
kniipfter Erzahlungen uber Jesu Leben, der altesten 
Biblischen Geschichte der Gemeinde, und aus einer 
Sammlung von Jesusworten, dem altesten Katechis- 
mus der Gemeinde. Wahrend die Jesusworte, die so- 
genannte Redensammlung, nicht mehr als selbstandige 
Schrift existieren, sondern nur in der zweifachen Form 
als ein Teil des Matthaus- und des Lukasevangeliums, 

Nielsen, Der geschichtlieiie Jesua 3 



34 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

haben wir die Jesuserzahlungen noch in einer anderen 
Form als selbstandige Schrift, namlich in dem kurzen 
Markusevangelium. Die alte Sammlung von Reden 
Jesu, die vielleicht vom Apostel MattMus niederge- 
schrieben war, scheint die alteste Schrift dieser Gruppe 
gewesen zu sein und mag etwa 20 bis 30 Jahre nach 
Jesu Tod, also um das Jahr 60, abgefafit worden sein, 
das Markusevangelium ungefahr urns Jahr 70,dieEvan- 
gelien des Matthaus und Lukas zwischen 80 und 90. 



Fafit man nach kirchlichem Sprachgebrauch Evan- 
gelium als trberlieferung von Jesu Leben und Lehre, 
so hat das alteste Evangelium folglich aus zwei Schrif- 
ten bestanden, einer uber Jesu Lehre, einer uber sein 
Leben. Es ist aber bezeichnend, dafi Jesu Lehre die 
erste Geineinde am starksten interessiert hat, und daB 
man sie zuerst zu Papier gebracht hat. Versteht man 
unter Evangelium in diesem Sinn die erste Bibel der 
altesten Gemeinde, so war also das alteste Evangelium 
eine Sammlung von Jesusworten. 
Dieser Sachverhalt befindet sich naturlich auch in 
Ubereinstimmung mit der allgemeinen Praxis in der 
Geschichte der Religionen. Die Lehre, das Wort, das 
neue geistige Leben, die neue Religion ist das Wesent- 
liche. Die Personlichkeit, die dahinter steht, ist wohl 
unaufloslich damit verbunden, aber hat doch im Ver- 
haltnis zu ihrer Lehre nur sekundares Interesse. Jesu 
Worte konnten ein Wegweiser sem fur die suchende, 
eine Arznei fur die leidende Menschheit, selbst wenn 
wir gar nichts von seinem Leben wuBten. 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 35 

Die Bibel der Buddhisten enthalt nur Buddhas Lehre, 
keine Buddha-Biographie. Gotama Buddha wandelte 
im hellen Licht der Geschichte etwa 500 Jahre vor 
Jesus auf Erden; Einzelziige genug sind yon Him be- 
kannt, aber seine ersten Anhanger interessierten sich 
mehr fur seine Lehre. Nach Muhammeds Tod (632 
n.Chr.) sammelte man dessenReden, niedergeschrieben, 
wie man sie fand, auf Palmblatter, auf weifie Stein- 
tafeln, auf Knochel und in der Menschen Herz, und 
schuf daraus den Koran, die Bibel der Muhamme- 
daner. Der enthalt in buntem Durcheinander Muham- 
meds hinterlassene Reden, aber nichts uber sein Leben. 
In den prophetischen Schriften des Alten Testaments 
lesen wir Prophetenworte oder, besser gesagt, Gottes 
Wort, wie es kam zu Hosea, Joel, Amos, Jeremias und 
wie sie alle heiBen, aber keine eigentliche Lebensbe- 
schreibung dieser Manner, und so sind auch die soge- 
nannten Jesusworte, d. h. das Wort Gottes, das zu 
Jesus kam, sicherlich die erste Jesusschrift auf jiidi- 
schem Boden gewesen, die erste Bibel der Urgemeinde. 



Die kirchliche Anschauung von Jesus als dem Gott- 
menschen bewirkte indessen, daJB sich fruhzeitig das 
Interesse auf Jesu Person konzentrierte. Jesu Lehre 
wird zur Lehre von Jesus. Man sammelte und ver- 
tiefte hauptsachlich die Ziige, die seine gottliche Natur 
beweisen sollen, und moderne Reformtheologen, die 
sich mit einem solchen Gottwesen auseinanderzusetzen 
haben, das vom Himmel herniedersteigt, suchen hi den 

8* 



36 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

iiberlieferten Einzelheiten uber Jesu Leben den Men- 
schen zu finden. Jesu Lehre, die erste Bibel der altesten 
Ghristengemeinde, sollte uns das Wichtigste sein, aber 
in der kirchlichen und theologischen Ldteratur steht 
bis heute Jesu Leben allzu einseitig im Vorder- 
grurid (1). 



Wie uns die Textkritik sagt, ist das Markusevangelium 
die alteste und zuverlassigste Quelle fiir eine Darstel- 
lung von Jesu Personlichkeit und Lebenslauf. Es soil 
daher im folgenden einer Schilderung von Jesu Leben 
hauptsachlich zugrunde gelegt werden und kann dem 
Leser, der sich auf Grund von Lekture in den Quellen 
selber ein Urteil zu bilden wunscht, ganz besonders 
empfohlen werden. Der Wert dieses Evangeliums als 
alteste erhaltene Quelle, die noch alteres Material be- 
nutzt hat, ist durch W. Wredes Untersuchung nicht er- 
schiittert worden, er hat sich durch die weitere Evan- 
gelienforschung, besonders durch Jul. Wellhausens 
und Eduard Meyers Arbeiten wieder bewahrt (2). 



(1) Vgl. auch Herders Wort: Die Eeligion an Jesum mufi sich- 
mit dem Fortgange der Zeit notwendig in eine Eeligion Jesu 
verandern (Vom Erloser der Menschen Kap. 4, Abschn. 12). 

Anm. d. Ubers. 

(2) W. Wrede: Das Messiasgeheimnis in den Evangelien (Beitrag 
zum Verstandnis des Markusevangeliums) 1901. Jul. Wellhausen: 
Das Evangelium Marci 1903. Eduard Meyer: Ursprung und An- 
fange des Christentums 1. 3. Bd. 192122, besonders Bd. 1, V: 
Die Quellen des Markus: Es zeigt sich, dafi wir fiir die 
Erkenntnis der Geschichte Jesu keineswegs lediglich mit 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 37 

Es darf danach als ein Hauptresultat der Forschung 
gelten, daB die Jesusgestalt von den alteren zu den 
jiingeren Evangelien hin mehr und mehr gottliches 
Wesen annimmt. Markus zeichnet uns als alteste Le- 
bensbeschreibung den menschlichsten Jesus. Die Ge- 
stalt entwickelt sich durch Hinzufugung der wunder- 
baren Geburt und anderer ubernaturlicher Ziige in den 
jiingeren Evangelien in Richtung auf das Wunder- 
bare und Gottliche fort. Markus schildert einen Men-/-' 7 
schen, Matthaus und Lukas an einzelnen Stellen eine 
Art Halbgott, das Johannesevangelium und spatere 
apokryphe Evangelien einen Gott, der nur noch auBer- 
lich als Mensch angetan ist. 

Diese Tendenz macht sich bereits bei Markus bemerk- 
bar. Seine Schrift ist in ihrer jetzigen Form fur Hei- 
denchristen bestimmt, ist daher an manchen Stellen 
heidnischen Gedankengangen angepaBt und enthalt 
auBerdem auch spatere Zusatze. Man hat mit einer 
noch kurzeren Schrift, dem sogenannten Ur-Markus, 
als ihrer altesten Grundlage zu rechnen. 
AuBerdem ist dieses wie auch die anderen Evangelien 
keine Biographic im modernen Sinn, sondern eine Mis- 
sionsschrift, die Jesus als den verheiBenen Messias dar- 



Aufzeichnungen der zweiten, nachapostolischen Generation zu 
rechnen haben, sondern weit dariiber binaus mitten in die erste 
Generation hineingefiibrt werden, die ihn personlich genau ge- 
kannt hat und noch eine lebendige Erinnerung bewahrte, und 
dafi uns diese altesten Erinnerungen in mehrf achen Fassungen 
vorliegen. So liegt gar kein Grund vor, diese altesten Uber- 
lieferungen nicht in allem Wesentlichen, auch in der chro- 
nologisehen Anordnung seiner Geschichte, fur historisch zuyer- 
lassig zu halten* (S. 146147). 



38 BIBELRELIGION UND BWELKRITIK 

zustellen sucht. Daher legt sie Gewicht auf jene Kraft- 
proben, die damals namentlich in Volkskreisen als 
Zeichen messianischer Sendung galten, auf die soge- 
nannten Wunder. Wenn auch diese Mirakel hier 
nicht so zahlreich und widernatiirlich auftreten wie 
in den spateren Evangelien (es sind uberwiegend Hei- 
lungswunder), stofit der moderne Leser doch auch hier 
auf Taten Jesu, die nach unseren Begriffen mensch- 
liche Krafte ubersteigen. 



Da gilt es nun, diese Schrift im Licht der Geschichte 
zu betrachten. Der jiidische Messias war durchaus 
Mensch: weder der Taufer Johannes noch Jesus von 
Nazareth noch Bar-Kochba noch irgendein anderer 
historisch uberlieferter Messias wurde auf judischem 
Boden irgendwann fiir etwas anderes als fur einen 
Menschen angesehen. Aber jene Zeit, die nicht die Er- 
kenntnis der gesetzmafiigen Natur besafl, legte eben in 
einzelnen Fallen dem Menschen Macht iiber die Natur- 
gesetze bei. 

Ein Leipziger Gelehrter, PaulFiEBio, hat an der Hand 
von reichem Beweismaterial aus der jiidischen Lite- 
ratur dargetan, dafi man in Palastina auch nach Be- 
ginn unserer Zeitrechnung bekannten Lehrern des Vol- 
kes nach ihrem Tod Wunder zuschrieb, die auffallend 
an die Wundertaten erinnern, von denen in den Evan- 
gelien berichtet wird (1). Bei dem einen wird von einer 
wunderbaren Speisung erzahlt, ein anderer wandelte 

(1) Judische Wundergeschichten, 1911. 



BIEELRELIGION UND BtBELKRITIK 39 

auf dem Wasser, ein dritter erweckte Tote usw. Da 
ist es nur natiirlich, dafi solche Erzahlungen uber Jesus 
nach seinem Tode in den Volkskreisen in Umlauf 
kamen, aus denen unser Evangelium stammt. 
Indessen finden sich daneben Stellen im Markusevan- 
gelium, aus denen hervorgeht, dafi Jesus kein Wunder- 
mann war und keiner sein wolltCj, und die Schrift ent- 
halt so viel echte historische tJberlieferung, dafi sie 
eine unschatzbare Quelle fur den darstellt, der Jesus 
zu sehen wunscht, wie er wirklich war. Wenn man sie 
zusammenhalt mit anderen Quellen und mit den zahl- 
reichen archaologischen Indizien, die die neueren Aus- 
grabungen bieten, so entsteht ein treffliches Bild des 
geschichtlichen Jesus. 

ZWEI RELIGIONEN IM NEUEN TESTAMENT 

Die kritiscbe Behandlung des Neuen Testaments hat 
uns im altesten Evangelium der Bibel der Zukunft 
den historischen Jesus sehen lassen. Sie hat gleich- 
falls gezeigt, daB sich die anderen neutestamentlichen 
Schriften weitab von dieser einfachen Grundlage ent- 
fernt haben. Sie stellen eine viel weiter entwickelte 
mythologische Literatur dar und zeichnen uns ein wei- 
terentwickeltes ubernatiirliches Jesusbild. 
Es sind in unserem Neuen Testament wenn das 
Resultat auf eine kurze Formel gebracht werden soil 
zwei Religionen iiberlief ert. Eine Religion, das Juden- 
christen- oder Urchristentum ohne Dogmen und Sa- 
kramente, das aus Palastina und aus dem Judentum, 
von Jesus und dem altesten Evangelium stammt. Sie 



40 BIBELRELIGION VND BIBELKRIT1K 

lafit sich in die Worte f assent Es ist nur ein Gott, und 
Jesus ist sein Prophet. Und eine andere, jungere Re- 
ligion, das Heidenchristentum mit Dogmen und Sakra- 
menten, das aus Syrien und aus dem semitischen Hei- 
dentum, von Paulus und dem sogenannten Johannes- 
evangelium und anderen neutestamentlichen Schrif- 
ten herstammt. Sie ist in Kiirze so zu umschreiben: 
Von Ewigkeit her haben nicht eine, sondern drei Gott- 
heiten existiert, Vater, Sohn und Heiliger Geist. In 
Jesus, dem grojlen judischen Propheten, hat der Gottes- 
sohn menschliche Gestalt angenommen und hat den 
Tod erlitten als Siihnopfer fur unsere Schuld. 



Der alte, von jeher klaffende Rifi zwischen Juden- 
christentum und Heidenchristentum hat sich jetzt zu 
einer gewaltigen Kluft erweitert, iiber die es keine 
Briicke gibt. Man kann in der Tat dieses nicht aus 
jenem erklaren als die Entfaltung von Keimen, die 
schon im Judentum, in Jesu Lehre und im altesten 
Evangelium verborgen lagen; denn sowohl die Juden 
wie Jesus und die Judenchristen waren strenge Mono- 
theisten, die keine Sakramente kannten. Selbst wemi 
Jesus auf diesem Boden wogegen die historischen 
Dokumente zeugen allmahlich zu einem Gottwesen 
geworden ware, woher kame dann die dritte Person 
in der gottlichen Dreiheit, woher die Sakramente, die 
etwas auf judischem Boden ganzlich Unbekanntes dar- 
stellen und sich deshalb weder bei Jesus noch in der 
altesten judenchristlichen Gemeinde finden? AuBer- 



B1BELRELIGION UND BIBELKRITIK 41 

den^braucht eine solche Entwicklung ihre Zeit. Aber 
von Jesus dem Gottessohn predigt ja Paulus schon 
20 Jahre nach der Kreuzigung. Woher stammt also das 
Heidenchristentum? 

Bibel und Bibelkritik lassen uns hier im Stich, sie 
lehren nur, dafi das Judenchristentmn und der ge- 
schichtliche Jesus von den Juden stammen. Eine an- 
dere Wissenschaft gibt uns hier eine klare Antwort. 
Es 1st die, welche sich mit den Religionen beschaftigt, 
die gleichzeitig mit dem Judentum und mit Jesus in 
Vorderasien auBerhalb des jiidischen Landes bestan- 
den. Das Judenchristentum geht von den Juden aus 
das Heidenchristentum, so sagt uns diese Wissen- 
schaft, kommt von den Heiden. 

Beiden gemeinsam ist der historische Jesus, ihn haben 
sich Juden und Heiden angeeignet, aber als die Jesus- 
gestalt verpflanzt wurde auf heidnischen Boden, da 
wurde sie heidnischen Gedankengangen entsprechend 
umgebildet. Ebenso wie in der Literatur die alteste 
Jesusiiberlieferung in jiidischer Sprache bald ins Grie- 
chische, die Kultursprache der heidnischen Welt, iiber- 
setzt wurde und sich dann in der Bibel der Kirche nur 
in dieser heidnischen Sprache erhalten hat, oder wie 
in der Kunstgeschichte das jiidische Jesusbild rasch 
vom griechischen verdrangt wurde, das in der Folge- 
zeit in der christlichen Kunst dominierte, so auch wurde 
in der Religionsgeschichte der Menschensohn der 
Juden und der Evangelien umgebildet zu dem Gottes- 
sohn, der nun bald 2000 Jahre lang der Jesus der Kirche 
gewesen ist. 



42 BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 

Von der jiidischen zur griechischen Sprache fuhrt 
keine Entwicklung bin; griechische Kunst 1st eine Welt 
fur sich und hat mit jiidischer Kunst nichts zu schaf- 
fen. Die jiidische Religion war und ist eine einzigartige 
Erscheinung in der Geschichte, sie hat sich niemals 
vergewaltigen lassen von heidnisch-polytheistischer 
Gottesauffasung. Deshalb fuhrt auch keine Briicke von 
der jiidischen zur heidnischen Religion, von dem dog- 
menfreien Judenchristentum zu der weitlaufigen hei- 
denchristlichen Theologie mit ihrer ausgebauten Dog- 
matik. Wollen wir zu ihrem Ursprung und damit zu 
ihrem Verstandnis vordringen, so diirfen wir uns nicht 
mit dem Studium der Bibel oder der jiidischen Litera- 
tur begniigen, sondern miissen uns in eine andere Welt 
hiniiberbegeben. 

Zwei unversohnlich einander widerstreitende Machte 
kampften vor bald 2000 Jahren in Vorderasien einen 
Kampf auf Leben und Tod: das Judentum und das da- 
von ausgehende Judenchristentum auf der einen Seite, 
auf der anderen vorderasiatisch-heidnische Religions- 
stromungen und das von ihnen ausgegangene Heiden- 
christentum. Fiir Juden und Judenchristen bedeutete 
die Setzung mehrerer Gotter eine Gotteslasterung, die 
man mit Steinigung bestrafte, fur die Heiden war alles 
Jiidische eine Pestilenz. Dieser Kampf hat tiefe Spuren 
in der alten Kirche und in unserem Neuen Testament 
hinterlassen und wurde daher mit Recht von F.G.BAUK, 
dem Tubinger Theologieprofessor (f 1860), und der so- 
genannten Tubinger Schule, die die historisch-kritische 
Behandlung des Neuen Testaments einfuhrte, der du- 
alistischen Sonderung des Quellenmaterials zugrunde- 



BIBELRELIGION UND BIBELKRITIK 43 

gelegt, die ihrerseits wieder grundlegend wurde fur 
das Verstandnis des Neuen Testaments und der alte- 
sten Geschichte des Ghristentums. 
Auch die Kirche und die Klrchengeschichte weifi noch 
von diesem Zweikampf, jedes Kind hort in der Schule 
von dem Streit zwischen Judenchristen und Heiden- 
christen, zwischen dem gebildeten Reprasentanten 
der Heiden, PAULUS, und dem ungelehrten Fischer, 
PETRUS, Jesu Bannerfuhrer, dem ersten Haupt der jti- 
dischen Gemeinde. Die einander zugewandten Kopfe 
von Petrus und Paulus, wie sie uns ein altkirchliches 
Bild erhalten hat, sind von der alten Kirche auf eine 
Medaille geschlagen worden wie zur Erinnerung an 
den ursprunglichen, unversohnlichen Dualismus in der 
Geschichte der Urkirche, der dann mit dem Sieg der 
Heidenchristen und des Paulinismus geendet hat. 



Wollen wir die Religion verstehen, die den Osten und 
Norden des Jordanflusses umspannt und es hier fertig- 
bringt, den geschichtlichen Jesus durch ihre reichent- 
wickelte Gotterlehre zu entstellen, die den irdischen 
Jesus in himmlische Spharen erhebt und das ursprung- 
lich so schlichte Ghristentum in einen machtigen Dog- 
menapparat verwandelt, so miissen wir gen Osten gehen 
und uns in die heidnische Religion des Landes ver- 
senken, das das Heidenchristentum und seine Dogmen- 
lehre nahrte, dafi es obsiegen und spaterhin zur kirch- 
lichen Lehre erhoben werden konnte. Gleichzeitig kann 
uns hier ein Fingerzeig zum Verstandnis der histori- 



44 BIBELREL1GION VND BIBELKRITIK 

schen Tatsache werden, daB es gerade dieser Kultur- 
boden war, auf dem sich das so verwandelte Ghristen- 
tum so gewaltig ausbreitete, wahrend es im Lande der 
Juden rasch verkummerte. 

Wir haben deshalb in einem neuen Abschnitt von dem 
zu reden, was man heute gern Licht vom. Osten 
nennt. Namlich von dem Ergebnis der groBen Aus- 
grabungen und der gewaltigen Forscherarbeit, durch 
die erst in unseren Tagen wieder jene uralte Kultur 
und Religion ans Licht gebracht wurde. Das Studium 
der zwei verschiedenen Religionen in unserem Neuen 
Testament lassen sich zwei verschiedene Wissenschaf- 
ten angelegen sein. 



Wenn der moderne Ingenieur eine Briicke oder einen 
Tunnel baut, so beginnt er in der Regel von beiden Sei- 
ten. 1st die Arbeit richtig ausgefuhrt, so zeigt sicb, daB 
man von den verschiedenen Ausgangspunkten aus in 
der Mitte zusammenstoBt, so daB eine Brucke oder ein 
Tunnel entsteht, ein zusammenhangendes brauchbares 
Ganzes. Die Durchbohrung des GroBen St. Gotthard 
war ein Triumph neuzeitlicher Technik. Es war ein 
gewaltiger Sieg der modernen Ingenieurwissenschaft, 
als man nach jahrelanger Arbeit unter wechselnder 
Leitung das 15 km breite Bergmassiv von zwei ver- 
schiedenen Ausgangspunkten, von Italien und der 
Schweiz aus, durchbohrt hatte und schlieBlich in der 
Mitte zusammentraf. 
Einen ahnlichen Sieg hat die moderne Bibelwissen- 



BIBELRELIGION UND BIBELKRIT1K 45 

schaft errungen. Hier haben jahrelang in mehreren 
Generationen zwei verschiedene Wissenschaften, die 
Bibelkritik und die vorderasiatische Altertumskunde, 
von zwei verschiedenen Seiten aus, voneinander unab- 
hangig, mit verschiedenem Material und verschiedener 
Methode gearbeitet und greifen nun zum Schlusse in- 
einander iiber und treffen sich in einem Hauptresultat, 
sie schlagen eine Briicke uber die zwei verschiedenen 
Elemente im Neuen Testament und vermitteln uns so 
gemeinsam das Verstandnis dieses ganzen Buchs. 
Die Bibelkritik, ein Kind der protestantischen Theolo- 
gie und deshalb hauptsachlich von Theologen ausge- 
iibt, geht von den neutestamentlichen Schriften aus, 
schiebt hier spatere heidenchristliche Elemente bei- 
seite, suchtim Bereich der Evangelienliteratur im alte- 
sten judenchristlichen Evangelium festen Fufi zu fas- 
sen, entdeckt da,fest verankert imJudentum,denwahr- 
haftigen geschichtlichen Jesus, aber ist nicht imstande, 
die heidenchristliche Dogmenlehre zu erklaren. 
Die vorderasiatische Altertumsforschung, die haupt- 
sachlich von Sprachforschern und Historikern betrie- 
ben wird, nimmt ihren Standpunkt auBerhalb des 
Judenlands und der Bibel in der nichtjudischen an- 
tiken Kultur, die ja nicht nur zu Jesu Zeit bestand, 
sondern schon mehrere Jahrtausende vor Jesu und 
der Juden Zeit; sie erklart hieraus die heidenchrist- 
lichen Dogmen, die bis dahin unverstandlich waren,; 
sowie alle die Ziige in dem uberirdischen mytholo- 
gischen Jesusbild, die die Bibelkritik aus dem altesten 
Evangelium als unhistorisch ausgeschieden hat. 



LIGHT VOM OSTEN 



Geistige Eefreiung kommt nicht von 
Mathematik imd Naturwissenschaft, 
sondern von geschichtlicher For- 
schung.. Usener 

"T TNSEREM Wissen uber Ursprung und Entwicklung 
\^J des Christentums kominen jetzt historische Quellen 
zu Hilf e, die friiher vollkommen unbekannt waren, und 
die die Ref ormatoren zur ErschlieBung des Urchristen- 
tums sicher herangezogen batten, waren sie ihnen zu- 
ganglich gewesen. Wir sind nun nicht mehr allein 
auf die Aufschliisse angewiesen, die uns die Bibel gibt. 
Es handelt sich bier mn eines der bedeutendsten Er- 
eignisse, das die Annalen der Geschichtsforscbung zu 
verzeichnen haben. Die Ruinenhiigel Vorderasiens 
haben sich aufgetan. Eine uralte, bisher unbekannte 
Welt ist vom Grab erstanden. Langst vergangene Jahr- 
tausende, die bisher in tief stem Dunkel lagen, traten in 
den letzten Jahrzehnten in belles Licht. Der Zeitraum, 
den wir in der Entwicklung unserer Kultur iiber- 
schauen konnen, hat sich mehr als verdoppelt. Fruher 
reichte unsere historische Kenntnis knapp 3000, heute 
geht sie uber 6000 Jahre zuriick. Fruher fiel der. Vor- 
hang schon im 1. Jahrtausend, jetzt erst im 4. bis 
5. Jahrtausend v. Chr. Dem Ursprung unserer Kultur, 
und damit auch unserer Religion, den wir fruher nur 
bis Rom, Griechenland und Palastina zuriickverfolgen 
konnten, laflt sich jetzt nachgehen bis zu den alten 



LIGHT VOM OSTEN 47 

Kulturvolkern am Nil, am Euphrat und Tigris. Jahr- 
tausende vor dem Beginn unserer Zeitrechnung, als 
Europa noch von dichten Waldern bedeckt war. und 
primitive Steinzeitmenschen an seinen Flufimundnn- 
gen die ersten menschlichen Kulturverbande schufen, 
da bluhte hier schon eine glanzende, geistig hochent- 
wickelte Kultur, von deren Resten wir noch heutzutage 
zehren. 



Aus diesen Gegenden ergofi sich im Altertum eine 
Kulturwelle nach der andern uber das erwachende 
Europa. Von da kam uns die Schrift, die erste Bedin- 
gung menschlicher Kulturentwicklung. Von da kamen 
die ersten Anlaufe zu Kunst und Wissenschaft, und 
von da gingen spater Judentum und Christentum aus. 
Vorderasien (1) war im Altertum der Lehrmeister des 
jungen Europa, so etwa wie in neuerer Zeit das junge 
Amerika seine Kultur von Europa bezog. Das Licht 
kommt zu alien Zeiten vom Osten. Unsere Kultur be- 
wegt sich stets nach Westen zu. Von den alten vorder- 
asiatischen Kulturvolkern hat Europa lesen und schrei- 
ben gelernt, von ihnen hat es das Weltbild bekommen, 
das herrschend war bis auf Kopernikus, von ihnen 
seme materielle Technik gelernt, seine kunstlerischen, 
politischen und religiosen Ideale geholt. Wie das Al- 



(1) Zur alten vorderasiatisclien Kultur rechnet man in diesem 
Zusammenhang auch die altagyptische, die vermutlich ursprung- 
lich aus Vorderasien stammt, jedenfalls aber so nah verwandt 
mit der vorderasiatischen Kultur ist, dafi wir Mer, wo nur die 
groben Umrisse zu skizzieren sind, sie als Einheit fassen konnen. 



48 



LIGHT VOM OSTEN 



phabet, das die Kinder in unseren Schulen lernen, von 
Vorderasien stammt, so auch die Religion, die in alien 
Kirchen Europas verkiindet wird. 
Die Ausgrabungen haben uns indessen gelehrt, daB in 
der Geschichte unseres Schriftsystems dem Alphabet 
mit seinen 20 bis 30 Zeichen eine Silbenschrift mit zirka 
100 Zeichen und eine Bilderschrift mit Zeichen fur 








FuB 



Fisch 



Vogel 



Ahre 




AA 
A 



Stern (Himmel) 



Sonne Wasser (FluC) 

Babylonische Bilderschrift 



Berg 



jedes Wort voranging. Jahrtausende lang hatten im 
Orient neue Erfindungen einander abgelost, bis man 
bei der allein praktischen Form fur die Schrift stehen- 
blieb, die die Griechen von phonizischen Kaufleuten 
lernten, und deren sich Europa nun bald 3000 Jahre 
beuiahe unvefandert bedient. 

Ebenso hat, wie gesagt, die vorderasiatische Altertums- 
kunde in epochemachender Weise Licht iiber den Ur- 
sprung unserer Religion verbreitet. Wir hatten bisher 
gemeint, ihre alteste geschichtliche Grundlage im 
Judentum und in den Schriften gefunden zu haben, 
die in der Bibel iiberliefert sind, und die das Christen- 



TAFEL I 



c A y r o VK4i 



i e AI f K e r A f 1 e 




SchluB des Markusevangeliums nacli dem Codes regius 
Pergamenthandschrift aus dem 8. Jahrh. [ZuS. 36ff.] 



TAFEL II 




Petrus und Paulus 

[Zu S. 43.] 



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B, ,,~{s t^ 




Bruchstiick einer Handschrift des Matthaus-Evangeliums aus 
dem 3. Jahrh. (Oxyrhynclius-Papyrus) [Zu s. 33 f.] 



TAP EL 111 




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03 
J-, 



TAFEL IV 




Die 4. Tafel des babylonischen Schopfungsberichtes 

[Zu S. 50.] 



TAP EL V 




Israelitische Gesandtschaft auf einer assyrischen 
(9. Jahrh. v. Chr.) [Zu s. 52 f.] 




Brief eines vorisraeliti- 
schen Konigs von Jeru- 
salem an den Pharao 
(ca. 1400 v. Chr.) 

[Zu S. 52.] 




Inschrift des Konigs Mesa von 
Moab (9. Jahrh. v. Chr.) [Zu S. 52.] 



TAFEL VI 




Babylonische Bildhauerarbeit aus dem 3. Jahrtausend v. Chr. 
(sogen. sumerische Periode) [Zu s. 55.] 




Israeliten auf einem agyptischen Relief (ca. 950 v. Chr.) 

[Zu S. 52.] 



TAP EL VII 




Assyrische Lowenjagd zu. Pferd 

[Zu S. 55.] 




Der berlihmte sterbende Lowe von Mnive 

[Zu S. 55.] 



TAP EL VIII 



Gcsetzesstein 

Konig 
Hainmurabis 

(Zu S. 55 fj 




LICET VOM OSTEN 49 

turn auf seiner Wanderung vom Orient nach dem 
Westen mit sich nahm. Nun wissen wir, dafi Christen- 



13 ronV 




\ -7J7 

p b 



Nordsemitisclie (ph6nikische) Alphabetachrift, 
rechts hebrSische Transskription 

turn und Judentum verhaltnismaCig spate Stadien in 
der Entwicklung jener Religion darstellen; beide haben 
sich aus einer uralten, bis dahin unbekannten vorder- 



Sudaemitische 

(altarabische) 

Alphabetschrift 

asiatischen Religion entwickelt, wie sich Alphabet und 
Silbenschrift aus der alten vorderasiatischen Bilder- 
schrift entwickelt haben. Wir wissen auch, dafl viel 
Yon dem, was wir im guten Glauben fur Bestand- 
teile des.Urchristentums genommen batten (z. B. die 

Nielsen, DBF geschichtliche Jesus 4 



50 LIGHT VOM OSTEN 

Dogmen und Sakramente), sich erst dem Christentum 
anheftete, als dies die Grenzen Palastinas uberschritt 
und von uralten, nichtjudischen orientalischen Reli- 
gionen beeinfluBt wurde. 

Aus Babylonien und aus alteren Phasen der gleichen 
Religion stammen auch die Urzeitberichte, Erzahlun- 
gen von Erschaffung der Welt, Adam und Eva, Para- 
dies, Siindenfall, Urvatern, Sintflut und Babelturm, die 
sich in umgearbeiteter Form auf den ersten Blattern 
der Bibel finden. In Babylonien lag der Garten des 
Paradieses, bier fanden Sundenfall und Sintflut statt, 
und von hier yerbreitete sich das Menschengeschlecht 
iiber den ganzen Erdball. Die Juden verlegten in ver- 
haltnismafiig spater Zeit den Urzustand des Menschen- 
geschlechts und das Paradies in die segensreichen und 
fruchtbaren Ebenen Mesopotamiens, denn hier ; .bluhte 
nach damaliger Crberlieferung in langst verschwun- 
dener Zeit die alteste und hochste Kultur der Erde. 



DIE JUDEN 

Aus dem Leben Friedrichs des GroBen erzahlt man 
folgende Anekdote: Wachgehalten durch religiose Spe- 
kulationen, hiefi er einmal in spater Nachtzeit nach 
seinem Leibarzt rufen und sagte ungeduldig: Gib mir 
einen Beweis fiir die Wahrheit des Christentums, aber 
kurz und biindig soil er sein! Da antwortete der Arzt: 
Die Juden, Euer Majestat. 

Das jiidische Volk ist in vieler Hinsicht das grofie Rat- 
sel der Geschichte. Es lebte fruher im BewuBtsein der 
Allgemeinheit als altestes Volk der Erde, als das ein- 



LIGHT VOM OSTEN 51 

zige, das noch Traditionen aus der Urzeit des Staxniries 
bewahrt hatte. Als es heimatlos geworden seine 
tausendjahrige Wanderung uber den Erdball antrat, 
da brachte es aus seiner Heimat jene ehrwiirdigen Er- 
zahlungen mit, von Adam und Eva, Noah, Abraham 
und Mose usw., die nach biblischer Ghronologie 
einen Zeitraum von etwa 4000 Jahren vor Beginn un- 
serer Zeitrechnung umspannten und damit die Ge- 
schichte des Menschengeschlechts bis auf seinen Ur- 
sprung zuruckfiihren wollten. 



Nun ist das Volk der Juden nicht mehr, wie man fruher 
glaubte, das alteste Volk der Erde, sondern das jiingste 
unter den semitischen "Volkern des Altertums (1). Die 
jiidische Religion ist nicht mehr die Urform aller 
menschlichen Religionen, sondern ein verhaltnismaBig 
spates Produkt der semitischen Religionsentwicklung. 
Die heiligen Schriften der Juden stellen nicht, wie man 
fruher glaubte, die alteste historische Literatur dar, 
sondern shid erst in einer spaten Zeit entstanden auf 
dem Hintergrund einer Jahrtausende alten historischen 
und religiosen Literatur. 

Die judische Nation tritt erst im 1. Jahrtausend v. Ghr. 
auf den Plan; aber schon im 2. und 3. Jahrtausend 
v. Chr. hatten die Babylonier in der Ebene der Flusse 



(1) Zu diesen V8lkern geli6ren Araber und Abessinier (Sfid- 
semiten), Babylonier, Assyrer, Aramaer oder Syrer, PhOniker 
und Hebraer (Nordsemiten). 

4* 



52 LIGHT VOM OSTEN 

Eiiphrat und Tigris eine aufierordentlich hohe Kultur 
entwickelt, die sich uber den grofiten Teil Vorderasiens 
ausbreitete. Die ans Licht gebrachten ttberreste die- 
ser Kultur, Inschriften und Denkmaler zu Tausenden, 
ja Hunderttausenden aus Babylonien, Assyrien, Pa- 
lastina und Agypten geben uns ins Einzelne gehende 
Aufschliisse uber die Kultur dieser Gebiete, und dies 
alles ein paar Jahrtausende, bevor es ein Volk der Juden 
gab. Wir kennen die Verhaltnisse in Palastina im 
2. Jahrtausend v. Chr., vor der Zeit, da die Nomaden- 
stamme aus der arabischen Steppe eindrangen, die sich 
spater zum hebraischen Volk vereinigten, recht genau. 
Unter den Amarna-Briefen (zirka 14. Jahrhundert 
v. Chr.) befinden sich z. B. verschiedene Briefe von 
Klemfiirsten aus Palastina, darunter seehs oder sieben 
von einem Konig von Urusalim (Jerusalem), der beim 
Pharao von Agypten Hilfe sucht gegen die vordringen- 
den Habiri oder Hebraer, die damals das Land zu er- 
obern begannen, und die Geschichte dieser Hebraer 
laJBt sich weiterhin Schritt fiir Schritt bis auf die Zeit 
Jesu an Hand der zahlreichen neuen vorderasiatischen 
Inschriftenfunde illustrieren. 

Schon zirka 1000 Jahre vor Jesu Zeit begegnen uns 
beispielsweise Darstellungen gefangener Juden auf 
agyptischen Denkmalern. Die bekannte Inschrift des 
Konigs Mesa in Moab, der nach 2. Kon. 3,27, um den 
Sieg iiber Israel zu erlangen, seinen Sohn auf der Stadt- 
mauer opferte, berichtet im 9. Jahrhundert v. Chr. aus- 
fuhrlich von den Kampfen der Moabiter mit den Israeli- 
ten, und Juden aus dem gleichen Jahrhundert sind auf 
dem Obelisk abgebildet, den der assyrische Konig Sal- 



LIGHT VOM OSTEN 53 

manassar III. im Jahre 832 v. Ghr. zur Erinnerung an 
seine Siege errichten lieB. 



Die Juden folgten seinerzeit dem Zug der Volker- 
wanderimg von Arabien in die nordsemitischen Kultur - 
lander, wo sie von dem unsteten Nomadenleben zum 
Ackerbau iibergingen, und eigneten sich nach und nach 
die hoherstehende nordsemitische Kultur an. Sie sind 
also ein verhaltnismafiig junges V.olk mit einer von 
Haus aus primitiven Kultur, das sich in altes Kultur- 
gebiet einpflanzte. Da ist es kein Wunder, daB die uralte 
eingewurzelte Religion des Landes auf die jiidische und 
in noch hoherem Grad auf die christliche Religion ein- 
gewirkt hat, als diese die Grenzen des kleinen Pala- 
stina iiberschritt und sich in Vorderasien ausbreitete, 
wo die alten semitischen Kulturreligionen sich in Jahr- 
"tausenden alien Schichten der Bevolkerung mitgeteilt 
hatten. 

Das ist nicht so zu verstehen, daB der zentrale Inhalt 
des Judentums oder des Christentums jeweils dadurch 
beriihrt worden ware, so daB sich die Sonderart dieser 
Religionen damit verwischt hatte. Keiner von diesen 
Religionsformen eignet sklavische Imitation fruherer 
Religionen, beide bedeuten einen entschiedenen Bruch 
mit altvertrauten Vorstellungen, beide fiihren die reli- 
giose Erkenntnis weiter zu neuen, ungeahnten Hohen. 
Aber ringsherum an der Peripherie lagerten sich Ele- 
mente von Religionen der Vorzeit aU genau so, wie ja 
das Christentum spater in Europa auch von den alten 



54 LIGHT VOM OSTEN 

heidnischen Religionen offenbar fremden Stoff auf- 
genommen hat (Madonnenverehrung, Weihnachtsfest 
usw.), um ihn mit der neuen Lehre zu verschmelzen. 



Lange Zeit hat man die Bibel und die biblischen 
ligionen mit einer Art geistiger chinesischer Mauer um- 
geben. Die Bibel war ein heiliges, von Gott inspiriertes 
Buch, das nicht mit der iibrigen antiken Literatur auf 
eine Stuf e gestellt oder wie sie behandelt werden durfte. 
Judentum und Christentum waren eines wie das an- 
dere offenbarte Religionen, die jedes Zusammenhangs 
mit anderen, heidnischen Religionen entbehrten. 
Nun hat schon die Bibelkritik durch Aussonderung 
verschiedener Berichte und Lehren als dem ursprung- 
lichen Judentum und Christentum fremder Bestand- 
teile eine Bresche in diese Mauer zu legen versucht, 
und die Mauer sturzt vollends zusammen, wenn wir 
durch Inschriften aus den Nachbarlandern erfahren, 
dafi Erzahlungen und Lehrstiicke, die wir bisher nur 
aus der Bibel kannten, tatsachlich von anderen Reli- 
gionen des Altertums stammen. 

DIE BABYLONISCHE KULTUR 

Um jene eigentumliche Religion zu verstehen, deren 
Elemente noch heutzutage hier und dort im Christen- 
tum lebendig sind, ist es notwendig, in kurzen Ziigen 
ein Bild der hohen Kultur zu entwerfen, die eine Reli- 
gion von ebenburtiger GroBe nahrte und trug. 



LIGHT VOM OSTEN 55 

Die neuere Religionswissenschaft arbeitet standig in 
enger Fiihlung mit der Kulturgeschichte, sie betrachtet 
die Religion als ein Glied am Leibe der Kultur eines 
Volkes, sie findet tiefstehende Religionen bei Volkern 
mit primitiver Kultur und verfolgt die religiose Ent- 
wicklungslinie durch die hoheren Kulturformen. 
Man braucht nur einen Blick auf die babylonischen 
Bildhauerarbeiten aus der sogenannten sumerischen 
Periode (3. Jahrtausend v. Chr.) zu werfen, wie sie die 
Ausgrabungen zutage gef ordert haben, um zu verstehen, 
dafi wir hier eine Kultur von hohem Rang vor uns 
haben. Ebenso hoch steht in ihrer Art die spatere assy- 
rische Kunst. Die Kunstwissenschaft rechnet beispiels- 
weise assyrische Erzeugnisse zu den besten Tierdar- 
stellungen der Welt. 

Aus dem Ende des 3. Jahrtausend v. Chr. stammt der 
beruhmte Hammurabi-Gesetzeskodex, der heute eine 
der groBten Sehenswurdigkeiten des Louvre in Paris 
darstellt. Auf einen hohen Dioritblock hat der Konig 
Hammurabi 282 Gesetzesparagraphen einmeiBeln 
und mehrere Exemplare dieses Gesetzbuches in sei- 
nem machtigen Reich hier und dort aufstellen lassen, 
damit ein jeder wissen sollte, was Recht und Gesetz 
verlangten. 

Friiher waren das romische Recht und das mosaische 
Gesetz unsere altesten Gesetzsammlungen. Heute wird 
dieses babylonische Gesetz, das rund 1000 Jahre alter 
ist als das des Moses, eifrig von modernen Juristen als 
die alteste bisher bekannte Gesetzessammlung studiert 
und wegen des darin zutage tretenden hochentwickelten 
Rechtsgefuhls bewundert. Wir haben damit in der 



56 LIGHT VOM OSTEN 

Rechtsgeschichte eine weitere uralte Phase kennen- 
gelernt alter als die des romischen und jiidischen 
Rechts , ebenso wie wir in der Geschichte unserer Re- 
ligion eine alter e Stufe als Judentum und Christentum 
gefunden haben. 

Selbst ein so begrenztes Kulturelement wie das Post- 
wesen findet sich bereits in hochentwickelter Form im 
alten Babylonien wie spater in Assyrien. In Ermange- 
lung von Papier schrieb man auf eine kleine Tontafel, 
trocknete sie an der Sonne oder brannte sie, steckte sie 
in eine Tonumhullung mit der Adresse darauf und lieC 
den Brief durch einen Boten besorgen. Aus der Ham- 
murabi-Dynastic ist kurzlich eine Sammlung von 
270 Brief en bekanntgeworden, darunter zirka 50 Amts- 
briefe von Hammurabi selber (1). 
UngeheureMengen von Vertfagsformularen und juristi- 
schen Dokumenten zeugen von einem intensiv betrie- 
benen Ackerbau und Handel, der durch eine Unzahl 
von Gesetzen bis ins einzelne geregelt war; aber die 
deutlichste Sprache redet doch die ungeheure geistes- 
geschichtliche und religiose Literatur, die kiinftig im 



(1) Der Inhalt der Briefe deutet auf lebhaften und regelmafiigen 
Briefwechsel in einer Zeit, die mehr als 2000 Jahre vor Christi 
Geburt liegt. Ein Sohn beklagt sich daruber, daB die Mutter 
in ihren Briefen niemals mutterliche Gefiihle aufiert, um sein 
Herz zu erfrischen. Ein Brief scbreiber erzahlt dem Adressaten 
von einem BeleidigungsprozeB gegen einen Mann, der unsern 
guten Namen in der Heimatstadt in Schande bringt. Ein Sohn 
klagt seinem Vater daruber, das die Kost an seinem Arbeits- 
platz schleeht sei : Ich babe nun bier 2 /s Sekel Silber versiegelt, 
die dir anbei zugehen. Kaufe fur dies Geld gute Fische und 
sende sie mir zu. 



LIGHT VOM OSTEN 57 

Religionsunterricht betrachtlicheTeile vomAlten Testa- 
ment erganzen und das richtige Verstandnis des Neuen 
Testaments vermittem wird. 

Wir kennen diese Literatur hauptsachlich aus dem In- 
halt der ausgegrabenen Bibliotheken, deren Studium 
sich jeder mit Gewinn widmen wird, der sich fur 
moderne Bibliothekstechnik interessiert. Die Biicher 
schrieb man auf numerierte, katalogisierte Tontafeln, 
die nach wissenschaftlichen Prinzipien geordnet 
auf Regalen in grofien Bibliotheken verwahrt waren, 
die mehrere hunderttausend Bande fassen konnten. 
Schon in der friihesten Ausgrabungsperiode brachte 
man aus der Bibliothek des assyrischen Konigs As- 
surbanipal uber 20000 solcher beschriebener Ton- 
tafeln nach dem Britischen Museum in London. Bei der 
Ordnung desselben entdeckte der junge Kupferstecher 
George Smith im Jahre 1872 Bruchstiicke eines alten 
vorisraelitischen Sintflutberichtes, der iiberraschende 
Parallelen mit dem biblischen aufwies. 
Es war der ersteXichtschein, der aus diesen Texten auf 
die Blatter der Bibel fiel. Der Fund erregte eine gewal- 
tige Sensation. Die Daily Telegraph bot George 
Smith 1000 Pfund Sterling an fur Ausfiihrung einer 
Reise ins Ausgrabungsgebiet, damit er dort den Rest 
des Berichtes fande, und es gluckte Smith auch wirk- 
lich, in der Bibliothek die fehlenden Bruchstiicke auf- 
zufinden. Nach seiner Riickkunft gab er so etwas wie 
ein babylonisches erstesBuchMose heraus (The Chal- 
dean account of the Genesis 1876), das ungeheures Auf- 
sehen machte und im Lauf weniger Monate fiinf Auf- 
lagen erlebte. 



58 LIGHT VOM OSTEN 

Die nachste Sensation geschah zu Beginn unseres 
Jahrhunderts. Inzwischen waren mehrere groBe Bi- 
bliotheken ausgegraben worden, darunter auch die 
grofie Tempel- oder Universitats -Bibliothek in der 
Stadt Nippur in Sudbabylonien aus dem 4, oder 3. Jahr- 
tausend v. Chr. (1). Da hielt der bekannte Assyriologe 
Friedrich Delitzsch, weiland Professor an der Uni- 
versitat Berlin, einen Vortrag mit Lichtbildern: Babel 
und Bibel, der 1902 veroffentlicht wurde, und dem 
noch eine Reihe ahnlicher Schriften folgte, in denen 
Delitzsch, ausgehend von den neuen Funden, das 
Alte wie das Neue Testament in neue Beleuchtung 
ruckte und auf Grund dieses Materials energisch die 
Einfiihrung einer neuen revidierten Bibel in Schule 
und Kirche verlangte. 

Diese Schriften wirbelten viel Staub auf, wenn sie auch 
fur die Fachgelehrten nichts wesentlich Neues brach- 
ten. Sie wurden in fiber .100 000 Exemplaren verbreitet, 
an die 100 Gegenschriften in gleicher Anzahl. Die Zahl 
der einschlagigen Zeitschriften- und Zeitungsartikel 
stieg rasch fiber 2000. Die ganze zivilisierte Welt, sogar 
der Deutsche Kaiser und was sonst die Feder ffihren 
konnte, nahm an der Diskussion teil. Babel-Bibel war 



(1) Die amerikanischen Ausgrabungen haben dort uber 50000 
Tafelchen geborgen, obgleich bis jetzt nur 80 Eaume (Via der 
ganzen Bibliothek 1) ausgegraben sind. Der Leiter der Expedi- 
tion, der jungst verstorbene Prof. Hilprecht, meint, dafi zur 
Ausgrabung der ganzen Euinenstadt 400 Mann Arbeitskrafte 
notig waren, die bei taglicher Beschaftigung 50 oder gar 100 
Jahre zu arbeiten batten. Der Tempelbezirk mit Beamtenwoh- 
nungen, Bibliothek und Priesterseminar umfafite iiber 40 ha 
Land, die Bibliothek allein uber 2^2 ha. 



LIGHT VOM OSTEN 59 

damals ein ganz allgemeines Gesprachsthema an den 
Stammtischen; der Zirkus Schumann in Berlin fuhrte 
eine groJBe Babel-Bibel-Pantomime auf. 
Das gleiche Thema steht nun wieder auf der Tages- 
ordnung. Weitere Funde und Forschungen haben uns 
nunmehr ein geschlossenes Bild der uralten semitischen 
Religion gegeben, von der man friiher nur einzelne 
Ziige gekannt hatte. Wir haben die Religion kennen- 
gelernt, die uns spater in den Tagen Jesu in Syrien 
begegnet, und die dann mit Jesu Lehre verschmolz. 
Aus alteren und jiingeren orientalischen Inschriften 
fallt nun ein so unerwartet grelles Licht auf das Wer- 
den des Neuen Testaments und des Christentums, dafi 
wir unwillkiirlich geblendet werden und uns erst lang- 
sam in der neuen Umgebung zurechtfinden. 

DIE ALTE RELIGION VORDERASIENS 

Die alten Babylonier wie iiberhaupt alle semitischen 
Volker batten aus einer fruheren, noch nomadischen 
Kulturperiode eine Gotterdreiheit ererbt, eine Gotter- 
familie: Vater, Sohn und Mutter, die sich in Syrien 
noch vor Jesu Zeit durch den EinfluB der griechischen 
Philosophie zu Vater, Sohn und Heiligem Geist gewan- 
delt hatte. Die Reihenfolge, in der diese Gottheiten 
aufgezahlt wurden, war dieselbe in den babyloni- 
schen Inschriften 2000 Jahre v. Ghr. wie heutzutage 
im christlichen Glaubensbekenntnis, sie hat sich also 
4000 Jahre lang gehalten. Diese Gotterdreiheit ist es, 
die Jesus und dem Judentum ganz fremd uns 
uberall in Syrien zu Jesu Zeit in Inschriften und in 



60 LIGHT VOM OSTEN 

der Literatur begegnet, und die zeitig in das junge 
Christentum eindrang, ebenso wie die Urzeitmythen, 
die Engels- und Teufelsgestalten vorher ins Judentum 
eingedrungen waren. Der Heilige Geist war bei den 
altesten syrischen Christen em weibliches Wesen, das 
sich wie z. B. bei Jesu Taufe durch den Taufer 
Johannes in einer Taube manifestierte, jenem alten 
Symbol der Muttergottin, und das bei den Katholiken 
in der Praxis durch die alte Muttergottin, die Ma- 
donna oder Unsere Liebe Frau, ersetzt wird, wie sie 
in der Offenbarung Job. 12, 1 7 sowie in alter vor- 
christlicher Mythologie urspriinglich als Himmels- 
konigin den kleinen Gottessohn im Himmel gebiert; 
spater wird sie dann, nachdem man angefangen hat, 
Jesus als Gottes Sohn aufzufassen, mit Jesu Mutter 
Maria identifiziert. Als solche behalt sie jedoch alle die 
alten Funktionen der Himmelskonigin, auch die Fiir- 
sprache bei Gottvater fur die Menschen. 
In ihrer ursprunglichen Form tritt diese Gotterdreiheit 
am deutlichsten bei den Semiten mit primitiver Kultur 
hervor, namentlich in den zahlreichen vorchristlichen 
altarabischen Inschriften, die man in den letzten Jahr- 
zehnten gefunden hat, und die nun nach und nach ent- 
ziffert werden. Hier ist der Vater, wie es naturlich 
ist, noch die Hauptperson, der Sohn und die Mutter- 
gottin sind nur Nebenfiguren. Schon im 2. Jahrtausend 
v. Chr. wurde indessen in den nordsemitischen Kultur- 
landern Kanaan, Syrien und Babylonien der Sohn zur 
alles beherrschenden Gottheit und tragt als solcher 
iiberall den Namen der Herr, ein Gottesname, der 
spater auCerhalb des jiidischen Landes auf Jesus 



LICET VOM OSTEN 61 

iibertragen wurde. Als eine Art Mittelwesen zwischen 
Gottern und Menschen, als ein Bindeglied zwischen 
Himmel und Erde, kampft er, sobald er erwachsen 1st, 
unablassig gegen den gro.Ben Drachen oder die alte 
Schlange, die da heifit der Teufel (Offenbarung Job. 
12, 9), und die nach dem babylonischen Sundenfall- 
mythus schon in der Urzeit den Menschen verfiihrte, 
nimmt durch sein Leben und Sterben teil am mensch- 
lichenLebensschicksal, macht durch seine Auferstehung 
seine Briider hier auf Erden des ewigen Lebens teil- 
haftig und verwirklicht als Messias Gottes Reich auf 
Erden, als Erloser, wie es heifit, im Leben und im 
Tod. 



Die semitische Religion ist an sich arm an Mythologien 
oder Gotterlehren, aber uber den Sohn Gottes werden 
in den letzten Jahrtausenden v. Chr. einige Mythen er- 
zahlt, denen die grofite Bedeutung fur unsere Religion 
zukommt. 

Die drei gottlichen Personen werden urspriinglich, wie 
schon angedeutet, als ewige, unsterbliche Wesen auf- 
gefaBt, die von Anbeginn her ihren Sitz im Himmel 
hatten; aber die Mythen wissen bereits urns Jahr 2000 
v. Chr. von dem tragischen Opfertod des jungen Gottes- 
sohnes zu berichten. Sein Tod mit der darauffolgenden 
Auferstehung, die man jedes Friihjahr zur Osterzeit 
durch groJBe Freudenfeste feierte, war ein gewaltiges 
mythologisches Drama, das die Sinne in die heftigste 
Bewegung versetzte. 



62 LIGHT VOM OSTEN 

Hier war ein Anhaltspunkt fur den erwachenden Un- 
sterblichkeitsgedanken. Wenn der. eingeborene Sohn 
durch den Tod zum Leben dringen kann, so muC das 
gleiche auch den Menschen moglich sein, die nach der 
Familienmythologie auch Gottes Kinder sind und teil- 
haben an der gottlichen Natur. 

In der Nacht, da das Fest der Trauer um den Tod des 
Gottessohns Attis in Kleinasien seinen Hohepunkt 
erreichte, wurde plotzlich ein Licht angezundet. Das 
Grab war geoffnet, Gottes Sohn war auferstanden, und 
der Priester verkiindet feierlich: 

Freut euch, ihr Frommen; nun da der Gott erlost 
ist, werdet auch ihr Erlosung finden [vom Reich 
des Todes]. 

Durch solcherlei magische Zeremonien suchte man 
nun, namentlich in den vorchristlichen Mysterienreli- 
gionen, auf jede Art demGotte gleich und seines Schick- 
sals teilhaftig zu werden. In Todesangst klammerte 
man sich mit alien erdenklichen Mitteln an den Erloser, 
der durch den Tod den Weg zum Leben gewiesen hatte. 
Die wichtigste Rolle spielten da die sakramentalen 
Mahlzeiten, wie sie nach Paulus' Zeugnis auch bei den 
Heiden der damaligen Zeit bestanden, von wo aus sie 
bald aufierhalb judischen Bodens ins Ghristen- 
tum eindrangen. In Brot und Wein aJB und trank man 
Leib und Blut des Gottessohnes und wurde durch diese 
mechanischen Mittel auf auBerliche, materielle Art der 
gottlichen Natur teilhaftig, die vom Reiche des Todes 
nicht besiegt wird. 



LIGHT VOM OSTEN 63 

Wahrend die zweite Person der gottlichen Dreiheit in 
diesem Anschauungskreis ursprunglich ein himm- 
lisches, ubermenschliches Wesen ist, das nur Leiden, 
Tod und Auferstehung mit den Menschen gemeinsam 
hat, wird des weiteren durch die Inkarnationslehre 
Gottes Sohn vollstandig auf die Erde hernieder- 
gezogen. Als himmlisches Wesen erlost er durch seinen 
Opfertod das Menschengeschlecht und weist den Weg 
zum Reich Gottes nach dem Tode, als Mensch verwirk- 
licht er das Reich Gottes schon hier auf Erden. Beide 
Lehren verbinden sich in der Messiasmythologie. 
Gottes Sohn soil einmal so meinte man schon Jahr- 
tausende vor Jesu Geburt in Vorderasien mensch- 
liche Gestalt annehmen, das heiBt auf ubernaturliche 
Weise von einer Jungfrau geboren werden und ein ge- 
waltiges internationales Weltreich errichten, in dem 
Gliick und Frieden allerwarts herrschen sollen. Zahl- 
reich sind die historischen Gestalten, in denen in vor- 
christlicher Zeit von Mit- und Nachwelt dieser verhei- 
fiene Gottessohn und Messias verehrt wurde, aber alien 
gemeinsam ist das feststehende mythologische Schema, 
das von den Geschichtschreibern in den Lebenslauf 
dieser Personen verwoben wurde. Wunderbare Geburt 
mit unbekanntem Vater, Zeichen am Himmel und 
Nachstellungen durch bose Machte; ein Leben in gott- 
lichem Glanze mit Wundern und kraftvollen Taten; 
ein Tod, dem Auferstehung und Himmelfahrt folgten. 
So sah in knappen Zugen die Gotterlehre aus, die spater 
weltgeschichtliche Bedeutung gewann dadurch, dafi 
sie mit Jesu Lehre eine organische Verbindung ein- 
ging und so ins Neue Testament eindrang. Noch mufi 



64 LIGHT VOM OSTEN 

freilich hier hinzugefiigt werden, daB die Juden sich 
im letzten Jahrtausend v. Chr. inmitten all dieser stark 
entwickelten polytheistischen Gotterlehren mit Hilfe 
der Propheten zum Monotheismus emporarbeiteten, 
zum Glauben an einen unsichtbaren Gott, der 
weder einen Sohn hatte noch irgendeinem mensch- 
lichen Auge erschaubar war. Damit nahmen sie eine 
Sonderstellung unter alien damaligen Volkern ein. 
Den Messiasgedanken mit seinen reichen VerheiBungen 
mochten die Juden allerdings nicht aufgeben; aber in 
Ubereinstimmung mit ihrer hoheren Gottesauffassung 
wurde der Friedensfurst hier nicht zum gottlichen 
Wesen, sondern zu einer rein menschlichen Gestalt, 
nicht zum Gottessohn, sondern wie es in den Evan- 
gelien heifit, zum Menschensohn. Ebendiese Messias- 
auffassung hatte Jesus und batten auch seine Jiinger 
sowie die alteste christliche Gemeinde und die ersten 
Evangelien. 



Die Gotterlehre mit dem dazugehorigen Opferwesen 
und mit sakramentalen Handlungen war die aufiere 
Form der alten semitischen Religion; aber es gilt hier, 
in ihre Seele einzudringen, die der Form erst Leben 
gab. Man kennt ja einen Menschen nicht, solange man 
nur seinAuBeres, dieTracht,in der er geht, usw.gesehen 
hat, aber keinen Einblick in sein Inneres, sein wahres 
Wesen, seme Personlichkeit gewonnen hat. 
Nun waren Gottertrias und Opferlehre, die Dogmen, die 



TAFEL IX 




babylonische Sintflutbericht 

Ku S. 57.] 



TAP EL X 




Brief in TTmhullung (Die Vorder- 

seite der TJmhullung ist abge- 

brochen) [Zu s. 56.] 




Bruchstiick des babylonischen Sintflutberichts 

[Zu S. 57.] 



TAFEL XI 




Von den amerikanischen Ausgrabungen in Nippur (Sudbabylonien) 

[Zu S. 58.] 



TAFEL XII 




Ecke des Tempelturms in Nippur 

[Zu S. 58.] 



TAFEL XIII 





Babylonischer Engel 

[Zu S. 60.] 







Babylonischer 
Teufel 

[Zu S. CO j 



Alte babylonische 

Madonna mit dem 

kleinen Gottes- 

sohn [Zu s. 60.] 



TAFEL XIV 





Vorchristliche phoniki- 

sche Muttergottin als 

Himmelskonigin mit 

Sonne und Mond (vgl. 

Johannesoffenbarang 

12, 17). Unter der 

Inschrift Tauben 

[Zu S. 60.] 




,Der Herr" als Sonnengott 

mit Gloriole bei den Pho- 

nikern (vorchristlich) 

[Zu S. 60 f.] 



Vorchristliche 

phonikische 

Muttergottin 

mit Taube 

[Zu S. 60.] 



TAFEL XV 




Babylonische Madonna mit Kind 

(genannt ^Barraherzige Mutter des 

Menschengeschlechts", Ummu 

remnitum sa nise) [Zu S. 60.] 



/v&3^*S?N. 

...-iifife&j^^sisSi 



Babylonische Madonna, fiirbittend 
fur die Menschen 

[Zu S. 60.] 




TAP EL XVI 




Der Simdenfall nacli einem babylouischen Siegel- 
zylinder [Zu s. 61.] 




Kampf rnit deni Drachen in vorchristlicher babylonischer Darstellung 

[Zu S. 61.] 



LIGHT VOM OSTEN 65 

spater ins Heidenchristentum ubergingen, keineswegs 
der originale Ausdruck der religiosen Weltanschauung 
der Semiten. Fiir die alien Babylonier wie fiir andere 
semitische Volker des Altertums bedeuten diese Dinge 
ein tfberbleibsel der primitiven Kultur friiherer Jahr- 
tausende, die auch anderwarts ihre Reste zu hinter- 
lassen pflegt. Herausgerissen aus ihrem urspriinglichen 
Zusammenhang, begannen diese trberreste schon da- 
mals unverstandlich und sinnlos zu werden, aber man 
beugte sich doch in Ehrfurcht vor ihnen als vor einem 
heiligen Erbe der Vater. Nur dem kleinen Vplk der 
Juden war es vorbehalten, hier mit der Tradition von 
Jahrtausenden zu brechen und sich dem einigen Gott 
zu nahen, der an Barmherzigkeit Wohlgefallen hat 
und nicht am Brandopfer (Matth. 9, 13 nach Ho- 
sea 6, 6). 

Was dagegen nicht nur den Babyloniern und Assyrern, 
sondern der ganzen semitischen Rasse eigen war, das 
war eine ausgepragte Religiositat. Wie die alten Grie- 
chen das klassische Volk in der Geschichte der Kunst 
sind, die Romer die Lehrmeister spaterer Zeiten in der 
Organisation der Gesellschaft, wie Deutschland die 
Heimat der klassischen Musik und Danemark das Fort- 
schrittsland in bezug auf Allgemeinbildung und Volks- 
aufklarung ist, so waren seinerzeit die Semiten das 
klassische Volk in der Religionsgeschichte. In keinem 
anderen menschlichen Gesellschaftsverbande hat die 
Religion jemals den Einzelnen mit solcher Konsequenz 
von der Wiege bis zum Grabe begleitet wie in dem, von 
dem uns die alten semitischen Inschriften zeugen, nir- 
gends sonst unter den Menschen waren Gesetze und 

Nielsen, Der geschichtliehe Jesus 5 



66 LIGHT VOM OSTEN 

Einrichtungen, Sitten und Gebrauche, Wissenschaft 
und Kunst, Weltanschauung und Ideal in gleichem 
MaB mit Religion durchsetzt. Die Semiten waren, wie 
Renan sagt, das Volk Gottes und das Volk der Reli- 
gionen. Der semitischen Rasse gebiihrt die Ehre, die 
Religion der Menschheit geschaffen zu haben, und es 
ist ja wohl kein Zufall, dafi die groBen Weltreligionen: 
Judentum, Christentum und Muhammedanismus, die 
eine so ungeheure Bedeutung fur die Weltentwicklung 
gehabt haben und iiber die Halfte des Menschenge- 
schlechts beherrschen, alle drei der.alten semitischen 
Kultur entstammen. 



Im Gegensatz zu der alien indischen Kultur, die den 
Buddhismus hervorbrachte, tragt die alte semitische 
Kultur und Religion das Geprage eines stark nach aufien 
gewandten, zum Handeln drangenden Volkscharakters, 
wie es sich im Christentum, im Judentum und im ur- 
sprunglichen Muhammedanismus wiederfindet. 
Die indische Veranlagung fuhrte zu einer nach innen 
gerichteten Spekulation, sie erzeugte im Buddhismus 
mehr eine Philosophie als eine Religion. Da ist nicht 
personliche Unsterblichkeit, kein personlicher Gott als 
feste Burg gegen alles Erdenschicksal, auf den der 
Mensch sein Glauben und Hoffen grundet, kein Brunn- 
quell, aus dem ihm unendliche Kraft fur sein Leben 
stromt. Der Mensch erlost sich da selber, und die Er- 
losung besteht in unfruchtbarer Askese undWeltflucht. 



LIGHT VOM OSTEN 67 

Daher bestand im Altertum so gut wie keine Wechsel- 
wirkung zwischen den beiden Kulturen, und auch spa- 
ter ging eine jede ihren eigenen Weg: die semitischen 
Religionen gegen Westen, der Buddhismus gegen Osten. 
DerKernpunktder semitischen Religionen war also nicht 
die Gotter- oder Opferlehre, die Dogmen, mit denen das 
Judentum, das Urchristentum und der Islam brachen, 
und die sich nur als Petrefakt ins Heidenchrislentum 
hinuberretteten. Es war vielmehr ein lebenskraftiger 
Schaffensdrang, der von Mai zu Mai neue Ideale empor- 
leuchten lieB, die noch unserer Zeit etwas zu sagen 
haben, eine Schopferkraft, die nicht vor der Welt flieht, 
sondern sie beherrscht, indem sie sie in bessere und 
reinere Spharen emporhebt. 

Der Anlauf zu dem Glauben an einen Gott, der sich in 
den hoheren Schichten der babylonisch-assyrischen 
und agyptischen Religion findet, erreichte allerdings 
nur bei den Juden die Stufe eines praktischen Mono- 
theismus, aber umgekehrt fand sich bei den alten Ba- 
byloniern schon Jahrtausende vor Jesu Zeit der 
Unsterblichkeitsglaube, der im Judentum erst gegen 
Jesu Zeit auftrat. 

In den syrischen und babylonischen Kulturlandern, wo 
Handel und Wandel viele Nationen zusammenfuhrten, 
bestand ebenfalls von alter Zeit her ein inter- 
national gerichtetes Verbruderungsgefuhl, das die po- 
litischen Schranken und den NationalhaJB neutrali- 
sierte, der in primitiven Formen in der semitischen 
Religion auftritt und auch im Judentum mit der Reli- 
gion verkettet war. Hier war der Boden fur eine Reli- 
gion vorbereitet, die vollstandig mit dem Dogma brach, 

5* 



68 LIGHT VOM OSTEN 

das eine einzelne Nation als auserwahltes Volk Gottes 
setzte, fur eine Religion, die alle Menschen zu Brudern 
in einem grofien weltumspannenden Friedensreich 
machte. Die Kultur, die den Gedanken nahrte, dafi alle 
Menschen Briider seien, weil sie alle Gottes Kinder sind, 
machte ebensowenig wie irgendeine andere Kultur des 
Altertums einen praktischen Versuch, Klassen- oder 
Standesunterschiede in der Gesellschaft aufzuheben 
dieser Versuch gehort erst der Gegenwart an , aber 
sie versuchte lange vor Jesu Zeit auf verschiedene 
Weise, den Krieg abzuschaffen und den Weltfrieden 
zu verwirklichen, nach dem auch wir heute streben. 



Das Licht vom Osten, das von den alten Inschriften 
Vorderasiens ausgeht, entkleidet nicht nur die Jesus- 
gestalt der spater hinzugetretenen Mythologie und zeigt 
uns an, wie der geschichtliche Jesus in Wirklichkeit 
aussah, sondern es lehrt uns auch, daJB der Kernpunkt 
seiner Religion, das Ideal, das trotz Dogmen und Sakra- 
mentenlehre noch im Ghristentum lebendig ist, lange 
vor Jesu Zeit in der Religionsgeschichte mehrerer 
Jahrtausende vorbereitet war. Erst so haben wir eine 
richtige historische Grundlage gewonnen fur die Er- 
f orschung von Judentum, Ghristentum und Islam. Diese 
Religionen haben in der Kulturgeschichte weit tiefere 
Wurzeln, als man sich je traumen liefi. 
Man versteht das Judentum und den historischen Jesus 
nicht ohne dies Licht, man verstiinde uberhaupt das 



LIGHT VOM OSTEN 69 

Ghristentum und seine Vorgeschichte nicht, ebenso auch 
nicht, warum sich die junge Religion gerade in Vorder- 
asien aui3erhalb des jiidischen Landes so stark aus- 
breiten konnte, wahrend es dort bald erstarb, batten 
uns nicht die Inschriften gelehrt, dafi bier der Boden 
Jahrtausende hindurch fiir die Saat des Friedensevan- 
geliums aufgelockert worden war. 



FRIEDE AUF ERDEN 



Was fur eine herrliche Statte, darauf 
zu wohnen, ware Gottes Erde, wenn 
allilberall Bruderfrieden herrschte. 

Eoye 

DIE Sehnsucht nach einem besserenDasein als dem 
Bestehenden hat von jeher eine starke Triebkraf t 
menschlicher Kulturarbeit gebildet. Sie hat den Natur- 
menschen emporgehoben aus tierischem Dahinvege- 
tieren, sie gibt die Grundlage ab fur alle Erfindungen 
und Reformen. Dieser alien Menschen eigene Glucks- 
traum hatte im Altertum Formen angenommen, die 
stark an die Friedensbewegung der Neuzeit erinnern. 
Aber er war mehr religios gef arbt und war bei den tat- 
kraftigen Volkern Vorderasiens, die unsere Kultur er- 
zeugt haben, von einem Idealismus und einer Begeiste- 
rung getragen, wie es unserer materialistischen, an 
Idealen so armen Zeit schlechterdings unverstand- 
lich 1st. 

Das groBe Ideal des Altertums war, das organisierte 
Raubtierwesen auszurotten, das man Krieg nennt, und 
ein Friedensreich aufzurichten, das die ganze Erde um- 
spannen sollte. Dies internationale Friedensreich sollte 
jedoch nicht wie man es sich heutzutage denkt in 
einem Volkerbund Verwirklichung finden, sondern in 
einem Weltstaat, und der sollte von einem machtigen 
Konig (Messias) begriindet werden, der als Gottes Sohn 



FRIEDE AUF ERDEN 71 

und als sein Statthalter auf Erden sich durch Erobe- 
rungen die ganze Welt unterwerfen sollte. 



Fur die vorderasiatischen Volker des Altertums war 
die Welt nicht eben grofi sie reichte nur vom Mittel- 
meer bis zum Indus , ein Gedanke lag also im Bereich 
der Moglichkeit, der Gedanke, den Henrik Ibsen in den 
Kronpratendenten den grofien K6nigsgedanken 
nennt, namlich alle die ewig sich bekriegenden Klein- 
staaten in einem groBen einigen Reiche zu sammeln. 
Fruher kannte man diesen Friedensgedanken wie die 
Messiaserwartung nur aus den biblischen Schriften. 
Jetzt haben neue grofie Inschriftenfunde gezeigt, dafi 
er die bildende Kraft in der Geschichte Vorderasiens 
iiberhaupt war, schon ein paar tausend Jahre, bevor die 
Juden da waren, und daB er als roter Faden die Ent- 
wicklung der machtigen Weltreiche bis in die Zeit der 
Juden und Jesu durchzieht. Er war genahrt von der 
alten babylonischen und agyptischen Kultur und wurde 
auf verschiedenen Bahnen weitergefuhrt von Assyrern, 
Persern, Juden, Griechen und Romern. 
Kraft dieses Konigsgedankens entfaltete sich ein mach- 
tiges Weltreich nach dem andern, verschlang alle die 
kleinen Nationen (1) und machte so den ewigen Kriegen 
zwischen den Kleinstaaten ein Ende. Aber dasNational- 



(1) Diese Entwicklung war es, die allmalilich die Juden unter 
die Fremdherrschaft brachte. Sie wurden, wie die anderen Klein- 
staaten, niedergezwungen von den assyrischen, babylonischen, 
persischen, griecbischen und romischen Weltbeherrschern. 



72 FR1EDE AUF ERDEN 

gefiihl, das dainals wie heute seine Stiitze in der Reli- 
gion suchte und eine Nationalreligion ausbildete, war 
nicht so leicht zu knicken. Es kam zu stetem Aufruhr. 
Der erstrebte Weltfrieden lieB sich auf diesem Wege 
nicht herbeifuhren. 



Es half nicht, daC die assyrischen Weltherrscher, die 
in den Inschriften als Messias auftreten, mit den riick- 
sichtslosesten Gewaltmitteln die Kleinstaaten zu er- 
drucken suchten. Sie rotteten ganze Volker mit der 
Wurzel aus, verschleppten sie aus ihrem Vaterland und 
zerstreuten sie ringsum in andere Provinzen ihres Rei- 
ches. Das ganze israelitische Nordreich, die sogenannten 
zehn Stamme, verschwanden durch diese Taktik, aber 
als die Babylonier spater auf gleiche Weise die zwei 
siidlichen Stamme nach Babylon wegfuhrten, da hiel- 
ten die Reste des Volkes zusammen; sie wurden die 
Vorfahren der Juden, die noch heute existieren. 
Die Toleranzpolitik der Perser zeitigte bessere Ergeb- 
nisse. Die Dankbarkeit der Juden Kyros gegeniiber, 
der den Rest der judischen Nation wieder heimfuhrte 
und in Frieden ihren nationalen Gott verehren lieB, 
war beispielsweise so groD, dafi ihm selber von den 
Juden (Jes. 45, 1 4) als dem Messias und wahren 
Friedensfiirst gehuldigt wurde. 

Am weitesten vor warts kam jedoch auf diesem Wege 
Aristoteles' Schiiler Alexander der Grofie. Mit sei- 
nem genialen Gedanken, durch gemeinsame Sprache 
und gemeinsame Kultur Ost und West, Asien und 



FRIEDE AUF ERDEN 73 

Europa zu verschmelzen, schuf er nicht allein eine po- 
litische, sondern auch eine kulturelle Einheit mit dem 
Griechischen als gemeinsamer Weltsprache, eine Mi- 
schung ausgriechischem undvorderasiatischemGeistes- 
leben, aus griechischer Philosophic und vorderasiati- 
scher Religion, und erzielte damit Resultate von welt- 
geschichtlichem Rang. Kein Wunder, daC Alexander 
mehr als irgendein anderer orientalischer Weltherr- 
scher in weitesten Kreisen als Messias und Gottes Sohn 
Verehrung fand. Alle die bekannten Ziige des Messias- 
mythus, von der ubernaturlichen Geburt bis zur Aui- 
erstehung, Himmelfahrt und Wiederkunft kniipften sich 
an seinen Namen. Mit ihm leitete man wie mit Jesus 
eine neue Zeitrechnung ein, die im Orient noch heute 
in Geltung steht. 

Unter Alexanders unfahigen Nachfolgern wurde in- 
dessen der Friedens- und Messiasgedanke seiner aufie- 
ren politischen Form nach zur Karikatur. Der um- 
kleidende mythologische Apparat nur wurde von den 
hellenistischen Konigen aufrechterhalten, wie auch 
spater von den romischen Gasaren. Jeder Konig tritt 
nun als Gottes Sohn und Gottes Statthalter auf Erden 
auf , lafit sich als Gott verehren und schmuckt sich mit 
den bekannten Messiasnamen, Erloser, Gottes Sohn, 
Herr, Offenbarer u. a. Aber kurzsichtige Gewaltherr- 
schaft lost die weitschauende verstandige Toleranz- 
politik ab, und im Orient erhalt daher nun der Friedens - 
gedanke eine neue Form. Man richtet den Blick nach 
innen und denkt sich den Weltfrieden auf geistigem 
Wege realisierbar durch Umkehr des Menschenherzens 
zum Geist der Bruderlichkeit und Eintracht. Gottes 



74 FR1EDE AUF ERDEN 

Reich 1st von nun an keine auBerliche Einrichtung, 
sondern wohnt in euerm Innern. Wenn diese Ge- 
sinnung uberall lebendig geworden 1st, haben wir: 
Frieden auf Erden. 



Daher setzt man nun im Orient seine Hoffnung auf 
einen Friedensfiirsten, dessen Reich nicht von dieser 
Welt ist. Der kommende Messias ist kein machtiger 
Konig, er ist ein GroBer im Geiste, der ein geistiges 
Friedensreich aufrichtet, eine geistige Bruderschaft, 
die die ganze Erde umspannt. Dieser neue Friedens- 
gedanke, in gewissem Sinn eine Fortsetzung und Stei- 
gerung von Alexanders und Kyros' Toleranzpolitik, 
ziindet uberall in Vorderasien und wird mit Begeiste- 
rung von den Besten der Zeit aufgegriffen. Eine Reihe 
religioser Erneuerer befindet sich in dieser Zeit inner - 
und auCerhalb des jiidischen Landes in Gegensatz zum 
weltlichen Messias (dem Kaiser) mit dem Anspruch, 
wahrhaftiger Friedensfurst zu sein. 
Dabei tritt der Konflikt zutage, der seinen Hohepunkt 
in dem weltgeschichtlichen Drama auf Golgatha er- 
reichte, und der fur jeden Christen noch heutzutage 
nicht ruht. Der Konflikt zwischen der Staatsmacht, die 
zum Kriegshandwerk zwingt, und der Stimme des Her- 
zens, die zum Frieden ruft. Es ist der Konflikt, den 
Tolstoi den Gegensatz zwischen dem Gesetz der Macht 
und dem Gesetz der Liebe nennt, ein Konflikt, der 
sicherlich von Millionen von Menschen wahrend des 
Weltkrieges gespurt ward. 



FRIEDE AUF ERDEN 75 

Dieser Konflikt erzeugte in Vorderasien vor ein paar 
tausend Jahren in den Jahrhunderten vor und nach 
Beginn unserer Zeitrechnung eine Reihe blutiger 
Streitigkeiten zwischen dem legitimenKonig, der seinen 
gottlichenGeleitsbrief als Gottessohn und Messias in der 
Tasche hatte, und dem neuen prophetischen Messias, 
der nur von seiner eigenen und seiner Anhanger religi- 
oser trberzeugung getragen war. Die Atmosphare ist 
geladen mit religiosem Fanatismus, mit Begeisterung 
fiir die groBe Sache. Ein religioser Reformator ersteht 
nach dem andern, alle setzen sie ihr Leben ein fiir ihre 
Sache und verlieren in der Regel ihr Leben, denn der 
Konig muB jeden solchen Volksfuhrer, selbst wenn er 
nicht offenen politischen Aufruhr predigt, als Aufwieg- 
ler betrachten und daher hinrichten lassen. 



Namentlich im jiidischen Land war damals der Boden 
bereitet fiir einen Messias, dessen Reich nicht von die- 
ser Welt war. Die Juden hatten urspriinglich die gleiche 
Hoffnung wie andere vorderasiatische Nationen, nam- 
lich das groBe Weltreich selber zu errichten und den 
erwarteten grofien Welteroberer hervorzubringen, ein 
Ideal, das in der an den jiidischen Konig ergangenen 
Verheifiung ausgedriickt ist: Ich will dir die Heiden 
zum Erbe geben und der Welt Enden zum Eigentum 
(Psalm 2,8). Von Salomon ab ging es indessen rasch 
bergab mit der politischen Macht nach auBen, man 
konnte in Jerusalem die Tatsache nicht aus der Welt 
schaffen, daB die groBen Weltbeherrscher standig von 



76 FR1EDE AUF ERDEN 

andern Nationen gestellt wurden, daher konzentriert 
sich die Prophetic hier vorwiegend auf einen rein gei- 
stigen Messias, auf eine Weltregierung im Geiste, die 
eimnal von Zion aus herrschen soil, und diese Messias- 
erwartung fand ihre Erfiillung in dem groBen geist- 
getragenen Friedensfiirsten, dem Propheten von Na- 
zareth. 



Wahrend sich die Juden einem inneren Verstandnis 
des Friedensgedankens naherten, unternahmen die 
Romer zu Jesu Zeit den letzten Versuch, das auJBere 
Weltreich aufzurichten, von dem Jahrtausende ge- 
traumt hatten. Ebenso wie Alexander der Grofie grif- 
fen die romischen Casaren begierig den orientalischen 




Kaiser Augustus als Sohn Gottes 
in einer Tnschrift aus Pergamon (Kleinasien) 

Messiasgedanken auf, lieBen sich als Gottes Sohn und 
Messias, als Herr und Erloser huldigen. Der ganze 
aufierliche Messiasapparat wurde auf den romischen 
Casar angewandt. Er hat als Messias im Himmel ge- 
wohnt, bis er auf wunderbare Weise unten auf Erden 
geboren wurde, und er kehrt nach seinem Tode auf 
dem Weg der Himmelfahrt zuruck in seine urspriing- 
liche Heimat. 
Das war aber der Messiasgedanke in seiner verauCer- 



FR1EDE AUF ERDEN 77 

lichten politischen Form, die im Orient in aufgeklarten 
Kreisen langst begraben war, und der romische Kaiser 
rief denn damit auch grofien Widerspruch hervor. Er 
hatte als legitimer koniglicher Messias wiederholt 
bier und dort gegen irgendeinen orientalischen pro- 
phetischen Messias einzuschreiten und ibn samt seinen 
Ideen unschadlich zu machen. Denn fiir ihn stand in 
solchen Fallen Reich gegen Reich, Konig gegen Konig, 
Herr gegen Herr. Zwei Weltordnungen standen da ein- 
ander gegeniiber. Deshalb kreuzigten die Romer den 
Jesus, der von seinen Anhangern als Messias verehrt 
wurde, und verfolgten die Christen, die dem Kaiser nicht 
opfern oder ihn nicht anerkennen wollten in seiner 
Wurde als Gott, Gottes Sohn, Herr und Er- 
16ser und wie die Messiasnamen alle heiBen, die der 
Kaiser damals fuhrte, und die die Christen auf nieman- 
den anzuwenden willens waren als auf Jesus allein. 



JESUS IN DEN ANNALEN DEE 
ALTEN WELT 



Und es warumdiedritteStunde, dasie 
ihn kreuzigten. Und es war oben iiber 
ihn geschrieben, was man ihm schuld 
gab, ridmlich: der Konig der Juden. 
Evangelium nach Markus ij, 2JJ26* 

BUJPTZEUGEN von Jesus sind uns die schrift- 
ichen Aufzeichnungen, die seine Anhanger wenige 
Jahre nach seinem Tode zu sammeln anfingen, und die 
sich in den Evangelien erhalten haben. Es ist ja ganz 
naturlich, dafi seine Jiinger, denen sein Leben und 
seine Lehre etwas bedeutete, sanunelten, was sie wufi- 
ten. Andererseits hat das Christentum und die Gestalt 
Jesu so tief in den Gang der Weltgeschichte eingegrif- 
fen, daU man unwillkurlich erwartet, Jesus in der 
gleichzeitigen weltlichen Geschichtschreibung erwahnt 
zu finden. Eine unparteiische Untersuchung, die sich 
mil dem historischen Jesus beschaftigt, muB diesen 
Quellen den Vorrang erteilen, selbst wenn sie nicht 
die reichsten sind. 

Nachdem man die Behauptung aufgestellt hat, dafi 
Jesus uberhaupt nicht existiert hat, bekommen die 
nichtbiblischen Quellen besonderes Gewicht; denn sie 
sind frei von mythologischem Einschlag und nicht be- 
herrscht von kirchlichen Interessen. Dazu kommt, dafi 
man bisher Jesus und das Christentum in theologischer 
Beleuchtung zu einseitig fast nur im Verhaltnis zu den 



JESVS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 79 

Juden und zum Alten Testament betrachtet hat. Jesus 
1st geboren unter Kaiser Augustus, gekreuzigt unter 
Kaiser Tiberius, er lebte und starb als romischer Un- 
tertan. Nicht die Juden, sondern die Romer waren es, 
die Jesu Leben ein so jahes Ziel setzten, um einer Be- 
wegung Einhalt zu tun, die fur sie die Anarchic be- 
deutete. Nicht die Juden, sondern die Romer verfolgten 
allenthalben die Christen. Das Christentum war ja 
nun freilich eine Religion und keine politische Be- 
wegung; aber diese Religion war wie wir oben sahen 
auf ein Prinzip gegrundet, das in unversohnlichem 
Gegensatz stand zu der Idee, die das romische Impe- 
rium trug. Die altesten Christen mufiten erfahren, daC 
man nicht zngleich Christ und guter romischer Burger 
sein konnte. 

Uber die Kindheit grofier Manner wissen wir fur ge- 
wohnlich nicht eben viel aus dem einfachen Grund, 
weil meist niemand eines Kindes kiinftige Bedeutung 
voraussieht. Erst wenn aus dem Kind ein Mann 
geworden ist, der auf Mit- und Nachwelt Eindruck 
macht, beginnt man biographisches Material zu sam- 
meln, und dann sind bemerkenswerte Einzelheiten aus 
der Friihzeit in der Regel verlorengegangen. ttber die 
Kindheit grofier Religionen weifi aus dem gleichen 
Grunde die profane Geschichtschreibung nicht viel zu 
erzahlen. Erst wenn die Religion zur Weltreligion er- 
wachsen ist, beginnt die Geschichte sie in den Kreis 
ihrer Betrachtung zu ziehen. 

Der Bericht des Markusevangeliums, unserer altesten 
Quellenschrift, die das reichhaltigste Material iiber Jesu 
Leben gesammelt hat, setzt daher erst mit Jesu offent- 



80 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

lichem Auftreten ein, er weiB nichts iiber Jesu Geburt 
und Jugendzeit. Genau so weiB auch die profane Ge- 
schichtschreibung, die sich spater so stark mit dem 
Christentum zu beschaftigen hatte, beinahe gar nichts 
iiber Jugend und Geburt des Christentums; denn diese 
Religion und ihr Stifter verschwanden anfangs unter 
den unzahligen anderen Religionen und Religionsstif- 
tern, von denen es damals wimmelte, namentlich in 
den ostlichen Provinzen des machtigen Romerreiehs, 
wo die Staatsgewalt alle religiosen Bewegungen im 
Keim zu ersticken suchte, weU sie gar zu oft politische 
Folgen hatten. 



Der JudenhaJB, der im selben Augenblick auftrat, in 
dem das Christentum als selbstandige Religion sich 
zum Judentum in Gegensatz stellte, hat fruh auf ein- 
zelne Schichten der Evangelieniiberlieferung abgefarbt 
und legt da den Juden die Hauptschuld an Jesu Tod 
bei. Ein Beschuldigung, die nun beinahe 2000 Jahre 
hindurch diesem Volke zum Unheil war. 
Tatsachlich waren es aber nicht die Juden, sondern die 
Romer, die unter dem Beistand der kaiserfreundlichen 
Priesterpartei in Jerusalem Jesus als vermeintlichen 
Aufruhrer gegen die Staatsgewalt kreuzigten, ebenso 
wie sie in dieser Zeit so manchen anderen Propheten 
zum Tod beforderten, weil sein EinfluJB aufs Volk mog- 
licherweise Veranlassung zu dem Aufstand geben 
konnte, den man standig fiirchtete, und der auch von 
Zeit zu Zeit ausbrach und schliefilich im Jahre 70 unter 



TAP EL XVII 




Kampf mit dem Drachen (bzw. mit der Schlange) 
auf einem babylonisclien Siegelzylinder 

[Zu S. 61.] 



vxooo ' toooo -auooo *MX;O Ropoo' >oo 




Weltbild nach dem antiken Geographer! Strabon (z. Zt. Jesu) 

[Zu S. 71.] 



TAFEL XVHI 



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TAFEL XIX 




Des Perserkonigs ICyros (Koresck) Messiasproklamation 

[Zu S. 72.] 




Triumphzug des Titus nach der Zerstorung Jerusalems (mit dem 

siebenarmigen Leuchter vom Tempel in Jerusalem). Relief vom 

Titusbogen in Eom [Zu s. sof.] 



TAFEL XX 





Eine Miinze Bar-Kochba's aus dem letzten 
grofien jiidisclien Aufstand 132 n. Chr. 

[Zu S. 82.] 



/To a Korrd b JuaTaib(J c dyio[; l 'vayyAto|/. Cap, i. 

ij3A6c; " yeNetfeooc; c IHCTOV * xpi? ^ 
TOV ' vi ov f Aovni 8 viov 




'Kccu 



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/ To|/ C 9apec; * Kai/Top C 3apd f 



Der Anfang des Matthausevangeliums und der Stammtafel 
Nach einem alten Druck [Zu S. lief ] 



1 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 81 

I Kaiser Vespasian zur Zerstorung Jerusalems durch 
1 das Heer der romischen Belagerer fuhrte. 
) Es ist heute vielleicht schwer zu verstehen, daC in die- 
sen Gegenden damals eine neue religiose Bewegung als 
Aufruhr betrachtet und in der Regel in Blut erstickt 
wurde. Messianische Propheten und ihre Anhanger 
wurden von der weltlichen Obrigkeit aufs heftigste ver- 
folgt und wie Aufriihrer behandelt, auch wenn sie nicht 
politische Propaganda trieben. So wurde z. B. der Pro- 
phet Mani (3. Jahrhundert n. Ghr.) dessen Botschaft 
vorwiegend religiosen Charakter trug und in vielen 
Punkten an Jesu Lehre ankniipf t von der Obrigkeit 
gekreuzigt und seine Anhanger jahrhundertelang ganz 
ebenso wie die Christen verf olgt. 
In Palastina wurde der BuBprediger Johannes der 
Taufer, der religiose Umkehr predigte, bekanntlich 
durch den romischen Vasallenfiihrer Herodes hinge- 
richtet. Er war wie der jiidische Geschichtschreiber 
Josephus bezeugt ein Mensch, der die Juden er- 
mahnte, Tugend und Rechtlichkeit untereinander und 
Frommigkeit gegen Gott zu uben, aber Herodes furch- 
tete so fahrt Josephus fort , dafi sein groJBer Ein- 
fluB aufs Volk zu einem Auf stand fiihren konnte, des- 
halb ward er gefangen und hingerichtet und erlitt das 
gleiche Schicksal wie Jesus und so mancher andere jii- 
dische Prophet der gleichen Zeit. 



Die romische Eisenfaust lag damals hart auf dem un- 
glucklichen jiidischen Volk. Es garte und siedete stan- 

N i el sen, Der gescMchtliclie Jesus Q 



82 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

dig im Volke, aber jede Erhebung ob sie national 
oder religios war wurde rasch in Blut erstickt. Jesu 
Rreuzigung, fur uns das grofie weltgeschichtliche 
Drama, war fiir die Romer eine Episode, die vielleicht 
noch weniger Auf sehen erregte, als wenn die Englander 
heutigestags eine von jenen Messiasgestalten (Madhi's) 
unschadlich machen, die im Orient noch heute gelegent- 
lich auftreten und in der Regel Befreiung vom Joch 
der Fremdherrschaft predigen. Dazwischen einmal 
gewinnt eine solche messianische Bewegung an Be- 
deutung und wird in weiteren Kreisen bekannt. Die 
Regierung ist da eben nicht geniigend auf der Hut ge- 
wesen. Mancher wird sich noch erinnern, wie der be- 
kannte Mahdi (Messias) aus dem Sudan im Jahr 1885 
den grofien Aufruhr in Agypten erregte, die Stadt Char- 
turn einnahm und den englischen General Gordon Pa- 
scha mit seinem ganzen Heer niedermachte; so sam- 
melte im Jahre 132 also zirka 100 Jahre nach Jesu 
Kreuzigung ein jiidischer Messias Simon bar 
Kochba unter Kaiser Hadrian das judisehe Volk zur 
letzten groCen Abrechnung mit den Romern. trber 
500 000 Juden, so heifit es, wenn auch iibertrieben, gin- 
gen fur diesen Messias in den Tod, bis schlieBlich der 
Aufstand durch die romischen Legionen niedergewor- 
fen war. Solche aufierordentlichen Falle werden in der 
zeitgenossischen Geschichtschreibung erwahnt, aber 
mit vielen anderen orientalischen Volksf uhrern, die wie 
Jesus und Johannes der Taufer vor den europaischen 
Richterstuhl geschleppt oder ohne Recht und Urteil er- 
ledigt wurden, beschaftigt sich die Geschichte nicht. 
Es ist fiir den Historiker keine kleine Arbeit, sich mit 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 83 

all den Justizmorden und Metzeleien naher zu be- 
fassen, die der romische Statthalter Pontius Pilatus 
unter Kaiser Tiberius in den zehn Jahren auf sein Ge- 
wissen lud, die er in Palastina sein Wesen trieb, vom 
Jahre 26 bis 36 n. Chr. Selbst den Romern wurde das 
zu bunt. Ein gleichzeitiger Geschichtschreiber schil- 
dert ihn als einen blutdurstigen Tyrannen und tadelt 
seine mafilos wilde Grausamkeit, seine Raubereien 
und Metzeleien, seine unzahligen gesetzwidrigen Hin- 
richtungen. Als Pilatus ein paar Jahre nach Jesu 
Kreuzigung einen Propheten samt seinen Anhangern 
in Samaria hinrichten liefi, schritt ein Vorgesetzter, der 
romische Legat in Syrien, Vitellius, ein, enthob ihn 
seines Amtes und sandte ihn unter der Anklage des 
Mifibrauchs der Amtgewalt nach Rom. Er entging, wie 
es heiflt, der Strafe fur seine Verbrechen im Jahre 39 
durch Selbstmord. 



Jesu Kreuzigung unter Pilatus ware wohl kaum in der 
zeitgenossischen Geschichtschreibung erwahnt worden, 
hatte nicht Jesu Lehre Pilatus uberlebt und historische 
Bedeutung erlangt. Aber das Ghristentum breitete sich 
rasch im Romischen Reich aus und wird daher friih 
von romischen Historikern erwahnt. Das lange Zeit 
wichtigste und alteste Zeugnis finden wir bei Tacitus, 
der von der Ghristenverfolgung unter Kaiser Nero im 
Jahre 64 spricht; in diesem Zusammenhang sagt er 
(Annales XV, 44): 

6* 



84 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

Auctor nominis eius Christus, 
Tiberio imperitante per procu- 
ratorem Pentium Pilatum 
.supplicio affectus erat. 

Der Stifter dieses Namens (der Christen) 

ist Christus, 

der unter dem Kaiser Tiberius durch den Land- 
pfleger Pontius Pilatus 
hingerichtet wurde. 

Diese Notiz ist ebenso wichtig wie kurz. Es ist ein pro- 
fangeschichtlich.es Zeugnis vom Christentum und sei- 
hem Stifter, es beruht auf einem Material, das unab- 
hangig ist von den neutestamentlichen trberlieferun- 
gen, und es zeigt, mit welchen Augen die Romer im 
ersten Jahrhundert unserer Zeitrechnung die neue Re- 
ligion ansahen. In Rom betrachtete man damals wie 
uberhaupt in den ersten drei Jahrhunderten das 
Christentum als ein Obel (malum), fur das man sich 
nicht weiter interessierte. Aber man wufite, daC dies 
t)bel aus dem Lande der Juden stammte und von dem 
Christus, der von Pontius Pilatus hingerichtet worden 
war. Da haben wir ein Zeugnis vom geschichtlichen 
Jesus, um das kein unbefangener Forscher herum- 
kommt. 

Auch in anderer Beziehung ist diese kurze Bemerkung 
von Wichtigkeit. In den Evangelien ist Jesus haupt- 
sachlich Jesus von Nazareth, der Prophet aus Galilaa 
und vom See Genezareth, der in den Gesellschafts- 
schichten wirkte, deren Geschichte nicht geschrieben 
wird. Diese Seite von Jesu Leben ist den Romern un- 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 85 

bekannt, fur sie ist er nur der Aufruhrer, der durch den 
romischen Statthalter bestraft wird. 
SchlieBlich ist es wohl wert, das Augenmerk darauf zu 
richten, dafi die Verantwortung fur Jesu Verurteilung 
bei Tacitus auf Pilatus liegt und nicht auf den Juden. 
Sie haben Jesus gekreuzigt. Wenn die Juden wie 
man fiir gewohnlich glaubt Jesus umgebracht hat- 
ten, weil er sich fiir Gottes Sohn ausgab und damit die 
jiidische Religion verletzte, ware er gesteinigt worden. 
Die Kreuzigung war eine romische Strafe und ist nie- 
mals von den Juden angewendet worden. 
Jesus ist ja nach den altesten historischen Quellen kei- 
neswegs als Gottes Sohn in natiirlichem Sinne aufge- 
treten. Die Juden in ihrer Gesamtheit hatten keinen 
Grund, ihn zu verfolgen. Er war einer der Ihrigen, 
ein Jude unter Juden, wie Johannes der Taufer und 
alle anderen judischen Propheten dieser Zeit. Die 
Staatsmacht, in deren Handen die Rechtspflege, die 
Macht liber Leben und Tod lag, war es, die in all diesen 
Fallen eingriff. 



Dazu tritt das gewichtige Zeugnis einer Inschrift, die 
allerdings in keinem Museum zu finden ist, aber doch 
ohne Zweifel existiert hat. Es ist die Inschrift, welche 
die Romer auf Jesu Kreuz anbrachten. Wir konnen sie 
die Pilatus- Inschrift nennen. 

Nach alien vier Evangelien lautete sie: 
Der Konig der Juden. 



86 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 

Wohl deshalb, well die Evangelien hauptsachlich von 
Theologen - studiert werden, hat man nicht geniigend 
auf den klaren Wortsinn dieser juristischen oder poli- 
tischen Inschrif t geachtet. 

Nun hat vor kurzem ein franzosischer Gelehrter, Henri 
Regnault, gezeigt, daB der Jesus-ProzeB in alien In- 
stanzen den normalen, gesetzlich vorgeschriebenenVer- 
lauf nach romischer Rechtsordnung nahm (1). Bei den 
zahlreichen Kreuzigungen im Romischen Reich wurde 
in der Regel ein Extrakt des Todesurteils, decretum quo 
damnatus erat, eine Art Urteilsbegrundung, am Kreuz 
angeschlagen. Den Sinn der Pilatus-Inschrift auf Jesu 
Kreuz scheint das spatere Johannesevangelium nicht 
richtig verstanden zu haben, aber die zwei altesten 
Evangelien (Markus 15, 26, Matthaus 27, 37) bezeichnen 
sie richtig als die Inschrift, die Jesu Schuld (aitia) 
angab. Es war ja auch so: weil Jesus als K6nig ver- 
urteilt wurde, wurde er mit dem Konigsnamen verspot- 
tet, bekam den Konigskranz, wie ihn die romischen 
Kaiser auf den Miinzen tragen, auf gesetzt und den 
Konigsmantel um die Schultern. 
Also ist Jesus nicht von den Juden verurteilt worden, 
in deren Handen die Rechtspflege gar nicht lag, son- 
dern von den Romern, denen damals die Obrigkeit im 
Lande zukam. Er wurde nicht verurteilt wegen seiner 
religiosen Anschauungen, die sicherlich Pilatus nicht 
sonderlich interessiert batten, nicht um der angeblichen 
Gotteslasterung willen, die man darin sah, daB er sich 
als Gottes Sohn ausgab; denn dann ware auf dem 
Kreuz nicht gestanden: Der Juden K6nig, sondern: 

1) Vgl. auch Paul Rou<, Le procfea de J^sus . . . Paris 1924. (97 S.) 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 87 

Gottes Sohn. Jesus wurde verurteilt wegen eines 
angeblichen politischen Verbrechens, well er in den 
Augen des Pilatus ein Aufriihrer war, der sich zum 
K6nig der Juden machen wollte. Die romische.In- 
schrift auf dem Kreuz stimmt mit dem Zeugnis des 
Tacitus uberein. 

Nach den Evangelien ist nicht allein das jiidische Volk 
Jesu freundlich gesinnt, sogar manche Pharisaer wol- 
len ihm wohl und warnen ihn in Galilaa vor der 
drohenden Verfolgung durch die Staatsmacht: Gehe 
fort und zieh hinweg von hier; denn Herodes will dich 
toten (Luc. 13, 31) (1). Aber fur die Ausbreitung der 
christlichen Religion im Romerreich war es ein Hemm- 
nis, daB ihr Stifter als Aufriihrer von der romischen 
Obrigkeit gekreuzigt worden sein sollte. Deshalb wird 
in der altchristlichen Literatur uber die Leidens- 



(1) Im Gegensatz zu der weltlichen Priesterpartei der Sadduzaer, 
die jede religiSse Neuerung mit Gewalt, ja mit der Strafe der 
Steinigung, zu unterdriicken suchte nicht selten gegen den 
Willen des Volkes und der E5mer, wie wir aus Josephus' Alter- 
tiimern (Buch20, Kap. 9) entnehmen konnen , und die es liebten, 
die Eomer gegen ihre Gegner auszuspielen, eahen die Pharisaer 
in Jesu Eeligion nur eine neue Lehrart, die nach judischem 
Herkommen nicht strafbar war; das sehen wir deutlich aus den 
Erzahlungen im 5. und 23. Kapitel der Apostelgeschichte. Dieselbe 
Einstellung, die wir dort bei Gamaliel und den Pharisaern finden, 
hatte offenbar auch der Pharisaer Josephus. Nach dieser Auf- 
f assung handelt es sich bei den Christen in Jerusalem urn eine 
Bewegung innerhalb des Judentums, die man dulden kann. 
Diese Anschauung ist durchaus begrundet; denn die Jerusa- 
lemer Christengemeinde war in der Tat lediglich eine jiidische 
Sekte. (Eduard Meyer: Ursprung und Anfange des Ohristen- 
tums. Bd. 1 [1921], S. 210/11.) 



88 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

geschichte Jesu Pilatus, der Vertreter des romischen 
Imperiums, in apologetischer Absicht mehr und mehr 
von der Verantwortung an Jesu Kreuzigung befreit 
und schlieMch gar ziun Freunde Jesu und zum An- 
hanger seiner Lehre gestempelt. 
Nach Tacitus wurde Jesus durch (per) Pontius Pi- 
latus, nach dem spateren christlichenGlaubensbekennt- 
nis, dem sogenannten Symbolum apostolicum, nur noch 
unter (sub) Pontius Pilatus gekreuzigt. Dieser ist hier 
nicht mehr die handelnde Person; die Kreuzigung ge- 
schieht nur wie zufallig unter seiner Regierung. Ver- 
schiedene Bibelstellen kennzeichnen deutlich diesen 
etappenweise vor sich gehenden ProzeC seiner Ent- 
lastung, der schlieClich im Apostolikum ausmiindet (1). 



Aus solcher apologetischer Legendenbildung werden 
wir in brutaler Weise zur historisehen Wirklichkeit 
zuruckgefuhrt durch einen bisher fast unbeachteten 
Bericht, der die politische Seite der Jesusbewegung in 
Jerusalem stark hervorhebt, und in dem ganz unzwei- 



(1) Nach Markus verurteilt Pilatus, wenngleich widerstrebend, 
den Angeklagten. Nach Matthaus weigert er sich wiederholt 
und synobolisiert seine Unschuld durch das Handewaschen : 
Jesu Blut kommt iiber die Juden und ihre Kinder. Im Lukas- 
evangelium findet Pilatus keine Schuld an diesem Menschen, 
er ubersendet ihn zu Herodes, der ihn ebenfalls ohne Schuld 
erfindet, und versucht schliefilich dreimal, Jesus aus der Hand 
der Juden zu retten. In der Apostelgeschichte (Kap. 313) 
wird Jesus von Pilatus geradezu freigesprochen. Im spaten vierten 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 89 

deutig Jesus von Pilatus als Aufriihrer verurteilt wird. 
Wenn wir irgendwo auBerhalb der kirchlichen Litera- 
tur Berichte uber Jesus zu erwarten haben, dann bei 
dem judischen Geschichtschreiber Flavius Josephus, 
der seine umfangreichen Werke uber die Geschichte 
des jiidischenVolkes gerade in dem Jahrhundert schrieb, 
in welchem Jesus lebte. Wir haben da eine wertvolle 
profane Quelle, die aus derselben Zeit stammt wie die 
alter en Evangelien (zirka 70 90), aber ganz unab- 
hangig von diesen entstanden ist. Leider sind die 
Handschriften, in denen diese Werke auf uns kamen, 
nur durch christliche Abschreiber uberliefert, und diese 
haben wie gewohnlich den Text in dogmatischem 
Sinne iiberarbeitet. 

In seiner judischen Geschichte (,Antiquitates' } 18. Buch) 
erzahlt Josephus nicht allein von Johannes dem Tau- 
fer (Kap. 5), sondern auch von Jesus (Kap. 3). Der Text 
kann aber so wie er jetzt vorliegt unmoglich in 
alien Einzelheiten echt sein. Es gibt eine ganze Litera- 
tur uber diese Jesusstelle, und unlangst hat der be- 
kannte Berliner Gelehrte Eduard Norden den Bericht 
uberhaupt gestrichen, weil er nach seiner Ansicht zum 



Evangelium endlich verurteilen die Juden Jesus, Pilatus ist zum 
Freund Jesu geworden, der ihn zu retten sucht, eine Darstel- 
lung, die in der noch spateren apokryphen Pilatusliteratur (dem 
Pilatusbrief und den Pilatusakten) welter ausgesponnen wird. 
In dem legendenhaften Brief des Pilatus an Claudius (Tiberius), 
der wohl dem zweiten Jahrhundert entstammt, waren es die Juden, 
die Jesum kreuzigten, nicht Pilatus. Nach den erhaltenen Bruch- 
stiicken des apokryphen Petrusevangeliums (wohl ebenfalls 
aus dem zweiten Jahrhundert) bekennt Pilatus sich selber zum 
Glauben an Jesus als den Sohn Gottes (v. 46). 



90 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 

ganzen Schema nicht passe (1). Josephus zahlt in 
diesem Zusammenhang eine Reihe von Unruhen 
(thoryboi, staseis) auf, aber im Jesusbericht 1st von 
keinem solchen Tumult die Rede. 
Nun mufi aber Josephus Jesus gekannt und wahr- 
scheinlich auch erwahnt haben. Denn wenn er bei- 
spielsweise an einer spateren Stelle des genanntenWer- 
kes (Buch 20, Kap. 9) Jakobus, den Bruder Jesu, des 
sogenannten Ghristus, erwahnt, so wird damit vor- 
ausgesetzt, dafi die Leser diesen Jesus kennen. Jose- 
phus wird also wohl an der vielumstrittenen Stelle 
,Antiquitates' (Buch 18, Kap. 3) von Jesus etwas erzahlt 
haben. Wir waren aber bisher nicht in der Lage, den 
urspriinglichen Wortlaut dieser Partie herzustellen. 



Jahrhunderte hindurch haben in russischen Klostern 
einige ganz merkwurdige Handschriften geschlummert, 
die nicht die Altertumer und auch nicht dasandereuns 
erhalteneWerk des Josephus (DerKrieg der Juden mit 
den R6mern), sondern die Urfassung dieses Werks, die 
Eroberung Jerusalems, in altslavischer tJbersetzung 
wiedergeben (2). Dieser sogenannte slavische Josephus, 
der viel ausfuhrlicher uber Jesus und die ganze Jesusbe- 
wegung berichtet als der bisher bekanntegriechische Jo- 



(1) Neue Jahrbiicher fur das klassische Altertum Bd. 31, 1913 
S. 637-650. 

(2) Diese Erstauf lage seines "Werkes hat Josephus Bach E. Eisler 
anlafilich des Triumphs des Titus uber die Juden im Jahre 71 
n. Chr. verfafit*. 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 91 

sephus, soil in nachster Zeit von Professor Istrin in Pe- 
trograd herausgegeben werden. Der modernen Jesus- 
forschung wurde dieser Text schon teilweise zuganglich 
durch A. Berendts' deutsche trbersetzung mit Kommen- 
tar (1), und es ergab sich bald, dafi auch hier christliche 
Abschreiber den Text durch dogmatische Einschaltungen 
erweitert batten. Nun hat ein osterreichischer Gelehr- 
ter, Robert Eisler, mit grofiem Scharfsinn versucht, 
den ursprunglichen Text dieser Partie wiederherzu- 
stellen. Er hat seine Ergebnisse, die er spater in einem 
ausfuhrlichen Buch zusammenfassen will, vorlaufig in 
kleineren Aufsatzen der Kritik unterbreitet, zuletzt in 
franzosischer Sprache unter dem Titel ,Jesus nach der 
slavischen Obersetzung des Flavius Josephus' (2). 
Manche Einzelheiten an dieser Rekonstruktion mogen 
noch besserungsbediirftig sein, aber in der Hauptsache 
wird Eisler recht behalten. Es handelt sich um ein sehr 



(1) Die Zeugnisse vom Christentum im slavischen De bello 
Iudaico des Josephus, in Gebhardts und Harnacks Texten und 
Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichenLiteratur. N. F. 
14. Bd. Heft 4, S. 179 (1906). Eine billige Taschenausgabe 
liegt vor in E. Klostermanns: Slavische Josephusstiicke (Lietz- 
mann: Kleine Texte fiir Vorlesungen . . . Nr. 11). Eine deutsche 
Ubersetzung von Berendts und Grafi ist in den Acta der Uni- 
versitat Dorpat 1925 ff. nur teilweise erschienen. Vollstandig 
ist sie linter dem Titel Flavius Josephus, Vom Jiidischen Krieg. 
Buch I -IV nach der slavischen Ubersetzung deutsch heraus- 
gegeben ... bei Prof. Grafi erhaltlich. (Dorpat, Selbstverlag, 
Teichstr. 84. 18 EM.) 

(2) Erschienen 1926 in der Eevue de PHistoire des Religions . 
Eben (1928) beginnt nun das ausfiihrliche Werk Eislers > Jesus 
Basileus . . . als 9. Band der Eeligionswissenschaftlichen Bib- 
liothek (Heidelberg, Winter) in Lieferungen zu erscheinen. 



92 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

altes und wertvolles Zeugnis von Jesus, das sich mog- 
licherweise irgendwie auf die orientalische Ausgabe 
zuruckfuhren laBt, die Josephus laut Einleitung zu sei- 
nem genanntenWerk schon fruher fur seine Landsleute 
in ihrer Muttersprache, das heifit auf aramaisch, veran- 
staltet hatte, die uns aber bisher nicht bekannt war. 
Hier kann nur der Hauptinhalt dieser neuen Berichte 
uber Jesus wiedergegeben werden: 
Damals trat ein Mann auf . . . der wirkte Wundertaten 
. . . durch irgendeine unsichtbare Kraft . . . Die einen 
sagten von ihm, daB unser erster Gesetzgeber (Moses) 
auferstanden sei von den Toten . . . Die anderen aber 
meinten, daB er von Gott gesandt sei ... 
Er widersetzte sich in vielem dem Gesetz und hielt den 
Sabbat nicht nach vaterlichemBrauch(l). Doch wieder- 
um verubte er auch nichts Schandliches noch Ver- 
brechen, sondern nur durch Worte bewirkte er alles. 
Viele aus dem Volke folgten ihm nach und nahmen 
seine Lehren auf, und viele Seelen wurden wankend, 
meinend, daB sich durch ihn die judischen Stamme aus 
den Handen der Romer befreien wurden. 
Es war aber seine Gewohnheit, vor der Stadt auf dem 
Olberg sich aufzuhalten, und dort gewahrte er auch 
den Leuten die Heilungen. Es gesellten sich zu ihm 150 
Helfershelfer, vom Volke aber eine Menge Da sie 
aber seine Macht sahen, daB er alles, was er wollte, 
durch das Wort ausfuhre, und ihn aufforderten, in die 
Stadt einzuziehen, die romischen Krieger und den Pi- 



(1) Josephus selbst war ja bekanntlich ein Anhanger der Partei 
der Pharisaer. (Siehe dazu oben die Anm. auf S. 87.) 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 93 

latus niederzuhauen und iiber uns zu herrschen, da ver- 
achtete er uns nicht . . . [Grofie Liicke]. 

Als aber den jiidischen Anfiihrem Kunde davon zukam, 
versammelten sie sich mit dem Hohenpriester und 
sprachen: Wir sind machtlos und [zu] schwach, den 
Stammen zu widerstehen. Da aber auch [gegen uns] 
der Bogen gespannt ist, so wollen wir hingehen und 
dem Pilatus mitteilen, was wir gehort haben. Dann 
werden wir ohne Beschwerde sein. Damit nicht, wenn 
er es von anderen hort, wir sowohl des Vermogens be- 
raubt als auch selbst niedergemacht und die Kinder 
[Israels] zerstreut werden (1). 

Und sie gingen und teilten es dem Pilatus mit. Und die- 
ser sandte hin und lieC viele aus dem Volk nieder- 
machen, jenen Wundertater aber liefi er vor sich f uhren. 
Und nachdem er iiber ihn ein Verhor angestellt hatte, 
erkannte er: ,er ist ein Zauberer, ein Aufriihrer, ein 

nach der Herrschaft Diirstender, und sie (d. i. die R6- 

i N 

mer) nahmen ihn und kreuzigten ihn nach dem Brauch 
der Vater . . . (2). 



An diesem Bericht springt sofort in die Augen, dafi Jo- 
sephus Jesu Wirksamkeit in Galilaa nicht kennt oder 
jedenfalls nicht erwahnt. Hier erfahren wir nur vom 



(1) Durch seinen Angriff auf den Tempel (Markus 11, 15 ff.) 
war Jesus als Feind der Priesterschaft aufgetreten. 

(2) Die trbersetzung nach der von Eisler revidierten englischen 
tJbersetzung im 3. Bande der Thackerayschen Josephusausgabe 
in der 'Loeb Classical Library' Appendix S. 648 ft. 



94 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALT EN WELT 

letzten Akt des Dramas in Jerusalem, wo die religiose 
Mission des Propheten vor der garenden politischen 
Unruhe in der Hauptstadt, kurz vor dem groBen natio- 
nalen Fest der Juden, ganz verschwindet. Tacitus er- 
wahnt die Hinrichtung Jesu, Josephus redet von den 
aufleren Ereignissen in Jerusalem, die der Hinrichtung 
vorangingen, nur die Evangelien berichten von dem 
eigentlichen Kern des Lebens Jesu und seiner Lehre 
von dem Gottesreich, das nicht von dieser Welt ist, das 
sich aber dem Gemut der Jiinger so tief einpragte, daB 
sie es der Nachwelt iiberlieferten. 
Fur die Evangelien ist Jesu Eintritt (Eisodos; Apostel- 
gesch. 13, 24) in die Geschichte, seine Taufe durch Jo- 
hannes, die Einleitung seines Reformationswerkes 
seine Kindheit und Jugend kennen sie nicht; fur die da- 
malige Profangeschichte tritt Jesus erst durch den Ein- 
zug in Jerusalem auf den Schauplatz der Welt. 
Zum andern ist an diesem Bericht unverkennbar, daB 
Jesu Eintritt in die politische Geschichte gelegentlich 
eines regelrechten Aufruhrs erfolgte, in den Jesus 
mit oder gegen seinen Willen mit hineingezogen 
wurde. Wie der bekannte Althistoriker Lehmann- 
Haupt richtig urteilt (1), betrachtet Josephus hier das 
messianische Auftreten Jesu vom jiidischen Stand- 
punkt aus als einen Aufstand, und der neue Text setzt 
uns in den Stand, andere versprengte Zeugnisse der 
trberlief erung innerhalb und aufierhalb der Evangelien 
in diesen Zusammenhang einzuordnen. 



(1) Josephus' Zeugnis uber Jesus. Frankfurter Zeitung Nr. 928, 
932 und 938 vom 13., 15. und 17. Dezember 1925. 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 95 

Josephus' Bericht uber die Ereignisse in Jerusalem zu 
Jesu Zeit hat nun also tatsachlich wie dies Eduard 
Norden fur den ganzen Zusammenhang gefordert hat 
denCharakter einer politischen Unruhe (thorybos). 



In interne religiose Angelegenheiten der Untertanen 
pflegte sich die romische Regierung in jener Zeit nicht 
einzumischen, sofern nur der Kaiserkultus respektiert 
wurde, ebenso fand auch die jiidische Obrigkeit keinen 
Anlafi zum Einschreiten, wenn nur der Monotheismus, 
der Glaube an Einen Gott, die alte Grundlage der jiidi- 
schen Religion, unangetastet blieb. 
Als die Juden nach der Apostelgeschichte (18, 
12 ff.) den Paulus vor den Richterstuhl des romi- 
schen Prokonsuls Gallion fiihrten und ihn energisch 
verklagten: Er iiberredet die Leute, Gott zu dienen, 
dem Gesetz zuwider, da entgegnete der romische Be- 
amte: Falls ein Unrecht oder Verbrechen vorlage, so 
hatte ich euch gern angehort; aber wenn es sich urn 
Streitfragen handelt von der Lehre oder von den Wor- 
ten oder vom Gesetz unter euch, so mufit ihr selbst die 
Angelegenheit ordnen. Richter in diesen Dingen will 
ich nicht sein. 

Ein gesetzwidriger Ubergriff war es dagegen, als die 
jiidische Priesterpartei der Sadduzaer zu Josephus'- Zeit, 
im Jahre 63, also etwa 30 Jahre nach Jesu Tod, mit dem 
Hohenpriester Ananos an der Spitze, gegen die Chri- 
sten mit Gewalt einschritt. Ananos versammelte nach 



96 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

Josephus' Jiidischer Geschichte (Buch 20, Kap. 9) 
zur Zeit eines kurzen Interregnums, als namlich der 
Statthalter Festus gestorben war und sein Nachfolger 
Albinus noch nicht in Jerusalem angekommen war, 
das Synedrion (den ,Hohen Rat'), und stellte vor das- 
selbe Jakobus, den Bruder des Jesus, des sogenannten 
Christus, sowie noch einige andere, die er der Gesetzes- 
ubertretung anklagte und steinigen lieB. Das aber er- 
bitterte die anstandigen Leute in der Stadt und die 
eifrigsten Beobachter des Gesetzes. Sie verklagten den 
Hohenpriester wegen dieses Unrecbtes, und er wurde 
daraufhin von den Romern seiner Wurde entsetzt. 
So verstehen wir, daJ3 die christliche Gemeinde in Pa- 
lastina, die, am Monotheismus festhaltend, Jesus nicht 
als Gott, sondern als Menschen verehrte, mehrere hun- 
dert Jahre unbehelligt von Juden und Romern bestehen 
konnte. Jesus selbst konnte darum auch, nachdem er 
nur Einen Gott lehrte, im Rahmen der judischen Reli- 
gionsubung in den Synagogen Galilaas ungestort predi- 
gen; aber mit seinem Einzug in Jerusalem, wo ihm von 
den Festpilgern als dem nationalen Messias, das heifit 
als dem Konig der Juden, gehuldigt wurde, war aus der 
Religion Politik und aus dem Friedensfursten, in den 
Augen der Priester wie der Romer, ein nationaler Frei- 
heitsheld und Aufruhrer geworden. 
Die standige Gefahr einer nationalen Erhebung er- 
reichte namlich stets zur Osterzeit, wo die ganze jiidi- 
sche Welt aus Palastina und aus der Diaspora nach 
Jerusalem pilgerte,und wo ungeheureMenschenmassen 
hier versammelt waren, den Hohepunkt. Deshalb be- 
setzten die romischen Statthalter immer um diese Zeit 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 97 

die Hallen des Tempels mit Soldaten, um drohenden 
Aufruhr sofort zu unterdriicken (1). 
Ein solcher Aufruhr (Neoterismos) fand nun, eben in 
Verbindung mit der Jesusbewegung, statt. Bei Jesu 
ProzeC ist von einem gewissen Barrabas die Rede. 
Er war im Gefangnis mit den Aufruhrern, die im Auf- 
ruhr einen Mord begangen hatten (Mark. 15, 7). ,Bei 
welchem Aufruhr?' fragen die Theologen in ihren 
Kommentaren. Behn Jesusaufruhr, antworten wir 
mit Eisler, und sicher waren auch die sogenannten 
Schacher, die mit Jesus gekreuzigt wurden, solche 
Aufruhrer (2). Ja, Jesus wurde gerade mit diesen 
Aufruhrern gekreuzigt, weil die Priester Jesus als An- 
fuhrer des Aufruhrs angezeigt hatten. 



Dem nachsten nichtchristlichen Hauptzeugen von Je- 
sus und dem Christentum begegnen wir zu Beginn des 
2. Jahrhunderts. Jesus ist nun nicht mehr der Juden, 
sondern der Heiden Konig. Nicht urn das Judenchristen- 
tum, sondern um das Heidenchristentum, um die spa- 



(1) Josephus, Judische GescMchte 20, 5. Nach. Berechnungen, 
die Joachim Jeremias angestellt hat, war die gewohnliche Ein- 
wohnerzahl Jerusalems damals zirka 55000; dazu kamen von 
aufierhalb zur Osterzeit etwa 125000 Festpilgerl (Jerusalem 
zur Zeit Jesu. I. Teil. 1923. S. 8697.) 

(2) Josephus nennt, wie Eisler beobachtet, die Freischaren der 
Aufstandischen gegen Bom stets auch Lestaf, der gleiche Aus- 
druck, den das Markus- und das Matthaus-Evangelium fur die mit 
Jesus gekreuzigten Ubeltater gebraucht. 

Nielsen, Der geschichtliche Jesus 7 



98 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALTEN WELT 

tere Kirchenlehre handelt es sich jetzt. Deshalb haben 
wir es da nicht mil dem Menschen Jesus, sondern mit 
dem Gott Ghristus zu tun. Die Ausbreitung des neuen 
Reiches machte mit des Konigs Tod nicht halt. Jesus 
lebt weiter durch sein Wort. Trotz Verfolgungen, Mar- 
tern und Tod die gleichen Zwangsmittel, die Jesus 
gegenuber angewendet worden waren breitet sich 
sein Reich gewaltig aus innerhalb des Romerreiches. 
Tacitus weiB, dafi das Ghristentum von jenem Juden 
stammt, der als Christus oder Messias von Pontius Pi- 
latus gekreuzigt wurde. PLINIDSDER jttNGERE, der 
in seinen letzten Jahren romischer Statthalter in Klein- 
asien (Bithynien) war, erzahlt im Jahre 112 oder 113 in 
einem Brief an Kaiser Trajan von den vorderasiatischen 
Gemeinden, von denen das sogenannte Johannesevan- 
gelium in dieser Zeit ausgegangen ist Trotz Verfol- 
gungen und Hinrichtungen so meldet er an den 
Kaiser (Epistol. X, 96) hat dieser grenzenlos dumme 
Aberglaube auf romische Burger iibergegriffen, jeden 
Alters und Standes und beiderlei Geschlechts, nicht 
allein in den groBen Stadten, sondern auch in den 
Landstadten und auf dem flachen Lande. Im Verhor 
muBten sie gestehen, daB sie an einem bestimmten Tag 
vorSonnenaufgang zusammenkommen und einenHym- 
nus (carmen) an Christus als ihren Gott (quasi deo) im 
Wechselgesang singen und auBerdem zusammen eine 
allgemeine und unschuldige Mahlzeit einnehmen (das 
Abendmahl). 

Ich hielt es fur notwendig, von zwei Sklavinnen, die 
sie Dienerinnen (Diakonissen) nannten, die Wahrheit 
zu erpressen. Plinius lieB die hinrichten, die am 



JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 99 

Christennamen festhielten, aber glaubte die freigeben 
zu miissen, die Raucherwerk und Wein fiir Dein Bild 
opferten (Kaiserkultus!) . . . und Christus abschworen, 
wozu sich die, die wirklich Christen sind, nicht zwih- 
gen lassen, wie man mir sagt. 
Nun erheben sich aber hier und da Zweifel, besonders 
durch anonyme Anzeigen, und Plinius Secundus fragt 
deshalb den Kaiser Trajan um Rat. Dieser antwortet: 
Trajan an Plinius! 

Bei der Untersuchung gegen diejenigen, die als Christen 
angezeigt wurden, hast du, mein lieber Plinius, ganz 
das richtige Verfahren angewendet. Man soil sie nicht 
aufspiiren, werden sie dagegen angezeigt und verklagt, 
so miissen sie allerdings bestraf t werden. Anonyme An- 
zeigen soil man in keinem Fall beriicksichtigen. Das 
gabe ein schlechtes Beispiel und ware eine Kultur- 
schande (Epistol. X, 97). 

Nicht alle Kaiser sind so maBvoll gewesen. Andere, dar- 
unter Nero und Domitian (auf dessen Ghristenver- 
folgung die Off enbarung Johannis anspielt), haben wie 
wilde Tiere gegen den Nebenbuhler von Nazareth und 
seine Anhanger gewutet. 



Niemals hat die Geschichte einen besseren Beweis fiir 
die ungeheure Macht religioser Ideen geliefert als durch 
den Kampf des romischen Imperiums gegen das Chri- 
stentum. Der gewaltige KoloB zermalmte alsbald den 
Friedenskonig von Nazareth. Der hatte nur ein paar 

7* 



100 JESUS IN DEN ANNALEN DER ALIEN WELT 

Jahre in einem abgelegenen Winkel der Welt gewirkt, 
und sein Reich bestand dort nur aus einigen wenigen 
ungebildeten Fischern: eine ausgepragte Laienbewe- 
gung, ohne jede Literatur. Wohl erst nach des Meisters 
Tode sammelten die Juriger Jesu Worte. Uberall ver- 
folgte man seine Anhanger mit Martern und Todesstra- 
fen, und dennoch hatte sein Reich in weniger als drei 
Jahrhunderten das machtige Romerreich besiegt, so 
daB der romische Kaiser Konstantin der GroJBe im Jahre 
324 das Christentum zu einer vom Staate anerkannten 
Religion erheben und Jesus als den Konig der Konige 
anerkennen mufite. 

Nichtchristliche Quellen werfen ein helles Schlaglicht 
auf die zwei altesten Phasen der Geschichte der alten 
Kirche, auf das Juden- und das Heidenchristentum. 
AuBerbiblische Zeugnisse bestatigen, was wir ander- 
warts von Jesus und den altesten Stadien des Christen- 
tums erfahren. Der alte Konflikt zwischen der Staats- 
gewalt und dem prophetischen Messias, zwischen Rom 
und Jesus gibt uns den aufieren Rahmen fur sein Leben 
und seinen Tod. Im Widerstreit der heidnischen Staats- 
gewalt gegen Jesus lernen wir einen Kampf kennen, 
der sich in versteckten Formen noch heutigestags 
wiederholt. 



DIE JUNGFRAUENGEBURT 



von Jesus erfahren wir in den neutesta- 
_1_1| mentlichenQuellen; jedoch miissenwir damitHilfe 
der zwei schon genannten Wissenschaften Bibelkritik 
und vorderasiatische Altertumskunde Punkt fur 
Punkt zwischen ursprunglichem Geschehen und spater 
zugefiigter Theologie sondern. Heidnische mythologi- 
sche Elemente haben sich in die Geschichten von Jesu 
Geburt bis zu seinem Tod und daruber hinaus einge- 
drangt, denn das Heidenchristentum hat gesiegt und 
auf die ursprungliche gescbichtliche trberlieferuiig ab- 
gefarbt. 

Eine wahrhafte historische Schilderung von Jesu Leben 
gibt deshalb in wesentlichen Punkten ein anderes Bild 
als die Kirchenlehre. Schon was Jesu Geburt anlangt, 
so haben offenbar alle neutestamentlichen Schriften 
ursprunglichangenonunen, dafi er auf naturliche Weise 
als Josephs rechter Sohn geboren war. Von den 27 neu- 
testamentlichen Schriften, die die historische Grund- 
lage des Ghristentums bilden sollen, erwahnen nur zwei 
die Jungfrauengeburt, und selbst da befindet sich diese 
Lehre in of f enem Widerspruch zum ubrigen Inhalt der 
betreffenden Schriften. Die Jungfrauengeburt ist also 
ein isolierter Bestandteil, der im Widerspruch zu 
unserm ganzen Neuen Testament aus der apokryphen 
Literatur spater in die Bibel eingedrungen ist. Jesus 



102 DIE JUNGFRAUENGEBURT 

selbst hat niemals diese Lehre verkiindet, seine Apostel 
oder Jiinger ebenfalls nicht, sie findet sich nicht in der 
ersten christlichen Gemeinde auf jiidischem Boden und 
war iiberhaupt der jiidischen Religion und dem Alten 
Testament ganz fremd. 

Woher stammt dann solch merkwiirdige Lehre, die 
spater ein Hauptdogma der katholischen Kirche wurde 
und selbst nach der Reformation im evangelischen 
Glaubensbekenntnis bestehen blieb, obwohl sie in 
Widerspruch zur Bibel steht, die doch nach protestan- 
tischer Auffassung die einzige Norm fur die Lehre der 
Kirche sein sollte? 



Die Antwort gibt uns die Religionsgeschichte. Fruher 
kannte man Judentum und Christentum nur aus der 
Bibel. Dies Buch ist nun seit bald 2000 Jahren die kreuz 
und quer durchstudiert worden, und es versteht sich 
von selbst, daB von auBen kommendes historisches 
Material zur Beleuchtung der Schriften, die noch heute 
das Fundament des religiosen Lebens unserer Kultur 
bilden, nicht hoch genug bewertet werden kann. 
Fruher besafi man indes so gut wie gar kein derartiges 
Material. Selbst im vergangenen Jahrhundert, als die 
moderne protestantische Theologie ihr Haupt erhob und 
ein neues kritisches Bibelstudium forderte, als die 
Bibelkritik einsetzte, als man hinsichtlich der Ab- 
fassungszeit der einzelnen biblischen Schriften umzu- 
lernen begann und ein neues Bild des Entwicklungs- 
ganges innerhalb des Judentums und des Urchristen- 



DIE JUNGFRAUENGEBURT 103 

turns zeichnete, da war man noch beinahe ausschliefi- 
lich auf die Bibel selber angewiesen. 
Dies Buch hatte von jeher als gottliche Urkunde gegol- 
ten, die geradeswegs vom Himmel gefallen war, ohne 
eine organische Verkniipfung mil der iibrigen religiosen 
Literatur der Erde aufzuweisen. Das Judentum, aus 
dessen SchoJB das Christentum hervorgegangen war, 
gait stets als isoliertes Phanomen in der Religions- 
geschichte, die judische Nation war noch immer Gottes 
einzig auserwahltes Volk, sie schien zur Erlosung aus- 
ersehen, wie die anderen Volker zum Verderben. Juden- 
tum und Christentum waren heilige Bezirke, abge- 
schlossen von den anderen Religionen durch eine un- 
iibersteigliche Mauer, und innerhalb dieser Mauer lag 
alles in gedampftem Licht, in mystischem Halbdunkel. 
Es war gar nicht leicht zu erkennen, was da drinnen 
vor sich ging. 



Nun hat sich das Bild verandert. Die Tiiren zu dem 
heiligen Bezirk haben sich allenthalben weit geoffnet. 
Das Licht aus der Umwelt, das grelle Tageslicht der 
Geschichte stromt hinein. Juden- und Christentum 
werden in organische Verbindung mit anderen Reli- 
gionen des Altertums gebracht. Sie verlieren dabei nicht 
ihr Eigengeprage, sie ragen immer noch hoch iiber alle 
anderen Religionen empor, aber wir konnen nun ihr 
Werden und Wachsen verfolgen, konnen den Vor- 
sprung besser wurdigen, den sie vor den Religionen 
haben, indenen sie wurzeln, und konnen unterscheiden, 



104 DIE JUNGFRAUENGEBURT 

was ihnen noch vom Heidentuin ihrer Zeit anhaftet. 
Zu diesemHeidentum gehort dieDreieinigkeit, die nicht 
an einer einzigen Stelle der Bibel bezeugt 1st, gehort 
f erner die Verwandlung des Abendmahls in gottliches 
Fleisch und Blut, eine Lehre, die ebenfalls dem Juden- 
tum und der altesten christlichen Gemeinde fremd war, 
und dazu gehort schlieJBlich auch die Jungfrauengeburt. 



Wir haben oben gesehen, dafi die Hoffnung auf einen 
gottlichen Friedefiirsten, der als Messias ein ewiges, 
allumfassendes Friedensreich aufrichten sollte, nicht 
nur ein Hauptbestandteil der jiidischen, sondern auch 
der anderen semitischen Religionen in den letzten Jahr- 
tausenden war, sie war lang vor Christus bei anderen 
vorderasiatischen Volkern bekannt, von wo aus sie auch 
bei Griechen und Romern Eingang fand. 
Der Erhabene, der diese gottliche Mission erfiillen 
sollte, war nach der alten Auffassung kein gewohn- 
licher Mensch, sondern Gottes Sohn in rein natiirlichem 
Sinn, er hatte eine irdische Mutter, aber keinen mensch- 
lichen Vater, er war auf wunderbare Weise zur Welt 
gekommen, indem eine Jungfrau durch eine geheim- 
nisvolle von oben stammende Kraft schwanger gewor- 
den oder umnittelbar von der hochsten Gottheit be- 
fruchtet worden war. 



DIE JUNGFRAUENGEBURT 105 

Wir wissen heute von einer Reihe von historischen 
Personlichkeiten, die vor Jesu Auftreten von der be- 
wundernden Mit- oder Nachwelt als fleischgewordene 
Sohne Gottes verehrt wurden, die auf solch ubernatur- 
liche Art und Weise geboren worden waren. In den 
alten sudsemitischen Inschriften ist der konigliche 
Messias nicht irgendein Menschensohn, sondern der 
Sohn des Gottes, er hat keinen menschlichen Vater, 
sondern ist, wie es wieder und wieder in den Inschrif- 
ten heifit, direkt vom hochsten Gott gezeugt. Dasselbe 
wird von babylonischen und assyrischen Konigen er- 
zahlt, wie auch von Alexander dem GroJBen und von 
Kaiser Augustus. Wenn die neue K6nigin so heiflt 
es in agyptischen Texten in ihrem prachtigen Ge- 
mache weilt, nahert sich ihr der hochste Gott in der 
Gestalt ihres Gemahls. Sie erwacht von dem Wohlge- 
ruch, der ihn umgibt, und lachelt dem Gott zu. Der tritt 
hin zu ihr, offenbart sich ihr in seiner gottlichen Ge- 
stalt, und sie freut sich, seine Herrlichkeit zu schauen. 
Wenn so der Gott an ihr seinen Willen erfullt hat, ver- 
heifit er ihr, dafi sie einen Sohn gebaren soil, der Konig 
sein wird uber Ag3rpten (1). 

Andere Beispiele wurden hier zu weit fuhren; man 
kann weiteres Material zur Beleuchtung des heidni- 
schen Charakters der Jungfrauengeburt in einem hoch- 
interessanten Buch Eduard Nordens (Die Geburt des 
Kindes, Leipzig 1924) finden, und der Verfasser selbst 
hat jiingst aus alten semitischen Inschriften neue Par- 
allelen den schon bekannten zugefiigt (D. Nielsen, 



(1) A. Erman, Die agyptische Religion. 2. Aufl. S. 49. 



106 DIE JUNGFRAUENGEBURT 

Der dreieinige Gott in religionshistorischer Beleuch- 
tung, Kopenhagen und Berlin 1922). 



Ebendort ist auch dargetan, wie die semitische Gotter- 
dreiheit in den letzten Jahrhunderten vor Christus in 
literarisch gebildeteten und aufgeklarten Kreisen unter 
der Einwirkung griechischer Philosophic sich aus kor- 
perlichen Gestalten zu den abstrakten geistigeri Wesen 
umgebildet hat, die wir aus dem Johannesevangelium 
und anderen nichtjiidischen, vorderasiatischen Schrif- 
ten kennen. Gott ist Geist, und die ihn anbeten, sollen 
ihn im Geist und in der Wahrheit anbeten (Joh. 4, 24). 
Rings urn Palastina in ganz Vorderasien wird in die- 
sem Zeitraum der Sohn zum Wort und die Mutter - 
gottin zum Heiligen Geist. Dieser VergeistigungsprozeB 
erstreckt sich auch auf die Messiasgestalt. Die unter- 
driicktenVolkerVorderasiens setzten nun ihrVertrauen 
nicht mehr auf einen Herrscher mit materieller Macht, 
sondern auf einen rein geistigen Messias, auf einen 
Friedensfursten, dessen Reich nicht von dieser Welt 
ist, und der deshalb auf geistige Weise Gottes Sohn 
ist, indem er mehr als andere Menschen von Gottes 
Geist erfullt ist. 

Solche Messiasauffassung, zu der auch wir Kinder des 
20. Jahrhunderts uns bekennen konnen, wurde zu Be- 
ginn unserer Zeitrechnung mehrfach auf grofie Geister, 
auf hervorragende Propheten, Lehrer und Religions - 
stifter angewandt, auf keinen aber mit groBerem Recht 
als auf den GroBten yon ihnen alien, Jesus von Naza- 



DIE JUNGFRAUENGEBURT 107 

reth, dem ganz im gleichen Sinn auch das Johannes- 
evangelium als dem Messias und Gottessohn huldigt. 
Neben diesem Glauben an einen Messias, der in rein 
geistigem Sinne Gottes Sohn war, finden sich jedoch 
in dieser Periode in den Kreisen des Volkes aufierhalb 
des judischen Landes noch Reste des alten Messias- 
glaubens, wonach auch dieser prophetische Friedens- 
fiirst in physischem Sinne durch ubernaturliche Ge- 
burt Gottes Sohn ist. So sah man z. B. Jahrhunderte vor 
Jesu Geburt Pythagoras und Platon als unmittel- 
bar von Gott gezeugt an, ohne menschlichen Vater. 
Gleiches erzahlte man sich spater von Apollonios von 
Tyana in Kleinasien wie auch von anderen vorderasia- 
tischen Propheten. Und in Agypten wurde in vorchrist- 
licher Zeit Imhotep, ein Weiser der Vorzeit, der wie 
Jesus Baumeister war und den Anstofi zu verschiedenen 
heiligen Schriften gab zwar als Prophet und fur ge- 
wohnlich nicht als Konig oder Gottessohn , abgebil- 
det, aber auch er war doch nicht ein gewohnliches 
Menschenkind, sondern ein Sohn der obersten Gottheit 
und einer Agypterin, Chredu-'onch, einer Art agyp- 
tischer Mariengestalt. 



Die Juden, die im letzten vorchristlichen Jahrtausend 
stets an der Spitze der semitischen Religionsentwick- 
lung marschierten, batten schon lange, bevor griechi- 
scher EinfluB wkksam wurde, mit Hilfe religioser Re- 
formatoren, die aus ihrer eigenen Mitte erstanden, der 
sogenannten Propheten, sich von der uralten gemein- 



108 DIE JUNGFRAUENGEBURT 

semitischen Gotterdreiheit Vater, Sohn und Mutter 
f rei gemacht und verehrten nur noch den Vater als 
einigen Gott. Durch die Verwerfung des Sohn- und 
Mutterwesens drangen sie nicht niir zum Monotheis- 
mus durch, zum Glauben an e i n e n Gott, sondern rei- 
nigten zugleich ihren eines Kulturvolkes unwiirdigen 
Gottesbegriff von der Familienmythologie. 
Sie waren wie spater die Muhammedaner der Meinung, 
daJQ der allmachtige Gott nicht nach Menschenweise 
Weib und Kinder haben und darum auch nicht einen 
Sohn in naturlichem Sinne besitzen konne. Er zeuget 
keine Kinder, heiJBt es im Koran (Sure 112), er hat 
weder S6hne noch T6chter. Wie sollte der Schopfer 
des Hi mm els und der Erde Bander haben konnen, da 
er doch kein Eheweib sein eigen nennt? (Sure 6, 100 
bis 101.) 



Die Messiaserwartung jedoch, Vorderasiens grofier 
Konigsgedanke, die Hoffnung auf einen Frieden auf 
Erden, an die auch wir uns heute festklammern, ging 
den Juden nicht verloren; aber aus ihrem Messias 
wurde in Ubereinstimmung mit dem Monotheismus 
und der vergeistigten Gottesauffassung, die den ge- 
bildeteten Heiden Vorderasiens eigen war, ein mensch- 
licher Friedensfiirst un Geiste, geboren auf natiirliche 
Weise, ein Menschensohn nicht Gottessohn , 
wie es standig in den drei altesten Evangelien heiBt. 
Weder Johannes der Taufer noch Jesus von Nazareth, 
Bar-Kochba oder irgendein anderer historischer Mes- 



DIE JUNGFRAUENGEBURT 109 

sias der Juden aus dieser Zeit ist irgendwann einmal 
auf judischem Boden als Gottes Sohn in naturlichem 
Sinne angesehen warden, als durch Jungfrauengeburt 
oder sonst auf iibernatiirliclie Art und Weise zur Welt 
gekommeii. Dagegen hatten die Juden in einem an- 
dern Punkt einen Rest der alten aufier lichen Messias- 
auffassung bewahrt, indem ihr nationaler Messias- 
glaube auf einen Messias aus clem alten Konigshaus 
von Davids Stamm aus Bethlehem wartete. Die typi- 
sche national- jiidische Messiasbezeichnung hierfiir war 
Ben-David: Sohn Davids*. 

Der religionsgeschichtliche Hintergrund der Jungfrau- 
engeburt lafit sich demnach in folgende Satze zusam- 
menfassen: 

1. Jesus ist nicht, wie man fruher meinte, die einzige 
historische Personlichkeit, von der eine jungfrauliche 
Geburt erzahlt wird. Es war das vielmehr ein fester 
mythologischer Bestand in der Geschichte der Welt- 
friedenssehnsucht, der sich wie ein roter Faden durch 
die ganze vorderasiatische Geschichte in den letzten 
Jahrtausenden v. Chr. zieht, in den Inschriften von 
einer Reihe machtiger Konige erzahlt wird und auch 
von mehreren grofien Propheten bezeugt sein will. 
2. In den letzten Jahrhunderten v. Chr. hatte sich jedoch 
die ubernatiirliche Geburt des Friedensfiirsten uberall, 
wo jiidische Religion herrschte, und auch bei alien auf- 
geklarten Heiden in ftbereinstimmung mit der hoheren 
religiosen Kultur der Zeit zu einem spezifisch geistigen 
Sohnverhaltnis umgebildet, das ebenf alls mehreren ge- 
schichtlichen Personen beigelegt wird. 
Die alten Volker, von denen wir unsere Religion, un- 



110 DIE JUNGFRAUENGEBURT 

sere Ideale und den Messiasglauben haben, geistige 
Giiter, die heute noch unsere Kultur erfullen, hatten 
also schon vor zwei Jahrtausenden aus ihrem Glau- 
bensbekenntnis mit anderem heidnischen Erbgut auch 
die Jungfrauengeburt gestrichen, die ja auch die mei- 
sten von uns heutigen Menschen abstofit. 
So wissen denn die biblischen Schriften, wie wir im fol- 
genden sehen werden, auch nichts von ihr. 



JESU GEBURT 



Joseph zeugete Jesus. 
Matthaus i,l 
syrischen Handschrift. 



Matthaus 1,16 nach der alten 



~T~N Ubereinstimmung mit dem jiidischen Monothe- 
JLismus, der nur e i n e gottliche Person kennt, f afit das 
Alte Testament den messianischen Friedensfursten als 
Menschen auf und iibertragt den von der altsemitischen 
Religion und Messiaserwartung ererbten Ausdruck 
Gottes Sohn in mehr geistigem Sinn auf ein beson- 
deres geistiges Sohnverhaltnis zwischen Messias und 
Gott. 

Wenn der Dichter z. B. unter Verwendung der allge- 
meinen orientalischen Messiasschmeicheleien fiir die 
Fiirsten bei ihrer Thronbesteigung, wie wir sie nun so 
gut aus den Inschriften kennen, Jahwe sagen laDt: Du 
bist mein Sohn, beute babe ich dicb gezeuget (Ps. 2, 7), 
so kann dies naturlich nur auf geistige Art verstanden 
werden. Der Konig ist auf menschliche Weise geboren, 
nicht von irgendeiner Jungfrau. Die messianische Stelle 
Jes. 7, 16, die nach der griechischen und der alten deut- 
schen Ubersetzung lautet: Die Jungfrau ist schwanger 
und gebiert einen Sohn, spricht tatsacblich gar nicht 
von einer Jungfrauengeburt. Im Urtext steht nam- 
lich dort Alma, junges Weib, nicht Betula, Jung- 
frau, weshalb auch die deutsche t)bersetzung richtig 
lauten muC: Die junge Frau ist schwanger . . . 



112 JESU GEBURT 

Das Christentum 1st vom Judentum ausgegangen und 
unterscheidet sichvon ihm in diesemPunktenicht. Jesus, 
der selbst Jude war und seine erste Gemeinde unter Ju- 
den bildete, ist niemals auf getreten als einer, der in na- 
turlichemSinne vonGott geboren sein wollte, undkeiner 
seiner Apostel hat irgendeinmal diese Lehre verkiindet 
oder sie als Beweis fur seine Gottnatur angefuhrt. 
Nach der Bibel sind alle Menschen Gottes Kinder, aber 
Jesus ist Gottes Sohn auf ganz besondere Weise, weil 
er in einzigartigem Made mit Gottes Geist erfiillt ist. 
Dieses geistige Sohnverhaltnis tritt, geschichtlich be- 
trachtet, erst da hervor, wo Jesus, beriihrt von des Tau- 
fers Verkiindigung, sein Werk als religioser Erneuerer 
beginnt. Alle Evangelisten lassen deshalb mit seiner 
Taufe durch Johannes Gottes Geist iiber ihn kommen 
und das Sohnverhaltnis eintreten. Damals ward Jesus 
zu seiner historischen Mission geweiht, ebenso wie in 
jener alien Anschauung der Konig-Messias erst zum 
Sohn Gottes wird an dem Tag, da man ihn zum Konig 
salbt. 

In den ersten drei Evangelien lauten nach unseren 
Bibelausgaben die Worte, die nach der AusgieBung des 
Geistes bei der Taufe durch Johannes an Jesus gesche- 
hen, folgendermafien: Du bist mein lieber Sohn . . . 
an dir habe ich Wohlgefallen, aber eine ganze Reihe 
von alten Handschriften sowie ein Zeugnis aus dem 
2. Jahrhundert haben hier die ursprungliche Lesart be- 
wahrt, die mit dem 2. Psalm ubereinstimmt: Du bist 
mein Sohn, heute habe ich dich gezeuget. 
Da haben wir das authentische Zeugnis der Evangelien 
daruber, wie und wann Jesus zum Sohn Gottes ge- 



JESU GEBURT 113 

worden 1st. Es 1st die geistige Sohnschaft, auf die die 
Apostelgeschichte gelegentlich (10,38) und Jesus 
immer wieder hinweist als auf den Beweis fur den 
gottlichen Charakter seiner Lehre. Jesus ist durch ein 
wunderbares geistiges Erlebnis als reifer Mann zum 
Sohn Gottes geworden, und nicht durch wunderbare 
natiirliche Geburt. Den Text hat man spater gean- 
dert, weil er dem Dogma von der Jungfrauengeburt, 
dem altesten Glied in der katholischen Marien- und 
Madonnenverehrung, widersprach. 
Ebenso wie sich die Jungfrauengeburt im Alten Testa- 
ment nur auf die unrichtige Ubersetzung eines einzigen 
Wortes grundet (Jes. 7, 16; s. oben), so kann sich Jesu 
Geburt von einer Jungfrau im Neuen Testament nur 
auf ein paar Verse im Anfang des Matthaus- und Lukas- 
evangeliums stutzen, die aus textlichen Griinden sich 
als unecht erweisen. 

Zum ersten findet sich die Legende von der Jung- 
frauengeburt nur in den unhistorischen Geburts- und 
Kindheitsberichten, die spater vor den eigentlichen Be- 
ginn der Evangelien des Matthaus und Lukas einge- 
schoben wurden, aber mit Recht bei Markus und Jo- 
hannes fehlen. 

Zum andern haben selbst diese apokryphen Erzahlun- 
gen in ihrer urspriinglichen Form keine Jungfrauen- 
geburt gekannt. Bei Lukas stehen die zwei Verse, die von 
ihr berichten (1, 34/35) off ensichtlich un Widerspruch 
mit dem Zusammenhang und werden daher mit Recht 
von der neueren Theologie der historischen Schule als 
spater er Einschub und als Textverf alschung angeseheri. 
Entfernt man sie, so bleibt Verkiindigung und Erzah- 

Nielsen, Dei' geschichtliche Jesus 8 



114 JESU GEBURT 

lung von der Geburt eines Messias (Jesus) in gewohn- 
licher judischer Erzahlweise, ebenso wie der zu Be- 
ginn des Lukasevangeliums vorhergehende Bericht von 
eines Propheten (des Taufers) Geburt erzahlt. Bei Mat- 
thaus steht die Jungfrauengeburt rrn. 1. Kapitel eben- 
falls im Widerstreit mit dem sonstigen Inhalt des Evan- 
geliums, namentlich mit der im gleichen Kapitel vor- 
ausgehenden Stammtafel. 

Es verdient uberhaupt Beachtung, dafi der Ausdruck 
Jungfrau Maria, der eine so grofie Rolle in dem un- 
biblischen katholischen Marienkult spielt und dadurch 
Eingang in das auch von den Protestanten ubernom- 
mene Glaubensbekenntnis gefunden hat, iin Neuen 
Testament uberhaupt nicht vorkommt. 



Rechnet man diese spateren Einschiebsel ab, so weiB 
das Neue Testament uberhaupt nichts von einer Jung- 
frauengeburt, sondern bezeugt im Gegenteil mit voller 
Klarheit, daB Jesus Josephs wirklicher Sohn war. 
Nach der Rede des Apostels Petrus hn 2. Kapitel der 
Apostelgeschichte war Jesus kein Gott, sondern ein 
Mann (Aner, V. 22), durch den Gott grofie Dinge tat. 
Durch naturliche Geburt war er als Josephs Sohn von 
Davids Stamm (V. 30). 

Fur Paulus ist Jesus ebenfalls Gottes Sohn nur in geir- 
stigem Sinne, durch naturliche Geburt (kata sarka) je- 
doch Davids, das heiJBt Josephs Sohn (Rom. 1, 4; 
Apostelgeschichte 13,23); dieselbe Lehre bieten alle 
Evangelien. 



JESU GEBURT 115 

Selbst das Johannesevangelium, das am starksten Jesu 
gottliche Natur betont, kennt keine Jungfrauengeburt. 
Dort 1st Jesus (Kap. 1, 45) der Sohn Josephs. Ja, eine 
solch sinnlich-materielle Gottesauffassung wie die, 
welche der Jungfrauengeburt zugrunde liegt, steht tief 
unter dem geistigen Niveau dieses Evangeliums. 
Markus kennt diese Lehre vollends nicht, er bietet viel- 
mehr einen klaren Beweis gegen Jesu ubernaturliche 
Geburt. Nach seinem Berichte suchen die Seinen 
nach ihm (Kap. 3, 21), das sind seine Mutter und seine 
Briider (V. 31), urn ihn dahin zu bringen, daB er sein 
Wirken aufgebe, ja sie sagen rundheraus, er sei von 
Sinnen (V. 21, elegon gar, hoti exeste). Seine Mutter 
und seine Briider glauben namlich nicht an ihn, und es 
kommt zu einem glatten Bruch mit der Familie. Seine 
Mutter hort nicht auf die Frauen, die ihm nachfolgen, 
und ist nach den altesten Evangelien nicht einmal bei 
seiner Kreuzigung zugegen (Mark. 15, 40 41; Matth. 27, 
5556). Auf diese Verhaltnisse spielt Jesus an, wenn 
er daruber klagt, dafi einem Propheten bei seinen Ver- 
wandten und in seiner Familie (oikia) nichts als 
Verachtung zuteil wird (Mark. 6, 4; Matth. 13, 57). 
Der Unglaube der Mutter und der Familie, der auch 
bei Matthaus und Lukas bezeugt ist, schliefit jeden Ge- 
danken an eine ubernaturliche Geburt aus. Hatte die 
Mutter wirklich jene wunderbaren Erlebnisse gehabt 
(ubernaturliche Empf angnis, Stern im Osten, Anbetung 
des Kindes durch die Weisen), die die apokryphe Evan- 
gelienliteratur mit der Geburt des Kindes in Verbin- 
dung setzt, so hatte doch sie die erste sein mussen, die 
an ihn geglaubt hatte. 

8* 



116 JESU GEBURT 

Matthaus und Lukas haben uns nun uberdies zwei 
jiidische Stammtafeln bewahrt, die Jesu Davidabkunft 
belegen sollen. Beide sind wertvolle religionsgeschicht- 
liche Dokiimente, indem das Geschlechtsregister, wie 
bei den Semiten iiblich, hier wie dort uber den Vater 
gefiihrt wird und demnach Joseph als Jesu leiblichen 
Vater erweist. 



Als spater die Jungfrauengeburt in die Texte einge- 
schmuggelt worden ist, war naturlich diese Stamm- 
tafel der Hauptanstofi fur die neue Lehre, und wir 
konnen noch deutlich die Harmonisierungsversuche 
der Abschreiber durch Berichtigungen und Einschube 
feststellen. Wir befinden uns ja in einer Zeit, wo man 
noch keinen feststehenden Bibeltext besafi; die Ver- 
schiedenheit der Abschriften war wie der Kirchen- 
vater Origines (3. Jahrhundert) bezeugt mannig- 
faltig, indem die Schreiber hinzufiigten oder aus- 
lieBen, was ihnen pafite. In dem Ausdruck der 
Stammtafel bei Lukas: Jesus war ein Sohn Josephs 
(Luk. 3,23), wurden die Worte zugefugt: wie man 
meinte, ein Einschub, der die ganze Stammtafel sinn- 
los macht, denn was hat es fur ein Interesse, daB Joseph 
von David abstammt, wenn Joseph nicht wirklich Jesu 
Vater, sondern nur sein Pflegevater war? In dem Fall 
flosse ja kein Tropfen von Davids Blut in Jesu Adern. 
Das Geschlechtsregister bei Matthaus fangt mit David 
an. David zeugte Salomon, Salomon zeugte Rho- 
boam usw. . . . Matthan zeugte Jakob, Jakob zeugte 



JESU GEBURT 117 

Joseph, und Joseph zeugte so heifit es im urspriing- 
lichen Text Jesus, der genannt wird Christus. So also 
hebt das Evangelium nach Matthaus an, der demnach 
ebenfalls im Einklang mit alien anderen biblischen 
Schriften Jesus als Josephs leiblichen Sohn ansieht. 
Gleich nach dieser Stammtafel im 1. Kapitel des Evan- 
geliums ist indessen der Bericht von der Jungfrauen- 
geburt eingeschoben, der ausdriicklich hervorhebt, dafi 
Joseph Jesus nicht gezeugt hat. 

Nun ware es konsequent gewesen, die Stammtafel, die 
sich weder im altesten Evangelium (des Markus) noch 
bei Johannes findet, ganz wegzulassen; aber sie stand 
nun einmal in der altenMatthaus-Handschrift. Man be- 
gniigte sich deshalb ahnlich wie in der Stammtafel 
bei Lukas und in dem Bericht iiber Jesu geistige Ge- 
burt(Matth.3,17), der ebenfalls einer Jungfrauengeburt 
widerstreitet mit den gewohnlichen Harmonisie- 
rungsmafinahmen im Text, man strich: Joseph zeugte 
Jesus und schob nach der ersten Erwahnung Josephs 
ein: den Mann Marias, von welcher Jesus geboren ist. 
Ein Einschub, der wie ein scharfes Messer die Bluts- 
bande zwischen Jesus und Joseph entzweischneidet, 
aber gleichzeitig die ganze Stammtafel bedeutungslos 
macht. Man versteht schlechterdings nicht, wozu irgend 
jemand sich die Miihe hatte machen sollen, Josephs 
Ahnen nachzuspiiren, wenn dieser nicht Jesu Vater ge- 
wesen ware. 



Solche Textanderungen traten wahrscheinlich erst in 
Gestalt der iiblichen Glossen am Rande der Handschrif- 



118 . JESU GEBURT 

ten auf und wurden dann spater, als der katholische 
Marienkultus an solchen Verfalschungen Bedarf hatte, 
dem kanonischen Texte einverleibt. 
Die Falschung, die die moderne Evangelienkritik an 
jenerStelle des uberliefertenMatthaus-Textes erkennen 
wollte, hat sich vor einiger Zeit auf unerwartete Weise 
dokumentiert. Zwei Englanderinnen, Lewis und Gib- 
son, fanden namlich 1892 in dem alten Sinaikloster 
eine Pergamenthandschrift mit einer syrischen Hei- 
ligenlegende. Bei naherer Untersuchung erwies sich 
die Handschrift als ein sogenannter Palimpsest. Der 
urspriingliche Text war ausgewischt Pergament war 
ja auch damals ein kostbarer Artikel , dam.it man das 
Material zum Beschreiben mit einem neuen Text ver- 
wenden konnte. Durch Anwendung chemischer Mittel 
wurde die urspriingilche Schrift lesbar, und man sah, 
dafi es das Bruchstiick einer alten syrischen Evangelien- 
handschrift war. Diese wertvolle Handschrift der so- 
genannte Sinai-Palimpsest hat eine ganze Reihe ur- 
spriinglicher Lesarten bewahrt und fuhrt unter ande- 
rem in der Stammtafel bei Matthaus lesbar und deut- 
lich die Worte: Joseph zeugte Jesus. 
Diese drei Worte hat die protestantische Theologie, wie 
gesagt, langst als urspriinglichen Wortlaut von Matth. 1, 
16 vermutet, und wir haben hier also kurz und biindig 
die biblische Lehre von Jesu Geburt. Jesus ist auf all- 
gemein menschliche Weise von Maria, Josephs Weib, 
geboren, nicht gezeugt vom Heiligen Geist, sondern 
von Joseph. Ganz wie es auch in einer alten Evangelien- 
harmonie heifit: Jakob zeugte Joseph, den Mann Ma- 
rias, der mit ihr Jesus erzeugte. 



JESU GEBURT 119 

Es 1st wert, unterstrichen zu werden, daJB nach all dem 
zwei voneinander unabhangige Wissenschaften, Reli- 
gionsgeschichte und neutestamentliehe Textkritik, die 
beide mit verschiedenem Material und mit verschiede- 
ner Methode arbeiten, in der Frage der Jungfrauen- 
geburt zum gleichen Resultat gelangen: 
Die Religionsgeschichte hat, wie gezeigt wurde, dar- 
getan, daB die Jungfrauengeburt ein Stuck primitiven 
Heidentums war, das sich in der semitischen Messias- 
theologie Jahrtausende vor unserer Zeitrechnung fand, 
aber schon Jahrhuhderte vor Jesu Auftreten in der jiidi- 
schen Religion ganz verschwunden war und sich bei 
anderen vorderasiatischen Religionen nur noch als ru- 
dimentare Versteinerung in den tieferen Schichten-der 
Volksreligion fand. Und auch die biblischen Schriften, 
die einen Ausschnitt aus dem hochsten Religionsgut 
ihrer Zeit darstellen, kennen keine Jungfrauengeburt, 
sondern lehren ausdriicklich, daB Jesus Josephs Sohn 
war. Erst spater taucht diese Lehre zugleich mit der 
heidnischen vorchristlichen Madonnenvereherung aus 
der Tiefe empor, dringt in die Bibeltexte ein und wird 
durch die katholische Kirche kanonisiert. 
Dies ist die Vorgeschichte des Dogmas: geboren aus 
Maria der Jungfrau. 



JOSEPH DER MAURER/JESU VATER 



DER Mann, der nach dem ubereinstimmenden Zeug- 
nis der Evangelien Jesu leiblicher Vater war 
nicht sein Adoptiwater , war ein Handwerker aus 
Nazareth in Galilaa, kein Zimmermann, wie man in 
unsern Bibelubersetzungen liest und auf Bildern sehen 
kann, sondern ein Maurer. 

Sein Handwerk wird uns im Urtext von Matth. 13, 55 
mit dem griechischen Wort tekton (Baumeister) an- 
gegeben, das allerdings auch Zimmermann bedeuten 
kann. Es klingt an in dem modernen, ursprunglich 
griechischen Wort Architekt, bei dem die griechische 
Endung -on weggefallen ist. Architekt heifit Oberbau- 
meister, ebenso wie z. B. Archi- (Erz-) Bischof Ober- 
bischof und Archi- (Erz-) Engel oberster Engel be- 
deutet. 

Nun war die Zimmermannsarbeit in Europa fruher, als 
die meisten Hauser Fachwerkbauten waren, das Wich- 
tigste am Hausbau, und daraus erklart sich vielleicht 
die hier unrichtige Ubersetzung von tekton, die in 
alle Bibelausgaben iibergegangen ist. In Palastina in- 
dessen war und ist noch heute Holz etwas Seltenes, na- 
turlicher Stein dagegen ist reichlich vorhanden, und 
deshalb baut man dort die Hauser jetzt wie im Alter- 
tum von Grund auf aus mehr oder weniger zugehaue- 
nen Steinen; selbst das Dach und die Fensteroffnungen 
oder Lichtlocher werden mit Stein iiberwolbt. An einem 
gewohnlichen Bauernhaus in Palastina ist kein Balken 



JOSEPH DER MAURER/JESU VATER 121 

Holz. Der Baumeister oder sein Arbeiter 1st also dort 
Maurer. 



Dies Handwerk 1st in der Regel in bestimmten Familien 
heimisch, in denen es sich vom Vater auf den Sohn ver- 
erbt. Deshalb ist auch Jesus, wie wir bei Markus 6, 3 
lesen, ein Tekton oder Maurer geworden. Nun kann 
man zwar der Ansicht sein, dafl es im Grunde recht 
gleichgiiltig ist, ob Jesus Zimmermann oder Maurer 
war, da er ja nicht als Baumeister, sondern als Reli- 
gionsstifter seine Bedeutung erlangt hat. Aber gerade 
weil Jesu Leben und Lehre von so ungeheurer Bedeu- 
tung war und ist, mufi man alle noch so kleinen Ziige 
sammeln, die irgendwie neues Licht iiber sein Leben 
und seine Lehre verhreiten konnen. 
Dafi Muhammed Kaufmann war, wird ganz deutlich 
aus seinen Reden. Viele Ausdriicke im Koran erklaren 
sich nur so. Den Propheten Ezechiel versteht man nur, 
wenn man weiJB, dafi er als Sohn eines Priesters, der 
selbst wieder den Beruf des Vaters ausubte, eigentlich 
mehr vom Priester als vom Propheten an sich hatte. 
Aus Amos spricht der Hirte, und aus Jesu Worten und 
Gleichnissen horen wir nicht den Zimmermann, son- 
dern den Maurer und Landmann heraus. 
Ludwig Schneller, der lange Jahre Pfarrer und Mis- 
sionar in Palastina war, hat in seinem Buch Kennst 
du das Land? gezeigt, dafi Jesus als Baumeister nicht 
Zimmerer, sondern Maurer war; ferner erzahlt er dort, 
dafi die Maurer in Palastina auch durchwegs Ackerbau 



122 JOSEPH DER MAURER/JESU VATER 

treiben, well jenerBeruf nur eineSaisonbeschaftigung 
bietet. 

Ein Landmann also, ein naturverbundener Mensch 1st 
es, der uns in Jesus entgegentritt, kein gelehrter Pedant, 
dessen Welt staubige Biicher sind. Wer kennt nicht all 
die schonen Bilder von den Lilien auf dem Felde und 
den Vogeln unter dem Himmel, vom Saemann, der aus- 
ging, zu saen, vom Unkraut unter dem Weizen, vom 
Weinberg und vom Gartner, vom Baum und seinen 
Friichten. Und der Maurer spricht zu uns, wenn Jesus 
beispielshalber Simon den Felsen (Petros) nennt und 
auf diesen Felsen seine Gemeinde bauen will, ebenso 
in dem Gleichnis von den groBen Kosten beim Bau 
ines Turmes, oder wenn er mahnt, dafi man sein Haus 
nicht auf Sand bauen soil, sondern auf Felsengrund. 



Als Sohn Josephs, des Maurers und Bauersmanns, ge- 
horte Jesus der einfachen Landbevolkerung Galilaas an, 
ohne jedoch ein Proletarierkind zu sein. Das Kindlein 
in der Krippe nimmt man meist fur ein Zeichen aufier- 
ster Armut: 

Ach Herr, du Schopfer aller Ding, 
Wie bist du worden so gering, 
DaB du da liegst auf diirrem Gras, 
Davon ein Rind und Esel afi. 
(M. Luther. Bayr. Gesangbuch 72, 9.) 

Aber die Landbevolkerung in Palastina bewohnt jetzt 
wie ehedem in der Regel einfache Steinhauser mit 



JOSEPH DER MAURER/JESU VATER. 123 

Lichtoffmingen an Stelle der Fenster und mit einem 
einzigen Wohnraum (1), in dem sich in kalten Nachten 
auch das Kleinvieh aufhalt. So komnit es, daB in einem 
solchen Haus auch haufig eine Krippe steht, und man 
benutzt sie gem als Lager fur kleine Kinder, die dar- 
innen weich und warm liegen. Betten hat man keine, 
Erwachsene und Kinder pflegen sonst auf einer Matte 
am Boden zu schlafen. Ein kleines Kind in einer Krippe 
ist in Palastina etwas ganz Gewohnliches. 



Als Sohn des judischen Bauerii und Maurers Joseph 
wurzelt Jesus mit seinem Leben und seiner Lehre fest 
in der damaligen judischen Kultur und Religion, trber 
ganz Palastina, also auch uber Galilaa waren damals 
Synagogen verstreut, und auch in Nazareth gab es eine 
solche. Dort versammelte sich die Bevolkerung am Sab- 
bath zum Gottesdienst, zur Verlesung der heiligen 
Schriften. Hier vor allem wurde er mit der Religion 
seiner Vater vertraut, ganz besonders hat man ihn 
wohl auch zur Befolgung des obersten judischen Ge- 
botes aneehalten, der sogenannten Schema, in der 
der Glaube an den einen unsichtbaren Gott in Ver- 
bindung mit dem Gebot der Liebe eingescharft wird. 
Dies Gebot war in den vorangegangenen Jahrhunderten 
unter langen und schweren Kampfen allmahlich zum 



(1) Wenn abends das Licht angezundet wird, leuchtet es darum 
auch, sofern man es nicht unter einen Scheffel stellt, alien, die 
im Hause sind, wie Jesus in der Bergpredigt aus taglicher 
Erfahrung sagt (Matth. 5, 15). 



124 JOSEPH DER MAVRER/JESU VATER 

nationalen Sonderbesitz geworden und stellte zu Jesu 
Zeit das groBe Erbe dar, das die jiidische Religion hoch 
uber alle gleichzeitigen Religionen hinaushob. 
Dies Erbe wurde uberall in Palastina von alien Gesell- 
schaftsklassen mit einem Fanatismus gehiitet, von dem 
man sich heute schwer eine Vorstellung macht. Die 
Annahme einer Existenz anderer Gotter neben deni 
einen, allmachtigen Gott, wurde, wie wir z. B. aus dem 
Tod des Stephanus ersehen (Apostelgeschichte 7, 55 ff.), 
mit sofortiger Steinigung bestraft, und ungezahlte jii- 
dische Martyrer erlitten lieber einen qualvollen Tod, als 
diesen ihren Glauben zu verleugnen. 
Zu Jesu Zeit war es nicht allgemein, daB die Kinder der 
einfachen Bevolkerung lesen lernten; aber sobald bei 
einem Knaben das Verstandnis erwacht war, nahm inn 
der Vater aufs Knie und lehrte ihn der Juden groBes 
Gebot. Spater nahm er ihn dann mit in die Synagoge, 
wo dies Glaubensbekenntnis der Juden an jedem Sab- 
bath erscholl. 

In ahnlicher Weise hat sicherlich auch der Maurer Jo- 
seph sein Sohnlein Jesus an den einen, allmachtigen 
Gott zu glauben gelehrt, und dieser Glaube muB sich 
tief in des Kindes empfanglichen Sinn gesenkt haben, 
denn Jesus hat spaterhin niemals seinen jiidischen 
Kinderglauben abgelegt. Als rechtglaubiger Jude be- 
suchte er spater fleiBig die Synagogen, nahm beim 
Maftir an der Verlesung des Prophetentextes in der 
Synagoge von Nazareth teil (Luk. 4, 15ff.) und stand 
auch noch als religioser Neuerer unerschutterlich fest 
auf dem Boden der judischen Religion. 
Freilich kampfte er an gegen die AuBerlichkeit und 



JOSEPH DER MAURER/JESU VATER 125 

Pedanterie der Pharisaer und Schriftgelehrten (das 
heifit der Theologen), gegen all das kleinliche Wesen 
und den Gesetzesbuchstaben, der schon damals person- 
liche Religiositat zu ersticken drohte und dann in der 
Folge das Judeiifum zur fossilen Religion machte; aber 
an dem grofien Grundgebot der Juden hat Jesus nie- 
mals geriittelt. Er erklart es ausdriicklich fiir das vor- 
nehmste aller Gebote (Mark. 12, 28 ff.) und hat deshalb 
niemals irgendeine Dreiheit oder Dreieinigkeit des 
Gottesbegriffs gelehrt, ebensowenig wie er je selber als 
Gott oder Gottes Sohn aufgetreten ist (Mark. 10, 18). 
In diesem Kardinalpunkt war Jesus, der Sohn des jiidi- 
schen Handwerkers Joseph, ganz der gesetzestreue Jude. 



Des Vaters EinfluB hat sicher noch tiefere Spuren in 
dem zum Manne heranreifenden Jesus hinterlassen. 
Jesus blieb nicht auf der Stufe der Gotteserkenntnis 
stehen, die seine Volksgenossen erreicht hatten. Fiir die 
Juden war der Eine unsichtbare Gott in erster Linie 
eine nationale Gottheit, der Vater des jiidischen Volkes. 
Die Nation und ihre Erhaltung war alles, der Einzelne 
hatte nur Bedeutung als Glied des Volksganzen, daher 
bedeutete auch das Schicksal des Einzelnen nach dem 
Tode nichts. Der Auferstehungsglaube war zu Jesu Zeit 
nur schwach, viele Juden glaubten nicht an ein Leben 
nach dem Tode. 

Jesu Religion dagegen konnte eine inter nationale Reli- 
gion werden, sie konnte ihren Siegeszug iiber die ganze 
Erde antreten, denn bei ihm ist der Einzelne alles. Gott 



126 JOSEPH DER MAURER/JESU VATER 

1st da eines jeden einzelnen Menschenkindes barm- 
herziger Vater. Das starkste menschliche Vertrauens- 
verhaltnis, dasjenige zwischen einem kleinen Kinde 
und seinem Vater, wird hier auf das Verhaltnis des 
Menschen zu Gott ubertragen. Das Kind wendet sich 
dariun in jeder Lebenslage vertrauensvoll an seinen 
himmlischen Vater und zweifelt niemals an seiner 
Liebe, auch nicht, wenn es f ehlt und bestraft wird. 
Diese kindlich-vertrauensvolle Gesinnung gegenuber 
dem himmlischen Vater hat Jesus zur Grundlage der 
Religion und der Auferstehungshoffmmg gemacht. 
WahrIich, wer das Reich Gottes nicht annimmt wie 
ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Das Kind 
ist das groJBte Symbol in der neuen Religion, und das 
Gebet dieser neuen Religion heifit Vater unser. 
Wir stehen hier einem ganz Neuen in der Religions- 
geschichte gegenuber, einer wahren Revolution in den 
Gedankengangen der damaligen Zeit. Nicht das kleine 
Kind, sondern der Weise, der alte Mann mit der teuer 
erkauften Erfahrung eines langen Lebens war ja wohl 
sonst das Ideal des Altertums. Weder bei den Juden 
noch bei anderen semitischen Volkern batten Weiber 
oder gar Kinder Zugang zum Gottesdienst. Kein jiidi- 
scher Lehrer lieB sich herab, vor Weibern und Kindern 
zu sprechen. Deshalb wollten Jesu Junger sie auch stets 
fortjagen, wenn sie sich dem Meister naherten. Kein 
jiidischer Prophet oder Rabbi, auch keiner der beruhm- 
ten Weisen des Altertums, weder Buddha noch Zara- 
thustra, Muhammed, Sokrates, Seneca oder Cicero hat 
je das unmiuidige, unwissende Kind als Ideal auf- 
gestellt. Wie kam Jesus zu dieser neuen Religion, die 



JOSEPH DER MAVRER/JESU VATER 127 

nun beinahe 2000 Jahre fiir Millionen und aber Milli- 
onen Menschen den sicheren Grund in Leben und Tod 
bedeutet? 



Bei vielen Grofien, die der Menschheit neue geistige 
Werte schenkten, hat man in ihrem Verhaltnis zu ihrer 
Mutter oder bei der Mutter selber Spuren dessen finden 
konnen, was den Sohn spaterhin so grofi gemacht hat. 
Jesu Mutter indessen stand kalt und ohne Verstehen sei- 
nem Wirken gegeniiber. Sie suchte, wie wir sahen, ihn 
davon abzubringen (Mark. 3, 31), sie horte nicht auf die 
Frauen, die ihm nachfolgten, und war nach dem Bericht 
der altesten Evangelien nicht unter den Weibern, die 
bei seiner Kreuzigung zugegen waren. Jesus muBte sich 
innerlich von seiner Mutter lossagen, er preist seine 
Anhanger selig im Gegensatz zu ihr (Luk. 11, 27 f.), er 
klagt dariiber, daJB ein Prophet bei seiner Familie ver- 
achtet ist,und er spricht niemals in seinen vielen Gleich- 
nissen von dem Verhaltnis des Kindes zu seiner Mut- 
ter oder von der Mutterliebe zum Kinde. Immer horen 
wir ihn vom Vater sprechen, besonders gern von dem 
Vertrauensverhaltnis des kleinen Kindes zu seinem 
guten Vater. 

Offenbar starb sein Vater fruhzeitig; als Jesus erwach- 
sen ist, horen wir nur von seiner Mutter, seinen Briidern 
und Schwestern. Naturlich kann man hier nur Ver- 
mutungen anstellen. Aber es war bei den Juden der 
Vater, der fiir des Kindes religiose Erziehung sorgte, 
und die einzig schonen Gleichnisse Jesu von der un- 



128 JOSEPH DER MAVRER/JESU VATER 

erschopflichen Liebe des Vaters zu seinem Sohn, die 
steten Lobpreisungen des kindlichen Vertrauens zum 
Vater als Vorbild fur den Glauben der Erwachsenen an 
ihren Vater im Himmel konnten vielleicht auf person- 
liche Erlebnisse Jesu in seinen Kinder jahren scblieBen 
lassen, auf Erinnerungen an einen ungewohnlich guten 
Vater, dessen Einf luB tief e Spuren in der geistigen Ent- 
wicklung des Sohnes hinterlassen hat. 
Die Erinnerung an einen solchen Vater ist wohl dem 
Sohn durchs ganze Leben gefolgt, sie klingt nach in 
seinen Worten und hat dann iiberhaupt den Grtindton 
in der christlichen Religion gebildet. 



DIE KINDHEIT JESU 



"VTON einer historisch getreuen Schilderung der Kind- 
T heitJesu gilt das gleichewie von einem historischen 
Bericht iiber sein ganzes Leben. Wir miissen das t)ber- 
lieferungsgut von der spater hinzugefugten Messias- 
mythologie reinigen, um zum historischen Kern vorzu- 
dringen. 

Das grofie und aufsehenerregende Ergebnis der neueren 
Ausgrabungen in Vorderasien ist ja das sei noch ein- 
mal betont , daB wir nunmehr aus den letzten Jahr- 
tausenden vor Jesu Geburt eine uralte vorderasiatische 
Messiasmythologie mit gewissen feststehenden mytho- 
logischen Motiven kennen, die nicht allein an die Ge- 
stalt Jesu geknupf t wurde, sondern von Mai zu Mai auf 
verschiedene geschichtlichePersonen angewendetward, 
die von der Mit- oder Nachwelt des Messiasnamens fur 
wurdig erfunden wurden. 

Nun gab es da manches in Jesu Leben und Lehre, was 
den eingeburgerten Messiasvorstellungen widersprach. 
So war Jesus z. B. kein Konigssohn, nicht geboren in 
der Konigsstadt Bethlehem, sondern ein Mann aus dem 
Volke von Galilaa. Er legte es nicht darauf an, irgend- 
eine politische Rolle zu spielen, sondern griindete ein 
Reich, das nicht von dieser Welt war; er gelangte im 
Leben zu keiner geehrten und geachteten gesellschaft- 
lichen Stellung, sondern starb den Tod eines Ver- 
brechers. 
Wenn nun trotzdem Jesus als Messias verehrt wurde, 

Nielsen, Der geschiehtliehe Jesus 9 



130 DIE KINDHEIT JESU 

so lafit sich das nur durch den uberwaltigenden Ein- 
druck erklaren, der von ihm ausging. Schon unsere 
altesten schriftlichen Uberlieferungen von Jesus sind 
mit dieser Vorstellung durchtrankt. Fur uns zeugen sie 
damit nur von der gewaltigen Gro.Ge der Jesusgestalt. 
Dies 1st der wirklich historische Kern, der dem ganzen 
zugrunde liegt. 



MessiasI Durch dieses Wort wurde damals auto- 
matisch eine Reihe von Jahrtausende alten Vorstel- 
lungen aus der Tiefe des Volksempfindens heraufge- 
holt, fiir uns vielleicht wunderlich und barock, aber 
ebenso elementar vertraut der damaligen Welt, einem 
jeden Kinde bekannt. 

Jeder wufite, dafi die Person, die diesen Namen tragt, 
umstrahlt war von gottlichem Glanz. Sie war geboren 
auf wunderbare Weise und durch gottliches Eingreif en, 
bei ihrer Geburt erschienen Zeichen am Himmel und 
Wunder in der Natur. Der Messias war als Kind den 
Verfolgungen durch die Machtigen dieser Welt ausge- 
setzt, aber entging ihnen glucklich und zeigte sich 
schon, bevor er herangewachsen war, den anderen an 
Weisheit uberlegen. Sein Lebenslauf bestand ui einer 
Reihe wunderbarer Taten, und sein Tod war ebenso 
von Wundern begleitet wie seine Geburt; denn man liefi 
sie alle auf erstehen und gen Himmel f ahren, denen man 
den Messiasnamen gab. 

Wenn wir daher bei Matthaus und Lukas von dem Zei- 
chen horen, das den Hirten auf dem Felde erschien, 



DIE KINDHEIT JESU 131 

vom Stern im Osten und den Weisen aus dem Morgen- 
land, von der Flucht nach Agypten, vom Kindermord 
zu Bethlehem und von der Weisheit des zwolf jahrigen 
Jesus im Tempel, so 1st das alles nichts Neues fur den, 
der orientalische Mythologie und Geschichtschreibung 
kennt. Ahnliches wird beispielshalber in der vorchrist- 
lichen Zeit von verschiedenen babylonischen und assy- 
rischen Herrschern sowohl wie von Kyros, Alexander 
dem GroBen und Kaiser Augustus erzahlt. Es sind die 
gleichen wohlbekannten mythologischen Motive, die bei 
jeder Messiasgestalt wieder&ehren. 
Wir wissen nun, dafi solche Erzahlungen ihre Wurzel 
nicht in wirklichen historischen Geschehnissen haben. 
Mit dem historischen Alexander, Augustus oder Jesus 
haben sie nichts zu tun. Sie lagen schon 2000 Jahre vor 
Christi Geburt in fest fixierter Form vor. 
Wenn daher all das auch zu der alleraltesten Jesus- 
uberlieferung gehoren wiirde, ja selbst wenn jedes Blatt 
der Bibel es bezeugte, so konnte man es doch nicht als 
geschichtlich betrachten. Es ist indessen leicht zu be- 
weisen, dafi diesen Erzahlungen weder in der urspriing- 
lichen Jesusuberlieferung noch in den Evangelien noch 
in der Bibel iiberhaupt Heimatrecht zukommt, sondern 
dafi sie ebenso wie die Jungfrauengeburt erst spater in 
zwei der biblischen Schriften eindrangen. 
Es geht hier in der Tat wiederum wie mit so vielen an- 
deren ubernaturlichen Ziigen in der biblischen Jesus- 
uberlieferung. Die beiden schon oft genannten vonein- 
ander unabhangigen Wissenschaften, die literarische 
Bibelkritik und die vorderasiatische Altertumswissen- 
schaft begegnen sich auch hier in demselben Resultat, 

9* 



132 DIE KINDHEIT JESU 

obwohl sie ganz getrennt mit verschiedenem Material 
und mit verschiedenen Methoden arbeiten. 



Einzelheiten uber Jesu Geburt und Kinder jahre haben 
sich nicht erhalten. Wir wissen auch sonst von der 
Kindheit groBer Manner nicht recht viel. So versagt die 
historische trberlieferung liber die Jugend von Buddha 
und Muhammed, und der groBe Prophet von Galilaa 
tritt ebenso wie andere Religionsstifter erstmals ins 
Licht der Geschichte da, wo er als ein reifer Mann 
offentlich aufzutreten beginnt. Von seiner Jugend mel- 
det die historische trberlieferung gar nichts. 
Jesu offentliches Wirken wird nach dem uberein- 
stimmenden Zeugnis aller neutestamentlichen Schrif- 
ten durch das Auftreten Johannes' des Taufers einge- 
leitet. Jesu Eintreten (Eisodos) in die Geschichte fallt 
uberall mit seiner Taufe durch Johannes zusammen. 
Das Auftreten des Taufers ist der erste feste Punkt in 
der trberlieferung. Das Leben Jesu, wie es von den 
Aposteln verkundet und spater von den Evangelisten 
aufgezeichnet wurde, beginnt immer damit. Das be- 
zeugt der Apostel Petrus in der Apostelgeschichte 1, 22 
und 10, 37 und Paulus ebendort 13, 24. 
Markus, unsere alteste und zuverlassigste Quellen- 
schrift, bietet keinen Geburts- und Kindheitsbericht, 
sondern gibt des Taufers Wirken als Beginn der 
Jesusiiberlieferung, die er kennt. Den gleichen Anfang 
finden wir im 3. Kapitel des Matthaus- und des Lukas- 
evangeliums, wo wir deutlich den ursprimglichen Be- 



DIE KINDHEIT JESU 133 

ginn vor uns haben, wahrend die zwei jeweils vorher- 
gehenden Kapitel mit dem Bericht uber Jesu Geburt 
und Kindheit durch Inhalt, Form und Sprache deutlich 
ihren spaten, apokryphen Charakter verraten. Selbst 
das Johaimesevangelium, das am starksten von alien 
Jesu Gottlichkeit betont, weifi nichts von einer wunder- 
baren Geburt oder Kindheit Jesu. 



Aber spater wurde der leereZeitraum zwischen Jesu Ge- 
burt und seinem offentlichen Auftreten mit Geschich- 
ten ausgefullt, die stark an die erinnern, die man sich 
von Buddhas und Muhammeds Kindheit erzahlt. Diese 
Legenden, von dehen eine Anzahl in unseren heu- 
tigen Bibelausgaben in den ersten zwei Kapiteln von 
Matthaus und Lukas auf eine Linie mit den geschicht- 
lichen Nachrichten uber Jesus gestellt ist, wurden fruh- 
zeitig als besonderer Zweig der Evangelienliteratur in 
den sogenannten KindJieitsevangelien gesammelt, sie 
waren angeblich von Aposteln verfaBt und genossen in 
der alten Kirche groBe Volkstumlichkeit. Man las sie 
allenthalben bei alt und Jung mit Eifer neben den 
Evangelien, die in die Bibel Aufnahme fanden. 
Das alteste dieser Kindheitsevangelien, das sogenannte 
Protevangelium des Jakob, stammt in seiner heutigen 
Gestalt ungefahr aus der Mitte des 2. Jahrhunderts, ist 
also nicht viel jiinger als das Johannesevangelium, und 
es hat wie die meisten anderen Evangelien Quellen- 
schriften und Einzelberichte benutzt, die aus dem 
1. Jahrhundert stammen. 



134 DIE KINDHEIT JESU 

Hier lesen wir nun Wort fur Wort den Bericht iiber die 
Jungfrauengeburt, den wir aus der Bibel und von un- 
serer Kinderlehre her kennen, auBerdem iiber die 
Volkszahlung und die Geburt in Bethlehem, die Weisen 
aus dem Morgenlande und den Kindermord zu Beth- 
lehem. In dem etwas jiingeren Kindheitsevangelium 
des Thomas erscheint der zwolf jahrige Jesus im Tern- 
pel und setzt die Schriftgelehrten durch seine Weisheit 
in Erstaunen. Also finden sich all die wunderbaren Er- 
zahlungen in den ersten beiden Kapiteln von Matthaus 
und Lukas gerade. in der apokryphen Evangelienlite- 
ratur. 



DaB diese Erzahlungen nicht zum historischen Jesus- 
bild gehoren, wird auch auf and,ere Weise klar. Zum 
ersten widersprechen sie allem, was wir von den tat- 
sachlichen Verhaltnissen zu Jesu Zeit wissen.Der grau- 
same Bjndermord des Herodes z. B. ware wohl sicher- 
lich von jiidischen Chronisten erwahnt worden. Und 
wir wissen, daB Jesus nicht aus Bethlehem, sondern aus 
Nazareth stammt. Zum andern widersprechen sie sich 
gegenseitig. Um Jesus in Bethlehem geboren sein zu 
lassen, lafit z. B. Matthaus im 2. Kapitel seine Eltern 
von Anfang an da wohnen und sich erst spater in Naza- 
reth ansiedeln, wahrend Lukas' Quelle die Eltern ur- 
spriinglich in Nazareth wohnen lafit und, um die Geburt 
nach Bethlehem verlegen zu konnen, eine unhistorische 
Volkszahlungsreise erfindet (Luk. 2, 439). 
Die Erzahlungen, die sich um Jesu Kindheit weben, 



DIB KINDHEIT JESU 135 

sind wie die Geschichten aus Tausendundeiner Nacht 
Blatter aus dem bunten Marchenbuch des Orients und 
gehoren, so hart das klingen mag, ins Reich der Fabel. 
Fur viele von uns Heutigen haben Kinderglaube und 
Kindheitserinnerungen einen verklartenSchimmer uber 
diese altehrwurdigen Erzahlungen verbreitet, die zur 
Weihnachtszeit der Pf arrer in der Kirche verliest, wenn 
der Weihnachtspsalm verklungen ist; aber sie gehoren 
nicht mehr zum Weihnachtsevangelium des erwach- 
senen Menschen. 



Als einen freilich niichternen Ersatz fur das ver- 
lorene Weihnachtsevangelium kann die neuere For- 
schung Bescheid geben uber die Gesellschaft, der Jesus 
entstammt, uber die sozialen Bedingungen, in dehen 
das Kind auf wuchs, und uber die ganze Umwelt, die ihn 
umgab und mitbestinunend war fur die Bildung der 
Personlichkeit, die auf die Weltentwicklung eingewirkt 
hat wie kein andrer. 

Es kann nicht kraftig genug hervorgehoben werden, 
daB diese Personlichkeit neue, in der Geschichte der 
Religionen bisher ganz ungekannte Werte geschaffen 
hat. Jesus hat ein Licht angeziindet, das bis hi die 
spatesten Zeiten scheinen wird, und das an Starke und 
Klarheit alles uberstrahlt, was uns das Altertum an 
Religion und Lebensweisheit uberliefert hat. Aber das 
Neue hat doch seme Wurzeln in der Vergangenheit, 
es steht in organischem Zusammenhang mit der da- 
maligen Kultur und kann nur verstanden und gewiir- 



136 DIE K1NDHEIT JESU 

digt werden, wenn man es in Beziehung zu Jesu Zeit 
setzt. 



Eine Personlichkeit wie Jesus ersteht natiirlich nicht 
aus einem Hottentotten- oder Indianerstamm, sie setzt 
eine gewisse Kulturhohe seines Volkes voraus, wenn 
auch freilich Jesus unberuhrt war von dem, was man 
in jener Zeit unter f einerer Bildung verstand. 
Die blendende griechische Kultur, die damals von Rom 
bis Babylon die Welt beherrschte, war fur Jesus ein 
verschlossenes Buch. Von der europaischen Kultur hat 
Jesus nicht gelernt. Den Griechen verdanken wir die 
Philosophic, den Gebrauch des freien Gedankens; die 
religiosen Werte kommen vom Osten. In der Religion 
ist stets der Orient Europas Lehrmeister gewesen, und 
unter den orientalischen Volkern brachte es die semi- 
tische Rasse zur hochsten religiosen Kultur. Um die 
Zeit Christi ubernahmen die Juden die Fuhrerstellung 
unter den semitischen Volkern, und Jesu Leben und 
Lehre ist die hochste und unerwartet reiche Entf altung 
dessen, was keimhaft in der jiidischen Religion be- 
schlossen lag, mit der er von Kindheit an vertraut war. 
Die Juden waren gegen die Mitte des 1. Jahrtausends 
v. Chr. am weitesten voran unter den semitischen Vol- 
kern. Eine ganze Reihe von Prophetengestalten, deren 
Namen heute jedes Kind kennt, forderte die religiose 
Entwicklung im Sturmschritt bis ungefahr urns Jahr 
500 v. Ghr. Als dann das Volk aus der babylonischen 
Gefangenschaf t heimkehrte, war zwar seine Kraft nicht 



DIE KINDHEIT JESU 137 

gebrochen, aber die Kurve, die die Kulturentwicklung 
eines Volkes bezeichnet, war im Absteigen. Man zehrte 
von dem groBen Erbe der Vorzeit, die Prophetenstimme 
eines reformatorischen Zeitalters war verstummt, und 
an ihre Stelle war leeres Zeremonienwesen getreten. 
Unter dem Druck der griechischen und romischen 
Fremdherrschaft war nichts von aufbauenden religi- 
osen Kraften zu spiken; aber das Erbe der Vater, den 
Einen unsichtbaren Gott und sein Gebot, dies einzig- 
artige Sondereigentum der Juden, das sie vor alien V61- 
kern der Erde auszeichnete, das groBe nationale Erbe 
der Vergangenheit, das hutete man in alien judischen 
Hausern mit einem Fanatismus und einer Todesver- 
achtung, die fur die alten Griechen und Romer ebenso 
unverstandlich war wie fur einen modernen Europaer. 
So etwa war die geistige Atmosphare, in der das Jesus- 
kind vor uber 1900 Jahren in dem Dorf Nazareth in 
Galilaa aufwuchs. Von seinen Vatern hatte es den 
scharfen religiosen Instinkt der semitischen Rasse ge- 
erbt, als Jude hatte es gelernt, unverriickt an einen 
Gott zu glauben, und im ubrigen erhielt es seine geistige 
Nahrung aus den heiligen Schriften seines Volkes, aus 
denen jeden Feiertag in der Synagoge gelesen wurde. 
Man kann diese Ausbildung einseitig nennen; aber sie 
reprasentierte damals die hochste religiose Kultur der 
Welt und gab die historische Basis ab fur Jesu Leben 
und Lehre. Sein ganzes Wirken bliebe unverstandlich, 
wenn wir diese Kultur und Literatur beiseite liefien, in 
der Jesus steht, und aus der er schopft. 
Allerdings erhielt Jesus keinerlei theologische Bildung, 
er wurde nicht in eine Rabbinenschule geschickt, er- 



138 DIE KINDHE1T JESU 

lernte nicht die schwarze Kunst der Schriftauslegung 
und kannte die alte judische Literatur offenbar nur 
durch die aramaischen tJbersetzungen, die beim Sab- 
bathgottesdienst und in den Hausern bemitzt wurden. 
Denn er gehorte ja der einfachen Landbevolkerung von 
Galilaa an, sprach deren Dialekt, den aramaischen, und 
hatte nur den geistigen Horizont eines Unstudierten, 
wenn man so sagen will, er konnte kein Latein und 
Griechisch und vor allem kein Hebraisch, was doch die 
klassische Sprache der Juden war, in der das Alte 
Testament gescbrieben 1st. In religiosen Fragen war 
Jesus Laie, er verlebte seine Kindheit in einer Laien- 
familie, las als Laie seine Bibel und trat spater, als er 
sein Wirken als religioser Reformator begann, als ein 
Laienprediger auf. Seine Jiinger waren ausschliefilich 
Laien, ebenso seine alteste Gemeinde. Das Gbristentum 
war ursprunglich eine ausgepragte Laienbewegung, 
ganz ohne Dogmen und Theologie. 



Um Jesu religiose Entwicklung versteben zu konnen, 
mufi man sich vor Augen halten, daB er fruh unter dem 
EinfluB der alttestamentlichen Scbriften stand; aber es 
mufi dabei aucb bervorgehoben werden, daB Jesus diese 
Literatur mit der frischen TTnmiffp.1harTcp.it des Laien 
aufnabm und nicht durch die theologische Brille be- 
trachtete. 

Die Aufgabe der Theologie in jeder Religion, uberall 
und zu alien Zeiten, ist es ja, die religiose Literatur in 
ein abgeschlossenes dogmatisches System zu bringen, 



DIE KINDHEIT JESU 139 

das als gottliche Offenbarung nicht verandert, ver- 
bessert oder weiterentwickelt werden darf. Deshalb 
neigen Theologie und Priesterschaft bei alien Volkern 
zu konservativer Verstocktheit und zu Fanatismus. Die 
theologisch-dogmatische Ausbildung wirkt todlich auf 
personliche Religiositat, auf neue religiose Impulse und 
auf Fortschritt in jeder Gestalt. 

Jesus aber betrachtete die Bibel seinerzeit nicht als ab- 
| geschlossene Qffenbarung, sondern als Anregung zu 

I weiterem Fortschreiten. Auf den empfanglichen Sinn 

I des Kindes und des Junglings hat sie befruchtend und 

| fordernd eingewirkt, indem sie die ufsprungliche reli- 

! giose Veranlagung frei machte, die in seinem Wesen 

! beschlossen lag. 

I So wurde Jesus zum Kampf gegen die Theologen 

; (Schriftgelehrten) und Priester seines Volkes gefuhrt, 

denn er empfing seine religiosen Impulse nicht aus der 
Theologie, sondern von dem jiidischen Laientum, dem 
er entstammte. In dem Heimatboden, auf dem er als 
Kind gespielt, lagen die Wurzeln des religiosen Idealis- 
mus, mit dem er nach und nach die Heidenwelt be- 
zwang, und der ihn in den Stand setzte, selbst sein 
Leben fur die Erfullung der religiosen Forderung dran- 
zugeben. 



DIE JUGEND JESU 



Du hast uns fur dich geschaffen, 
und unser Herz ist voll Unruhe, 
Ms es Ruhejmdet in dir. Augustin. 

UNTER der Romerherrschaft war Galilaa mit seiner 
derben, freiheitsliebenden Gebirgsbevolkerung stan- 
dig ein Herd politischer Unruhen. Dies nordliche 
Grenzland hatte seit alters eine Mischbevolkerung, die 
stark mit fremden, nichtjiidischen Elementen durch- 
setzt war und daher Galilaa, das heiBt Heidenland, 
genannt wurde (Jes. 8, 23; Matth. 4, 15). Zwar waren die 
Galilaer rechtglaubige Juden; aber ihr Dialekt war et- 
was verschieden von dem siidlichen, judaischen, und 
die Juden waren geneigt, auf sie von oben herab zu 
sehen. Deine Sprache verrat dich sagte des Hohen- 
priesters Magd zu Petrus, als er am Feuer saB und sich. 
warmte du bist ein Galilaer. Selbst in dem spaten 
Jobannesevangelium klingt noch das Mifltrauen gegen- 
uber den Galilaern an. Als Philippus Jesum, Josephs 
Sohn von Nazareth, als Messias bezeichnet, ist das 
gleich ein Stein des AnstoBes: Kann von Nazareth et- 
was Gutes kommen? (Job. 1, 46.) 
Als Jesus ein kleiner Knabe war, griindete hier der 
Galilaer Judas eine romerfeindliche Partei, Zeloten 
oder Eif erer genannt, eine Gruppe von Aktivisten, die 
dem Kaiser den Tribut verweigerten (Apostelgeschichte 
5, 37; Jos. jAntiquitates' XX), mit gewaltsamen Mitteln 
vorgingen und selbst vor politischem Mord nicht zu- 



DIE JUGEND JESU 141 

riickschreckten. Die Romer kreuzigten seine beiden 
Sohne, Jakob und Simon (Ant. XX, 102) und spaterhin 
noch manchen anderen von der Partei der Zeloten; aber 
die Partei blieb bestehen bis zu dem grofien Aufstand, 
der im Jabr 70 zur Zerstorung Jerusalems fuhrte. 
Diese politische, beinahe chauvinistische Bewegung, die 
sich in Galilaa so stark ausbreitete, iibte auf Jesus gar 
keine Anziehungskraft aus. 

Spater riickte er sogar sichtlich von den Zeloten ab 
und wollte, als man ibm die Zinsmunze zeigte, kein 
Steuerweigerer sein (Mattb. 22, 17 21), und unter 
seinen Aposteln war einer, Simon Zelotes genannt, 
der offenbar fruher jener Partei angehort und ihr dann 
den Riicken gekehrt hatte. Gleichwohl wurden diese 
Verhaltnisse fur Jesus und sein Reformationswerk ver- 
hangnisvoll. Es war damals sehr schwer, Politik und 
Religion auseinanderzuhalten, und die Jesusbewegung 
wurde von denRomern spater mit den vielen politischen 
Aufstanden, die in dieser Zeit von Galilaa ausgingen, 
nach einem MaB gemessen. 

Die sogenannten Pharisaer, eine Volkspartei, die die 
vielenauCerlicbenjudischenGesetzesgebotenochzuver- 
scharf en strebten, schlugen erst recht nicht die Tone an, 
die bei dem jungen Jesus Resonanz batten finden 
konnen. Wohl wies man in diesen Kreisen auf die Bibel 
bin und redete im Namen der Religion; aber Jesus 
fuhlte sehr gut, dafi all das gleicbwohl mit Religion 
wenig zu tun hatte. 

Da erscholl auf einmal ein Ruf, der im ganzen Lande 
Widerhall fand, eine Stimme, die eine wahrhaftige, per- 
sonliche Religion predigte, die Umkehr und BuJBe ver- 



142 DIE JUGEND JESU 

langte und zum Symbol dieser Umkehr eine Wasser- 
taufe zurSiindenvergebung empfahLDieStimmemachte 
Eindruck auf Jesus. Er schloB sich den Scharen an, die 
sich um den neuen Propheten sammelten, wurde mit 
vielen anderen sein Schiiler und liefi sich mit anderen 
von ihm im Flufi Jordan taufen. Dieser neue Prophet 
war der Taufer Johannes. 

JOHANNES DER TlUFER 

Der erste f este Punkt in Jesu off entlicher Wirksamkeit 
ist sein Zusammentreffen mit Johannes dem Taufer. 
Damit tritt Jesus aus seinem stillen, unbemerkten Da- 
sein, das er in den Dorfern Galilaas fiihrte, ins helle 
Licht der Weltgeschichte. 

Johannes und sein prophetisches Wirken, sein Leben 
und Sterben ist uns klar und deutlich in der Geschicht- 
schreibung der Zeit bezeugt, und da der auJBere Rahmen 
fur Jesu wie fur des Tauf ers Leben, Tod und Gemeinde- 
bildung genau der gleiche ist, so kann man hier lernen, 
wenn man den wirklichen geschichtlichen Jesus sucht 
hinter dem unwirMichen unhistorischen Schemen, das 
die Kirche daraus gemacht hat. 

Wir haben es hier mit zwei Reformatoren zu tun 
sicherlich voneinander verschieden wie Nacht und Tag, 
wie Zwerg und Riese , aber doch mit zwei Brudern, 
die beide gleichen Orts und zu gleicher Zeit als Laien- 
prediger auftraten, beide auf den Plan gerufen durch 
den allgemeinen inner en Verfall der of fiziellen Religion. 
Beide werden rasch von den weltlichen Machthabern 
beseitigt, aber sie leben fort in ihren Jiingern und An- 



DIE JUGEND JESU 143 

hangern, sie stiften eine Gemeinde, die lang liber ihren 
Tod hinaus besteht. Beide werden als Messias verehrt, 
um beider Leben spann die Messiaslegende ihr Gespinst 
und flocht die bekannten messianischen Ziige hinein. 
Auch bei Johannes' Geburt wird von ubernaturlichen 
Begebenheiten und Gesichten erzahlt, von gottlicher 
Verkundigung der Geburt, kunftiger GroBe des Kindes 
und von wunderbaren Umstanden bei der Geburt 
(Luk. 1), wie man sich ja auch spater von einer Auf- 
erstehung des Johannes von den Toten erzahlte 
(Mark. 6, 14). 



Es war so lautet mit der gewohnlichen Zeitbestim- 
mung der ursprungliche Euigang des Lukasevange- 
liums un 15. Jahr des romischen Kaisers Tiberius 
(das Jahr 28/29 nach unserer Zeitrechnung), als Pon- 
tius Pilatus romischer Statthalter in Judaa und Herodes 
Antipas romischer Schattenkonig in Galilaa war, da 
geschah Gottes Wort zum Taufer Johannes (Luk. 3). 

Er war ein Prophet vom alten Schlag. Lange hatte Gott 
nicht zu seinem Volke gesprochen; die Propheten- 
stimme schien ganz verstummt zu sein. Aber der un- 
sagbar harte Druck und die Fieberatmosphare, die 
jetzt uber dem Volke lag, lieB wieder eines Propheten 
Stimme erschallen. Johannes' Worte klangen gleich 
einer Posaune am Gerichtstag und erregten maJBloses 
Aufsehen. Nach Jerusalem hinein wagte er sich nicht, 
er hielt sich in der Wiiste am Jordanflufi, aber das 
ganze jiidische Land und alle Einwohner Jerusalems 



144 DIE JVGEND JESU 

(Mark. 1, 5), auch Priester darunter, wanderten hinaus 
zu ihm. Er hatte vor Jesu Auftreten eine Autoritat, an 
der nicht zu rutteln war (Mark. 11,32), und wurde 
naturlich wie dann auch Jesus und wie alle grofien 
Fuhrer des Volkes in damaliger Zeit von vielen als 
Messias angesehen. 



Warum trat nun Johannes, der doch zu seinem Volk 
reden wollte, in der Wiiste auf und nicht in bewohnten 
Gegenden? 

Sicherlich deshalb, weil die politischen Verhaltnisse so 
geartet waren, dafl es mit Lebensgefahr verbunden war, 
als Lehrer des Volkes aufzutreten; das beweist ja des 
Taufers eigenes Schicksal, ebenso das von Jesus und 
anderen Propheten. In diesen Jahren ging eine groBe 
Bewegung nach der anderen durch das Volk. Jeder gei- 
stige Fuhrer wurde alsbald mit Willen oder widerstre- 
bend vom Volke als Messias ausgerufen, und damit 
wurde er von selber zum Aufruhrer gegen die verhafite 
Fremdherrschaft. 

Deshalb beginnen die zahlreichen messianischen Be- 
wegungen dieser Zeit sowohl die uberwiegend reli- 
gioser Natur als auch die, die auf eine politische Aktion 
abzielten in der Wiiste oder in entlegenen Gegenden 
und treten erst hervor, wenn sie sich stark genug fuhlen, 
offen gegen die Staatsgewalt anzugehen. 
Es war indessen die planmaBige Absicht der Regierung, 
soweit als moglich jede derartige Bewegung im Keim zu 
ersticken, und daher lieB auch Herodes Antipas, zu 



! 



TAFEL XXI 




Ein Blatt der alten syrischen Sinaihandschrift des Matthaus- 
Evangeliums (Palimpsest). Unter der spateren Schrift sieht 
man in zwei Kolumnen den urspriinglichen Text [Zu S. 118.] 



TAP EL XXII 




Sudsemitische (altarabische) Teinpelinschrift [Zu S.154I-] 



TAFEL XXIII 




Altarabischer Grabstein 

[Zu S. 151 f.] 



TAP EL XXIV 





Der Muttergottin (Sonnengottheit) 

geweihtes Bronzepferd aus einem 

altarabischen Tempel [Zu s. 155.] 



Priesterin der karthagischen 
Muttergottin [Zu S. 159.] 




Kaiser Konstantin I. [Zu s. 100.] 



DIE JUGEND JESU 145 

dessen Gewaltbereich Johannes gehort haben muB, den 

Taufer umbringen. ttber diese Dinge haben wir einen 

Bericht des jiidischen Geschichtschreibers Josephus: 

Er (der Taufer) war ein edler Mensch, der die 

Juden ermahnte, sie sollten sich der Tugend be- 

fleiBigen, Rechtschaffenheit iiben im gegenseitigen 

Verkehr, Frommigkeit gegen Gott halten und sich 

taufen lassen . . . Diese seine Lehre gewann groBe 

Ausbreitung, und er sammelte viele Anhanger um 

sich. 

Herodes indessen fiirchtete, daB sein groBer Einf luB 
auf die Masse zu einem Aufstand fuhren konnte, . . . 
daher Melt er es f iir besser, solchen moglichen Auf- 
ruhrgelusten durch die Hinrichtung des Fuhrers 
zuvorzukommen, als hinterher die Folgen seiner 
Unachtsamkeit tragen zu miissen. So wurde Jo- 
hannes auf Grund von Herodes' MiBtrauen gefan- 
gengesetzt, nach der Festung Machairus gebracht 
und dort hingerichtet. (Ant. 18, 5.) 

Ungefahr die gleichen Worte lieBen sich, wenn ein 
kurzer Bericht gegeben werden sollte, auch auf Jesus 
anwenden; denn auch er wirkte im Leben als religioser 
Erneuerer und starb den Tod eines politischen Ver- 
brechers. 



Jesu Beziehungen zu Johannes liegen ja insoweit offen 
zutage, als Jesus eine Zeitlang ein Schuler des Johannes 
war. Ursprunglich war der Taufer der Meister und Jesus 
der Junger. Schon der Umstand, daB Jesus sich von Jo- 

Nielsen, Der geschichtliche Jesus 10 



146 DIE JUGEND JESU 

hannes taufen liefi und dadurch Sundenvergebung 
empfing, beweist das deutlich. 

Nun ward Jesus spater selber Meister, bekam auch 
Jiinger und bildete wenn wir es so nennen wollen 
auch eine Schule oder Gemeinde. Die beiden Geistes- 
zentren stehen in unseren altesten Evangelien in ge- 
wisser Hinsicht noch ebenburtig nebeneinander. 
Jesu Religion siegte indessen iiber die Religion des Jo- 
hannes, so wie sie spater noch viele andere besiegt hat. 
Den Ablauf dieser Entwicklung widerspiegelt das iiber- 
lieferte Material klar und deutlich, auch in der Auf- 
fassung von dem personlichen Verhaltnis Jesu zum 
Taufer. 

Eines der Hauptresultate der Evangelienforschung ist 
ja dies, dafi die Jesusgestalt in den jungeren Evangelien 
zusehends wachst. Markus, die alteste Quellenschrift, 
schildert uns, wie schon einmal angedeutet, noch einen 
Menschen mit starken, aber doch noch menschlichen 
Gaben und Kraften, und dieser Mensch wachst an ein- 
zelnen Stellen der spateren Evangelien des Matthaus 
und Lukas zu einer Art von Halbgott, um dann im jiing- 
sten, dem vierten Evangelium, zur vollkommenen Gott- 
heit zu werden. 

Ganz entsprechend wird die Gestalt des Taufers kleiner 
und kleiner, wie denn das vierte Evangelium, das diese 
Entwicklung abschliefit, ganz eharakteristisch den Tau- 
fer sagen lafit (3, 30): 

Er mufi wachsen, ich aber mufi abnehmen. 

Der Taufer, der selber von seinen Jungern als Messias 
verehrt wurde, nimmt in der christlichen trberlief erung 



DIE JUGEND JESU 147 

die Stellung ernes Vorlaufers von Jesus, dem wahren 
Messias, ein; er 1st schlieBlich im vierten Evangelium 
nur noch der Herold oder Wegbereiter, der von Anfang 
1 an keine andere Aufgabe gehabt haben soil, als auf den 

GroBeren hinzuweisen, obschon er nach Matthaus 11 
erst kurz vor seinem Tod auf den Gedanken kam, Jesus 
konnte vielleicht der Messias sein. 
In diesem UmwertungsprozeB ist die Taufe im Jordan, 
jener Markstein in Jesu personlicher Entwicklung, das 
unumstoBliche Faktum, der f este Punkt in der tfberlie- 
f erung, der sich nicht wegdeuten lafit. So hat man denn 
diese Taufe umgedeutet. Aus einer Unterordnung Jesu 
unter den Taufer wird sie zur Unterwerfung des Jo- 
hannes unter Jesu innere tJberlegenheit. Unsere alte- 
sten schriftlichen Quellen, Markus und die Jesus- 
Worte, wissen ebensowenig wie Josephus etwas da- 
von, daB Johannes bei dieser Taufe Jesus als Messias 
erkannt hatte. Erst bei Matthaus heiBt es, der Geringere 
habe sich geweigert, den GroBeren zu taufen. Und in 
dem jungsten und letzten Evangelium wird die Schil- 
derung dieser Taufe, der groBe Stein des AnstoBes in der 
Uberlieferung, ganz weggelassen. 



Das Jungerverhaltnis zum Taufer war nur ein Stadium 
in Jesu Entwicklung. Die Religion des Johannes kann 
man, wenn sie der Gegenwart veranschaulicht werden 
soil, am besten gewissen Richtungen im modernen 
Sektenwesen an die Seite stellen. Eine weltabgewandte, 
asketische Emstellung, die Fasten und andere BuB- 

10* 



148 DIE JUGEND JESU 

iibungen verlangte (Mark. 2, 18; Matth. 11, 1119). 
Schreckhaf te Weltgerichtsverkundigungen, die von Straf- 
gericht und hollischem Feuer predigten. Die Religion, 
zu der Jesus spater durchdrang, war eine ganz andere. 
Johannes mit seinemGewaltstandpunkt standnoch ganz 
auf alttestamentlichem, judischem Boden. Mit Jesus 
fangt ein neuer Abschnitt in der Religionsgeschichte an. 
Der Geringste in dem neuen Reich Gottes ist, wie es in 
den Evangelien heifit, groBer denn er. 
Wann und wie dies Neue geboren ward, wissen. wir 
nicht. Jesu innere Erlebnisse in der Zeit vor seinem 
Auftreten als Reformator sind uns nicht bekannt. Die 
Stiirme, die sein Inneres durchtobt haben werden, die 
Ereignisse, die ihn auf den neuen Weg gefuhrt haben 
mogen, werden sicherlich auf ewig vor den neugierigen 
Blicken der Welt verborgen bleiben. Seit David Fried- 
rich StrauB' erstem kritischem Leben Jesu, 1835, ist 
gegen das kirchliche Bild des gottlichen Jesus eine Un- 
zahl mehr oder minder romanhafter Biicher iiber das 
Leben des Menschen Jesus geschrieben worden, von des 
groBen Orientalisten Ernest Renan beruhmteni Buch 
La vie de Jesus, 1863, das auf grundlichen wissen- 
schaftlichen Untersuchungen beruht, aber nun veraltet 
ist, bis herab zu Gustav Frenssens Leben des Hei- 
landes 1905, das mit Wissenschaft eigentlich nichts 
mehr zu tun hat (1). Wollen wir aber auf festem histo- 



(1) Dies Leben Jesu erschien urspriinglich als 26. Kapitel von 
Frenssens Eoman Hilligenlei. 

Welter noch von dem geschichtlichen Jesus entfernen sich die 
Schilderungen seines Lebens, die ohne historische Kritik auf den 
kkchlichen Dogmen und den Evangelien in dogmatischer Be- 



DIE JUGEND JESV 149 

rischem Boden bleiben, so mussen wir hier verzichten. 
Ein Leben Jesu in diesem Sinne lafit sich nicht 
schreiben. 



Die iiberlieferten Quellen sind keine Biographien. Sie 
haben nicht etwa von Jesu Leben von der Wiege bis 
zum Grabe alles, was sie linden konnten, auf gesammelt. 
Sie reden nicht von Jesu Kindheit und Jugend, sie er- 
zahlen von dem, was Jesu Junger und seine alteste Ge- 
meinde am meisten bewegen mufite. 
In erster Linie haben sie seine Worte uberliefert, in 
denen sich seine neue Religion auspragt. Ferner bietet 



leuchtung beruhen. Als ein grelles Beispiel dessen, was man 
in dieser Art noch im Jahre 1923 unter dem Namen Geschichte 
den Lesern bietet, mag die Geschiclite des Lebens Jesu des 
italienischen Schriftstellers Giovanni Papini genannt werden. 
Der Verf asser bekennt selbst ganz freimutig, dafi er die moderne 
Bibelforschung nicht kennt. Wahrend er friiher Jesus verhohnt 
hat, wie nur wenige vor ihm, schreibt er jetzt mit gewandter 
Feder gewissermaflen als >Suhnopfer ein dickes Buch, das 
inspiriert und durchgesehen ist von katholischen Geistlichen, 
und worin er sich getreulich an das Offenbarungswort und an 
die Dogmen der katholischen Elirche halt. 
Im Gegensatz zu derlei wissenschaftlicher Literatur beruhrt 
es wohltuend, ein anderes populares Buch Mrchlicher Herkunft 
zu lesen, sHvem var Jesus ? (Wer war Jesus?), das Werk 
eines danischen protestantischen Geistlichen, Erik Thaning, dem 
eine Ubersetzung ins Deutsche zu wunschen ware. Der Ver- 
fasser sucht auf Grund jahrelanger redlicher Forscherarbeit das 
kirchliche Jesusbild der neueren Bibelwissenschaft anzupassen 
oder doch mit ihr zu versohnen. 



150 ' DIE JUGEND JESU 

uns das alteste Evangelium die tfberlieferung uber den 
Abschnitt seines LeJbens, in dem sich sein Manneswerk, 
seine weltgeschichtliche Mission vollzog. Dort finden 
wir den historischen Jesus. 

Jesus redet nicht von sich selber. Er ist erfiillt von 
seiner groBen und gottlichen Sendung, fur andere da- 
zusein. Wenn man ihn mit anderen Religionsstiftern 
vergleicht, die so oft ihre Lehre mit Ziigen aus ihrem 
eigenen Leben illustrieren, so muB es auffallen, daB er 
niemals auf eigene Erlebnisse anspielt. Hier hat Jesus 
die Zahne zusammengebissen und hat geschwiegen. Er 
hat alles, was nur ihn anging, mit ins Grab genommen. 
Es ist fur das Christentum zweifellos besser, daB hier 
ein fur allemal die Tiire ins SchloB gefallen ist. Wir 
sehen Jesus nicht heranwachsen, wie es seine Lands- 
leute in Nazareth konnten, die, wie wir horen, an seiner 
Entwicklung AnstoB nahmen. Die neugierige Masse hat 
noch heute ein tief eingewurzeltesBedurmis, dem Aufie- 
ren einer grofien Personlichkeit nachzugehen, ihrer 
Tracht und ihren taglichen Gewohnheiten, iiberhaupt 
all den kleinen Ziigen, die so bedeutungslos sind im 
Vergleich zu dem einen Wertvollen, das solche Men- 
schen der Kulturentwicklung eingefiigt haben. Wir ha- 
ben keine Reliquie und kein Bild von Jesus und wissen 
nicht ob er nach landlaufigen Begriff en schon oder haB- 
lich von Angesicht war; aber eine wie groBe Rolle haben 
nicht alle die Reliquien und angeblich naturwahren 
Bilder yon Jesus in der Geschichte der Kirche gespielt! 



DIE JVGEND JESU 151 

Zur Ausnutzung des unschatzbaren Gutes, das Jesus 
uns geschenkt hat, ist die Kenntnis seines fruheren 
Lebens von geringem Wert. Aus der Epoche von Jesu 
Leben, die uns uberliefert ist, stammt sein groBes Ge- 
schenk an die Menschheit. Wir erhalten bier voile Klar- 
heit uber Jesu Religion und auch eingehenden Bescheid 
daruber, wie nach dieser Religion das Leben einzurich- 
ten sei. Uberlieferungen aus fruheren Perioden seines 
Lebens, in denen Jesus noch im Wachsen war und noch 
nicht jene letzte Klarheit erreicht hatte, wiirden nur 
verwirrend wirken. 

Fur den Historiker vollends, der im Makrokosmos des 
Menschengeschlechts denZusammenhangen nachspurt, 
die der Einzelne in seinem eigenen Leben sucht, be- 
deutet die mangelhafte trberlieferung aus Jesuvorrefor- 
matorischer Zeit keinen wesentlichen Verlust. Wenn 
es sich urn groJBe Neusehopfungen in der Kultur- und 
Geistesgeschichte handelt, wird die Verkniipfung mit 
dem Alten in der Regel deutlicher erkennbar aus den 
fruheren Perioden der Geschichte als aus denjenigen 
des Einzellebens. 

Die schopferische Kraft, die sich in den Tiefen der Per- 
sonlichkeit Bahn bricht, entzieht sich, wenn man ehr- 
lich sein will, jeglicher wissenschaftlicher Erklarung. 
In der Naturwissenschaft lafit sich vielleicht eine an- 
steigende Entwicklungslinie von niederen zu hoheren 
Lebewesen feststellen, von der Zelle zur Pflanze, von 
da zum Urtier, vom Tier zum Menschen; aber die Er- 
schaffung neuen Lebens, einer einzelnen Pflanze, eines 
Tieres oder eines Menschen kann keine Wissenschaft 
erklaren. 



152 DIE JVGEND JESU 

So ist es auch in den Geisteswissenschaften. Sooft wir 
hier vor etwas Neuem, vor einer Schopfung stehen, 
sehen wir uns in Wahrheit einem Wunder gegenuber, 
wir ahnen das Eingreifen einer hoheren Macht und 
konnen es doch nieht erklaren. 

Daher redeten die alten Propheten standig von dem 
Wort Gottes, das zu ihnen geschah; Muhammed wies 
wie Jesus die Aufforderung zu materiellen Wundern 
mit Verachtung von sich, aber er wies auf die geistigen 
Offenbarungen bin, die ihm durch einegottlicheStimme 
zuteilwurden,als auf diewirklichen grofien Wunder (die 
djdt) undAugustin undandereGroBeausderGeschiehte 
derKircbevernahmendie gleiche unerklarlicheStimnie. 
Selbst der Heide Sokrates fiibrte das Neue, von dem 
er zeugte, auf solcb eine innere gottliche Stimme (sein 
daimonion) zuruck, Kant sprach gleichfalls von einer 
gottlichen Stimme im Innern des Menschen, und fur 
Goethe war ein jedes Erlebnis oder Gesicht, jede Er- 
findung und jeder grofie Gedanke ein Gnadengeschenk 
von oben. Selbst wenn der Mensch meint, er handle aus 
eigener Kraft, so ist er doch in solchen Augenblicken in 
uberirdischem Dienst, er ist ein Werkzeug der hoheren 
Weltregierung . 



Deshalb ist jeder wirklich neue religiose Gedanke ein 
Wunder zu nennen, ein groBeres Wunder ist eine neue 
personliche Religion, Jesu Religion aber, die gewaltig- 
ste Neuschopfung in der Geschicbte der Religion, ist 
das groBte und tiefste Wunder, das sich im letzten 



DIE JVGEND JESU 153 

Grunde nicht erklaren lafit, auch dann nicht, wenn wir 
jede Einzelheit aus seinem ganzen Leben, jede kleinste 
Regung seiner Seele kennen wiirden. 
Deshalb miissen wir uns daran geniigen lassen, die Ent- 
wicklungslinien von fruheren Religionen zur Religion 
Jesu aufzuzeigen, denn sie bilden deren geschichtliche 
Basis. Stets muB man sich dabei das eine vor Augen 
halten, daB wir heute fur die Vorgeschichte dieser Re- 
ligion nicht allein mit der vorchristlichen jiidischen 
Religion zu rechnen haben, sondern nunmehr auch mit 
der vorchristlichen und vor jiidischen altsemitischenRe- 
ligion, die wir bisher nicht kannten, das heiBt nicht nur 
mit dem Alten Testament, sondern auch mit den noch 
alteren semitischen Inschrif ten. 

Die Entwicklungsgeschichte des Christentums zerfallt 
jetzt nicht mehr in zwei, sondern in drei Abschnitte: 
Semiten, Juden, Jesus eine Rasse, innerhalb dieser 
Rasse ein einzelnes Volk, innerhalb dieses Volkes eine 
einzelne Person. Man mag die alten Semiten Heiden 
nennen, aber man darf auch nicht vergessen, daB es im 
jiidischen Tempel einen Vorhof der Heiden gab, und 
daJB man nicht ins Allerheiligste gelangen konnte, 
ohne zuerst den Vorhof der Heiden und den der Juden 
betreten zu haben. 



JESU RELIGION 



Jedermann wird erkennen^ dq/3 ihr 
meine Jiinger seid, wenn ihr Liebe 
untereinander habt. Ev. Joh. I), $f. 

ZUR Eigenart der alten Semiten gehoren nicht zuletzt 
Unternehmungslust und Schaffensdrang. Das Volk, 
das eine der hocbstenKulturen des Altertums erzeugte, 
war bettelarm; denn es bewohnte eines der armsten 
Lander der Erde. Aber es fand von Zeit zu Zeit immer 
wieder neue Mittel, aus dieser armen Natur eine reiche 

: 

Kultur zu erschaff en. 

In Arabien, der urspriinglichen Heimat der Semiten, 
ist der Daseinskampf ein besonders barter. NUT die ge- 
borenen, durch die Gewohnung in Jahrtausenden ab- 
gebarteten Araber konnen die unmenschlichen Strapa- 
zen des Wiistenlebens ertragen. Es ist dort so lautete 
bis vor kurzem das ubereinstimmende Urteil aller Ge- 
lehrten von vornherein jede Moglichkeit einer hohe- 
ren Kultur ausgeschlossen. Das Volk, das bier wohnt, 
ist in alle Ewigkeit dazu verdammt, auf kulturlosen 
Pfaden zu wandeln, unveranderlich wie die Wiisten- 
natur des Landes. 

Trotzdem haben jetzt Pioniere der europaiscben Wis- 
senschaft in diesen oden Gegenden, genau so wie in 
Babylonien und Agypten, 0berreste einer hohen Kultur 
aus dem vorchristlichen Altertum entdeckt. Aus dem 
Wiistensand ragen kunstlicbe Weg- und Bewasserungs- 
anlagen, machtige Tempel, Palaste, Burgen und 



JESU RELIGION 155 

Festungswerke empor, alles aus gewaltigen zugehaue- 
nen Quadersteinen erbaut, die gleich Agyptens Pyra- 
miden den Jahrtausenden Trotz geboten haben. 
Und diese neuen Zeugen der alten Energie der semi- 
tischen Rasse sind nicht stumm. Vorlaufig erzahlen uns 
gegen 2000 Inschrif ten eine davon mit uber 1000 Wor- 
ten Tempelinschriften, Bildhauerarbeiten, Gold- 
und Silbermiinzen von einer bisher unbekannten alt- 
semitischen Kultur, die trotz ihrer kleineren Verhalt- 
nisse doch der beruhmten babylonischen und agyp- 
tischen Kultur an die Seite gestellt werden kann. 



In den nordlichen Grenzlandern, die schon zu Beginn 
der historischen Zeit von Semiten bewohnt waren und 
dann spater nach und nach von neuen Scharen aus 
Arabien iiberschwemmt wurden, sah sich semitische 
Tatkraft vor neue Aufgaben gestellt. 
In Palastina verwandelten die Juden, urspriinglich Be- 
duinenstamme aus Nordarabien, als Ackerbauer durch 
Terrassenkultur die unfreundliche Natur in ein Land, 
in dem Milch und Honig floJB, und als sie spater, aus 
dem Lande der Vater vertrieben, sich uber den ganzen 
Erdkreis zerstreuten und demnach als Volk nach den 
Gesetzen, die uberall sonst das Leben der Volker be- 
stimmen, zum Tode verurteilt waren, bewahrten sie 
sich gleichwohl an die 2000 Jahre ihre Nationalitat und 
ihre Religion und erkampften sich, namentlich als Han- 
delsvolk, eine Fuhrerstellung unter den tiichtigsten Na- 
tionen der Welt. 



156 JBSU RELIGION 

In Phonizien wurden die Semiten durch die Unfrucht- 
barkeit ihres schmalen Kustenstreifens aufs Meer ge- 
wiesen, wurden zu wetterfesten Matrosen und betrieb- 
samen Kaufleuten, die fleiBig wie Bienen um die eu- 
ropaischen Kiisten schwarmten und Europa mit ihrer 
hoheren semitischen Kultur befruchteten. 
Audi in der alten agyptischen Kultur lebt ein starkes 
semitisches Element, und das Gebiet der mesopotami- 
schen Ebene, das jetzt wie einst in grauer Vorzeit eine 
Mischung von Sumpf und Wiiste darstellt und in der 
Regenzeitvon verheerendenUberschwemmungen heim- 
gesucht wird, verwandelten sie durch gewaltige Be- 
wasserungsanlagen in ein wahres Eden, das die ganze 
Alte Welt in Verwunderung setzte und noch in der 
Bibel als Heimat des Paradieses gilt. 



Es liegt eine ernste Wahrbeit darin, dafi dies armste 
Volk der Erde, das mit die bochste Kultur des Alter- 
tums erschuf, zugleich das religioseste Volk war. Die 
aufieren Errungenscbaften ihrer Kultur shid in Schutt 
und Asche versunken; aber ihr Geist, der noch in der 
Bibel, im Judentum und Christentum zu uns redet, lebt 
und beherrscht noch die Welt. 

Dieser alten Religion wohnte der gleiche schopferische 
Gestaltungswiile inne wie ihren Urhebern. Wie dies 
Volk in seinem armseligen Land buchstablich aus 
nichts die hochste Kultur erstehen lieB, so erstand auch 
auf ursprunglich geringer natiirlicher Grundlage durch 
unablassige Neuschopfung ihre Religion, die hochste 



JESU RELIGION 157 

Kulturreligion der Erde. Die Ausgrabungen haben uns 
gelehrt, dafi nicht das Paradies die Urheimat der Semi- 
ten war, daB diese uberhaupt kein Garten war, den Gott 
ihnen pflanzte, und aus dem er sie spater hinausjagte in 
Arbeit und Verbanmmg, sondern dafi es eine Heimat 
war, die sie sich selbst erschufen als Frucht der unab- 
lassigen Muhe zahlloser Geschlechter, die zuletzt mit 
dem Segen der Arbeit gekront ward. Dieselben Aus- 
grabungen haben uns daruber belehrt, dafi die hochsten 
semitischen Religionen, das Judentum und das Ghri- 
stentum, nicht, wie es in der Bibel dargestellt wird, der 
Ausgangspunkt fiir die semitische Religion waren, eine 
Offenbarung, die wie das Paradies in hochster Voll- 
endung gleichsam vom Himmel f iel, und der dann spa- 
tere Geschlechter durch Abfall wieder verlustig gingen, 
gleich wie sie das Paradies verloren haben. Diese Reli- 
gionen bedeuten vielmehr das Ende der Entwicklung, 
den hohen Gipfel, den man zuallerletzt erstieg, nach 
jahrtausendelangem, muhsamem Ringen um das Licht. 
Volksreligion ist stets eines der schwerfalligsten Ele- 
mente der Kulturentwicklung. Zeiten und Ideen wech- 
seln; aber die Religion des Volkes steht anscheinend 
unbeweglich. Wenn wir iiber die Erde hinsehen, be- 
gegnen wir darum beinahe uberall den gleichen Gotter- 
gestalten im Wandel der Zeiten. Im alten Rom und 
Griechenland, in Indien und China treffen wir in Jahr- 
tausenden immer die gleichen stummen Gotterbilder. 
Aber in den alten semitischen Kulturlandern ist auch 
die Volksreligion in steter lebendiger Bewegung, an 
Stelle eines toten Abbildes sehen wk hier euie ganze 
Reihe schnell wechselnder lebender Bilder. 



158 JESU RELIGION 

Die urspriingliche altsemitische, altarabische Religion 
war eine ganz primitive Naturreligion, wie wir sie in. 
trberbleibseln noch mancherorts auf Erden finden. Die 
nordsemitischen Kulturvolker wandelten diese Natur- 
religion mehrere Jahrtausende v. Chr. in eine Kultur- 
religion um, in der die Gotter keine Naturmachte, son- 
dern ethische personliche Wesen, ideelle Machte waren, 
die an den Menschen strenge Anforderungen stellten. 
Hier wurden in einander standig ablosenden Neuschop- 
fungen von hunter Mannigfaltigkeit schlieBlich die 
Ideale geschaff en, die dann Jahrtausende hindurch wie 
Sterne uber dem Leben der Kulturvolker leuchteten. 
Hier dammerte erstmals der Gedanke von der Einheit 
des Menschengeschlechts auf, von einer allgemeinen 
Bruderliebe, von einer Sprache fur alle Menschen. Von 
hier ging der Gedanke von einem groBen weltumspan- 
nenden Friedensreich aus, und hier gelangte der Mensch 
von der Verehrung mehrerer Gotter zu dem Glauben an 
einen einzigen Gott. 

Die groBe Stofikraft dieser Religion beruht auf dieser 
Einheitlichkeit und Geschlossenheit. Alles, was groB 
und stark ist, was den Sinn erhebt und ihm Kraft gibt, 
ist einfach. Wenn die Religion wie die Erfahrung 
lehrt die starkste Lebensmacht ist, so liegt das daran, 
daB nichts im Leben des Menschen so wie die Religion 
alles Dichten und Trachten in einem Brennpunkt und 
auf ein Ziel zu sammeln vermag. Ohne Religion lebt 
der Mensch fiir tausenderlei verschiedene Dinge, der 
religiose Mensch lebt nur fur eines: Gottes Willen zu 
tun. Das Wort Gott oder gottlich ist eine ganz beson- 
dere Kraft, die uber dem Menschenleben waltet und des 



JESU RELIGION 159 

Menschen Denken und Tun einem Ziele zufuhrt. Daher 
ist der religiose Mensch starker als andere Menschen, 
und ein religioses Volk vermag mehr als andere Volker. 



Es war die Starke der alten semitischen Kultur, daC sie 
alles, was im Menschenleben von Wert ist, alle Ideale 
letzten Endes auf das Wort gottlich als auf eine letzte 
Ursache zuruckfuhrte; aber dies Wort loste in der vor- 
judaischen Zeit einen ganzen Komplex von Vorstellun- 
gen aus. Urspriinglich gab es nicht einen, sondern meh- 
rere Gotter, und jeder einzelne Gott war wieder in ver- 
schiedene lokale Gottheiten gespalten. Die Muttergottin 
war vorzugsweise die Gottheit der Frauen, die Nord- 
semiten verehrten besonders den Sohn, die Sudsemiten 
den Vater. Aus diesem wiederum entstanden mehrere 
Gotter, die sich als Nationalgottheiten f eindlich gegen- 
uberstanden. Der Begriff Gott sammelt und vereinigt, 
mehrere Gotter zersplittern. 

Die Entwicklung in der semitischen Religionsgeschichte 
fuhrt von Mannigfaltigkeit zur Einheit. Durch stete 
Neuschopfung findet sie inuner einfachere Formen fur 
die Religion, bis auf des Ideales hochster Zuine die 
Fahne gehiJBt wkd mit dem allein erlosenden Wort, 
das alle menschlichen Ideale und alles Streben in einem 
Punkte sammelt und deshalb auch berufen ist, alle 
Menschen in alien Landen um sich zu scharen. Durch 
die Wildnis der Naturreligion, die in jedem Stein, in 
jedem Baume einen Gott erblickt, durch das Labyrinth 
der Rulturreligionen, die wie bei Griechen und Romern 



160 JESU RELIGION 

eine eigene Gottheit fur jede menschliche LebensauBe- 
rung besitzen, fiihrt die Entwicklung zu dem EinenGott, 
dessen Wesen sich in ein einzelnes Wort f assen laBt. 
Die Juden, die den Weg zu dem Einen Gott fanden, 
schopften aus dieser Quelle die unerschopfliche Lebens- 
kraft, die die Nation zur Einheit fuhrte und unter der 
Fremdlierrschaft zusammenhielt bis auf den heutigen 
Tag. Es war die gleiche konzentrierte Kraft, wie sie 
Jahrhunderte spater die Araber mit solch explosiver, 
vulkanischer Macht erfiillte, daB sie beinahe die ganze 
zivilisierte Welt uber den Hauf en rannten. Das einf ache 
Gebot: Es ist nur ein Gott ward nicht nur zur Macht 
in Muhammeds Leben, unter dessen Fahne sich all die 
Nomadenstamme zu einem machtigen Volke sanunel- 
ten, die bisher verschiedene Gotter verehrt batten und 
in viele einander befehdendeStamme zersplittertwaren, 
wahrend sie sich nun mit unwiderstehlicher Gewalt 
uber ganz Vorderasien, Agypten und Nordafrika hin- 
walzten und erst in Spanien zum Stehen gebracht 
wurden. 



Jesu Erneuerung der semitischen Religion besteht in 
einer noch schlichteren Auffassung Gottes und seiner 
Gebote. Der jiidische Gott war kompliziert, der Gottes- 
begrif f Jesu war ganz einf ach. Der Gott der Juden hatte 
unendlich viele Eigenschaften, und von diesen strahlte 
eine Unzahl von Geboten aus, so daB aus Gott ein groBer 
Gesetzgeber wurde. Fur Jesus hat Gott nur eine Eigen- 
schaft: die Liebe, und nur ein Gesetz geht von mm aus: 
das Liebesgebot. 



-JESU RELIGION 161 

Jesu gewaltige Reform des Gottesbegriffs beruht dar- 
auf, daB er eine Form der Gotteserkenntnis fand, die 
nun erst in wahrer Vollendung alles ideale Streben der. 
Menschen auf ein Ziel hin sammelte. Erst durch Jesus 
fand der semitische Geist ganz hin zu dem Gott, den er 
Jahrtausende hindurch gesucht hatte. Der Maurer von 
Nazareth fiigte durch das Gebot der Liebe den Schlufi- 
stein zu dem Bau, an dem sein Volk so lange gearbeitet 
hatte. Und das Banner, das er oben aufpflanzte, kundete 
Ton diesem Gebot der Liebe aller Welt und weht noch 
lieute hoch erhaben uber allem Zank und Streit der 
Yolker. Es liegt eine ernste Mahnung in der weltum- 
spannenden Allverbindlichkeit des Gebotes der Liebe. 
In dem Zeichen dieses neuen Banners soil all das 
mannigfaltige Tun und Lassen der verschiedenen Na- 
tionen mit ihren bunten Schicksalen im Lauf der Ge- 
schichte in ein einziges Symbol gefafit werden, das 
seiner einfachen Geschlossenheit ein gut Teil der star- 
ken Wirkung verdankt. Die jiidische Schema: H6re 
Israel: Jahwe, unser Gott, ist ein einiger Gott, ist das 
Banner gewesen, urn das sich das jiidische Volk wohl 
tewahrt durch 2000 Jahre gesammelt hatte; aber es 
liat keine Macht uber andere Nationen, denn Jahwe war 
ja urspriinglich ein semitischer Nationalgott gewesen, 
und er hatte mit all seinen spezifisch jiidischen Geboten 
immer noch ein allzu einseitiges nationales Geprage. 
Die Botschaft von der Liebe, fur die das Christenbanner 
weht, und deren Symbol dasKreuzeszeichen ist, ist durch 
ihre erhabene Einzigartigkeit zur Losung fiir alle Na- 
iionen geworden, die auf sie horen wollten, es hat sie 
alle zum Dienst an der grofieren Sache vereinigt und 

Nielsen, Der geschiehtlicbe Jesus 11 



162 JESU RELIGION 

ergeht nun uber den ganzen Erdkreis als Verkundigung 
wahrer Kultur. Unter dem Zeichen des Kreuzes gingen 
die Kreuzzuge aus, dasselbe Zeichen schmuckt heute 
die Flaggen der meisten europaischen Staaten; wo das 
Rote Kreuz sich zeigt, da bringt es Frieden, selbst im 
wildesten Getummel der Schlacht, das Kreuz will auch 
Frieden bringen in jedes Menschenherz, das in Unruhe 
und ungestillter Sehnsucht sich verzehrt. 



Jene Liebe; die Gottes innerstes Wesen ausmacht, 1st 
kein kompliziertes oder zerfliefiendes, sondern ein ganz 
klares Gefuhl, es ist eine ganz bestimmte Form der 
Liebe. Es gibt ja so viele Arten von Liebe. Da ist sinn- 
liche Liebe und Nachstenliebe, eheliche Liebe und Ge- 
schwisterliebe, Liebe zwischen Freunden und Lands- 
leuten, zwischen Lehrer und Schuler, zwischen Konig 
und Untertan. Aber Gott ist nicht unser Freund, Lehrer, 
Konig oder Richter, Gott ist unser Vater. 
Die Liebe, die Gott ausstromt, ist Vaterliebe. Alle Men- 
schen sind seine Kinder, das Verhaltnis zu ihm ist dem 
des Kindes zu seinem irdischen Vater vergleichbar, und 
das Verhaltnis der Menschen untereinander lafit sich 
mit einem Wort nennen: Bruderliebe. 
Diese schlicht-einfache Lebensauffassung, die des gan- 
zen Lebens buntes Spiel von der Wiege bis zum Grabe 
auf eine Formel zu bringen versteht, fiihrt alle Gebote 
auf eines zuruck, ordnet alle Gefiihle einem einzigen 
unter, das am tiefsten im Menschenherzen wurzelt, bei 
den Primitiven ebenso wie bei den hochstentwickelten 



JESU RELIGION 163 

Kulturvolkern, in jedem Stand und zu alien Zeiten. Das 
Verbundenheitsgefuhl von Familie oder Geschlecht, die 
Liebe zu Heimat und Elternhaus, zu Vater, Mutter, 
Bruder und Schwester, ist im Lauf der Geschichte von 
so ungeheurem EinfluB gewesen, daB es sich nicht in 
Worten ausdriicken lafit. In einer fernen Zukunft wird 
vielleicht einmal diese Lebensauffassung ein fester 
Mafistab fiir alles menschliche Streben sein, nach innen 
als Richtschnur fur die Kultur der Personlichkeit, nach 
aufien als heller Leitstern, der iiber der Ordnung der 
menschlichen Gesellschaft waltet. 
Es handelt sich hier nicht um ein Ideal, das iiber den 
Sternen schwebt, zu dem nur vereinzelte Idealisten in 
ihren besten Augenblicken sich erheben konnten, son- 
dern um ein Urgefuhl, das in jedem Menschen wohnt, 
um ein Gefuhl, das selbst bei Verbrechern und bei denk- 
bar tiefstehenden Menschen eine Lebensmacht bedeu- 
tet, weil es schon seit den Kinderjahren bei ihnen an- 
geklopft und sie furs ganze Leben gezeichnet hat. Nicht 
von einem entwickelten Lehrsystem ist die Rede und 
nicht von Philosophic, die man durch muhsame Studien 
sich zu eigen machen kann, sondern von einem ganz 
schlichten Verhaltnis zu Gott und den Menschen, das 
jedes Kind verstehen kann, ja das gerade idas Kind am 
besten versteht. Das Gefuhl, das ein Kind seinem Vater 
gegenuber empfindet, soil auf Gott iibertragen werden, 
das Gefuhl fiir seine Bruder und Schwestern soil auf 
alle Menschen ausgedehnt werden. 



11* 



164 JESU RELIGION 

Dieser wie jeder andere grofie Fortschritt hat seine 
Wurzeln im Vergangenen. Der Verfasser hat in seinem 
Buch iiber den dreieinigen Gott in religionshistorischer 
Beleuchtung zu zeigen versucht, daB sich die schlichte 
Auffassung von Gott als dem himmlischen Vater und 
von den Merischen als seinen Kindern in verschiedener 
Form schon in gewisen Entwicklungsstadien der alte- 
ren semitischen Religion findet, ja daB sie eigentlich 
der'rote Faden in der Entwicklung von altester Zeit an 
war. Bei den Nordsemiten war indessen die Vatergestalt 
in Schatten gestellt durch die des Sohnes, und bei den 
Juden wandelte sich der Vater urn zum Gesetzgeber. 
Wenn dort Gott einmal selten genug als Vater an- 
gesprochen wird, so ist er des ganzen Volkes Vater, 
nicht des einzelnen. Das Wohl und Wehe des Volkes, 
der Nation lag fhm am Herzen. Das Volk, nicht der Ein- 
zelne war sein Kind, und ihm verlieh er darum auch 
Unsterblichkeit, nicht dem Einzelnen. Es war genug 
wie Wellhausen sagt , daB dem Volk ein ewiges 
Leben beschieden war, iiber den Einzelnen ging das 
Rad der Geschichte hinweg, fiir ihn blieb keine Hoff- 
nung, nur Resignation. Er mufite sich begnugen, seinen 
Lohn im Wohlergehen seines Volkes zu finden. 
Diesen engherzigen Vater des Judenvolkes wandelte 
Jesus um zu einem barmherzigen Vater aller Menschen, 
hob ihn hoch empor iiber alien Zank und Streit der Na- 
tionen und machte ihn zugleich zum Vater eines jeden 
Einzelnen. 

Wenn dieser Vater auch gar viele Kinder hat, so ist 
ihm doch jedes Einzelne von ihnen lieb und wert, er 
folgt einem jeden durchs Leben, wie ein irdischer Vater 



JESU RELIGION 165 

seinen Kindern. Wenn ein Kind seinen Erdenvater ver- 
loren hat, so hat es doch noch einen Vater im Himmel, 
und wenn aus dem Kind ein Mann und aus dem Mann 
ein weifihaariger Alter geworden ist, der selber auf Kin- 
der und Kindeskindef herabschaut, so ist auch dieser 
alte Mann in seinem Verhaltnis zum himmlischen Va- 
ter imnier noch Band, und wenn er schlieBlich durch 
die dunkle Pforte des Todes geht, so steht da derselbe 
Vater, der ihn durchs Leben geleitet hat, und nimmt 
ihn bei der Hand, so wie ein irdischer Vater seine klei- 
nen Kinder fuhrt. 



Man sieht, das menschliche Verhaltnis, das Jesus zum 
Vorbild fiir das Verhaltnis zu Gott ausersehen hat, ist 
nicht etwa das Verhaltnis des erwachsenen Mannes zu 
seinem Stammvater, sondern die Kindschaft im wort- 
lichen Sinne. 

In den vorchristlichen Auspragungen der semitischen 
Religion war der himmlische Vater, sei es als Stamm- 
vater oder als Vater des Volkes oder des ganzen Men- 
schengeschlechts, von dem Einzelnen durch eine lange 
Reihe von Generationen getrennt. Das Gefuhl, das hier 
der Mensch Gott gegeniiber hegte, erschopfte sich ahn- 
lich wie beim Ahnenkult so ziemlich in Pietat und Ehr- 
furcht des Erwachsenen fiir den Stammvater, der langst 
das Zeitliche gesegnet hat. In Jesu Verkiindigung nun 
ist der himmlische Vater nicht irgendein entfernter 
Verwandter, er steht mis ebenso nahe wie unser wurk- 
licher Vater, denn ihm verdanken wir unser Leben, 



166 JESU RELIGION 

und er steht uns in des Lebens Fahrlichkeiten allezeit 
treu zur Seite. Das engste und idealste menschliche 
Vaterverhaltnis ist hier auf das Verhaltnis zu Gott an- 
gewandt. 

Endlich ist der Vater, zu dem Jesus uns im Vater - 
unser beten lehrte, auch nicht der Vater, dem sich der 
Sohn in schon erwachsenerem Alter zuwendet, wenn er 
die menschlichen Grenzen der Fahigkeiten und Eigen- 
schaften des Vaters und auch seiner Vaterliebe erkannt 
hat und daher nicht mehr so recht das absolute Ver- 
trauen zu ihm haben kann, wie in der Kindheit gliick- 
lichen Tagen. Es ist der Vater der unmiindigen Kin- 
der, der Vater in kindlichem Verstande, zu dem sich die 
Kleinen vertrauensvoll wenden als zu der hochsten 
Autoritat in ihrer Welt, der Vater, der in alien 
Schwierigkeiten helfen kann und helfen will, der alle 
Freuden teilt, von dem das Kind fiihlt, daB keine andere 
Autoritat ihm so nahe steht wie er. 



Hier stehen wir nicht nur vor dem Neuen, sondern 
auch vor dem Kernpunkt in Jesu Gottesauffassung, 
vor dem Hauptstiick seiner Lehre, auf das er zeit 
seines Lebens nicht mude wird, immer wieder hinzu- 
weisen. 

Was vor den Weisen und Klugen verborgen ist, das ist 
den Unmiindigen offenbart worden (Matth. 11, 25). 
Lasset die Kindlein zu mir kommen und wehret ihnen 
nicht, denn solcher ist das Reich Gottes. Wahrlich, ich 
sage euch: Wer das Reich Gottes nicht annimmt wie 



JESV RELIGION 167 

ein Kindlein, der wird nicht hineinkommen. Und er 
umarmte sie und legte die Hande auf sie und segnete 
sie (Mark. 10, 1416). Das kleine Kind ist das Grofite in 
Jesu Religion, die Menschen miissen erst wieder werden 
wie die Kinder, um ihrer wiirdig zu sein (Matth. 18, 
16). 

Gern illustriert Jesus auch das Verhaltnis des Vaters 
im Himmel zu seinen Menschenkindern durch Gleich- 
nisse, die von dem Verhaltnis des Mensehenvaters zu 
seinen Kindern genommen sind. Wer kennt nicht das 
Gleichnis vom verlorenen Sohn, der um Verzeihung 
bittet? (Luk. 15.) Ist unter euch Menschen irgendeiner, 
der seinem Sohn einen Stein gibt, wenn er ihn um Brot 
bittet? . . . Wenn also ihr, die ihr schlecht seid, euren 
Kindern gute Gaben geben konnt, wieviel mehr wird 
da euer Vater im Himmel denen Gutes geben, die ihn 
bitten? (Matth. 7,9 11.) 

DAS NEUE GLAUBENSBEKENNTNIS 

Deshalb ist letztlich das Wesen der neuen Religion im 
Vaterunser, dem neuen Gebet, beschlossen; es be- 
deutet fur die christliche Religion, fur die Religion Jesu, 
ursprunglich das Glaubensbekenntnis, in dem der 
Mensch zugleich vertrauensvoll seinen himmlischen 
Vater um alles bittet, dessen er bedarf, vom taglichen 
Brot bis zur Vergebung seiner Siinden, wie ein Kind, 
das weifi, daB es sich sorglos an seinen lieben Vater 
wenden darf . 

Hier liegt das urspriingliche Glaubensbekenntnis, dem 
viele nachspiirten, hier ist die einfache Grundlage, die 



168 JESU RELIGION' 

das Christentum von alien anderen Religionen unter- 
scheidet, die durch die Jahrhunderte die Starke christ- 
lichen Lebenswandels ausmachte und noch heute die 
Christen in alien Landen und in alien Glaubensgemein- 
schaften verbindet. 

Das ist der Glaube, der das beste Merkmal wahren 
Christentums ist, der Glaube, auf den JesuWorte und die 
altesten Evangelien inxmer von neuem hinweisen; es ist 
nicht einSchwall vonweitlaufigenDogmenundLehrsat- 
zen, die fur Jesus und die altesten Christen etwas ganz 
Unbekanntes waren, und die man jetzt glauben soil,, 
weil sie der gesunde Menschenverstand nicht fassen 
kann; es handelt sich uberhaupt nicht um ein Glauben 
daran,- daB ein Gottvater existiert, sondern um den 
Glauben an ihn, Glauben in der Bedeutung Vertrauen,. 
um den gleichen unverriickbaren Glauben, den das 
kleine Kind hegt, daB sein Vater allezeit helfen kann 
und will, und daB er, selbst wenn er strait, nur des Kin- 
des Wohl bedenkt; es ist der Glaube an einen Vater im 
Himmel, der in guten und bosen Tagen das Schicksal 
des Einzelnen wie des ganzen Menschengeschlechts zu 
einem bestimmten Ziel hinleitet. 

Der bekannte Gesellschaftserneuerer HENRY GEORGE 
glaubte in jeder Widerwartigkeit einen Fingerzeig von 
oben zu erblicken,eine gottlicheFugung mit besthnmter 
Absicht. Einmal nun sturzte ihm alles zusammen, was 
er in jahrelanger Arbeit aufgebaut hatte. Siehst du 
auch darin Gottes Finger? fragte ihn ein Freund. 
Nein, war seine Antwort, ich kann ihn nicht sehen, 
aber ich weifi, daB er da ist. Das ist der ursprimgliche 
Christenglaube, der die Welt besiegt hat, und nur ein 



JESU RELIGION 169 

solcher verleiht dem Leben in der Welt einen Sinn und 
ein Ziel. 



Das Christentum ist die Religion des Altertums gewor- 
den, es wird auch die Religion der Zukunft werden, 
aber nicht kraft der mythologischen Vorstellungen, die 
sich bald darum ansammelten, weil sie fiir das Alter- 
tum ebenso naturlichwaren,wie sie unsfremdgeworden 
sind, sondern kraft jenes urspriinglichen kindlichen 
Glaubens, der sich auf dem aufbaut, was von jeher das 
Starkste im Menschenleben war und es auch bleiben 
wird: eines Kindes unerschutterliches Vertrauen zum 
Vater und sein bejahender Lebensmut. 
Das Leben ist ja in der Tat so, wie wir es selbst nehmen. 
Durch Kinderaugen gesehen, ist es licht und schon. Wie 
dem Kind die Hiitte zum SchloB wird, weil es eben die 
Kinderheimat ist, so gieBt auch die Lebensbejahung 
eines kindlichen Sinns Goldglanz uber das Leben aus, 
das fiir den Erwachsenen oft traurig und farblos ist. 
Des Kindes Weltanschauung ist voll Licht und Farbe, 
es sieht die Dinge und die Menschen in einem helleren 
Schein, vor allem aber ist es mit den guten Machten des 
Lebens enger verbunden, es begegnet allem mit unbe- 
grenztem Vertrauen und hat eine durchaus optknisti- 
sche Ansicht von den Menschen und vom Leben. Es 
kennt kemen Pessimismus und keine Selbstaufgabe, es 
hat noch den freudigen Glauben ans Leben, es kann 
noch seines Daseins froh werden. 
Solch kindliche Lebensauff assurig, in der Lebensfreude 



170 JESU RELIGION 

und Glaube an das Leben triumphieren, hat Jesus allein 
von alien Religionsstiftern zur Grundlage seiner Reli- 
gion gemacht. Und diese Religion hat deshalb eine so 
ungeheure Macht uber die Menschen gewonnen, weil 
sie allein dem Erwachsenen das verlorene Paradies der 
Kindheit wiederschenkt. Er lebt wieder auf und findet 
wieder den kindlichen Glauben an das Leben und die 
Lebensfreude, die anderen Religionen, besonders dem 
Buddhismus, so fremd ist. 

Daher wurde auch wenn es gleich der erwachsene 
Jesus war, der uns die neue Religion geschenkt hat 
das Jesuskind zum Symbol dieser Religion. Die Chri- 
sten sahen am liebsten in Jesus das Kind, und obwohl 
wir ihn nicht in seiner Kindheit kennen, bildet ihn die 
Kunst am liebsten als Kind ab. Wir haben ursprunglich 
kein Evangelium vom Jesuskind. Aber das Altertum 
schuf ein Kindheitsevangelium nach dem anderen, und 
diese Evangelien las man allenthalben mit grofierer 
Begier als die biblischen. 



Das einzigartigeGlaubensbekenntnis, das uns im Vater- 
unser geschenkt ist, stammt aus den sogenannten 
Jesusworten, der altesten neutestamentlichen Schrift, 
die wir herausschalen konnen, und es gehort zu dem 
altesten und sichersten Bestande der Jesusuberlief e- 
rung, wahrend das dreiteilige sogenannte Aposto- 
lische Glaubensbekenntnis, das der Geistliche in der 
Kirche verliest, sich uberhaupt nicht in der Bibel findet, 
sondern eine spatere kirchliche Festlegung der heiden- 



JESU RELIGION 171 

christlichen dreifaltigen Gottesauffassung darstellt, die 
spater zur kirchlichen Lehre wurde. 
Ein Vaterunser gibT es nicht in der judischen noch in 
irgendeiner anderen Religion; es ist hochstens dadurch 
mit der judischen Religion zu Jesu Zeit verkniipft, dafi 
da in der Regel bekannte Lehrer zum Ersatz fur die 
ellenlangen of fiziellen Synagogengebete ihre Schuler 
ein kurzeres Gebet als Ausdruck ihrer eigenen person- 
lichen Religion lehrten. 

So bitten auch Jesu Jiinger den Meister: Herr, lehre 
uns beten, wie auch Johannes seine Junger lehrte!, 
und Jesus lehrt sie das Gebet zum Vater als kurzen, zu- 
sammenfassenden Ausdruck seiner eigenen Religion 
(Luk. 11, 14). 

Diesem urspriinglichen und echten christlichen Glau- 
bensbekenntnis, zu dem suchende Christen jetzt mehr 
und mehr wieder zuruckfinden, ist eigen, dafi es in die 
Form eines Gebets gekleidet ist. Das Glaubensbekennt- 
nis der judischen Gesetzesreligion ist naturlich ein Ge- 
bot: Du sollst Gott und deinen Nachsten lieben. Die 
spateren heidenchristlichen Glaubensbekenntnisse, vom 
Apostolischen angefangen bis zum Augsburgischen, das 
jetzt die offizielle Lehre fiir alle lutherischen Lander 
enthalt, 1st Dogmatik, eineAufzahlung vonLehrstucken, 
die sich mit der Zeit mehr und mehr weiterentwickelt 
haben, ebenso unfruchtbar fiir die Religion wie unfaB- 
bar fiir den Verstand. 

Das Gebet, jener unsichtbare Faden, der uns mit einer 
iibersinnlichen Macht verbindet, ist der Lebensnerv 
jeder Religion, der Ausdruck fur das Gefuhl der Ab- 
hangigkeit, das Kennzeichen wahrer Religion. In 



172 JESU RELIGION 

der neuen Religion vom Vater wird selbst das Glau- 
bensbekenntnis zum Gebet, weil das Beten ohne Unter- 
laC am besten das Kindesverhaltnis zum Vater aus- 
druckt. Das Kind ist in allem und jedem vom Vater ab- 
hangig, es bittet ihn standig um seine Hilfe. Dahef be- 
steht auch das echte christliche Glaubensbekenntnis 
nicht in der Aufstellung ernes Lehrsatzes, dafi da ein 
Vater im Himmel existiere, sondern man ist einfach 
Jesu Jiinger, wenn man sich in jeder Lebenslage als 
Kind dieses Vaters fiihlt und allezeit zu diesem Vater 
betet. 

DIE NEUE StNDENVERGEBUNG 

Stets hat der Mensch Zugang zu diesem Vater, wie ein 
Kind zu seinem irdischen Vater aucb, ohne Mitwirken 
irgendeiner anderen Autoritat, er braucht nicht einem 
bestimmten Volk, einer bestimmten Kirchen- oder 
Glaubensgemeinschaft anzugehoren, uberhaupt keiner 
au.Derlichen menschlichen Organisation, er findet ihn 
zu jeder Stunde und an jedem Ort, nicht nur an Feier- 
tagen, in der Kirche oder an anderer heiliger Statte. 
Keine Zeremonien, kein Glaubensbekenntnis, kein 
Geistlicher ist notwendig, um ihm nahezukommen. 
Diese schlichte Gottesauffassung Jesu nannte man in 
der Reformationszeit das geistliche Priestertum aller 
Glaubigen, man konnte es auch in die Worte fassen: 
Jedermann ist sein eigener Priester. 
Dies ist das freie, unabhangige Verhaltnis zu Gott, der 
Adelsbrief des freien Ghristenmenschen; es hat im Lauf 
der Zeit, da die Bibel mehr und mehr des Volkes gei- 
stiger Besitz wurde, tiefe Wurzeln bei den nordlichen 



JESU RELIGION 173 

freiheitsliebenden Germanen geschlagen, wahrend die 
sudlicheren Volker Europas, die von alters her an Des- 
potic, und Zwang von oben gewohnt waren, immer noch 
unter der religiosen Vormundschaft stehen, die Papst 
und Priesterschaft ausuben. 



Selbst nicht das Sundenbewufitsein, jenes Gefuhl des 
Abstandes zwischen dem gottlichen Gebot und unserer 
menschlichen Schwachheit, kann uns von diesem un- 
serm himmlischen Vater scheiden. Die Siinde, die grofie 
Schuld, die wir Gott gegenuber haben, ist das Grund- 
gefuhl in jeder Religion und driickt um so barter, je 
feiner das religiose Gefuhl ausgebildet ist. 
Diese Schuld wurde in der semitischen wie auch in 
anderen Religionen des Altertums durch stellvertreten- 
des Opfer, durch die Schlachtung eines Tieres oder 
Menschen bezahlt. Man entsprach da dem naiven Ge- 
dankengang, der uns heute so fern liegt, dafi sich die 
Siinde auf ein anderes Wesen ubertragen liefie, das 
dann mit Leiden und Sterben die Schuld bezahlen 
konne. An einer alten Opferstatte in Palastina hat man 
die trberreste von mehreren Hunderten geopferter Kin- 
der ausgegraben. Die alten Hebraer erblickten namlich 
in dem Opfer .des erstgeborenen Sohnes, dessen Ab- 
schaffung die Geschichte von Isaaks versuchter Opfe- 
rung durch Abraham begriinden will, ein ganz beson- 
ders verdienstliches stellvertretendes Opfer. Erst in 
einem hoheren, dem prophetischen Stadium der jiidi- 
schen Religion heifit es von Gott: Ich will Barmherzig- 



174 JESU RELIGION 

keit sehen und keine Opfer, im jiidischen Synagogen- 
Gottesdienst war das Opfer abgeschafft, und als der 
Tempel in Jerusalem, die einzige legitime Opferstatte, 
im Jahre 70 n. Ghr. zerstort wurde, da verschwand das 
Opfer ganz aus der jiidischen Religion. 
Wenn man im Gegensatz zur hoherentwickelten bibli- 
schen Religion fruhere Stadien in der semitischen 
Religion als Heidentum bezeichnen will, so gehoren 
zu diesem Heidentum nicht nur die Gotterbilder 
und so manches im Gottesbegriff, sondern sicherlich 
auch die blutigen Opfer. Ein unsichtbarer Gott, der in 
geistigem Verstande ohne aufiere Zeichen und Bilder 
und ohne physische Opfer verehrt wurde, stellte die 
Religion des hoheren Judentums dar. Die Juden ver- 
langten mit ihrem Gebot Du sollst deinen Nachsten 
lieben wie dich selbst Barmherzigkeit an Stelle der 
Opfer, und in Jesu Vater-Religion wird darum auch die 
Schuld an unsern himmlischen Vater nicht durch Lei- 
den und Tod einer andern Person bezahlt, sondern 
durch Barmherzigkeit gegen die Briider: Vergib uns 
unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schul- 
digern! 



Das ist Jesu Lehre von der Siindenvergebung, die er in 
seinem Leben verwirklichte. GeistigeGiiter fallen einem 
nicht in den SchoB. Die Aneignung von Kenntnissen 
erfordert geistigeAnspannung,religioseKultur erfordert 
Selbstzucht und personliche Opferwilligkeit und Barm- 
herzigkeit gegeniiber dem Nachsten. Siindenvergebung 



JESU RELIGION 175 

und Frieden in unserm eigenen Verhalmis zu Gott lafit 
sich nur durch Friedfertigkeit gegen den Neben- 
menschen erlangen. 

Die hoherentwickelte semitische Religon verlangt vom 
Einzelnen unausgesetzte Hilfsbereitschaft gegen die 
Nachsten, und in Jesu neuer Religion darf das Kind in 
alien Noten vertrauend den Vater um Hilfe angehen; 
aber der Vater hat auch noch andere Kinder, die nach 
Hilfe verlangen, und er for der t deshalb von seinem 
Kind auch Nachsicht und Geduld mit dem Nachsten. 
Wenn ihr den Menschen ihre Fehler vergebet, wird 
euch euer himmlischer Vater auch vergeben. Wo ihr 
aber den Menschen ihre Fehler nicht vergebet, so wird 
euch euer Vater die eurigen auch nicht vergeben* 
(Matth. 6, 14/15). 



Nuntaucht freilich auch aufierhalbPalastinas nebender 
alten heidnischen Gotterdreiheit und dem Bilderdienst 
noch jenes andere Gespenst der Vorzeit aus der Tiefe 
der Volksreligion empor und wird mit Jesu Lehre ver- 
mengt, eben der alte heidnische Opfergedanke. In die- 
sem Heidenchristentum, das spater durch Paulus teil- 
weise zur kirchlichen Lehre wurde, ist Gott nicht der 
barmherzige Vater, sondern der despotische Tyrann, 
der um jeden Preis Blut sehen will, sei es schuldiges 
oder unschuldiges. Jesus wird hier zum Opferlamm, 
das aller Welt Sunde tragt, sein Tod aber zu dem grofien 
ewig giiltigen stellvertretenden Blutopfer, das uns ein 
fur allemal von aller Schuld gereinigt hat. 



176 JESU RELIGION 

Die katholisehe Kirche empfangt diese Blutsuhne stets 
von neuem im MeBopfer, und auch die protestantische 
Kirche hat als eines ihrer Hauptdogmen die satisfactio 
vicaria, das altsemitische stellvertretende Opfer, be- 
wahrt, nachdem ein anderer die Schuld eines Menschen 
siihnen kann, indem ja Jesu Blut nach der paulinischen 
Rechtfertigungslehre Gottes Zorn versohnt, wenn der 
Einzelne nur glaubt, daB Jesus als Gottes wahrhaf tiger 
Sohn dies grofie Opfer dargebracht hat. 
Das ist heidnische, nicht christliche Opferlehre, das 1st 
Pauli, aber nimmermehr Jesu Religion. Jesus hat nie- 
mals eine Stellvertretung in unserm religiosen Gott- 
verhaltnis verlangt oder gefordert, er hat auch nie ge- 
wollt, dafi vfir auf dem Altar des Glaubens die Ver- 
mmft opfern sollen, die Gott selbst uns gegeben. Nicht 
ein jeder, der zu mir sagt: Herr! Herr! wird insHimmel- 
reich eingehen, sondern wer den Willen meines Vaters 
im Himmel tut (Matth. 7, 21). Das Opferdogma dieser 
Bluttheologie ist nicht nur ein Rest der tiefsten Stufe 
semitischen Heidentums, sondern es leiht noch heutzu- 
tage den niedrigsten menschlichen Eigenschaften, wie 
Bequemlichkeit, Selbstsicherheit .und Vergeltungs- 
sucht, einen Schein religioser Tugend. Es ist noch heute 
das Ruhepolster fur moralische Schlappheit und religi- 
ose Bequemlichkeit. Wie durch ein Mirakel, durch den 
Glauben an eine Art Zauberformel, erlost es den Men- 
schen im Nu und erfiillt den Erlosten allzu leicht mit 
hochmutiger Siegesfreude, weil er nun seine Papiere in 
Ordnung zu haben vermeint, ja, es laCt ihn gar den 
Stem auf andere werfen, die diesen naiven Glauben 
nicht teilen konnen. 



JESU RELIGION 177 

Es 1st eine treffende Bezeichnung, wenn die alte Kirche 
die Auspragung des Christentums, die nachmals die- 
jenige der Kirche wurde, fiir Heidenchristentum 
erklarte. Sie ist in der Tat heidnisch, und das nicht nur 
durch eine Vielheit im Gottesbegriff, sondern auch 
durch ihre auBerliche naturalisierende Auffassung der 
geistigen Machte. 

Gott war in fruheren Stadien der judischen Religion 
noch kein unsichtbares geistiges, sondern ein sinnliches 
menschliches Wesen, das am Abend, wenn der Tag 
kuhl geworden ist (1. Mos. 3, 8), im Garten Eden spa- 
zierengeht oder spater mit Abraham zu Tisch sitzt, um 
mit ihm zu speisen (1. Mos. 18). Ahnlich war auch der 
Messias bei den Heiden in ganz auBerlichem Sinn durch 
naturliche Geburt der Sohn Gottes und wandelte sicht- 
bar umber unter den Menschen. 
Auch im Verhaltnis des Menschen zu Gott spielten 
auBere Dinge eine grofie Rolle. Die Siinde war eine ganz 
materielle Unreinheit, die durch Beruhrung ubertragen 
werden konnte, sie wurde auf mechanische Weise dem 
Opfertier aufs Haupt gelegt, im Judentum lud man sie 
auf einen Sundenbock, im Heidenchristentum uber- 
trug man sie auf Jesus als das Opf erlamm. Umgekehrt 
konnte man, wie auch in den Mysterienreligionen und 
dann im Heidenchristentum, durch den GenuB von 
Fleisch. und Blut des Gottessohns auf rein auBerliche 
Weise seiner gottlichen siindlosen Natur teilhaftig wer- 
den und sich eine leibliche Auferstehung sichern. 
Dieser ganze Apparat war Jesus und der hoheren judi- 
schen Religion fremd. In der Religion, in der Gott Geist 
ist und im Geist und in der Wahrheit angebetet werden 

Nielsen, Der geschichtliche Jesua 12 



178 JESU RELIGION 

will, 1st fur eine solch materielle Auffassung geistiger 
Werte kein Raum. 

Die Entwicklung vom semitischen Heidentum fiber das 
Judentum zu Jesus geht von Mannigfaltigkeit zu Ein- 
fachheit, sie geht aber auch von auBen nach innen, von 
einer physischen zur geistigen Auffassung Gottes und 
der Religion. 

Der ganze gewaltsame aufierliche Apparat, der den nie- 
deren, heidnischen Formen der jiidischen Religion das 
Geprage gab, die Kriege, die im Namen der Religion 
die Erde erschiitterten, all die Mirakel und Wunder- 
zeichen in der Natur, die die Messiasmythologie von 
Geburt, Leben und Tod eines jeden neuen Erlosers er- 
zahlt, das Erdbeben bei Jesu Tode, die Felsen, die bar-^ 
sten, die Graber, die sich offneten, dasFeuer, das allent- 
halben von den Altaren aufflammte und die stellver- 
tretenden Opf er verzehrte, all das, so mussen wir heute 
erkennen, hat mit wahrem Christentum nichts zu tun. 
Als Gott nach 1. Kon. 19 den Propheten Elias zu sich 
auf den Berg Horeb im Sinai entbot und der Prophet 
voller Erwartung nach Gott ausschaute, da erhob sich 
zuerst ein gewaltiges Unwetter, das die Felsen zerbrach 
und die Berge zerriB; aber Gott war nicht in dem Un- 
wetter. Und nach dem Unwetter kam ein Erdbeben; aber 
Gott war nicht in dem Erdbeben. Danach kam einFeuer; 
aber Gott war nicht in dem Feuer. Ganz zuletzt vernahm 
der Prophet ein stilles, sanftes Sausen. Da verhiillte er 
sein Angesicht. So ward ihm Gottes Stimme offenbart. 
Jesu Religion ist gleichen Geistes. Eine sanfte, stille 
Macht, die starker ist als das larmende Wesen aller Re- 
ligionen des Altertums. 



JESUS ALS ERNEUERER 
DER GESELLSOHAFT 



JESU Religion war nicht etwa eine ideale Weltan- 
schauung, zu der er sich in einzelnen glucklichen 
Augenblicken erhob, es war die stetig wirkende Kraft, 
die sein ganzes Leben wie ein Sauerteig durchsetzte. Er 
begniigte sich nicht damit, davon zu reden, sondern er 
wirkte in ihr und zeigte, dafi es einem Menschen mog- 
lich sei, fiir eine solche Religion zu leben und zu ster- 
ben. Er lieB sein Banner, um das sich spater die ganze 
damalige Welt scharen sollte, im Sturme wehen, sam- 
melte Jiinger um sich und blieb als Martyrer seiner 
Sache bis zum aufiersten treu, so dafi sein Werk ohne 
Makel blieb und nach seinem Tode weiterwirken konnte 
auf die nachfolgenden Geschlechter. 
Jesus ist nicht ausgegangen in die Welt, um die Men- 
schen weltfremd zu machen. Seine Religion ist keine 
Monchsreligion. Da liegt der fundamentale Unterschied 
zwischen indischer und semitischer Religion, zwischen 
der Religion Buddhas und der Religion Jesu. 



Die Kultur des mit naturlichem Reichtum ubersattig- 
ten Indien miindet seit Buddha aus in passive Welt- 
flucht, Askese und LebensiiberdruJB. Die Askese wird 
hier um ihrer selbst willen gepflegt, nicht wie im 
Christentum um des Lebens willen als Schule der 

12* 



180 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Selbstzucht, als Mittel in dem Bestreben, das Leben so 
lebenswert wie moglich zu machen. Im Buddhismus 
herrscht das monchische Ideal, Vorbild ist der Einsied- 
ler, der entweder aus der Welt flieht oder mitten in der 
Welt sich doch der Welt versagt und ihrem bunten 
Leben. Der Buddhist verachtet das menschliche Leben 
und lafit die Welt auf ihrer falschen Bahn. 
Der Grundzug der semitischen Kultur dagegen, der sich 
gerade unter den armlichen Lebensbedingungen des 
Landes herausbildete, ist Lebensfreude. Fiir Buddha ist 
das hochste Ideal der ewigeTod, fur den Semiten ewiges 
Leben. Fiir Buddha ist das Leben ein tibel, aus dem 
er fern hinweg fliehen mochte. Der Semit wird nicht 
mude, das Leben zu preisen, und findet stets neue Mittel, 
das Leben schoner und reicher zu machen. Daher be- 
gegnen wir in alien semitischen Religionen einer Tat- 
kraft und Aktivitat, wie sie zu alien Zeiten und iiberall 
ihre 0berlegenheit uber andere Lebensauffassungen be- 
weist, und deshalb haben auch alle semitischen Reli- 
gionen nicht nur ein soziales Programm, sondern setzen 
auch alles daran, dies Programm zu verwirklichen. Da 
ist dann die Religion nicht eine Kraft, die den Einzelnen 
von der Gesellschaft abzieht, sondern sie treibt ihn mit- 
ten ins Leben hinein und durchsauert und veredelt so 
durch den Einzelnen die ganze Gesellschaft. 



Die Inder, die das reichste Land der Erde bewohnen, 
fliichten sich aus dem DberfluB des Lebens hinaus in 
die Wiiste; die Semiten, die in dem armsten Land der 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 181 

Erde hausen, dringen aus der Wiiste mitten hinein in 
den Reichtum des Lebens. 

Buddha sucht den Frieden, der des Menschen hochstes 
Streben ist, durch Weltflucht zu erreichen. Die Semiten 
bauen schon vor der Zeit Jesu und der Juden an einem 
internationalen Friedensreich, nicht draulten in der 
Wiiste, sondern mitten in der bewohnten Welt, nicht 
allein in der einzelnen Seele, sondern auch im Leben 
der menschlichen Gesellschaft. 

Buddha wendet sich auch von seinem Nachsten ab, in- 
dem er das menschliche Leben verneint. Die Juden da- 
gegen besafien in dem Gebot: Du sollst deinen Nach- 
sten lieben wie dich selbst! ein soziales Programm, das 
sie in der Gesellschaft wirken hiefi, und Jesus scharfte 
als Reformator der Gesellschaft dies Gebot nicht nur in 
allgemeinster Giiltigkeit ein und verschaff te auch Wei- 
bern und Kindern die gleichen Menschenrechte wie 
dem erwachsenen Mann, sondern er sturzte sich selber 
mitten in den Strudel des Lebens und brachte ein Opf er 
urns andere, ja erlitt schlieBlich den Tod fur seine 
Sache. 

Die alten Semiten sind nicht allein deshalb den groBten 
Kulturvolkern des Altertums beizuzahlen, weil sie die 
hochststehende Religion besassen, sondern weil diese 
Religion bei ihrer sozialen und kulturellen Betatigung 
stets der bestimmende Faktor war. Religion war da 
nicht eine Feiertagsstimmung, sondern die Kraftquelle 
fiir die Arbeit des Tages, nicht ein Kulturelement neben 
vielen anderen, sondern die Lebensmacht, die das ganze 
Leben und die ganze Eultur in ihren Bann zog. Deshalb 
wurde sowohl das Leben des Einzelnen wie der ganzen 



182 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Gesellschaft der Forderung des gottlichen Gebots ent- 
sprechend eingerichtet. Hammurabi empfangt ebenso 
wie Moses seine Gebote auf den Gesetzestafeln aus 
Gottes Hand, und eine ganze Reihe gewaltiger Person- 
lichkeiten, die ihr Leben dafiir einsetzten, die Gesell- 
schaft nach den gottlichen Geboten umzuformen, reden 
zu uns aus jener fernen Zeit, die in derKulturgeschichte 
der menschlichen Personlichkeit als die klassische Pe- 
riode dasteht. 

Daher finden wir hier wie Nietzsche schreibt Men- 
schen, Dinge undWorte so groJBenStils, dafi die griechi- 
sche und indische Literatur nichts Ebenbiirtiges aufzu- 
weisen hat. Mit Schrecken und Ehrfurcht sieht man sich 
diesen gigantischen Zeugen gegenuber, Zeugen dessen, 
was der Mensch einmal war, und man macht sich trau- 
rige Gedanken iiber das alte Asien und seine kleine vor- 
geschobene Halbinsel Europa, die urn jeden Preis Asien 
gegenuber den Fortschritt des Menschengeschlechts 
reprasentieren will. 

Die gleichen traurigen Gedanken steigen gewiC den 
meisten Historikern auf, wenn sie sich mit den idealen 
Schopfungen dieser hohen Kultur des Altertums be- 
schaftigen, die so hoch iiber unsere heutige Zeit hinaus- 
ragen, Gedanken, die dazu fuhren konnten, daB ein 
Oswald Spengler mit seinem Untergang des Abend- 
landes der europaischen Kultur dasTodesurteilschrieb. 
Aber es ist doch wohl besser, anstatt sich in unmann- 
licher Selbstaufgabe zu gefallen, die Ideale wiederauf- 
leben zu lassen, die einst auch bei uns Kultur erzeugt 
und Schritt fur Schritt weitergefuhrt haben. Die Welt 
sei nun schlecht oder gut, wir miissen sie mit Vol- 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 183 

taire zu reden zu verbessern suchen, und in einer 
Zeit des Verfalls, wie wir sie jetzt durchleben, muB der 
Historiker zu einer miiden und schwachlichen Gegen- 
wart eine starke Vergangenheit sprechen lassen. Jesu 
Religion erlost nicht bloB den Einzelnen, sondern auch 
die ganze kranke Gesellschaft, wenn sie dem Banner 
treu bleibt, das Jesus und die Seinen vor bald 2000 Jah- 
ren aufgerichtet haben. 

HEIMATLOS! 

Der Bruch mit Familie und Heimat war das erste Opf er, 
das Jesus zu bringen hatte, um seine Religion der Ge- 
sellschaft anzubieten. 

Wenn ein junger Mann daran denkt, seinen Erwerb 
aufzugeben, tun als Laien- und Wanderprediger aus- 
zuziehen, so ist es ganz naturlich, dafi seine Familie ihn 
zuruckzuhalten sucht. Um so mehr, wenn er dabei wie 
damals in Palastina zugleich sein Leben aufs Spiel 
setzt. Deshalb stieJB auch Jesus bei seiner Familie auf 
Widerstand; ja, es kam zu einem volligen Bruch mit 
den Seinen. Noch nachdem er die Heimat verlassen und 
seine Laufbahn als Reformator begonnen hat, und als 
sich schon die Massen um ihn zu sammeln beginnen, 
reisen Mutter und Briider ihm nach (Mark. 3), um ihn 
zur Ruckkehr in die Heimat zu bewegen. DaC sie glau- 
ben, er sei von Sinnen, beweist deutlich der ungeheure 
Abstand zwischen ihm und ihnen, der in den Quellen 
seinen Niederschlag gefunden hat. Auch die Schriftge- 
lehrten sind ja der Meinung, er sei besessen. Die harten 
Worte, die Jesus auch sonst uber seine Mutter und seine 



184 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Familie sagt, deuten ebenfalls auf die tiefe Kluft bin, 
die ihn von ihnen trennte. Um seiner inneren Berufung 
Folge zu leisten, ward Jesus ein heimatloser Mann. 
Man mufi wissen, welch ungeheure Rolle der Stamm 
und die Familie bei alien semitischen Volkern spielt, 
um die Grofie des Opfers ermessen zu konnen, das Jesus 
hier brachte. Ein Mann ohne Familie ist dort rechtlos 
und unstet. Er hat keine Wurzel mehr in der Gesell- 
schaft, eben weil Sippe und Familie alles bedeuten. 
Dieser heimatlose Zustand hat schwer auf Jesus ge- 
lastet. Es sind nur wenige Worte Jesu uber seine per- 
sonlichen Verhaltnisse iiberliefert, aber in einem von 
den wenigen klingt das Weh uber die verlorene Heimat 
nach: Die Fiichse haben Gruben, und die Vogel unter 
dem Himmel haben Nester; aber des Menschen Sohn 
hat nicht, da er sein Haupt hinlege (Matth. 8, 20). 



Aus Nazareth, der Heimat seiner Vater, wanderte Jesus 
nordwarts in fremdes Land. Sein Hauptquartier schlug 
er an der Nordspitze des Sees Genezareth in der Gegend 
des kleinen Fischerdorfes Kapernaum auf, wo ihm 
seine ersten Jiinger zugefallen waren, aber er un- 
ternahm von da aus Streifziige ringsumher in Galilaa 
und in der Heidenwelt nordlich davon; aber immer da- 
zwischen blieb er in entlegenem, unbewohntem Gebiet, 
um nicht allzu groBes Auf sehen zu erregen und nicht in 
die Hande der Regierenden zu fallen. 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 185 

Lafit uns die tfberlieferung im Stich, wo wir von seiner 
Kindheit und Jugendzeit horen wollen, so setzt sie um 
so machtiger da ein, wo sein Wirken als religioser Re- 
formator beginnt. Zwar hat auch da-berechtigte histo- 
rische Kritik viel abstreichen miissen, aber es bleibt 
doch bestehen, dafi keine andere Religion in ihren hei- 
ligen Schriften so viel echte geschichtliche Ziige aus 
ihres Meisters Leben und Lehre, so viel wahrheitsge- 
treue Lebensschilderung bewahrt hat wie die christ- 
liche. Da steht nicht eine Sagen- oder Mythengestalt 
vor uns kaum hervortretend aus dem grauen Nebel 
der Vorzeit , sondern eine Personlichkeit im hellen 
Licht der Geschichte. Ganz lebensvoll wird uns Jesus 
in dieser Periode gezeichnet und mit ihm die bunte 
Welt, in der er sich bewegte. 

Wir blicken da auf die lachenden Fluren des damals so 
wohlbebauten Galilaa mit seinen sonnenhellen Hohen 
rings um den fischreichen See. Weinberge mit Stein- 
terrassen und oben auf den Hohen der Berge aus Feld- 
steinen erbauteWachtturme, wo der Besitzer zur Ernte- 
zeit, wenn die Stunde drangt, Taglohner zur Arbeit im 
Weinberg mietet. Freundliche Dorfer mit Feigenbau- 
men und Weinstocken, umrahmt von einem dunklen 
Kranz von Olbaumen. Fischer, die damals wie jetzt ihre 
Netze auswerfen, Bauern, die draufien auf dem Felde 
saen und ernten, allesamt in der malerischen Tracht 
des Landes: an den FiiBen Sandalen, die Beine nackt, 
nur ein Hemd am Leib, das ein Gurtel zusammenhalt 
(Matth. 10,9), bei kiihlem Wetter einen Mantel dar- 
iiber. 
Fiir gewohnlich halten sie sich drauBen im Freien auf; 



186 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

abends aber, nach des Tages Last und Hitze, versam- 
melt sich die Familie in dem kleinen Steinhaus mit dem 
einzigen Raum. Man liegt dann, wie man damals zu tun 
pflegte, um den niederen Tisch, wascht die staubigen 
Fufie, trinkt gemeinsam aus einem Kelch, ifit zusam- 
men mit den Fingern aus dem gleichen groBen Holz- 
teller, bricht das Brot und taucht es in Fett oder Suppe, 
wahrend die Hundlein unter dem Tisch von den Bro- 
samen der Kinder essen (Mark. 7, 28). Die Hauptmahl- 
zeit wird stets abends eingenommen und heiBt daher 
noch heute 'Ascha, das Nachtmahl. Jesu Mahlzeiten 
mit seinen Jungern waren also stets ein Abendmahl, 
wie die heilige Mahlzeit der Christen sich heute noch 
nennt. 



Naturlich lieBe sich dies Leben, das spater Vorbild fur 
unzahlige Menschen wurde, ebensogut in anderen 
Himmelsstrichen, in einer anderen Gesellschaft und 
unter anderen Formen denken. Jesus hatte sein Werk 
der Liebe auch in dem Gewimmel irgendeiner GroC- 
stadt ausfuhren konnen. Aber der historische Jesus 
lebte und wirkte nun einmal in dieser Welt. Wie Ba- 
bylon das Zentrum der vorderasiatischen Kultur war, 
Athen und Rom die Knotenpunkte bildeten, von denen 
die klassische Bildung ausging, so wurde der Grund zu 
Jesu Reich, das sich uber fast den ganzen Erdboden 
ausbreiten sollte, unter der einfachen Bauern- und 
Fischerbevolkerung am See Genezareth gelegt. Daher 
spiegelt sich das Leben dieses Volkes beinahe in jedem 
Blatt von Jesu Geschichte. 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 187 

Wer den Dichter will verstehn, 

MuB in Dichters Lande gehn. 

Man versteht Jesu Leben und Lehre nicht, ohne diese 
auBeren Formen man hat sie das fiinfte Evange- 
lium genannt zu kennen, in denen es sich abspielt. 
Sie sind allenthalben in Jesu Worte und Leben einge- 
flocbten und bilden fur den Historiker unschatzbare 
Zeugnisse fur die Echtheit der Uberlieferung. 



Nicht allein diese Statte hat mit echt palastinensischem 
Lokalkolorit auf die Jesusuberlief erung abgef arbt, auch 
die Zeit hat unverkennbar den Berichten der Evange- 
lien ihren Stempel auf gedruckt. 

Zu diesem Zeitkolorit gehort nicht nur die Messias- 
mythologie, sondern all der Wunderglanz und die inar- 
chenhafte Beleuchtung, die mehr und mehr im Lauf der 
Zeit die Jesusuberlieferung umgab, am wenigsten in 
dem altesten Evangelium des Markus, schon starker in 
den spateren des Lukas und Matthaus und am stark- 
sten in der jungsten dieser Schriften, dem sogenannten 
Johannesevangelium, und in den noch spateren apo- 
krjrphen Evangelien. Wir kennen Jesus ausschliefilich 
aus den Berichten seiner Zeitgenossen und nachsteii 
Nachfahren und sehen ihn gerade deshalb heute viel- 
fach einseitig durch die Brille seiner Zeit. 
In den Augen des heutigen Lesers mit seiner gesetz- 
mafiigen Naturauffassung nehmen sich die vielen Mi- 
rakel gar wunderlich aus, sie schwachen das Ver- 



188 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

trauen in die Glaubwiirdigkeit der Berichte und muten 
fremd und unverstandlich an wie iiberhaupt manche 
lokalen Ziige. Aber fiir das historisch geschulte Auge ist 
gerade diese Zeitfarbung ein Beweis fiir die Echtheit 
der trberlieferung; sie zeigt, dafi die Berichte nicht aus 
einer andersgearteten und spateren Zeit stammen. Das 
Lokalkolorit fuhrt den Historiker nach Palastina, die 
Zeitfarbung fiihrt ihn in der Geschichte unserer Kultur 
an die 2000 Jahre zuruck. 

Fiir das Auge des damaligen Menschen war das ganze 
Leben voll von Wundern und Mirakeln; Literatur und 
Geschichtschreibung sind damit durchsetzt, das Mar- 
chen fiir uns eineMischung von Phantasie und Wirk- 
lichkeit war der lebendige Ausdruck der Naturauf- 
fassung der Zeit und daher die gewohnliche Form der 
Erzahlung. Als eine Hauptform literarischen Stils ubt 
es noch heute eine grofie Anziehungskraft auf das Kind 
aus, eben weil es aus der Kindheit des Menschenge- 
schlechts stammt. Erst die moderne Naturwissenschaft 
hat uns ja die Augen geoffnet fiir die streng gesetzmafii- 
gen Zusammenhange in der Natur; damals erblickte 
man in jeder ungewohnlichen Erscheinung den Ein- 
griff einer ubernatiirlichen Macht. 
Selbst die allerniichternste Geschichtschreibung aus 
jener Zeit zeugt von dieser Tatsache; aber am starksten 
begeben wir uns in ihren Bann, wenn wir die Volks- 
uberlieferung in religioser Rede von Heilungen oder 
ahnlichen Wunderdingen sprechen horen. 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 189 

Es liegt in der Natur der Sache, dafi die Religion tief im 
Mystischen und Unerklarlichen wurzelt. Ganz beson- 
ders umgab die Religionsgeschichte der damaligen Zeit 
die grofien Religionsstifter und Lehrer der Menschheit 
mit einem mystischen, beinahe magischenGlanz. Schon 
wenige Jahrhunderte danach beginnen diese Zuge zu 
schwinden von Muhammed z. B., der doch in Jesu 
Nahe, unter der gleichen Rasse und im selben Kultur- 
kreis lebte, berichtet der Koran iiberhaupt keine Wun- 
der , aber von Apollonios von Tyana in Kappadokien, 
jenem Wanderprediger und Theosopben aus dem glei- 
chen Jahrhundert wie Jesus, der wie Jesus nach sei- 
nem Tode in zahlreichen Tempeln, die man ihm zu 
Ehren errichtete, als Gottes Sohn verehrt wurde, er- 
zahlte man sich Damonenaustreibungen, wunderbare 
Heilungen und Totenerweckungen. Wie Jesus nach 
dem 5. Kapitel des Markusevangeliums die Tochter des 
Jairus vom Tode erweckt haben soil (1), so wird von 
Apollonios beispielsweise erzahlt, dafi er auf der Strafie 
in Rom einem Leichenzug begegnet sei, in dem man ein 
junges Madchen zu Grabe trug. Er trat an die Bahre, 
legte die Hande auf das Madchen und murmelte einige 
unverstandliche Worte. Sogleich erhob sich die Tote, 
fing zu reden an und kehrte nach Hause zuriick. 
Dem Propheten Simon aus Samaria, der gleichzeitig mit 



(1) Die kirchliche Betrachtungsweise sieht iibrigens in dieser 
Begebenheit zu TJnrecht eine Totenerweckung. Nacb. dem ur- 
spriinglicben Wortlaut des Bericbtes handelt es sicb um eine 
todesabnlicbe Obnmacbt oder um einen tiefen Schlaf. Jesus 
sagt ja ausdriicklicb: Das Kind ist nicht gestorben, sondern 
es schlaft. (Markus 5, 39.) 



190 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Jesu Aposteln wirkte, unter Kaiser Claudius (41 54) 
nach Rom kam und auch in der Apostelgeschichte 
(Kap. 8) erwahnt wird, schrieben seine Zeitgenossen 
mancherlei Wundertaten zu, so dafi er bald unter dem 
Namen Magier oder Wundertater bekannt war; 
uberhaupt zirkulierten in Palastina in jener Zeit eine 
ganze Reihe verschiedener Wunderberichte, die sich als 
sogenannte Wanderlegenden bald an den, bald jenen 
grofien Namen kniipften. 



Wonder waren die Losung der Zeit. Wie die Messias- 
mythologie sich ein festes Schema geschaffen hatte, das 
auf jede Messiasgestalt Anwendung fand, so erschuf 
sich auch die nach Wundertaten und Mirakeln durstige 
Zeit in ihrer Geschichtschreibung eine Reihe feststehen- 
der Formen fur die Wunder, die sich einer jeden groflen 
Gestalt anhefteten. Wir haben es da mit fremden Be- 
standteilen zu tun, die wie die Jungfrauengeburt von 
aufien in die Jesusuberlieferung im Lauf der Zeit star- 
ker und starker eindringen. Diesen Stoff hat nicht allein 
der Zeitgeist Palastinas, sondern derjenige der ganzen 
damaligen Kulturwelt erzeugt. 

Die moderne Forschung hat in den letzten Jahrzehnten 
Material zutage gefordert, durch das sich ganz schla- 
gend beweisen lafit, dafi die neutestamentlichen Schrif- 
ten auch hier von fremder heidnischer Literatur be- 
einfluBt sihd. Wir stehen da vor dem Ratsel so 
schreibt der deutsche Religionshistoriker R. Reitzen- 



JESVS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 191 

stein , dafi ernsthafte, tief religiose Manner bewufite 
Falschungen begehen, ohne selber den darin liegenden 
Betrug zu fuhlen. Was fur uns ein Ratsel ist, war 
fur die damalige Zeit eine Selbstverstandlichkeit. Stand 
Jesus wirklich was aus der echten Jesusuberlieferung 
deutlich genug hervorgeht in einem Verhaltnis von 
einzigartiger Innigkeit zu Gott und trat er als sein Stell- 
vertreter auf Erden auf, so muBte sich dies Verhaltnis 
notwendig in der Herrschaft uber die Naturgesetze aus- 
wirken, in die Gott nach der damaligen Anschauung 
von Zeit zu Zeit eingriff. Die Welt war diesen Menschen 
ein Uhrwerk, Gott der Uhrmacher, der dazwischen ein- 
mal in den Mechanismus eingriff, urn ihn nach Wunsch 
laufen zu lassen. Die Einfugung von Wundern in die 
Uberlieferung geschah daher in gutem Glauben. 
Die Mirakel des Neuen Testaments sind nach dem jetzt 
vorliegenden Material nicht, wie man fruher meinte, 
eine Besonderheit der Urgeschichte des Christentums. 
Denn sie werden uns keineswegs nur von Jesus und 
seinen Aposteln berichtet. Die gleichen oder ahnliche 
Wunder sind ebensogut fur andere Personen des glei- 
chen Zeitraums geschichtlich bezeugt. Will man an die 
der Natur widerstreitenden Wunder der Bibel glauben, 
so mufi man auch an die Wunder glauben, von denen 
die gleichzeitige nichtbiblische Uteratur berichtet. 
Aber sie haben nichts mit Geschichte zu tun, sie stellen 
nur die Ausschmuckung der Historic dar, nach der die 
Zeit verlangte. 



192 JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 

Jesu Stellung gegenuber der Wundersucht seiner Zeit 
1st deutlich genug. Seine ganze Personlichkeit strahlt 
kraftvolle Geschlossenheit und Abscheu vor Mystik in 
jeder Form wider. Als man einstens ein solches Wun- 
der oder Zeichen vom Himmel von ihm verlangte, da 
seufzte er auf und sprach: Was sucht doch dies Ge- 
schlecht Zeichen? Wahrlich, ich sage euch: Es wird 
diesem Geschlecht kein Zeichen gegeben werden 
(Mark. 8, 12). 

Dies Jesuswort entstammt nicht nur der altesten und 
besten Uberlieferung von Jesus, sondern tragt auch in- 
haltlich denStempel unzweifelhafterEchtheitansich.Es 
zeugt mit voller Klarheit von dem Jesus, wie er wirklich 
war. Es kann keine tendenziose Erfindung der Zeit sein; 
denn es widerspricht ja durchaus dem ganzen Zeitgeist. 
Wir haben bier einen der vielen Beweise vor uns, wie 
erstaunlich rein doch die echte, ursprungliche Jesus - 
iiber lief erung sich trotz aller spateren Zusatze bewahrt 
hat. Mitten in dem Gewimmel all der Zeichen und 
Wunder, die da von Jesus erzah.lt werden, stofien wir 
ganz plotzlich auf den Jesus, der die Wundermanie der 
Zeit aufs scharfste verurteilt und fur seine Person ganz 
entschieden ablehnt. 

Jesus nimnit in dieser Frage die gleiche Stellung ein 
wie ein paar Jahrhunderte spater Muhammed. Auch 
der grofie Prophet der Araber wurde von alien Seiten 
mit Aufforderungen bestiirmt, Zeichen und Wunder zu 
tun, weil ja auch fruhere Propheten, so auch Jesus nach 
der Schrift, Wundertater gewesen seien. Muhammed 
weist da aber gleich Jesus auf Krafte von geistiger 
Art bin, auf unbedingten Glauben und auf Gottver- 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSGHAFT 193 

trauen. Gott wirkt auch fur ihn nicht naturliche, son- 
dern geistige Wunder mittels geistiger Offenbarungen. 



Einen Aiihaltspunkt fur ihren Wunderglauben fanden 
Jesu Zeitgenossen in den vielen Krankenheilungen, die 
er tatsachlich ausfuhrte,und die die damaligeZeitgleich 
mit dem Schein des Wunderbaren umgab. Von einem 
Messias erwartete damals ein jeder Kranke Heilung, 
und Jesu grofie Liebe zu den Kranken und Schwachen 
und die gewaltige Autoritat, die von ihm ausging, be- 
wirkte im Verein mit dem unbedingten Glauben und 
Zutrauen der Kranken, dafi Jesus in all den Fallen, in 
denen geistige oder seelische Einwirkung eine Heil- 
wirkung ausiiben kann Nerven- oder Geisteskrank- 
heiten, manche Arten von Lahmung, Epilepsie u. a. , 
wirklich Heilungen herbeigefuhrt hat, die seiner Zeit 
wunderbar erscheinen muBten. Die ubliche Bezeich- 
nung der damaligen Zeit fur solche Krankheiten war 
*von bosen Geistern besessen sein, und Jesu Spe- 
zialitat* als Arzt war, solche bosen Geister auszutrei- 
ben, ein Fachgebiet, das er auch seinen Jungern uber- 
trug (Matth. 10, 1). Dafi sich die Kranken mn jemanden 
drangten, der als Messias in einem besonders nahen 
Verhaltnis zu Gott stand, dafi sie sich an ihn klammer- 
ten, ihn baten und besturmten, sie zu heilen, und oft 
auch Heilung fanden, ist nicht nur aus Jesu Leben be- 
kannt. 

Im Orient wurde der romische Casar auch als Gottes 
Sohn verehrt, und als der Kaiser Vespasianus i 

Nielsen, Der geschichtliohe Jesus 13 



194 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Jahre 70, wenige Jahrzehnte nach Jesu Tod, sich in 
Alexandria aufhielt, da drangte sich z. B. ein blinder 
Mann aus dem Volke und ein anderer, der eine lahme 
Hand hatte, zu ihm hin, sie umfaBten seine Knie und 
baten ihn um Heilung. Vespasianus heilte sie beide, 
und zwar den Blinden, in dem er ihm mit seinem Spei- 
chel die Augen netzte. 

Diese Szene, die von durchaus glaubwiirdigen Quellen 
bezeugt wird, von Tacitus uberdies noch mit der Be- 
merkung, dafi diejenigen, die dabei waren, doch jetzt, 
da sie davon erzahlen, keinerlei Interesse daran batten, 
zu liigen (Historien 4, 81), erinnern lebhaft an die Hei- 
lung des blinden Bartimaus durch Jesus bei Jericho 
(Mark. 10, 46 ff.) und an diejenige eines anderen Blin- 
den, den Jesus ganz auf dieselbe Weise gesund machte, 
indem er in seine Augen spiitzte und seine Hande auf 
ihn legte* (Mark. 8, 23). 

Bei solchen Heilungen sagte Jesus gern zu dem Gene- 
senden: Dein Glaube hat dir geholfen. Ohne Glauben 
oder Vertrauen kann namlich, wie jeder Arzt weiC, 
keine Heilung stattfinden (1). Wo dieser Glaube nicht 
da ist, wie z. B. bei Jesu Besuch in Nazareth (Mark. 6), 
da kann Jesus auch keine Wunderheilungen ausfuhren. 
Der bekannte Historiker Eduard Meyer bemerkt rich- 
tig, dafi diese Zuge wiederum ein Beispiel dafur sind, 
wie erstaunlich zuverlassig sich die ursprungliche und 
beste Jesusuberlieferung inmitten der spateren Ver- 



(1) Dieser Glaube und seine Belohnung wird spater von der 
Kirche ganz im Widerspruch mit dem Zusammenhang als 
Glaube an die kirchlichen Dogmen und ihre Segnungen ge- 
deutet. 



JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 1Q5 

falschungen bewahrt hat. Keiner von den Spateren 
ware ja auf den Gedanken gekommen, daB es uberhaupt 
Grenzen fiir Jesu Wunderkraft geben konne. 



Jesu heilende und helfende Tatigkeit, die uns noch 
heute die besten Mittel zur Linderung fiir die leidende 
Menschheit liefert, dauerte verhaltnismafiig wenige 
Jahre. Der Bericht dariiber ist uns in kleinen Erzah- 
lungen erhalten, von denen jede fiir sich als abgeschlos- 
senes Ganze im Volke lebte, bis sie im Lauf von etwa 
20 bis 30 Jahren zu Papier gebracht wurden. Die Evan- 
gelienschreiber haben nicht versucht, diese kleinen Be- 
richte in ein festes chronologisches System zu bringen, 
sondern sie ordnen sie auf verschiedene Weise nach 
sachlichenGesichtspunkten. IhreSchriften sind ja keine 
Biographien, sondern Missionsschriften. 
Daher sehen wir sie nun in der Bibel vor uns als ein 
buntes Mosaik kleiner Steine, die auf verschiedene Fa- 
den aufgereiht sind. Aber jedes dieser kleinen Stiicke 
tragt an sich das Geprage echter palastinensischer 
Volksuberlieferung, es bietet genaue Orts- und Situa- 
tionsbestimniungen und fuhrt in der Erzahlung na- 
mentlich Personen ein, die sonst keinen Platz in der ge- 
schichtlichen tJberlieferung haben, weil sie zu denen 
gehoren, deren Geschichte nicht geschrieben wurd, die 
aber doch zweifellos ebenso existiert haben wie die- 
jenigen Gestalten aus dem Evangelium, die wir aus der 
Weltgeschichte kennen (Herodes Antipas, Pilatus usw.) 
Zusammengesetzt geben diese kleinen Stiicke aus der 

13* 



if 



196 JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 

Bibel der Urgemeinde ein vortreffliches Bild von Jesus 
in seiner Vollkraf t und damit auch vom Urchristentum. 
Man kann eine ganz verschiedene personliche Stellung 
zu diesem Ghristus einnehmen, man kann ihn abweisen 
oder annehmen; aber man kann ihn nicht aus der Ge- 
schichte streichen, sich nicht damit entschuldigen, daB 
die Uberlieferung uber seine Person so unsicher ist, dafi 
inan im Grunde nicht recht weiB, wie es urn seine Ge- 
schichtlichkeit bestellt 1st. Jesus ist hier mit einer sol- 
chen Klarheit gezeichnet, daB man noch heute seinen 
Rat in jeder Sache, sei es personlicher, politischer oder 
sozialer Art, einholen kann. Es mag vielleicht schwer 
sein, dem Rat zu folgen, der einem da zuteil wird; aber 
die Antwort lautet deutlich genug. 



Fragen wir Jesus nach der besten Ordnung dermensch- 
lichen Gesellschaft, so erhalten wir eine Antwort ohne 
Umschweife; das heiBtin der Gesellschaft, wie sie Jesus 
grundete, und wie sie dann in der christlichen Urge- 
meinde fortbestand, gibt es keine nationalen Schran- 
ken, keine Ober- und Unterschicht, nicht Volkerhafi 
noch Klassenkampf, es gibt nur eine weltumspannende 
Bruderschaft. 

Ein jeder Mensch, er sei Mann oder Frau, Kind oder 
Erwachsener, gleichviel welcher Nation, welchen Ran- 
ges oderStandes,heifit meinBruderundmeineSchwester 
und hat darum berechtigten Anspruch auf meine Hilf e. 
Niemals kann mein Nachster mir zum Feinde, zum 
Kiiecht oder Sklaven werden, kraft seiner Menschen- 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 197 

wurde 1st er allezeit mein ebenbiirtiger Bruder, der das 
gleiche Anrecht auf die Guter des Lebens besitzt. 
Zum erstenmal in der Geschichte der Kultur begegnen 
wir bier einer Gesellschaftsordnung, die man als eine 
Religion der Briiderlichkeit bezeichnen kann. Diese 
Gesellschaftslehre, erstmals in die Wirklichkeit iiber- 
gefiihrt durch die christliche Freikirche der ersten Zeit, 
hat ganz allmahlich nach und nach die Gesellschaft in 
den christlichen Landern umgebildet, sie hat die Auf- 
hebung der Sklaverei bewirkt, hat dem unterdriickten 
niederen Volke einen Platz an der Sonne verschafft, 
wuf de bei der Franzosischen Revolution in der juristi- 
schen Form der Lehre von den Menschenreehten pro- 
klamiert, hat spater die modernen Schlagworte: Frie- 
densbewegung, Arbeiterbewegung, Frauenbewegung 
und Jugendbewegung pragen helfen und steht noch 
heute aufrecht als das grofie Ziel menschlicher Gesell- 
schaftsordnung, erstrebt von machtjgen politischen 
Parteien, aufgenommen und wissenschaftlich unter- 
baut von der modernen Gesellschaf tsordiiung, die durch 
ihre empirischen Studien zu dem gleichen Resultat ge- 
kommen ist wie Jesus durch den hellen Blick des Ge- 
nies (1). 



(1) Auf aufierliche Mittel und Wege zu einem auf Interessen- 
gemeinscliaft gegriindeten Volkerbund und auf dauernden Fjie- 
den unter den Nationen sann unter anderen auch der Pipnier 
der modernen Friedensbewegung Immanuel Kant, der noch als 
alter Mann im Jahre 1795 sein beruhmte.s Werk schrieb: Zum 
ewigen Frieden. Die tjberemstimmung der modernen Ge- 



198 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Die Religion der Briiderlichkeit ist kerne andere als die, 
die im vorigen Abschnitt als Jesu Religion* gekenn- 
zeichnet wurde. Es ist die gleiche Religion oder besser 
die nach auflen gekehrte Seite von Jesu Vater-Religion. 
Wenn die ubersinnliche Macht, an die sich der Mensch 
im Gebet wendet, der barmherzige Vater nicht allein 
fiir ihn oder sein Volk, sondern fur die ganze Mensch- 
heit ist, so kann sein Verhaltnis zu alien anderen Men- 
schen kein anderes sein als ein Bruderverhaltnis. Er 
kann nicht Rube finden in dem religiosen Vaterverhalt- 
nis, das nacb dem Ausweis der Geschichte zu einer so 
ungeheuren Bedeutung als lebendige Kraft im Leben 
der Menschen gelangt ist, ohne daB er sich bemuht, 
jedem Nachsten ein wahrer Bruder zu werden, ebenso- 
wenig wie er ein Sohn seines irdischen Vaters heifien 
kann, ohne dessen anderen Kindern ein Bruder zu sein. 
Man hat wohl viele tausend Bogen Papier uber Jesus 
und seine Lehre vollgeschrieben; aber es ist kaum je 
mit genugendem Nachdruck hervorgehoben worden, 
daU Jesus als Aufruhrer gegen die bestehende Gesell- 
schaftsmoral mit einer ganz neuen und revolutionaren 
Gesellschaftslehre auftrat. Das Wort Revolution hat fur 
viele einen bosen Klang; aber Jesus war in der Tat der 
gr6I3te Revolutionar, der je gelebt hat. Jesu Gesell- 
schaftslehre wurde gleich einer Dynamitbombe in alle 
bestehenden Staaten dreinfahren miissen, sobald dort 



sellscliaftsforschiiBg mit Jesu Lehre ist schlagend nachgewiesen 
worden von dem norwegischen Eulturhistoriker Chr. Collin 
in den beiden Buchern: Brorskabets Beligion 1912 (Die Keli- 
gion der Briiderlichkeit) und Den hvite Hands sidste Chance 
1921 (Die letzte Hoffnung der wei^en Easse). 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 199 

einmal das Ghristentum ernsthaft eingefiihrt werden 
wiirde; hat sie ja schon seit des Meisters Tode wie eine 
Saure gewirkt oder um ein Lieblingswort Jesu zu 
gebrauchen wie ein Sauerteig, der langsam die 
Staaten mit ihren bestehenden Gesellschaftsformen 
durchsetzt und auflost und allenthalben eine neue Ge- 
sellschaft mit neuen Formen bildet. 
Die Ausgrabungen in Vorderasien und Agypten haben 
unsere historische Kenntnis 6000 7000 Jahre zuruck- 
schauen lassen, andere Ausgrabungen zeigen uns Spu- 
ren des Menschen und seiner Tatigkeit bis zirka 100 000 
Jahre zuriick und solche von prahistorischen Tieren 
und Pflanzen in noch fruherer Zeit. In all diesen un- 
geheuren Zeitraumen ist wie Darwin gezeigt hat 
der Kampf urns Dasein oder das Gesetz der Macht das 
oberste Gesetz fur alles organische Leben gewesen. Die 
starkeren Pflanzen und Tiere unterdriickten die 
schwacheren, und als der Mensch sich zum Herrn der 
Erde machte, war es ebenfalls das Gesetz der Macht, in 
dessen Dienst er seine Intelligenz stellte, um sich neue 
kunstliche Machtmittel zu verschaffen. 
Seitdem hat kein Raubtier so schrecklich gegen sein 
eigenes Fleisch und Blut gewiitet wie der Mensch. Der 
Mensch ist uberall auf Erden des Menschen schlimm- 
ster Feind. Wohin nur irnmer der Mensch auf Erden 
konunt, da braucht man nicht lange nach ihm zu 
suchen. Ein breiter Strom von Menschenblut bezeich- 
net seinen Weg, am rotesten dort, wo die Kultur am 
hochsten steht und daher die Kriegsmittel am ent- 
wickeltsten sind. 



200 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Diesem uralten Weltgesetz von Gewalt und Unter - 
druckung, das auf Erden herrschte, seitdem das erste 
Raubtier die Klauen seinem Widersacher ins Fleisch 
bohrte, bis zu der Zeit, da das gewaltige Romerreich zu 
Jesu Zeit alle kleinen Staaten niedertrat, stellt nun Je- 
sus eine neue Weltordnung entgegen, die alien Schwa- 
chen und Leidenden in der Welt helfen will. Von Stund 
an steht das Gesetz der Uebe gegen das Gesetz der 
Macht. 

Dieser strikte Gegensatz zur Welt ist es, den beinahe 
jedes Blatt des Neuen Testaments einscharft. Dem Kai- 
ser, als dem Reprasentanten der weltlichen Macht, tritt 
der Prophet gegenfiber, der eine geistige Macht ver- 
korpert. Der auBeren Gewalt der Faust wird eine inner- 
liche unsichtbare gegenubergestellt: Nachstenliebe 
gegen Selbstsucht, das Ideal des Dienens gegen Herren- 
tum und Herrscherideal. In dem neuen Reich gilt nicht 
der Herr am meisten, der fiber andere gebietet, sondern 
der demutig dienende Knecht, der den andern zu helfen 
bestrebt ist. In dem Reich, das nicht von dieser Welt 
ist, gelten fiberhaupt ganz andere Gesetze als in den 
Reichen dieser Welt. Jesus ist sich voll bewufit, dafi er 
der Weltenwicklung etwas ganz Neues einffigt, daB er 
als Aufrfihrer ein neues Reich grfindet, das sich in 
offenem Widerspruch zu der bisher geltenden Weltord- 
nung befindet. Ausdriicklich sagt er zu seineh Jiingern 
(Mark. 10, 4244): 

Ihr wisset, daB die, so als Herrscher fiber die V61- 
ker gelten, Macht fiber sie haben und die GroBen 
unter ihnen Gewalt fiber sie. Aber also soil es unter 
euch nicht sein, sondern welcher will groB werden 



JESUS ALS ERNEUERBR DER GESELLSCHAFT 201 

unter euch, der soil euer Diener sein; und welcher 
unter euch will der Vornehmste werden, der soil 
aller Enecht sein. 



Jesu Vater -Religion leitet eine neue Epoche in der Reli- 
gionsgeschichte ein, weil Gott nun nicht niehr der des- 
potische Herrscher Oder der Tyrann ist, sondern der 
barmherzige Allvater, und der Mensch nicht inehr ein 
wertloser Sklave oder Untertan, sondern das Kind des 
Allvaters, ein gottbegnadetes Wesen, das Ewigkeitswert 
besitzt. 

Ebenso zog mit der heueh Gesellschaft, die Jesus um 
sich erschuf, eine neue soziale Ara herauf, ein Ge- 
sellschaftsleben, das nicht mehr auf riicksichtslose 
Gewalt und Unterdruckung der Schwachen gegriindet 
war, sondern auf gegenseitige Hilfe. Auch derSchwache 
hat an der Gotteskindschaft teil, auch er tragt Gottes 
Odem in sich und soil darum Freund und Bruder 
heiCen. 

In diesem Reich ist nicht der Mensch des Menschen 
schlhnmster Feind, er ist sein bester Freund, und des- 
halb gingen auch alsbald und von nun an aus diesem 
neuen Reich eine ganze Reihe von Reformatoren der 
Gesellschaft hervor, die mm seit bald 2000 Jahren ein- 
ander ablosend sich biemuhen, der Gesellschaft in den 
christlichen Landen ein heues Gesicht zu gebeh. 



202 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Der Buddhismus hat es niemals vermocht, die Unge- 
rechtigkeiten der Gesellschaft zu bessern, und war des- 
halb schon gar nicht imstande, Indiens Kastenwesen 
aufzuheben; Jesu Gesellschaftslehre dagegen sah es 
als eine ihrer ersten Aufgaben an, die Sklaverei zu be- 
seitigen. Diese menschenunwurdige Einrichtung steht 
uns heute schon so feme, dafi wir es schwer ermessen 
konnen, welch tiefer Rifi durch sie seinerzeit im Ge- 
sellschaftsorganismus klaffte, welch ein kummerliches 
Dasein damals ungeheure Massen von Menschen f uhren 
mufiten. 

Im Altertum wimmelte es im Orient wie in Europa von 
Sklaven; sie begegnen uns im Alten und Neuen Testa- 
ment wie in Griechenland und Rom. Ja, die Gesellschaft 
des Altertums mit ihren Produktions- und Handels- 
f ormen, mit ihren gewaltigen Bauunternehmungen lafit 
sich gar nicht denken ohne solche billigen Arbeits- 
krafte. 

In Israel wie uberall im Orient wurden die Sklaven mit 
dem Vieh zusammen aufgezahlt, fur Platon und Aristo- 
teles und andere der grofiten Geister des Altertums war 
ein Sklave uberhaupt nur ein halber Mensch, beinahe 
eine Sache oder ein Tier, ein Objekt des Handels, un- 
entbehrlich fiir die Gesellschaft, weil man lebendiges 
Werkzeug brauchte. Fiir Jesu Zeitgenossen war der 
Gedanke uberhaupt nicht denkbar, daB diese Einrich- 
tung je aufgehoben werden konnte, und wenn er doch 
auftrat, so betrachtete man so etwas als eine phantasti- 
sche Utopie, ebenso wie heute viele die Friedensbewe- 
gung oder andere Zukunftsideale als verriickt ansehen. 
Jesus stellte sich nun nicht etwa an die Spitze irgend- 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 203 

eines Sklavenaufstandes und gab uberhaupt keine 
f esten Regeln und Vorschrif ten fur den ungeheuer kom- 
plizierten Umbildungsprozefi, der sich notwendig 
machte, wenn man die Sklaverei aus dem Gesellschafts- 
organismus ausmerzen wollte. Und doch hat der histo- 
rische Jesus, dem wir in den Evangelien begegnen, die 
Sklaverei aufgehoben, er und kein anderer. Er war der 
erste, der zwischen Sklaven und Freien keinen Unter- 
schied machte, der sie wie Gleichgestellte und Bruder 
behandelte, wo immer er ihnen begegnete. 
In seinen FuBstapfen sind die ersten christlichen Ge- 
meinden gewandelt, wenn sie Sklaven aufnahmen und 
sie wie Freie behandelten. Die alte Kirche kaufte dann 
Sklaven los und gab ihnen die Freiheit, und viele Skla- 
ven werden als Martyrer verehrt, ja nicht wenige von 
den ersten christlichen Bischofen sind ursprunglich 
Sklaven gewesen. 

Die katholische Kirche des Mittelalters, die das Ghri- 
stentum als Religion und als Gesellschaftslehre ver- 
falschte, schuf auch in diesem Punkte ein Zerrbild des 
Urchristentums. Die Kirche und der Papst verboten ge- 
radezu die Aufhebung der Sklaverei und hielten selber 
Tausende von Sklaven. Der Sklavenhandel mit all sei- 
nen unmenschlichen Grausamkeiten erhielt den Segen 
der Kirche, ebenso wie der Krieg mit seinen Hollen- 
maschinen noch heute von den Dienern der Kirche ge- 
segnet wird (1). 



(1) Koch im Jahre 1487 empfing Papst Innozenz VIII. als Ge- 
schenk nicht weniger als 15000 Eingeborene von Malaga, die 
von den Spaniern zu Sklaven gemacht worden waren. PSpst- 
liche Galeeren zogen aus auf Sklavenjagd, und noch gegen 



204 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Aber zuletzt siegte doch der historische Jesus. Auch in 
ihren schlimmsten Verfallsperioden war der Kirche 
allezeit im Evangelium, in den altesten geschichtlichen 
Zeugnissen von Jesus und seiner Lehre, eine unversieg- 
liche Quelle der Erneuerung und Verjiingung gegeben, 
und dieses Lebensmark war stark genug, die fremden 
heidnischenElemente zu entfernen.Als man zurZeitder 
Reformation die Bibel wieder vornahm, stiefi man all- 
mahlich beim Lesen auch auf den historischen Jesus, 
und auf diese Manner des Protestantismus machte 
seine lebendige geschichtliche Gestalt einen so gewal- 
tigen Eindruck, daJB sie schlieBlich, von seinem Geist 
beruhrt, auf vollige Aufhebung der Sklaverei drangen 
(besonders die Quaker). 

Der historische Jesus ist nicht nur eine Gestalt, von der 
die Geschichte'des Altertums erzahlt, und die eine neue 
Epoche in der Religionsgescbichte eingeleitet hat, son- 
dern ein Mann, der in der Geschichte der menschlichen 
Gesellschaft eine Grofitat getan hat, deren Erinnerung 
unverganglich sein wird. Er und die Seinen haben eine 
Einrichtung aus der Welt geschafft, die uns jetzt so fern 
und fremd ist, daJB allehi die Erinnerung daran ein 
Grausen weckt. Wenn man Zweifeln begegnet an der 
Moglichkeit der Verwirklichung anderer Hauptstiicke 
aus Jesu Gesellschaftslehre, so kann man auf die all- 
mahliche Abschaffung der Sklaverei hinweisen als auf 



Ende des 18. Jahrhunderts gab es zahlreiche papstliche Sklaven. 
Im Kongo hielten die Jesuiten nochi. J. 1666 Sklaven, dieBenedik- 
tiner in Brasilien sogar noch 1864, und in dem grofien nord- 
amerikanischen Sklavenkrieg stand die katholische Geistlichkeit 
auf Seiten der Sudstaaten. 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 205 

etwas, das fur das Altertum schlechterdings unmogiich 
schien und dennoch kraft JesuGeist verwirklicht wurde. 



Auch das Weib hat Jesus aus dem Sklavenstand befreit 
und zur ebenburtigen Gefahrtin des Mannes erhoben. 
Bisher war sie wienoch heute in alien semitischen Lan- 
dern ohne Rechte in Gesellschaft und Ehe gewesen, em 
Gegenstand des Kaufes und Verkaufes gleich einem 
Haustier; Jesus stellte sie in der cbristlichen Ehe wie 
in jeder andern Beziehung dem Manne ebenbiirtig 
an die Seite (Matth. 19). Auch diese Reform Jesu war 
fur seine Zeit eine durchaus revolutionare Tat, Seine 
Anschauungen iiber die Frau erregten iiberall starksten 
Unwillen, selbst seine Jiinger versuchten ja immer wie- 
der, die Frauen wegzuweisen, indem sie, wie Paulus 
und alle ihre Zeitgenossen, der Meinung wafen, daC die 
Frau im Rate der Manner nichts zu suchen habe. Diese 
soziale Reform hob das Kulturniveau des Ghristentums 
hoch iiber das jenige aller andern Religionen und hat in 
neuester Zeit schliefilich zur gesellschaf tlichen Gleich- 
stellung der Frau auf alien Gebieten gefuhrt, trotzdem 
auch hier die Kirche Jesu Lehre getrubt hat und die 
Frau vom Gesellschaftsleben f ernzuhalten suchte. 
Die Kinder, die ja Jesus stets gern urn sich hatte und 
zu sich kommen lieB, sind in der erneuerten Gesell- 
schaft nicht mehr, wie sonst stets im Altertum, unter- 
geordnete Geschopfe, sondern sie werden sogar in mehr 
als einer Hinsicht den Erwachsenen zum Vorbild hin- 
gestellt. Auch hier hat man Jesu bahnbrechendes Re- 



206 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

formwerk erst in neuester Zeit wirksam weitergefuhrt, 
in dem Jahrhundert, das man das Jahrhundert des 
Kindes genannt hat. 

Unter den Stiefkindern der Gesellschaft, die Jesus ganz 
besonders an sich zog, sind die Kranken schon genannt 
worden. Was in jener Zeit ihren Zustand so trostlos 
machte, war weniger die Krankheit selber als die voll- 
standige Verbannung aus der Gesellschaft. Als eine 
durch die Ansteckungsgefahr besonders unliebsame 
Last muBten sie als Ausgestofiene zum Teil fern von den 
Wohnungen der Menschen kummerlich und trostlos ihr 
Dasein fristen. Spater hat dann im Geiste Jesu die 
christliche Gesellschaft Krankenpflege zur Menschen- 
pflicht erhoben und hat damit wiederum einen gewal- 
tigen Schritt auf dem Wege zu wahrer Kultur vor- 
wartsgetan. 



Jesus war allerwege em Mann des Volkes, er vertrat 
allzeit die Sache der Armen den Oberen gegenuber, die 
das gemeine Volk niederzuhalten suchten. So nahm 
auch das alteste Christentum seinen Anfang bei den 
unteren Klassen, und der Kampf um eine bessere und 
gerechtere Verteilung der Guter in der Gesellschaft steht 
noch auf dem christlichen Programm, wenn auch die 
Kirche im Dienste der Staates diesen Punkt vielfach 
vernachlassigt. 

Jesu Gesellschaftslehre deckt sich jedoch keineswegs 
mit dem Programm irgendeiner modernen politischen 
Partei. So hat man z. B. treffend den Unterschied zwi- 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 207 

schen Kommunismus undGhristentum so auszudriicken 
versucht, daC der Kommunist sagt: Was dein 1st, 1st 
mein!, der Christ dagegen: Was mein 1st, 1st deinl Die 
Giitergemeinschaf t, die in Jesu Jiingerkreis und in den 
christlichen Urgemeinden tatsachlich bestand, war 
durchaus auf dem Boden der Freiwilligkeit und des 
Opfersinns erwachsen. 

Die Reichen teilten da mit den Armen, nicht nahmen 
die Armen den Reichen ihren Besj ; tz weg. Die Religion 
der Bruderlichkeit ist gegrundet auf Liebe, nicht auf 
Hafl. Gleich wie Sokrates reformierte Jesus die Gesell- 
schaft nicht durch ZwangsmaBnahmen oder auBere Ge- 
setze, sondern allzeit durch Beeinflussung desEinzelnen 
im Geist der bruderlichen Liebe. 



Da in dieser Religion uberhaupt keinPlatz fur Mifigunst 
und HaB ist, so war aus der neuen Gesellschaft, die 
Jesu Ziel war, nicht nur der KlassenhaB, sondern eben- 
so auch der NationalhaB verbannt. Die antiken Reli- 
gionen waren samt und senders Volksreligionen. Die 
Religion und die Verbruderung, die jene allenfalls er- 
zeugte, gait nur innerhalb der Nation. Das Judentum 
war solch ehie ausgepragte Nationalreligion; Jesus aber 
zerbrach alle nationalen Schranken. 
Gerade deshalb wkkte ja Jesu Religion so bahn- 
brechend, weil in ihr Raum. fur die ganze Menschheit 
war, weil ihre Botschaft alien Nationen gait. Jesus sel- 
ber wirkte unter Juden und Nichtjuden, in Palastina 
und in den Gegenden nordlich davon. Das Ghristentum 



208 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

breitete sich beinahe ebenso schnell gegen Norden nach 
Damaskus zu aus wie im Siiden gegen Jerusalem, es 
wurde nicht nur ein Judenchristentum, sondern auch 
ein Heidenchristentum daraus, und es hat seitdem als 
die alteste und wirksamste Form der heutigen Frie- 
densbewegung mehr und mehr eine Briicke zwischen 
den Nationen gebildet. 

IN DER FESTEN BURG DES F.EINDES 

Auf semen Wanderungen in Galilaa und in dem nord- 
lich davon gelegenen Heidenland hatte Jesus den Grund 
zu seinem neuen Reich gelegt, es blieb ihm nun noch 
die schwerere Aulgabe, sein Reich zu dem Eampf gegen 
die Macht dieser Welt anzufuhren, den es seiner Idee 
nach durchfechten muBte. 

Des Reiches Grundlegung, der erste Akt des offent- 
lichen Wirkens Jesu, stellt sich uns dar als ein fried- 
liches Idyll. Nur noch von fern horen wir den Kampf- 
larm verklingen, der vorausgegangen war, als es zum 
Bruch mit der Mutter, der Familie,.der Heimat gekom- 
men war, was" man aus der schroffen Einstellung der 
Familie und der Landsleute Jesu entnehmen kann und 
aus den bitteren Worten, die seine Antwort sind. Aber 
der Heimatlose fand alsbald seme neue Heimat in der 
Gemeinschaf t, die er grundete, in seinem neuen Reich 
des Friedens. 

Auch das jiidische Volk in seiner Hauptmasse horte 
gern auf den Friedenspropheten. Nur die antiprophe- 
tischen Fuhrer des Volkes, die Theologen und Phari- 
saer, die das Neue in jeder Gestalt, in der es sich hot, 



JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 209 

grundsatzlich ablehnten, bildeten Opposition; aber die- 
ser Kampf war zunachst rein geistiger Art und endete 
darum stets bald mit einem entscheidenden Sieg Jesu. 
Jesus war ja selbst Jude, entstammte einer rechtglaubi- 
gen jiidischen Familie, stand fest zum Monotheismus, 
dem Hauptgrundsatz der Juden, und schlug die prophe- 
tische Richtung ein, die wertvollste in der jiidischen 
Religion. Er schritt in ihr zielbewuBt fort zu grofierer 
Geschlossenheit und innerer Klarheit, aber doch in den 
gewohnten Formen. Als Lehrer des Volkes sprach er 
regelmafiig in der Synagoge und bediente sich in seiner 
Lehrtatigkeit der Bildersprache Oder Gleichnisse, ha- 
maschal, einer Art von Anschauungsunterricht, wie 
er damals allgemein von jiidischen Lehrern gehand- 

habt wurde. 

* 

Hatte sich Jesus mit diesem Wirken als Laienprediger 
in einer abgelegenen Provinz begniigt, so ware seine 
Lehre niemals zur Wel^eligion geworden. Sie hatte 
wohl als Losung einer jiidischen Sekte noch eine Zeit- 
lang weiterbestanden, ebenso wie die Religion des Tau- 
fers auch. Der hatte ja niemals den Zug gegen die 
Hauptstadt gewagt, der allein seine Religion hatte 
tiefere Wurzeln schlagen lassen und sie aus einer Pro- 
vinzreligion zum Bekenntnis der Hauptstadt und zur 
Weltreligion hatte machen konnen. 
Jesus zog nach Jerusalem, nicht um als Opferlainm fiir 
unsere Schuld zu leiden und zu sterben wie Kirche 
und Bluttheologie behaupten , sondern um unter Ge- 
fahr des Lebens seine Religion mitten ins feindliche 

Nielsen, Der geschicbtlidie Jesus 14' 



210 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Hauptquartier zu fuhren, um im Tempel, dem einzigen 
Heiligtume der Juden, zu reden, um seine Lehre der 
Obrigkeit seines Volkes vorzustellen, und schliefilich 
um seine Standarte mitten unter den romischen Le- 
gionsadlern aufzupflanzen. Der Missionseifer fuhrte Je- 
sus nach Jerusalem, die unbandige Energie, der.un- 
widerstehliche Drang zu wirken, der das Kennzeichen 
echter semitischer Kultur und auch das Kennzeichen 
von Jesu Religion war, und der auch das Kennzeichen 
wahrer christlicher Kultur wurde. Die Kraft, die Jesus 
nach Jerusalem trieb, war die gleiche, die spater Luther 
nach Worms drangte, und die noch heute christliche 
Reformatoren und Missionare fur ihre Sache in den 
Kampf schickt. 



Jesu Anhang hatte bereits ungeheuer zugenommen. 
Cberall drangte sich das Volk in dichten Scharen um 
ihn. Um unangefochten nach Jerusalem zu kommen 
und nicht vorzeitig als Volksaufwiegler. in die Hande 
der Regierung zu fallen, zog Jesus nicht auf dem ge- 
wohnlichen Weg durch Samaria, den die Jerusalem- 
pilger in der Regel benutzten (1), sondern auf einem 
Umweg durch die Wuste jenseits des Jordans. Es wu*d 
in der tJberlieferung kein Hehl daraus gemacht, dafi es 
ein gefahrliches Wagestuck war, mit einer solch kleinen 
Karawane eme ganze Stadt erobern zu wollen. Seinen 



(1) Fl. Josephus: >die Galilaer, die zu den Festen Bach Jerusa- 
lem zogen, pflegten ihren Weg duich Samaria ^u nehmen. 
(Judische Altertumer 20. Buch, 6. Kap.) 



JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 211 

Jungern und sonstigen Anhangern wird es angst und 
bange (Mark. 10, 1 und 32). 

Der Einzug in Jerusalem gestaltet sich indes zu einer 
Messiashuldigung groflen Stiles (2). Das Volk ergreift 
jetzt, wie es sonst auch immer getan, offen Partei fur 
Jesus, es wird von dem Inhalt seiner Lehre mitgerissen 
und hort ihn gerne (Mark. 11, 18; 12, 37). Auch spater 
wagte man in Jerusalem riicht, Hand an ihn zu legen, 
aus Furcht vor dem Volke (Mark. 14, 2; Matth. 21, 46). 
Beim Einzug hatte ja eine richtige Volkserhebung statt- 
gefunden, man hatte Jesus gehuldigt als Ben David 
(Sohn Davids), als dem ersehnten Befreier aus der 
Fremdherrschaft, die Stadt war hi hellen Aufruhr ge- 
raten, selhst Kinder hatten im Tempel Jesus als dem 
Messias gehuldigt (Matth. 21, 11 15). Kaum glaublich, 
daB dies selbe Volk spater gerufen haben soil: Kreuzige 
ihn! Jesus war wie der Taufer ein Mann des Volkes; 
dem Judenvolk die Schuld an seinem Tod zu geben, ist 
ebenso ungerechtfertigt, wie wenn man es fur den Tod 
desTaufers verantwortlich machenwollte. Stetsdrangte 
sich das Volk scharenweise um Jesus, es hing ihm an 
und trauerte uber seinen Tod (Luk. 19, 48; 21, 38; 23, 48). 



(2) Jesus ging am Tag seines Einzugs gleich in den Tempel 
und sah sich uberall um. Diese Bemerkung, die uns Markus 
(11, 11) allein uberliefert hat, zeigt, dafi Jesus da zum ersten- 
mal in Jerusalem ist. Auf jeden Fall ist die Darstellung dea 
Johannesevangeliums unrichtig, nach der Judaa und Jerusalem 
der Hauptschauplatz von Jesu Wirken waren und die Reisen nach 
Galilaa nur Unterbrechungen. Das Land der hauptsachlichen 
Wirksamkeit Jesu ist nach den drei ersten Evangelien Galilaa, 
erat zuletzt wagt er den Vorstofi nach Jerusalem, der Din das 
Leben kostet. 

14* 



212 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Kirche und Schule verbreiten falsche Vorstellungen von 
Jesu Verurteilung. Das Urteil erging nicht vom judi- 
schen Volke, und die Ursache zu dem Urteil war gewifi 
nicht der Abstand der Religion Jesu von der judischen. 
In Galilaa fand Jesus stets Beifall, wenn er die Buch- 
stabenreligion der Pharisaer als dem wahren Geist der 
judischen Religion widerstreitend zuruckwies, und 
selbst in Jerusalem unter den Obersten des Volkes er- 
wies sich Jesu Lehre als unangreifbar vom Standpunkt 
der judischen Religion aus. 

Die Dberlief erung hat uns aus Jesu Auf enthalt in Jeru- 
salem, der den zweiten Akt seines Wirkens darstellt, 
Gesprache zwischen Jesus und den fuhrenden Mannern, 
Hohenpriestern und Theologen und judischen Partei- 
fuhrern, Herodianern, Sadduzaern und Pharisaern er- 
halten, bei denen kein Wort aus Jesu Munde dazu an- 
getan war, AnstofJ zu erregen. Die romerfeindliche 
Partei, die auf eine politische Aktion hinwirkte und die 
Entrichtung der Steuern verweigerte, wurde scharf von 
ihm zurechtgewiesen durch das Wort vom Zins- 
groschen, die romerfreundlichen Sadduzaer, die hohe- 
priesterliche Partei, die dieses Lebens Giiter genoB, 
ohne an ein Auferstehen nach dem Tode zu glauben, 
wurde iiber die Wirklichkeit eines ewigen Lebens be- 
lehrt. Einer von den Theologen, der an Jesu Antworten 
Gefallen hatte, fand sich mit ihm darin einig, dafi die 
sogenannte Schema, das Gebot des Glaubens an den 
Einen Gott samt der Liebe zu Gott und dem Nachsten, 
das vornehmste und wichtigste von alien Geboten sei 
(Markus 12). 
Was hier in Jerusalem AnstoB erregte, war nicht Jesu 



JESUS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 21$ 

Religion, sondern das zunehmende Ansehen und die 
wachsende Macht des Volksfiihrers Jesus. So hat Jo- 
sephus ja auch als Ursache der Hinrichtung des Taufers 
die Furcht davor bezeichnet, dafi sein grofier EinfluB 
auf die Masse zu einem Auf stand fiihren konnte. Die 
gleiche Furcht f uhrt auch zu Jesu Verurteilung. Nicht 
das judische Volk hat Jesum gekreuzigt, sondern weil 
er ein Mann des Volkes war, bewundert und geliebt 
vom jiidischen Volk, hat man ihn getotet. 
Das Urteil kam von den Romern, den Unterdruckern des 
jiidischen Volkes. In die Hand gearbeitet wurde ihnen 
dabei vom Hohenpriester, der von den Romern einge-r 
setzt war, und von der von den Romern abhangigen 
Priesterschaft des Tempels. Den aufieren AnlaB zum 
Einschreiten der Priesterschaft mufite Jesu Angrif f auf 
das Opferwesen des Tempels hergeben. 



Prophet und Priester, diese beiden groBen Gegensatze 
in der Religionsgeschichte, trennt stes unversohnliche 
Feuidschaft. Der Prophet ist der Mann des Fortschritts, 
er setzt sich uber Formen und ererbte Gewohnheiten 
hinweg, fordert dagegen euie vertiefte, wahrhaftige 
Religiositat und schwingt die Peitsche uber jegliche 
Art von auBerlichem Kultus und Opferwesen. Der Prie- 
ster ist der Mann der Tradition, er legt Wert auf die 
althergebrachten Formen und mufi namentlich Respekt 
vor dem Kultus verlangen, der nun einmal seine be-^ 
sondere Domane ist. 
Der Priester wird als Beamter ein Glied der Staats- 



214 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

maschinerie, er fiigt sich in die Gesellschaft ein und 
reprasentiert gewissermafien die Gesellschaft. Der Pro- 
phet tritt gegen die Gesellschaft auf ; Prophet sein heifit, 
auf eine Lebensstellung verzichten und dem inneren 
Rufe folgen, mit dem keine andere Autoritat beruft als 
Gott selber. 

Daher gehen die groflen Neuerungen in der Religions - 
geschichte stets von prophetischen Gestaiten aus,. wie 
Buddha, Zarathustra und Muhammed, und die Priester 
waren von jeher die geschworenen Feinde solcher 
Manner. Daher war auch innerhalb des Judentums 
jeder Fortschritt an die Namen der jiidischen Pro- 
pheten geknupf t, und diese Propheten lagen in ewigem 
Kampf mit Tempel, Priester, Kultus und Opfer; daher 
trat nun auch der letzte und groCte Prophet der Juden 
gewaltsam gegen Tempel, Opferwesen und Priester- 
schaft auf, daher lehnte sich spater Luther gegen die 
romische Kirche auf samt ihrer Priesterschaft und ihrer 
Opferlehre, und daher wird auch der Prophet, auf den 
wir warten, mit den Uberresten der gleichen Opfer- 
lehre und mit der Priesterschaft, die sie verteidigt, auf- 
raumen. 



Das Gespenst, gegen das die jiidischen Propheten am 
meisten eiferten, war die Bluttheologie, jene falsche 
Opfer- und Versohnungslehre, nach der em anderes 
Wesen sollte eines Menschen Schuld mit seinem Blute 
suhnen konnen; und zwar hatten die alteren Propheten 
gegen die barbarische Sitte zu kampferi, dafi der Vater 



JESVS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 215 

seinen erstgebornen oder gar eingebornen Sohn opferte, 
die jiingeren gegen die .zahlfeichen stellvertretenden 
blutigen Tieropfer. 

Jesus machte das Wort der alten Propheten (Hosea 6, 6) 
zu dem seinen: Hesed hafasti we-lo zebah, Ich habe 
Wohlgefallen an Barmherzigkeit und nicht am Opfer* 
(Matth. 9, 13 und 12, 7), er emporte sich heftig iiber die 
M6rdergrube, in die die Priester den Tempel der Ju- 
den verwandelt hatten. Fiir ihn gehorte all dies auBer- 
liche Opferwesen zu dem Heidentum einer vergange- 
nen Zeit, fur das in der Religion fortan kein Platz mehr 
war. Er wahrsagte daher, wie andere jiidische Prophe- 
ten, den Untergang des Tempels und trieb in heiligem 
Zorn die Kramer und Verkaufer von Opfertieren hin- 
weg von der geweihten Statte. 



LEBEN ODER TOD? 

Mit solchem Angriff auf den Tempel und auf den 
Priesterstand war Jesu Schicksal besiegelt. Er war von 
vornherein schon ein gefahrlicher Volksfuhrer, und 
nun hatte dieser Mann, der sich so groCer Beliebtheit 
beim Volke erfreute, bei der Priesterschaft an den emp- 
findlichsten Punkt geruhrt. Er verkiindete einen direk- 
ten Weg zu Gott ohne Priester und ohne die Opf er, von 
denen die Priester lebten. Daher mufite er aus dem 
Weg geraumt werden. 

Um die Zeit des grofien nationalen Passahf estes, wo die 
Stadt voller Pilger war und Unruhe und Aufruhr viel- 
fach in der Luft lagen, war ein solcher Unruhestifter 



216 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

doppelt gefahrlich (1). Aber man getraute sich nicht, 
ihn wahrend dieser Festzeit zu ergreifen, aus Furcht 
vor dem Volke (Mark. 14,2). Aus dem gleichen Grunde 
wagte man nicht, ihn des Tags anzugreifen, wo das 
Volk seine standige Ehrenwache bildete. Und am Abend 
pf legte Jesus den Stadtbezirk zu verlassen und, um den 
Nachstellungen seiner Feinde zu entgehen, in dem 
freundlichen Dorfchen Bethanien zu ubernachten; es 
liegt einen guten Spazierweg sudostlich vor der Stadt, 
am Ostabhang des Olbergs und war die letzte Station 
auf der Pilgerstrafie vom Jordan nach Jerusalem, aber 
eben weil es auBerhalb der Stadt lag, auch aufierMacht- 
bereich der Priesterschaft. Hier ubernachteten viele 
Festpilger und losten standig einander ab. Jesus war 
da unter Freunden und fuhlte sich sicher. So gelang es 
ihm, den Feinden bis zu der Nacht vor dem grofien 
Feste zu entgehen. 



Nachdem Jesus in der Weise seines Volkes mit semen 
Jungern das Passahmahl eingenommen hatte, verliefi 
er auch in jener Nacht, in der der Feind die letzte Ge- 
legenheit hatte, seiner habhaft zu werden, wie gewohn- 
lich die Stadt, aber verbarg sich diesmal in einem 
Olivenhain, genannt Gethsemane, ebenfalls auf dem 
Olberg. Jesus war nicht nach Jerusalem gekommen, 
um Selbstmord zu begehen oder sich als Opferlamm 
schlachten zu lassen, sondern um die Stadt fur seine 



(1) Vgl. Josephus, Antiquitates (Jfldische Altertflmer) 20. Buch, 
5. Zap. 



JESVS ALS ERNEUERER DER 'GESELLSCHAFT 217 

Lehre zu gewinnen. Es gait daher, Zeit zu gewinnen 
und den Feinden bis zu dem groflen Fest zu entgehen, 
an dem der entscheidende Schlag gefuhrt werden sollte. 
Daher suchte er diesmal nicht sein gewohntes Nacht- 
quartier auf, seine 0perationsbasis, wie deutsche 
Forscher Bethanien fur diese Zeit genannt haben, son- 
dern blieb drauBen im Freien, wie es ubrigens arme 
Pilger oft zu tun pflegten. 

Nachdem er sich in dem Waldchen verborgen hatte, 
stellte er eine doppelte Postenkette aus. Am Rande des 
Hams die Mehrzahl seiner Jiinger, weiter innen drei 
Lieblingsjiinger, denen ausdriicklich der Befebl zuteil 
wird, Wacht zu halten. Jesus geht weiter ins Innere 
des Waldchens und bittet Gott, sein Leben zu bewahren, 
wenn es sein Wille sei. 

Die Posten werden indes vom Schlaf ubermannt, und 
Jesus wird von einer Polizeistreife des Tempels uber- 
rascht. Er versucht noch im letzten Augenblick zu 
fliehen: Auf, lafit uns gehen! (Mark. 14, 42); aber es 
ist zu spat. 

Die kirchliche Versohnungslehre, die ebenso wie die 
Jungfrauengeburt an einigen Stellen die Oberlieferung 
gefarbt hat, stimmt nicht mit Jesu Lehre uberein und 
erst recht nicht mit der Darstellung seines Lebens nach 
dem altesten Evangelium. Jesus kam nach Jerusalem, 
um gegen Bluttheologie und stellvertretendes Opf er an- 
zukampfen, nicht, um selber ein solches Opfer darzu- 
bringen. Er versucht dem Tode zu entgehen, einmal 
durch semen Aufenthalt in Bethanien, zum andern in- 
dem er sich in Gethsemane verbu*gt, ferner durch das 
Ausstellen der Wachen, durch sein Gebet zum Vater 



218 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

und schliefilich durch den Versuch, noch im letzten 
Augenblick zu fliehen (1). 



Fiir den Hohenpriester und seine Genossen, die sich in 
dieser Nacht in aller Eile in seinem Haus versammel- 
ten, war es nicht so einfach, Jesus zu verurteilen. Als 
Lehrer des Volkes oder als Messias aufzutreten, war 
nach jiidischem Recht nicht strafbar, und noch dazu 
stand Jesus in seiner Lehre durchaus auf dem Boden 
der jiidischen Religion. Jesus hatte sich ja oft genug 
durch die t)berlegenheit seines Geistes seinen Wider- 
sachern in Rede und Gegenrede gewachsen gezeigt, er 
war fruher bei manchen Gelegenheiten den Fallen, die 
man ihm stellte, durch Sehlagfertigkeit und Geistes- 
gegenwart entgangen. Man fand tatsachlich nur einen 
einzigen Gesetzesparagraphen, der notdiirftig genug 
dazu dienen konnte, Jesus zu Fall zu bringen; das 
war das jiidische Gesetz gegen Gotteslasterung. Aber es 
muBte hoffnungslos scheinen, dies auf eine so durch 
und durch religiose Personlichkeit anzuwenden, die 
auch nach jiidischer Religionsauffassung nur die rein- 
sten und grofiten Gedanken iiber Gott hegte und ver- 
kiindete. 



(1) Eine recht gute, ausfuhrliche und gemeinverstandliclie Schil- 
derung dieser Dinge gibt der danische Pastor N. P. Arboe- 
Easmussen in seinem Buch De sidste Blade af Jesu Liva- 
historie*. KObenhayn 1906 (Die letzten Blatter aus Jesu Lebens- 
gescbiclite). 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 219 

Aber die Sache nahm eine ganz unvorhergesehene und 
uberraschende Wendung. Jesus versuchte gar nicht, 
sich, wie fruher immer bei ahnlicher Gelegenheit, zu 
verantworten, er unternahm nichts, urn. sich aus der 
Affare zu ziehen, sondern er steuerte geradeswegs auf 
das Martyrium los. 

Man klagte ihn richtig auch wegen Gotteslasterung an, 
indem man seine gegen den Tempel gerichteten Worte 
so auslegte; aber Jesus antwortete nichts dawider. Aucjh 
beim Verhor vor Pilatus bezeugen die altesten Quellen 
das gleiche hartnackige Schweigen, das bei alien, auch 
bei Pilatus, Verwunderung erregte. Jesus strich seinen 
Widersachern geradezu die Worte in den Mund, mil 
denen sie etwas gegen ihn ausrichten konnten. 
Nach romischem Rechte konnte Jesus nur als politi- 
scher Usurpator, als Aufruhrer verurteilt werden, der 
nach der Konigswiirde strebte. Jesus erkennt diese Be- 
schuldigung an und erleidet ruhig den Tod im Banne 
euier solchen Anklage, obwohl ihm doch nichts ferner- 
gelegen hatte als das Streben nach politischer Macht. 
Nach judischem Gesetz konnte, wie gesagt, nur Gottes- 
lasterung ihn fallen. Und Jesus bekennt sich auch ohne 
Besinnen zu jener Aussage, die man allenf alls nach 
der jiidischen Religion in der Auffassung der Zeit als 
Gotteslasterung auslegen konnte. 



Diese uberraschende Wendung in Jesu Vorgehen geht 
zuruck auf seine Erlebnisse im Garten Gethsemane. Bis- 
her hatte Jesus sich mit Hilfe seines Vaters im Him- 



220 JESVS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

mel, in dessen Dienst er stand stets mit Erfolg gegen 
seine Widersacher verantwortet; nun hatte er in jener 
Nacht zu Gott um weitere Durchhilfe gebetet, dabei 
freilich alles vertrauensvoll in des Vaters Hand gelegt. 
Als nun im Augenblick darauf ihn die Biittelknechte 
ergriffen, sah er darin die Antwort des Vaters auf sein 
Gebet. Gott wollte, dafi er den Martyrertod erlitte, und 
so strebte er denn nach dem Martyrertod. 



Jesu Religion ist eine Missionsbewegung, die den Ein- 
zelnen ins Leben hinausschickt zum Kampf gegen die 
Gesellschaft, gegen die Welt, als die unversohnlichen 
Gegner dieser Religion; daher trieb es auch Jesus selber 
hinauf nach Jerusalem. Sie ist aber auch zugleich eine 
Martyrerreligion, denn wenn der Einzelne der Sache 
treu bleibt, so fuhrt ebendieser Kampf mit der Gesell- 
schaft schliefilich zum Martyrertod. Jesu Religion ist 
eine Religion des Friedens; aber der Frieden wird nur 
durch Kampf erworben. Durch Kampf nicht nur mit 
der eigenen Seele, mit ihrer Eigenliebe und ihrer 
Herrschsucht, sondern auch mit der Gesellschaft, die ja 
auf das gleiche Prinzip gegriindet ist. 
Das Blut der Martyr er ist die Saat der Kirche. Das 
gilt ganz besonders fur den ersten Martyr er des Christen- 
tums. Jesu Martyrertod hat die erste Gemeinde gebildet, 
und sein Kreuz hat diesem SchoBling eine so mach- 
tige Lebenskraft gegeben. Sein Tod gab der Gemeinde 
Leben. Durch seine Selbstaufgabe imd durch all die 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 221 

Opfer, die er von Anfang an gebracht, wuchs die Sache, 
der er diente, ins Ungemessene. 
Jesu personliehe Lebensanschauung ward zum Be- 
kenntnis einer Gemeinschaft; denn er hatte seine Hei- 
mat aufgegeben, um eine Heimstatte fur seine Religion 
zu suchen. Diese wurde zu einer Religion neben anderen 
Weltreligionen, weil Jesus seine eigene Sicherheit ge- 
opfert hatte, um seine Fahne in der Weltstadt aufzu- 
pflanzen. Und sie wurde zur Religion aller Religionen, 
zu der grofien Macht, die alle anderen Religionen in der 
Welt besiegt, weil er zum SchluB die Fahne seines 
Glaubens mit seinem Blute netzte, weil er sein Leben 
fur sie opferte. So war es sein Tod, der dieser Religion 
mehr als alles andere Leben gab. 
Jesus hatte naturlich auch den Reprasentanten der Ge- 
sellschaft gegemiber seine Religion verleiignen korinen, 
so wie es PetruS, der Papst und die Kirche getan haben. 
Er hatte ja wohl den argsten Stein des Anstofies ent- 
iernen konnen, hatte sich damit entschiildigen konnen, 
dafi er es nicht so schlimm gemeint habe lisw. Aber was. 
ware wohl aus seiner Religion geworden, wenn er sie 
selber verleugnet hatte? 

Diese Religion hat nur deshalb die Verleugnung durch 
Petrus, den Papst und die Kirche iiberstehen konnen, 
weil sie auf keines von den dreien gegrundet war, son- 
dern auf Jesus. Aus seiner Personlichkeit hat sie sich 
standig neue Kraft gesogen. Diese Kraftquelle ware im 
selben Augenblick versiegt, wo in Jesu Personlichkeit 
ein Rifi geklafft hatte, wo er ihr nicht Treue gehalten 
hatte bis zum aufiersten. 



222 JESVS ALS ERNEVERER DER GESELLSCHAFT 

Der Schrecken iiber die Katastrophe, die so plotzlich 
alien Hoffniingen ein Ende bereitete, hatte leicht die 
Junger fur immer in alle Winde zerstreuen konnen; 
aber der gewaltige Eindruck von der Grofie des Meisters 
bei seinem Martyrertode fuhrte sie rasch wieder zu- 
sammen und gab der jungen Gemeinde neue Kraft. Der 
Tod des Meisters hatte noch starkeren Eindruck auf sie 
gemacht als sein Leben. Es war, nach dem uberein- 
stimmenden Bericht der trberlieferung, der Jesus, der 
freiwillig in den Tod gegangen war, der Jesus, der den 
Tod uberwunden hatte und ins Leben eingegangen war, 
was der neuen Gemeinde ihre einzig dastehende Kraft 
verlieh. 

Das Christentum siegte uber alle anderen Religionen, 
weil es eine Martyrerreligion war, weil es noch jene 
Tatkraft und Energie besafi, die ihren Ursprung in 
Jesus hatte, und weil es darum mit aller Kraft gegen 
die heidnische Gesellschaft anging. Damals war das 
Christentum noch nicht ein wochentliches Schauspiel 
mit Musik, Chorgesang und Weihrauchduft, das am 
Werktag wieder verschwindet. Es war damals noch ein 
kraf tvoller Kampf . Die Losung war, Jesu Soldat zu sein, 
und die Soldaten gingen in Scharen fur ihren Feld- 
herrn in den Tod. 

Diese ganze Entwicklung ware undenkbar, ware nicht 
Jesus selber als ein Held in den Tod gegangen, hatte er 
nicht selber als erster seiner Sache die Treue gehalten. 
Jesu Tod war nicht ein willenloses Opfer fur die Schuld 
ariderer, sondern eine freiwillige Tat, mit der er Siegel 
und Namenszug unter sein Lebenswerk setzte. Sein 
Tod nimmt unsere Schuld und unsere Verpflichtung 



JESVS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 223 

nicht weg; er erhoht sie vielmehr. Er geht uns voran, 
er geht nicht an unser statt Christentum war, 1st und 
bleibt Martyrertum, solange die menschliche Gesell- 
schaft, die auf Gewalt aufgebaut ist, die Macht hat. Da- 
fur ging Jesus, gingen seine Junger und Tausende der 
ersten Christen in den Tod. 

Die grofie Frage: Leben oder Tod?, die in jener Voll- 
mondnacht auf dem Olberg vor bald 2000 Jahren ihre 
Beantwortung fand, war in Wahrheit nicht nur eine 
Frage nach Leben oder Tod fur Jesus, sondern fur seine 
Religion. Die Geschichte hat spater die Antwort darauf 
gegeben, dafi Jesu Tod seiner Religion Leben geben 
sollte, und als Jesus in jener Nacht zu dem gebetet 
hatte, der die Geschicke lenkt, war ihm dieselbe Ant- 
wort zuteil geworden. 



Moglicherweise war es JesuAbsicht gewesen, in Jerusa- 
lem ein grofies Friedensreich zu griinden und von dort 
aus sein Wirken f ortzusetzen. Die Zahl seiner Junger ver- 
mehrte sich ja standig, und das Volk drangte sich star- 
ker und starker um ihn. Wenn er daher sein Werk fort- 
fuhren wollte, so gait es, der Sache sein Leben zu er- 
halten. Daher seine Angst und Sorge, als sich die 
Wetterwolken dichter und dichter zusammenzogen, als 
sein Leben und damit sein Werk bedroht wurde; und 
daher betete er, der all seine Kraft vom Vater nahm, 
auch so inbrunstig und anhaltend zum Vater um Hilfe, 
als er die lelzte Nacht auf dem Olberg war. 



224 JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 

Daher auch in jenerNacht die heftigeGemutsbewegung, 
der gewaltige Seelenkampf, der so tiefe Spuren in der 
t)berlieferung hinterlassen hat, das gleiche Gebet, das 
sich immer wieder emporringt, und das angstvolle Ru- 
f en nach den schlafenden Jungern, wahrend Jesus ddch 
sonst stets in derEinsamkeit und imVerborgenen betete, 
ohne dafi andere es horten. 



Das, was das innerste Wesen dieser Religion der Kind- 
schaft ausmacht, der Entschlufi, alles in des Vaters 
Hand zu legen: Dein Wille geschehe! wie es im Vater- 
unser heifit, das sollte nun angesichts des Todes seine 
letzte Probe bestehen. Auch aus diesem Kampf ging Je- 
sus als Sieger hervor; zum SchluB spricht er die Worte, 
mit denen jedes Christengebet schlieBen sollte: Doch 
nicht mein, sondern dein Wille geschehe. 
Dies war das Wort, durch welches das Ghristentuni zur 
Religion aller Religionen wurde. Jesus lebte als Kind 
des Vaters in allem und jedem nach dem Willen des 
Vaters. Der Gedanke der unbedingten Kindschaft, 
der Konigsgedanke aller wahrhaft religiosen Men- 
schen, als Kind Gottes nicht anders zu leben als nach 
dem Willen des Vaters im Himmel, erfiillte nicht nur 
restlos Jesu Leben, Jesus ging auch fur diesen Gedanken 
in den Tod. 

Er konzentriert schliefilich sein ganzes Sein auf diesen 
einen Gedanken, wird allem anderen gegenuber gleich- 
giiltig, er antwortet nicht auf all die Beschuldigungen, 



JESUS ALS ERNEUERER DER GESELLSCHAFT 225 

die man als Beweis der Gotteslasterung gegen ihn er- 
hebt, selbst bei der Anklage der Tempelschandung 
bleibt er stumm; aber als der Hohepriester der Juden 
ihn fragt: Bist du Gottes Sohn? und. damit unbewufit an 
den groBen Gedanken ruhrt, fur den Jesus gelebt und 
fur den er auch sterben will, da antwortet Jesus: Ja, 
ich bin's. 



Nielsen, Der geschichtliche Jesus 15 



DIE PERSONLICHKEIT JESU 



HEUTE steht Jesu Personlichkeit im Mittelpunkt der 
Forschung, nachdem man beinahe 100 Jahre lang 
daran gearbeitet hat, den letzten welthistorischen Ab- 
schnitt in Jesu Leben klarzustellen. Jetzt arbeiten zahl- 
reiche Gelehrte daran, in die Feinheiten des Charak- 
ters der Personlichkeit einzudringen, die mit so starker 
Hand in das Rad der Weltentwicklung eingegriffen hat. 
Auch hier ist das kirchliche Jesusbild vielfach falsch 
gezeichnet, ganz ahnlich, wie wir es schon fur seine 
Lehre, seine Geburt, sein Leben und seinen Tod fest- 
stellen mufiten. Nach der Lehre der Kirche ist Jesus 
wahrer Gott und wahrer Mensch, aber die menschliche 
Seite seiner Personlichkeit wird dabei von der gott- 
lichen beinahe aufgesogen. Seine Mission als Gott und 
Gottes Sohn ist es, sich als Opferlamm hinschlachten zu 
lassen, das grofie Suhnopfer fur die Schuld der Mensch- 
heit darzubringen, und daher ist jder leidende und ster- 
bende Jesus der Gegenstand des kirchlichen Jesusbildes 
geworden. 

Danach ist Jesus nicht in die Welt gekommen, um sein 
Leben fur unsere Sunde zu leben> sondern um es fur 
unsere Siinde zu lassen. Daher geht er willenlos in den 
Tod wie Isaak, der auf dem Berg Moria von seinem 
Vater Abraham zur Schlachtung auf den Altar gelegt 
wurde und ohne Widerstand den TodesstoB erwartete 
(1. Mos. 22), Daher ist das Lamm zum Jesusbild der 



DIE PERSONLICHKEIT JESU 227 

Bluttheologie geworden, das Kreuz zum Symbol des 
Christentums und die willenlose Ergebung in dies 
Schicksal zum Hauptzug in Jesu Charakter. Das ist 
aber nicht der historische Jesus. 
Fur den Durchschnittsmenschen ist es schwer, den 
tfbermenschen zu verstehen. Ein Zaunkonig kann 
nicht dem Plug des Adlers folgen, kann sich nicht zu 
denHohen emporschwingen, in denen derHerrscherder 
Lufte haust. Heldenschicksale bewegen sich in einer 
anderen Atmosphare, und ihre Trager haben ihr Da- 
sein auf andere Werte gestellt als gewohnliche Sterb- 
liche. Fiir das Altertum war alles Unverstandliche et- 
was Gottliches. Der Held oder der trbermensch, der 
Recke und der Konig werden daher leicht zum Gott. 
Der Blitzstrahl ward von einem Gotte geschleudert. Der 
grofie Konig und der erhabene Prophet waren Gotter in 
Menschengestalt. Nun hat uns die Naturwissenschaft 
gelehrt, dafi die scheinbar uberirdische, vom Himmel 
stammende Kraft des Blitzes nichts weiter ist als die 
konzentrierte Entladung einer gewohnlichen Natur- 
kraft, die von Menschen hervorgerufen und gezahmt 
werden kann. Ebenso zeigen uns die Geisteswissen- 
schaften, daC selbst die gewaltigsten Personlichkeiten, 
die wie Blitz und Dormer in der Geschichte gewirkt 
haben, nur in konzentrierter Kraft und Spannung die 
Eigenschaften besitzen, die in jeder menschlichen Seele 
wohnen; sie sind ungleich grofier und starker als wir 
anderen, aber sie sind doch Menschen wie wir. 



15* 



228 DIE PERSONLICHKE1T JESU 

Was einen Menschen so grofi und stark macht, das 1st 
ein Ziel, dem sein Leberi zustrebt, eine groBe Sache oder 
Idee, vielleicht faBbar in ein einzelnes Wort, das wie 
mit Flammenschrift iiber seinemLeben und seinem Tod 
geschrieben steht. Je vollkommener ein Mensch sich 
einem solchen Ziele zu weihen vermag, desto mehr be- 
sitzt er wahre Starke und Grofie. 

In dem Mafte wie der Mensch seine anderen Interessen 
beiseitesetzt und damit sein eigenes Ich totet, um seiner 
Sache Leben zu verleihen, so wie etwa eine Mutter sich 
fur ihr Kind opfert, im gleichen MaBe nimmt er zu an 
innerer Kraft. Die Liebe zu einem wirklichen Beruf 
und unablassige Opfer fur diesen Beruf verleihen einem 
Menschen GroBe. 

Ein Held ist noch nicht, wer einen grofien Gedanken 
ausdenkt, er muB ihn auf langem beschwerlichem Wege 
bewahren, er muB leben und sterben konnen fiir seine 
Idee; wer das vermochte, den verehrte man im Altertum 
als einen Gott. 

Nun ist die Religion, wie die Geschichte beweist, star- 
ker als andere Lebensmachte und der religiose Held 
starker als alle anderen, und so wurde auch im Alter- 
tum der Gottesmann, der Prophet, der Trager einer gro- 
Ben religiosen Idee ganz besonders als Gott oder Gottes 
Sohn verehrt. Das Christentum hat eine Religion nach 
der anderen besiegt, es erwies sich alien anderen Reli- 
gionen gegenuber als die starkste, kein Wunder also, 
wenn der Personlichkeit, von der diese Religion aus~ 
ging, mehr als irgendeiner anderen gottliche Ver- 
ehrung zuteil geworden ist. 
Die geheimnisvolle Kraft in Jesu Leben ist nicht etwa 



DIB PERSONL1CHKEIT JESV 229 

das Ergebnis einer wunderbaren gottlichen Geburt, 
sondern resultiert aus der scheinbar so einfachen Tat- 
sache, dafi Jesus alles, was er iiberhaupt opf ern konnte, 
seine Heimat, seine Ehre und sein Leben fur seine 
Sache hingab. Das Grofie an seinem Leben war nicht 
nur, dafi er die absolute und hochste Form der Religion 
land, die Religion, in der Gott der Vater und der Mensch 
sein Sohn ist, sondern dafi er mit diesem Sohnverhalt- 
nis ernst machte und seine ganze Personlichkeit dar- 
auf griindete. 

Jesus lebte in derselben Religion wie unzahlige Chri- 
sten nach ihm, aber er lebte darin mit groBerer Kraft, 
er beugte mehr als irgendein anderer sein ganzes Leben 
unter diese Religion. Das Gefiihl der Kindschaft schlug 
so tiefe Wurzeln in seiner Seele, daC es sie ganz er- 
fiillte. Auf alien seinen Wegen, kleinen und grofien, in 
guten und bosen Tagen fuhlte er sich als ein Kind in 
des Vaters Hand geborgen, er wandte sich immer wieder 
von neuem im Gebet an ihn und tat nicht seinen eignen, 
sondern des Vaters Willen. Gottes Kind, Gottes Sohn 
zu heifien und zu sein, das war sein fester Lebensgrund, 
von dem er auch im Tode nicht wich. 
An diesem Punkt erhebt sich eine Frage, die in den 
letzten Jahrzehnten in der kritischen Theologie oft und 
mit grofier Leidenschaft erwogen wurde: Hat Jesus sich 
selber fur den Messias angesehen? Wahrend sonst in 
diesen Kreisen in den hier behandelten Fragen Einig- 
keit herrscht, gehen da die Ansichten der Forscher aus- 
einander. 

Die Messiasgestalt ist durch die neuen Funde und For- 
schungen in ganz neues Licht geruckt worden. Der 



230 DIE PERSONL1CHKEIT JESU 

Gottessohn im Himmel und der von Gott geborene 
machtige Weltenherrscher auf der Erde hat vor der 
Zeit der Juden schon Jahrtausende in der alten voider - 
asiatischen Religion existiert. Religionsgeschichtlich 
betrachtet, ist die Gestalt vollkommen antiquiert, ohne 
jedes Interesse fur die heutige Menschheit. Wir glau- 
ben ja auch nicht mehr an eine im Himmel wohnende 
Gotterfamilie, an einen Sohn an der Seite des Vaters 
oder anderseits an die unbedingte gottliche Herkunft 
der politischen Konigsgewalt Dieser Glaube ist langst 
tot, er gehort einer vergangenen Zeit an. 
Aber zur Zeit der Juden und Jesu war dieser Glaube 
lebendig. Der Messiasgedanke war einer der wichtig- 
sten Glaubensbestandteile, allenthalben im Volke ver- 
breitet und als grofiter Ehrenname den verschiedensten 
Personen beigelegt. Daruber ist kein Zweifel, dafi an- 
dere Jesus fiir den Messias hielten. Von seinen Jiingern 
wurde er als Messias verehrt, und er starb den Kreuzes- 
tod als Messias. 

Dagegen bietet seine Religion keinen Raum fiir diesen 
Glauben. Sie ist allgemeingultig fur alle Menscben und 
klammert sich nicht an Begriffe, die einer bestimmt 
umgrenztenKultur angehoren; daher hat auch Jesus sich 
selbst wohl kaum als Messias betrachtet. Aufierdem war 
auch der Messiasname ein Titel, den man von anderen 
beigelegt erhielt und sich nicht selbst erwahlte. Es war 
ein Ehrentitel, den diese Zeit zu vergeben hatte; aber 
Jesus war seiner Zeit voraus. 

Immerhin gibt es in dieser Religion, wo Gott der Vater 
ist, der Mensch sein Sohn und Jesus Gottes Sohn im 
vollkominensten Sinn, Beruhrungspunkte mit der Mes- 



DIE PERSONLICHKEIT JESU 231 

siasmythologie der Zeit. Die Juden batten den Messias, 
der fur die Heiden Gottes Sohn war, zum Menschensohn 
gemacht. Jesus machte den Menschensohn zu Gottes 
Sohn in geistigem Verstande. Wenn Jesus vor Pilatus 
der Anklage stattgibt, auf Grund deren er dann auch 
verurteilt wurde, dafi er der Juden K6nig sei, so hat 
er naturlich dies Wort in geistigem Sinne verstanden, 
ebenso wie er vor dem Hohenpriester den Ausdruck 
Gottes Sohn, der ihn dort richtete, nicht in natiir- 
lichem, sondern in geistigem Sinn verstand. 
Fiir die Zeitgenossen mufite Jesus der Messias sein, 
auch fur die Nachwelt ist er wenn wir die religions- 
geschichtliche Bezeichnung gebrauchen wollen der 
wahre Messias. Aber sollen wir von Jesus und von 
seiner alle Menschen umfassenden Religion mit einem 
Wort reden, das alle verstehen, so ist er nicht Messias 
noch Christus, sondern der Fuhrer und Wegbereiter, 
wie es im Johannesevangelium 14, 6 heifit, der einzige, 
der zum Vater hinfuhrt: Der Weg, die Wahrheit und 
das Leben. Dies Wort der alten Kirche, das so oft 
von Jesus gebraucht wird und unter so vielen Jesus- 
bildern steht, wird der wahren Bedeutung Jesu ge- 
recht. 



Die kirchlichen Dogmen sind kerne Unwahrheiten hi 
dem Sinne, dafi sie lauter vollige Ungereimtheiten ent- 
hielten. Religios wie religionsgeschichtlich betrachtet 
bergen sie oft eine tiefe Wahrheit; aber diese Wahrheii 



232 D1EPERSONLICHKEITJESU 

ist meist von. der Kirche so einseitig zugespitzt worden, 
dafi sie zur Unwahrheit wird. 

Die Bibel 1st das Buch der Biicher; denn die Religion ist 
das Hochste im Menschenleben, und von der hochsten 
Religion wiederum zeugt dieses Buch. Aber die Bibel 
ist nicht unfehlbar,wie es die Kirche lehrt. In alien nicht- 
religiosen wissenschaftlichen Fragen steht die Bibel auf 
einem langst verlassenen, der Kulturgeschichte ange- 
horenden Standpunkt. Auch begegnen uns in diesem 
Buch neben der hochststehenden Religion andere, weit 
tiefer stehende Religionsformen. Sie stellt eine Samm- 
lung von geschichtlichen Dokumenten dar, die von der 
Entwicklung unserer Religion im Wandel der Zeiten 
vor und nach Jesus kunden. 

Das Dogma, das Jesus als Gott oder eigentlich als Gottes 
Sohn bezeichnet, enthalt eine tiefe Wahrheit. Weil Je- 
sus wie keiner das religiose Kindschaftsverhaltnis klar- 
gestellt hat und es unsselberinvoller Auswirkungvorge- 
lebt hat, darum ist er auch fur uns Gottes Sohn in ganz 
besonderem Sinn, bezeichnet den Hohepunkt der bi- 
blischen Religion und ist unser Wegfuhrer in alien reli- 
giosen und ethischen Fragen. Aber Jesus ist nicht Gott, 
er ist nicht unfehlbar und nicht allwissend. In alien 
nicht die Religion angehenden Fragen teilt er das un- 
vollkommene Wissen seiner Zeit. 
Jesus ist auch nicht von gottlich-siindloser Natur. Er 
kann unser Fuhrer sein, gerade weil er als Mensch mit 
menschlichen Anfechtungen und Gebrechen in schwe- 
rem Seelenkampf gerungen hat und durch minier neue 
Kraft von oben den Gipfel menschlicher Vollkommen- 
heit erklomm. Hatte er von vornherein eine siindlose 



DIE PERSONLICHKEIT JESU 233 

Natur, so ware sein ganzes Leben ein Scheindasein, eine 
Schauvorstellung ohne inner en Wert fiir die Allgemein- 
heit der erdgebornen Menschenkinder. 



Weil Jesus unter Beiseitesetzung von allem andern sich 
so stark auf seine religiose Sendung konzentriert, und 
weil er fuhlt, dafi er nicht in eigener Sache, sondern in 
seines Vaters Auftrag spricht, darum fallen seine Worte 
so stark ins Gewicht. Ihr habt gehort, daB zu den Alten 
gesagt ist . . . aber ich sage euch! Er lehrte, so horen 
wir, gewaltiglich, und nicht wie die Schriftgelehrten* 
(Mark. 1, 22). Jesus war ein Mensch, aber keiner von 
den Durchschnittsmenschen. Alle Versuche, Jesus als 
einen gewohnlichen Rabbi zu schildern, geraten inKon- 
flikt mit den gewaltigen Worten, in denen die trber- 
lieferung von Jesus spricht, und mit denen Jesus selbst 
spricht. 

Jesus hat uns den Weg zu Gott gezeigt, der ohne Um- 
weg zu ihm hinfuhrt, und er stellt sich selber nicht 
zwischen Gott und uns. Die alteste trberlieferung ver- 
langt keinen Glauben an Jesus und kein Gebet zu ihm. 
Aber andererseits spricht Jesus aus seinem einzig da- 
stehenden ganz innerlichen Sohnverhaltnis zum Vater 
mit einer solchen Kraft und Majestat, dafi es unehrlich 
sein hiefie, wollte man hier die strahlende Klarheit der 
Quellen truben. Er ist nicht unser Herr, sondern unser 
Bruder, er steht vor Gott als ein Mensch; aber er war 
Gott naher als irgendein anderer Mensch, er war sein 
Sohn in tieferem Sinn als irgend jemand sonst, er lebte 



234 DIE PERSONLICHKEIT JESU 

auf hoherer Stufe als alle anderen, er ragte hoch em- 
por uber seine Zeit, uber Heiden und Juden und uber 
seine eigenen Jiinger. Wie oft heifit es nicht von seinen 
Jungern: Sie verstanden nicht die Worte, die er zu 
ihnen sagte. Die ungeheuren Wirkungen, die gewaltige 
Kraft, die von seiner Person ausstrahlt, die den ersten 
Bruderbund und nach seinem Tod die erste Gemeinde 
bildete, all das ware ja sonst auch unverstandlich. 
GroBe Manner, groBe Personlichkeiten sind die starken 
Triebfedern der Geschichte. 

Volk und Knecht und ttberwinder, 
Sie gestehn zu jeder Zeit: 
Hochstes Gliick der Erdenkinder 
1st doch die Personlichkeit. 

Auf sie lafit sich alles wahrhaf t GroBe im menschlichen 
Leben zuruckfuhren. Die modernen Versuche, groBe 
Personlichkeiten aus der Geschichte zu streichen und 
so auch das Ghristentum als eine soziale oder geistige 
Massenbewegung in der Gesellschaft zu deuten (Bruno 
Bauer, Alb. Kalthoff), als einenAusschnitt der jiidischen 
Religion oder als neue Sammlung alter orientalischer 
Mythen (W. B. Smith, A. Drews), die von den ersten 
Synoden in ein System gebracht worden sei, all das 
steht daher im Widerspruch zu den inneren Gesetzen 
der Geschichte. Nicht Volksbewegungen, nicht Kon- 
gresse oder andere Veranstaltungen haben uns die 
neuen Werte geschenkt, die neuen Gedanken, Ent- 
deckungen, Erfindungen, die das Menschengeschlecht 
hoher gefuhrt haben, sondern nur die einzelne gottbe- 
gnadete Personlichkeit, die dem Widerstand der Vielen 



DIE PERSONLICHKE1T JESU 235 

zum Trotz ohne Wanken die neue Bahn beschritt, auf 
der ihr dann hinterher die Massen f olgten. 
Daher hat die Kirche recht, wenn sie allezeit Jesu Per- 
son als Hauptstuck des Christentuins in den Vorder- 
grund gestellt hat. Das gleiche tut auch die moderne 
historische Betrachtung, die den Weg zu dem geschicht- 
lichen Jesus zurucksucht als zu dem Urquell des Chri- 
stentums, zu der Person des historischen Jesus, die letz- 
ten Endes nicht eine Reihe von Worten oder Hand- 
lungen darstellt, sondern eben die Personlichkeit, von 
der dies alles erst ausging. 



Gegenuber der kirchlichen Lehre, die Jesus so gem mit 
weiblichen Eigenschaften ausstattet, als da sind pas- 
sive Hingabe an sein Schicksal, geduldiges Leiden ohne 
Widerstand usw., muB betont werden, dafi Jesus ein 
Mann war, und zwar durch und durch ein Mann. Als 
Semit und als Jude war Jesus keineswegs eine passive, 
sondern eine mit Tatkraft und Energie geladene Natur. 
Buddhas Ziel war der Tod; aber Jesu Ziel war, im Le- 
ben soviel wie moglich zu wirken. Durch sein gauzes 
Leben geht ein Zug von Mannlichkeit und Mannesmut, 
wie wir ihn an den Heroen des Geisteslebens be- 
wundern, bei Sokrates, da er den Schierlingsbecher 
leert, bei Luther auf dem Reichstag zu Worms, und 
uberhaupt bei jedem Helden, der sein Leben fur seine 
Sache nichts achtet. 

Jesus war ein Furst des Friedens; aber er war auch ein 
Held im Kampf e, der semen Weg ging, und wenn dieser 



236 DIE PERSONLWHKEIT JESU 

dieGesellschaftsordnung seiner Zeit mitten durclikreuz- 
te.DerdanischeDichterPaludan-Mullerschildert in sei- 
nem Adam Homo einen Menschen, der sich stets Au- 
toritaten beugt und so durch Verleugnung seines besse- 
ren Ich zu hochsten Ehren gelangt. Die Evangelien 
schildern einen Mann, der alien auJBeren Autoritaten 
mutig entgegentritt, um so das Beste in seiner Seele zu 
wahren und den Tod eines Verbrechers zu sterben. 
So oft man diese Berichte liest, erf iillt einen von neuem 
Bewunderung fur den einsamen Mann auf seinem ein- 
samen Posten, der in mutigem Kampf gegen eine un- 
geheure trbermacht sein Lreben drangibt. Im Kampf 
gegen alles, was damals Macht und Autoritat besaC, im 
Kampf gegen Theologen und Priester, gegen die poli- 
tischen Machthaber, gegen die Tradition der Jahrtau- 
sende fand er Untergang und Tod, aber seine Sacbe hat 
gesiegt, sie ist auferstanden aus seinem Grabe zu ewi- 
gem Leben. 



TAFEL XXV 




Zinsgroschen 

[Zu S. 212.] 



Denar des Kaisers 
Tiberius (1437) 

[ZuS. 79, 83 f. u. 143.] 




Denar des Kaisers 
Titus (7981) 

[Zu Tafel XIX.] 





Augustus 
(31 v. bis 14 n. Chr.) 

[Zu S. 76 ff., 105 u. 131.] 




Miinzbilder Eomischer Kaiser aus dem Jahrhundert Jesu 
(Nach Originalen des Bayr. Miinzkabinetts Munchen) 



TAP EL XXVI 




Caligula (37- 41) 






Claudius (4154) 

|Zn S. 190.] 





Nero (5468) 

[Zu S.83U.99.] 

Munzbilder Romischer Kaiser aus dem Jahrhundert Jesu 
(Nach Originalcn des Bayr. Miinzkabinetts Miinchen) 



TAFEL XXVII 





Miinze Vespasians (69 79) auf die 
Zerstorung Jerusalems i. J. 70. IVDAEA CAPTA 

[Zu S. 80 f., 141 u. 174; vgl. a. S. 193 f.] 





Domitian (81-96) 

[Zu S. 99.] 





Traian (93117) 

[Zu S. 98 1] 

Mimzbilder Eomisclier Kaiser aus dem Jahrliundert Jesu 
(Naca Originalen des Ba}-r. Miinzkabinetts Miinchen) 



TAFEL XXVHI 




Ich bin der Weg, die Wahrlieit und das Leben 

(Ev. Job. 14,6) 
[VgL S. 231] 



VERZEICHNIS DER TAFELN 



TAFEL 

I SchluB des Markusevangeliums nach dem Codex regius. 

Pergamenthandsckrift aus dem 8. Jahrh. (Zu S. 56 ff.) 
II Petrus und Paulus (Zu S. 43) 

Bruchstiick einer Handschrift des Matthausevangeliums 
aus dem 5. Jahrh. (Oxyrhynchus -Papyrus) (Zu S. 33 f.) 
HI Ubersichtskarte von Vorderasien (Zu S. 46 ff.) 
IV Die 4. Tafel des babylonischen Schopfungsberichtes (Zu 

S. 50) 

V Israelitische Gesandtschaft auf einer assyrischen Sieges- 
saulec (9. Jahrh. v. Chr.) (Zu S. 52 f.) 

Brief eines vorisraelitischen Konigs von Jerusalem an den 
Pharao (ca. 1400 v. Chr.) (Zu S. 52) 

Inschrift des Konigs Mesa von Moab (9. Jahrh. v. Ghr.) 
(Zu S. 52) 

VI Babylonische Bildhauerarbeit aus dem 3. Jahrtaus. T. Chr. 
(sogen. sumerische Periode) (Zu S. 55) 
Israeliten auf einem agyptischen Relief (ca. 950 v. Chr.) 
(ZuS. 52) 
VII Assyrische Lowenjagd zu Pferd (Zu S. 55) 

Der beruhmte sterbende Lowe von Ninive (Zu S. 55) 
VIII Gesetzesstein Konig Hammurabis (Zu S. 55 f.) 
IX Der babylonische Sintflutbericht (Zu S. 57) 
X Brief in Umhullung (Die Vorderseite der Umhullung ist 
abgebrochen) (Zu S. 56) 

Bruchstiick des babylonischen Sintflutberichts (Zu S. 57) 
XI Von den amerikanischen Ausgrabungen in Nippur (Siid- 

babylonien) (Zu S. 58) 

XII Ecke des Tempelturms in Nippur (Zu S. 58) 
Xm Babylonischer Engel (Zu S. 60) 
Babylonischer Teufel (Zu S. 60) 

Alte babylonische Madonna mit dem kleinen Gottessohn 
(Zu S. 60) 

XIV Vorchristliche phonikische Muttergottin als Himmels- 
konigin mit Sonne und Mond (vgl. Johannesoffenbarung 
12, 17) Unter der Inschrift Tauben (Zu S. 60) 

Der Herr als Sonnengott mit Gloriole bei den Phb'nikern 
(vorchristlich) (ZuS. 60 f.) 

Vorchristliche phonikische Muttergottin mit Taube (Zu 
S. 60) 

XV Babylonische Madonna mit Kind (genannt Barmherzige 
Mutter des Menschengeschlechts, Ummu remnitumsanise) 
(Zu S. 60) 






238 VERZE1CHNIS DER TAFELN 

TAITEL 

XV Babylonische Madonna, furbittend fiir die Menschen (Zu 

S. 60) 

XVI Der Siindenfall nach einem babylonischen Siegelzylinder 
(Zu S. 61) 

Kampf mit dem Drachen in vorchristlicher babylonischer 
Darstellung (Zu S. 61) 

XVII Kampf mit dem Drachen (bzw. mit derSchlange) auf einem 
babylonischen Siegelzylinder (Zu S. 61) 
Weltbild nach dem antiken Geographen Strabon (z. Zt. 
Jesu) (ZuS. 71) 

XVHI Das Weltreich Alexanders des GroBen (Zu S. 72 f.) a 

XIX Des Perserkb'nigs Kyros (Koresch) Messiasproklamation 
(Zu S. 72) 

Triumphzug des Titus nach der Zerstb'rung Jerusalems 
(mit dem siebenarmigen Leuchter vom Tempel in Jerusa- 
lem). Relief vom Titusbogen in Rom (Zu S. 80 f.) 
XX EineMunzeBar-Kochba's aus dem letzten grofien jiidischen ! 

Aufstand 132 n. Chr. (Zu S. 82) 

Der Anfang des Matthausevangeliums und der Stamm- 
tafel. Nach einem alten Druck (ZuS.116f.) 
XXI Ein Blatt der alten syrischenSinaihandschrift des Matthaus- 
evangeliums (Palimpsest). (Zu S. 118) 
XXII Siidsemitische (altarabische) Tempelinschrift (Zu S. 154 f.) 

XXIII Altarabischer Grabstein (Zu S. 154 f.) 

XXIV Der Muttergb'ttin (Sonnengottheit) geweihtes Bronzepferd 
aus einem altarabischen Tempel (Zu S. 155) 
Priesterin der karthagischen Muttergb'tiin (Zu S. 159) 
Kaiser Konstantin I. (Zu S. 100) 

XXV Zinsgroschen (Zu S. 212) 

Denar des Kaisers Tiberius (1437) (ZuS.79,83f.u.l43> 
Denar des Kaisers Titus (7981) (Zu Taf. XIX, unten) 
Augustus (31 v. bis 14 n. Chr.) (Zu S. 76 ff., 105 und 131) 
XXVI Caligula (3741) 

Claudius (4154) (Zu S. 190) 
Nero (5468) (Zu S. 83 u. 99) 

XXVII Miinze Vespasians (69 79) auf die Zerstorung Jerusa.- 
lems i. J. 70 JUDAEA CAPTA* (Zu S. 80 f., 141 u. 174; 
vgl. auchS. 193 f.) 
Domitian (8196) (Zu S. 99) 
Traian (98117) (Zu S. 98 f.) 

XXVm Ich bin der Weg, die Wahrheit und das Leben (Ev. Jolu 
14, 6) (Vgl. S. 231) 



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Ganzleinenband RM. J.fo 

Hier 1st der Roman des Menschen des 20. Jahrhunderts, 
geschrieben von einem Menschen des 20. Jahrhunderts.* 

(Tagebuch) 

Es gehort zum guten literarischen Ton, seinen Roman 
,Nebel' gelesen . zu haben. (Berliner Ltdkal-Anseiger) 

ABEL SANCHEZ 

DER ROMAN EINER LEIDENSGHAFT 
Tjweite Auflage \ Ganzleinenband RM. f. 

Bewundernswiirdig als gestaltetes Kunstwerk, von er- 

schiitternder Innigkeit in seinem rein menschlichen, 

seelischen Kern. Ein Meisterwerk mit einem Wort. 

(Neue Freie Presse, Wien) 

DER SPIEGEL DES TODES 

NOVELLEN (ENTHALT EIN GANZER MANN) 
Ganzleinenband RM. f. 

Meisterhaft geschrieben ... Es sind psychologische 

Kuriositaten, die da im Spiel der Leidenschaften auf- 

treiben. (Frankfurter Zeitung) 

MEYER & JESSEN / MUNCHEN 




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UNIVERSITY OF CHICAGO