MACK BRUNSWICK
NACHTRAG ZU FREUDS
GESCHICHTE EINER
INFANTILEN NE URO 5 E
Ein Nachtrag zu Freuds
„Geschichte einer
infantilen Neurose"
Von
Ruth Mack Brunswick
New York
Sonderdruck aus der „Internationalen
Zeitschrift für Psychoanalyse"
(herausgegeben von Sigm. Freud)
1929
Internationaler Psychoanalytischer Verlag
Leipzig / Wien / Zürich
Alle Rechte, insbesondere die
der Übersetzung vorbehalten
INTERNATIONAL
PSYCHOANALYTIC
UNIVERSITY
DIE PSYCHOANALYTISCHE HOCHSCHULE IN BERLIN
ä
Druck der „ElbemüM", Wien HI
Inhaltsverzeichnis
Seite
I) Gegenwärtiger Erkrankungszustand c
II) Die Vorgänge in den Jahren 1920 bis 1925 8
III) Krankengeschichte »•«.... 11
IV) Der Verlauf der jetzigen Analyse 22
V) Diagnose 4 „
VI) Die Mechanismen der Psychose ....44
VII) Probleme des Falles 48
Literatur ............. c -
• 05
1
Gegenwärtiger Erkrankungszustand
1) Gesammelte Schriften, Band VIIL Die erste Behandlung durch Freud endete
einige Wochen vor Ausbruch des Weltkrieges mit der Rückkehr des „Wolfsmannes"
in seine Heimat. Ende 1919 kam er wieder nach Wien, wo er bei Freud eine neuer-
liche Analyse von einigen Monaten durchmachte.
Im Oktober 1926 suchte der Patient, den wir aus der „Geschichte
einer infantilen Neurose" 1 als „Wolfsmann" kennen gelernt haben, Professor
Freud wieder auf. Er hatte Freud seit der Beendigung seiner zweiten
Analyse im Jahre 1920 von Zeit zu Zeit aufgesucht. Gewisse Umstände,
die ich nun kurz berichten will, hatten in die Lebensweise des Wolfsmannes
schwerwiegende Veränderungen gebracht. Der frühere Millionär verdiente
jetzt kaum den Lebensunterhalt für sich und seine kränkliche Frau. Trotz-
dem war es ihm bis zum Sommer 1926 leidlich gegangen. Zu dieser Zeit
traten aber Symptome auf, die ihn bewogen, Freud zu konsultieren.
Damals wurde ihm vorgeschlagen, zu mir zu kommen, wenn er sich
analysebedürftig fühle. So erschien er zu Beginn des Oktobers 1926 in
meiner Ordination.
Er litt an einer hypochondrischen Wahnidee. Er beklagte sich, daß er
das Opfer einer durch Elektrolyse hervorgerufenen Entstellung der Nase
geworden sei; die Behandlung war gegen verstopfte Talgdrüsen der Nase
angewendet worden. Nach seinen Angaben zeigte sich diese Entstellung
als Narbe, Loch oder Vertiefung in dem Narbengewebe. Die Form der
Nase war verdorben. Ich möchte gleich bemerken, daß überhaupt nichts
an der schmalen, echt russischen Stumpfnase des Patienten zu sehen war.
Ruth Made Brunswick
Obwohl der Patient von der Auffälligkeit der Entstellung überzeugt war,
hatte er doch Einsicht genug, seine psychische Reaktion für abnorm zu
halten. Darum hatte er, nachdem alle dermatologischen Hilfsmöglichkeiten
erschöpft waren, Freud aufgesucht. Wenn schon für seine Nase nichts
getan werden könne, so müsse wenigstens etwas für seinen Seelenzustand
geschehen, gleichgültig, ob die Ursache eine reale oder eingebildete sei.
Zuerst schien es, als ob diese verständige und logische Äußerung den aus
der früheren Analyse gewonnenen Einsichten zu verdanken sei. Doch
zeigte sich später, daß diese Einsicht nur zum Teil das Motiv der gegen-
wärtigen Analyse bildete. Andererseits wiederum lag in dieser Einsicht
zweifellos das Atypische an dem Fall; ansonsten hätte er sich gewiß der
Analyse unzugänglich erwiesen.
Er war in größter Verzweiflung. Da man ihm gesagt hatte, daß nichts
für seine Nase getan werden könne, weil nichts an der Nase vorliege,
fühlte er sich außerstande, in so einem verstümmelten Zustande, wie er es
nannte, weiterzuleben. Er brachte wieder die Klage vor, die er schon in
allen seinen früheren Krankheitszuständen ausgesprochen hatte: als Kind,
wenn er seine Hosen beschmutzte und glaubte, an Dysenterie zu leiden,
als junger Mann, als er eine Gonorrhöe akquiriert hatte, und schließlich
in vielen Situationen seiner Analyse bei Freud. Diese Klage, die den
Kern seiner pathologischen Mutteridentifizierung enthielt, lautete: „So kann
ich nicht mehr leben." Der „Schleier" seiner früheren Krankheit um-
hüllte ihn jetzt gänzlich. Er vernachlässigte seine täglichen Beschäftigungen
und seine Arbeit, weil ihn ausschließlich der Zustand seiner Nase in
Anspruch nahm. Auf der Straße beschaute er sich in jeder Auslage; er
trug einen Taschenspiegel bei sich, den er alle paar Minuten hervorzog,
um sich darin zu betrachten. Er mußte die Nase pudern, einen Augenblick
später aber sie wieder genau ansehen und dazu den Puder entfernen. Dann
mußte er die Poren untersuchen, um zu sehen, ob sie sich erweitert
hätten, um das vermeintliche Loch in seiner Nase im maximal erweiterten
Zustand zu erwischen. Dann mußte er wieder seine Nase pudern, den
Spiegel weglegen und einen Moment später begann der ganze Vorgang von
neuem. Der kleine Spiegel in seiner Tasche bildete den Mittelpunkt seines
Lebensinhaltes und sein Schicksal hing davon ab, was er ihm zeigen
werde.
Das Mädchen, das ihm in meiner Wohnung die Türe öffnete, fürchtete
sich vor ihm, weil er immer, wie sie sagte, wie ein Verrückter an ihr
vorbei zum langen Spiegel in dem schlecht beleuchteten Vorraum stürzte.
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose"
Er setzte sich nie nieder und wartete nicht, wie die anderen Patienten,
his er zur Behandlung geholt wurde; er ging ununterbrochen im kleinen
Vorraum auf und ab, nahm seinen Spiegel heraus und studierte seine
Nase bald in dieser, bald in jener Beleuchtung. In dies em Zustand begann
der Patient bei mir die Analyse.
Ich möchte den Leser ersuchen, seine Erinnerung aufzufrischen und
die Geschichte des Patienten, die Freud unter dem Titel „Aus der
Geschichte einer infantilen Neurose" publizierte, wieder zu lesen. In der
Freud sehen Analyse kam das ganze infantile Material zum Vorschein,
in meiner Analyse kam nichts Neues hinzu. Die Quelle der neuen Er-
krankung bildete ein ungelöster Übertragungsrest, der nach vierzehn
Jahren unter dem Druck besonderer Umstände die Basis für eine neue
Erkrankung abgab.
II
Die Vorgänge in den Jahren 1920 bis 1023
Bevor ich eine genaue Beschreibung der neuerlichen Erkrankung und
Behandlung gebe, müssen gewisse Details aus dem Leben des Patienten
während und nach seiner Analyse bei Freud berichtet werden.
Es sei daran erinnert, daß der Wolfsmann sehr reich war und daß er
sein Vermögen vom Vater geerbt hatte; dieser starb, als der Patient 21 Jahre
alt war, zwei Jahre nach seiner gonorrhoischen Infektion und zwei Jahre
vor der Analyse bei Freud. Es sei ferner daran erinnert, daß der Patient in
seiner Einstellung zum Gelde sehr neurotisch war. Er beschuldigte häufig
und, wie er selbst zugab, ohne jede Berechtigung seine Mutter, daß sie ihn
um seine Erbschaft betrüge. Er war protzig und sprach dem Geld eine
ungebührliche Macht und Bedeutung zu. Sogar der Tod seiner Schwester
war ihm willkommen, weil er durch ihn Universalerbe seines Vaters wurde.
Er war außerordentlich verschwenderisch in seinen persönlichen Bedürfnissen,
besonders in seiner Kleidung.
Die russische Revolution und das bolschewistische Regime brachten
eine umfassende Änderung. Der Wolfsmann und seine Familie verloren
ihr ganzes mobiles Vermögen und ihren ganzen Grundbesitz. Der Patient
machte sehr harte Zeiten mit, in denen er weder Geld noch Arbeit hatte.
Schließlich fand er eine kleine Anstellung in Wien.
Ende 1919 war er von Rußland gekommen und war wieder zu Freud
für wenige Monate Analyse zurückgekehrt, mit der Absicht, seine hysterische
Obstipation aufzuklären, was auch gelang. Er meinte augenscheinlich, daß
er imstande sein werde, für diese wenigen Monate Analyse zu bezahlen;
Ein Nachtrag zu Freuds „Gesdudite einer infantilen Neurose"
mit was für Mitlein, ist allerdings schwer zu sagen. Jedenfalls war er
schließlich dazu nicht in der Lage.
Nach Ablauf dieser Analyse hatte der Wolfsmann aber gar kein Geld
und keine Arbeit; seine Frau war krank und er befand sich in einer
verzweifelten Lage. Freud veranstaltete eine Geldsammlung für seinen
früheren Patienten, der der Theorie der Analyse so wertvolle Dienste ge-
leistet hatte, und wiederholte diese Sammlung jedes Frühjahr durch sechs
Jahre. Dieses Geld ermöglichte es dem Patienten, die Spitalsrechnungen
seiner Frau zu bezahlen, seine Frau aufs Land zu schicken und sich selbst
fallweise kurze Ferien zu gönnen.
Anfangs 1922 kam ein Bekannter des Patienten von Rußland nach
Wien und brachte ihm, was vom Familienschmuck übriggeblieben war.
Der Schmuck war angeblich Tausende von Dollars wert; aber als man
später einmal versuchte, ihn zu verkaufen, zeigte es sich, daß sein Wert
ein paar hundert Dollar nicht überstieg. Der Patient sprach mit niemandem
außer mit seiner Frau über den Schmuck; sie, nach Frauenart, riet ihm
sofort, Freud von dem Schmuck nichts zu erzählen, weil er, wie sie sagte,
seinen Wert sicher überschätzen und sich dann weigern würde, weiterhin
zu helfen. Das Halsband und die Ohrringe wären sein ganzes Kapital;
wenn er gezwungen wäre, sie zu verkaufen und von diesem Geld zu leben,
würde er dann gar keinen Rückhalt mehr haben. So hielt er den Besitz
des Schmuckes vollkommen geheim. In seiner Angst, Freuds Hilfe zu
verlieren, fiel es ihm gar nicht ein, daß Freud doch nie daran gedacht
hätte, den Patienten sein kleines Kapital aufbrauchen zu lassen. Er befolgte
den Rat seiner Frau, weil dieser, wie er zugab, auch seinem inneren
Gefühl entsprach. Von diesem Zeitpunkt an erwartete er die Geldspende
Freuds immer ungeduldiger. Er war immer neugierig, wie hoch das
nächste Geschenk sein werde, — der gesammelte Betrag wechselte jährlich,
— wie man es verwenden werde usw. Es entwickelte sich nun bei dem
Patienten, der bis dahin zwanghaft ehrlich gewesen war, ein bemerkens-
werter Mangel an Ehrlichkeit. Er begann Geldangelegenheiten vor seiner
Frau zu verheimlichen; in der Inflationsperiode spekulierte er, der immer
so vorsichtig gewesen war, und verlor beträchtliche Beträge. In allen Geld-
sachen zeigte sich bei ihm eine gewisse Unredlichkeit, die trotz seiner
früheren neurotischen Einstellung zum Geld nie dagewesen war.
Trotzdem befand sich der Patient ganz wohl. Der Mann, der einst mit
seinem eigenen Arzt nach Wien gekommen und nicht einmal imstande
gewesen war, sich selbst anzukleiden, bemühte sich nun redlich um jede
lo
Ruth Madt Brunswick
irgend erreichbare Arbeit und erhielt, so gut er es konnte, seine kränkliche
und vom Leben enttäuschte Frau. Seine Interessen und sein Ehrgeiz waren
jetzt im Vergleich zu seiner Jugend beschränkt. Scheinbar bezahlte et
damit für seine frühere Krankheit und Heilung. Trotzdem malte er weiter
und im Sommer 1922 verfertigte er ein Selbstporträt; dabei mußte er
viel Zeit damit zubringen, sich selbst im Spiegel anzuschauen.
Im April 1922 wurde an Freud die erste kleine Mundoperation vor-
genommen. Als der WoJfsmann ihn vor dem Sommer aufsuchte, um seine
Unterstützung zu bekommen, erschrak er über Freuds Aussehen. Dennocxi
dachte er wenig darüber nach und ging auf Ferien. Am Land begann er
beim Anblick obszöner Bilder zu masturbieren. Er übertrieb dies nicht
und wurde durch das Auftreten dieses Symptoms nicht besonders gestört
Seine Frau war oft krank und dem Verkehr abgeneigt. Als er im Herbst
nach Wien zurückkehrte, wurde Freud wieder operiert. Zu dieser Zeit
war der Ernst seiner Erkrankung uns allen, auch dem Wolfsmann, bekannt.
m
Krankengesdiidite
Ich will nun versuchen, die gegenwärtige Krankheitsgeschichte des
Patienten mit seinen eigenen Worten so kurz als möglich wiederzugeben,
wie er sie sofort nach Abschluß unserer Analyse im Februar ! 9 2 7 für
mich niedergeschrieben hatte.
Im November 1923 kam die Mutter des Patienten aus Rußland. Ais
er sie am Bahnhof abholte, bemerkte er eine schwarze Warze auf ihrer
Nase. Auf Befragen erzählte sie ihm, sie sei schon bei verschiedenen Ärzten
gewesen; die meisten hätten zur Entfernung der Warze geraten. Doch
waren sich die Ärzte nicht klar über die Natur der Warze, da sie auf merk-
würdige Art bisweilen verschwand und wiederkam. Manchmal war sie da
und manchmal wieder nicht. Die Mutter hatte die Operation verweigert
und war nun sehr froh über ihren Entschluß. Doch merkte der Patient,
daß sie etwas hypochondrisch geworden war; so fürchtete sie sich vor
Luftzug, Staub und Infektionen aller Art.
Anfangs 1924 begann der Patient an seinen Zähnen zu leiden, die bis
19 2i tadellos gewesen waren. In diesem Jahre mußten ihm zum ersten-
mal zwei Zähne entfernt werden. Nun wollte das Schicksal, daß der Zahn-
arzt, der die Extraktion vornahm und der dem Patienten auch prophezeite,
daß' er alle Zähne verlieren werde, weil er so kräftig aufbeiße, Dr. Wolf
hießl Wegen dieser Prophezeiung ging der Patient nicht mehr zu diesem
Zahnarzt, sondern suchte eine Menge anderer Zahnärzte auf, war aber mit
keinem vollkommen zufrieden. Einmal wurde er bei der Behandlung eines
infizierten Wurzelkanals ohnmächtig. Von Zeit zu Zeit zeigten sich kleine
Eiterbläschen an seinem Zahnfleisch.
12 Ruth Ma<k Brunswick
Gerade in dieser Zeit erfolgte eine Veränderung in dem Bureau, in
dem der Patient arbeitete, durch die er seine bisherige unabhängige
Stellung verlor und zu einem sehr rüden und uneinsichtigen Chef ver-
setzt wurde.
Das Hauptsymptom der Krankheit zeigte sich im Februar 1924, als der
Patient begann, sich über seine Nase sonderbare Gedanken zu machen.
Er war seit jeher mit seiner schmalen Stumpfnase unzufrieden gewesen •
man hatte ihn auch in der Schule damit geneckt und „Mops" genannt.
Im Pubertätsalter hatte ein Nasenkatarrh einen Ausschlag auf Nase und
Oberlippe verursacht, der mit Salben behandelt werden mußte. Diese wurden
von demselben Arzt verschrieben, der ihn dann bei einem anderen Katarrh
bei der Gonorrhöe, behandelte. Während seiner Analyse bei Freud
stand der Patient wegen verstopfter Talgdrüsen in Behandlung eines be-
kannten Wiener Dermatologen, Prof. X. Die Nase des Patienten war also
schon immer Gegenstand seines Nachdenkens und seines Mißvergnügens
gewesen.
In den Jahren nach dem Krieg hatten die Anforderungen des täglichen
Lebens ihn zu sehr beansprucht, um ihm zu erlauben, sich viel um sein
Äußeres zu kümmern; ja, um diese Zeit war er sogar stolz auf seine Nase
wohl wegen des häufigen Kontakts mit Juden. Es fiel ihm immer ein
daß er besonders glücklich sei, eine Nase ohne jeden Schönheitsfehler zu
besitzen. Manche Leute hätten Warzen, — seine eigene Frau hatte seit
Jahren eine Warze auf der Nase, — andere Male oder Pusteln. Doch seine
Gedanken gingen weiter. Wie schrecklich wäre es z.B., wenn er eine
Warze auf der Nase hätte.
Er fing nun an, seine Nase auf verstopfte Talgdrüsen hin zu unter-
suchen, und brachte es ungefähr einen Monat später zustande, einige
Nasenporen zu finden, die „wie kleine schwarze Punkte" (wahrscheinlich
Mitesser) hervorstanden. Dies verursachte ihm ein gewisses Unbehagen, und
er beschloß, wieder zu Prof. X. zu gehen, da er sich an dessen frühere
erfolgreiche Behandlung erinnerte. Doch scheint dies mehr ein Gedanke
als ein wirklicher Plan gewesen zu sein, denn der Patient traf keine
Anstalt, wirklich hinzugehen. Im Mai kehrte die Mutter des Patienten
nach Rußland zurück. Vierzehn Tage später bemerkte er ein kleines
Wimmerl in der Mitte seiner Nase, das „sehr merkwürdig aussah und
nicht verschwinden wollte". Das Wimmerl wurde hart und der Patient
erinnerte sich, daß eine Tante eine ähnliche Affektion gehabt hatte, die
nie vergangen war.
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 13
Die hysterische Obstipation, die, wie erinnerlich, der Zwangsneurose
vorgelagert war, trat wieder auf. Das Symptom war Gegenstand der vier-
monatigen Analyse bei Freud von November 1919 bis zum Februar 1920
gewesen. Mit Ausnahme von seltenen Anfällen während anderer Er-
krankungen war der Patient sechs Jahre davon frei geblieben. Als die
Obstipation wieder auftrat, verspürte er auch eine auffallende Müdigkeit.
Er ging zur Krankenkasse und verlangte eine stärkende Bäderkur. Zu
diesem Zweck mußte er sich von dem Kassenarzt untersuchen lassen, der
Fichtennadelbäder und kalte Umschläge auf den Bauch verordnete. Gegen
diese hatte der Patient Bedenken, da er sich ebenso wie seine Mutter vor
Verkühlung fürchtete. Wie gewöhnlich, gingen seine Befürchtungen in
Erfüllung: zu Pfingsten mußte er sich mit einer Influenza zu Bett legen.
(Man wird bemerken, daß sich der Patient, der am Weih nachtstag geboren
war, immer die hohen Feiertage, sei es zur Produktion von Symptomen,
sei es für andere wichtige Aktionen, aussuchte. Ich erwähnte einmal, daß
er trotz seines leidenschaftlichen Naturells nie übermäßig masturbiert habe.
Er erwiderte: „Das stimmt. Natürlich onanierte ich nur an den großen
Feiertagen.")
Der Patient litt den ganzen Winter hindurch an einem leichten Husten;
er war nun überzeugt, daß sich seine Influenza infolge der Verordnung
des Arztes zu einer Lungenentzündung entwickeln müsse. Das geschah
aber nicht. Als er kurze Zeit darnach diesen Arzt wieder aufsuchte (er
kehrte immer wieder von Zeit zu Zeit zu dem Arzt oder Zahnarzt zurück,
mit dem er nicht zufrieden war), ereignete sich ein merkwürdiger Vorfall.
Der Patient erinnerte sich, daß sich der Arzt beim letzten Besuche über
sein eigenes Nierenleiden beklagt hatte. Als er nun bei diesem Arzt saß,
den er sehr gern hatte, und mit ihm sprach, dachte er bei sich: „Wie
angenehm, daß ich, der Patient, eigentlich gesund bin, während er, der
Arzt, ernstlich krank ist."
Seine Befriedigung darüber schien aber Strafe zu verlangen. Er kam
nach Hause, legte sich nieder, um ein bißchen auszuruhen und fuhr
unwillkürlich mit der Hand über die Nase. Er spürte das harte Wimmerl
unter der Haut und kratzte es heraus. Dann ging er zu einem Spiegel
und beschaute seine Nase. An Stelle des Wimmerls war jetzt ein tiefes
Loch. Von dem Moment an beschäftigte er sich hauptsächlich mit dem
Gedanken: wird das Loch zuheilen, und wann? Er war jetzt gezwungen,
alle paar Minuten in seinen Taschenspiegel zu schauen, wahrscheinlich
um den Fortschritt der Heilung zu kontrollieren. Doch das Loch heilte
u
Ruth Made Brunswick
nicht ganz zu; und daß es nicht heilte, verbitterte ihm das Leben. Er-
schaute immer wieder in seinen Spiegel, trotz allem voll Hoffnung, daß
in ein paar Monaten wieder alles gut sein würde. Von jetzt an konnte er-
sich über gar nichts mehr freuen; er begann auch das Gefühl zu haben,
daß jeder das Loch in seiner Nase anschaue.
Schließlich suchte der Patient knapp vor den Sommerferien Prof. X. auf
merkwürdigerweise nicht wegen des Loches in der Nase, sondern wegen
der verstopften Talgdrüsen, die zu finden ihm doch noch gelungen war
Prof. X., der den Patienten seit dem Krieg und nach dem Verlust seines
Vermögens nicht gesehen hatte, war sehr freundlich. Er machte den
Patienten aufmerksam, daß die Nase eine Zeitlang rot bleibe, wenn man
die Talgdrüsen eröffne, was aber ganz leicht sei. Dann nahm er ein
Instrument und öffnete einige der Talgdrüsen. Für die übrigen verschrieb
er verschiedene Medikamente, eine Flüssigkeit und eine Salbe. (Mit
zwölf Jahren hatte der Patient eine Salbe für einen ähnlichen Zustand
erhalten.)
Die Warnung von Prof. X. erwies sich als berechtigt: Die Nase des
Patienten blieb für einige Tage so rot, daß er seinen Besuch bei X. fast
bereute. Seine Frau wollte von den Medizinen nichts wissen und warf
sie weg — vielleicht nicht ganz gegen den Willen des Patienten.
Plötzlich, am Tag vor seiner Abreise aufs Land, begann der Patient
ohne ersichtlichen Grund zu fürchten, der Zahn, der ihm einige Monate
früher zu schaffen gemacht hatte, könnte ihm den Urlaub verderben. Er
ging zum Zahnarzt und erlaubte ihm, den Zahn zu extrahieren. Wie sich
später zeigte, war es ein falscher gewesen. Am nächsten Tag bereute der
Patient sehr, daß er den Zahnarzt aufgesucht hatte, da er sicher war,
daß eigentlich ein anderer Zahn nicht in Ordnung sei. Hinzu kam noch
daß ihm sein Husten Sorgen machte.
Dennoch verlief der Landaufenthalt befriedigend. Der Patient malte
fleißig und dachte auch immer weniger über seine Nase und seine Zähne
nach. Tatsächlich wurde er ohne reale Ursache selten hypochondrisch in
Bezug auf seine Zähne. Nur wenn ein Grund da war, wurde sein Miß-
trauen gegen den behandelnden Zahnarzt manifest. (Professor Freud
sagte mir, daß diese spätere Unzufriedenheit mit den Zahnärzten und
sein Mißtrauen gegen sie eine genaue Wiederholung seiner früheren Ein-
stellung gegen seine Schneider war. So ging er in seiner ersten Analyse
von Schneider zu Schneider, wobei er abwechselnd bat und Geschenke
gab, dann wieder wütend war, Szenen machte, immer etwas schlecht fand,
Ein Nachtrag zu b'reuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 15
und dabei immer eine Zeitlang einem Schneider treu blieb, obwohl er
mit ihm unzufrieden war.)
Herbst und Winter 1924/25 blieben ohne Zwischenfalle. Wenn der
Patient der sein Nasensymptom fast vergessen hatte, seine Nase wieder in
einem Spiegel besah, konnte er nicht einmal die Stelle finden, wo das
Loch gewesen war. Mit einem Gefühl der Erleichterung betrachtete er
diese Angelegenheit als der Vergangenheit angehörig.
Während dieser Zeit traten gewisse Veränderungen in seinem Sexual-
leben auf. Er kehrte zu seiner früheren Gewohnheit zurück, Frauen auf
der Straße nachzugehen. Der Leser der „Geschichte einer infantilen Neurose"
wird sich erinnern, daß der Patient verschiedentlich Beziehungen sexueller
Natur mit Frauen aus den niederen Ständen unterhalten hatte. Er be-
gleitete jetzt häufig Prostituierte in ihre Wohnung, seine Beziehung zu
ihnen beschränkte sich dabei aus Angst vor Geschlechtskrankheit auf
Masturbation in ihrer Gegenwart. Die Masturbation hatte im Sommer 1923
damit begonnen, daß der Patient beim Anblick obszöner Bilder onanierte.
Seine Beziehungen zu den Prostituierten waren ein weiterer Schritt in
dieser Bichtung.
Das krankhafte Interesse des Patienten für seine Nase hatte vom
Februar 1924 bis ungefähr zum Ende des Sommers gedauert; im ganzen
also sechs Monate.
Am Ostertag 1925 traten die Nasensymptome wieder auf. Als der
Patient mit seiner Frau in einem Park saß, spürte er plötzlich einen
Schmerz in der Nase. Er bat seine Frau um ihren Taschenspiegel,
betrachtete sich darin und bemerkte ein großes schmerzhaftes Wimmerl
auf der rechten Seite seiner Nase. Trotz seiner Größe und Schmerz-
haftigkeit schien es ein gewöhnliches Wimmerl zu sein und machte dem
Patienten weiter keine Sorge. So erwartete er, daß es bald verschwinden
werde, und ließ mehrere Wochen verstreichen, während welcher Zeit das
Wimmerl sich bald besserte, bald wieder eiterte. (Die Warze seiner Mutter
war in ähnlicher Weise bald sichtbar gewesen, bald verschwunden.) Als
Pfingsten kam, begann der Wolfsmann die Geduld zu verlieren. Am
Pfingstsonntag ging er mit seiner Frau ins Kino zum Film „Die weiße
Schwester". Der Film erinnerte ihn an seine eigene Schwester, die seit
so vielen Jahren tot war. Sie hatte kurz vor ihrem Selbstmord ebenso
wie er darüber geklagt, daß sie nicht schön genug sei. Es fiel ihm
auch ein, wie oft sie sich über die Wimmerln in ihrem Gesicht auf-
geregt hatte. Er kam sehr deprimiert nach Hause. Am nächsten Tag suchte
16 Ruth Made Brunswick
er den Dermatologen der Krankenkasse auf. (Es ist auffällig, daß er Xli
dieser Zeit den Dermatologen wechselte.) Der Kassenarzt sagte ihm, das
Wimmerl sei gar nichts Besonderes, es werde mit der Zeit vergehen. Doch
als der Patient zwei Wochen später ganz ungebessert zu ihm kam, meinte
er, daß das Wimmerl eine infizierte Talgdrüse sein müsse. Auf die Frag e
des Patienten, ob es von selbst verschwinden werde oder ob man etwas
dafür tun solle, verneinte der Arzt beides.
Nun wurde der Patient von großer Verzweiflung erfaßt. Er fragte, "b
denn das möglich sei, daß es gar keine Behandlung für so eine Krankhei
gäbe, und ob er denn verurteilt sei, sein ganzes Leben mit so einem Din
auf seiner Nase herumzulaufen. Der Arzt sah ihn gleichgültig an und
wiederholte^ daß man nichts tun könne. In diesem Moment hatte der
Patient das Gefühl, daß die Welt aus den Angeln gehoben werde. Seim
ganzer Lebensbau stürzte zusammen. Das war sein Ende; so verstümmelt
konnte er nicht weiter leben.
Vom Krankenkassenarzt stürzte er zu Prof. X., der ihn freundlic
empfing und ihn beruhigte; es sei da leicht zu helfen. Er werde sofort
die Talgdrüse entfernen. Mit einem Instrument drückte er auf die infizierte
Stelle auf der Nase des Patienten. Der Patient schrie auf und Blut floß
an der Stelle, wo die Talgdrüse gewesen war. In der Analyse zeigte sich.
dann, daß der Patient, als er sein Blut unter der Hand des Arztes
fließen sah, in einen ekstatischen Zustand geriet. Er atmete tief auf und
war kaum imstande, seine Freude zu meistern. Zwei Stunden früher
war er vor dem Selbstmord gestanden, jetzt hatte ein Wunder ihn von
der Vernichtung errettet.
Aber einige Tage später, als das getrocknete Blut mit dem Schorf von
der Wunde abgefallen war, bemerkte er zu seinem Entsetzen eine kleine
rote Erhebung an der Stelle, wo die Wunde gewesen war. Diese gan^ e
Stelle sah etwas geschwollen aus. Nun tauchte die Frage auf: Wird di e
Schwellung zurückgehen? Oder hatte der Krankenkassenarzt recht mit seiner
Bemerkung, daß es gegen so etwas keine Hilfe gibt?
Zu der Zeit veranlaßte das Auftreten von kleinen Eiterbläschen am
Gaumen den Patienten, seinen Zahnarzt aufzusuchen. Als dieser die Bläsche
für ganz unwichtig hielt, glaubte er, doch noch ein anderes Urteil ein
holen zu müssen. Schon seit einiger Zeit hatte er nur noch weni
Vertrauen zu seinem Zahnarzt. Er ging jetzt zu einem anderen, den ih
ein Bekannter im Bureau empfohlen hatte. Der neue Zahnarzt erklärte
wie immer der früher extrahierte Zahn gewesen sein möge, es s
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantüen Neurose" 17
doch noch ein wirklich kranker Zahn im Mund verblieben. Diesen Zahn
machte er für alle Unannehmlichkeiten des Patienten verantwortlich, auch
für das Wimmerl auf seiner Nase. Der Zahn sei so arg infiziert, daß,
wenn er nicht sofort extrahiert werde, die Gefahr bestehe, daß sich der
Eiter auf jedes Organ des Körpers schlagen könne und dann eine allgemeine
Sepsis entstelle. Wenn dieser Zahn gleich zu Beginn gezogen worden wäre,
hätte der Patient keine Schererei mehr mit dem Wimmerl oder mit der
eiternden Talgdrüse gehabt. Da diese Ansicht mit der des Patienten über-
einstimmte, ließ er den Zahn sofort entfernen.
Er machte nun den früheren Zahnarzt für alle Unannehmlichkeiten
verantwortlich. Aber nach der Extraktion des Zahnes wandte sich sein
Interesse wieder seiner Nase zu, die ihm so sehr anzuschwellen schien,
daß sie ihrer früheren Form gar nicht mehr ähnelte. Den ganzen Tag
lang sah der Patient die geschwollene Stelle an und quälte sich mit dem
Gedanken, daß „seine Nase nicht mehr so ist, wie sie war. Er ging
wieder zu Prof. X., der ihm versicherte, daß alles in Ordnung sei. Diese
Äußerung beruhigte ihn aber keineswegs, er erschrak sogar sehr. Die Schwellung
seiner Nase hatte so zugenommen, daß die eine Hälfte deutlich von der
anderen abstach. Außerdem schwoll sie immer noch weiter an; er war beim
Gedanken an eine weitere Zunahme der Schwellung so entsetzt, daß er
wieder zu Prof. X. ging. Diese häufigen Besuche interessierten den
Dermatologen nicht mehr. Er kehrte dem Patienten den Rücken, schaute
beim Fenster hinaus und überließ den Patienten ganz seinem Assistenten.
„Vom Schicksal verfolgt und von der Medizin verlassen", ersann der Patient
nun einen neuen Plan, um die Aufmerksamkeit von Prof. X. auf sich zu
lenken. Er beschloß, Prof. X. mit seiner Frau aufzusuchen, da er sich
allein nicht mehr hintraute. Seine Frau hatte, wie erinnerlich, eine Warze
auf der Spitze ihrer Nase. Prof. X., außerordentlich liebenswürdig, entfernte
die Warze sofort. Als ihn aber der Patient mit seiner gewöhnlichen Frage
anging, was mit seiner Nase werden solle, wurde er ärgerlich. Er sagte
schließlich, daß der Patient an Gefäßektasien leide und daß man diese
wie eine Warze am besten mit Elektrolyse behandle. Er fügte noch hinzu,
daß der Patient in wenigen Tagen zur elektrolytischen Behandlung
kommen könne.
Einerseits war der Paüent unzufrieden, weil er eine neue Krankheit
hatte, andererseits schöpfte er wieder Hoffnung, geheilt zu werden. Aber
er zweifelte an der Diagnose. Da er sich des Alkohols vollkommen
enthielt, verstand er nicht, wie er eine Gefäßerweiterung habe akquirieren
18 Ruth Made Brunswick
können, eine Krankheit, an der zumeist Trinker leiden. Außerdem war
er zu jung dazu. Seine Frau riet ihm, vor dem Sommerurlaub nicht mehr
zu Prof. X. zu gehen. „Er hat jetzt eine Wut auf dich", sagte sie, „und
tut dir vielleicht etwas an, worüber du dich dein ganzes Leben kränken
wirst." Beide hatten das Gefühl, daß Prof. X. den armen russischen
Flüchtling ganz anders als den reichen russischen Patienten Freuds
behandle.
Anfangs August besuchte der Patient den Bekannten, der ihm den
neuen Zahnarzt empfohlen hatte. Der Patient fragte ihn, ob er an seiner
Nase etwas Besonderes bemerken könne ; sein Freund betrachtete ihn genau
und meinte, er könne wohl die Stelle, wo die Drüse entfernt worden sei,
nicht sehen, aber es käme ihm vor, daß eine Seite der Nase ein bißchen
geschwollen sei. Diese Bemerkung versetzte den Patienten in große Auf-
regung. Er dachte nun, daß sich seine Gefäßerweiterung nicht gebessert
habe, und es sei zwecklos, die elektrolytische Behandlung bis zum Herbst
aufzuschieben. Er verlor die Geduld und beschloß, sich der von X.
empfohlenen Behandlung zu unterziehen. Doch, wie gewöhnlich, wollte er
noch eine andere Meinung zur Kontrolle hören. Er konsultierte daher
einen anderen Dermatologen, der bemerkenswerterweise seine Ordination
in der Nähe von Freuds Wohnung hat.
Dieser bestätigte X.s Diagnose und fügte bei, daß die verstopften Talg-
drüsen sehr geschickt entfernt worden seien. Er bezeichnete die
Elektrolyse als harmlos, aber ungeeignet für dieses Leiden, und empfahl
Diathermie. Er war sehr freundlich und verlangte vom Patienten das
für einen Besuch übliche Honorar, da er über dessen finanzielle Situation
nicht orientiert war. Der Patient hatte ihn gewählt, indem er im Telephon-
buch nach Dermatologen suchte, und ließ sich bei der Entscheidung
sichtlich durch die Lage seiner Wohnung bestimmen. Der Patient, der
bei X. nichts bezahlte, war sehr stolz, wieder „wie ein Gentleman" gezahlt
zu haben.
Er war jetzt wieder ganz beruhigt über X.s Urteil, der bisher zweifellos
das Richtige getan hatte, und dem man daher wohl auch vertrauen konnte,
wenn er Elektrolyse der Diathermie vorzog. Außerdem verreiste der
Anhänger der Diathermie an dem der Ordination folgenden Tage; daher
kam seine Behandlung nicht in Frage. Der Patient aber wollte die
ganze Sache vor seinem eigenen Urlaub in Ordnung bringen. Er ging zu
Prof. X., der, wie er erfuhr, die Stadt am nächsten Tag für den Sommer
verlassen wollte. Voll Vertrauen und Zuversicht ließ sich der Patient mit
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschidite einer infantilen Neurose"
19
Elektrolyse von X. behandeln, der, wie ihm schien, ungewöhnlich freundlich
war. Als er heimkam, rief seine Frau: „Um Gottes willen, was hast du
mit deiner Nase gemacht?" Die Behandlung hatte einige Male hinter-
lassen, die den Patienten aber gar nicht weiter beunruhigten. Die Meinung
des anderen Dermatologen über X. und sein Zuspruch hatten sein seelisches
Gleichgewicht so sehr wiederhergestellt, daß er sich wieder einmal voll-
kommen auf der Höhe der Situation fühlte. Er hatte auch ein merk-
würdiges Gefühl, als ob er durch den zweiten Dermatologen mit dem
ersten versöhnt worden sei.
Drei Tage später ging der Patient mit seiner Frau aufs Land. Der
Urlaub verlief befriedigend. Obwohl er sich in Gedanken mit seiner Nase
beschäftigte und ihm die Narben nach der elektrolytischen Behandlung
zu denken gaben, genoß er doch seine Ferien. Er malte, machte Ausflüge
und fühlte sich im allgemeinen wohl. Als er im Herbst in die Stadt
zurückkehrte, war er scheinbar ganz normal, nur betrachtete er öfter als
notwendig die Narben auf seiner Nase.
Sein Interesse wandte sich jetzt wieder seinen Zähnen zu. Der letzte
Zahnarzt hatte fünf Füllungen gemacht und wollte eine neue Krone
machen, die wie er sagte, sehr notwendig sei. Aber der Patient, der dem
Urteil des Zahnarztes mißtraute, hatte sich geweigert, die Krone anfertigen
zu lassen, bevor er die Meinung eines anderen Zahnarztes eingeholt hatte.
Dieser wieder meinte, die Krone sei ganz überflüssig, doch müßten sechs
neue Füllungen gemacht werden. Da fünf neue Füllungen gerade zwei
Monate früher gemacht worden waren, begann der Patient auch diesem
Zahnarzt zu mißtrauen und ging wieder zu einem andern. Der zuletzt
befragte erklärte, daß die neue Krone nicht unbedingt nötig sei, es müßten
aber zwei, nicht sechs neue Füllungen gemacht werden. Da die Meinung
des zweiten Zahnarztes über die Krone mit der des dritten übereinstimmte,
beschloß der Patient, zum zweiten Zahnarzt zurückzukehren, obwohl ihn
dort sechs neue Füllungen erwarteten. Aber jetzt verweigerte der Kranken-
kassenzahnarzt die Bewilligung für so große zahnärztliche Arbeiten, indem
er noch hinzufügte, es sei jammerschade, so schöne Zähne durch so viele
Plomben zu verderben. Er bat dann den Patienten, diese Bemerkung
niemandem mitzuteilen. Dies berührte den Patienten so sonderbar (wahr-
scheinlich wegen der darin enthaltenen homosexuellen Bewunderung), daß
er es dem Freund weitererzählte, der sich damals über seine Nase geäußert
hatte. Der Freund empfahl ihm einen Zahnarzt, einen Mann von
besonderer Urteilskraft und Erfahrung, imstande, das Werk von allen
20 Ruth Made Brunswick
anderen zu überprüfen. Dieser Mann, der einer der ersten Zahnärzte war,
hieß — Dr. Wolf!
Dieser zweite Dr. Wolf hilligte die Leistungen des letzten Zahnarztes,
zu dem der Patient, trotz seiner Unzufriedenheit, deswegen zurückkehrte.
Der Zahnarzt sagte ihm jetzt, wie einer aus der langen Reihe der früheren,
daß er zu stark aufbeiße und wahrscheinlich bald nicht nur alle Plomben,
sondern auch alle Zähne verlieren werde.
Bis Weihnachten 1925 fühlte sich der Patient, der jetzt im Bureau
Schwierigkeiten hatte, wohl, abgesehen von der Sorge, wann die Narben
auf seiner Nase vergehen würden. Aber zu Beginn des Jahres 1926 trat
das Nasensymptom wieder in den Vordergrund und nahm seine Gedanken
immer mehr in Anspruch. Als Ostern kam, spielte der Spiegel wieder eine
große Rolle, und der Patient zweifelte, ob die Narben, die jetzt fast ein
Jahr da waren, überhaupt je verschwinden würden.
Der Sommer 1926 brachte seine Symptome zur vollen Entwicklung.
Am 16. Juni suchte er Freud auf und bekam die alljährlich für ihn
gesammelte Geldspende. Er erwähnte natürlich nichts von seinen
Symptomen. Zwei Tage früher hatte er den Krankenkassenarzt aufgesucht,
bei dem er in letzter Zeit häufig wegen zunehmenden heftigen Herz-
klopfens gewesen war. Er hatte in einem Zeitungsartikel gelesen, daß
Lebertran schlecht fürs Herz sei. Da er aus unbekannter Ursache zw ei
Jahre lang Lebertran genommen hatte, fürchtete er, sein Herz geschädigt
zu haben. Der Arzt konstatierte eine Herzneurose.
Plötzlich, am nächsten Tag, — es war der 15. Juni, — beschloß er .
zu dem Dermatologen zu gehen, dessen Worte ihn so getröstet hatten.
Er führte seine Absicht gleich aus. Der Dermatologe konnte absolut nichts,
von einer Narbe an der Stelle der entfernten Talgdrüse finden; anderer-
seits erklärte er, daß dort, wo die Elektrolyse appliziert worden war,
er hatte Diathermie empfohlen, — Narben sichtbar seien. Auf die Be-
merkung des Patienten, daß solche Narben mit der Zeit verschwinden
müßten, erwiderte er, daß Narben niemals verschwinden und durch keiner-
lei Behandlung zu entfernen seien. Wie konnte man so etwas mit Elek-
trolyse behandeln? Sei der Patient wirklich zu einem richtigen Dermato-
logen gegangen? Dies scheine sicher nicht die Arbeit eines Spezialisten
zu sein.
Bei den Worten „Narben verschwinden niemals" bemächtigte sich ei a
fürchterliches Gefühl des Patienten. Er verfiel in eine so bodenlose Ver-
zweiflung, wie er sie in keiner seiner früheren Erkrankungen durchge-
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschiente einer infantilen Neurose'
21
macht hatte. Es gab also keinen Ausweg, kein Entrinnen. Die Worte des
Dermatologen tönten ihm immerfort in den Ohren: „Narben verschwinden
niemals." Es blieb ihm nur eine Beschäftigung, und auch diese war ohne
Trost: beständig in seinen Taschenspiegel zu schauen und festzustellen,
wie verunstaltet er sei. Er trennte sich fortan nicht mehr von seinem
kleinen Taschenspiegel. Im Laufe der Zeit ging er wieder zu dem Derma-
tologen, flehte um seine Hilfe und bestand darauf, daß es, wenn schon
keine Heilung, so doch eine mildernde Therapie geben müsse. Der Arzt
antwortete, eine Behandlung gäbe es nicht und es sei auch keine nötig.
Auf der Nase, auf die auch eine Primadonna stolz sein könne, sei nur
ein feiner weißer Strich sichtbar. Er versuchte den Patienten zu beruhigen
und riet ihm, seine Gedanken von der Nase abzulenken, da diese offen-
sichtlich zu einer fixen Idee geworden sei.
Aber jetzt hatten seine Worte gar keine Wirkung beim Patienten. Er
empfand sie nur als ein einem verstümmelten Bettler hingeworfenes Almosen.
(Es sei hier auf die „Geschichte einer infantilen Neurose" verwiesen, in
der gezeigt wird, daß das Mitleid mit Bettlern, und besonders mit dem
taubstummen Diener, auf das Mitleid mit dem kastrierten Vater auf Grund
narzißtischer Identifizierung zurückgeht.) Er ging zu einem dritten Derma-
tologen, der die Nase des Patienten ganz in Ordnung fand. In seiner
äußersten Verzweiflung verfolgte den Patienten immer nur ein Gedanke:
Wie konnte sich Prof. X., der berühmte Dermatologe, eines solchen nicht
gutzumachenden Versehens gegen ihn schuldig machen? War es nur ein
schrecklicher Zufall, war es Nachlässigkeit oder mehr sogar, vielleicht
unbewußte Absicht? Und, so gingen die Gedanken dieses analytisch
besonders geschulten und klugen Patienten weiter, wo endet das Unbe-
wußte und beginnt das Bewußte? Der Patient haßte Prof. X. von ganzem
Herzen als seinen Todfeind.
IV
Der Verlauf der jetzigen Analyse
Dies war also die Geschichte der Erkrankung, die den Patienten zu
mir brachte. Ich muß gestehen, daß es mir im Anfang schwer fiel, zu
glauben, daß ich den Wolfsmann aus der „Geschichte einer infantilen
Neurose" vor mir hätte, der nach Professor Freuds späteren Schilderungen
ein anständiger, zwanghaft ehrlicher und gewissenhafter Mensch war, zu-
verlässig in jeder Beziehung. Der Mann, der bei mir erschien, hatte sich
aller möglichen kleineren Unehrenhaftigkeiten schuldig gemacht, er ver-
heimlichte einem Wohltäter gegenüber den Besitz von Geld, dem gegen-
über aufrichtig zu sein er allen Grund hatte. Am auffallendsten war es
daß er von seiner eigenen Unehrenhaftigkeit gar keine Ahnung hatte. E.s
schien ihm ganz ohne Bedeutung zu sein, wenn er Geldgeschenke annahm,
die unter falschen Voraussetzungen gegeben waren — und dies in Anbe-
tracht der Tatsache, daß er die Juwelen mit Tausenden von Dollars
bewertete.
In der Analyse verstellte er sich zunächst. Er weigerte sich, über seine
Nase oder seine Erlebnisse mit den Dermatologen zu sprechen. Jede Er-
wähnung Freuds wurde mit einem eigentümlichen Lächeln übergangen.
Er sprach viel über die Wunder der Analyse als Wissenschaft, die Ge-
nauigkeit meiner Technik, die zu beurteilen er sich sofort für befähigt hielt,
über das Gefühl der Sicherheit, in meinen Händen zu sein, wie gütig ich
sei, ihn ohne Bezahlung zu behandeln, und ähnliche Liebenswürdigkeiten
mehr. Wenn ich durch den Warteraum vor Beginn seiner Stunde durch-
ging, sah ich ihn auf und ab gehen und bald in den großen Spiegel,
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose"
23
bald in seinen Taschenspiegel schauen. Aber wenn ich auf dieses Verhalten
hinwies, begegnete er mir mit großer Entschiedenheit: es seien andere
Dinge zu besprechen als seine Nase, und solange diese nicht erledigt seien,
— wozu er ein paar Wochen brauche, — werde er seine Aufmerksam-
keit nichts anderem zuwenden. Als schließlich die Nase zur Besprechung
kam, lernte ich die Unnachgiebigkeit des Patienten in all ihren Varianten
kennen. Und auch da zeigte sich seine Absperrung. Da er seit jeher,
wahrscheinlich infolge seines Narzißmus, der Suggestion völlig unzugäng-
lich war, beschloß er nun, sich hinter dieser Unzugänglichkeit zu ver-
schanzen ; und ein Charakterzug, der sonst für die Genauigkeit einer Analyse
von größtem Wert ist, wurde hier zum Hauptwiderstand.
Sein erster Traum ist eine Variante des berühmten Wolfstraumes, viele
andere sind bloße Wiederholungen davon. Dabei zeigt sich eine amüsante
Veränderung: die Wölfe, die früher immer weiß waren, sind jetzt immer
grau. Als der Patient Freud aufsuchte, hatte er mehr als einmal Gelegen-
heit, den großen, grauen Polizeihund Freuds zu sehen, der wie ein ge-
zähmter Wolf aussieht. Daß sein erster Traum wieder ein Wolfstraum ist,
sieht der Patient als eine Bestätigung seiner Ansicht an, daß alle seine
Schwierigkeiten aus der Beziehung zu seinem Vater stammen; aus diesem
Grunde sei er froh, nunmehr bei einer Frau in Behandlung zu stehen.
Diese Einstellung zeigt den Versuch, dem Vater auszuweichen ; im übrigen
ist seine Meinung in gewissem Ausmaße auch richtig. Denn es ist für
ihn jetzt wirklich sicherer, bei einer Frau in Analyse zu sein, weil er so
die homosexuelle Übertragung meidet, die zu diesem Zeitpunkt offenbar
so stark war, daß sie die Kur eher gehindert als gefördert hätte. Der Ver-
lauf der Behandlung schien diese Anschauung zu bestätigen.
Es ist vielleicht überflüssig, die Tatsache wieder in Erinnerung zu
bringen, daß der im Alter von vier Jahren geträumte Wolfstraum den
Kern der passiven Einstellung des Patienten dem Vater gegenüber ent-
hält, die in seiner Koitusbeobachtung im Alter von anderthalb Jahren und
in der Identifizierung mit der Mutter ihren Ursprung hat.
Im Zusammenhang mit wiederholten Bemerkungen des Patienten über
die unentgeltliche Behandlung bringt er einen Traum, in dem er den
Besitz des Schmuckes verrät:
Er, steht am Vorderteil eines Schiffes und trägt eine Tasche mit Juwelen —
die Ohrringe seiner Frau und ihren Taschenspiegel aus Silber. Er Uhnt sich
an die Reeling, zerbricht dabei den Spiegel und denkt, daß er jetzt sieben
Jahre Unglück haben wird.
24
Ruth Made Brunswick
Im Russischen nennt man das Vorderteil des Schiffes seine Nase, und
das ist ja gerade der Punkt, von dem das Unglück des Patienten seinen
Ausgang nimmt. Der Spiegel, der in seiner Symptomatik eine so große
Rolle spielt, ist auch vorhanden. Und die Tatsache, daß er seiner Frau
gehört, steht damit im Zusammenhang, daß sich der Patient zuerst den
Spiegel seiner Frau entlehnte, um seine Nase zu untersuchen, und im
weiteren Verlaufe gewissermaßen eine Gewohnheit der Frauen übernahm,
häufig in den Spiegel zu schauen. Dazu kommt noch, daß man beim
Zerbrechen eines Spiegels auch das Spiegelbild zerbricht. So wird auch
das Gesicht des Patienten gleichzeitig mit dem Spiegel beschädigt.
Die Absicht des Traumes war, zu verraten, daß der Patient die Juwelen
besitze, unter denen sich wirklich die Ohrringe aus dem Traum befinden.
Die sieben Jahre bedeuten die Jahre seit seiner Analyse bei Freud; während
eines Teiles dieser Zeit wurde der Schmuck verheimlicht. Der Patient
deutete aus freien Stücken die Zahl der Jahre, doch stellte er jede Unehren-
haftigkeit in Abrede. Er gab zu, daß es besser gewesen wäre, sofort vom
Schmuck zu reden, weil ihm dann, wie er sagte, leichter zumute gewesen
wäre. Aber Frauen — er meinte seine Frau — seien immer so: miß-
trauisch und argwöhnisch und immer voll Angst, etwas zu verlieren. Es
war ja seine Frau, die ihn zur Verheimlichung des Schmuckes verleitet
hatte.
Ich befand mich wieder an einem Punkt, an dem sich der Patient
vollkommen unzugänglich zeigte; es bedurfte nur kurzer Zeit, um zu er-
kennen, daß seine Skrupellosigkeit ebenso wie sein Unvermögen, sie zu
erkennen, Zeichen einer weitgehenden Charakterveränderung waren. Außer
seinem Scharfsinn und seiner analytischen Einsicht hatte mein Patient
wenig mit dem alten Wolfsmann gemeinsam, der, wie man sich erinnern
wird, die Frauen, so besonders seine Mutter, beherrscht hat. Mein Patient
stand ganz unter der Kontrolle seiner Frau; sie kaufte seine Kleider, be-
krittelte seine Ärzte und verwaltete sein Geld. Die Passivität, die früher
nur dem Vater gegenüber bestand und auch hier unter dem Bild der
Aktivität aufgetreten war, war jetzt frei geworden und hatte sich ebenso
der homosexuellen wie der heterosexuellen Beziehungen bemächtigt. Auch
sonst hatte sich manches in seinem Verhalten geändert. Es fielen kleine
Unzukömmlichkeiten vor; der Patient war nachlässiger in seiner Arbeit
und verließ, wann es ihm paßte, sein Bureau. Wenn er ertappt wurde,
gebrauchte er irgendeine Entschuldigung.
Diese vielleicht an und für sich nicht so auffallenden Symptome stehen
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 25
zum früheren Charakter des Patienten in solchem Gegensatz, daß man sie
als ein Zeichen einer Charakterveränderung auffassen muß, die nicht minder
tiefgehend ist, als die des Dreieinhalb] ährigen gewesen war.
Ein Anfall von Diarrhöe zu Beginn der Analyse kündigte das wichtige
Thema des Geldes an. Aber der Patient begnügte sich mit dem Symptom,
machte jedoch nicht Miene, seine Schulden zu bezahlen. Im Gegenteil,
es wurde klar, daß die Geldgeschenke Freuds vom Patienten als etwas
aufgefaßt wurden, was ihm gebührte, als Liebesbeweise des Vaters gegen-
über dem Sohne. Auf diese Weise entschädigt sich der Patient für die
alte Kränkung, die ihm zuteil wurde, als ihm der Vater die Schwester
vorzog. Doch gingen mit dieser Einstellung gewisse Größenideen Hand in
Hand. Der Patient begann mir von der ungewöhnlichen Intensität seiner
Beziehungen zu Freud zu erzählen. Sie seien, sagte er, weit mehr freund-
schaftlich als beruflich. Freud hätte sogar so großes persönliches Interesse
für ihn gehabt, daß er sich hätte verleiten lassen, ihm einen Rat zu
geben, der sich später als schlecht erwies. Während der Analysenmonate
1919 und 192 o wollte der Patient nach Rußland zurückkehren, um sein
Vermögen zu retten. Es sei zwar richtig, daß seine Mutter und sein An-
walt damals in Rußland waren und, wie man annehmen kann, genugende
Kompetenz besaßen, um nach dem Rechten zu sehen; dennoch meinte
der Patient damals, daß nur er imstande sei, das Familienvermögen zu
retten Freud sagte, daß der Wunsch, nach Hause zu reisen, nur ein
Widerstand sei; dabei deutete der Patient in zarter Weise an, daß Freuds
Ratschlag nicht durch die tatsächlichen Verhältnisse, sondern durch seine
Sorge um den Patienten motiviert gewesen sei. So brachle also Freud den
Patienten dazu, in Wien zu bleiben. Während sich der Patient wohl durch
das, was er für Freuds Motiv hielt, offenkundig geschmeichelt fühlte, tadelte
er ' ihn doch gleichzeitig sehr wegen des Verlustes seines Vermögens.
Andererseits hatte er Freud nie eines beabsichtigten Unrechts verdächtigt.
Wahrscheinlich sollten ihm die Vorwürfe, die er Freud in dieser Ange-
legenheit machte, die Berechtigung geben, Geldunterstützungen von ihm
anzunehmen. In Wirklichkeit wäre es für den Patienten damals unmög-
lich gewesen, nach Rußland zurückzukehren. Sein Vater war ein bekannter
liberaler Führer gewesen und der Patient hätte leicht erschossen werden
können.
Eine Zeitlang war meine Beziehung zum Patienten trotz seiner Unzu-
gänglichkeit an den wichtigsten Stellen oder gerade deswegen sehr gut.
Er brachte die durchsichtigsten Träume, damit ich meine Geschicklich-
26 Ruth Made Brunswick
keit im Deuten zeigen könne; damit wollte er seine Behauptung
beweisen, daß er bei mir besser als bei Freud aufgehoben sei: die Träume
in seiner früheren Analyse, sagte er, seien wirr und schwer zu verstehen
gewesen. Es habe aber auch endlos lange Perioden des Widerstandes ge-
geben, in denen gar kein Material zutage kam. Dann und wann deutete
er an, daß er bei mir sicherer sei, weil ich in meinem Verhalten gegen
ihn objektiver sei als Freud gewesen war. Ich hätte z. B. nie, meinte er
den Fehler begangen, ihn an der Rückkehr nach Rußland zu hindern.
Und dann sei auch Freuds persönlicher Einfluß zu groß gewesen: die
ganze Atmosphäre der gegenwärtigen Analyse sei reinlicher als die der
früheren. Jeder Tag beleuchtete seine Beziehung zu Freud, zu seiner Frau
oder zu mir von einer neuen Seite. Nur weigerte er sich, über seine Nase
oder über seine Einstellung zu Prof. X. zu reden. Über die Tatsache, daß
er während seiner ersten Analyse bei X. gewesen war, daß er durch Freud
dorthin empfohlen worden war, daß X. ein Freund der Familie Freud und
im selben Alter wie Freud war, und natürlich, wie der Patient selbst sagte
nur als ein Ersatz für Freud aufzufassen ist, kamen wir nicht hinaus.
Da kam mir das Schicksal zu Hilfe. Einige Wochen, nachdem der
Wolfsmann seine Analyse bei mir begonnen hatte, starb Prof. X. plötzlich
eines Sonntags nachts. In Wien erscheinen am Montagmorgen keine guten
Tagesblätter; der Wolfsmann befand sich zur Zeit der Ausgabe der Abend-
blätter gerade in der Analysenstunde. So war meine erste Frage: Haben
Sie heute eine Zeitung in der Hand gehabt ? Wie ich erwartete, verneinte
er dies. Ich sagte dann: Prof. X. ist heute nachts gestorben. Er sprang
vom Diwan auf, ballte die Fäuste und erhob die Arme mit einer
dramatischen Gebärde, wie sie einem echten Russen zukam. Mein Gott
rief er aus, jetzt kann ich ihn nicht mehr umbringen.
Damit war der erste Schritt getan. Ich begann damit, daß ich ihn
ermutigte, über Prof. X. zu sprechen. Er hatte keinen bestimmten Plan
gehabt, wie er ihn hätte ermorden wollen, aber er hatte doch daran
gedacht, ihn gerichtlich zu belangen, plötzlich in seiner Ordination zu
erscheinen und ihm einen Prozeß anzukündigen, um Schadenersatz für
seine Verstümmelung zu bekommen usw. (Ich verweise auf den queru-
latorisch-paranoischen Zug, der hier auftritt.) Er wollte ihn umbringen,
hatte ihm tausendmal den Tod gewünscht und hatte vielleicht darüber
nachgedacht, ihn so zu schädigen, wie X. ihn geschädigt hatte. Aber für
den ihm zugefügten Schaden gab es seiner Meinung nach nur ein Äquivalent:
den Tod.
Ein Naditrag zu Freuds „Gesdiidite einer infantilen Neurose" <XJ
Ich bemerkte jetzt, daß der Patient selbst gesagt hatte, daß X. ein
Ersatz für Freud sei und daß infolgedessen diesem feindseligen Gefühl
gegen X. auch ein solches gegen Freud entsprechen müsse. Das verneinte
er ganz entschieden. Es gäbe keinen Grund zur Feindseligkeit gegen
Freud, der ihm immer die größte Zuneigung gezeigt habe. Er betonte
wieder die durchaus nichtberufliche Art ihrer gegenseitigen Beziehung. Ich
fragte ihn dann, warum er denn nie, wenn dies der Fall sei, gesellschaftlich
bei Freud zu sehen sei. Er war gezwungen, zuzugeben, daß er niemals
mit Freuds Familie zusammengekommen sei, und dieses Eingeständnis
erschütterte seine ganze Position. Was er als Erklärung zu sagen hatte, war
aber vage und wohl auch für ihn selbst nicht zufriedenstellend. Seine Argu-
mente klangen ganz merkwürdig: sie waren nicht gerade sehr überzeugend
und zeigten eine erstaunliche Mischung von Phantasie und Tatsachen.
Man könnte fast sagen, daß sein scharfer, logischer Verstand es ahm
möglich machte, auch das Unglaublichste irgendwie glaubhaft zu machen.
So wußte er schließlich auch in dieser Angelegenheit seinen Standpunkt
zu behaupten.
So lange er an der doppelten Befriedigung festhielt, einerseits von
Freud den er für den Verlust seines Vermögens verantwortlich machte,
iede mögliche Geldunterstützung anzunehmen, andererseits wieder aus
diesem Grunde sich von seiner Vorstellung, daß Freud ihn wie einen
Lieblingssohn behandle, nicht abbringen zu lassen, konnte man an ein
Weiterkommen in der Behandlung nicht denken. Es war eine undurch-
dringliche Mauer da, die nicht einmal ein Vordringen zum Hauptsymptom
des Patienten zuließ. Meine Technik bestand ausschließlich darin, daß ich
mic h bemühte, beim Patienten die Vorstellung, er werde von Freud wie
ein Lieblingssohn betrachtet und behandelt, anzugreifen und zu unter-
graben, da es doch klar war, daß sich der Patient durch diese Annahme
vor ganz anderen Gefühlen schützen wollte. Ich hielt ihm seine gegen-
wärtige Stellung bei Freud entgegen, so das Fehlen jeglicher gesellschaft-
lichen oder persönlichen Beziehung zwischen ihnen (ich wußte von Freud
darüber, daß dies auch den Tatsachen entsprach). Ich erwähnte, daß außer
dem seinen noch andere Fälle publiziert worden seien, denn auf die
Publikation seiner Krankheitsgeschichte war er sehr stolz. Er hielt mir
daraufhin entgegen, daß kein anderer Patient so lange in Behandlung
gewesen sei. Aber auch dem mußte ich widersprechen. Nun mußte sich
der Patient in die Defensive bequemen.
Als Erfolg meiner Angriffe trat in seinen Träumen eine Wandlung ein.
28 Ruth Made Brunswidt
Im ersten Traum dieser Periode kam eine Frau vor, die in Hosen und
hohen Stiefeln meisterhaft einen Schlitten kutschierte und dabei Verse in
vorzüglichem Russisch deklamierte. Der Patient bemerkte, daß die Hosen
ein bißchen komisch aussahen und nicht so praktisch gearbeitet waren,
wie sonst Männerhosen. Daß die Deklamation der russischen Verse den
Spott auf die Spitze trieb, mußte sogar er zugeben; ich war nie imstande
gewesen, auch nur ein Wort von den russischen Phrasen zu verstehen,
die der Patient in seine deutschen Sätze zwischendurch einstreute. Der
nächste Traum war noch deutlicher. Auf der Straße, vor dem Hause von
Prof. X., der den Patienten analysiert, steht eine alte Zigeunerin. Sie verkauft
Zeitungen (ich hatte ihm an der Stelle einer Zeitung zuerst von X.s Tod
berichtet), schwatzt und plappert dabei aufs Geratewohl mit sich selbst —
niemand hört ihr zu. Zigeunerinnen gelten aber als Lügnerinnen.
Zweierlei ist hier deutlich : die Verachtung des Patienten für mich und
sein Wunsch, wieder bei Freud (Prof. X.) in Analyse zu sein. Ich deutete
dem Patienten, daß er offenbar trotz seiner vielen Komplimente mit der
Wahl seines Analytikers nicht zufrieden sei und sich zu Freud zurück-
sehne. Er leugnete; er sagte dann, daß er durch mich der ganzen Vor-
teile von Freuds Wissen und Erfahrung teilhaftig werde, ohne direkt unter
seinem Einfluß zu stehen. Als ich fragte, wie denn das möglich sei
antwortete er, er sei überzeugt, daß ich ausführlich über seine Behandlung
mit Freud spreche, um mich von ihm beraten zu lassen. Ich klärte ihn
auf, daß dies ganz und gar nicht der Fall sei ; ich hätte Freud zu Beginn
der Analyse wohl um einen Bericht über seine frühere Erkrankung
gebeten, ihn aber seitdem bei Freud kaum erwähnt. Ebensowenig
erkundige sich Freud nach ihm. Dies erboste und erschreckte ihn; er
konnte es nicht glauben, daß Freud für seinen (berühmten) Fall so wenig
Interesse aufbringe. Er hätte immer gemeint, daß sich Freud wirklich
ernstlich für ihn interessiere. Freud hätte ihm sogar gesagt, als er ihn zu
mir schickte, aber als er sich erinnern sollte, was Freud damals
gesagt habe, ließ ihn sein Gedächtnis im Stich. Er ging nach dieser
Stunde voll von Wut über Freud weg. Dies kam in einem Traum zum
Ausdruck, in dem der Vater deutlich kastriert wird.
Der Vater des Patienten, im Traum ein Professor, der aber gleichzeitig
einem Bettelmusikanten ähnelt, den der Patient kennt, sitzt an einem Tisch
uiul warnt die Anwesenden, vor dem Patienten nicht über Geldangelegenheiten
zu reden, da dieser gern spekuliere. Die Nase seines Vaters ist lang und
krumm, worüber der Patient sich wundert.
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 29
Der Musikant hatte in Wirklichkeit versucht, dem Patienten alte Noten
zu verkaufen; er hatte sie zurückgewiesen und dann deswegen Schuld-
gefühle gehabt. (Ich erinnere an die bereits bekannte Einstellung des
Patienten zu Bettlern.) Der Musikant hat einen Bart und sieht wie
Christus aus. Als Assoziation bringt der Patient einen Vorfall, bei dem
sein Vater als „schmutziger Jude" bezeichnet wurde, was er doch gewiß
nicht war.
Der Bettelmusikant, der wie Christus aussieht und der der Vater des
Patienten und zugleich ein Professor ist, ist offenbar seiner Nase nach ein
Jude. Da die Nase immer ein Symbol des männlichen Genitales ist, bedeutet
die Veränderung der Nase des Vaters, die ihn zu einem Juden stempelt,
soviel wie die Beschneidung = Kastration. Auch hatte ja ein Bettler für
den Patienten seit jeher die Bedeutung einer kastrierten Person. So kamen
wir von der Wut gegen den Vater wegen der unvergoltenen Liebe zur
Kastration des Vaters, und gleich von der Deutung dieses Traumes zu den
Operationen Freuds und den Reaktionen des Patienten darauf, mit anderen
Worten zum Todeswunsch gegen den Vater. Ich möchte hervorheben daß
der Todeswunsch nicht aus irgend einer männlichen Rivalitätsemstellung,
sondern aus der unerwiderten Liebe und aus der Abweisung der passen
Strebung des Sohnes hervorgeht.
Man wird sich erinnern, daß der Patient sehr erschrak, als er fcreud
nach seiner Operation wiedersah. Als er damals fortging, fragte er sich,
ob Freud sterben werde, und wenn, was dann wohl mit ihm geschehen
werde. Er hoffte auf ein kleines Legat, fürchtete aber, daß dieses kleiner
ausfallen könnte als die Geldspenden mehrere Jahre zusammengenommen.
So wäre es also vorteilhafter für ihn, wenn Freud gesund wurde. Der
Patient hatte so viel beim Tod seines eigenen Vaters profitiert, daß man
sich nicht wundern darf, wenn seine Hoffnungen auf eine Erbschaft seine
vernünftigen Überlegungen über den Haufen warfen. So kam es auch,
daß er trotz allem glaubte, daß bei Freuds Tod etwas für ihn abfallen
werde.
Aber wenn der Patient das seiner Nase zugefügte Unrecht nur durch
den Tod für sühnbar hielt, bedeutet dies, daß ihm die Kastration ein
Äquivalent für den Tod ist. Daraus geht hervor, daß der kastrierte Vater
für den toten, wahrscheinlich für den vom Sohn erschlagenen, Vater stand.
Der Mißbrauch des Geldes kommt im Traum in der Bemerkung des
Vaters über die Spekulationswut des Sohnes vor. Dem liegen tatsächliche
Verhältnisse zugrunde ; der Patient hatte mit allem, was ihm zur Verfügung
30 Ruth Made Brunswidc
stand, spekuliert ; natürlich wäre eine Erbschaft vom Vater ebensogut
dazu geeignet gewesen. Mit anderen Worten : der Vater im Traum
befürchtet, wegen seines Geldes ermordet zu werden. Aus der Christus-
Ähnlichkeit (Kastration) des Vaters geht hervor, daß der Patient sich
selbst mit dem kastrierten Vater identifiziert.
Mit der Aufdeckung des Todeswunsches des Patienten gegen Freud
ernteten wir die Früchte meines Angriffs gegen den überkompensierenden
Größenwahn des Patienten. Von da an ging die Analyse weiter; die
Todeswünsche erschienen nun in allen möglichen Manifestationen. Der
Vater hatte den Sohn kastriert und deswegen wurde er von ihm getötet.
In den zahlreichen Träumen vom kastrierten Vater ist der Todeswunsch stets
erhalten. So weit ging auch der Patient mit. Um ihn zur Einsicht in
den weiteren Mechanismus der Projektion der eigenen Feindseligkeit auf
den Vater, die dann vom Sohn als Verfolgung aufgefaßt wurde, zu bringen,
bedurfte es allerdings weit größerer Anstrengung.
Ein Traum aus der Mittelschulzeit des Patienten brachte einen Vorfall
zutage, der sich in seinem dreizehnten Lebensjahr zugetragen hatte und
als Vorbild für seine zukünftige Erkrankung diente. Damals hatte er einen
Nasenkatarrh, der jeder Behandlung hartnäckig widerstand. Er war wahr-
scheinlich psychogener Natur. Er wurde mit allen möglichen Salben
behandelt, die eine allgemeine Akne verursachten — wenigstens wurde
die in der Pubertät so häufige Akne dieser Medikation zugeschrieben.
Dadurch wurde die Aufmerksamkeit des Patienten auf seine Nase und
seine Haut hingelenkt, die mit Wimmerln so bedeckt waren, daß er
gezwungen war, von der Schule fernzubleiben. Er litt damals auch unter
einer Rötung der Nase und unter verstopften Talgdrüsen auf der Nase.
Eine Kaltwasserkur brachte wenig Erfolg. Als er wieder in die Schule
kam, wurde er erbarmungslos gehänselt und erhielt den Spitznamen
„Mops". Als Kind aus reichem Hause und sehr empfindsam, bildete er
eine willkommene Zielscheibe für den Spott seiner Mitschüler. Aber jetzt
war er so überempfindlich wegen seiner Nase geworden, daß er diese
Spöttereien, die ihn früher nur belästigten, einfach nicht mehr ertrug.
Er schloß sich immer mehr ab, las Byron und verwendete viel Sorgfalt
auf Körperpflege und Kleider. Gerade zu dieser Zeit wurde bekannt, daß
einer seiner Kameraden eine Gonorrhöe akquiriert hatte. Dieser Knabe
flößte dem Patienten Grauen ein, da er sich vor jeder chronischen
Erkrankung besonders fürchtete. Er nahm sich fest vor, so eine Krankheit
niemals zu bekommen. Später akquirierte auch er mit 1772 Jahren eine
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 31
Gonorrhöe und die Worte des Arztes: „Es ist eine chronische Form"
führten seinen ersten Zusammenbruch herbei. Solange die Krankheit im
akuten Stadium war, fühlte er sich wohl unglücklich, aber nicht hoff-
nungslos. Das chronische Stadium aber entmutigte ihn und bot ihm
Gelegenheit, zwanghaft darüber nachzudenken, ob Gonokkoken im Sekret
seien oder nicht; wenn sie da wären, wäre er verloren. Es war also eine
tatsächliche Nasenaffektion schon die Ursache einer früheren Vereinsamung
und Depression gewesen. Das zweite Trauma, die Gonorrhöe, war ebenso
real und als eine Affektion direkt am Genitale eine wahre Kastration.
Aber die dritte Krankheit, die Narbe auf der Nase, war reine Einbildung.
Die Tatsache, daß der Patient anläßlich seines ersten Besuches bei Prof. X.
das Loch nicht erwähnte, sondern nur wegen der Talgdrüsen fragte,
scheint anzudeuten, daß er unbewußt die fiktive Natur seines Leidens
verspürte.
Die Identifizierung mit dem kastrierten Vater (teilweise natürlich aus
Schuldgefühl wegen seiner Todeswünsche) setzt der Patient in einem
weiteren Traum fort, in dem er Freud eine lange Kratzende auf seiner
Hand zeigt. Freud antwortet etwas, wobei er das Wort „ganz einigemal
wiederholt. Dieser beruhigende Traum enthält Freuds Versicherung, daß
der Patient nicht kastriert ist. Das Thema der Kastration wird im folgenden
Traum weiter entwickelt:
Der Patient liegt auf einem Ruhebett in meinem Behandlungszimmer.
Plötzlich erscheinen an der Decke des Zimmers ein glänzender Halbmond und
ein Stern. Der Patient weiß, daß das eine Halluzination ist, und aus Ver-
zweiflung, weil er fühlt, daß er verrückt wird, wirft er sich mir zu Füßen.
Mond und Stern, sagt er, bedeuten die Türkei, das Land der Eunuchen.
Daß er sich mir zu Füßen wirft, erklärt sich aus seiner passiven
Haltung.
Von der Kastration des Vaters, der Identifizierung des Patienten mit
ihm und endlich seiner eigenen davon unabhängigen Kastration und der
daraus folgenden gänzlichen Passivität aus nähern wir uns dem aktuellen
Material der Verfolgung im folgenden Traum:
In einer breiten Straße ist eine Mauer mit "einer geschlossenen Tür. Links
von der Tür ist ein großer leerer Kasten, in dem ganze und zerbrochene
Laden sind. Der Patient steht vor dem Kasten, seine Frau als schattenhafte
Gestalt hinter ihm. Nahe dem anderen Ende der Mauer steht eine große
schwerfällige Frau, die so aussieht, wie wenn sie gern um die Mauer herum
hinter diese gehen wollte. Aber hinter der Mauer ist ein Rudel grauer Wölfe,
die sich zur Tür drängen und hin und her laufen. Ihre Augen glänzen utzd
es ist klar, daß sie nur darauf lauern, sick auf den Patienten, seine Frau
und das andere Weib zu stürzen. Der Patient ist entsetzt und fürchtet, daß
es ihnen gelingen wird, durch die Mauer auszubrechen.
Die große Frau ist eine Verdichtung aus mir und einer anderen Frau,
die tatsächlich sehr groß ist, und von der der Patient wußte, daß sie eine
feine Narbe auf der Nase hat, durch die sie sich zu seinem größten
Erstaunen nicht beeinträchtigt fühlt. Daher erscheint sie im Traum
als eine tapfere Person, die sich weder vor Wölfen noch Narben ängstigt
— die Nebeneinanderstellung im Traum deutet eine Beziehung der beiden
Themen an.
Seine Frau, die schattenhafte Gestalt hinter ihm, ist seine eigene
Weiblichkeit. Die Tür steht für das Fenster im Original- Wolfstraum. Der
Kasten wurde von den Bolschewiken ausgeräumt : Die Mutter des Patienten
berichtete, daß ein Kreuz, das bei seiner Tauxe verwendet worden war,
und das er zu seinem Bedauern mit zehn Jahren verloren hatte, dabei
wieder gefunden wurde, als man den Kasten aufbrach. Der Kasten erinnert
den Patienten auch an seine Phantasie vom Zarewitsch, in der dieser in
einen Raum (den Kasten) eingesperrt und geschlagen wird. In diesem
Zusammenhang fällt ihm Prof. X. ein; man wird sich erinnern, daß X.
beim ersten Besuch des Patienten mit großer Sympathie von Alexander III
sprach und dann eine verächtliche Bemerkung über seinen schwächlichen
Nachfolger Nikolaus II. anschloß. Dies erinnert wieder an Peter den Großen
der seinen Sohn Alexe) tötete. Auch Gott Vater ließ geschehen, daß sein
Sohn starb. So wurden also diese beiden Söhne, Christus und Alexej, von
den Vätern verfolgt und gequält. Beim Worte verfolgt fallen dem
Patienten die Wölfe im Traum ein, dann weiter Rom (Romulus und
Remus) und die Verfolgung der ersten Christen. Dann leiten die Wölfe
zum Wolfstraum, den er mit vier Jahren hatte: damals saßen die Wölfe
bewegungslos am Baum und schauten das Kind an. Die Analyse ergab,
daß hier eine Verkehrung ins Gegenteil vorlag, das Kind schaute seine
Eltern an, nicht die Eltern das Kind. Die glänzenden Augen der Wölfe
erinnern den Patienten daran, daß er einige Zeit nach dem Traum, den
er mit vier Jahren hatte, es nicht ertragen konnte, aufmerksam angeschaut
zu werden. Er geriet in Wut und schrie: „Warum starrst du mich so an?"
Ein aufmerksamer Blick brachte ihm damals sofort den Wolfstraum in
Erinnerung. Dieses frühe, direkt aus dem Traum hervorgegangene Symptom
widerlegt vollkommen Ranks Standpunkt, der den Wolfstraum, den der
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose"
33
Patient mit vier Jahren träumte, in die Zeit seiner Analyse bei Freud
verlegen will. Meine Frage, ob er tatsächlich den Wolfstraum mit vier
Jahren gehabt habe, würdigte der Patient keiner Antwort.
Der Hauptakzent liegt in diesem Traum auf der Verfolgung. Für den
Patienten war der Wolf immer der Vater gewesen; nun wollten alle Wölfe
— alle Väter oder Ärzte — ihn zugrunde richten. Wenn die Türe (das
Fenster im Originaltraum, durch das man den Koitus beobachten kann)
aufgeht, werden ihn die Wölfe fressen.
Jetzt nach der Auflösung der Größenideen des Patienten trat auch der
Verfolgungswahn viel deutlicher in Erscheinung. Er war viel ausgebreiteter,
als es eigentlich das eine hypochondrische Symptom hätte erwarten lassen.
X. habe ihn absichtlich verstümmelt, und jetzt, da er tot sei, bleibe ihm
keine Möglichkeit zu einer Vergeltung. Alle Zahnärzte hätten ihn miß-
handelt; und seit er wieder seelisch krank sei, sei auch Freud schlecht zu
ihm. Die ganze Medizin sei gegen ihn verschworen : seit frühester Jugend
habe er unter dem Unrecht und der schlechten Behandlung durch seine
Ärzte leiden müssen. Er verglich seine Leidensgeschichte ständig mit der
Passion Christi, mit dem ein grausamer Gott, den er in seiner Kindheit
besonders gefürchtet hatte, ähnlich verfuhr, wie es ihm erging. Die
Identifizierungen mit Christus und dem Zarewitsch lassen ihn sein großes
Unglück ermessen, bieten aber auch volle Kompensation: Christus und der
Zarewitsch stellen ja erhabene Personen vor. Eine ähnliche Kombination
finden wir in der Vorstellung des Patienten, daß er der Liebling Freuds sei.
In dieser Zeit verhielt sich der Patient ganz abnorm. Er sah elend und
vernachlässigt aus und rannte, wie wenn der Teufel ihn verfolge, von
einem Auslagenfenster zum anderen, um seine Nase zu inspizieren. In der
Analyse sprach er ganz toll und ohne Zusammenhang mit der Realität
von seinen Phantasien. Er drohte, mich und Freud zu erschießen, —
jetzt da X. tot war, — und manche dieser Drohungen klangen ernster
als die, die man sonst gewöhnlich in Analysen zu hören bekommt. Man
fühlte, daß er in seiner Verzweiflung zu allem fähig sei. Ich erkannte,
wie nötig er seine Megalomanie gebraucht hatte, um sich zu schützen ;
er schien jetzt in einem Zustand zu sein, mit dem weder er selbst noch
auch die Analyse fertig werden konnte. Und als der folgende Traum mit
seiner guten Vorbedeutung kam, war ich tief erleichtert und erstaunt
über diesen Umschwung und wußte für ihn keine andere Erklärung als
daß der Patient schließlich den Weg zur unbewußten Grundlage seines
Verfolgungswahns doch gefunden hatte:
34 Ruth Mack Brunswick
Der Patient ist mit seiner Mutter in einem Zimmer, in dem in einer-
Ecke die ganze Wand mit Heiligenbildern bedeckt ist. Die Mutter nimmt die
Bilder herunter und wirft sie auf den Boden. Die Bilder zerbrechen in Stücke.
Der Patient ist erstaunt darüber, daß seine fromme Mutter so etwas tut.
Die Analyse ergibt, daß die Mutter des Patienten in ihrer Ratlosigkeit
über die Reizbarkeit und die Ängstlichkeit des Kindes ihn die Geschichte
Christi lehrte, als er viereinhalb Jahre alt war. Der Erfolg zeigte sich
darin, daß der Kleine, der bis dahin aus Angst vor bösen Träumen an
Schlaflosigkeit litt, jetzt auf ein Zeremoniell verfiel, das ihm erlaubte,
gleich einzuschlafen. Es bestand darin, daß er vor dem Schlafengehen im
Zimmer herumging, sich bekreuzigte, betete und die Heiligenbilder eins
nach dem anderen küßte. Mit diesem Zeremoniell begann seine Zwangs-
neurose.
Im Traum bin ich die Mutter; meine Rolle steht aber zu der der
wirklichen Mutter im Gegensatz: statt dem Patienten die Religion zu
geben, zerstöre ich sie ihm. Ich zerstöre ja jetzt gerade seine Christus-
Phantasie mit allem, was für ihn damit verbunden ist.
Am nächsten Tag bringt er einen „verklärten" Wolfstraum:
Der Patient steht an seinem Fenster und blickt auf eine Wiese, hinter de
sich ein Wald erhebt. Die Sonne fällt durch die Bäume, so daß das Gr
ganz gesprenkelt aussieht; die Steine auf der Wiese werfen einen sonderbaren
malvenfarbigen Schatten. Der Patient schaut besonders die Äste eines Baumes
an und bewundert es, wie schön sie miteinander verflochten sind. Er kann,
nicht begreifen, daß er diese Landschaft noch nicht gemalt hat.
Diese Landschaft muß wohl mit dem kindlichen Wolfstraum in Zu-
sammenhang gebracht werden. Jetzt scheint die Sonne — damals war es
Nacht, die Zeit also, in der man ängstlich ist. Die Zweige, auf denen
früher die furchterregenden Wölfe saßen, sind jetzt leer und sind wie ein
schönes Muster ineinander verflochten (das Elternpaar in der Umarmung)
Was furchtbar und schrecklich war, ist schön und beruhigend geworden
„Er kann nicht begreifen, daß er die Szene noch nicht gemalt hat," be-
deutet seine bisherige Unfähigkeit, sie zu bewundern.
Die Versöhnung mit dem, was ihn früher so erschreckte, kann aber
nur bedeuten, daß er seine Angst vor der Kastration nunmehr überwunden
hat und jetzt auch vermag, zu bewundern, was andere schön finden —
eine Liebesszene zwischen Mann und Weib. Solange er sich mit dem
Weib identifizierte, war er zu einer solchen Bewunderung unfähig: sein
ganzer Narzißmus sträubte sich gegen die in der weiblichen Rolle ent-
~as
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 35
haltene Kastration. Hat er seine Identifizierung mit der Frau aufgegeben,
so muß er die Kastration nicht mehr fürchten.
Wie nicht anders zu erwarten, war der Patient noch nicht ganz so
weit, als es der Traum zu zeigen schien. Am nächsten Tag brachte er
einen Traum, in dem er zu meinen Füßen liegt — eine Rückkehr zu seiner
Passivität. Er ist mit mir in einem Wolkenkratzer, dessen einziger Ausgang
ein Fenster ist (vgl. den Original- Wolfstraum und den eben berichteten).
Von diesem Fenster führt eine heiter in die unheimliche Tiefe. Um aus dem
Wolkenkratzer herauszukommen, muß er durchs Fenster. Das bedeutet,
er kann nicht drinnen bleiben und hinausschauen wie in allen bisherigen
Träumen, er muß seiner Angst Herr werden und hinausgehen. Er erwachte
in großer Angst und suchte verzweifelt weiter nach einem anderen
Ausweg.
Aber der einzige andere Weg ist der über die Akzeptierung seiner
eigenen Kastration. Er muß entweder diesen gehen oder muß zurück zu
der Szene der Kindheit, die für seine passive Einstellung zum Vater patho-
genetisch wurde. Er beginnt einzusehen, daß alle seine Größenideen, seine
Angst vor dem Vater und vor allem die nicht gutzumachende Entstellung
durch den Vater nur seine Passivität decken sollten. In dem Moment, wo
diese Passivität frei zutage tritt, wird sie, deren Abwehr ja die Produktion
der Wahnideen hervorrief, für den Patienten unerträglich. So sehr es auch
den Anschein hatte, gab es in Wirklichkeit doch für ihn keine Wahl
zwischen der Annahme der weiblichen Rolle und ihrer Ablehnung: wenn
der Patient fähig gewesen wäre, die weibliche Rolle und die Passivität voll
zu akzeptieren, hätte er die Erkrankung ersparen können, die ja nur aus
der Abwehr der weiblichen Rolle entstand.
Ein zweiter Traum derselben Nacht bringt die Ursache für die Ein-
schränkung der Sublimierung : Freud, dem er seine Absicht mitteilt, Straf-
gesetz zu studieren, rät ihm ab und empfiehlt Wirtschaftslehre.
Der Patient, dessen Vater, wie erwähnt, ein russischer Liberaler und in
Politik und Wirtschaftslehre tätig war, interessierte sich immer besonders
fürs Strafgesetz (er ist Jurist). Seine ganze erste Analyse hindurch be-
hauptete er immer, daß Freud ihn bei diesen Ambitionen entmutige, indem
er ihn aufforderte, sich dem Studium der Nationalökonomie zu widmen,
für die er sich — offenbar aus Reaktion gegen seinen Vater — gar nicht
interessierte. Nun wußte ich, daß seine Behauptung über den Rat, den
Freud ihm gegeben haben sollte, unrichtig war; doch konnte ich den
Patienten erst anläßlich dieses Traumes von dieser Tatsache überzeugen.
3*
36 Ruth Made Brunswick
Seine Unfähigkeit, die Vaterrolle in seinen Sublimierungen einzunehmen,
hatte ihn veranlaßt, den ihn hemmenden Einfluß auf Freud zu proji-
zieren. Er durfte selbst keine Wahl treffen und statt dessen trat er gehor-
sam in die Fußstapfen seines Vaters.
Er spricht jetzt lange von der Notwendigkeit, seine Homosexualität zu
sublimieren, und von der Schwierigkeit, den richtigen Weg dazu zu finden.
Er meint, durch die Umstände und sein inneres Unvermögen dazu unfähig
zu sein. Es ist ja richtig, daß heutzutage die Möglichkeiten für die ihn
interessierende Arbeit beschränkt sind. Aber er hätte seine freie Zeit, die
reichlich bemessen war, zum Studium verwenden können. Daran hinderte
ihn seine Arbeitshemmung. Tatsächlich war er, der einst fleißig studierte
seit Jahren nicht mehr imstande, auch nur eine Novelle zu lesen.
Eine Reihe von nachfolgenden Träumen, die an die vorhergehenden direkt
anschließen, beleuchten die Vater-Sohn-Beziehung und zeigen den Beginn
der Befreiung des Sohnes. Der unterwürfige Sohn ist darin dem Patienten
der bereits die beginnende Vateridentifizierung zeigt, gegenübergestellt.
Ein junger Österreicher, der viele Jahre in Rußland gelebt hat und dort
sein Geld verlor, besucht den Patienten. Dieser junge Österreicher hat ein.
untergeordnete Stellung in einer Bank in Wien. Er klagt über Kopfschmerzen,
und der Patient erbittet von seiner Frau ein Pulver, ohne ihr zu sagen daß
er es für den Freund braucht; er furchtet, sie würde es ihm dann nicht
geben. Zu seinem Erstaunen gibt sie ihm auch ein Stück Kuchen, das aber für-
beide, ihn und seinen Freund, zu klein ist.
Offenbar ist der junge Österreicher der Patient selbst während seiner
Krankheit (Kopfschmerzen). Er wird gegen seine Krankheit mit einem
Pulver behandelt. Dann bekommt der (geheilte) Patient offenbar als Be-
lohnung ein Stück Kuchen — die ersehnte Sublimierung. Aber für beide
reicht es nicht aus, d. h. es ist nur genug für den (geheilten) Patienten.
Der nächste Traum kommt wieder auf die Kastration des Vaters zurück.
Der Patient ist bei einem Arzt mit einem vollen, runden Gesicht (wie
Prof. X.) in der Ordination. Er fürchtet, daß er nicht Geld genug in seiner
Börse hat, um den Arzt zu bezahlen. Doch sagt dieser, die Rechnung sei sehr
klein, er sei mit 100.000 Kronen zufrieden. Beim Weggehen will ihn der
Arzt überreden, alte Musiknoten mitzunehmen. Er lehnt sie aber ab, weil er
dafür keine Verwendung hat. Aber an der Tür drängt ihm der Arzt einige
farbige Postkarten auf, die zurückzuweisen er sich nicht getraut. Plötzlich er-
scheint die Analytikerin des Patienten wie ein Page gekleidet, in einem blau-
samtenen Anzug mit kurzen Hosen und einem Dreispitz. Trotz ihrer Kleidung^
Ein Naditrag zu Freuds „Gesdridite einer infantilen Neurose" 37
die eher knabenhaft als männlich ist, sieht sie ganz iveiblich aus. Der Patient
umarmt sie und setzt sie sich auf sein Knie.
Die Furcht des Patienten spielt auf eine Tatsache aus dem wirklichen
Leben an und hat doch gleichzeitig die Bedeutung einer Ironie. Er konnte
tatsächlich für seine letzte Analyse bei Freud nichts bezahlen, andererseits hatte er
seinerzeit als reicher Mann genug gezahlt, um jetzt mit gutem Gewissen
eine Gratisbehandlung annehmen zu können. Zur Zeit seiner ersten Ana-
lyse wären 100.000 Kronen kein Betrag für ihn gewesen. Aber zu Beginn
des Jahres 1927, als er diesen Traum hatte, hätten 100.000 Goldkronen
ein Vermögen für den verarmten Russen bedeutet. Er pflegte noch immer
von Kronen zu sprechen, vielleicht weil die Beträge dadurch so viel größer
aussahen : Österreich hatte zu dieser Zeit schon Schillingwährung. Er wußte
auch nicht, ob die 100.000 Kronen im Traum 100.000 Goldkronen oder
100.000 Papierkronen (= 10 Schilling) bedeuteten. Er war also entweder
so reich, daß 100.000 Goldkronen nichts für ihn waren, oder die Rechnung
des Arztes von 10 Schilling war lächerlich klein — wahrscheinlich weil
die Behandlung so wenig wert war. In beiden Fällen kann der Patient
seine Rechnung bezahlen, doch wohl nur infolge der Entwertung entweder
der Währung oder der Leistung des Arztes.
Das runde, volle Gesicht des Arztes steht im Gegensatz zu Freuds
Gesicht, der dem Patienten so mager und krank vorkam. Dieses Detail
scheint ein Versuch zu sein, die Krankheit des Vaters zu verneinen, ob-
wohl sonst alles im Traum darauf abzielt, seine Kastration ausdrücklich
zu betonen und seine Bedeutung zu entwerten. Der Vater ist in Wirklich-
keit der Bettelmusikant (vgl. den Traum auf Seite 28) ; statt aber die
Noten verkaufen zu wollen, will er sie dem Patienten geben. Aber
sie sind zu wertlos; er lehnt sie ab und läßt sich nur die kolorierten
(billigen) Karten schenken. Die Postkarten sind Symbole für die Geld-
geschenke Freuds, die jetzt für den Patienten wertlos geworden sind. Der
diesem Teil des Traumes zugrunde liegende Gedanke ist klar: kein Ge-
schenk kann den Patienten für die damit verbundene Passivität ent-
schädigen. So wurden schließlich die Geschenke ihrer libidinösen Bedeutung
beraubt ; die Geschenke, deren Erwartung zur Zeit seines vierten Gebuns-
tages, der aufs Weihnachtsfest fiel, den Wolfstraum und die ganze infantile
Neurose veranlaßten, und die auch in seinem späteren Leben und in seiner
analytischen Behandlung eine führende Rolle gespielt hatten.
Der Arzt im Traume ist ein besonders harmloses Individuum: das
will heißen, er sei kastriert, also so gut wie tot.
38 Ruth Made Brunswick
Die Form, in der die Heterosexualität in diesem Traum auftritt, ist
historisch richtig begründet; denn man wird sich erinnern, daß der Patient
in früheren Jahren durch seine ältere, immer fürwitzige und aggressive
Schwester verführt worden war. Die Verführung verstärkte seine latente
Passivität, indem sie sie der Frau gegenüber manifest werden ließ. So
hatte mein knabenhaftes Kostüm mehrere Bedeutungen: erstens eine durch
die Aggression der Schwester historisch begründete, zweitens bedeutet sie
meine Vaterrolle als Analytiker und drittens entspricht sie in tiefster Schicht
einem Versuch des Patienten, die Kastration der Frau zu verleugnen und
ihr einen Penis beizulegen. Im Traum bin ich einer jener Pagen, die auf
der Bühne immer von Frauen dargestellt werden. So bin ich also weder
Mann noch Frau, sondern ein Geschöpf sächlichen Geschlechtes. Aber die
Zuerkennung eines Penis für das weibliche Geschlecht wird sofort abgelöst
durch den Versuch, die Frau zu erobern, indem er ihre Weiblichkeit ent-
deckt und sich anschickt, ihr den Hof zu machen. So enthüllt sich eine
zweite Determinante für ihre Männlichkeit im Traum : der Patient hat
ihr den Penis zuerkannt, um ihn ihr wieder wegzunehmen, mit anderen
Worten, er kastriert sie auf Grund seiner Vateridentifizierung, in der
gleichen Weise wie er früher wünschte, vom Vater kastriert zu werden.
Man kann hiebei beobachten, daß dies der erste Traum ist, in dem die
Heterosexualität des Patienten ebenso wie eine positive erotisch gefärbte
Übertragung sichtbar wird. Ein Stück Identifizierung mit der Frau ist
zweifellos noch vorhanden; aber im Vordergrund steht jetzt seine männliche
Rolle. Scheinbar ist die Vateridentifizierung erst jetzt genug erstarkt, um ihn
instand zu setzen, eine heterosexuelle Übertragung auf mich zu entwickeln.
Im letzten Traum dieser Analyse geht der Patient mit dem zweiten
Dermatologen, der sehr lebhaft über venerische Erkrankungen mit ihm debattiert,
auf der Straße. Der Patient nennt den Namen des Arztes, der seine Gonorrhöe
mit einem zu starken Mittel behandelt hatte. Beim Hören des Namens sagt
der Dermatologe: nein, nein, nicht dieser, ein anderer.
Hier ist der Zusammenhang hergestellt zwischen der jetzigen Erkrankung
des Patienten und der Gonorrhöe, die den ersten nervösen Zusammenbruch
des Patienten hervorgerufen hatte. Es sei daran erinnert, daß die Mutter
des Patienten an einer Unterleibskrankheit gelitten hatte, die mit Blutungen
und Schmerzen verbunden war, und daß der Patient vielleicht nicht mit
Unrecht seinen Vater für diesen Zustand verantwortlich machte. Wenn
der Patient im Traum den Namen des Arztes nennt, der ihn im Gegensatz
zu seinem langjährigen konservativen Hausarzt so radikal behandelt hatte,
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 39
so meinte er Prof. X. damit, dessen radikale elektrolytische Behandlung
ihm seiner Meinung nach denselben Schaden zufügte, wie die frühere
energische Behandlung der Gonorrhöe. Wenn der Dermatologe sagt, „nicht
dieser, sondern ein anderer", kann er damit nur den Vater meinen, der,
wenn auch nicht genannt, doch für alle Behandlungen und Krankheiten
verantwortlich gemacht wurde. Daß Krankheit Kastration bedeutet, ist ja
ohneweiters klar.
Erst nach diesem Traum gab der Patient, und zwar sofort, seine Wahn-
vorstellungen auf. Er konnte jetzt einsehen, daß seinem Nasensymptom
keine tatsächliche Verunstaltung zugrunde liege, sondern eine Wahnidee,
die aus seinem unbewußten Wunsch und dessen Abwehr entsprang und
sich als stärker erwies als sein Realitätssinn.
Die vollständige Wiederherstellung kam plötzlich auf fast trivial zu
bezeichnende Art. Er bemerkte auf einmal, daß er wieder Novellen lesen
und sich auch daran freuen könne. Er stellte fest, daß ihm sein Lieblings-
vergnügen bis jetzt aus zwei Ursachen versagt gewesen sei: einerseits
konnte er sich mit dem Helden eines Buches nicht identifizieren, weil
dieser Held als Geschöpf des Autors ganz dessen Werkzeug ist; anderseits
hinderte ihn seine Produktionshemmung, sich mit dem Autor zu identi-
fizieren So saß er auch hier wie in seiner Psychose zwischen zwei Stühlen
auf der Erde.
Von da an war er gesund, er konnte malen, Arbeiten in Aussicht
nehmen und sich seinem Spezialgebiet widmen, und nahm wieder voll
Interesse teil am Leben, an der Kunst und an der Literatur, wie er es
früher immer getan hatte. Sein Charakter änderte sich wieder und bildete
sich ebenso auffällig zum normalen zurück, wie er sich vorher zum ab-
normen gewandelt hatte. Er war wieder so, wie wir ihn aus Freuds
Krankengeschichte kennen, scharfsinnig, gewissenhaft und anziehend, voll
von Interessen und Kenntnissen und mit einem analytischen Verständnis
und einer analytischen Genauigkeit begabt, daß man seine helle Freude
daran haben konnte.
Sein früheres Benehmen konnte er nun nicht mehr begreifen. Die
Verheimlichung des Schmuckes, die Annahme der jährlichen Geldspende
und die kleinen LJnehrenhaftigkeiten waren ihm nun selbst ein Rätsel.
Und doch lag ihr Geheimnis in der Bemerkung, die er über seine Frau
hatte fallen lassen : Frauen sind immer so : mißtrauisch, argwöhnisch und
ängstlich, etwas zu verlieren.
V
Diagnose
Die Diagnose des Falles scheint mir keiner weiteren Beweise zu be-
dürfen, als die Krankengeschichte sie selbst bietet. Das Bild ist typisch für
die als hypochondrische Typen der Paranoia bekannten Fälle. Die echte
Hypochondrie ist keine Neurose; sie reiht sich eher den Psychosen an. Die
Bezeichnung Hypochondrie ist nicht anwendbar für jene Fälle, wo all-
gemeine Angst wegen des Gesundheitszustandes als Hauptsymptom auftritt
wie bei den Angstneurosen; die Hypochondrie fällt auch nicht mit der
Neurasthenie zusammen. Sie bietet ein charakteristisches Bild, bei dem es
sich um die alleinige Beschäftigung mit einem Organ, bzw. mehreren
Organen handelt, aus der Annahme heraus, daß dieses verletzt oder erkrankt
eei. Das Hauptsymptom des Patienten, das so häufig bei beginnender
Schizophrenie gefunden wird, ist ein Beispiel für diesen Typus der Hypo-
chondrie. Bisweilen bildet eine leichte organische Erkrankung die Basis
für die hypochondrische Idee, die aber gewöhnlich auch ohne reale Grund-
lage schon vorhanden war. Sie erscheint dann unter dem Bilde eines
Wahnes. (Bei den nichthypochondrischen Formen der Paranoia kann irgend
eine Wahnidee den Inhalt des Hauptsymptoms bilden. Der gewöhnliche
Typus der Paranoia ist der einer monosymptomatischen wahnhaften
Erkrankung, die nach dem Inhalt der Wahnideen als Verfolgungs-, Eifer-
suchts- oder hypochondrischer Wahn bezeichnet wird. In ihrer Entstehung
kann die Paranoia als sogenannte „überwertige Idee" auftreten, diese Idee
kann die verschiedensten Formen annehmen.)
Bleuler gibt an, daß er selbst niemals eine hypochondrische Form
Ein Nadirrag zu Freuds „Gesmiohtc einer infantilen Neurose" 41
der Paranoia gesehen habe, obwohl sie in den Lehrbüchern beschrieben
wird. Man muß feststellen, daß, obgleich unser Fall gewiß zur hypo-
chondrischen Form gehört, die hypochondrische Idee doch nur dazu dient,
dahinter liegende Verfolgungsideen zu verbergen. So bildet, obwohl die
äußere Form eine hypochondrische ist, den Inhalt der Psychose doch die
Verfolgung. Der Patient hielt daran fest, daß seine Nase absichtlich von
jemandem, der ihn hasse, verdorben worden sei. Die Möglichkeit einer
unbeabsichtigten Schädigung wurde von diesem analytisch so geschulten
Patienten sehr geschickt ausgeschaltet durch das Argument: Wer kann
sagen, wo das unbewußte Handeln einsetzt und das bewußte aufhört? Und
er bemerkte noch dazu, daß ein Arzt, der als einer der ersten in seinem
Fach gelte, doch wohl nicht gut ein so ungeschickter Therapeut sein
könne. Er fuhr dann fort, sich selbst für die Wut verantwortlich zu
machen, von der Prof. X. gegen ihn erfaßt sei, denn er habe, wie er sagte,
durch seine häufigen Besuche und sein beharrliches Fragen X.s Geduld
erschöpft. Wenn man den latenten Inhalt dieser Idee aufsucht, sieht man,
wie der Patient darin die Situation der Verfolgung konstruiert, um dann
sich selbst für die Verfolgung verantwortlich zu machen. Wir wissen, daß
der Verfolgung seine eigene auf den Verfolger projizierte Feindseligkeit
zugrunde liegt. Der Wolfsmann entwickelte ein besonderes Geschick in
der Konstruktion von Situationen, die seinem Mißtrauen Gelegenheit boten,
sich zu äußern. Mit zwölf Jahren hatte er von der für seinen Nasenkatarrh
verschriebenen Medizin so viel genommen, daß er seinen ganzen Teint
verdarb; man machte dem Arzt Vorwürfe, daß er dem Patienten eine
zu scharfe Salbe" verschrieben habe. Im Verlaufe der Behandlung seiner
Gonorrhöe wurde er mit der Therapie seines Hausarztes unzufrieden und
suchte einen anderen Arzt auf, der ihm eine „zu scharfe" Instillation
verabreichte. Das Urteil des einen Zahnarztes mußte immer durch das
eines anderen überprüft werden, bis schließlich einer der vielen Zahnärzte
einen Irrtum beging. Als sich dann der Patient entschloß, sich einen Zahn
ziehen zu lassen, offenbar unter dem Zwang, einen Zahn verlieren zu
müssen, wurde ihm ein gesunder Zahn extrahiert, so daß dann eine zweite
Extraktion nötig war. Professor Freud sagte mir, wie erwähnt, daß das
Benehmen des Patienten zu dieser Zeit seinen Zahnärzten gegenüber
genau so war, wie er sich früher zu seinen Schneidern verhielt, die er
anflehte, beschenkte und beschwor, gut für ihn zu arbeiten, und mit denen
er dann doch nie zufrieden war. Ich möchte nur erwähnen, daß der
Schneider nicht nur an und für sich gewöhnlich den Kastrator darstellt,
42 Ruth Made Brunswick
sondern daß der Patient auch durch ein Erlebnis seiner Kindheit prä-
disponiert war, gerade den Schneider für diese Rolle auszuwählen. Wie
erinnerlich, geht ja der kindliche Wolfstraum teilweise auf die Erzählung
des Großvaters zurück, in der ein Schneider dem Wolf den Schwanz ausreißt.
Die Behauptung des Patienten, daß kein Arzt oder Zahnarzt ihn je
ordentlich behandelt habe, ist oberflächlich betrachtet bis zu einem gewissen
Grad gerechtfertigt. Doch wenn man den Patienten auf seinem langen
Leidensweg von Arzt zu Arzt, von Zahnarzt zu Zahnarzt begleitet, muß
man zum Schluß kommen, daß er selbst es war, der schlecht behandelt
werden wollte, und daß er es seinen Ärzten leicht gemacht hat, ihn schlecht
zu behandeln. Mißtrauen war das erste, was er jeder Behandlung entgegen-
brachte. Der normale Mensch hört mit der Behandlung auf, wenn er mit
dem Arzt unzufrieden ist, und würde es sicher nie zulassen, daß ihn
jemand operiere, den er für seinen Feind hält. Die passive Einstellung
des Patienten machte ihm aber jeden Bruch mit einem Vaterersatz sehr
schwer; immer versuchte er erst, den eingebildeten Feind zu besänftigen.
Es sei an das passagere Symptom in der ersten Analyse erinnert, das darin
bestand, daß der Patient von Zeit zu Zeit das Gesicht dem Analytiker
zukehrte, ihn sehr freundlich, wie begütigend ansah und dann den Blick
von ihm zur Stehuhr wendete. Es sollte heißen: Sei gut mit mir. Dieselbe
Gebärde mit dem gleichen Inhalt tauchte auch im Laufe der Analyse
bei mir auf.
Professor X. war natürlich der Hauptverfolger; der Patient hat selbst
einmal hervorgehoben, daß X. ein Ersatz für Freud sei. Von Seite Freuds
direkt war die Verfolgung nicht so deutlich. Der Patient machte ihm wohl
den Verlust seines Geldes in Rußland zum Vorwurf, aber er mußte doch
lachen bei der Vorstellung, daß Freuds Ratschlag wirklich in böswilliger
Absicht gegeben worden sein könnte. Er mußte also einen indifferenten,
aber gleichwertigen symbolischen Verfolger finden, dem er mit gutem
Gewissen nnd ernstlich die bösartigsten Absichten zumuten konnte. Außer-
dem gab es noch viele unbedeutendere Personen, von denen der Patient
sich hintergangen, benachteiligt und betrogen fühlte. Bemerkenswerterweise
war er gerade dort, wo er in Wirklichkeit hintergangen wurde, gar nicht
mißtrauisch.
Die Hauptanhaltspunkte für die Diagnose Paranoia sind in Kürze
folgende:
/) Die hypochondrische Wahnidee,
2) der Verfolgungswahn.
Ein Nachtrag zu Freuds „Geschichte einer infantilen Neurose" 43
)) die narzißtische Regression, die ihren Ausdruck im Größenwahn findet,
4) das Fehlen von Halluzinationen und das Vorhandensein von Wahnideen,
f) Beziehungswahn geringen Grades,
6) das Fehlen jeder Abnahme seiner geistigen Fähigkeiten,
7) die Charakterveränderung,
8) der monosymptomatische Charakter der Psychose. Wenn der Patient
über etwas anderes als seine Nase sprach, schien er ganz gesund. Wenn
er aber auf seine Nase zu sprechen kam, benahm er sich wie ein richtiger
Irrsinniger.
o) Die Ekstase des Patienten, als X. die Talgdrüse entfernte, ist nicht
gerade typisch psychotisch, aber im wesentlichen doch nicht als neurotisch
zu bezeichnen. Ein Neurotiker mag seine Kastration wünschen und
fürchten; aber er wird sie nicht mit solch freudiger Begeisterung über
sich ergehen lassen.
Die hypochondrische Wahnidee deckt die Verfolgungsideen und bietet
damit eine geeignete Form, in der die Erkrankung zum Ausdruck kommen
kann. Der hier vorhandene Verdichtungsmechanismus erinnert an den
des Traumes.
VI
Die Mechanismen der Psychose
Ich möchte noch einiges über die Mechanismen und über die Symbole
der Psychose sagen. Die Nase bedeutet natürlich das Genitale; dazu muß
bemerkt werden, daß der Patient tatsächlich immer glaubte,' seine Nase
und sein Penis seien zu klein geraten. Die Wunde auf der Nase bringt
er »ich zuerst selbst bei, dann verwundet ihn Prof. X. Daß der Patient
durch seine Selbstkastration nicht befriedigt ist, läßt auf ein Motiv schließen
das neben dem gewöhnlichen masochistischen Strafbedürfnis bestehen muß'
das ja durch die Tat an sich, ohne Rücksicht auf die Person des Täters'
hatte befriedigt sein müssen. Dieses weitere Motiv ist zweifellos ein
libidinöses: der Wunsch, die Kastration vom Vater zu erleiden, wobei die
Kastration als Ausdruck der Liebe des Vaters auf anal-sadistischer Basis
aufgefaßt wird. Hiezu kommt noch der Wunsch, in eine Frau verwandelt
zu werden, um vom Vater sexuell befriedigt werden zu können. Ich er-
innere hier an das halluzinatorische Erlebnis des Patienten in früher
Kindheit, in dem er vermeinte, sich seinen Finger abgeschnitten zu haben.
Die ganze Zeit der Psychose hindurch umhüllte den Patienten der
„Schleier" seiner früheren Krankheit. Durch ihn konnte nichts hindurch.
Eine etwas dunkle Bemerkung, daß die analytische Stunde oft ein Äqui-
valent dieses Zustandes der Verschleierung sei, bestätigte die frühere Deutung
des Zustandes als Mutterleibsphantasie. In diesen Zusammenhang gehört
auch der Gedanke des Patienten, daß seine Person gewissermaßen zwischen
Proiessor Freud und mir vermittle; es sei daran erinnert, daß er eine
Fülle von Phantasien über vermeintliche Diskussionen zwischen Freud und
Ein Nachtrag zu Freuds „Gesdiidite einer infantilen Neurose" 45
mir über seine Person entwickelte. Er selbst nannte sich unser „Kind"
und einer seiner Träume brachte ihn neben mir liegend, während Freud
hinter ihm saß. (Hier ist wieder das Thema des Koitus a tergo zu
finden.) Im Sinne dieser Mutterleibsphantasie nimmt er am Verkehr der
Eltern teil.
Bemerkenswert ist der Unterschied der jetzigen psychotischen und der
früheren hysterischen Mutteridentifizierung. Früher schien seine weibliche
Haltung seiner Persönlichkeit nicht völlig eingebaut zu sein; es war klar,
daß er diese Rolle nur gewissen Personen gegenüber spielte. So konnte er
durchaus männlich sein, — in seinen Beziehungen zu Frauen, — war
aber dem Analytiker und anderen Vaterfiguren gegenüber unverkennbar
weiblich eingestellt. Während seiner Psychose aber bestand diese Zweiheit
nicht: die weibliche Einstellung hatte von seiner ganzen Person Besitz
ergriffen, er war völlig in ihr aufgegangen. Er war in diesem Zustand ein
minderwertiger, kleinlicher Mensch, aber die Spaltung in seiner Persön-
lichkeit war geschwunden. Als ich Dr. Wulff in Berlin, der früher in
Moskau gelebt hatte, von der Charakterveränderung erzählte, meinte er,
der den Patienten und beide Eltern behandelt hatte: Jetzt spielt er nicht
länger mehr die Mutter, jetzt ist er sie bis ins letzte Detail. Diese Be-
merkung kennzeichnet am besten die Wandlung im Patienten.
Die Elemente, aus denen diese Mutteridentifizierung hervorgeht, sind
deutlich. Der Patient begann über seine Nase nachzudenken, nachdem er
seine Mutter mit einer Warze auf der Nase gesehen hatte. Sein Verhängnis
wollte daß seine Frau dieselbe Verunstaltung an derselben Stelle aufwies.
Seine Schwester hatte unter ihrem schlechten Teint gelitten und war wie
der Patient über ihr Aussehen beunruhigt. Die Sorge um den Teint ist
an und für sich eine weibliche Eigenschaft. Seine stereotype Klage: „So
kann ich nicht weiterleben," hatte er direkt von der Mutter übernommen.
Die hysterische Angst der Mutter um ihre Gesundheit ist in seiner ganzen
Kindheit und in seinem späteren Leben auffindbar, so z. B. in der jetzigen
Erkrankung in der Angst, sich zu erkälten. Die Unentbehrlichkeit in Geld-
sachen ist überdies zum Teil eine Identifizierung mit der Mutter, der er
so oft und in so ungerechter Weise vorgeworfen hatte, daß sie ihn um
seine Erbschaft betrogen habe.
Vielleicht ist der Höhepunkt der Mutteridentifizierung die Ekstase, die
der Patient erlebte, als er sein Blut unter der Hand des Dermatologen
fließen sah. Man erinnere sich nur an die Angst des Patienten vor
Dysenterie und Blut im Stuhl, die in früher Kindheit auftrat, nachdem
46 Ruth Made Brunswidt
er mitangehört hatte, wie die Mutter dem Arzte ihre (wahrscheinlich
vaginalen) Blutungen klagte. Das Kind faßte die Unterleibserkrankung als
eine Folge des Verkehres mit dem Vater auf. Es war also eine passive
Koitusphantasie, der die Ekstase entstammte, als X. das Instrument nahm
und die kleine Drüse entfernte. Auch das Motiv des Gebarens, des Befreit-
werdens, spielt dabei deutlich mit.
Am deutlichsten zeigt sich die weibliche Einstellung des Patienten in
der Gewohnheit, sich immer im Taschenspiegel zu betrachten und seine
Nase zu pudern. Zuerst borgte er den Spiegel von seiner Frau, dann kaufte
er eine Puderdose mit festem Puder und Spiegel und benützte sie ganz so
wie die moderne Frau.
Wenn die Nasensymptome eine Mutteridentifizierung darstellen, so liegt
den Zahnsymptomen eine Vateridentifizierung zugrunde, aber eine Identi-
fizierung mit dem kastrierten Vater. Freuds Operation war eigentlich eine
Zahnoperation, die ein Kieferchirurg ausführte. So bedeutete die lang-
dauernde Erkrankung und die daraus folgende allgemeine Unfähigkeit des
Patienten in gewissem Sinne eine Kastration Freuds sowohl wie des Vaters.
Dabei sei noch daran erinnert, daß dem Diener, den der Patient als Kind
so liebte (s. Geschichte einer infantilen Neurose, Ges. Sehr., Bd. VIII
S. 530), die Zunge angeblich herausgeschnitten worden war.
Die gegenwärtige Charakterveränderung des Patienten ähnelt der seiner
Kindheit, obwohl sie durchgreifender ist. Er war damals mit dreieinhalb
Jahren als Folge der Verführung durch seine Schwester und der daraus
entstandenen Aktivierung seiner Passivität sehr reizbar und aggressiv ge-
worden und quälte Mensch und Tier. Obwohl hinter diesen Aktionen der
masochistische Wunsch steckte, vom Vater bestraft zu werden, war doch
die äußere Form seines Charakters damals eine sadistische. Ein Stück Vater-
identifizierung war also damals deutlich vorhanden. In der jetzigen Cha-
rakterveränderung des Patienten finden wir dieselbe Regression auf die
anale Stufe mit der zugehörigen sadistischen oder masochistischen Kom-
ponente wie damals; aber die Einstellung des Patienten ist dabei eine
passive. Er wird mißhandelt und gequält, statt, wie damals, selbst zu quälen.
Jetzt ist die Lieblingsphantasie, in der er sich auslebt, die von Peter dem
Großen und seinem Sohn, der vom Vater getötet wurde; und Prof. X.
teilte ihm direkt die Rolle des Sohnes zu, wenn er in der ersten Ordina-
tion über den früheren und den jetzigen Zaren spricht! Die Phantasie,
auf den Penis geschlagen zu werden, erscheint in der Wahnidee, von X.
an der Nase verstümmelt worden zu sein. Auch darin ist X. der Vater.
Ein Nachtrag zu Freuds „Gesdrichte einer infantilen Neurose" 47
Wie seine Ausbrüche in der Kindheit Versuche darstellten, eine Strafe vom
Vater zu provozieren, ebenso sind die beharrlichen Besuche bei X. und die
ewigen Bitten um Behandlung nichts anderes als eine Forderung nach der
Kastration.
Dem „unausgesetzten Schwanken" zwischen masochistischer und sadi-
stischer Einstellung, wie Freud es bezeichnet, liegt, wie Freud an der-
selben Stelle klarlegt, die Ambivalenz zugrunde, die beim Patienten in
jeder seiner Beziehungen zum Ausdruck kommt. Dieses Schwanken ist die
Folge einer starken Bisexualität.
Die libidinöse Bedeutung des Geschenkes durchzieht wie ein roter Faden
die Lebensgeschichte des Patienten. Der Wolfstraum, der knapp vor dem
vierten Weihnachts- (Geburts-) Tag geträumt wurde, enthielt als Leitmotiv
die Hoffnung auf die Sexualbefriedigung durch den Vater als schönstes
Weihnachtsgeschenk. Dieses heftige Verlangen nach einem Geschenk vom
Vater ist der stärkste Ausdruck der Passivität des Sohnes. Mit dem Ge-
danken an Freuds Tod antizipierte er den Empfang einer Erbschaft. Diese
Erbschaft, auf die er sich unberechtigterweise Hoffnung machte, hatte be-
sonders, da Freud ja noch lebte, die Bedeutung eines Geschenkes und er-
weckte in ihm dieselben Gefühle, wie die Hoffnung auf den Weihnachts-
abend in seiner Kindheit. Eine ähnliche Rolle spielten die jährlichen Geld-
spenden, die er von Freud erhielt. Auf Grund der unbewußten passiven
Einstellung, die von der ersten Analyse her ungelöst zurückgeblieben war,
waren ihm diese Geschenke eine Quelle libidinöser Befriedigung. Wenn der
Patient wirklich so vollständig von seiner femininen Einstellung zum Vater
geheilt gewesen wäre, wie es den Anschein hatte, hätte diese Unterstützung
nie vermocht, eine solche Bedeutung in seinem Gefühlsleben zu erlangen.
Noch ein Wort zur Haltung des Patienten beim Verlust seines Ver-
mögens. Es mag erstaunlich erscheinen, daß er imstande war, sich so
leicht den Nachkriegsverhältnissen anzupassen, die doch seine Lebensführung
völlig veränderten. Aber diese Identifizierung gegenüber dem äußeren
Schicksal ist vielleicht mehr eine Rasseeigentümlichkeit denn ein Zeichen
psychischer Erkrankung. Wer mit russischen Flüchtlingen zu tun hat, war
erstaunt über ihre Anpassungsfähigkeit, und niemand, der sie unter den
neuen Lebensbedingungen sah, hätte ahnen können, wie ganz anders ihr
früheres Leben war.
VII
Probleme des Falles
Für die Diskussion der Probleme dieses Falles ist es besonders günstig,
daß zwei Krankengeschichten von einem und demselben Fall vorliegen
und daß in beiden Fällen die Behandlung offenbar erfolgreich war . Er-
folgreich heißt bei einer analytischen Behandlung, daß das ganze unbe-
wußte Material bewußt und die Ursache der Erkrankung klar geworden ist
Die zweite Analyse bestätigt in jedem Detail die erste, bringt aber im
übrigen gar kein neues Material. Wir hatten uns ausschließlich mit einem
ungelösten Übertragungsrest zu beschäftigen. Natürlich bedeutete dieser
Rest, daß die Vaterfixierung des Patienten nicht völlig bewältigt worden
war; scheinbar hatte es sich bei diesem Fixierungsrest nicht darum ge-
handelt, daß er mit einem unbewußten Material verlötet war, sondern
darum, daß die Übertragung selbst nicht genügend durchgearbeitet worden
war. Ich behaupte dies, obwohl dem die Tatsache gegenübersteht, daß der
Patient viereinhalb Jahre bei Freud in Behandlung stand und danach zwölf
Jahre gesund war. Wenn alles bei einem Fall aufgedeckt ist, so mag das
wohl für den Analytiker, aber nicht für den Patienten genug sein. Der
Analytiker mag das ganze historische Material in der Hand haben und
kann doch nicht abschätzen, wieviel „Durcharbeiten" es zur Heilung des
Patienten bedarf.
Ein Umstand unterstützt unsere Annahme, daß der Patient die Be-
ziehung zum Vater im Verlauf der ersten Analyse nicht erledigte. Es war
der erste Fall, bei dem der Analytiker einen Termin setzte. Freud nahm
zu dieser Maßnahme nach vielen Monaten absoluten Stillstandes der Ana-
Ein Nachtrag zu Freuds „Gescbidite einer infantilen Neurose" 49
lyse Zuflucht, sie erwies sich als erfolgreich, da der Patient daraufhin das
entscheidende Material brachte. Bis zur Terminsetzung war der Patient
kaum mehr als für die Analyse vorbereitet worden und nur wenig
Tatsächliches war geleistet. Nach der Terminsetzung strömte das
Material aus dem Unbewußten und der Wolfstraum in all seiner tiefen
Bedeutung wurde aufgeklärt.
Wenn man daran denkt, wie gerne Patienten ein letztes Stück vom
Material zurückhalten, und wie sie alles andere gewähren, wenn man ihnen
nur dieses nicht entreißt, wird man die Wirkung der Terminsetzung ver-
stehen können. Vielleicht bringt der Druck, den sie auf den Patienten
ausübt, tatsächlich alles zum Vorschein; aber ich kann mir gut vorstellen,
daß ein Patient, der wegen seiner Unzugänglichkeit eine Terminsetzung
erfordert, meistens auch diese gerade für seine Widerstandszwecke aus-
nützen wird. Das scheint auch beim Wolfsmann der Fall gewesen zu sein.
Es wäre ganz zwecklos gewesen, die Analyse länger fortzusetzen, ohne das
stärkste Gewaltmittel, das wir haben, anzuwenden — eben die Termin-
setzung. Der Patient hatte sich in der analytischen Situation zu behaglich
eingerichtet; es gab kein Mittel gegen diesen Widerstand als gerade die
Aufhebung der ganzen Situation. Die Terminsetzung hatte zur Folge, daß
er genügend Material brachte, um geheilt zu werden; aber sie ermög-
lichte ihm auch, gerade den Kern seiner späteren Psychose zurückzuhalten.
Mit anderen Worten: seine Bindung an den Vater war zu stark; sie hätte
jegliche weitere Analyse unmöglich gemacht, andererseits machte sie den
Patienten in seinen letzten Positionen unangreifbar.
Warum der Patient eine Paranoia entwickelte, statt neuerdings an seiner
früheren Neurose zu erkranken, ist schwer zu sagen. Es mag sein, daß
ihm die erste Analyse die Möglichkeit entzogen hatte, seine Konflikte in
Form einer gewöhnlichen Neurose zu erledigen. Man könnte auch fragen,
ob der Patient nicht immer latent paranoisch gewesen sei. Eine Stütze für
diese Annahme mag man vielleicht in seiner Neigung zur Hypochondrie
in der Kindheit finden, in seiner Befangenheit und Vereinsamung in der
Pubertät und der langen Vorgeschichte des Interesses für seine Nase. Dem
steht die Tatsache gegenüber, daß er niemals Wahnideen bildete und daß
seine Realitätsprüfung völlig intakt blieb. Der stärkste Einwand gegen die
Annahme einer bereits präformierten latenten Paranoia liegt in seinem
Verhalten während der Analyse bei Freud. Denn gewiß ist gerade die
Übertragung befähigt, alle vorhandenen Mechanismen, besonders solche
paranoischer Natur, in Erscheinung treten zu lassen. Obwohl Freud selbst
50 Ruth Made Brunswick
durch die infantile Zwangsneurose des Patienten an den Fall Schreber
erinnert wurde, trat in der Analyse bei Freud doch nie ein paranoider
Mechanismus zutage.
Ich glaube, daß man für den paranoischen Mechanismus in der neuen
Erkrankung die außerordentlich tief und dauernd verdrängte Vaterbindung
verantwortlich machen muß. Zum größten Teil fand diese Fixierung in
den zahlreichen und verschiedenartigen neurotischen Symptomen seiner
Kindheit und seines späteren Lebens ihren Ausdruck. Diese Äußerungen
seiner Femlninität waren heilbar. Wir wissen nun, daß die Passivität des
Mannes auf dreifache Art ihren krankhaften Ausdruck finden kann: als
Masochismus, als passive Homosexualität und als Paranoia; also in Form
einer Perversion, einer Neurose und einer Psychose. Der Anteil der Passi-
vität unseres Patienten, der in der Neurose zum Ausdruck kam, erwies
sich als heilbar; das zutiefst liegende und unzugänglich gebliebene Stück
der Femininität des Patienten führte zum Ausbruch der Paranoia.
Der Verlust des seelischen Gleichgewichtes nach der ersten Analyse geht
auf die Erkrankung Freuds zurück. Es ist nicht schwer, den Zusammen-
hang einzusehen. Der drohende Tod einer geliebten Person läßt alle Liebe
die man ihr zuwendet, aufblühen. Aber diese Liebe des Patienten zu
seinem Vater — Freud stellt ja für ihn den Vater dar — bedeutet die
größte Gefahr für seine Männlichkeit; dieser Liebe freien Lauf lassen, war
ja verbunden mit der Notwendigkeit der Kastration. Diese Gefahr wehrt
der Narzißmus des Patienten mit allen Kräften ab: die Liebe wird teils
verdrängt, teils in Haß verwandelt. Die Folge dieses Hasses ist der Todes-
wunsch gegen den Vater. So verstärkt Freuds Erkrankung die gefahrvolle
passive Liebe des Patienten und den damit zusammenhängenden Kastrations-
wunsch so sehr, daß die Abwehr und Feindseligkeit einen neuen Mecha-
nismus der Abfuhr nötig macht; und dieser ersteht ihm in Form der
Projektion. Der Patient befreit sich mit Hilfe der Projektion von einem
Teil seiner Feindseligkeit, indem er sie einem anderen zuteilt, und schafft
sich gleichzeitig eine Situation, in der sein eigener Haß gerechtfertigt
erscheint.
Ich glaube, daß es der in der ersten Analyse gewonnenen Einsicht zu
danken ist, daß der Patient sich schließlich doch als zugänglich erwies.
Dennoch erscheint es mir unwahrscheinlich, daß eine Analyse bei einem
männlichen Analytiker möglich gewesen wäre. Es ist etwas ganz anderes,
ob man die Rolle des Verfolgers gegenüber einer weiblichen — also schon
kastrierten — paranoischen Patientin einnimmt, oder einem Mann gegen-
Ein Nachtrag zu Freuds „Gesdiidite einer infantilen Neurose" 51
über, für den die Möglichkeit der Kastration noch besteht. Man muß sich
vergegenwärtigen, daß in der Psychose der Inhalt der Angst als real an-
genommen wird; der psychotische Patient fürchtet sich wirklich davor,
daß man ihm seinen Penis abschneidet und nicht vor einer symbolischen
Handlung von seiten des Analytikers. Die Phantasie erhält bei der Psychose
Realitätswert. Die Situation der Analyse bedeutet damit für den Patienten
eine zu große Gefahr. In diesem Fall mag das Geschlecht des Analytikers
tatsächlich eine Rolle spielen.
Indem man die homosexuelle Übertragung meidet, verzichtet man wohl
auf eine gewisse Intensität der Übertragung, die oft eine Bedingung des
therapeutischen Erfolges ist. Der Erfolg der Behandlung wird damit natür-
lich aufs Spiel gesetzt. Unser Fall stellt in dieser Hinsicht ein ideales
Kompromiß dar, weil er auf Grund seiner ersten Analyse mit Freud die
innere Verbindung noch nicht verloren hatte. Für ihn bedeutete die Ana-
lyse Freud. So war der väterliche Einfluß noch in genügender Stärke
wirksam, ohne daß er einen höheren Grad erreichte, der wahrscheinlich
für die Behandlung verhängnisvoll gewesen wäre. Wie man aus der Ana-
lyse ersehen kann, war meine Rolle eigentlich eine ganz nebensächliche,
ich hatte ja bloß zwischen Freud und dem Patienten zu vermitteln.
Zwei Punkte erscheinen mir noch von besonderer Bedeutung: der erste
ist der Mechanismus der Heilung. Ich habe keine Erklärung für die ent-
scheidende Veränderung, die im Patienten nach dem Traum von den
Heiligenbildern (Seite 54) vor sich ging. Ich kann diese Umwandlung nur
der Tatsache zuschreiben, daß der Patient endlich doch seine Beziehung
zum Vater durchgearbeitet hatte und sie darum jetzt aufgeben konnte. Die
analytische Therapie wirkt in zweifacher Weise: erst werden die bisher
unbewußten Reaktionen bewußt gemacht, dann muß das Durcharbeiten
des zutage geförderten Materials erfolgen.
Der zweite Gesichtspunkt betrifft die primäre Bisexualität des Patienten,
die offenbar zu seiner Erkrankung führte. Seine Männlichkeit fand stets
die normale Abfuhr, seine Weiblichkeit dagegen mußte verdrängt werden.
Aber seine Weiblichkeit scheint, wohl konstitutionell bedingt, so stark
gewesen zu sein, daß der normale Ödipuskomplex schon bei seiner Ent-
stehung dem umgekehrten Ödipuskomplex weichen mußte. Die Entwicklung
eines normalen Ödipuskomplexes hätte von mehr Gesundheit gezeigt, als
sie der Patient gegenwärtig aufwies. Es erscheint überflüssig, noch darauf
hinzuweisen, daß ein übertrieben starker positiver Ödipuskomplex
andererseits oft gerade das Gegenteil verdeckt. Aber vielleicht verlangt
52 Ruth Mack Brunswick
selbst diese Reaktion eine größere biologische Gesundheit als sie der
Patient besaß.
Es ist nicht möglich, zu sagen, ob der Patient, der jetzt seit anderthalb
Jahren gesund ist, auch gesund bleiben wird. Ich glaube, daß seine Ge-
sundheit wohl zum größten Teil vom Ausmaß seiner Sublimierungsfähig-
keit abhängen wird.
Literatur
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illllMB
Die vorliegende Arbeit von Ruth Mach Brunswick ist
ein N acntrag zur Schrift
Aus der V^escnicnte einer
lnlantilen- ^1 i
eurose
on
oigm. t reud
Geh. M. 3.5o, Halhleinen M. 5.—
Freud hat es gewagt, aus der mehrjährigen Analyse eines ca. 50 jährigen Mannes die
neurotische Kindheitsgeschichte herauszuarbeiten und diese mit ihren Wurzeln darzu-
stellen . . . Wir wissen, wie das Genie des Autors vor mehr als zwei Jahrzehnten aus viel
geringerem Material scheinbar kühne Schlüsse zu ziehen vermochte, die sich nachher
bewahrheiteten, und werden uns deshalb hüten, einfach über seine Ansicht hinweg-
zugehen. Es gibt wohl keine Arbeit Freuds, die so wie die vorliegende geeignet ist, in
die weniger gewöhnlichen Gedankengänge des Autors einzuführen.
{Prof. Bleuler in der Münchner Med. rVochmschr.)
Ein solch tiefer und wichtiger Beitrag zur Kenntnis vom Seelenleben des Kindes ist i
der gesamten Literatur kaum mehr zu finden. (Fol ks stimme, Frankfurt)
Zwingender als allgemeine Erörterungen bringt uns so eine ausführliche Kranken-
geschichte dem Wesen des Freudismus näher. Diese zum Teil nachträgliche Analyse
einer Neurose, die beim vierjährigen Kinde als Angsthysterie (Phobie vor geträumten
Wölfen) begann, sich dann beim Knaben in krankhafte Frömmigkeit umsetzte und im
jugendlichen Mannesalter schließlich den Charakter eines schweren Zwanges aufwies,
hat auf ungeahnte Möglichkeiten der Psychoanalyse Licht geworfen und gehört daher
zu den klassischen Schriften der Freudschen Psychologie und Sexualtheorie. Die vom
ebenso kühn schürfenden wie skeptischen Verfasser mit sich selbst geführte Diskussion,
ob die in der Analyse rekonstruierte Urszene (die Belauschung des elterlichen Geschlechts-
verkehres) wirklich erlebt worden ist, oder ob die Phantasie des Kindes eine Anleihe
bei dem Erinnerungsschatz der Gattung macht, wirkt als eine spirituelle Höchstleistung
auf steilen Graten der Erkenntnis geradezu spannend und atemraubend. (Nation)
in =
Gleichzeitig erscheint von
ß.utk jMLack Brunswick :
_L)ie Analyse eines
Üil ersuchte wannes
Geheftet M.. 2.3 o In Ganzleinen M.. 3. 80
Inhalt: I) Einleitung. — II) Analyse der
infantilen SeMialstrehiingen: 1) Der Einflufj
der Verführung. 2) Todesphantasien. 3) Die
infantile Onanie. 4) Penisneid und Kastrations-
angst. — 111) Erste paranoisdic Phase: Eifer-
sudit. — IV) Zweite paranoisdic Phase : Die
negative Übertragung. — V) Dritte paranoische
.Phase : Die Beendigung der Analyse. —
VI) ibdiluljfolgerungen: Diagnose. Mechanismen.
1 RUTH MACK BRUNSWICK
NACHTRAG ZU FREUDS
GESCHICHTE EINER
INFANTILEN NEUROSE