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Full text of "Monatshefte Der Comenius Gesellschaft Vol 10 1901"

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Herausgegeben von Ludwig Keller 


V OM E N I U S 


Ü i J \ \ 1 < Ti ES K LLSC'I FA KT.j j 


Zehnter Band. 

drittes und viertes Heft, 
März — -April 1901. 


Monatshefte der 
Comenius-Gesellschaft für ... 


1F AjuÄ?? 3 


l^arfaarö College librarg 

FROM THE BEQJLJEST OF 

JAMES WALKER, D.D., LL.D. 

(Clan of 1814) 

FORMER PRESIDENT OF HARVARD COLLEGE 


“ Preference being given to works in the 
Intellectual and Moral Sciences.” 



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Monatshefte 

der 

Comenius-Gesellschaft 

Herausgegeben von Ludwig Keller. 



Zehnter Band. 

1901. 


Berlin 1901. 

R. Gaertners Verlagsbuchhandlung 
Hermann Heyfelder. 

SW. Schönebergerstrasse 20. 


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Für die Schriftleitung verantwortlich: 

Geheimer Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller in Charlottenburg. 


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Inhalt des zehnten Bandes, 


A. Abhandlungen. Seit0 

Die Erwerbung der preussischen Königswürde und die Begründung des 

modernen Toleranzstaates 1 

Ludwig Keller, Christentum und Platonismus 7 

Prof. Dr. Paul Hohlfeld, Die Freiheit des Menschen 16 

Dr. R Kayser, Die Anfänge der Toleranz in Holstein etc 34 

Prof. Dr. August Wolfstieg, Der Staat bei Christus, Paulus und den 

Reformatoren. Nach einem Vortrage . . 65 

Dr. Heinrich Romundt, Der Platonismus in Kants Kritik der Urteils- 
kraft. Erster und zweiter Teil 82. 140 

Friedrich Nippold, Zur Erinnerung an Karl von Hase .... 99 

J. Hausmann, Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde . . 129 

Lud w. Keller , Sebastian Francks Aufzeichnungen über Joh. Denck etc. 173 
Ders., Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe und die Anfänge 

des Maurerbundes in England, Holland und Deutschland . . 195 

Theobald Hermann, Immanuel Kant und die moderne Mystik . . 231 

Ein altchristliches Glaubensbekenntnis von W 244 

Ludwig Keller, Waldenser und Katharer im Urteile J. J. v. Döllingers 259 

Dr. Franz Strunz, Johann Baptist von Helmont 274 

Die moralischen Wochenschriften, welche in den Jahren 1713 bis 1761 

in deutscher Sprache erschienen sind 296 

B. Kleinere Mitteilungen. 

Zur Korrespondenz des Comenius von Univ.-Prof. Dr. Kvacala . . 44 

Eine halbverschollene Schrift Johann Jakob Mosers etc. Von L. Keller 46 

Zur Geschichte des deutschen Journalismus . 111 

Waldenser und Reformierte im 18. Jahrhundert 113 

Das Antwerpener Augustiner- Kloster bei Beginn der Reformation 

(1513—1523). Von Otto Clemen 306 

C. Besprechungen und Anzeigen. 

C. Th. Lion, Joh. Ainos Comenius’ Grösst» Untorrichtslehre (Bötticher). — Joh. Ainos 


Comenius’ Informatorium der Mutterschule, neu hrsg. von C. Th. Lion (Bötticher). 
— Realencyklopädie für Protestant. Theologie und Kirche. Dritte Auflage. Bd. VIII 
(Hesse bis Jesuitinnen) (Keller). — Hohenzollern-Jahrbuoh Bd. IV (1900) hrsg. von 
Prof. Dr. Paul Seidel (Keller). — Der Protestantismus am Ende des 19. Jahr- 


hunderts in Wort und Bild, hrsg. von C. Werckshagen (Keller). — Friedrich 

Grawert, Die Bergpredigt nach Matthäus etc. (Bötticher) 48 

Fr. Steudel, Der religiöse Jugend unterricht. Auf Grund der neuesten wissenschaftlichen 

Forschung (Dr. G. A. Wynekon) 115 

Kvacala, Neue Beitrüge zuin Briefwechsel zwischen D. K. Jablonskv und G. W. Leihnix 
(L. K.). — Carl Bonhoff, Christentum und christlich-soziale Lebensfragen (L. K.). 

— - Johann Jak oh Bodmor, Denkschrift zum 200. Geburtstag (L. K.t. -- Per 
Katechismus des Johann Ainos Comenius (('. Th. Lion) 180 


Fürstenau, Herrn., Johann von Wielifs Lehren von der Einteilung der Kirche etc. 

(O. Cleiuen). — Ernst Fr. Wynekon , Das Ding an sich und das Naturgesetz der 
Seele (H. Romundt). — Realencyklopädie für protest. Theologie und Kirche. 8. A. 

Bd. IX (Keller). — Ad. Langguth, Die Bilanz der akademischen Bildung (Keller) 249 

D. Nachrichten und Bemerkungen. 

Adolf Harnack überdas Wesen des Christentums. — „Apostel wort“ und „Herrnwort“. - 
Die Idee des Reiches Gottes und die Leugnung der Willensfreiheit. — Warum geschieht 
nichts zur Erforschung der platonischen Akademien des Altertums? — Der Nanu» 
„Museum“ in der Akademie Platos und in den Akademien des Mittelalters und der 
neueren Zeit. — Karl Biedermann über die Perioden teilung der deutschen Geschichte. 


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IV 


Inhalt. 


Seite 

— Über den Beginn der neuzeitlichen Geschichte Englands. — Wider die Gering- 
schätzung der Deutschen Gesellschaften des 17. u. ls. Jahrli. — Das Aufkommen des 
Wortes „Toleranz“ im 17. Jahrhundert und der Grosse Kurfürst. — Der Begriff der 
Toleranz bei Pufendorf, bei den Arminianem und bei Milton. - Ein Urteil Adolf 
Harnacks über Comenius und seinen Enkel D. E. Jabionski. — Der Siebenjährige Krieg 
in seinen Wirkungen als Glaubenskrieg. — G. Uhlhorn über die Anfänge der christ- 
lichen Liebesthätigkeit und die moralischen Wochenschriften des 18. Jahrh. — Die 
Deutschen Gesellschaften und die Betonung der sokratischen Philosophie im 18. Jahrh. 

— Calvinisnius und Luthertum als Gegner des Sokrates. — Benjamin Franklin und 
die moralischen Wochenschriften. — Die „patriotische Assembler“ zu Merseburg um 
1724. — Die „heimlichen Gemeinden“ der Evangelischen am Niederrhein im IG. lind 
17. Jahrh. etc. — Eine geheime Gemeinde von Protestanten zu Toledo um 1560. — Die 
sog. Kleinode (Bijoux) in den Sozietäten des 17. u. 18. Jahrh. — Die Brudernamen 
in der Sozietät der Maler und in der Sozietät der Maurer im 18. Jahrh. — Die 
Zeitschrift für Kulturgeschichte über Katschs Buch „ Die Entstehung etc. der 
Freimaurerei“. — Eine Bemerkung K. Chr. Fr. Krauses über die Bedeutung Jesu 
für den „Menschheitsbund der Freimaurer“. — Die „Akademien“ als innere Ringe 
der „Sozietäten“ und deren Einrichtungen. — Die Bedeutung der freien Akademien 
als Erziehungsanstalten für ihre Mitglieder. — Die Sozietäten und die Kirchen . . 53 

Die I<1 «h* des Reiches Gottes. Über die Bedeutung der Namenfrage in der Geschichte 
der grossen Religionsgemeinschaften. — Ül>er die Sektennamen Enthusiasten und 
Katharer. — Ül>er die Grade und Stufen in den Akademien der Neuplatoniker. - Über 
den Grundsatz der Reinheit der Gemeinde und seine KonsiHjuenzen. — Ül>er die 
beiden Märtyrer der Waldenser Joli. Driindorf und Peter Turnau im 15. Jahrhundert. — 
Friedrich von Heydeck, der Förderer der Reformation in Proussen und die Wiedertäufer. 

- Zur Charakteristik des christlichen Humanismus im 18. Jahrhundert. — Die Betonung 
Johannes des Täufers und seines Vorbildes in den älteren Akademien. — Der Grosse 
Kurfürst und das Florieren der Manufakturen in Brandenburg-Preussen. Comenius 
als Herausgeber des Gesangbuches der Brüdergemeinde von 1661. — Über den Ausdruck 
„allgemeine Religion“. Ül>er den Gebrauch des Namens Patriot seit dem 17. Jahrh. 
in der deutschen Littemtur. — über Beat Ludwig von Muralt (1665 — 174b) und seinen 
Verwandten Kaspar von Muralt, den Freund J. J. Bodmers. -- Ein Urteil K. Chr. Fr. 
Krauses ül>er Platos „Politikus“. — Ad. Harnacks Urteil über das Neue im Christentum 11t» 

Die Idee der Erlösung in der ladire Christi. — Das Alte Testament und seine Bedeutung 
in der Geschichte des Christentums. Reehtgläubigkeit und Glaultenszwaug seit Er- 
richtung der Wcltkirehe im 4. Jahrh. — Die Verdrängung der graphischen Sprache durch 
die lateinische in der christlichen Kirche und ihre Bed«*utnng. Der Dienst der Liebe 
und des Schönen in der K ult genossen schuft der platonischen Akademie. Zur Ge- 
schichte der Namen Hairesis u. Secta. Reste des Isiskultes in der Symbolik der 
christlichen Kirche. Di«; Glaubens Verfolgungen als Ursachen der geheimen Gottes- 
dienste. — Eine Ausgabe alter Lieder der sog. Wiedertäufer. - • Die Bedeutung der 
grossen Kanalschlachten des August 15*8 fiir die Entwicklung des toleranten Protestan- 
tismus. — Ein Antrag des Institut de France auf Herstellung einer GcsamtausgalH* von 
I/dlmiz’ Schriften. — Die Bewilligung von 3tMK)0 Mk. für die Geschieht«* des Schul- 
wesens aus Kcichsmitteln. -- Die Wiederlielebung der Philosophie des Thomas von 
Aquino. Die Aufnahme von Glauliensflüchtlingen in Brandenburg-Preussen etc. — 

Pie Philosophie Christian Wolffs. - Di«* Vertreibung der Salzburger Protestanten (1732) 
und di«* Ausbreitung d«*s Tolornnzgedank«*ns in Europa. 8«*bastian Franck und 
Gotthold Ephraim Jjessing. -- Friedrich Nicolai in Berlin gi«*bt einige Schriften sog. 
Wkslertäufer im Jahn* 1781 neu heraus. — Graf Wilhelm von Schaumburg- Li pjw* 
(1721-1777) 187 

Üh«*r den B«*griff des Wortes Weltanschauung. — Über das W«*sen <l«*s Glaubens. — Ülier 
di«* I(b*<* der Persönlichkeit- und Freiheit un«t ilire Geschichte. — Über di«* Würdigung 
von R«*ligion und Kirche als innersten Rad«*s im Uhrwerk nationalen Leiions. — 

Neuere Urteile -über Luther und sein Werk. - - Das Zeitalter der Ent<h*ekung<*n und 
«l«*r Humanismus. — Schillers Stellung zur christlichen JRcligion. — Weith«*rzigk«»it 
und Toleranz miii*r)ialb der KultgenosBcnschaft der ält«*r«*n Akademien. — Ein«* Preis- 
aufgalx* «1er Gesellschaft für Rh«*inischc Geschichtskunde. — G«»ethos patriotisches 
Festspi«*!. — Bo«lm«*rs Einfluss auf Pestalozzi 251 

IT. St. Chamherlain lilter di<* B«*d« ntung der Kämpfe im frühen Christentum. — Das alb* 
Christentum und «üe Einführung der römischen Weltkirche. — W'ar das ältest«* 
Christentum « in Vorläuf«*r «l«*s «•liristlich«*n Humanismus? — C. Ililtys Urteil iilier 
Paulus. — Di«* l«:U*e «les Gottesiek hs als eines Bauwerks. — Die Bedeutung <l«*r lVr- 
sönlichkeitcn in d«*r Geistesg<*sehichto. -- Lucius Apulejus von Madaura (geh. um 
125 n. Chr.) und di«* Akademien der Platoniker. Di«* flii«*ht«*nden Grh'ehen im 14. 
mul «lie Hug«*nott«*n im 17. Jalirhumlert. Johann Markgraf von Brandenburg, «1er 
„Alchymist“. — Die Prinzessin Barbara von H«»henzolh*rn, di«* „Huinanisten-Mutter“. 

- ~ J«*an Baptist von Helmout. — Samuel Pufendorf und das Collegium anthologicum 
zu Leipzig. - V<*rschl«*iert«* Organisationen in politischen ttntl religiösen Kämpfen. 

Die deutschen Sprachgesellschaften des 17. Jahrhunderts in ihrer wahren B«*deutung. 

- Die Berufung auf Sokrates und Plat«> in den Sozietäten d«*s 17. un«l 18. Jahr- 
hunderts. Die „spekulative“ un«l die „operative“ Abteilung in den ält«*ren Bau- 
iunuugen. - Fr. Panlsens, (). Willnianns uml K. Vorlämlers Schriften iib«*r Kant. — 


Alexander Wernieke über «Ile Pcriodciit<*iluiig der «leutschen G«*s«*hichte :514 

E. Personen- und Ortsre^ister .121 


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Herausgegeben von Ludwig Keller, 


ISELLSCHAFT 


1898 


Zelinter Kami 


R. Gaertners Verlagsbuchhandlung 
Hermann Heyfelder. 

SW. Schönebergerstrasse 20. 


Der Bezugspreis betrügt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark 


Alle Rechte Vorbehalten 


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Inhalt 

dos ersten und zweiten Heftes 1901. 


Abhandlungen, Seite 

Die Erwerbung der preussischen Königswürde und die Begrün- 
dung des modernen Toleranzstaates 1 

Ludwig Keller, Christentum und Plutonismus* Eine geschichtliche Be- 
trachtung 7 

Prof. Dr. Paul Hohlfeld, Die Freiheit des Menschen 10 

Oberlehrer Dr. R. Kayser, Die Anfänge der Toleranz in Holstein unter 

Herzog Friedrich III. Ein Beitrag zur Geschichte der Remonst ran teil .*>4 

O c? 

Kleinere Mitteilungen. 

Zur Korrespondenz des Comenius von Univ.-Prof. Dr. Kvacala . 44 

Eine halb verschollene Schrift Johann Jakob Mosers über den 

religiösen Charakter der Freimauerei. Von Ludwig Keller. 4 0 


Besprechungen und Anzeigen. 

C. Th. Lion, Joh. Ainos Comenius’ Grosse Unterrichtslehre, übersetzt, mit Anmerkungon und einer 
Lebonslieschrmbung des C. (Bötticher). - Joh. Ainos Coineniiis’ Informatoriiun der Mutter 
Schul, neu hrsg. von C. Th. Lion ( Bötticher). — B«*alencyklopiUlic für protestantische 
Theologie und Kirche. Dritte Aufing«* l»rsg. von I>. Albert Hittick B<1. VIII (Hesse bis 
Jesuitinnen) (Kell«*r). — ■ Ilohenzollern-Jnhrbueh B«l. IV 1 1!»0» »> lirsg. von Prof. Dr. Paul 
Seidel (Keller). — Der Protestantismus am End«.* «les l'J. Jahrhunderts in Wort und Bild 
brsg. von C. Wercksbagen (Keller). — Friedrich (Irawert, Dir Bergpredigt nach 
Matthäus etc. (Bötticher) 

Nachrichten und Bemerkungen. 

Adolf Harnaok über das Wesen des Christentums. - „Apostelwori“ und ,,Herrenwort“. 1 »io Idee des 
Deiches Gottes und die Leugnung der Willensfreiheit. — Warum geschieht nichts zur Erfor- 
schung der platonischen Aka«lemien des All«*rtums. — Der Nanu* Museum“ in der Akademie 
Platos und in «len Akademien «les Mittelalter* und der muieren Zeit. — Karl Biedermann 
über die Periodenteilung d«*r «hutsch«*» Geschichte — (Ju r den Beginn der neuzeitlich«*!! 

Geschichte Englands nach Erich Mareks. — Wi«l«*r «lie Geringschätzung der .,D«*utsch«*n G«*- 
.sellschaften“ des 17. u. ls. Jahrli. — Das Aufkommen des Worl«*s ,,Tol«*ranz“ im 17. Jahrh. 
und der Grosse Kurfürst. — D«*r Btgriff «l«*r Tolciatiz bei Pufemlorf, hei «len Arminianern und 
hei Milton. — Ein Urteil Adolf Harnncks über Comenius und seinen Enkel D. E. Jabionski. — 

Der Siebenjährige Krieg in seinen Wirkungen als Glaubenskrieg. -- G. Uhlhorn über die An- 
fänge der christliche» Liebesthätigkeit und die moralischen Wochenschriften des 18. Jahrh. — 

Die ,, deutschen Gesellschaften“ und «lie B«*tonung «i«*r sokratischcn Philosophie im IS. Jahrh. 

— Calvinismus und Luthertum als Gegner des Sokrates. — Benjamin Franklin und die mora- 
lischen Wochenschriften. Die „patriotische Ass«*mbl«V“ zu Merseburg um 1724. — Die 
„heimlichen Gemeinden“ «ler Evangelischen am Niederrhein im lö. u. 17. Jahrh. und die 
„geheime Gemeinde“ der Hugenotten zu Dresden im 18. Jahrh. — Eine geheime Gemein«!«* 
von Protestanten zu Toledo um 1505. -- Die sog. Kleinod«* (Bijoux) in den Sozietäten des 17. 
u. 18. Jahrhunderts — Di«* Biudernamen in der „Sozi«*tät «ler Maler“ un«l in «ler „Sozietät 
d«*r Maurer“ im 18. Jahrh. — Die „Zeitschrift für Kulturgeschichte“ über Katschs Buch 
„Die Entstehung etc. der Freimaurern“. — Eine Bemerkung K. Chr. Fr. Knuis«»s über die 
Bedeutung Jesu für den „Menschheitsbund der Freimaurer“. — Die „Akademien“ als innere 
Dinge der „Sozietäten“ und d«*ren Einrichtungen. — Die Bedeutung der freien „Akademien“ 
als Erziehungsanstalten für ihre Mitglieder. — Die „Sozietät«»»“ und die Kirchen .... 

Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.-G., Geheimer Archiv- 
Rat Dr. Ludw. Keller, Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten. 

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen monatlich (mit Ausnahme des Juli 
und August). Die Ausgabe von Doppelheften bleibt Vorbehalten. Der Gesamt- 
umfang beträgt vorläufig 20 — 25 Bogen. 

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre Jahresbeiträge; falls die 
Zahlung der letzteren bis zum 1. Juli nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur 
Erhebung durch Postauftrag unter Zuschlag von 00 Pf. Postgebühren berechtigt. 
Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf. 

Jahresbeiträge, sowie einmalige und ausserordentliche Zuwendungen bitten 
wir an das Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse zu senden. 

Bestellungen übernehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes, 
die Postämter — Postzeitungsliste Nr. 0055 — und die Geschäfts teile der 
Comenius -Gesellschaft, Berlin NW., Bremerstr. 71. 

Für die Schriftleitung verantwortlich: Geheimer Archiv-Rat j^r. Ludw. Keller. 

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Monatshefte 

der 

Comenius-Gesellschaft. 


X. Band. ^ 1901. Heft 1 u. 2. 


Die Erwerbung der preussischen Königswürde und die 
Begründung des modernen Toleranzstaates. 


„Die Aufrichtung des neuen Preussischen Königreichs, sagte 
Leibniz im Juli 1 701 D, ist eine der grössten Begebenheiten 
dieser Zeit, so nicht, wie andere auf wenige Jahre ihre Wirkung 
erstrecket, sondern etwas nicht weniger Beständiges als Vortreff- 
liches herfürgebracht. Sie ist eine Zierde des neuen Seculi, so 
sich mit dieser Erhöhung des Hauses Brandenburg angefangen, 
und ihnen mit einem so herrlichen Eingänge sich gleichsam zu 
dauerhaftem Glück (Gott gebe beständigst) verbindet.“ 

Es sei, fährt Leibniz fort, „allen Umständen nach eine 
überaus wichtige und seltene Sache, die nächst Gott des neuen 
Königs in Preussen, Friedrichs, grosser Macht und hoher Weis- 
heit zuzuschreiben (sei), dadurch S. Majestät gegen vieler, auch 
Wohlgesinnter Besorgniss und noch mehr Neider Vcrhoffen zu 
dero höchster Glorie schleunigst durchgedrungen und sowohl bei 
Kayserlicher Majestät als sofort sonst den fast allgemeinen Bey- 
fall und glückwünschenden Zuruf erhalten“ .... 

„Die Protestierenden müssen erkennen, dass es kein 
Geringes, den vierten König erhalten zu haben, der ihren 
Angelegenheiten nun mit mehrerem Nachdruck beytreten 
kann“ . . . . 

Dieses Urteil eines Mannes, der dem Verlauf des Ereignisses, 
dessen voraussichtliche Wirkungen er beschreibt, ausserordentlich 
nah gestanden hat und der zu einer sachkundigen Meinungs- 
Äusserung mehr als die meisten Anderen berufen war, bietet 
heute, wo wir die Folgen der „grossen Begebenheit“ zu übersehen 
vermögen, ein nicht gewöhnliches Interesse dar. Die Entwicklung 


*) Auszug verschiedener, die neue Preussische Crone angehender 
Schriften, verfertiget im Julio und Augusto 1701, abgedruckt bei G. E. 
Guhrauer, Leibnitz Deutsche Schriften. Berlin IS 10. S. :>00 ff. 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. ^ 


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9 Die Erwerbung der ffreuesischen Königswürde etc. Heft 1 u. 2. 

des Protestantismus war es, für deren Fortgang Leibniz von der 
„Aufrichtung des neuen preussischen Königreichs“ sich besondere 
Wirkungen verspricht, und in der That hat der Gang der Dinge 
gezeigt, dass dieses „grosse Werk“, wie König Friedrich I. sagte, 
die Geschichte der Geistesentwicklung in Deutschland tief und 
dauernd beeinflusst hat. 

Das Kaiserliche Edikt vom 6. Februar 1629 — es ist das 
berühmte Restitutionsedikt — hatte nicht nur den katholischen 
Landesherren die völlige Austreibung der Protestanten anheim- 
gegeben, sondern es vor Allem als heiligen Zweck des Kaisers 
bezeichnet, die gänzliche Ausrottung der „calvinischen Rotten und 
Sekten“ zu betreiben. Und es war keineswegs bloss der Kaiser, 
welcher in den Reformierten aller Schattierungen, besonders auch 
in jenen, die im Sinne des Arminianismus für die Glaubensfrei- 
heit eintraten, seine gefährlichsten Gegner erkannte, sondern auch 
die lutherischen Kurfürsten und Fürsten vertraten den gleichen 
Standpunkt. 

Da ward das Unerwartete Ereignis: im Jahre 1640 bestieg 
jener grosse Hohenzoller den Thron, der den Mut besass, sich 
zum Vorkämpfer des Toleranzgedankens zu machen und auf Grund 
der Lehre Christi, wie er sie verstand, die Lehre vom Glaubens- 
zwang grundsätzlich abzulehnen. 

Es war ein Wagnis, dem selbst die Wohlwollenden unter 
den Zeitgenossen zunächst nur zaudernd Vertrauen entgegen- 
brachten, als jetzt das überwiegend lutherische Land seine Thorc 
vielen Tausenden von landflüchtigen Leuten öffnete, die den 
Strafgesetzen, die in ihrer Heimat auf der Abirrung vom wahren 
Glauben standen, sich entzogen hatten und als „Freigeister“ und 
„Revolutionäre“ verfolgt und verschrieen waren. „Sakramentirer“, 
„Synkretisten“, „Alchymisten“, „Pantheisten“, „Atheisten“, „Pie- 
tisten“ sagte man, halte der Grosse Kurfürst für gut genug, um 
ihnen Schutz zu gewähren; wie könne seinem Lande aus solchen 
Leuten ein Segen erwachsen? Aber Friedrich Wilhelm, der wohl 
wusste, dass mau ihn selbst einen „Synkretisten“, „Alchymisten“ 
und „Sakramentirer“ schalt, kümmerte sich ebensowenig wie später 
Friedrich der Grosse um derartige Verdächtigungen und machte 
sein Land thatsächlich zur Zufluchtsstätte Aller, denen man nichts 
anderes als angebliche „Abirrungen vom Glauben“ nachweisen 
konnte *). 

Obwohl die „calvinischen Rotten und Sekten“ keineswegs 
die Mehrheit in Brandenburg besassen, so war der geistige und 
wirtschaftliche Einfluss der fleissigen, thatkräftigen und für ihre 
Sache begeisterten Leute doch bald in starker Zunahme begriffen 

*) Näheres über diese Ereignisse und Entwicklungen s. bei Ludwig 
Keller, Der Grosse Kurfürst und die Begründung des modernen Toleranz- 
staatos (Berlin SW. Werner Verlag 1901). 


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1901. 


Die Erwerbung der preussischen Königswürde etc. 


3 


und der Gedanke der Toleranz, den sie vertraten und den der 
Staat des Grossen Kurfürsten planraässig zu verwirklichen strebte, 
durchdrang allmählich wie ein Sauerteig alle Gebiete des öffent- 
lichen Lebens; es zeigte sich, dass dieser wichtige Grundsatz 
allmählich die Beziehungen zwischen der bürgerlichen und geist- 
lichen Gewalt von Grund aus umgestaltete uud geeignet war, 
endlich wenigstens in diesem Staate die Unabhängigkeit der welt- 
lichen Wissenschaft von der kirchlichen Autorität zur Wahrheit 
werden zu lassen. Mit vollem Recht nennt deshalb Heinrich von 
Treitschke den Gedanken der Toleranz „den Grundgedanken 
der neuen deutschen Geschichte" 1 ). 

Noch immer standen die kirchlichen und religiösen Fragen 
im Mittelpunkte aller politischen Interessen und die Stellungnahme 
der Staaten in den Händeln der Welt wurde von diesen Fragen 
in erster Linie bestimmt. Der kirchliche Fanatismus war in allen 
Ländern Europas, vielleicht mit Auspahme von Holland und 
einigen kleinen Staaten des Reichs in eifrigster Thätigkeit, um 
den kühnen Versuch zum Scheitern zu bringen, uud das steigende 
politische Übergewicht Ludwigs XIV. brachte seit 1679 auch 
das Kurhaus Brandenburg in eine Abhängigkeit, die im Sinne 
des Klerikalismus für die Zukunft das beste hoffen Hess. 

Da führte der Übermut des „Sonnenkönigs" und seiner Rat- 
geber eine Wendung herbei, die Niemand aus diesem Kreise 
erwartet hatte: Die Austreibung der Hugenotten und die Auf- 
hebung des Edikts von Nantes, die die bisherigen kirchlichen 
Reunionsbestrebungen hatten krönen sollen, erregten den Grossen 
Kurfürsten wie alle seine Glaubensgenossen auf das tiefste, und 
im Sinne seines berühmten Ausspruchs: „Die armen Evangeli- 
schen kann ich nicht verlassen . . . es gehe mir auch 
wie es wolle" 2 ) fasste er den mannhaften Entschluss, die Fesseln 
der französischen Dienstbarkeit abzu werfen. Das Edikt von Pots- 
dam vom 8. Nov. 1685 verkündete der protestantischen Welt, 
dass das Haus Brandenburg sich zum Führer uud Schutzherrn 
der um ihren Glauben kämpfenden Evangelischen gemacht habe. 

Gerade in der Seele von Leibniz spiegelt sich der Um- 
schwung deutlich wieder, der sich damals in den Herzen von 
unzähligen Gleichgesinnten vollzog. Leibniz, der früher stets seine 
Gedanken auf Wien gerichtet und von dorther für die Entwick- 
lung des geistigen Lebens viel erhofft hatte, wandte sich jetzt 
dem Staate Brandenburg zu und mit ihm die geistesverwandten 
Genossen, die hier freie Bewegung uud Förderung für ihr geistiges 
Schaffen zu finden hofften. Ähnlich wie der deutsche Adel der 
kleineren Staaten, der bisher, wenn er Kriegsdienste suchte, nach 

*) Deutsche Geschichte, I 6 , 27. 

a ) Urkunden und Aktenstücke zur Geschichte des Grossen Kurfürsten 


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Die Erwerbung der preußischen Königswürde etc. Heft 1 u. 2. 


Holland, Schweden und Frankreich gegangen war, sich seit 1656 
mehr und mehr den Fahnen des Grossen Kurfürsten zuwandte, 
so richteten die Verteidiger des Toleranzgedankens, deren Zu- 
fluchtsstätten bis dahin Amsterdam und London waren, ihre Blicke 
nach Berlin, und indem Friedrich Wilhelm den Suchenden ent- 
gegenkam, zog er zahlreiche wertvolle geistige und gewerbliche 
Kräfte an sich, die ihre Thatkraft und ihre Kenntnisse in den 
Dienst des Staates stellten, der sie schützte. 

Indessen war man in weiten Kreisen der katholischen wie 
der lutherischen Welt nach wie vor der Überzeugung, dass die 
Rückgewinnung Brandenburgs nur eine Frage der Zeit und der 
Umstände sei, und tendenziöse Machwerke wie die Lehninsche 
Weissagung nährten planmässig diesen Glauben. Man muss ja 
einräumen, dass die Mächte der Reaktion in diesen überwiegend 
lutherischen Gebieten auch unter dem Grossen Kurfürsten sehr 
stark geblieben waren und es war klar, dass in dem Augenblick, 
wo Friedrich Wilhelm die Augen schloss, der Grundsatz der 
Toleranz seinen zielbewusstesten und mächtigsten Vertreter verlor. 
Die neuen Gedanken und Grundsätze waren mit dem Wesen 
dieses Staates noch keineswegs untrennbar verwachsen, und die 
späteren geschichtlichen Entwicklungen sollten in der That den 
Beweis bringen, dass jedesmal, wenn der Monarchie ein energischer 
Vertreter toleranter Anschauungen fehlte, die alteingesessenen 
Mächte, besonders Adel und Geistlichkeit, wiederum die ent- 
scheidenden Machtfaktoren in Brandenburg-Preussen wurden. Wer 
konnte wissen, ob dem Nachfolger Friedrich Wilhelms die Durch- 
setzung des Toleranzstaates in gleicher Weise am Herzen liegen 
werde, und ob er, selbst wenn er wollte, der Hindernisse Herr 
werden könne, die die bestehenden Machtverhältnisse der übrigen 
Staaten derartigen Bestrebungen entgegensetzten? 

Das erste Jahrzehnt des neuen Regiments, das mit Fried- 
richs III. Thronbesteigung im Jahre 1688 begann, bestärkte die 
Siegesgewissheit der Kurie und ihrer Parteigänger deshalb ganz 
ausserordentlich, weil diese Jahre dem Katholizismus einen un- 
geheuren Machtzuwachs brachten. In Österreich wie in Frank- 
reich, den mächtigsten Staaten des Festlandes, waren die Träger 
der Kronen bekehrungseifrige, der Gesellschaft Jesu durchaus 
ergebene Katholiken. In Kurpfalz, das bis dahin das Haupt der 
Calvinisten gewesen war, herrschte jetzt der Vater der Kaiserin, 
ein überaus thätiger Anhänger der Kurie. Die Aussichten des 
katholischen Hauses Stuart auf England waren im Steigen be- 
griffen. Strassburg, ehedem eines der festesten Bollwerke der 
„Ketzere i“, war wieder mit der Kirche und der Krone des aller- 
christlichsten Königs vereinigt. Ein Zweig des mächtigen Weifen- 
hauses war bereits in den Schoss der alten Kirche zurückgekehrt; 
in Hessen und Mecklenburg gab es prinzliche Konvertiten und 


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1901. Die Erwerbung der preußischen Königswürde etc. f> 

endlich — und das war für die Anschläge auf die Hohenzullern 
das wichtigste Ereignis — das Haus Wettin, bisher „Diktator 
der Lutherischen im Reiche“, hatte gegen die Übertragung einer 
Königskrone seine bisherigen Schutzbefohlenen im Stiche gelassen 
und war ein eifriges Mitglied der römischen Kirche geworden. 

Exempla trahunt sagte man sich in Rom, und es war nicht das 
erste Mal, dass ein Konvertit andere Standesgenossen zu Kon- • 

vertiten gemacht hatte. Die Thatsache, dass König August der 
Starke bald nach seinem Übertritt dem Kurfürsten Friedrich von 
Brandenburg bei einer persönlichen Begegnung einen königlichen 
Sessel anbieten Hess, beleuchtet ebenso deutlich die Hoffnungen 
der Wettiner und ihrer Hintermänner wie der weitere Umstaud, 
dass der König seinem Freunde den Rat erteilte, sich zur Durch- 
setzung seiner Wünsche und Pläne der Mitwirkung des Papstes 
zu bedienen. 

Man muss sich gegenwärtig halten, dass die Aussichten 
Friedrichs, zur Erfüllung seines heissesten Wunsches zu gelangen, 
fast zehn Jahre lang sich immer wieder verflüchtigten und dass 
die Hoffnung, auf einem anderen Wege zum Ziele zu kommen, 
gerade in den Jahren ausserordentlich gering waren, wo Sachsen 
solche Ideen in des Kurfürsten Seele senkte. Noch im Jahre 
1694 hatte Kaiser Leopold, auf dessen Entschliessung zunächst 
das meiste ankam, auf den brandenburgischen Antrag erklärt, dass 
„diese Sache wegen ihrer üblen Consequenz in alle Wege 
divartirt werden müsse“. Man wusste in Berlin genau, dass 
im Jahre 1697 keine andere Antwort zu erwarten sei, wenn nicht 
etwa die von Sachsen angedeuteten Gegenleistungen auf dem Um- 
wege über Rom den Kaiser zu anderen Entschliessungen brachten. 

In dieser Lage nahm eine Instanz sich der Sache an, deren 
Mitwirkung Friedrich III. wohl nicht erwartet hat, nämlich die 
verhüllte Organisation der römischen Propaganda; zwei gewandte, 
einflussreiche und welterfahrene Jesuiten, die Patres Vota und 
von Lüdinghausen gen. Wolff, suchten und gewannen Fühlung 
mit dem Hofe der Hohenzollern, und die Eindrücke, die sie hier 
erhielten, erweckten in ihnen Hoffnungen, die sie ermutigten, den 
Wünschen Friedrichs III. einen Schritt entgegenzukommen: ihr 
Gutachten ist es gewesen, das die Bedenken des Kaisers gegen 
die preussische Königswürde zuerst wirksam abgeschwächt hat. 

Damit freilich war ihre Arbeit zu Ende: denn es zeigte sich bald, 
dass Friedrich III. entschlossen war, „seine Religion (wie er 
sagte) um alle Kronen der Welt nicht zu verwechseln“. 

Damit war die folgenreiche Thatsache geschaffen, auf die wir zu 
Eingang dieses Aufsatzes hingewiesen haben. 

Während sich die römische Propaganda und ihre Vertreter 
mit Konvertierungshoffnungen trugen, erwuchs aus diesem Ent- 
schluss heraus eine Lage, welche die Führung des deutschen 


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(> Die Erwerbung der preussischen KÖnigswiirde etc. Heft 1 u. 2. 

Protestantismus naturgemäss in die Hand der Hohenzollern über- 
gehen liess. Wir besitzen eine Denkschrift von Leibniz vom 
4. Juni 1697, in welcher dieser mit Nachdruck betont, dass 
Brandenburg die deutschen Protestanten in geschlossener Masse 
hinter sich sammeln müsse und dass es für diesen Zweck kein 
besseres Mittel gebe, als die Durchführung des Toleranzgedankens 
und die Union der protestantischen Bekenntnisse. Daniel Ernst 
Jabionski, Ezechiel Spanheim, Paul v. Fuchs und Dankel- 
mann vertraten die gleiche Ansicht und zwar in vollster 
Übereinstimmung mit dem Kurfürsten. Die Union, d. h. 
die Gemeinsamkeit von Gottesdienst und Abendmahl unter Bei- 
behaltung der geschichtlich gewordenen Riten und Ordnungen 
sollte nach den Ideen ihrer damaligen Befürworter durchgesetzt 
uud nicht auf Brandenburg-Preussen in diesem Sinne beschränkt, 
sondern auf die gesamte protestantische Welt ausgedehnt werden. 

Wir übergehen hier die Schilderung der politischen Ge- 
staltungen, die im Anschluss an den spanischen Erbfolgekrieg 
dem Kurfürsten Friedrich III. als Gegenleistung gegen seine dem 
Kaiser gewährte Hülfe die Erlangung der Königskrone ermög- 
lichten. 

Die Befürchtungen, die man in Wien an die Thatsache 
knüpfte, dass ein „Calvinist" die Königskrone tragen solle, sind 
in vollem Umfange in Erfüllung gegangen, und die Kurie, die 
erst Friedrich Wilhelm II. das Zugeständnis der offiziellen An- 
erkennung gemacht hat, wusste genau, weshalb sie das Geschehene 
fast ein Jahrhundert hindurch als „Sakrileg“ bezeichnete. 

Erst jetzt, nachdem der vornehmste Vertreter des Toleranz- 
gedankens auf dem Festlande eine Stellung gewonnen hatte, die 
ihn gleichberechtigt unter die Zahl der grossen Mächte stellte und 
die Abhängigkeit von der Reichsgewalt auch äusserlich abstreifte, 
erst jetzt war diesem Gedanken selbst eine feste Heimstätte und 
ein dauernder Bestand gesichert. Mit dem Emporsteigen dieses 
Staates gewann auch dieser Gedanke an Macht und an Aus- 
breitung und die beiderseitigen Schicksale waren und blieben auf 
das engste verbunden. 


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Christentum und Platonismus. 

Eine geschichtliche Betrachtung 
von 

Ludwig Keller. 


Die führenden Geister unter den Humanisten des 15. und 
IG. Jahrhunderts, soweit sie Mitglieder der damaligen freien Aka- 
demien waren, haben stets mit Nachdruck der Behauptung ihrer 
kirchlichen Gegner widersprochen, dass sie Heiden seien, und alle 
ihre Wortführer (wir erinnern nur an L. B. Alberti, Pomponius 
Laetus, Marsilius Ficinus und Angelus Politianus) haben von sich 
gesagt, dass sie Christen und sogar wahrere Christen als ihre 
Feinde wären: sie seien, fügte Angelus Politianus hinzu, plato- 
nische Christen. 

In dieser Andeutung, die vielfach in ähnlichen Wendungen 
von anderen Humanisten wiederholt wird, kommt die Thatsache 
zum Ausdruck, dass die Vertreter dieser Geistesrichtung eine Form 
des Christentums vertraten, die sich von der kirchlichen wesent- 
lich unterschied, und dass Männer wie Politianus diesen Unter- 
schied durch den Hinweis auf ihre Stellung zu Plato kennzeichnen 
zu können meinten. 

Marsilius Ficinus, der Leiter der „platonischen Akademie“ 
zu Florenz, brachte diese Verehrung dadurch zum Ausdruck, dass 
er den Plato unter Berufung auf einen Ausspruch des Numenius, 
des Führers der Neuplatoniker im 2. Jahrhundert, den „Moses 
Attikas“ nannte. Hand in Hand mit der eigenartigen Stellung 
zum Platonismus gingen bei diesen Humanisten gewisse Sonder- 
meinungen über wesentliche Teile des Alten Testaments, und bei 
den Verfolgungen, welche die Kurie im Jahre 1468 gegen die 
„Häretiker“ der Akademie zu Rom ins Werk setzte, erklärte Papst 
Paul II. die angebliche Thatsache als hauptsächlichsten Anklage- 
punkt, dass die Platoniker „für Moses nicht die erforder- 
liche Achtung im Herzen trügen“ 1 ). Jedenfalls ist sicher, 

‘) M.H. der C.G. 1898 S. 78, 




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Keller. 


Heft 1 u. 2. 


dass den kirchlichen Gegnern die Verehrung des Plato und die 
Geringschätzung des Moses ebenso als zusammengehörige Eigentüm- 
lichkeiten der Platoniker erschienen, wie der Widerspruch gegen 
Aristoteles, der in den Schriften der Humanisten des 15. und 
lö. Jahrhunderts scharf hervortritt. Der Gottesbegriff des Ari- 
stoteles, sagte G. M. Plethon (der geistige Führer der Platon iker 
seines Zeitalters), wird der überaus wichtigen Thatsache nicht ge- 
recht, dass Gott der Bildner und Baumeister fdo/trexuorf der 
Welt ist, jener Thatsache, die Plato zu einem Grundpfeiler seiner 
Weltanschauung gemacht hat. Plato i>t es gewesen, der uns 
gezeigt hat, dass Gott nicht bloss als Herrscher (wie Aristoteles 
meint), sondern als allgütiger Vater über seine Geschöpfe und 
über die Erhaltung und Entwicklung des Hauses wacht, dessen 
allmächtiger Baumeister er gewiesen ist. 

So wird durch die Verehrung für Sokrates und Plato die 
religiöse Stellungnahme dieser Humanisten in vielen wichtigen 
Punkten massgebend bestimmt: es ist diese Vorliebe keineswegs 
eine zufällige Liebhaberei, sondern ein wesentlicher Teil des 
ganzen Systems, wie es von den „platonischen Akademien“ vertreten 
wird, aber allerdings nur ein Teil, über dessen Betonung man das 
Ganze der Weltanschauung, um die es sich hier handelt und die 
im Wesentlichen eine christliche war, nicht übersehen darf. 
Wenn der wichtigste Bestandteil in den öffentlichen Erörte- 
rungen dieser Kreise zurücktrat, so liegen dem lediglich taktische 
Erwägungen, aber keine prinzipiellen zu Grunde: man darf nicht 
vergessen, dass die Akademien dem offenen Kampfe mit ihren 
kirchlichen Gegnern aus dem Wege gehen mussten. 

Diese Wertschätzung des Platonismus, wie wir sie bei den 
Humanisten der Renaissance finden, ist nun ein charakteristisches 
Merkmal der gesamten Geistesrichtung, die wir unter dem Namen 
des christlichen Humanismus zusammenfassen: sie ist nachweisbar 
in der altdeutschen Mystik des 13. und 14. Jahrhunderts, wie 
sie von Eckhart und Tauler vertreten wird; sie findet sich bei 
Männern wie Johann D e n c k , S e b. F r a n c k und Michael 
Servet; sie ist vorhanden bei den Arminianern Hollands und 
ihren Gesinnungsgenossen in England, und die sog. Naturphilo- 
sophen des 17. Jahrhunderts von Baco bis auf Locke und 
Leibniz sind tief davon durchdrungen; der ältere Pietismus 
kennt sie ebenso wie die sog. Aufklärung seit den Tagen des 


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1901. 


Christentum und Platonismus. 


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Christian Thomasius, und Männer wie Klop stock, Hamann und 
Herder sind ihre Verteidiger. Alle diese Denker, Dichter und 
Forscher bekennen sich nachdrücklich als Christen, ja als die 
wahren Christen, aber gleichzeitig sind ihnen Sokrates und Plato 
„Zeugen der Wahrheit" und ihre Lehren die Vorhalle des 
Christentums. 

Diese Thatsachen sind um so merkwürdiger, weil die Ver- 
treter der herrschenden kirchlichen Rechtgläubigkeit und insbe- 
sondere auch die Uni vcrsitäts Wissenschaft durch alle Jahrhunderte 
ganz andere Anschauungen mit Nachdruck verfochten haben. Die 
Kämpfe der Orthodoxie gegen die Platoniker dauern bis tief in 
das 18. und 19. Jahrhundert hinein fort, und überall werden die 
Verteidiger des Sokrates wegen angeblicher Schwärmerei und Frei- 
geisterei verketzert und verurteilt, gelegentlich auch geschädigt 
und verfolgt, so dass sie vielfach nur unter dem Schleier des 
Geheimnisses für ihre Sache einzutreten wagen x ). 

Merkwürdigerweise tritt fast überall, wo diese Platoniker im 
Stande waren, sich ohne Verhüllungen auszusprechen, die That- 
sache hervor, dass ihre letzten Gedanken nicht der Philosophie 
Platos, sondern der Religion Christi gelten. Und zwar war ihnen 
das Christentum, wie sie es verstanden, nicht eine Religion unter 
vielen, sondern die Religion, die nach ihrer Überzeugung den 
Menschen nicht ein System von Lehren (Dogmen), sondern das 
rechte Verhältnis zu Gott gebracht hatte. Aber dies Anerkenntnis 
hinderte sie nicht an dem Zugeständnis, dass diese Religion sich 
in der Geschichte der Menschheit vorbereitet und gleichsam 
Stufen der Entwicklung durchgemacht habe. Eine dieser Stufen 
erkannten sie in der Religion des Sokrates, und eine andere in 
der Verkündigung Johannes des Täufers: jener hatte die 
griechische Welt und dieser die israelitische an die Pforten des 
Allerheiligsten geführt. 

Für die Beurteilung der Frage, welche innere Berechtigung 
dieses platonische Christentum des Humanismus in der 
Entwicklung der Christenheit besitzt, ist cs wichtig, seiner Ge- 
schichte mit grösserer Aufmerksamkeit nachzugehen, als es bisher 

*) So noch im 18. Jahrhundert; vgl. Emil Brenn ing, Die Gestalt 
des Sokrates in der Litteratur des vorigen Jahrhunderts. Sonderabdruck 
aus der Festschrift der 45. Versammlung Deutscher Philologen und Schul- 
männer. Bremen 1900. 


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Keller, 


Heft 1 11 . 2. 


geschehen ist. Ist dieser sogenannte Platonismus etwa nur eine 
Erfindung der italienischen Renaissance, die in ihrer Schwärmerei 
für die Antike ihr Christentum, das seitens der gläubigen Gegner 
gern nur als angebliches bezeichnet ward, mit griechischer Philo- 
sophie verbrämte? 

Wir sehen von der Beantwortung der zahllosen Fragen, die 
sich hier aufdrängen, an dieser Stelle ab und beschränken uns 
darauf, die Geschichte der altchristlichen Zeiten unter dem 
obigen Gesichtspunkte einer kurzen Betrachtung zu unterwerfen. 
Wie haben sich die Christen der ersten Jahrhunderte zu Sokrates 
und Plato gestellt? 

Wenn man diese Stellungnahme näher ins Auge fasst — 
wir besitzen dafür in der neuesten Veröffentlichung Adolf Har- 
nacks *) über „Sokrates und die alte Kirche“ ein vorzügliches Hilfs- 
mittel — , so zeigt sich zunächst, dass Paulus über Sokrates und 
sein Religionssystem völlig schweigt, selbst die christliche Legende 
hat es nicht gewagt, dem Apostel ein Urteil über Sokrates in den 
Mund zu legen, obwohl sie ihn mit Seneca zusammenbringt. Es 
geht nicht an, dies als zufälligen Umstand zu betrachten, denn 
Paulus, der von griechischer Philosophie nicht unberührt war, 
hätte, wenn er in der Religion des Sokrates einen Anknüpfungs- 
punkt erkannte, denselben in seiner Missionsthätigkeit doch sicher- 
lich nicht ganz unbenutzt gelassen. 

Sollte die Wahrnehmung nicht tiefe Gründe haben, die wir 
in der späteren Geschichte des christlichen Humanismus bezüglich 
der Wertschätzung des Paulus machen? Ähnlich wie Paulus über 
Sokrates und Plato schweigt, so schweigen viele der nachmaligen 
Wortführer der platonischen Christen über Paulus; nicht als ob 
sie die Autorität des Apostels anzweifelten, aber höher als die 
Theologie des Paulus stand ihnen die Verkündigung Jesu, die sie 
— sie nannten sie die „Herrnworte“ — überall in erster Linie 
betonen. 

Es ist natürlich, dass überall, wo man „paulisch“ dachte und 
gesinnt war, das Schweigen des Apostels über Sokrates auch in 
späteren Zeiten nach wirkte. Aber sehr frühzeitig begegnen uns 
auch andere Auffassungen und zwar ist das Auftreten des Begriffs 

Adolf Harnack, Sokrates und die alte Kirche. Rede beim An- 
tritt des Rektorats, gehalten in der Aula der Königlichen Friedrich Wilhelms- 
Universität am 15. Oktober 1900. Berlin 1900. 


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1901. 


Christentum und Platonisnius. 


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des Logos in der christlichen Litteratur hier das Kennzeichen, 
dass sich im Platonismus und im Christentum Christi zwei wahl- 
verwandte Richtungen gefunden hatten. 

Die griechische Philosophie war von der Ideenlehre Platos 
aus zu dem Begriff einer Centralidee, nämlich des Logos, ge- 
langt, in der man die Welt des Denkens und des Handelns zu 
einer Einheit zusammenfasste, zugleich aber die Gottheit selbst 
als schaffende und wirkende Kraft erkannte.- Der Logos war es, 
der sich in den Seelen der Menschen wie in der Aussen weit 
durch seine Kraftwirkungen offenbarte. Es gab nun um die Zeit 
der Erscheinung Christi zahllose Personen, nicht bloss unter den 
Griechen, für welche der Begriff des Logos einen unveräusser- 
lichen Bestandteil der Weltanschauung bildete, und es war ein 
natürliches Bestreben dieser Kreise, soweit sie sich die Erschei- 
nung Christi und das Christentum verständlich zu machen suchten, 
diesen Besitzstand möglichst festzuhalten und ihn mit der neuen 
Lehre in Einklang zu setzen. So geschah schon in den Evangelien 
in dieser Richtung ein entscheidender Schritt: Johannes stellte den 
Satz auf: der Logos ist Jesus Christus, und wenn der Apostel 
auch vielleicht seinerseits daraus nicht alle Folgerungen zog, so 
war damit doch eine Richtung eingeschlagen, die von späteren 
christlichen Lehrern bis in alle Konsequenzen hinein verfolgt wurde. 
Jedenfalls blieb von da ab die Bezugnahme auf den griechischen 
Logosbegriff eine Eigenart, die sich bei den „platonischen Christen“ 
stark geltend machte und es hängt vielleicht damit zusammen, dass 
bei den Vertretern dieser Form des Christentums das Evangelium 
Johannes stets eine besondere Wertschätzung genossen hat. Viel- 
leicht ist es in dieser Beziehung auch nicht zufällig, dass gerade 
dieses Evangelium die Lehre Christi als eine der alttestamentlichen 
Religion nicht gleichwertige, sondern ihre übergeordnete Erschei- 
nung besonders deutlich hervortreten lässt. 

Man kann zweifeln, ob die Annäherung zwischen den So- 
kratikern und den Christen mehr durch den Begriff des Logos 
oder durch den ethischen Inhalt beider Religionssysteme befördert 
worden ist: jedenfalls ist sicher, dass auch in letzterer Beziehung 
eine Wahlverwandtschaft vorhanden war. Der Ernst und die 
Zartheit, die Würde und die Tiefe, welche die platonische Ethik 
auszeichnen, konnten den Anhängern Christi nicht entgehen, aber 
sie würden allein nicht ausgereicht haben , um ein besonderes 


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Keller, 


Heft 1 u. 2. 


Verhältnis der Verwandtschaft zu begründen; viel wichtiger waren 
andere Punkte. Ebenso wie Christus hatte Sokrates den Tod des 
Märtyrers für seine Überzeugung erlitten und nicht bloss durch 
seine Worte, sondern durch die That bewiesen, dass der Wert 
der Seele höher steht, als selbst das irdische Leben : denn sie, 
die reine Menschenseele, hat ein höheres Leben in sich, das durch 
keinen Tod und keine menschliche Gewalt vernichtet werden kann. 
Den unendlichen Wert der Persönlichkeit hatte Sokrates 
durch sein Sterben bestätigt und es klar bezeugt, dass es die 
Pflicht des Einzelnen ist, unbekümmert um Staat oder Tempel- 
hüter der freien persönlichen Überzeugung zu folgen und der 
Stimme, die im Herzen spricht, allein zu gehorchen. Für dieses 
höchste Gut, den Wert der Seele, muss jedes andere irdische 
Gut freiwillig geopfert werden. Leiden, Verfolgung, Tod sind 
an sich keine Übel: wer sie nie erfährt, kennt weder seine 
eigne Kraft noch seinen Wert und wer sie recht zu tragen 
weiss, dem werden sie zur höchsten Schule sittlicher Vervoll- 
kommnung. So wird das Leiden für den, der es im rechten Sinne 
zu tragen weiss, das sicherste Mittel zur Reinigung der Seele und 
zur Erlösung von Sünde und Schuld, den einzigen wahren Übeln, 
die es giebt. 

In der That, wer von den Christen, dem die Worte seines 
Meisters lebendig vor der Seele standen, hätte die innere Ver- 
wandtschaft beider Systeme verkennen können? Und wenn auch, 
abgesehen von dem Johannes-Evangelium, in der altchristlichen 
Litteratur des ersten Meuschenalters, so weit sie uns erhalten ist, 
die Verwandtschaft nicht hervortritt, so lässt sich doch vom 
zweiten Jahrhundert ab eine sehr starke geistige Strömung wahr- 
nchmen, welche klar und offen die Anschauung vertritt, dass die 
religiöse Weltanschauung des Sokrates und der Platoniker als 
eine Vorhalle des Christentums zu betrachten ist; sie gehört 
nicht, wie das Heidentum, zum Reiche des Irrtums, sondern sie 
ist eine Entwicklungsstufe im Reiche der Wahrheit, wenn sie 
auch noch nicht die ganze Wahrheit enthält und ist. 

So gewann für diese platonischen Christen Sokrates etwa 
die Stellung, in der sich Jesus zu Johannes dem Täufer gewusst 
hatte. Denn Jesus hat nicht nur die Verkündigung des Täufers 
aufgenommen, sondern ausdrücklich gesagt, dass seine Sache von 
Johannes begonnen worden sei; indem Jesus sich von letzterem 


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Christentum und Platonismus. 


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taufen liess, bekannte er sich als seinen Nachfolger, der das Werk 
weiter führte, das jener angefangen hatte. In diesem Sinne war 
für die platonischen Christen Sokrates ein anderer Johannes, und 
diejenigen, welche auf dem Standpunkte der griechischen Philo- 
sophie beharrten, mussten ihnen, den Jüngern Christi, als eine 
Art von Johannes- Jüngern erscheinen, die zwar die Vorhalle des 
wahren Evangeliums betreten hatten, aber bis in das Innere des 
Tempels nicht eingedrungen waren. 

Wir lernen die Auffassungen, wie sie sich unter den plato- 
nischen Christen in dieser Richtung entwickelten, ganz vortreff- 
lich aus einer Schrift kennen, welche Justin der Märtyrer um 
das Jahr 150 veröffentlicht hat: es ist die Verteidigungsschrift 
für das Christentum, die Justin damals an die Kaiser Autoninus 
Pius und Marc Aurel, sowie an den Senat und das ganze römische 
Volk richtete. Man darf annehmen, dass Justin in dieser Schrift 
als Dolmetscher weitverbreiteter Überzeugungen auftrat, denn er 
konnte sich nicht der Gefahr aussetzen, von seinen Mitchristen 
als Vertreter einer Sondermeinung . blossgestellt und um seinen 
Credit gebracht zu werden. Justin macht — wir folgen hier dem 
Auszuge, wie ihn Harnack a. a. O. S. 9 giebt — die Lehre des 
Sokrates nicht nur zum Ausgangspunkte, sondern verwertet die- 
selbe als ein Hauptmittel seiner Beweisführung und scheut sich 
nicht, sich als Christ den Verehreren des Sokrates beizuzählen, 
deren Zahl, wie er wohl wusste, damals im römischen Reiche 
gross war. 

Wir Christen alle, meint er, erleiden heute das, was Sokrates 
erlitten hat, weil wir wie er denken und handeln; wir werden mit 
ihm getötet, aber wir sind mit ihm unverwundbar. „Als Sokrates 
die Menschen von den Dämonen ’abzuwenden versuchte, da haben 
es diese dahingebracht, dass er als ein Gottesleugner und Frevler 
sterben musste; denn sie Hessen die Behauptung verbreiten, er 
führe neue Gottheiten ein. Dasselbe thun sie heute uns gegen- 
über: denn nicht nur bei den Griechen hat der Logos die falsche 
Religion durch Sokrates widerlegt, sondern auch bei den Barbaren 
ist dies geschehen. Dort aber ist er persönlich erschienen 
und hat als Jesus Christus die Dämonen überwunden/ 4 
Und an einer anderen Stelle sagt er: „Alle, die mit dem Logos 
gelebt haben, die waren Christen, wenn sie auch als Gottesleugner 
galten, wie unter den Griechen Sokrates/ 4 Und ferner: „Unter 


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Keller, 


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allen Philosophen ist Sokrates der beste gewesen; denn er hat 
Homer und die Götter der Dichter verschmäht, dagegen die Men- 
schen angewiesen, den unbekannten Gott mittelst des Logos zu 
suchen und zu erkennen; er selbst hat Christus zum Teil erkannt; 
denn Christus ist die persönliche Erscheinung des Logos, der 
jedem Menschen inne wohnt.“ 

In diesen Ausführungen ist ebensowohl die behauptete That- 
sache wie ihre Begründung merkwürdig: Sokrates und Christus 
sind nicht zu trennen, denn derselbe Logos hat in den Herzen 
beider gewaltet. Aber — und das betont Justin nicht minder 
scharf — Sokrates war ein Werkzeug des Logos, in Christus da- 
gegen ist dieser selbst in der Welt erschienen. 

Und die gleiche Anschauung wie Justin vertreten Tatian, 
der zwar die ganze griechische Philosophie in schwarzen Farben 
schildert, aber Sokrates ausnimmt, ferner Athenagoras, der 
Philosoph Apollonius, der vor seiner Verurteilung und seinem 
Märtyrertod die römischen Senatoren an die berühmte Stelle bei 
Plato erinnert, wo dieser von dem wahrhaft Gerechten weissagt, er 
werde gegeisselt, gefoltert, geblendet und zuletzt gepfählt werden. 
Nur einer der alten griechischen sogenannten Apologeten ist gegen 
Sokrates, Theophilus von Alexandrien; „es ist gewiss nicht zu- 
fällig“, sagt Harnack, „dass dieser eine zugleich ein Bischof ge- 
wesen ist“. 

Noch merkwürdiger ist es eigentlich, dass auch viele der 
heidnischen Gegner der ältesten Christen zwischen Letzteren und 
Sokrates wichtige Übereinstimmungen fanden. 

Die Hochachtung der sog. Apologeten setzt sich bei den 
christlichen Gelehrten, die ihren geistigen Mittelpunkt in Alexan- 
dria besassen, fort: Clemens Alexaudrinus, Origenes und ihre 
Schüler haben mit der aufrichtigsten Verehrung über Sokrates 
gesprochen und geschrieben: Sokrates war auch ihnen ein Zeuge 
der Wahrheit und die sokratisch-platonische Weltanschauung eine 
Vorhalle des Christentums, ganz im Gegensatz zu der in anderen 
Kreisen der Christen vorgetragenen Überzeugung, dass alle Er- 
kenntnisse der vorchristlichen Zeiten lediglich Irrtümer und alle 
Frömmigkeit der Heiden im Grunde doch nur Gottlosigkeit ge- 
wesen sind. 

Hand in Hand mit dieser Verehrung geht bei den plato- 
nischen Christen eine Auffassung des Bösen und der Sünde, die 


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Christentum und Platonismus. 


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von den durch Paulus vertretenen bezüglichen Anschauungen er- 
heblich abweicht. 

Die oben erwähnten Anschauungen des Origcnes gingen 
später auf seine Schüler über, und man darf annehmen, dass letz- 
tere sie wiederum ihren Schülern vermittelt haben. „Aus dem 
ganzen Gebiet des Griechentums", sagt Harnack, „ist mir aus der 
Zeit vor Konstantin neben Theophilus von Antiochien .... nur 
noch ein Christ bekannt, der sich abschätzig über Sokrates ge- 
äussert hat. Dieser Eine ... ist aber nur der Sprache nach ein 
Grieche; in Wahrheit ist er ein jüdisch-syrischer Christ. Der 
griechische Geist Hess sich seinen Sokrates nicht rauben, auch 
dann nicht, als er sich dem Evangelium unterworfen hatte." 

Die durch Konstantin begründete Weltkirche und ihre an- 
erkannten Vertreter suchten eine von dieser altchristlichen Auf- 
fassung gänzlich abweichende Meinung zu begründen. Nach ihnen 
hat Sokrates die Wahrheit nicht besessen, sondern nur gesucht; 
er ward von einem bösen Dämon geleitet und irregeführt; selbst 
wenn er je einen Schein der Wahrheit besass, so hat er ihn doch 
in der Stunde des Todes wieder eingebüsst, denn er Hess sich 
bereit finden, den Göttern zu opfern. Nicht der Kirche, wohl 
aber den christlichen Häretikern hat er Unterlagen für 
ihre falschen Meinungen geliefert. Er wirkt also auch noch 
heute als ein Verführer und als Zerstörer des wahren Glaubens. 

Der lil. Augustinus ist es gewesen, der dieser kirchlichen 
Auffassung diejenige Form gegeben hat, in welcher sie zu einem 
festen und dauernden Bestandteil der Glaubensanschauungen aller 
bestehenden Kirchen geworden ist. In dem Umfang, als die 
römische Weltkirche zur Herrschaft über die Geister gelangte, 
traten die Überzeugungen der altchristlichcn Zeiten zurück. Wo 
wir aber in späteren Jahrhunderten in der christlichen Welt der 
geschilderten Hochschätzung des Sokrates und Plato begegnen, da 
sind es sicherlich nicht die zufälligen Liebhabereien weltabgc- 
wandter Theoretiker, die darin zum Ausdruck kommen, sondern 
die Erneuerung einer uralten Überzeugung, die sich in schweren 
Kämpfen ihr gutes Recht auf dem Boden der Christenheit er- 
stritten hat 1 ). ' 

*) Einige Ergänzungen zu den Ausführungen dieses Aufsatzes finden 
unsere Leser in den „Nachrichten und Bemerkungen“ dieses Heftes. 


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Die Freiheit des Menschen. 

Von 

Prof. Dr. Paul Hohlfeld in Dresden. 


„Ist der Mensch frei?“ So lautet eine uralte und doch im- 
mer neue Frage, eine Frage von entscheidender Wichtigkeit, nicht 
eine Frage der nuissigen Neugier, auch nicht bloss eine Frage 
der Schule, au welcher die Gelehrten ihren Witz üben und zeigen 
können, sondern eine Frage des Lebens und der Lebenskunst, des 
Rechtes, der Sittlichkeit (des Gewissens) und der Religion. 

Sprachlich betrachtet, ist es eine sogenannte Bestätigungs-, 
Satz- oder Entscheidungsfrage im Gegensätze zu einer Vordeut- 
lichungs-, Wort- oder Ergänzungsfrage, welche mit einem fragenden 
Fiirworte beginnt und nach einem beliebigen einzelnen Satzgliede 
fragt, z. B. „was ist der Mensch? woraus besteht er? wie ist er 
entstanden?“ Bei der Entscheidungsfrage ist der Gegenstand der 
Frage oder der sogenannte Fragepunkt das Satzband oder die 
Kopula, d. h. das wechselseitige Verhältnis von Hinterglied (Prä- 
dikat) und Vorderglied (Subjekt). 

Die Antwort kann einfach lauten: „Ja, der Mensch ist frei“, 
oder: „Nein, er ist nicht frei“. Die Verneinung gehört hier zur 
Kopula „ist“, nicht etwa zum Prädikate „frei“. 

Mit „Ja“ oder „Nein“ ist jedoch die Reihe der Möglichkeiten 
bei der Antwort noch nicht erschöpft. Es ist noch ein Drittes, 
ein Mittleres möglich: „Je nachdem man es nimmt; in gewisser 
Hinsicht ja, in anderer Hinsicht nein; unter Umständen, unter be- 
stimmten Bedingungen ja, unter Umständen, unter anderen Bedin- 
gungen nein.“ 

Fassen wir, ehe wir uns entscheiden, den Behauptungssatz: 
„der Mensch ist frei“, dessen Giltigkeit oder Wahrheit wir zur 
Zeit noch völlig dahingestellt sein lassen, nach seinen einzelnen 
Bestandteilen und im ganzen scharf ins Auge. 

Beginnen wir mit dem Subjekte: „der Mensch“. Zunächst 
bleibt unbestimmt, ob die ganze Gattung, genauer: die ganze Art, 
das Menschengeschlecht, die Menschheit, gemeint sei, oder der 
einzelne Mensch. Auf keinen Fall aber ist an das Einzelwesen 
oder Individuum als solches zu denken, d. h. nach seiner einmaligen 
und einzigen Ureigentümlichkeit (Individualität). Vielmehr haben 
wir den Einzelmenschen überhaupt oder im allgemeinen zu ver- 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


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stehen. Doch selbst das lässt wieder verschiedene Deutungen zu: 
der Mensch nach seiner äusseren Erscheinung, als Gegenstand der 
äusseren und der inneren sinnlichen Erfahrung, der Mensch als 
Phänomenon nach Kant, oder der Mensch nach seiner ewigen Be- 
stimmung, als Gegenstand des unmittelbaren nichtsinnlichen Selbst- 
inneseins und der sittlichen Forderung, der Mensch als Noumenon 
nach Kant Im ersten Falle ist das Subjekt des Satzes ein Er- 
fahrungsbegriff, im zweiten ein Urbegriff (eine Idee) 1 ). 

Dem Erfahrungsbegriffe liegt die sinnliche Erfahrung zu 
Grunde: sinnliche Wahrnehmung, welche sich von selbst darbietet, 
und Beobachtung, die wir absichtlich und planmässig anstellen. 
Handelt es sich um Erfahrungserkenntnis des Menschen, so ist 
ein jeder zuerst auf Wahrnehmung und Beobachtung von sich 
selbst angewiesen. Die Kenntnis des eigenen Geistes ist die ein- 
zige unmittelbare und unmittelbar gewisse Erkenntnis, die wir 
Menschen besitzen. Aber die Selbstwahrnehmung und Selbstbe- 
obachtung kann und soll durch Wahrnehmung und Beobachtung 
anderer Menschen ergänzt und, soweit Gemeinsames in Betracht 
kommt, bestätigt werden. Die Beobachtung anderer hat zwar den 
Nachteil, mehrfach vermittelt zu sein, durch die sinnliche Wahr- 
nehmung der Worte und Gebärden, Handlungen und Werke der 
anderen und die darauf gebauten Schlüsse, und zum Teil absicht- 
licher Täuschung von seiten der Beobachteten zu unterliegen, dafür 
aber den Vorteil ungleich grösserer Mannigfaltigkeit und die höhere 
Wahrscheinlichkeit von Eigendünkel und Selbstvorliebe nicht be- 
fangener Auffassung. 

Die Erfahrung giebt unmittelbar nur einzelne Wahrnehmun- 
gen, Erscheinungen, Bilder. Aus diesen muss der Erfahrungsbe- 
griff durch den denkenden Geist erst abgeleitet werden. Dies 
geschieht durch Erfassung des Gemeinsamen und Weglassung des 
einzelnen und des Besonderen. Hierbei werden mehr oder minder 
klare Ahnungen nichtsinnlicher, alle Erfahrung überschreitender, 
allgemeiner Begriffe, wie Ding, Wesen, Wesenheit, Form, bereits 
vorausgesetzt. Bei der widersprechenden Mannigfaltigkeit des ein- 
zelnen ist es durchaus nicht leicht, festzustellen, was in den Er- 
fahrungsbegriff aufgenommen werden soll, was nicht. Vom Er- 
fahrungsbegriffe des Menschen müssen z. B. die Unterschiede des 
Geschlechtes, des Charakters, des Temperamentes, der Anlage, der 
Bildung, des Berufstandes, der Religion bez. Konfession, des Volks- 
tums, des Wohnortes und des Besitztumes ausgeschlossen bleiben. 
Der wissenschaftlich genügende Erfahrungsbegriff soll nur das von 
allem Untergeordneten oder das mit Notwendigkeit geltende Allge- 
meine, dieses aber vollständig enthalten. 

Die Feststellung des Urbegriff es des Menschen unterliegt 
gleichfalls eigenartigen Schwierigkeiten. Dass wir uns bei dem 

*) Krause, Abriss des Systemes der Logik 1828, S. 53 f., S. 93— 100. 

Monatshefte der Coinenius-Gesellschaft. 1901. o 


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Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


blossen Erfahrungsbegriffe des Menschen nicht beruhigen können, 
sondern mehr oder minder klar die Ahnung, wie der Mensch sein 
solle, allezeit in uns tragen, beweist die Thatsache, dass wir über 
die leibliche, geistige und vereinte Beschaffenheit der einzelnen 
Menschen und ganzer Menschengesellschaften unwillkürlich fort- 
während anerkennende, verwerfende und gemischte Werturteile 
fällen. Woher das komme, ist der Gegenstand einer eigenen tiefe- 
ren Untersuchung. Oft sagt man, die Urbegriffe oder Ideen seien 
uns angeboren. Damit will man ganz richtig andeuten, sie könnten 
nicht aus der sinnlichen Erfahrung stammen, hat aber noch nicht 
erklärt, warum eine klare Erkenntnis der angeblich angeborenen 
Urbegriffe bei dem kleinen Kinde zweifellos fehlt. 

Ausgeschlossen bleiben aus dem Urbegriffe des Menschen 
muss selbstverständlich alles Mangelhafte, Krankhafte, Verkrüp- 
pelte, Unvollkommene, Gemeine, Niedrige, Tierische (Bestialische 
im Gegensatz zu dem bis zu einer gewissen Grenze berechtigten 
Animalischen oder Tierlichen), Hässliche, Schlechte und Böse, 
was wir bei einzelnen Menschen wirklich wahrnehmen oder auch 
nur denken und vorstellen können. 

Fernbleiben muss aber auch dem Urbegriffe des Menschen 
alles eigenwesentliche Gute, Gesunde, Vollkommene, Schöne, Hohe, 
Erhabene, was nicht rein- und allgemein- menschlich ist, sondern 
nur einzelnen Menschen, einem der beiden Geschlechter, bestimm- 
ten Charakteren u. s. w. zukommt. Der Urbegriff verhält sich 
zu der Fülle des einzelnen Urbildlichen und bestimmter Urbilder 
(Ideale) ähnlich wie der Erfahrungsbegriff zu dem Reichtume der 
widersprechenden Einzelerscheinungen und mannigfachen Erfah- 
rungsbilder. 

Hinsichtlich des Urbegriffes des Menschen müssen wir uns 
noch mehr als beim Erfahrungsbegriffe an das eigene Ich halten, 
so unvollkommen es in mancher Hinsicht auch sein mag. Denn 
nur das eigne nichtsinnliche, ewige, transscendentale Ich ist uns 
unmittelbar zugänglich. Ausserdem finden wir bei uns gute und 
edle Absichten, Neigungen und Regungen, welche infolge äusserer 
hindernder Umstände gar nicht oder nur teilweise verwirklicht 
werden. Dagegen nehmen wir von Fern erstehenden nur ihre wirk- 
lichen Thaten und Leistungen wahr. Näherstehende können uns 
im Vertrauen von dem Guten, welches sie Vorhaben, aber viel- 
leicht gar nicht oder nur unvollkommen ansführen, vorläufig Mit- 
teilung machen. 

So wertvoll und nützlich es ist, sich einerseits um den Er- 
fahrungsbegriff, andrerseits um den Urbegriff des Menschen zu 
bemühen, so kann das doch nicht genügen : wir würden sonst bei 
einer unvermittelten Zweiheit, einem unbefriedigenden Dualismus 
stehen bleiben. Die Wissenschaft und die Rücksicht auf das 
Leben fordern in gleich dringlicher Weise, das Gegenheitliche zu 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


19 


vereinen, und so den Musterbegriff des Menschen zu bilden. Dieser 
zeigt nicht nur, wie der Erfahrungsbegriff nach dem Urbegriffe 
höher gestaltet, sondern auch, wie dieser auf jenen angewandt 
werden kann und soll. 

Auch bei dem Musterbegriffe sehen wir, unserem auf die 
Erkenntnis des Allgemeinen gerichteten Vorhaben entsprechend, 
von dem inneren Gliedbau einzelner, untergeordneter Musterbegriffe, 
z. B. des Mannes und des Weibes, der verschiedenen Berufstände, 
ausdrücklich ab. 

Der Erfahrungsbegriff des Menschen gehört in die Erfah- 
rungswissenschaft, die empirische Anthropologie und Psychologie, 
sein Urbegriff in die reine Vernunftwissenschaft oder Philosophie, 
die philosophische Anthropologie, Psychologie und Sittenlehre 
(Moral oder Ethik), sein Musterbegriff in die Verein Wissenschaft: 
die auf die Erfahrung angewandte Philosophie und die philosophisch 
durchdrungene Erfahrungswissenschaft. Ein Teil der ersteren ist 
die angewandte Sittenlehre. 

Das Subjekt des Satzes: „Der Mensch ist frei", scheint ein- 
fach zu sein, und doch zeigt sich bei genauerer Betrachtung in 
dieser Einfachheit eine Dreiheit der Seinart oder Modalität und 
dem entsprechend die Notwendigkeit, zur hinreichenden Durch- 
bestimmung des Vordergliedes aus allen drei Erkenntnisquelleu 
zu schöpfen, aus der Erfahrung, der reinen Vernunft und deren 
Verbindung. 

Wir kommen nun zur vorläufigen Erörterung des Prädikates 
„frei". Unter „Freiheit" ist hier ausschliesslich die „innere" Frei- 
heit zu verstehen, nicht die äussere, welche bei Voraussetzung der 
inneren und des Mangels äusserer Hindernisse keine begriffliche 
Schwierigkeit darbietet Manche denken sich unter (innerer) Frei- 
heit Grundlosigkeit, unbedingte Selbständigkeit, andere wenigstens 
Gesetzlosigkeit, gesetz- und regellose, rein zufällige Willkür. Es 
fragt sich, ob dergleichen denkbar und möglich sei. Sollte aber 
Willkür in dem angegebenen Sinne möglich und wirklich sein, so 
scheint sie nicht ein Gut zu sein, sondern ein Übel, kein Vorzug, 
sondern ein Fehler, kein Ruhm, sondern eine Schande, nicht etwas, 
was wir eifrig erstreben, sondern vorsorglich fliehen müssten. 

Zum Teil gilt Freiheit als etwas Reinformales. Es wieder- 
holt sich hier die Frage nach der Denkbarkeit und Möglichkeit. 
Vielleicht hätten wir zu der formalen Freiheit den zugehörigen 
* oder zugeordneten gehaltigen Begriff aufzusuchen. Oft wird Frei- 
heit als ein Vermögen bezeichnet. Dann scheint sie als blosse 
Möglichkeit, nicht als Wirklichkeit und Thatsache gedacht zu sein. 

Wenden wir uns jetzt zur Kopula des Satzes: „Der Mensch 
ist frei", zu „ist". Dieses Wörtchen lässt sich der Seinart oder 
Modalität nach verschieden auffassen: zeitlich, ewig (im philoso- 
phischen Sinne = nichtzeitlieh, genauer: nebenzeitlich) und zeitewig 

2 * 


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Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


(ewigzeitlich und zeitliehewig). Die ewigzeitliche Seinart der Ko- 
pula wird ausgesprochen durch die Wendung: „Der Mensch soll 
frei sein.“ Es könnten aber auch diese drei bez. vier verschie- 
denen Auffassungen nebeneinander und zusammen gelten. Dann 
hätten wir einen Satz, welcher der Kopula nach zusammengesetzt 
oder gegliedert wäre. Die Sprachlehre achtet wohl auf die Zu- 
sammensetzung oder Mehrgliederigkeit des Subjektes, des Prädi- 
kates oder beider, übersieht aber den Fall, dass auch die Kopula 
gegliedert sein kann. 

Die Dreideutigkeit der Kopula — wenn wir die Zeitewigkeit 
als einfach rechnen — scheint der Dreideutigkeit des Subjektes 
als Erfahrungs-, Ur- und Musterbegriff zu entsprechen. 

In den beiden letzten Fällen scheint das Prädikat „frei“ in 
dem Subjekte bereits mit Notwendigkeit enthalten zu sein, im 
ersteren Falle dagegen nicht oder nur teilweise. Hiernach wäre zu 
entscheiden, ob „der Mensch ist frei“ ein analytisches (bloss erläu- 
terndes) oder ein synthetisches (erweiterndes) Urteil nach Kants 
Sprachgebrauch sei. 

Schliesslich müssen wir uns noch überlegen, ob sich das 
Prädikat „frei“ auf die ganze Wesenheit des Subjektes beziehe, 
bez. ob unser Urteil ein sogenanntes kategorisches sei, oder nur 
auf einzelne Wesenheiten (z. B. den Willen, die Phantasie oder 
beide) oder auch auf einen Wesenteil des Subjektes (den Geist). 

Beginnen wir nun die Untersuchung des Begriffes: „Freiheit“. 
Bei „Freiheit“ denkt wohl jeder an „Selbständigkeit“. Selbständig- 
keit ist einer der obersten Begriffe. Sie findet sich neben der 
Ganzheit unmittelbar an der Einheit der Wesenheit, die Einheit 
aber an der Wesenheit, die Wesenheit an dem Wesen (der Sub- 
stanz) selbst. 

Weil die Selbständigkeit in dem Gliedbau der Wesenheit (der 
echten Kategorien tafel) so hoch steht, ist eine eigentliche Begriffs- 
bestimmung (Definition) derselben nicht möglich. „Unabhängigkeit“ 
und „Unbedingtheit“ sind scheinbar verneinige, aber in Wahrheit 
vernein verneinige und eben damit mittelbar bejahige Bezeichnungen 
für Selbständigkeit. Abhängigkeit ist untergeordnete Selbständig- 
keit, Bedingtheit eine Art teilweiser (teilheitlicher) Abhängigkeit. 

Freiheit ist die Selbständigkeit eines Wesens auf 
dem Gebiete der Ursächlichkeit 1 ). Ursächlichkeit ist das 
Verhältnis von Ursache und Wirkung. Ursache aber ist eine 
Art des Grundes. Wir haben also scliliesslich zu erklären, was 
„Grund“ 2 ) ist. 

‘) Krause, Sittenlehre, 2. Aufl. 1888, S. 690 f.; Religionsphiloso- 
phie 552; Julius Müller, Die christliche Lehre von der Sünde. 3. Ausg. 
2. Bd., 1849, S. 3. 

■) Krause, System, 1. Teil 1869, S. 144 — lö2, 255 — 264; 2. Teil 
1889, S. 92. 


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1901. 


Dir Freiheit des Menschen. 


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Bei jedem Endlichen fragen wir unwillkürlich nach seinem 
Grmnde. Das Endliche wird als die Folge des Grundes angesehen. 
Die Begriffe: Grund und Folge s\nd wechselbezügliche (korrela- 
tive) Begriffe. Kein Grund ohne Folge, keine Folge ohne Grund. 
Der Grund ist das Höhere, das Übergeordnete, das Selbständige, 
das Umfassende, das Ganze. Die Folge dagegen ist das Niedere, 
das Untergeordnete, das Abhängige, das minder Umfassende und 
das Umfasste, das Teilwesentliche (sei es Teilwesenheit oder Teil). 

Sollte sich das, was wir als Grund eines in der Erfahrung 
gegebenen Endlichen ansehen, selbst wieder als endlich zeigen, so 
fragen wir weiter nach dem Grunde des Grundes u. s. w. und 
erhalten auf diese Weise eine ganze Reihe zusammenhängender 
Folgen und Gründe. Der vielgebrauchte Ausdruck „Kette“ statt 
„Reihe“ ist weniger passend, da die einzelnen Glieder einer Kette 
einander nur nebengeordnet und gleichstufig sind. Besser denken 
wir uns eine Vielheit von Kugeln mit gemeinschaftlichem Mittel- 
punkte, von welchen die kleinste in der Mitte von einer grösseren, 
diese wieder von einer noch grösseren u. s. w. umschlossen wird. 

Von vornherein sind wir überzeugt, dass die Reihe von 
Folgen und Gründen nach oben hin nicht endlos sein könne, dass 
wir vielmehr beim Aufsteigen auf einen höchsten und letzten Grund 
treffen müssen. Dieser letzte Grund kann nicht endlich sein, weil 
er dann selbst einen Grund haben müsste, mithin, gegen die Vor- 
aussetzung, gar nicht der letzte Grund wäre; er muss unendlich 
sein, das eine Ganze, von welchem alles andere nur Teil oder 
Teilwesenheit ist. Er darf ebensowenig von einem anderen ab- 
hängen, sondern muss unbedingt und selbständig sein. Dieses eine 
Unendliche und Unbedingte, Ganze und Selbständige heisst in der 
Sprache der Religion „Gott“, bei Spinoza „die unendliche Substanz“, 
in Krauses Wissenschaftsprache „Wesen“ (ohne Artikel). 

Der Gedanke des einen, unbedingten und unendlichen Wesens, 
welches zugleich das Grundwesen oder Realprinzip alles Endlichen 
ist, leuchtet dem denkenden und erkennenden Geiste mit eigenem 
Lichte ein. Dieser Gedanke kann durch einen andern niederen, 
minder gehaltvollen Gedanken weder bewiesen, noch widerlegt 
werden. Er wird unmittelbar durch seinen Gehalt oder Gegen- 
stand begründet und als berechtigt nachgewiesen: dies ist der 
Kern des sogenannten ontologischen Beweises für das Dasein 
Gottes. Die Ahnung des Grundwesens zeigt sich nun auch als 
der Grund, dass wir bei jedem Endlichen nach dem Grunde fragen. 

Von dem Grunde überhaupt oder dem bloss befassenden 
Grunde unterscheidet man noch den bestimmenden Grund *). 
Diesem entspricht die bestimmte Folge. Nicht alle Folgen dürfen 
„bestimmt“ genannt werden, gerade die obersten, höchsten Folgen 
nicht. So ist die Wesenheit nicht eine „bestimmte“ Folge des 

9 Krause, System, 1. Teil S. 334 f. 


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Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


Wesens, die Wesenheiteinheit nicht eine „bestimmte“ Folge der 
Wesenheit. Ebensowenig darf umgekehrt das Wesen der „bestim- 
mende“ Grund der Wesenheit* die Wesenheit der „bestimmende“ 
Grund der Wesenheiteinheit genannt werden. Das Bestimmte ist 
nur am Endlichen, nicht am Unendlichen, z. B. der unendliche 
llaum ist kein bestimmter Raum. Das Endliche kann in jeder 
Hinsicht, durchgängig oder allseitig bestimmt (= individuell) sein. 
Aber das Endliche braucht nicht allseitig bestimmt zu sein: es 
kann in einer oder in mehreren Hinsichten noch bestimmbar, 
noch nicht bestimmt oder unbestimmt sein. Als Beispiel diene 
ein Gemälde, an welchem der Künstler noch arbeitet, oder die 
Verfassung eines Staates, über welche in der zuständigen Ver- 
sammlung noch beraten wird. 

Alles, was und soweit es bestimmt ist, hat nicht bloss über- 
haupt einen Grund, sondern auch einen bestimmenden Grund, 
d. h. einen Grund, dass es nicht nur im allgemeinen ist, sondern 
dass es gerade so ist, wie es ist, einen Grund seiner Eigen Wesen- 
heit = seiner Bestimmtheit. Sofern aber etwas überhaupt nicht 
oder im einzelnen Falle noch nicht bestimmt ist, bedarf es auch 
nicht eines bestimmenden Grundes. 

So selbstverständlich das scheint, ist es immer noch Gegen- 
stand eines erbitterten Streites. Es stehen sich nämlich hier die 
einander widersprechenden Grundanschauungen des Determinismus 
und des Indeterminismus (früher: Indifferentismus) gegenüber. Im 
Deutschen könnte man dafür: Bestimmtheitlehre und Unbestimmt- 
heitlehre sagen, denn determinieren (lateinisch determinare, von 
terminus Grenze, Ende) — bestimmen. Der Sinn jener Ausdrücke 
ist leider selber nicht hinreichend bestimmt, sondern mehrdeutig 
und schwankend. Redet man doch sogar von verschiedenen Arten 
des Determinismus, einem strengeren und einem minder strengen, 
einem gröberen und einem feineren, einem rationalistischen, materia- 
listischen und metaphysischen. 

Verstehen wir unter Determinismus die Grundanschauung, 
alles Bestimmte müsse seinen bestimmenden Grund haben, so ist 
er zweifellos im Rechte und ganz unwiderlegbar. Soll jedoch 
Determinismus die Ansicht sein, dass in jedem Augenblicke alles 
einzelne bereits durchgängig bestimmt sei, ja von vorn herein, 
vor aller Zeit unabänderlich vorausbestimmt gewesen sei, so ist er 
wissenschaftlich unbefugt, unerweisbar, aber widerlegbar. Übrigens 
wäre dann Prädeterminismus *) (Vor bestimmtheitlehre) der ganz 
entsprechende Name. 

Eine Unterart des Prädeterminismus ist der Fatalismus, der 

*) Herzog, Realencyklopädie für prot. Theologie u. Kirche, 3. Bd. 
1855, S. 331 ff., Artikel: Determinismus von Lange; Krug, Allgemeines 
Handwörterbuch der philosophischen Wissenschaften, 1. Bd. 1827, S. 500 f., 
Artikel : Determinismus. 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


23 


Schicksalsglaube, die Lehre von einem alles einzelne umfassenden, 
unabänderlichen, blinden und erbarmungslosen Schicksale. Eine 
andere Unterart ist die Prädestinations- (Vorherbestimmungs-) 
Lehre, welche alles, einschliesslich der ewigen Seligkeit und der 
ewigen Verdammnis des einzelnen Menschengeistes vor aller Zeit 
(oder gar: vor aller Ewigkeit) infolge unbedingter, von der Be- 
schaffenheit und dem Thun der endlichen Wesen ganz unabhängiger 
Ratschlüsse Gottes vorausbestiramt sein lässt. Diese Ansicht 
schliesst nicht nur die Freiheit des Menschen, sondern auch die 
Freiheit Gottes aus: Gott hat sich ein für allemal gebunden. 
Er wird — der Fromme hält es für frevelhaft, so etwas auszu- 
sprechen, ja auch nur zu denken! — als der Sklave der einmal 
gefassten Beschlüsse gedacht. 

Im Gegenteil erscheint der Indeterminismus als befugt, so- 
fern er nur behauptet, dass einerseits vieles sei und gedacht 
werden müsse, worauf der Ausdruck „bestimmt" gar nicht passe, 
ebensowenig aber auch das verneinige Gegenteil „unbestimmt“, 
z. B. Gott, das Unendliche, das Allgemeine, andrerseits in jedem 
Augenblicke gar vieles noch nicht bestimmt, also noch in ver- 
schiedener Weise bestimmbar sei. Allein er erscheint als un- 
befugt, wenn er zu der Behauptung fortschreitet, nichts überhaupt 
sei bestimmt, alles sei unbestimmt, in jedem Augenblicke könne 
alles beliebig, willkürlich, so oder auch anders, entgegengesetzt, 
bestimmt werden. Diese Grundanschauung wird sowohl auf Gott, 
als auf den Menschengeist bezogen. Gott thut und schafft nach 
dieser Ansicht, was er will, und er will, was er will, nur weil er 
es will. Auf den grundlosen Willen Gottes muss alles zurück- 
geführt werden. Gott hätte auch ein anderes Sittengesetz geben 
können, ja er kann es noch. Möglicherweise hat er auf ver- 
schiedenen Himmelskörpern mit vernünftigen Bewohnern ganz 
entgegengesetzte Sittlichkeiten geboten. Gott kann, wenn er will, 
auch das thun, was wir böse nennen. Aber freilich, sobald es 
Gott will, ist es nicht mehr böse, sondern gut Denn das Gute 
ist nur darum gut, weil es Gott will; aber Gott will es nicht, 
weil es gut ist. Das Verdienstliche an der menschlichen Sittlich- 
keit besteht lediglich in dem unbedingten , blinden Gehorsam 
gegen den ausdrücklich erklärten (positiven) Willen Gottes. Die 
Wahrheit der Logik und Mathematik hängt nur von Gottes Be- 
lieben ab: sobald er will, gelten sie nicht mehr. 

Gesetz und Gesetzmässigkeit, Ordnung, Zusammenhang, Ent- 
wickelung kann es dann im Grunde gar nicht geben. Der Begriff 
der Notwendigkeit hört auf, um der uneingeschränkten Möglich- 
keit und der unbedingten Zufälligkeit Platz zu machen. Den 
Gedanken der Ewigkeit, der Un Veränderlichkeit müssen wir auf- 
geben: alles ist zeitlich. Das Streben nach Wissenschaft, das 
Bemühen, einen einzelnen Satz zu begründen oder zu beweisen, 
ihn in seiner Notwendigkeit und im Zusammenhänge mit höheren 


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Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


Wahrheiten einzusehen, ist dann offenbar thöricht und sinnlos und 
hat künftig zu unterbleiben. 

Machen wir die Anwendung des Indeterminismus im krasse- 
sten Sinne auf den Menschen. Der Geist des Menschen ist 
nach dieser Meinung allaugenblickiich ohne alle Bestimmtheit, 
ganz im Unbestimmten, ohne Anlage, ohne Charakter, ohne Grund- 
sätze, ohne Übung, ohne Fertigkeit, ohne Gewohnheit, ohne Vor- 
eingenommenheit, ohne Vorurteile, ohne Neigung oder Abneigung, 
ohne Zusammenhang mit der Vergangenheit, ohne Rücksicht auf 
die Zukunft, ohne Ziel, ohne Zweck, ohne Absicht, ohne Plan, 
ohne Hoffnung, ohne Furcht. Der Mensch steht nicht bloss wie 
Herkules einmal, sondern fortwährend am Scheidewege: er kann 
sich ebenso sehr für das Gute wie für das Böse entscheiden, und 
für dieses bestimmte Gute oder für ein anderes, für dieses be- 
stimmte Böse oder ein entgegengesetztes. Er ist im Grunde dazu 
verdammt, unaufhörlich unentschieden zu bleiben, denn nach der 
augenblicklich getroffenen Entscheidung muss er sofort wieder in 
die alte Unentschiedenheit zurückkehren. Man stellt sich wohl 
vor, der Mensch käme nie aus einem Schwanken zwischen ent- 
gegengesetzten Entschlüssen heraus, selbst das verträgt sich nicht 
mit völliger Unbestimmtheit: ist doch das Schwanken schon eine 
gewisse, wenn auch schnell wechselnde, Bestimmtheit für oder 
gegen etwas. Schliesslich dürfte der ganz folgerichtige Indetermi- 
nismus gar keine, nicht einmal eine vorübergehende Entscheidung 
zugeben. Damit aber wäre der Widerspruch gegen alle Erfahrung 
zu arg und der Unsinn zu gross, und die ganze Behauptung löste 
sich als widersprechend und sachlich unmöglich selbst auf. 

Erfahrungstatsache ist, dass der Geist des Menschen in 
einer oder in mehreren Hinsichten, kürzere oder längere Zeit 
unentschieden (indifferent) oder schwankend sein kann. Aber es 
ist nicht nachweisbar, denkbar und möglich, dass er in allen 
Hinsichten und fortwährend unentschieden oder schwankend sei. 
Die stetige allseitige Unbestimmtheit — das liberum arbitrium 
indiff eren tiae der Scholastiker, Leasings „kahle Vermögenheit, 
unter den nämlichen Umständen bald so, bald anders zu handeln“ 
(im Vorworte zu den philosophischen Schriften des jungen Jeru- 
salem) — ist eine unbefugte Verallgemeinerung, eine Erdichtung, 
die nicht einmal schön und ansprechend, sondern hässlich und 
grauenvoll genannt zu werden verdient. Je schwerer sich ein 
Mensch entschliesst, je mehr er zur Unentschlossenheit hinneigt, 
je stärker er schwankt, je öfter er die einmal gefassten Entschlüsse 
widerruft, desto mehr ist er zu bedauern, desto mehr entfernt er 
sich von der natürlichen, gesetz- und wesengemässen Beschaffen- 
heit des Menschen. 

Statt „bestimmender Grund“ sagen manche, z. B. Krause, 
einfach „Ursache“. Wie die Folge dem Grunde, so entspricht 
die „Wirkung“ der Ursache. Dann heisst Wirkung so viel als 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


25 


„bestimmte Folge“. Indes andere, wie Kant, verstehen unter 
Ursache und Wirkung immer etwas Zeitliches. 

Allerdings ist das Zeitliche allemal bestimmt, ja allseitig 
bestimmt. Aber das Bestimmte, ja das allseitig Bestimmte, braucht 
noch nicht zeitlich zu sein, z. B. ein Dreieck, von welchem die 
drei Seiten gegeben sind, ist zwar allseitig bestimmt, bleibt aber 
trotzdem nichtzeitlich , ewig. Zeitlich wird das allseitig Be- 
stimmte erst dadurch, dass wenigstens eine seiner Bestimmtheiten 
mit einer anderen vertauscht wird, also durch Um- oder Anders- 
bestimmung. Denn Zeit ist die Form der Veränderung des All- 
seitigbestimmten oder diejenige formale Wesenheit, vermöge deren 
einander (nämlich als gleichzeitig) ausschliessende vollendet end- 
liche Bestimmtheiten an demselben Wesentlichen (nämlich nach 
einander) sind. 

Das widersprechende Gegenteil des Zeitlichen ist das Nicht- 
zeitliche. Von diesem ist das Ewige nur ein Teil, nämlich das 
Nebenzeitliche. Das Ewige ist nicht höher als das Zeitliche oder 
überzeitlich. Dass wir aber auch eine höhere Seinart über der 
zeitlichen und der ewigen, die unwesentliche Seinart, wie Krause 
sie nennt, annehmen müssen, leuchtet sofort ein, wenn wir uns 
inne sind, dass an die Wesen die Forderung oder das Postulat 
gestellt wird, ihre ewige Wesenheit in der Zeit darzuleben, oder 
die ewigen Urbegriffe (Ideen) in der Zeit zu verwirklichen. Das 
Wesen selbst muss über den nebenordnigen Gegensatz der zeit- 
lichen und der ewigen Seinart erhaben sein, um die eine auf die 
andere beziehen, die eine mit der anderen vereinigen zu können. 
An sich aber ist das Wesen unbedingtwesentlich — auch nach 
Kant gilt die Zeit nicht für das Ding an sich — , und erst in 
der unbedingtwesentlichen Seinheit ist der Gliedbau der zeitlichen, 
der ewigen, der unwesentlichen Seinart und ihrer Vereinseinarten 
möglich und wirklich. 

Wir haben oben „Freiheit“ erklärt als die Selbständigkeit 
„eines Wesens“ auf dem Gebiete der Ursächlichkeit Grund und 
Ursache von etwas kann auch eine Wesenheit 1 ) oder ein Wesen- 
teil 2 ) sein. Freiheit im eigentlichen Sinne schreiben wir nur 
Wesen zu. 

Wenn ein Wesen als solches die Ursache von etwas ist, 
reden wir häufig von einem „Urheber“ oder auch einem „Schöpfer“ 
der betreffenden Sache. 

Der Begriff „Wesen“ ist der oberste und höchste aller Be- 

') Z. B. die Wesenheit : der Raum ist der ewige Grund und die ewige 
Ursache aller räumlichen Bestimmnisse, des ganzen Inhaltes der Raumlehre 
oder Geometrie. 

2 ) Man denke an die lokalen oder örtlichen Krankheiten: so ist die 
Lunge, ein Teil des menschlichen Körpers, unter Umständen die nächste 
Ursache einer Lungenkrankheit. 


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2(5 


Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


griffe, lässt sich also nicht begrifflich bestimmen oder definieren. 
Ebenso wenig das, was unmittelbar am Wesen ist, seine Wesen- 
heit. Wir unterscheiden am Wesen und vom Wesen, welches an 
sich ist, seine Wesenheit als das, was an einem anderen (eben 
dem Wesen) ist, und sprechen von der Anhängigkeit (Inhärenz) 
der Wesenheit am Wesen. Wesen und Wesenheit sind aber nicht 
bloss von einander unterschieden, sondern auch mit einander vereint 
Die Vereinheit des Wesens mit seiner eigenen Wesenheit (wofür 
auch gesagt wird : mit sich selbst) kann Selbstinnesein oder Selbst- 
innigkeit genannt werden. Alles, was die Bezeichnung „Wesen“ 
verdient, muss sein selbst inne oder innig sein. „Das Wesen ist 
selbstinnig“ ist ein analytisches Urteil nach Kant. Die höherstufige 
Selbstinnigkeit, wie wir sie bei dem Menschen antreffen, heisst 
Persönlichkeit. Aber eine selbst wieder abgestufte Selbstinnigkeit 
müssen wir auch den Tieren und sogar den Pflanzen zuerkenuen. 

Es ist nicht so, wie man es sich gemeinhin denkt, dass die 
Lebendigkeit sich zur Selbstinnigkeit (bez. Persönlichkeit) steigere, 
sondern von dem Leben und der Lebendigkeit wird umgekehrt 
die Selbstinnigkeit bereits vorausgesetzt Ein Wesen ist lebendig, 
wenn es zeitliche Ursache seiner inneren Selbständerung ist. Was 
nicht lebendig ist, verdient nicht, ein Wesen zu heissen. 

An der höherstufigen Selbstinnigkeit unterscheiden wir drei 
Teil Wesenheiten: Selbsterkenntnis oder Selbstbewusstsein, Selbst- 
gefühl oder Selbstempfindung und Willen. 

Ich erkenne mich selbst oder bin mir selbst bewusst, wenn 
ich als selbständiges Wesen (als Subjekt) mit mir als selbständigem 
Wesen (als Objekt) vereint bin. Die Selbständigkeit der Er- 
kenntnis gegenüber dem erkennenden Wesen heisst Objektivität 
oder Gegenselbständigkeit. 

Ich fühle oder empfinde mich selbst, wenn ich als ganzes 
Wesen mit mir als ganzem Wesen vereint bin. Das Eigentüm- 
liche beim Fühlen ist der Gesamt- (richtiger: Ganz-) Eindruck 
des Gegenstandes, dessen ich inne werde, noch abgesehen von, 
vor und über den untergeordneten Einzelheiten. 

Wie ihre unterscheidenden Merkmale: Selbständigkeit und 
Ganzheit sind Erkennen und Fühlen einander bei- oder neben- 
geordnet. Dagegen ist der Wille ihnen übergeordnet. Im Willen 
zeigt sich das Wesen als die höhere Einheit über den unter- 
geordneten Teilwesenheiten des Erkennens und des Fiihlens. Statt 
höhere Einheit sagt Krause kurz : „Ureinheit“. Diese ist die obere 
Seite oder Teilwesenheit an der Wesenheiteinheit über der Selb- 
ständigkeit und der Ganzheit. Erkennen und Fühlen verhalten 
sich, einzeln und vereint, zum Wollen wie die Bedingung zum 
Bedingten, aber niemals wie der Grund zur Folge oder die Ursache 
zur Wirkung. Oder mit anderen Worten: es findet in Wahrheit 
kein Kausalverhältnis des Erkennens und des Fühlens und ihrer 
Vereinigung zum Wollen statt, wohl aber umgekehrt 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


27 


Der Wille darf nicht mit Kant als „das höhere Begehrungs- 
vermögen" erklärt werden. Wohl aber ist der Wille höher als 
das Begehrungs vermögen, und das Begehren wie das Verabscheuen 
eine untere Grundlage und Bedingung des Willens. Das Begehren 
ist ein Trieb nach etwas hin, das Verabscheuen dagegen ein Trieb 
von etwas weg. 

Trieb überhaupt, wovon Erkenntnis-, Gefühls- und Willens- 
trieb besondere Arten sind, ist die Richtung oder Beziehung des 
Vermögens auf die Thätigkeit. Vermögen ist ewige, zeitlose Ur- 
sächlichkeit, z. B. Erkenntnis- (Denk-), Gefühls- und Willens- 
vermögen. Das Vermögen kann mehr oder weniger (aber immer 
auf ewige, zeitlose Weise) bestimmt, konkret oder im Gegenteile 
abstrakt, unbestimmt sein. Die grösste Bestimmtheit des Ver- 
mögens heisst Vollfertigkeit (Virtuosität); sie steht dem Willen zu 
augenblicklichem Wirken und Handeln zu Gebote. 

Thätigkeit ist zeitliche Ursächlichkeit. Beispiele sind Denken 
(die auf Erkenntnis gerichtete Thätigkeit), Gefühls- und Willens- 
thätigkeit. 

Die Grösse (Grossheit) der Thätigkeit heisst Kraft. Beispiele 
sind Denk- (Erkenntnis-), Gefühls- und Willenskraft. Der Wille 
gliedert sich in Willens vermögen, Willensthätigkeit und Willenskraft 

Das Willens vermögen eines Wesens ist das Vermögen, sein 
eigenes Vermögen auf ewige, zeitlose Weise näher zu bestimmen. 
Die Willensthätigkeit eines Wesens ist diejenige Thätigkeit, welche 
die eigene, bereits vorhandene Thätigkeit (auf zeitliche Weise) 
bestimmt. Die Willenskraft eines Wesens ist die Kraft, welche 
die eigene, bereits vorhandene Kraft (auf zeitliche Weise) bestimmt. 
Also ist Wille Vermögen, Thätigkeit und Kraft zweiter Abstufe 1 ). 

Ja, das Wollen erscheint selbst, indem es sich auf sich 
selbst richtet, als Wollen des Wollcns oder als Wollen zweiter 
Abstufe und weiterhin als Wollen des Wollens des Wollens oder 
als Wollen dritter Abstufe. 

Hierbei darf höchstens das erste (obere, bez. oberste) Glied, 
der Ur- oder Grundwille, als unmittelbare Äusserung oder Wirkung 
des Wesens als ganzen „frei" genannt werden. Der strengere 
Sprachgebrauch legt jedoch die Wesenheit der Freiheit nur dem 
Wesen selbst bei, von welchem auch der Ur- oder Grundwille 
selbstverständlich durchaus abhängig bleibt. Das zweite Glied, 
das gewollte Wollen, ist von dem ersten Gliede, dem Urwillen, 
abhängig, das dritte unmittelbar von dem zweiten, mittleren, mittel- 
bar jedoch auch von dem ersten Gliede abhängig, also in zweiter 
Abstufe abhängig. 

Die Freiheit eines Wesens besteht erstwesentlich in der 
Selbstmacht oder Autokratie 2 ): das Wesen selbst bestimmt oder 


Krause, Historische Logik, 2. Aufl. 1895, S. 17. 
2 ) Krause, System, 1. Teil, 2. Aufl. 1869, S. 294 f. 


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28 


Hohlfold, 


Heft 1 u. 2. 


entscheidet mit eigener Macht und Kraft. Macht ist nichts 
anderes als die Selbständigkeit des Vermögens. Das freie endliche 
Wesen lässt sich weder rein von der Seite bestimmen, von ande- 
ren, nebengeordneten Wesen, noch schief aufwärts, von neben- 
untergeordueten Wesen, wie der Mensch von dem Tiere, noch rein 
von unten, durch einzelne untergeordnete, Triebe und Neigungen, 
sei es des Geistes oder des Leibes. Zur Freiheit gehört ferner, 
dass das Wesen sich nach sich selbst bestimmt, nach seiner 
eigenen Wesenheit, nicht nach der Wesenheit eines anderen 
Wesens, in blinder Nachahmung oder sklavischer Unterwürfigkeit. 
Für das Wesen ist seine eigene Wesenheit der Bestimmungs- 
grund. Die eigene nichtzeitliche, ewige Wesenheit ist das Ge- 
meinsame in allen einzelnen Bestimmungen oder Entscheidun- 
gen. Diese Seite oder Teilwesenheit der Freiheit bezeichnet man 
als Selbstgesetzmässigkeit, Selbstgesetzigkeit oder Autonomie. 
Denn Gesetz ist das Gemeinsame, Bleibende, Ewigwesentliche in 
einer Reihe von Gliedern im Gegensätze zu dem Eigenwesent- 
lichen der einzelnen Glieder. Möglich ist, dass das Gesetz für 
das Leben eines endlichen Wesens nur ein Glied eines umfassen- 
deren Gesetzgliedbaues sei, z. B. das für den Menschen geltende 
Gesetz ein Teil des göttlichen Gesetzes. Dadurch wird die Selbst- 
gesetzigkeit nicht gefährdet und Ander- oder Fremdgesetzigkeit 
(Heteronomie) nicht herbeigeführt. 

Wiefern das Wesen sich nach seiner eigenen ewigen 
Wesenheit bestimmt, unbeirrt von den möglichen Verirrungen und 
Verderbnissen seiner zeitlichen Beschaffenheit, ist es urbegrifflich 
oder ideal. Urbegriffliehkeit oder Idealität ist die dritte not- 
wendige Teilwesenheit der Freiheit. 

Die Freiheit zeigt sich, abgesehen von den seltenen, glück- 
lichen Fällen, wo der Geist ohne alles Schwanken, ohne allen 
Zweifel, ohne anstrengendes Nachdenken, in dunklem, aber sicherem 
Drange von vornherein entschieden ist, wesentlich als Wahlfrei- 
heit 1 ). Gewählt wird aber ursprünglich zwischen Gutem und 
Gutem, nicht zwischen Gutem und Bösem, nicht einmal zwischen 
Gutem und Vermischtem (teilweise Gutem und teilweise Bösem). 

Die Wahl muss zwischen mindestens zwei verschiedenen 
möglichen Fällen erfolgen. Möglichkeit ist eine bezügliche Sein- 
art oder relative Modalität 2 ). Möglich ist etwas hinsichtlich eines 
Zweiten, wenn es nebst anderem (als ein Fall unter mehreren, 
wenigstens zwei Fällen) zu dem Zweiten in bejahiger Beziehung 
steht. Z. B. ein Dreieck kann rechtwinklig, aber auch stumpf- 
winklig oder (all-) spitzwinklig sein. 

Die Überlegung vor der Wahl ist ein Vorgang des Denkens 
im Dienste des Wollen» und bezweckt, den günstigsten Fall oder 

') Krause, Psychische Anthropologie 1848, S. 171 — 179. 

■) Krause, System, 1. Teil S. 95. 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


29 


das in einem bestimmten Augenblicke unter gegebenen Umständen 
„Beste" herauszufinden. Das „Beste" ist aber eigentlich das in 
jeder Hinsicht oder individuell Gute. Der Höchstgrad (Superlativ) 
erscheint nicht recht passend, da das wahrhaft Gute einer Steige- 
rung nicht fähig ist. 

Allemal ist nur eins das in aller Hinsicht Gute. Dieses 
ist also schliesslich für das wählende Wesen notwendig 1 ). Not- 
wendigkeit ist wie Möglichkeit eine bezügliche Seinart (relative 
Modalität) 2 ). Notwendig ist etwas hinsichtlich eines Zweiten, 
wenn es allein (als einziger Fall) mit dem Zweiten in bejahiger 
Beziehung steht Z. B. das Dreieck muss dreiseitig sein: Vier-, 
Fünf- u. s. w. seitigkeit, auch Nureinseitigkeit und Nurzweiseitig- 
keit sind hier unmöglich. 

Die Notwendigkeit des individuell Guten widerstreitet der 
Freiheit durchaus nicht. Der Wählende empfindet es vielmehr als 
Befreiung oder Erlösung, wenn er nach längerem Schwanken und 
qualvollem Zweifel das einzig Richtige gefunden hat. Der Über- 
legende und Wählende entscheidet sich mit innerer Notwendigkeit. 
Eine äussere Notwendigkeit, ein Zwang, eine Nötigung wäre aller- 
dings mit der Freiheit der Wahl unverträglich. Aber wir haben 
es in unserer Abhandlung nur mit der inneren Freiheit des Wol- 
lene, nicht mit der äusseren Freiheit des Handelns zu thun. 

Wesentliche, unerlässliche, notwendige Bedingungen der 
Freiheit des Wollens sind die Erkenntnis des Guten, das Gefühl 
des Guten (die Neigung zum Guten) und lebendiger Trieb zum 
Guten. Insofern eine dieser Bedingungen fehlt, ist der Wollende 
oder das Wesen hinsichtlich seines Wollens nichtfrei, um so 
mehr, wenn zwei dieser Bedingungen oder gar alle drei mangeln. 

Die Nichtfreiheit ist das privative Gegenteil zur Freiheit, 
verschieden von der Unfreiheit, bei welcher das Wesenwidrige 
anstelle des Wesengemässen vorhanden ist. Die Unfreiheit be- 
steht in der Verwechselung des Bösen mit dem Guten und des 
Vermischten mit dem Reinguten, in der Neigung zum Bösen 
und zum Vermischten und in dem Triebe zum Bösen oder zum 
Vermischten. 

Möglich ist endlich, dass Nichtfreiheit und Unfreiheit sich 
verbinden: teilweiser Mangel der Erkenntnis des Guten und teil- 
weiser Irrtum in Bezug auf das Gute, teilweiser Mangel der 
Neigung für das Gute und Neigung für das Böse, teil weiser 
Mangel des Triebes zum Guten und Trieb zum Bösen. 

Ein Wesen ist nur frei, wenn es das Gute will und thut 
(nicht das Böse pder das Vermischte), und wenn es das Gute aus 
dem rechten Beweggründe (Motive) will und thut, nämlich weil 

*) „Ich danke dem Schöpfer, dass ich muss, das Beste muss“ (Lessing 
im Vorworte zu den philosophischen Aufsätzen des jungen Jerusalem). 

*) Krause, System, 1. Teil S. 95. 


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30 


Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


es gut oder göttlich ist, nicht weil es ihm Vorteil bringt oder 
Vergnügen (Lust) gewährt, oder weil es gerade will. 

Den Beweggrund darf man sich nicht als etwas unabhängig 
von dem wollenden Wesen Vorhandenes und zwangsweise Wirken- 
des denken, sondern der Beweggrund ist das, wonach das wollende 
Wesen sich bestimmt oder bestimmen lässt, also der Bestimmungs- 
grund. Der bestimmende Grund oder die Ursache ist und bleibt 
das Wesen selbst. 

Das Wesen ist unfrei, wenn es das Böse will und thut, und 
wenn es das an sich Gute und Erlaubte aus unlauterem Beweg- 
gründe will und thut Es ist nichtfrei, wenn es das Gute nicht 
will und nicht thut und des rechten Beweggrundes ermangelt. Es 
ist teilweise nichtfrei und teilweise unfrei, wenn zum Teil das eine 
und zum Teil das andere stattfindet. 

Frei ist das in der rechten Weise wollende endliche Wesen 
in der Richtung nach der Seite und nach unten. Es fragt sich 
aber,' ob es auch nach oben frei sei. Das endliche Wesen findet, 
wenn es sich selbst beobachtet, dass es selbst der nächste be- 
stimmende Grund oder die nächste Ursache seines Wollens und 
Thuns ist. Das ist ein sicheres Ergebnis der Selbstwahrnehmung 
oder Intuition, und eine Selbsttäuschung ist in dieser Hinsicht 
ganz ausgeschlossen. Aber damit wissen wir noch nicht, ob wir 
auch der höchste und letzte Grund unseres Wollens und Thuns 
sind, oder ob wir nicht von oben her, vielleicht mit Notwendig- 
keit, bestimmt werden. Nach Spinoza halten sich die Menschen 
für frei, weil sie die Ursachen nicht kennen, durch welche sie in 
Wahrheit bestimmt werden. Die Selbstbeobachtung vermag wegen 
der Beschränktheit ihres Gebietes selbstverständlich über jene 
wichtige Frage nicht zu entscheiden. 

Die Sachlage verändert sich, sobald uns die Ahnung Gottes, 
des einen, unbedingten, unendlichen Wesens, aufgeht. Dann müssen 
wir Gott als den höchsten und letzten Grund von allem anerkennen, 
auch von uns als ganzen Wesen, von unserer Wesenheit im ganzen 
und aller unserer Teil Wesenheiten. 

Hierbei erhebt sich nun die Schwierigkeit, wie sich Gott 
zu dem Bösen verhalte, welches die endlichen Wesen wollen und 
thun. Ist er der Grund des Bösen — so scheint es — kann er 
nicht heilig, und können die endlichen Wesen nicht verantwortlich 
sein. Ist er nicht der Grund des Bösen — so scheint es auf 
der anderen Seite — kann er nicht das Grundwesen, nicht un- 
endlich und unbedingt, mit einem Wolle: nicht Gott sein. 

-Unterscheiden wir, um der entschieden vorhandenen, nicht 
wegzuleugnenden Schwierigkeit beizukommen, zwischen unmittel- 
barer und vermittelter, ewiger und zeitlicher Ursache. Unmittel- 
bare zeitliche Ursache des Bösen kann Gott nicht sein: das würde 
seiner Heiligkeit widerstreiten. Immerhin könnte er noch mittel- 
bare und ewige Ursache des Bösen sein, unbeschadet seiner 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


31 


Heiligkeit und im Einklänge mit seiner Unendlichkeit und Un- 
bedingtheit. 

Gott will, verwirklicht oder fördert das Böse in keinem 
Falle. Er bedient sich desselben auch nie als Mittel für seine 
weisen Absichten. Aber er lässt das Böse insoweit zu, als er 
durch dessen Verhinderung zugleich das zu seinem heiligen Lebens- 
plane gehörige Gute, an welchem das Böse ist, unmöglich machen 
würde. Das Böse besteht nämlich nicht für sich, sondern nur 
am Guten. Alle einzelne Bestandteile des Bösen sind an sich 
und im rechten Zusammenhänge gut. Z. B. beruht der Diebstahl 
auf einer Irreführung des an sich erlaubten und berechtigten Er- 
werbstriebes. Die beim Stehlen aufgewandte Klugheit und Kühn- 
heit ist gleichfalls etwas an sich Gutes und Lobenswertes. Das 
Gute, an welchem das Böse sich findet, wird von Gott auf ewige 
Weise begründet. Dagegen das, was das Böse zu einem solchen 
macht, die falsche, verkehrte, wesenwidrige Richtung der an sich 
guten Elemente, geht auf die zeitliche Ursächlichkeit des Menschen 
zurück. Deshalb ist der Mensch auch verantwortlich, und bei nur 
einiger sittlicher Bildung weiss und fühlt er sich selbst als ver- 
antwortlich. Ebenso findet er es für recht und gerecht, wenn er 
für seine böse That von dem Staate oder Rechtsvereiue bestraft 
wird. Aber selbst, wenn sie unbemerkt und unbestraft bleibt, 
empfindet er Reue, d. li. einen tiefen Schmerz darüber, dass er 
böse gehandelt hat, und nimmt sich mehr oder minder ernstlich 
vor, so etwas nicht wieder zu thun. Die Reue hört auch dann 
nicht auf, wenn er sich sagt, dass er in dem betreffenden Augen- 
blicke, unter den jeweiligen Umständen, bei dem Grade seiner 
(Miss- oder Un-) Leidenschaft in Wirklichkeit gar nicht anders 
konnte, oder dass er damals unfrei war. Trotzdem bleibt er sich 
seiner ewigen, von aller Zeit unabhängigen, transseendentalen, 
unverlierbaren Freiheit und seiner ewigen Bestimmung zum Guten 
und zur zeitlichen Freiheit bewusst. Der Mensch ist eben ver- 
pflichtet, sein ewiges Vermögen zum Guten mehr und mehr zur 
Fertigkeit im Guten auszubilden, die ewige Möglichkeit zur zeit- 
lichen Möglichkeit und diese zur zeitlichen Wirklichkeit umzu- 
wandeln. 

Statt: „der Mensch ist verpflichtet, das Gute zu thun“ 
können wir auch sagen: „der Mensch soll das Gute thun“. Sollen 
ist die notwendige Beziehung des Ewigmöglichen zum Zeitlich- 
wirklichen. Das Sollen setzt mithin die ewige, d. h. die allgemeine, 
zeitlose, abstrakte Möglichkeit des betreffenden Inhaltes voraus, 
aber nicht ohne weiteres die zeitliche Möglichkeit. Der Schluss 
Kants: „Der Mensch kann das Gute thun, weil er es soll“, oder 
kurz: „Der Mensch kann, denn er soll“, ist wissenschaftlich nur 
befugt, wenn unter dem „Können“ die „ewige“ Möglichkeit ver- 
standen wird, dagegen unbefugt, wenn die „zeitliche“ Möglichkeit 
gemeint ist. 


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32 


Hohlfeld, 


Heft 1 u. 2. 


Die zeitliche Freiheit des Menschen ist durchaus nicht eine 
selbstverständliche zeitliche Wirklichkeit, niöht etwas ein für alle- 
mal Fertiges, etwa Angeborenes, sondern etwas unter seiner eigenen 
Mitwirkung und Anstrengung allmählich Werdendes, von ihm erst 
zu Erwerbendes, ja etwas, was auch abnehmen und schliesslich 
wieder verloren gehen kann. 

Die zeitliche Freiheit zeigt sich, wie Clarke und Kant mit 
Recht hervorheben, ganz deutlich darin, dass der Mensch im- 
stande ist, aus ewigen Gründen in der Zeit eine neue Reihe des 
Wollens und Thuns anzufangen, unabhängig von dem unmittelbar 
Vorhergehenden und von seiner gesamten Vergangenheit. Wenn 
ein Sünder sich bekehrt, so ist das aus seinem früheren sündigen 
Leben nicht erklärbar, ist für dieses ein Wunder. Aber es ist 
im allgemeinen erklärbar aus der ewigen Freiheit des betreffenden 
Menschen und aus der Mitwirkung Gottes, die wir im allgemeinen 
aus rein wissenschaftlichen Gründen als möglich annehmen müssen, 
aber im einzelnen niemals mit Sicherheit als wirklich nachweisen, 
wohl aber vertrauensvoll ahnen und glauben können. 

Der religiöse oder gottinnige Mensch glaubt, wenn er etwas 
Gutes will und thut, der Mitwirkung Gottes sicher zu sein, und 
dieser Glaube schwächt nicht, sondern stärkt das Bewusstsein 
seiner Freiheit: er hält sich für frei in Gott, mit Gott und 
durch Gott 

Wenn der gute, aber noch nicht bewusst gottinnige Mensch 
sich im Wollen und Thun, in seinem ganzen Leben nach dem 
Urbegriffe (der Idee) der Sittlichkeit und nach dem Sittengesetze 
bestimmt, so thut er dies in dunkler Ahnung der Heiligkeit oder 
Reingüte Gottes. Dann ist die Wesenheit Gottes in Wahrheit 
der höchste und letzte Beweggrund für den Willen des Menschen. 
Der Mensch erreicht aber eine höhere Stufe der Erkenntnis, wenn 
er sich des grundwesentlichen Zusammenhanges der Idee des Guten 
und des Sittengesetzes mit Gott klar bewusst wird. 

Der gottinnige Mensch erkennt in seiner ewigen und zeit- 
lichen Freiheit einen wesentlichen Teil, eine erstwesentliche Seite 
seiner Gottähnlichkeit. 

Die unendliche, unbedingte, auch der Seinart nach voll- 
kommene Freiheit Gottes *) zu denken ist im Grunde leichter als 
der Gedanke der endlichen, bedingten, werdenden Freiheit des 
Menschen. Schon deshalb, weil ausser Gott gar nichts vorhanden 
ist, wonach er sich bestimmen könnte. Gott bestimmt sich von 
sich selbst, nach sich selbst, durch sich selbst, für sich selbst und 
um seiner selbst willen. Oder mit anderen Worten : Gott ist 

sein eigener Antrieb, sein eigenes Gesetz, seine eigene Macht 
(Selbstmacht), sein eigenes Ziel, sein eigener Zweck (Selbstzweck) 
und sein eigener Beweggrund (sein eigenes Motiv). 

‘) Krause, System, 2. Teil. 2. Aufl. 1889, S. 1U> f. 


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1901. 


Die Freiheit des Menschen. 


33 


Mit dieser Einsicht ergiebt sich zugleich die Vereinbarkeit 
und die Zusammenstimmung (Harmonie) der göttlichen und der 
menschlichen Freiheit. Die endliche, bedingte Selbstmacht des 
Menschen ist ein innerer, untergeordneter Teil der unendlichen, 
unbedingten Macht Gottes, die wir, nicht ganz würdig, „Allmacht“ 
zu nennen pflegen. 

In ähnlicher Weise vertragen sich auch menschliche Freiheit 
und göttliche Allwissenheit. Dieser Ausdruck erscheint gleichfalls 
nicht ganz würdig. Gewiss: Gott, das unbedingt und unendlich 
wissende Wesen, weiss „alles“, aber auch den Zusammenhang alles 
einzelnen mit einander und mit dem Ganzen, vor allem sich selbst 
als das eine, unendliche, unbedingte Wesen. 

Soweit etwas, sei es von Gott selbst oder von einem end- 
lichen Wesen, noch nicht bestimmt ist, weiss es Gott als noch 
unbestimmt, die nähere Bestimmung oder Entscheidung aber als 
möglich, noch nicht als künftig-wirklich. Dies ist nur eine schein- 
bare Beschränkung des göttlichen Wissens. Vielmehr gehört es 
zur göttlichen Wahrhaftigkeit, dass er alles so weiss, wie es in 
Wahrheit ist, bestimmt oder noch nicht bestimmt. Dagegen, was 
Gott hinsichtlich der Zukunft bereits beschlossen hat, das weiss 
er mit unbedingter Sicherheit als künftig -wirklich voraus. Auch 
durchschaut er als Herzenskündiger, wie die endlichen Wesen in 
der jeweiligen Gegenwart sich bestimmen. Dadurch scheint viel- 
leicht manchem Gott von der Zeit abhängig zu werden. Indes die 
Zeit ist nur die ewige und von Gott ewig begründete Form des 
göttlichen Lebens selbst. Wer alle Beziehung Gottes zur Zeit 
leugnet, muss auch die Lebendigkeit Gottes leugnen und fällt damit 
zurück in den alten Irrwahn des Fatalismus. 

Nach den vorangegangenen Erwägungen glauben wir die 
gleich zu Anfang aufgeworfene Frage: „ist der Mensch frei?“ 
jetzt befriedigend beantworten zu können: weil Gott unendlich 
und unbedingt frei ist, muss der Mensch als Gottes Ebenbild 
endlich und bedingt frei sein. Der Mensch ist seinem Urbegriffe 
nach ewig und zeitlich frei, seinem Erfahrungsbegriffe bez. Er- 
fahrungsbilde nach zum Teil zeitlich frei, zum Teil aber auch 
zeitlich nichtfrei und unfrei, aber nach seinem Musterbegriffe soll 
und kann er durch eigene Thätigkeit und unter Gottes gnädigem 
Beistände immer mehr wirklich zeitlich frei werden. 


Monatshefte der Couienius-Oesellschaft. 


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Die Anfänge der Toleranz in Holstein unter 
Herzog Friedrich III. 

Ein Beitrag zur Geschichte der Remonstranten. 

Von 

Oberlehrer Dr. R. Kays er in Hamburg-Uhlenhorst. 


Die mittelalterliche Macht des Staates in der ; Bestimmung 
über das Bekenntnis der Unterthanen hat in Deutschland durch 
die Reformation zunächst keine grundsätzliche Änderung erfahren. 
Auch im Augsburger Religionsfrieden haben die evangelischen 
Stände sich nur das Recht der Intoleranz in ihren Gebieten er- 
zwungen, das bis dahin allein die Anhänger der alten Kirche 
besassen, und der westfälische Friede hat jenes Recht dann auch 
den reformierten Ständen als Vertretern einer besondern Auf- 
fassung der protestantischen Konfession gegeben, ohne dass die 
Protestanten eine Freiheit für die Unterthanen erwirken konnten. 
Reichsstädte, wie Augsburg, haben eine Bevölkerung beider Be- 
kenntnisse gehabt, nur weil beide Parteien sich gegen einander 
behaupten konnten. Wo dann evangelische Flüchtlinge aus dem 
westlichen Europa im Reformations-Zeitalter in deutschen Gebieten 
A ufnahme fanden, da geschah es entweder dort, wo die Entwick- 
lung des Bekenntnisses noch nicht zum Abschluss gekommen war, 
wie in Wesel, oder wo sie die Herrschaft in der Hand ihrer 
Glaubensgenossen fanden, wie in Frankfurt oder Emden. So 
kennt es denn auch das 17. Jahrhundert nicht anders. Noch Moritz 
von Hessen macht, als er sich der reformierten Konfession zu- 
wendet, von dem Rechte gewaltsamen Gebrauch, dass die kirch- 
liche Eigenart der Unterthanen sich dem Landesherrn zu fügen 
hat; um so höher steht dann Johann Sigismund von Brandenburg, 
der 10 Jahre später bereits auf dieses Recht verzichtete. Aber 
während in England und Holland schon im 17. Jahrhundert that- 
sächliche, wenn auch nicht rechtliche Toleranz zu herrschen be- 
gann, war es in Deutschland spätem Geschlechtern Vorbehalten, 
vom landesherrlichen Rechte der Bestimmung über die Religion 
der Unterthanen zur Pflicht der Duldung überzugehen. Erst 
Pietismus und Aufklärung haben hier, indem sie die Lehrunter- 
schiode entwerteten, die Mauern niederreissen können, welche die 


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1901. 


Die Anfänge der Toleranz etc. 


35 


Bekenntnisse trennten. Der Ruhm, den Grundsatz allgemeiner 
Toleranz zuerst zum Staatsgesetz erklärt zu haben, gebührt nicht 
Deutschland, sondern Nordamerika: hier aber ist es die klare 
Folgerung der frühesten Herolde moderner Denkweise und Dul- 
dung, der Dissentergemeinden der Independenten und Quäker, der 
Erben des Täufertums. 

Um so wertvoller ist so jede Erscheinung freiem Denkens 
und weitherzigerer Gesinnung, die wir vor jener Zeit in Deutsch- 
land finden. Mag man auch den umfassenden Begriff der Tole- 
ranz, den wir heute haben, noch vergeblich suchen; mögen 
die Beweggründe zur Duldung auch mit handelspolitischen und 
staatswirtschaftlichen Plänen Zusammenhängen : immerhin ist in 
jener Zeit , da religiöse und kirchliche Gegensätze auch die 
Politik beherrschten, jede Duldung bedeutsam. Einer der frühe- 
sten Fälle dieser Art war die Aufnahme der flüchtigen hollän- 
dischen Remonstranten durch Friedrich III., den Herzog von 
Holstein-Gottorp 1 ). 

Vorbereitende Ereignisse mag man schon mehrfach in der 
Geschichte der holsteinischen Herzoge finden. Weder in den 
Herzogtümern noch in Dänemark war das Symbol des strengen 
Luthertums, die Konkordienformel, angenommen worden 2 ). Herzog 
Johann Adolf, der Vater Friedrichs III., durch seine Mutter ein 
Enkel Philipps des Grossmiitigen von Hessen, war mit seinem 
Vetter Moritz zu Kassel in der mildern Richtung des Luthertums 
durch Caspar Cruciger den Jüngern erzogen worden, Melanchthons 
Schüler und Nachfolger in Wittenberg und Märtyrer seiner phi- 
lippistischen Überzeugung. Als er zur Regierung gekommen war, 
beauftragte er 1605 den nassauischen Rat Joh. von Münster zu 
Vorstlage damit, in einer Schrift die Übereinstimmung der Refor- 
mierten mit der Augsburgischen Konfession nachzuweisen, und 


1 ) Das Folgende nach Material aus dem Kgl. Archiv zu Schleswig, dem 
Archiv der remonstr. Gemeinde zu Friedrichstadt und der remonstr. Bibliothek 
zu Rotterdam. Ferner: G. Brandt, Hist, der Reform. IV; J. Tideman, 
De stichting der Remonstrantsche Broederschap I; A. van der Hoeven^ 
Het tweede Eeuwfest van het Semin. der Remonstr. 1840; Epistolae eccles. 
et theol. ed. Ph. a Liiuborch 1704; J. Uy tenbogaerts Leven, Kerckelycke 
Bedieninghe ende zedighe Verantwoordinghe 1(545; J. M. Kr afft; Ein zwei- 
faches zweihundertjähr. Jubel-Gedächtnis (Husumsche Kirchengesch.) 1723; 
J. Möller, Cimbria literata I. II.; S. Episcopius: Opera theologica 1650. 

2 ) Friedrich II. von Dänemark warf das Buch ins Feuer mit den 
Worten: Die deutschen Streitigkeiten hätten mehr Schaden ins Land ge- 
bracht, als wenn der Türke die Lande dreimal durchzogen hätte. Er verbot 
bei Leibes- und Lebensstrafe Einführung und Verkauf des Buches, „wodurch 
Friede, Ruhe und Einigkeit gestört und andere verführt werden könnten.“ 
(Krafft, Vorrede.) 

3* 


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36 


Kavser, 


Heft 1 u. 2. 


dieser widmete dann 1608 sein Buch dem Herzog 1 ), der sich 
alsbald dem reformierten Bekenntnis anschloss: Er eutliess 1610 
seinen Hofprediger Joh. Fabricius und berief an seine Stelle Phil. 
Caesar aus Kassel und reformierte Rate an seinen Hof. Er Hess 
aus dem Predigereid die besondern lutherischen Bekenntnisschrif- 
ten und die Verdammung der Calvinisten entfernen; er verbot den 
Exorcismus bei der Taufe dort, wo man ihn nicht haben wollte, 
und erliess Bestimmungen gegen Streit predigten der lutherischen 
Geistlichen -). Auch duldete er die Mennoniten in seinem Lande, 
doch ohne Versammlung oder Gottesdienst. Als ihm 1616 sein 
trefflicher Sohn Friedrich nachfolgte, konnte dieser, noch nicht 
20 jährig, sich dem Einfluss seiner streng lutherischen Mutter, der 
Herzogin Augusta, einer Schwester Christians IV. vou Dänemark, 
wohl nicht entziehen, und der Versuch des Landgrafen, ihn für 
das reformierte Bekenntnis zu gewinnen, blieb erfolglos. Fabricius 
wurde von Hamburg in das Hofpredigeramt zurückgerufen, und 
Änderungen im Sinne des reformierten Bekenntnisses hörten auf. 
Aber der junge Herzog erneuerte schon 1617 entgegen dem Willen 
seiner Mutter den Erlass gegen die Schmähungen und die Be- 
handlung theologischer Schulfragen auf der Kanzel und schärfte 
den Geistlichen ein, das Wort Gottes nach den prophetischen und 
apostolischen Schriften rein zu predigen 3 ). Zwei Jahre später that 
er dann einen entschiedenem Schritt, als er den Remonstranten 
in seinem Lande eine Freistätte eröffnete. 

Die Dortrechter Synode hatte unter dem Einfluss des Statt- 
halters Moritz von Oranien die Prediger einer freiem Richtung 
in der reformierten Kirche der Niederlande ihrer Stellung entsetzt; 
wenn sie sich nicht durch Unterschrift verpflichteten, sich jeder 
kirchlichen Handlung zu enthalten, so waren sie aus dem Lande 
gewiesen oder gefangen gesetzt worden, und die Generalstaaten 
verschärften diese Bestimmungen durch die sog. Plakate. Im 
Geiste eines Coornhert und des durch seine Schrifteu gewonnenen 
Jac. Arminius lehnten jene jeden Zwang in Glaubenssachen und 
jedes feste dogmatische Bekenntnis in der Kirche ab. Ausser der 
Anerkennung der heil. Schrift als alleiniger Autorität verlangten 
sie keine Zustimmung zu Lehrsätzen, auch nicht zu den 5 Artikeln, 


1 ) Leonh. Hutter von Wittenberg erhob dagegen seine Stimme in 
seinem Calvinista aulico-politieus, wie er es ähnlich that gegen Joh. Sigis- 
mund bei dessen Übertritt. Der holsteinische Herzog verlangte von Kur- 
sachsen die strenge Bestrafung „dieses Gesellen“. 

2 ) Er verbot damit, wie Hutter meint, „dem heiligen Geist des Straf- 
amtes, falsche Lehre zu nennen oder zu verdammen“. 

a ) Bezeichnender Weise ist im Konzept dieses Mandates (im Kgl. Archiv 
zu Schleswig) der Hinweis auf die Symbole, die Augustana und deren Apo- 
logie, dureh8trichen und dann fortgelassen worden. 


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1901. 


Die Anfänge der Toleranz etc. 


der „Remonstranz“, die ihre bedeutendsten Theologen der Synode 
in der Frage der Gnadenwahl als ihre persönliche Überzeugung 
vorgelegt hatten, noch zu dem Bekenntnis, das Sim. Episcopius 1621 
herausgab. Sie mahnten, die Streitpunkte, welche die Christen von 
einander trennten, als menschliche Vorstellungen und als unwesent- 
lich zu betrachten und in der Einigkeit des Geistes ein Band des 
Friedens zu sehen. Während sie keine neue Sekte aufrichten, 
sondern die Gebrechen der Kirche in der Kirche bessern wollten, 
wurden sie durch ihre Ausstossung gezwungen, sich zu einer Bru- 
derschaft oder Sozietät zusammenzuschliessen, deren Grundlage und 
einziges Unterscheidungsmerkmal die Lehre von der Verträglich- 
keit und Toleranz war. Zum ersten Male ist hier auf dem Ge- 
biete der reformierten Kirche eine Gemeinschaft gegründet worden, 
die vollen Ernst machte mit dem Grundgedanken der Reformation 
von der alleinigen Autorität der Bibel, besonders des Neuen Testa- 
mentes in Glaubenssachen; die dieselbe Duldung, welche sie für 
sich verlangte, sowohl ihren einzelnen Gliedern als auch allen 
andern Christen in dogmatischen Einzelfragen gewährte; die auf- 
richtig die Vereinigung mit andern Kirchen anstrebte und so in 
einer Zeit lebhafter religiöser Interessen wie kirchlicher Kämpfe 
eine starke fromme, aber auf das Christentum des Friedens ge- 
richtete Gesinnung kundgab. Die Abneigung gegen die Betonung 
der Lehre, der Hinweis auf das, was zur Seligkeit notwendig ist, 
die Pflege des Sittlichen sind so den Remonstranten eigentümliche 
Kennzeichen geworden, die in ihnen auch Vorläufer des Pietismus 
und der Aufklärung nach ihren positiven Seiten erkennen lassen, 
— wertvoll in einer so andersdenkenden Zeit, die an der Bildung 
religiöser Gemeinschaft noch ein Interesse hatte 1 ). 

Die Remonstranten zählten unter ihre Anhänger die besten 
Köpfe und die edelsten Persönlichkeiten der Niederlande. Ihr 
Führer war des Statthalters eigner Hofprediger Joh. Uytenbogaert, 
ihr Stolz Hugo Grotius. Eine Anzahl Prediger blieb im Lande 
verborgen, andre fanden Schutz in den spanischen Niederlanden, 
im katholischen Antwerpen. Hier wurde im Oktober 1619 die 
Bruderschaft begründet und zu ihrer Leitung als „auswärtige 
Direktoren“ Joh. Uytenbogaert, Sim. Episcopius und Nie. Grevin- 
choven berufen. 

Es wird nicht deutlich, wo der erste Anstoss zu dem neuen 


*) Man vergleiche zu dieser Charakteristik die Vorrede zur Confessio 
des Episcopius, die mit ihren grundsätzlichen Erklärungen stets mit diesem 
Bekenntnis verbunden bleiben sollte; die Einleitung .zu seinem Traktat: 
„Der wahre remonstr. Theologe“, und seine schöne Abschiedsrede an seine 
Zuhörer, als er von Leiden zur Synode nach Dortrecht reiste (Opera theol. I, 
170; II, 09 ff. 508); sowie Aussprüche Uytenbogaerts in Briefen (v. d. Hoeven 
256 ff.;. 


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38 


Kavser, 


Heft 1 u. 2. 


Unternehmen, den Remonstranten in Holstein Aufnahme zu ge- 
währen, zu suchen ist. Die Gesinnung des jungen Herzogs muss 
ihnen nicht unbekannt geblieben sein; cs ist später auch ausdrück- 
lich ausgesprochen worden, die Sache sei von ihm ausgegangen 1 ). 
So fand sich Willem van den Hove, Herr von Wedde, ein Ver- 
wandter von Grotius, im Sommer 1619 in Schleswig ein, verhan- 
delte mit dem Herzog und bereiste das Land, um eine geeignete 
Stelle zur Ansiedlung auszu wählen. Auch Joh. de Haen, Pensio- 
när von Harlem, nach der Synode verbannt und seiner meisten 
Güter beraubt, kam jetzt schon nach Holstein, wo der Herzog ihn 
bald zu seinem Rat ernannte. Wie selbständig Friedrich verfuhr, 
zeigt der Umstand, dass er wenige Tage, nachdem der Hof prediger 
Fabricius, der bei der Herzogin Augusta grossen Einfluss besass, 
ihn vor der Aufnahme der Fremden in Ausübupg seiner Amts- 
pflicht gewarnt hatte, schon den ersten „Octrov“ verkündete, der 
nach einigen Wochen erneuert und vermehrt wurde 2 ). Er bot 
den Remonstranten Niederlassung an der Eider und freie Religions- 
übung an, gab einen Entwurf der Verteilung des Bodens uud der 
selbständigen Verfassung, die die Holländer in der neuen Stadt 
haben sollten, und empfahl die Vorzüge des Ortes, besonders, 
dass sie nach ihren Sitten dort bauen und leben könnten. Auch 
seine Gesinnung spricht er aus: „Wir verstehen nicht, wie jemand 
in dem Stück seiner Gewissens-Uberzeugung gezwungen werden 
kann.“ So soll dann die Stadt nach ihrem Gründer Friedrichstadt, 
nach ihrem Wesen eine Friedensstadt heissen. Dieser Octroy 
wurde dann auf Wunsch des Herzogs nur unter der Hand den 
Remonstranten hin und her bekannt gegeben, und so traf als erster 
van den Hove selbst mit seiner Familie im Dezember 1619 von 
Emden aus in Tönning ein und erhielt dort Wohnung im herzog- 
lichen Schlosse. Er wurde nun die Seele des Unternehmens und 
war unermüdlich dafür thätig. 

Denn die nächste Zeit brachte noch keinen Fortschritt. Die 
Remonstranten erhofften noch zu bestimmt ein baldiges Ende ihrer 
Verbannung und blieben zurückhaltend gegen andre Anerbieten. 
Schon im Sommer 1619 hatte Uytenbogaert in Stade anfragen 
lassen, der bedeutendsten Stadt des Bistums Bremen, das damals 
Johann Friedrich, der Oheim des holsteinischen Herzogs, inne 
hatte. Man hatte ihn willkommen geheissen und ihm und seinen 
Freunden dieselbe Religionsfreiheit zugestanden, die dort schon 


l ) Tideman I, 309 ff.; ähnlich ein holländisches Gedicht, das zur 
Ansiedlung in Holstein ermuntern sollte: Verinaninge aen de oprechte Hol- 
länders. Doch weiss Uytenbogaert noch am 23. Juli 1019 in einem Brief 
an Luise von Oranien nichts von Aussichten für die Remonstranten in irgend 
einem fremden Lande (Leven etc. 328). 

5 ) Am 27. September und 17. November 1019. 


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1901. 


Die Anfänge der Toleranz etc. 


39 


die niederländische Nation genoss. Aber die Sorge um die Ge- 
meinden in Holland, politische Bedenken und die Erwägung, dass 
man noch nicht in äusserster Gefahr sei, noch nicht „bis aufs 
Blut widerstanden “, hinderten einen Entschluss. Ebensowenig 
wollte man ein unbestimmteres Anerbieten annehmen, das durch 
Gustav Adolf für Gothenburg eröffnet wurde. Doch van den Hove 
Hess nicht nach; er bestimmte den Herzog im Oktober 1620 zu 
einem neuen Octroy und schickte diesen an Uytenbogaert mit der 
Bitte, die Sache bei den Remonstrauten zn vertreten: Er empfahl 
ein Entgegenkommen zur Tilgung der Schmach, dass sie nirgends 
ihre Religion üben dürften, und als ein Mittel, die weitere Ver- 
folgung in den Niederlanden zu verhindern. Zur persönlichen 
Verhandlung reiste dann der herzogliche Hofbeamte Gerhard Hens- 
beek im Aufträge des Herzogs im Dezember 1620 und wieder 
im Februar 1621 nach Antwerpen. In diesen Verhandlungen im 
Februar und März versicherte man sich, dass der Herzog bereit 
sei, die Direktoren auch gegen den Willen der Generalstaaten zu 
schützen, wollte aber noch keine Entscheidung treffen, da die 
Partei noch so zerstreut sei, ehe man sich persönlich von den 
Verhältnissen in Holstein überzeugt hätte. So schickte man die 
Prediger Niellius und Lomaun dorthin, zugleich um den Herzog 
über den unpolitischen, rein religiösen Charakter der Bruderschaft 
aufzuklären und anzufragen, wie er über Freiheit der Religions- 
übung, Einrichtung einer Schule und Druckerei und über freien 
Verkehr der Direktoren von Holstein aus mit den Gemeinden in 
der Heimat dächte. Ende April 1621 langten die Beiden zu 
Tönning an und wurden alsbald zu Gottorp dem Herzog vorge- 
stellt. Mit Rücksicht auf die Stellung der Herzogin Augusta, die 
es nicht wünschte, dass ihr Sohn „allerhand unbekannte Sekten“ 
ins Land nahm, hoben sie die Übereinstimmung ihrer Lehre mit 
der Augsburgischen Konfession hervor und verwiesen dafür auf 
die remonstrantischen Schriften und das bald erscheinende Be- 
kenntnis. In den „Ceremonien“ meinten sie,' auch nicht wesentlich 
von den Lutheranern abzuweichen; nicht nur hierin aber, sondern 
auch in Meinungen könnten sie Unterschiede vertragen; denn das 
sei eben ihr Ziel, alle die, welche Christum bekennen, den Grund 
der Religion festhalten und ein frommes Leben führen, zu dulden. 
Dieser Standpunkt fand Billigung und Lob des Herzogs. In den 
weitern Verhandlungen mit den Räten betonten die Gesandten, dass 
ihnen alle politischen Bestrebungen fern lägen ; um ihrer Religion 
willen würdeu sie verfolgt. Gegen den Vorschlag seiner Räte gab 
der Herzog auch dem Wunsche der Gesandten nach, iu der neuen 
Stadt die Mennouiten und ihren Gottesdienst zu dulden. So 
einigte man sich über die zukünftigen Verhältnisse, und die Beiden 
schieden mit dem besten Eindruck von der Persönlichkeit des 
jungen Fürsten, der ihnen, wie sie meinten, noch mehr bewilligt 


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40 


Kavscr, 


Heft 1 n. 2. 


hätte, wenn sie ihm die Übersiedlung der Direktoren oder gar 
des Hugo Grotius hätten zusichern können. Der Hofprediger 
Fabricius hielt es nun für seine Pflicht, von neuem mit ernsten 
Warnungen an seinen Herrn heranzutreten: er appelliert an seine 
Pflicht als christliche Obrigkeit, in seinem Lande keine irrige 
Lehre zu dulden, die mit den Geboten der ersten Tafel streite 
und darum Sünde sei; so sei diese Sache eine rechte Probe für 
den Gehorsam gegen Gott, dem eine Obrigkeit für den Glauben 
in ihrem Lande Verantwortung schulde. Er weist sogar rühmend 
hin auf die gottseligen Fürsten, die selbst Bedenken hätten, mit 
Anderslehreuden einen Bund zu gemeinsamem Schutz wider den 
Papst zu machen, geschweige denn, dass sie ihnen einen Teil ihres 
Landes eingeräumt hätten. 

Der Herzog war vernünftig und selbständig genug, um sich 
an diese Einreden nicht zu kehren. Es lag nicht an ihm, wenn 
jetzt die Sache nur langsamen Fortgang nahm. Die Direktoren 
zu Antwerpen hielten es noch nicht für ratsam anzunehmen: der 
Weg nach Holstein zu Lande wie zur See schien ihnen nicht 
sicher, so wenig, wie der Aufenthalt daselbst, da sie befürchteten, 
der grosse Krieg könne sich auch dorthin ziehen 1 ), und feste 
Städte hatte das Land nicht. Doch verteidigten sie sich ent- 
schieden gegen den Vorwurf, als wäre es ihnen mit den Ver- 
handlungen nicht Ernst gewesen. Während Uysenbogaert und 
Episcopius sich nach Rouen und Paris begaben, um sich zu ver- 
sichern, dass die Gesandtschaft der Generalstaaten ihnen dort 
nicht durch Verleumdungen schadete, und zu erfahren, ob sie 
nicht iu einigen französischen Städten Religionsfreiheit gemessen 
könnten, gelang es dem unermüdlichen van den Hove bei einem 
Aufenthalt in Holland, eine grössere Anzahl von Familien zur 
Übersiedelung zu bestimmen. Die Zahl der Auswandrer wuchs, 
auch ohne Mitwirkung oder Aufmunterung durch die Direktoren, 
als die Hoffnung freier Bewegung im Vaterlande immer schwächer 
wurde, und man begann wirklich den Bau der Stadt Am 29. 
September 1621 legte Anthony van den Hove, der Sohn Willems, 
den Grundstein zum ersten Hause. Im Einverständnis mit seinen 
Mitdirektoren ging nun auch Grevinchoven im Mai 1622 von 
Rouen über Hamburg nach Holstein. Ihm folgte im Juni Conrad 
Vorstius, einer der angesehensten reraonstrantischen Theologen, 
ein Lehrer am reformierten Gymnasium des Grafen von Bentheim 
zu Burgsteinfurt, dann als Nachfolger des Arminius nach Leiden 
berufen. Es ist bezeichnend für die Zeit, dass Jakob I. von Eng- 
land, theologisch ebenso eifrig wie politisch unzuverlässig bis zum 


l ) Als die Kaiserlichen in Holstein eindrangen, erklärte ein reformier- 
ter Prediger zu Amsterdam, Smont, das sei die Strafe für die Aufnahme 
der Remonstranten (Uvtenb., Leven 103). 


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11 ) 01 . 


Dir Anfänge der Toleranz etc. 


11 


Verrat am Protestantismus, selbst ein Verzeichnis der „Irrlehren“ 
des Vorstius anlegte und es den Generalstaaten mit der Drohung 
übermitteln Hess, das Bündnis mit ihnen aufzuheben, wenn sie 
Vorstius in Leiden anstellten, und die Staaten gaben nach 1 ). Durch 
die Synode verurteilt, hielt er sich noch heimlich im Lande auf, 
eine Zeit lang bei seinem Freunde, dem Dichter Joost van den 
Vondel, bis der Herzog, durch seine Schriften mit ihm bekannt, 
in einem besondern Schreiben ihn einlud. Nur wenige Monate 
genoss er seinen Schutz; noch ehe er von Tönning nach Friedrich- 
stadt übersiedeln konnte, starb er am 29. September 1622, und 
die neue Stadt konnte ihm nur ein Grab geben. Die Leichenrede 
hielt ihm Joh. Grevius, einst sein Schüler, bis zur Synode Prediger 
zu Arnheim; abgesetzt und flüchtig wagte er sich im Aufträge 
der Direktoren zurück, wurde aber von einem Verwandten ver- 
raten und ins Arbeitshaus zu Amsterdam eingekerkert. Hier 
schrieb er sein „Tribunal reforiuatum“ gegen die Anwendung der 
Folter im Gerichtswesen, besonders in Hexenprozessen, „mit allen 
Gründen der Vernunft und des christlichen Gewissens“, und wid- 
mete das bedeutsame Buch, als er im September 1621 der Ge- 
fangenschaft entronnen und 1622 nach Friedrichstadt gekommen 
war, dem holsteinischen Herzog 2 ). 

Für die Ausgewanderten wurde die Hoffnung auf Rückkehr 
geringer, für die Zurückgebliebenen die Lage unerträglicher, als 
1623 die Verschwörung der Söhne Oldenbarnevelds gegen das 
Leben des Statthalters entdeckt und unter die Mitschuldigen auch 
die Reinonstranten gerechnet wurden. Neue Auswanderer, beson- 
ders eine Anzahl Prediger, trafen ein; Friedrichstadt wurde nun 
für sie ein Sammelplatz 3 ). Jetzt entschlossen sich auch Uytenbo- 
gaert und Episcopius zur Übersiedlung; sie wollten eben Quillebeuf 
an der Seinemündung auf einem Hamburger Schiffe unerkannt 
verlassen, als ein Amsterdamer Schiffer sie sah und dem Ham- 
burger einen reichen Lohn versprach, wenn er sie nach Amster- 
dam bringen wollte. Doch dieser teilte es ihnen mit, und nun 
hielten sie es für geratener, nach Rouen zurückzukehren. Um 
Hugo Grotius bemühte sich der Herzog, der stets viele wissen- 
schaftlichen Interessen hatte und auf den Besitz jenes Mannes 
den höchsten Wert legte, noch mehrmals lebhaft und Hess ihn 


*) P. Bayle, Dictionnaire II, 1220. 

Es erschien erst 1624 zu Hamburg. Bald nachher ist Grevius auf 
einer Reise ins westliche Deutschland verschollen (Brandt IV, 588). Als 
Vorkämpfer gegen die Hexen prozesse rühmt ihn C. Binz, Doktor Weyer 
1885, S. 111. 

*) Es kamen u. a. Sim. Goulart, Casp. ^elcart, Gottfr. Paludanus, 
Corn. Geesteranus, Marc. Gualtherus. Einige gingen nach Glückstadt, wo 
Christian IV. ihnen ein Privileg verlieh (1024). 


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42 


Kaysor, 


Heft 1 u. 2. 


schon sogleich, als er im März 1621 der Gefangenschaft auf Schloss 
Louvestein nach Paris entronnen war, durch de Haen und andre 
dringend eiuladen. Doch hoffte jener wohl, wie seine Landsleute, 
auf baldige bessere Zeiten im Vaterlande. 

Der Tod des Prinzen Moritz erfüllte diese Hoffnung noch 
nicht. Zwar war der neue Statthalter Friedrich Heinrich von 
Uytenbogaert erzogen worden und auch während der Verbannung 
mit ihm iu Verbindung geblieben, und seine Mutter, Luise, die 
Tochter Colignys, stand mit ihm in stetem Briefwechsel. Aber 
politische Rücksichten auf die starke Partei der Kontraremonstran- 
ten zwangen ihn, die Plakate von neuem einzuschärfen. Doch 
kehrten jetzt schon manche flüchtigen Prediger zurück, bis die Re- 
monstranten seit 1630 ausdrücklich wieder zugelassen wurden und 
Kirchen und Schulen einrichten durften. Uytenbogaert schuf ihnen 
eine Kirchenordnung, die Zierde ihres neuen Seminars zu Amster- 
dam wurde Episcopius. Sie sind dann seither im Protestantismus 
der Niederlande das Element des Fortschrittes und der Wissen- 
schaft geblieben. 

So kam es, dass aus der neuen Gründung in Holstein nicht 
das geworden ist, was sie kurze Zeit zu werden versprach: eine 
„Herberge der Gerechten“, wie eiust Genf und Wesel, oder ein 
von niederländischem Unternehmungsgeist stark gefördertes Ge- 
meinwesen. Die Stadt blieb klein, trotzdem der Herzog noch 
manches an sie wandte. Er besuchte sie gelegentlich, stellte, als 
der Statthalter Adolf van de Wael, Herr von Moersbergen, durch 
sein diktatorisches Auftreten bei seinen Landsleuten sich miss- 
liebig gemacht hatte, Bürgermeister und Rat allein an ihre Spitze, 
gab ihr ein eignes Stadtrecht (1635) und verlieh ihr das Privileg 
freien Handels nach Spanien. Als er in Handelsinteressen die 
Gesandtschaft nach Persien schickte, an der auch Paul Flemming 
teilnahm, sollte Friedrich stadt für diesen Handel der Stapelplatz, 
ein zweites Amsterdam werden. Reformierte holländische Kauf- 
leute suchte er noch wiederholt durch besondere Privilegien (1630 
und 1637) von Hamburg dorthin zu ziehen und gab 1623 den 
Mennoniten, 1625 den Katholiken freie Religionsübung. Luthe- 
raner, „Martinisten“, zogen aus der Umgegend herbei und wurden 
stark vennehrt durch Kölner und Augsburger, die in den Kriegs- 
zeiten um ihres Bekenntnisses willen vertrieben wurden. Aber 
die schon geplante Schola illustris ist als Schule remonstrantischer 
Theologen nur in Amsterdam, als Universität erst durch Friedrichs 
Sohn in Kiel verwirklicht worden. Sturmfluten und besonders 
die Nöte des dänischen Krieges brachten die Stadt in schwere 
finanzielle Bedrängnis und thaten ihrer Entwicklung Abbruch. 

Die Gemeinde zu Friedlich stadt ist, als die Ansiedlung in 
Glückstadt sich aufgelöst hatte, die einzige der Remonstranten in 
Deutschland geblieben und hat im Geiste ihres Beschützers, des 


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1901. 


Die Anfänge der Toleranz etc. 


43 


holsteinischen Herzogs, und ihrer Begründer weiter gelebt. Im 
Verlaufe des 17. Jahrhunderts siedelten sich dort auch zahlreiche 
Kontraremonstranten aus Holland an und fanden nach den Grund- 
sätzen der Bruderschaft Aufnahme in die Remonstrantengemeinde. 
Als nun im Beginn des 18. Jahrhunderts ein neuer Prediger (van 
den Heuvel) beim Antritt seines Amtes dagegen zu eifern begann, 
Hessen ihn die Vorsteher zu Amsterdam an die Grundsätze ihrer 
Gemeinschaft erinnern, die in Frieden alle bei sich dulde, welche 
im Geiste des wesentlichen Christentums mit ihr eins seien. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Zur Korrespondenz des Comenius. 

Die wohlwollende Besprechung, der Herr Direktor Dr. Heber 
meine Publikation in dieser Zeitschrift (M.H. Bd. IX, §. 243 ff. u. 
S. 301 ff.) unterzogen, bewegt mich zu einigen Aufklärungen, haupt- 
sächlich weil in der genannten Besprechung die tschechisch abgefassten 
Prolegomena, in denen doch die hauptsächlichsten Ergebnisse meiner 
Forschung enthalten sind, nicht berücksichtigt werden. 

1. Der Schluss der Prolegomena rühmt mit des Herausgebers 
innigstem Danke die fachkundige und hingebende Mitarbeit Herrn 
Dr. Hebers an der Korrektur der meist so schlecht überlieferten 
Texte. Wahrlich, wenn der Abstand zwischen den mutmasslichen 
Originalien und meiner Ausgabe geringer ist, als er noch in den 
kollationierten Abschriften war, so gebührt dem Herrn Referenten 
mein ergebenster, tiefster Dank, und es ist billig, dass auch das 
deutsche Publikum davon erfahre. 

2. Dagegen ist irreführend die Ansicht Hebers, als wären nun- 
mehr nur noch wenige Akten aufzufinden. Vielmehr konstatiere ich 
(S.III), dass wir den eigentlichen Comenianischen Nachlass bisher nicht 
besitzen, und auch das, was ich neu gesammelt habe, sind meistens 
nur dürftige, abschriftliche Fragmente aus den Sammlungen seiner 
Freunde. Dies hebe ich hervor, auf dass diejenigen, die in die Lage 
kommen, irgend eine Spur zu finden, derselben fleissig nachgehen, 
und nicht etwa meinen , es sei schon das Hauptsächliche ohnehin 
gedruckt worden. 

3. Es hat auch der Herr Referent versäumt zu erwähnen, dass 
von mir ein neuer Band bereits zusammengestellt ist (S. XXXI). — 
In diesen ist, wie in dem vorangegangenen, handschriftliches und ge- 
drucktes Material aufgenommen worden. Da nun der Herr Recensent 
23 Stücke aufzählt, die s« E. bereits in dem vorangegangenen Bande 
hätten Platz finden sollen, so muss ich zu meinem Bedauern bekennen, 
dass von diesen 23 Stücken, die fast alle schon in meiner vor 
8 Jahren abgefassten Comenius - Biographie verwertet wurden, nur 
eins in den Rahmen meiner Publikation gehört: der von ihm 
zuletzt genannte Brief des Parlaments-Advokaten J. Daus 1047. — 
Dieser übrigens bereits von Zoubek ausgebeutete Brief wird in dem 


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1901. 


Kleinere Mitteilungen. 


45 


zweiten Bande Platz finden. Dagegen kann ich die mannigfaltigen 
Widmungen, die der Herr Recensent auf zählt, auch in den folgenden 
Band nicht aufnehmen 1 ), weil man dann keine Grenze hat und alle 
Widmungen auf nehmen müsste; die Zahl würde das Hundert leicht er- 
reichen. Man kann ja darüber streiten, ob die Widmungen nicht 
auch als Briefe zu betrachten sind: ich glaube sie gehören zu den 
Werken, denen sie an die Spitze gestellt, und sollen mit diesen zu- 
sammen ediert werden. Sollte es nie zu einer Ausgabe der Schriften 
des Comenius selbst kommen, so wäre es einst eine historisch dank- 
bare Aufgabe, die mannigfaltigen Widmungen und Vorreden zu 
sammeln. In den Rahmen einer Korrespondenz • gehören sie nur, 
wenn Briefe als Vorreden abgedruckt werden, oder etwa, wenn wir 
auf die Widmung ein Antwortschreiben besitzen. Über diese Auf- 
fassung möge gestritten werden, aber sie muss jedem Leser meiner 
Publikation bekannt werden, bevor er sie in die Hand nimmt, auf 
dass er darin nicht suche, was m. E. nicht hinein gehört. 

4. Nach neuen Forschungen hat sich bereits vor einigen Jahren 
die Notwendigkeit eines neuen Bandes herausgestellt. So war denn 
durchaus nicht wichtig, dass der erste Band bereits Alles aufnehme, 
was aufzunehmen ist. Die Fülle des Materials hätte in jedem Fall 
mehrere Bände erheischt und ein Gesamtregister kann über den Be- 
fund des Gesuchten leicht orientieren. Für eine abschliessende Ge- 
samtausgabe der Comenianischen Briefe, wie sie der Herr Referent 
zum Schluss wünscht, ist die Zeit noch lange nicht gekommen; einst- 
weilen möge man mit der Übersicht, die ich über den mutmasslichen 
Umfang dieser Correspondenz in den Prolegomenis gegeben, vorlieb 
nehmen, sie (die Übersicht) etwa recensieren und an ihr ermessen, 
wie weit wir noch von einer vollständigen Sammlung entfernt sind. 
Aber ein Vergleich mit dem, was wir nunmehr haben, und was wir 
früher besassen, wird hoffentlich keinen Forscher entmutigen; im 
Gegenteil. — Zu wünschen wäre, dass man das Gebotene, namentlich 
meine Vermutungen über die Verfasserschaft der anonymen Briefe, wie 
ich sie in den Klammern biete, recht eindringlich recensiere, und ich 
bedauere es, dass eben der Herr Recensent, der das ganze Material 
so gründlich kennt, den ich auch sonst dafür in erster Reihe für 


l ) Betreffs zweier Briefe aus der Opera Didactica schwanke ich noch 
immer: I. 313 ist ein Consilium Vechners über weitere Vervollkommnung 
des Vestibulum und der Janua in der Form eine« Briefes an Comenius; 
IV. 117 ist ein undatierter Brief des Comenius an Shaep, Graef u. A., dass 
sie ihm in Amsterdam mehr Ruhe gewähren ; eben das Fehlen des Datums 
macht es zweifelhaft, ob das Schreiben an sich abgeschickt worden. Be- 
treffend die apokalyptischen Publikationen verweise ich auf die Prolegomena 
des früheren und des kommenden Bandes. Aber der Drabiciana giebt es 
so viel, dass man, wo nicht anders nötig, sie besser von den Comcniana 
scheidet. 


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46 


Kleinere Mitteilungen. 


Heft 1 u. 2. 


kompetent halte, eine solche lehrreiche Auseinandersetzung unterlassen 
hat. Hoffen wir’s bei dem Fertigstellen des 2. Bandes, bei dessen 
Druck ich auf seine mir fast unschätzbare Mithilfe rechnen möchte. 
Vielleicht wird ihm dann eine deutsche Ausgabe der Prolegomena 
das ihm jetzt so schwierige Unternehmen erleichtern. 

J. Kvacala. 


Eine halb verschollene Schrift Johann Jakob Mosers 
Uber den religiösen Charakter der Freimaurerei. 


Der bekannteste deutsche Staatsrechtslehrer, den das alte Reich 
besessen hat, Johann Jakob Moser (1701 — 1785), .veröffentlichte 
im Jahre 1770 ein merkwürdiges Rechtsgutachten über die Frage, 
ob der Westfälische Friede die Duldung der „Gesellschaft der Frei- 
maurer“ gestatte oder nicht (Johann Jakob Moser, Königl. dänischer 
Etats-Rat, Von Geduldung der Freymaurer-Gesellschaften; besonders 
in Rücksicht auf den Westphälischen Friden. O. O. 1 776). Der 
Anlass zu diesem Gutachten, dem durch die Bedeutung seines Ver- 
fassers gesteigerte Beachtung zukommt, lag in dem Umstand, dass 
ums Jahr 1773 von Reichs wegen — nach Mosers Annahme waren 
es die Kaiserlichen Komitial- Minister gewesen — der Reichsstadt 
Regensburg der Befehl zugegangen war, die dortige Loge abzuschaffen, 
da ihr Dasein dem Westfälischen Frieden zuwiderlaufe. 

Nach Mosers Zeugnis gab es in dem Westfälischen Frieden nur 
eine Bestimmung, auf die sich diese Verordnung der Reichsgewalt 
stützen konnte (und nach seiner Ansicht thatsächlich stützte), nämlich 
der Schlusssatz des Artikels VII, welcher lautet: 

„Sed praeter Religiones supra nominatas ! ) nulla alia in Sacro 
Romano Imperio recipiatur vel toleretur.“ 

Für die Rechtsbeständigkeit der kaiserlichen Anordnung, die 
doch selbst noch um jene Zeit unter Umständen sehr einschneidende 
Folgen für die Betroffenen haben konnte, kam mithin alles auf die 
Frage an (wir geben den Wortlaut der Frage wieder, wie sie Moser 
formuliert), „ob es nach der Ansicht der betr. Landesherrn mit denen 
Gesellschaften der Freymaurer am Ende und im Hauptwerk auf die 
Fortpflanzung einer, zwar den Namen der christlichen bey behaltenden, 


*) Es sind die römischcn-katholische, die lutherische und die reformierte 
Religion gemeint. 


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1901. 


Kleinere Mitteilungen. 


47 


im Grunde aber denen bisherigen Grundsätzen und Lehren der Evange- 
lischen sowohl als der RÖmisch-Catholisehen Kirche zuwider seyenden 
Religion hinauelauffe“. Wurde diese Frage bejaht und konnte sie 
bewiesen werden, so waren nach Moser alle Reichsfürsten auf Grund 
des Reichsgrundgesetzes vom Jahre 1648 „nicht nur befugt, sondern 
auch schuldig, so vil an ihnen ist, dem Lauf dieser neuen Religion 
Einhalt zu thun“. Moser hat nun mit der Sorgfalt, die ihn kenn- 
zeichnet, der Prüfung dieser Frage die eingehendste Untersuchung 
gewidmet; das Ergebnis derselben ist zwar im Zusammenhang mit der 
Thatsache zu beurteilen, dass Moser persönlich der damaligen Ortho- 
doxie angehörte, aber es verdient gleichwohl schon deshalb volle Auf- 
merksamkeit, weil es eine damals weit verbreitete Überzeugung inner- 
halb der protestantischen Welt wiederspiegelt. Moser berührt sich mit 
der Beurteilung der Vertreter der römischen Kirche, welche bestimmt 
erklärte und danach handelte, dass eine „neue Sekte“ vorliege, nur 
mit dem Unterschied, dass ersterer für das Urteil eine mildere Form 
wählte, und seine Ansicht lediglich als Vermutung hinstellte. Er 
war der Überzeugung, dass es sich hier um eine Religion handele, 
die sich zwar christlich nenne, die aber mit den bisherigen Lehren 
der evangelischen und römisch-katholischen Kirche nicht überein- 
stimme. 

Gleichwohl ist es heute nicht zweifelhaft, dass die Charakteri- 
sierung der Freimaurer als einer „neuen Sekte“ unzutreffend ist, 
und erfreulich, dass dieser Irrtum auf das praktische Verhalten der 
meisten Regierungen ohne Einfluss geblieben ist. Jedes tiefere Ein- 
dringen in die Geschichte der Freimaurerei und jeder Vergleich mit 
der Geschichte der christlichen Sekten beweist, dass sie in ihrem 
Wesen von letzteren grundverschieden ist und dass sie, obwohl sie 
den Charakter einer Kultgenossenschaft besitzt, bisher niemals versucht 
hat, eine Art von Kirche oder Nebenkirche zu sein, ihrer Natur nach 
auch niemals einen solchen Versuch machen kann. Es hat deshalb 
sehr triftige Gründe, dass der Versuch der Reichsgewalt, den Artikel VII 
des Westfälischen Frieden in Anwendung zu bringen, gescheitert ist. 

Ludwig Keller. 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Joh. Amos Comenius’ Grosse Unterrich tslehre, übersetzt, 
mit Anmerkungen und einer Lebensbeschreibung des Comenius, von 
Prof. Dr. C. Th. Lion, Diplom -Mitglied der Comenius-Gesellschaft. 
Vierte verbesserte Auflage. Langensalza, Verlag von Hermann 
Beyer u. Söhne 1898. Preis brosch. 3 M., eleg. gebd. 4 M. 

Joh. Amos Comenius’ Informatoriuni. Der Mutter Schul, 
neu herausgegeben von Prof. Dr. C. Th. Lion, Diplom-Mitglied der 
Comenius-Gesellschaft. Langensalza, Verlag von Hermann Beyer u. 
Söhne 1 898. Preis 60 Pf., eleg. gebd. 1,20 M. 

Die ersterc dieser beiden Schriften, besonders für Volksschul- 
lehrer bestimmt und von diesen auch viel gebraucht, zeigt sich in 
ihrer neuen Auflage, was Anordnung des Stoffes und den Wortlaut 
der Übersetzung betrifft, nicht wesentlich verschieden von den frühe- 
ren, obwohl man hie und da doch noch Stellen antrifft, die man 
anders wünschte, um den Eindruck des klaren und edlen Stils, der 
die Schrift so empfiehlt, noch zu verstärken. Hat z. B. folgender 
Satz das Recht, in jeder neuen Auflage sich unverändert zu behaupten: 
„Die Ursache aller Verlegenheiten in der Welt ist die alleinige, 
dass die Menschen keinen Unterschied zwischen dem Notwendigen 
und dem Nicht-Notwendigen machen“ (S. X 611) — ? Die vierte Auf- 
lage hätte hier die richtige Stellung der Worte bringen sollen: Die 
alleinige Ursache aller Verlegenheiten — — ist die, u. s. w. Auch 
würde mancher, der seine Muttersprache liebt und auf ihre Reinheit 
hält, es gerne sehen, wenn der Verfasser nur da, wo das Subjekt in 
eine bestimmte Klasse eingereiht werden soll, das prädikative Adjektiv 
flektierte (vgl. G. Wustmann, Allerhand Sprachdummheiten. Leipzig, 
Fr. Wilh. Grunow 1892. S. 130). Er würde lieber lesen S. 65: Der 
Unterricht muss umfassend sein, S. 101: Das Unterrichtsverfahren ist 
bis jetzt so unsicher gewesen, S. 170: Damit die Kenntnis aller Dinge 
klar sei — als: Der Unterricht muss ein umfassender sein — Das 
Unterrichtsverfahren ist ein so unsicheres gewesen — Damit die Kennt- 
nis aller Dinge eine klare sei. „Das unflektierte Prädikats-Adjektiv 
urteilt, das flektierte sortiert“, sagt Wustmann mit Recht. Auch die 
vierte Auflage beginnt mit einer Beschreibung des Lebens und der 
pädagogischen Wirksamkeit des Comenius. Dieser Teil aber hat vielerlei 
Veränderungen erfahren. Überall erkennt man, dass sich der Ver- 


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1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


49 


fasser die seit dem Comenius- Jubiläum so reiche Litteratur zu nutze 
gemacht hat. Besonders sind die Arbeiten von Kvacsala, Reber, 
Hohlfeld und die Aufsätze der Monatshefte unserer Gesellschaft und 
der Blätter für Volkserziehung berücksichtigt. In einer reichen Zahl 
von Anmerkungen ist auf diese und andere Schriften über Comenius 
verwiesen, und so bietet diese Auflage dem Leser vielseitige Anregung, 
sich durch eigenes Studium noch weiter über den Gegenstand zu 
unterrichten. 

Es ist sehr dankenswert, dass der Verfasser durch seine zweite 
Schrift einem jeden es möglich gemacht hat, das wertvolle Büchlein 
des Comenius, das Informatorium der Mutterschule, so wie es Come- 
nius selbst aus dem Böhmischen ins Deutsche übersetzt hat, um den 
billigen Preis von GO Pf. sich anzuschaffen. Lions Schrift ist eine 
getreue Wiedergabe des in der Breslauer Stadtbibliothek vorhandenen 
Exemplars. Auch die Schreibung des ursprünglichen Druckes ist 
überall streng beibehalten. Eine grosse Zahl von Anmerkungen ent- 
hält teils sachliche Erklärungen, teils Stellen des lateinischen Origi- 
nals zugleich mit Übersetzung in unser jetziges Deutsch, Stellen, die 
geeignet sind, fremdartige, uns nicht mehr geläufige deutsche Aus- 
drücke verständlich zu machen. 

Beide Schriften sind wertvolle Teile der bekannten Bibliothek 
pädagogischer Klassiker, die im Verlage von Hermann Beyer u. Söhne 
von Friedrich Mann herausgegeben wird. Bötticher. 

Von der „Realencyklopädie für protestantische Theo- 
logie und Kirche. Begründet von J. J. Herzog. In dritter ver- 
besserter u. vermehrter Auflage hrsg. von D. Albert Hauck (Leipzig, 
J. C. Hinrichs’sche Buchhandlung)“ ist jetzt der achte Band erschienen, 
der die Artikel „Hesse“ bis „Jesuitinnen“ umfasst. Es ist für uns nach 
den früher in dieser Beziehung gemachten Ausstellungen (s. M.H. der 
C.G. 1900 S. 121) erfreulich, bei Anzeige dieses Bandes hervorheben 
zu können, dass die in demselben enthaltenen Artikel zur Geschichte 
des sog. Anabaptismus sich von früheren gleicher Art insofern vor- 
teilhaft unterscheiden, als sie ohne unsachliche Ausfälle geschrieben 
sind, die für ein solches Werk ganz und gar nicht passen. Einen 
Artikel wie den über Balthasar Hubmeier (S. 418 ff.) kann man 
m. E. von jedem Standpunkt aus in Bezug auf Geist und Ton wie 
auf Sachkenntnis mit Genugthuung begrüssen und seinem Verfasser 
(Hegler, Tübingen) dafür Dank wissen. Lesenswert sind auch die 
Artikel über Melchior Hoffmann (S. 222) und Hans Hut (S.489f.) 
von demselben Verfasser, wenn man auch die Empfindung hat, dass 
dem letzteren Artikel sich ein subjektives Element beimischt; es ist 
nicht leicht, über einen Mann, dessen Geschichte und Wirken so sehr 
im Dunklen liegt, zu einem abschliessenden Urteil zu kommen. Sehr 
eingehend handelt J. Loserth über Johannes Huss (S. 472 — 489), 
mit der Sachkenntnis, die man von Loserth erwarten kann. Paul 
Kleinert hat den Artikel über Daniel Ernst Jabionski (S. 510 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. 4 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 1 u. 2. 


bis 514) verfasst und darin abermals die Vorzüge seiner Arbeits- 
weise, die wir früher hervorgehoben haben, bewährt. 'Der Aufsatz 
über Hexen und Hexenprozesse (von Plitt[f ]-Zöckler) (S. 30 ff.), 
der sich durch sehr vollständige Litteraturangaben auszeichnet, würde 
uns hier mehr interessieren, wenn die Verquickung der Ketzerprozesse, 
bez. der Ketzerverfolgung mit dein Hexenwesen, klarer und bestimm- 
ter herausträte; ohne die Erkenntnis dieses Zusammenhangs wird die 
Entwicklung des Hexen Wesens nie völlige Klarheit gewinnen. 

L. K. 

Die „Festausgabe zur zweihundertjährigen Jubelfeier 
der preussischen Königs kröne“, die der Herausgeber des Hohen- 
zoll ern- Jahrbuchs, Prof. Dr. Paul Seidel (Berlin), veranstaltet 
hat, enthält eine Reihe so wertvoller geschichtlicher Aufsätze, dass 
man dieses Werk mit gutem Grunde als eine der wichtigsten wissen- 
schaftlichen Früchte der Jahrhundertfeier bezeichnen kann. Mehrere 
der in dem starken Bande (Berlin, Verlag von Giesecke u. Devrient 
1900, 387 S.) vereinigten Abhandlungen berühren das Arbeitsgebiet 
unserer Gesellschaft, die Entwicklung der Geistesgeschichte in Preussen 
und Deutschland, sehr nahe und wir empfehlen unseren Mitgliedern, 
sich davon Kenntnis zu verschaffen ; sie werden schon an der grossen 
Zahl der vorzüglichen Bilder, die der prachtvoll ausgestattete Band 
enthält, viel Genuss und Freude haben. Wir nennen hier ausser 
dem einleitenden Aufsatz von Re in hold Koser, „Das Jubiläum 
der preussischen Königskrone“, die Arbeiten von Adolf Harnack, 
„Das geistige und wissenschaftliche Leben in Brandenburg -Preussen 
um das Jahr 1700“, ferner von Prof. Dr. Hintze (Berlin) über 
„Staat und Gesellschaft unter dem ersten Könige“, von Prof. Dr. 
Krauske (Göttingen) über „Die Königin Sophie Charlotte“, von Prof. 
Dr. Thouret (Berlin) über den „Einzug der Musen und Grazien in 
die Mark“, von Paul Seidel (Berlin) über „Die bildenden Künste 
unter König Friedrich I. und Kunst und Künstler am Hofe“, denen 
sich grössere und kleinere Arbeiten von Berner, Doebner, Grossmann, 
Granier, Friedländer, Jähns (f ), v. Oettingen und Schuster anschliessen. 

L. K. 

„Der Protestantismus am Ende des 1 9. Jahrhunderts in 
Wort und Bild“ ist der Titel eines grossen illustrierten Werkes, welches 
sich das Ziel gesetzt hat, „den Protestantismus in seiner Entstehung im 
IG. bis zum Schlüsse des 19. Jahrhunderts nach allen Seiten seiner 
Entfaltung, in seinen Hauptwerken und Hauptvertretern als einen der 
bedeutsamsten Faktoren der neueren Kulturgeschichte dar- 
zustellen. Herausgeber ist Pastor C. Werckshagen, Berlin (Verleger 
die Firma Werner- Verlag: Berlin W., Leipzigstr. 101/102), der sich für 
das umfassende Unternehmen die Mitwirkung einer Anzahl der nam- 
haftesten Sachkenner gesichert hat. Wir nennen aus der Zahl der 
Mitarbeiter hier nur die Namen Benrath (Königsberg), Bey schlag y 



1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


51 


(Halle), von Bezold (Bonn), Brügel (Nagold), Cornba (Florenz), 
Fliedner (Madrid), Hackenberg (Hottenbach), Holtzmann (Strass- 
burg), Lasson (Friedenau), New man (Toronto) Rein (Jena), Rogge 
(Potsdam), Smend (Strassburg), Troeltsch (Heidelberg) und Wer- 
nicke (Braunschweig). Bis jetzt sind drei Lieferungen (Preis je 1 M.) 
erschienen, nämlich die Arbeiten von Bezold über die Vorzeichen und 
Vorläufer der Reformation, von Werckshagen über Luther und von 
Tschackert über die Schirmherren der Reformation. Wir kommen später 
auf das Unternehmen zurück. 

Friedrich Grawert, Die Bergpredigt nach Matthäus auf ihre 
äussere und innere Einheit mit besonderer Berücksichtigung des ge- 
naueren Verhältnisses der Seligpreisungen zur ganzen Rede neu unter- 
sucht und dargestellt von F. G., Pastor in Hagen i. W. Marburg, N. G. 
Elwertsche Verlagsbuchhandlung 1900. 77 S. Preis 1,20 M. 

Was diese Schrift als einen beachtenswerten Beitrag zum Ver- 
ständnis der Bergpredigt erscheinen lässt, ist besonders zweierlei: Zuerst 
der Nachweis, dass die Seligpreisungen spruchartige Zusammenfassun- 
gen dessen sind, was einzelne Abschnitte der Bergpredigt enthalten. 
Doch ist dem Verfasser dieser Nachweis nicht bei allen Seligpreisun- 
gen geglückt. Wenn er in 5 v. 38 — 47 die 5. Seligpreisung, die 
barmherzige Liebe, beschrieben findet, so sieht jeder, dass v. 38 — 41 
vielmehr von der Sanftmut, also von der dritten Seligpreisung handelt 
und erst v. 42 — 47 von der Barmherzigkeit. Der Verfasser erblickt 
dagegen in 7 v. 1 — 3 eine Mahnung zur Sanftmut. Man sieht nicht, 
mit welchem Rechte. Wer den Nächsten nicht richten mag, den treibt 
dazu entweder das Mitleid mit ihm oder das demütige Bewusstsein 
der eigenen Fehler. Und gerade auf dieses legt hier Christus den 
Nachdruck (v. 3, v. 4). Der Abschnitt ist also eine Warnung vor 
pharisäischem Hochmut, dem Widerspiel der geistlichen Armut, die 
der Verfasser nun wieder lediglich in 7 v. 7 — 11 beschrieben findet. 
Und wo bleibt die zweite Seligpreisung? Die soll in 7 v. 5 ange- 
deutet sein, wobei sofort das Missverhältnis auffällt, dass andere Selig- 
preisungen ganzen Abschnitten zur Überschrift dienen können, während 
diese nur in ein, zwei Versen behandelt ist. Und wo bleibt ferner 
der Abschnitt 7 v. 12 — 23? Da nach der Ansicht des Verfassers 
die Erklärung der Seligpreisungen nur bis 7 v. 11 reicht, so bleibt 
ihm nichts übrig, als diesen Abschnitt zum Schluss zu ziehen, während 
doch offenbar der Schluss erst v. 24 anhebt. Kurz, die Rechnung 
geht nicht ganz auf; das Ergebnis wird nicht ganz ohne Willkür er- 
reicht. Jedenfalls aber wird man dem Verfasser zugeben müssen, 
dass die Seligpreisungen nichts anderes sind, als die in die Form von 
Sprüchen gefassten Grundgedanken der ganzen Bergpredigt. Er hat 
das Verdienst, dies zuerst nachgewiesen zu haben. Das zweite, was 
die Schrift beachtenswert macht, ist die Darlegung der Veranlassung 
und des Zweckes der Bergpredigt. Diejenigen Ausleger, welche die 
Bergpredigt als ein einheitliches Ganze betrachten, sehen sie an wie 

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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 1 u. 2. 


einen akademischen Vortrag. Der Verfasser zeigt, dass Jesus viel- 
mehr durch ganz bestimmte Verhältnisse zu dieser Rede veranlasst 
worden ist. Die Verleumdungen der Pharisäer und Schriftgelehrten, 
dass er das Gesetz umstosso, ihre Feindschaft gegen ihn und die 
Jünger war geeignet, diese in ihrem Glauben an ihn wankend zu 
machen. Es war also nötig, sie in ihrer Jüngerschaft zu befestigen, 
sie aus ihrer geistigen Abhängigkeit vom Pharisäismus zu befreien. 
Und dies betrachtet der Verfasser als den Zweck der Rede. Tref- 
fend zeigt er, wie Christus die einzelnen Gebote in der Weise be- 
spricht, dass die Pharisäer als die eigentlichen Übertreter derselben 
dasteheu. In überzeugender Weise setzt er auseinander, dass Christus 
5 v. 21 — 48 nicht gegen pharisäische Auslegung, sondern gegen phari- 
säische Übertretung der Gebote kämpft. Doch in dem Eifer, diesen 
an sich richtigen Gedanken überall in der Bergpredigt zur Geltung 
zu bringen, begegnet es ihm auch einmal, dass er ihn in einem Aus- 
spruche findet, in dem er ganz gewiss nicht zu finden ist. Er setzt 
nämlich 7 v. 12 in Parallele mit 23 v. 3 („Sie sagen es wohl, und 
thun es nicht.“). Allein der Ausspruch Christi lautet nicht: Alles 
nun, was ihr wollt, dass die andern thun sollen, das thuet auch ihr! 
— sondern: „Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Leute thun 
sollen, das thuet ihr ihnen auch!“ Aber wenn man auch dem Ver- 
fasser nicht in allem beistimmen kann, so gewinnt man doch von seiner 
Arbeit den Eindruck, dass sie wohl geeignet ist, die Untersuchungen 
über die Bergpredigt in eine neue Bahn zu lenken. 

Bötticher-Hagen i. W. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Au der Universität Berlin hat im Wintersemester 1899/1900 Adolf 
Huriiack, der jetzige Rektor dieser Hochschule, vor Studierenden aller 
Fakultäten eine Reihe von Vorlesungen über das „Wesen des Christen- 
tums 44 gehalten, die, nachdem sie als Buch an die Öffentlichkeit getreten 
sind 1 ), mit Recht ein ausserordentliches Aufsehen gemacht und den seltenen 
Erfolg gehabt haben, dass sich innerhalb aller Kirchen und Richtungen 
manche Stimmen für die Grundgedanken des Buches aussprechen zu sollen 
meinten 2 ). Dieses Urteil wird unzweifelhaft von vielen, vielleicht sogar von 
der überwiegenden Mehrheit unserer Mitglieder geteilt werden, wenn viel- 
leicht auch nur die Wenigsten sich auf alle Einzelheiten dieser schwierigen 
und bestrittenen Fragen und deren hier vorliegende Beantwortung verpflichten 
wollen oder können. Aber in einer Reihe sehr w ichtiger Punkte der Harnack- 
schen Auffassungen werden unsere Leser ausserordentlich najie Berührungen 
mit der comenianischen Weltanschauung finden, wie wir sie in diesen Heften 
seit vielen Jahren vertreten. (Vgl. Ludw'ig Keller, Adolf Hamack über 
das Wesen des Christentums in der Wiss. Beilage der Allg. Zeitung Nr. 274 
vom 29. November 1900.) Indem wir uns Vorbehalten, später eingehender auf 
die Sache zurückzukommen, mag es für heute genügen, auf das Buch hinge- 
wiesen zu haben. Das Werk selbst und die daran an knüpfenden Erörterungen 
werden die öffentliche Meinung fraglos noch geraume Zeit beschäftigen. 

Es ist ein wesentliches Kennzeichen der altchristlichen Zeiten — wir 
verstehen darunter im Allgemeinen die ersten beiden Jahrhunderte der christ- 
lichen Zeitrechnung — dass sie die Richtschnur ihres Glaubens, ihrer Ver- 
fassung und ihrer Lehren oder mit anderen Worten ihren „Kanon“ in den 
Herrnworten erkannten. Erst die Weltkirche, wie sie seit dem 4. Jahrh. 
Gestalt gewann, stellte den Grundsatz auf — s. Ad. Hamack, Lehrbuch der 
Dogmengeschichte 1 8 , S. 354 — „dass alles Apostehvort für die Kirche 
denselbeai Wert habe wie das Herrnwort“. Dieser Grundsatz machte 
selbstverständlich eine festgcschlossene Sammlung dessen nötig, was als Apostel- 
wort gelten sollte, und dieser Notwendigkeit entsprang die um die Wende des 
2. und 3. Jahrhunderts erfolgte Sammlung des Kanons, den wir heute in dem 

1 ) Adolf Hamack, Das Wesen des Christentums. 10 Vorlesungen 
vor Studierenden aller Fakultäten im Wintersemester 1899/1900 an der 
Universität Berlin, gehalten von Ad. Harnack (lö. — 20. Tausend). Leipzig, 
J. C. Hinrichs. (Preis geh. 3 M.) 

2 ) Wir erwähnen z. B. die in der Neuen Preuss. (Kreuz-) Zeitung 
und in der katholischen Zeitschrift „Natur und Offenbarung“ (Münster 1900) 
laut gewordenen Stimmen, 


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54 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 u. 2. 


Neuen Testament besitzen. Dieser Sammlung ward dann von der Kirche 
autoritative Geltung beigelegt, indem man sie für inspiriert erklärte. 

Es herrscht heute kaum eine Meinungsverschiedenheit darüber, dass 
die Idee des Reiches Gottes, wie sie die altchristlichen Zeiten ver- 
standen, in der kirchlichen Verkündigung stark zurückgetreten ist. Die 
Gründe dafür sind mannigfacher Art, ein wesentlicher Grund aber ist 
der, dass jene Idee nur dort verkündet werden kann, wo die Willens- 
freiheit, in welcher Einschränkung auch immer, anerkannt wird. Die Lehre 
vom Reiche Gottes im Sinne der Evangelien und der „Herrn worte“ schliesst 
die Lehre ein : „Erfülle deine Pflicht, damit du selbst besser und die Welt 
vollkommener und glücklicher werde“. Wer den Gedanken nicht anerkennt, 
dass Gott in den Menschen vernunftbegabte Wesen mit freiem oder doch 
bedingt freiem Willen geschaffen hat, kann keine genügende Erklärung für 
die Thatsache finden, dass diese Welt böse und unvollkommen und doch 
dazu bestimmt ist, gut und vollkommen zu werden. Jedenfalls findet sich 
jene Idee des Reiches Gottes überall nur dort nachdrücklich ausgesprochen 
und vertreten, wo zugleich die Idee der Willensfreiheit grundsätzlich zur 
Anerkennung gelangt ist. 

Im Jahre 529 n. Chr. liess Kaiser Justinian die platonischen 
Akademien alß angebliche Stützpunkte und Herde der Häresie aufheben, 
ihre Güter einziehen und alle Versammlungen verbieten. Damit ward eine 
Organisation verboten, welche fast ein Jahrtausend hindurch in der 
griechisch-römischen Welt bestanden und in allem Wechsel der Zeiten eine 
ausserordentliche Festigkeit bewiesen hatte. Wie mag es kommen, dass es 
bis auf diesen Tag keine Geschichte dieser Kultvereine giebt und dass kaum 
je ein ernsthafter Versuch gemacht ist, eine solche zusammenzustellen? 
Was über diese Akademien bekannt ist, haben wir früher hier zusammen- 
getragen ; s. Keller, Die Akademien der Platoniker im Altertum, M. H. der 
C.G. 1898, S. 269—293. Darüber sind mehr als zwei Jahre vergangen, 
ohne dass irgend ein weiterer Schritt zur Erkenntnis dieser überaus merk- 
würdigen Kultgenossenschaft geschehen wäre. 

|In dem Sprachgebrauch der freien Akademien und Sozietäten des Mittel- 
alters* und der neueren Jahrhunderte spielen Bezeichnungen und Ausdrücke, 
wie sie in den platonischen Akademien des Altertums nachweisbar sind, 
eine erhebliche Rolle. Abgesehen von Ausdrücken wie „Baumeister der 
Welt“ (aQxixexxcov) „Geometrie“ u. s. w. kehrt namentlich auch der Name 
Museum (novoelov) im 15. bis zum 18. Jahrhundert in den Sozietäten viel- 
fach wieder, allerdings unter halber Verschleierung des Begriffs, den man 
in das Wort hineinlegte. Als Mittelpunkt der von ihm gestifteten Kult- 
genossenschaft hatte Plato in beabsichtigter Anpassung an die antike Denkart 
den Kult Apollos und der Musen gewählt, der freilich für ihn und die 
Akademie nur eine symbolische Bedeutung besass. In der am Poseidons- 
hügel beim Dorfe Kolonos gelegenen Niederung der „Akademeia“ besass 
die neue Kultgenossenschaft als gemeinsames Eigentum von Freunden ein 


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1901. Nachrichten und Bemerkungen. 55 

Grundstück nebst Hörsälen. Bibliothek, Wohnräumen etc., als deren Mittel- 
punkt geschlossene, heilige Räume erscheinen, nämlich das Museum, d. h. 
ein Raum mit Bildnissen der Musen, der zu Kulthandlungen bestimmt war 
oder der Tempel. — Nun ist es doch sehr merkwürdig, dass nachweislich 
auch die „platonischen Akademien“ Italiens im 15. und 10. Jahrhundert, 
sowie deren Nachfolger in Deutschland und England „Museen“ besessen 
haben (vgl. Keller, Die römische Akademie etc. M. H. der C.G. 1899 S. 74). 
Wozu diese Museen bestimmt waren , darüber schweigen unsere Quellen 
und Berichte; aber wir wissen ja, dass diese „Akademien“ als „Geheim- 
bünde“ angeklagt wurden und vielleicht haben sie absichtlich den Begriff, 
den sie mit dem mehrdeutigen Worte verbanden, verschleiert. 


Wir haben an dieser Stelle öfter (zuletzt M. H. 1899 S. 315) die An- 
sichten bekannter Geschichtsforscher über die grundlegende Bedeutung des 
17. Jahrhunderts für den allgemeinen Umschwung der deutschen 
Geschichte gekennzeichnet. Zu den früher genannten Autoritäten (Treitschke, 
Roscher etc.) können wir auch Karl Biedermann zählen, der sich durch 
seine Geschichte Deutschlands im 18. Jahrhundert (Lpz. 2. Aufl. 1880) als 
einen der genauesten Kenner der in Betracht kommenden Zeitabschnitte 
erwiesen hat. Man vergleiche z. B. Biedermann a. O. II, 1 S. 197 ff., wo 
er geradezu sagt, dass der „allgemeine geistige Umschwung“ der 
deutschen Geschichte im 17. Jahrhundert vollbracht worden ist, und zwar 
nicht bloss auf dem Gebiete der Naturwissenschaften, sondern auch in der 
Gestaltung der äusseren Lebensverhältnisse. 

Manche von unseren Freunden, welche zwar einräumen, dass die 
neuere Geschichte, die mit 1815 abermals in eine neue, ihre neueste 
Phase eintritt, gleichzeitig mit dem Emporkommen Brandenburg -Preussens 
im 17. Jahrhundert in politischer und geistiger Beziehung beginnt, glauben 
doch, diese Beobachtung auf Deutschland beschränken zu müssen. Wir 
möchten sie nun, was England betrifft, auf die interessante kleine Schrift 
von Erich Mareks, Deutschland und England in den grossen europäischen 
Krisen seit der Reformation, Stuttg. 1900, verweisen, die auch aus anderen 
Gesichtspunkten eingehende Beachtung verdient. Hier sagt der Verf. (S. 17): 
„Das neue England ist .... in diesen Glaubens- und Staatswirren des 
17. Jahrhunderts durchgebildet worden: es hat damals seine volle Gestalt 
erhalten. In sein neues Zeitalter — das 18. Jahrhundert im weiteren 
Sinne, das Zeitalter, das 1688 beginnt und erst 1815 endet — trat es ein, 
protestantisch und parlamentarisch, unter monarchischen Formen wohl noch, 
aber in einer Verfassung, die wesentlich beherrscht war von der politischen 
Aristokratie“. Und ist nicht, wenn auch in vielfach abweichender Ent- 
wicklung, der Gang des geistigen I^ebens in Deutschland und England seitdem 
stark parallel gegangen? Haben nicht England und Brandenburg-Preussen 
unter Wilhelm von Oranien gemeinsam den grössten Kampf des 17. Jahrh., 
den Kampf gegen die Weltherrschaft Ludwigs XIV. und der Kurie ausge- 
fochten? Und ist nicht der Sieg des Protestantismus seit 1088 beiden gleich- 
zeitig zu gut gekommen ? Bis zum Jahre 1815 sind Frankreich und seine 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 u. 2. 


r>H 


Verbündeten die Todfeinde ebenso Englands wie Preussen-Deutschlands ge- 
wesen und ihr Fortschritt blieb an den Rückgang Frankreichs geknüpft. 


Nach dem Ausgang des 30 jährigen Krieges lag nicht nur der deutsche 
Wohlstand, sondern auch die politische Machtstellung der deutschen Nation, 
nicht nur die deutsche Wissenschaft, sondern auch das deutsche Selbstgefühl 
und jedes nationale Bewusstsein gebrochen am Boden. Dazu kam die Ver- 
engerung und Veräusscrlichung der Kirche, der Niedergang der Universitäten, 
die mit Hochmut auf Alles herabblickten, was über Thomas von Aquiuo und 
die symbolischen Bücher, über Aristoteles und das Corpus Juris oder die son- 
stigen kirchlich und wissenschaftlich gut geheissenen Autoritäten hinaus lag. 
Angesichts dieser Sachlage kann Jedermann ermessen, was es bedeutete, für 
die deutsche Sprache, die deutsche Kultur, für die exakten Wissenschaften 
und für neue und kirchlich anrüchige Autoritäten wie Baco u. A. einzutreten. 
Selbst wenn die Versuche, welche von den deutschen Gesellschaften in dieser 
Richtung gemacht worden sind, stümperhafter gewesen wären als es thatsäch- 
lich der Fall war, würde die verächtliche Behandlung derselben lediglich ein 
Beweis sein, dass die dünkelhafte Art, in welcher damals die herrschenden 
Mächte trotz ihrer Verrottung alles verurteilten, was ihrem Hochmut und 
ihren Herrschaftsinteressen widersprach, auch heute noch nicht erloschen ist. 


Die Geschichte des Wortes Toleranz ist mit dpr Geschichte der Sache 
und des Grundsatzes der Toleranz viel enger verknüpft als es auf den 
ersten Blick scheint. Nach der bisherigen, unseres Wissens unwidersprochen 
gebliebenen Annahme, ist der Ausdruck tolerantia, den das Mittelalter nach 
Ausweis der grossen Wörter -Sammlungen von Du Cange und Brinkmeier 
cbensow’enig gekannt hat wie die Sache, von Comenius wenn nicht auf- 
gebracht, so doch jedenfalls erst in weitere Kreise getragen worden. Die 
ersten Spuren eines ausgedehnteren amtlichen Gebrauchs finde ich dann 
in den Edikten des Grossen Kurfürsten , besonders in den Jahren 1602 
und 1664. In dem Erlass vom 2. Juni 1662, durch welchen Friedrich 
Wilhelm den religiösen Frieden in seinem Lande befördern wollte, beruft 
er sich für sein Vorgehen auf „das Exempel“ der ersten christlichen Kaiser, 
welche „die Ungleichheit der Religion nicht durch Gewissenszwang, sondern 
durch christliche Concilia und andere freundliche Mittel zu schlichten oder 
zum wenigsten, die dissentierenden bei ungleichen Meinungen zur christ- 
lichen Toleranz und Bescheidenheit anzuhalten“ sich bemüht hätten. 
Verfasser dieses und des später folgenden sog. Toleranz-Edikts vom 16. Sep- 
tember 1664 war der ref. Hofprediger Bartholomäus Stosch. Mit der 
Einführung und Durchsetzung dieses Wortes war in den grossen Kampf 
um die Glaubensfreiheit ein Schlag wort hi nein geworfen und gleichsam 
eine Fahne aufgepflanzt, um welches sich die Freunde der Sache sammeln 
konnten. Wer den Verlauf derartiger Kämpfe kennt, weiss, was eine solche 
Errungenschaft unter Umständen bedeutet. 

Wir haben eben bemerkt, dass sich der Grosse Kurfürst in seinem 
Kampfe für die Toleranz auf das Vorbild der ältesten Christenheit berief. 


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1901 . 


Nachrichten und Bemerkungen. 


57 


Die gleiche Erscheinung lässt sich bei allen Theoretikern der Toleranz jener 
Jahrhunderte beobachten, so z. B. auch bei Samnel Pnfendorf in seiner 
bahnbrechenden Schrift über das Verhältnis der christlichen Religion zum 
Staate (1687), in der er dafür eintrat, dass der Begriff des „Verbrechens 
der Ketzerei“ aus dem Strafrecht, in dem es bisher eine sehr grosse Rolle 
spielte, verschwinden müsse. Zum Beweise berief er sich u. A. auf das 
ursprüngliche Christentum. Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, dass 
nach Treitscbke (Hist. u. polit. Aufsätze IV, 280) Pufendorf eine so weit- 
herzige Auffassung der Toleranz vertrat, wie -sie bisher nur von einzelnen 
Arminianern vertreten worden war. Selbst Mil ton, der englische Ver- 
künder der Gewissensfreiheit, glaubte die katholische Kirche, die er als eiuen 
verhüllten Staat betrachtete, nicht mit gleichem Masse messen zu dürfen. 


In der (oben erwähnten) Festausgabe des Hohen zollern - Jahrbuchs 
Bd. IV (1900) S. 176 findet sich folgendes Urteil Adolf Ha rnacks über Daniel 
Ernst Jablonskl und Comenlus: „Während Spener im Stillen arbeitete und 
sich seine lutherischen Kollegen Schade und Porst — dieser der Heraus- 
geber eines viel gebrauchten Gesangbuches — nicht wesentlich über das 
Niveau der damaligen Geistlichkeit erhoben, war der reformierte Hofprediger 
Jabionski, der Unität der böhmischen Brüder entstammend, ein rastlos ge- 
schäftiger und nach aussen wirkender Theologe. Den Ökumenischen 
Protestantismus, dem alle nationalen Ecken und Kanten fehlten, hatte 
er als ein Erbteil seines Heimatlandes und seines Grossvaters 
überkommen. Er war ein Enkel des Arnos Comenius, und so war ihm 
die religiöse Toleranz, die Richtung auf das, was allen Prote- 
stanten gemeinsam ist, das unermüdliche Streben, sie zu einigen 
und die Bedrängten zu schützen, die praktische Haltung in der 
Religion und der Kontakt mit allen idealen Bestrebungen von 
Jugend auf etwas Selbstverständliches. Mit gründlicher Kenntnis der refor- 
mierten Kirchen anderer Länder und der englischen Staatskirche, die er 
besonders schätzte, und mit einer trefflichen theologischen Bildung verband 
er eine sichere Einsicht, dass alles Denken und Reden auch in der Kirche 
unfruchtbar bleibt, wenn es nicht zur That treibt und neue zweckmässige 
Organisationen hervorruft. Er hat, drei preussischen Königen dienend, einen 
sehr hervorragenden Anteil an der Kirchen politik des Staates, die so eng 
mit der Politik verbunden war, genommen und die geheimen Unions -Ver- 
handlungen mit Hannover und im eigenen Lande geleitet. Er hat neben 
Leibniz sich das grösste Verdienst um die Stiftung der Sozietät 
der Wissenschaften in Berlin erworben u. s. w. 

Wir haben uns gewöhnt, den Siebenjährigen Krieg vornehmlich 
in weltpolitischer Hinsicht zu betrachten und seine Ergebnisse vorwiegend 
in der Verschiebung gewisser staatlicher Machtverhältnisse zu erblicken. 
Das ist gewiss ein wichtiger Gesichtspunkt; aber es ist notwendig, auch die 
anderweiten Wirkungen dieser grossen Schicksalskrise der europäischen Welt 
ins Auge zu fassen. In dieser Richtung hat Erich Mareks neuerdings 
zutreffend Folgendes bemerkt (Deutschland und England in den grossen 


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58 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 u. 2. 


europäischen Krisen seit der Reformation, Stuttg. 1900 S. 23): Der Sieben- 
jährige Krieg „war in der Hauptsache kein bewusster Glaubens- 
krieg und doch ein Sieg der schwer bedrohten protestantischen 
Gewalten in der Welt; er war kein bewusster und durchaus kein reiner 
Rassenkrieg und doch ein Sieg der beiden germanischen Vormächte; er 
war von unendlicher Bedeutsamkeit“. Auch Friedrich der Grosse hat die 
Bedeutung seiner Kämpfe für den Protestantismus sehr wohl gefühlt und 
sich gelegentlich auch in diesem Sinne ausgesprochen. Man kann doch 
nicht umhin — auch Mareks weist darauf hin — den Siebenjährigen Krieg, 
sofern er in dein angedeuteten Sinn ein Glaubenskrieg war, in einen gewissen 
Zusammenhang zu setzen mit den grossen politischen Kämpfen des 17. Jahr- 
hunderts gegen die französisch -klerikale Weltherrschaft, die mit der Er- 
oberung Englands durch Wilhelm den Oranier endeten. Man weiss (vgl. 
M. H. 1899 S. 317 f.), dass um das Jahr 1G85 die Pläne Ludwigs XIV. 
und der Kurie in ähnlicher Weise der Verwirklichung nahe waren wie ums 
Jahr 1629, und dass es der Befreierzug Wilhelms von Oranien war, der die 
Wendung herbeiführte. Weniger bekannt aber ist, dass an Bord der Schiffe, 
die das Heer der Befreier trugen, sich auch brandenburgische Truppen be- 
fanden und dass die Erfolge, die erzielt wurden, ebenso wie im Siebenjährigen 
Kriege auf dem Bündnis zwischen England und Brandenburg - Preussen be- 
ruhten. Der innere Kitt dieses Bündnisses aber war die protestantische 
Weltanschauung, die die massgebenden Männer verband. 

Dr. theol. G. Uhlhorn, Abt zu Loccum, hat im Jahre 1890 ein 
dreibändiges Werk über „Die christliche Liebesthätigkeit“ veröffent- 
licht, das für die Geschichte des christlichen Humanismus, die wir hier 
verfolgen, sehr schätzenswerte Beiträge enthält. Zwar sind weder der ältere 
Pietismus noch die Aufklärung für Uhlhorn sympathische Erscheinungen, 
aber er sagt doch ausdrücklich, dass „die reiche Liebesthätigkeit 
unseres Jahrhunderts eine ihrer Wurzeln im Pietismus und die 
andere in der Aufklärung hat“ (III, 263). Beide Richtungen haben 
(nach U.) zusammengewirkt, um das Interesse an ethischen Fragen 
in weiteren Kreisen wachzurufen. Den deutlichsten Beweis dafür liefern die 
zahlreichen moralischen Wochenschriften, die damals auftauchten. 
„Zu den in diesen Zeitschriften viel besprochenen Gegenständen 
gehört nun auch die Armenpflege.“ Im Unterschied vom Pietismus, 
welcher (nach U.) an der Entfaltung der Liebesthätigkeit dadurch gehemmt 
wurde, dass es an einer Schicht im Volke fehlte, die dafür Interesse gehabt 
hätte, gelingt es der Aufklärung, eine solche Schicht zu finden und zwar 
im Bürgerstande. — Uhlhorn sieht sich genötigt, zuzugestehen (III, 271), 
dass „bei den altkirchlichen Dogmatikern nur wenig Nachdruck auf die 
dienende und helfende Nächstenliebe fällt; letztere bekommt fast die Färbung 
des noch nicht Vollchristlichen, denn Nächstenliebe findet sich auch bei 
Heiden und Juden und ist ein Stück der natürlichsten Moral“. Den Gedanken, 
dass das Christentum zugleich wahre Menschlichkeit (also Humanität) 
ist, hatte (nach IT.) die Orthodoxie verkümmern lassen. 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


59 


Das Eintreten für Sokrates, d. h. für die sokratische bezw. platonische 
Philosophie ist ein so wesentliches Merkmal der „Deutschen Gesellschaften“, 
dass sie gelegentlich auch „sokratische Gesellschaften“ entweder sich 
selbst nennen oder von anderen genannt werden. Bei der gefährlichen Feind- 
schaft indessen, welche die Vertreter der überlieferten Rechtgläubigkeit dein 
Platonismus entgegenbrachten (s. Keller, Christentum und Platonismus, in 
den M.H. der C.G. 1901 S. 7 ff.), war es natürlich immer sicherer, den harm- 
loseren der beiden Namen in Gebrauch zu behalten. In demselben Sinne 
nun treten die moralischen Wochenschriften für Sokrates mit Absicht- 
lichkeit in die Schranken. Das war schon bei dem „Spectator“ der Fall, dann 
bei dem „Patrioten“. Im Jahre 1725 erschien eine Dresdener moralische 
Wochenschrift unter dem Titel: „Der Dresdener Sokrates“, im Jahre 1727 
zu Leipzig „Der Biedermann oder der Leipziger Sokrates“; im Jahre 1748 
kam zu Berlin eine gleiche Zeitschrift mit dem Titel „Der deutsche Sokrates“ 
heraus u. s. w. Die moralische Wochenschrift der „Freymaurer“ (1738) war 
dem Sokrates gewidmet. Es handelt sich hier um ein wesentliches und 
durchgehendes Merkmal sowohl der Akademien und Sozietäten wie deren 
Wochenschriften, wie endlich auch der gesamten maurcrischen Litteratur. 
Beruht das lediglich auf zufälligen Umständen? Wenn ja, wie kommt es 
dann, dass in den freien Akademien aller früheren christlichen Jahrhunderte 
bis auf die Zeiten der ueuplatonischen Akademien herab die gleiche 
Erscheinung zu Tage tritt? 

Der ablehnende Standpunkt, den die Vertreter der kirchlichen Recht- 
gläubigkeit seit Jahrhunderten zu Sokrates eingenommen haben, ist im 
18. Jahrhundert von zwei der bekanntesten Theologen ihrer Zeit, nämlich 
von dem niederländischen Calvinisten Petrus Hofstede (1716 — 1803) und 
von dem deutschen Lutheraner Johann August Ernesti (1707 — 1781) unter 
dem lebhaften Beifall der gesamten Orthodoxie von neuem wissenschaft- 
lich dargelegt und begründet worden. Der sog. sokratische Krieg, der 
seit 1768 in Folge einer für Sokrates eintretenden Schrift des Franzosen 
J. F. de Marmontel entbrannte, wurde mit grosser Heftigkeit geführt und 
Hofstede übernahm auf kirchlicher Seite mit solchem Geschick die Führung, 
dass seine Gegenschrift in kurzer Zeit drei Auflagen erlebte (1769) und als- 
bald in zwei deutschen Ausgaben verbreitet wurde. Ernesti kam ihm in 
seiner „Neuen Theol. Bibliothek“ Bd. IX, Heft 6 p. 514 ff. wirksam zu 
Hülfe. Der Kampf richtete sich besonders auch gegen die Arminianer, die 
sich auf die Seite der Sokratiker gestellt hatten. 


Benjamin Franklin und die moralischen Wochenschriften. Franklin 
giebt in seinem „Leben, von ihm selbst beschrieben“ (Stuttgart 1876) Mit- 
teilungen über seine Bemühungen, bildend und erziehend auf die Zeit- 
genossen einzuwirken. Er gab zu diesem Zwecke unter dem Namen Richard 
Saunders seit 1732 einen Kalender heraus, den er 23 Jahre hindurch fort- 
setzte. „Ich gab mir Mühe, ihn sowohl unterhaltend als gemeinnützig zu 
machen. . . . Da ich bemerkte , dass er allgemein gelesen wurde ... so 
betrachtete ich ihn als das geeignete Mittel zur Verbreitung von Belehrung 


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60 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 u. 2. 


unter dem gemeinen Volke, das kaum irgend welche andere Bücher kaufte . . . 
Ich druckte, fährt er fort, in dieser Absicht häufige Auszüge aus 
dem Spectator und anderen moralischen Wochenschriften ab“... 
Daraus erhellt, dass die Herausgeber des Spectator, Addison und Steele, 
nicht bloss auf Deutschland, sondern auch auf die Vereinigten Staaten von 
Einfluss gewesen sind. 

Um das Jahr 1724 gab es in Merseburg eine „patriotische Assem- 
bl£e 44 , die sich wöchentlich versammelte und die mit der Wochenschrift der 
„Patriot“ in Hamburg in Verbindung stand. Merseburg war damals fürst- 
liche Residenzstadt und zwar residierte hier bis zu seinem 1724 erfolgten 
Tode der Enkel Herzog Ernst des Frommen von Sachsen - Gotha , den 
wir als Mitglied der „Deutschen Sozietät“ des Palmbaums kennen, Herzog 
Ernst Ludwig von Sachsen -Meiningen , dem seit 1724 sein Sohn Ernst 
Ludwig JI. folgte. Es ist doch keineswegs ohne Bedeutung, dass diese 
„patriotischen Gesellschaften“ selbst in so kleinen Residenzen wie Merseburg 
damals förmlich organisiert waren; diese Thatsache deutet darauf hin, dass 
sie eine grössere Verbreitung hatten als wir heute ahnen. 


Wir haben früher nachgewiesen (s. Ludwig Keller, Die Gegen- 
reformation, Lpz., S. Hirzel 1881 ff. Bd. I — III), dass die Evangelischen 
des westlichen Deutschlands unter dem Druck der Gegenreformation und 
der Ketzergesetze bis tief in das 17. Jahrhundert hinein eine festgeschlossene 
Organisation „heimlicher Gemeinden 44 (so lautet die stehende Bezeichnung, 
wie sie unter den Evangelischen selbst üblich war) besassen. Darüber findet 
sich in den neueren protestantischen kirchengeschichtlichen Handbüchern 
nichts aufgezeichnet, weil die Thatsache zu der Verurteilung der sogenannten 
geheimen Gesellschaften, wie sie hier üblich ist, nicht recht passt. Wer 
aber einmal die Quellen genauer geprüft hat, der weiss, dass auch noch am 
Ausgang des 17. und vielleicht sogar am Anfang des 18. Jahrhunderts viele 
flüchtige Hugenotten „heimliche Gemeinden“ in solchen lutherischen 
und anderen Ländern besessen haben, wo ihre gottesdienstlichen Versamm- 
lungen verboten waren. So, besassen u. A. die Hugenotten zu Dresden 
seit 1688 eine heimliche Gemeinde; seit dem Sommer 1689 hielten sie ganz 
heimlich in einem Hause in der Schlossergasse zu Dresden Gottesdienste. 
Bei verschlossenen Thüren — man stellte sogar Posten aus — wurde ge- 
predigt, getauft und das Abendmahl genossen. Einzeln fanden sich die 
Teilnehmer ein und einzeln gingen sie wieder von dannen. Das hinderte 
aber nicht, dass die Sache verraten und alsbald auch von dem lutherischen 
Oberkonsistorium zu Dresden „im Interesse des göttlichen Wortes“ verboten 
ward. Wo und wie fanden aber die zahlreichen Hugenotten Befriedigung 
ihrer religiösen Bedürfnisse, deren Zahl zu klein war, um für sich eine 
„heimliche Gemeinde“ zu begründen? 

Dass die Evangelischen des 16. Jahrhunderts ausser in vielen 
Städten Italiens, Frankreichs, des Niederrheins u. s. w. auch in Spanien als 
Geheimbuud bestanden, beweisen die Forschungen E. Schäfers über die 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


61 


Vereinigung von 40 französischen Protestanten, welche um das Jahr 1560 
in Toledo bestand. Die spanische Inquisition bereitete diesem Bunde im 
Jahre 1565 ein jähes Ende (Zts. f. Kirchengeschichte Bd. 21, Heft 3). 


In der Geschichte der Sozietäten und Akademien des 17. und 18. Jahr- 
hunderts spielt uuter den sonstigen Symbolen und Erkennungszeichen auch 
das sogenannte Kleinod, der „Brustpfennig“ oder „Zunftschmuck“ (s. M.H. 
der C.G. 1895 S. 70) unter verschiedenen Namen eine Rolle. Dieses Kleinod 
stellte eine Art Denkmünze (Medaille) dar, auf deren einer Beite eine 
symbolische Darstellung (z. B. ein Baum, ein Berg, ein Palmzweig, eine Lilie etc.) 
und auf deren anderer der Name der Sozietät oder ein Denkspruch angebracht 
zu sein pflegten; als Denkzeichen unserer Gesellschaft haben wir das Kleinod 
gewählt, das Comenius besessen hat. In den italienischen Akademien des 
15. Jahrhunderts erscheint auch die Kelle als solches Kleinod oder „Brust- 
pfennig“. Diese Denkmünzen waren ursprünglich lediglich Marken, die zum 
Ausweis der Mitgliedschaft bestimmt waren; Niemand wurde zu den 
heimlichen Versammlungen der Akademien zugelassen, der dies Zeichen 
nicht besass; es war dies also ein Schutzmittel gegen das Eindringen von 
Unberufenen oder Verrätern, das in früheren Zeiten nötig gewesen war, das 
aber von dem Augenblick an bedeutungslos wurde, wo die Versammlungen 
öffentliche wurden. — Sehr merkwürdig ist nun, dass sich solche Marken, 
und zwar mit auffallend gleichen Symbolen und Abzeichen versehen, auch 
unter den französischen Reformierten und den flüchtigen Hugenotten 
finden : Niemand wurde zur Teilnahme am Abendmahl zugelassen, der diese 
Marke — sie hiess möreau im Sprachgebrauch der Hugenotten — nicht auf- 
weisen konnte. Die im Geheimen bestehende Hugenotten -Gemeinde in Dres- 
den besass seit 1688 ein solches Möreau, ebenso die Leipziger; das letztere 
zeigt einen abgehauenen, frische Zweige treibenden Baumstamm mit der Um- 
schrift: Deus det incrementum. (Vgl. über diese Marke Paul Weinmeister 
in den Blättern für Münzfreunde 1900 Nr. 11.) 


Die Mitglieder der Sozietäten und Akademien des 15., 16. und 
17. Jahrhunderts erhielten bei der Aufnahme (die unter vorgeschriebenen 
Ceremonien erfolgte) einen Brudernamen ; in der deutschen „Sozietät des 
Palmbaums“, der sog. fruchtbringenden Gesellschaft, waren diese Namen 
deutsche, auch in der schweizerischen „Sozietät der Maler“ scheinen 
deutsche Brudernamen in Gebrauch gewesen zu sein. Merkwürdig ist nun, 
dass in der „Sozietät der Maurer“ im 18. Jahrhundert auch in Deutsch- 
land ebenfalls Brudernamen, und zwar französische, auftauchen. Dies 
war z. B. in Dresden und in Naumburg in den dortigen Sozietäten — es 
kommt damals schon der Name „Loge“ vielfach neben „Sozietät“ vor — 
der Fall. (S. Wilhelm Keller, Geschichte der Freimaurerei in Deutsch- 
land, Giessen 1859 S. 92 f.) 

Wir haben vor einigen Monaten (s. M.H. der C.G. 1899 S. 317) im 
Anschluss an eine Besprechung von F. Kattenbusch über das Werk von 
Ferd. Katsch, „Die Entstehung und der wahre Endzweck der Freimaurerei“ 


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62 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 u. 2. 


in der Historischen Zeitschrift den Wunsch ausgesprochen, dass die Historiker 
sich den hier erörterten Fragen, die nach Kattenbusch’s Urteil auch für die 
allgemeine Geistesgeschichte wichtig sind, mehr als bisher zu wenden mögen. 
Wir wollen nicht unerwähnt lassen, dass eine eingehende Besprechung desselben 
Werkes in der Zeitschrift für Kulturgeschichte (hrsg. von Dr. Georg 
Steinhausen in Jena, Verlag von Emil Felber, Berlin) Band VIII (1900) 
S. 77 ) ff. diesem Wunsche in gewissem Sinne Rechnung trägt. Wir freuen 
uns, dass die unleugbaren Verdienste, die sich Katsch trotz aller Einwen- 
dungen, die auch wir erheben mussten, erwerben hat, von dem Bericht- 
erstatter (J. Plew' in Bartenstein) anerkannt werden. Wichtig und richtig 
erscheint uns auch die Bemerkung des Herrn Referenten, die er in Bezug 
auf die Natur der von Katsch in Angriff genommenen, aber keineswegs 
gelösten Frage macht, indem er sagt: „Es ist ohne Frage eines der 
schwierigsten Probleme der Kulturgeschichte, dessen vollkommen 
befriedigende Lösung bei der Eigenart des ganzen Ordens und der Natur 
der Quellen seiner Geschichte wohl noch lange auf sich warten lassen wird, 
aber von dem verdienten Verfasser um einen erheblichen Schritt vorwärts 
geführt ist“. 

Wir haben früher (M.H. der C.G. 1899 S. 19f>) das Gebet mitgeteilt, 
welches nach dem altenglischen Lehrlings -Katechismus bei der Aufnahme 
in die „Sozietät der Maurer“ üblich war. Dazu macht Karl Christian 
Friedrich Krause in seinen drei ältesten Kunsturkunden etc. Dresden 1810, 
S. 348, noch folgende Bemerkungen, die uns nicht bloss, weil sie aus dem 
Munde eines so hervorragenden Denkers kommen, beherzigenswert erscheinen : 
„Es gereicht den Verfassern dieses schönen Gebets zur Ehre, dass dasselbe 
vom Glauben an Jesus und von Liebe zu ihm beseelt ist; um so mehr, da 
sonst keine kirchlich-dogmatische Behauptung darin vorkommt . . . Jesus muss 
als Mensch dem Menschenbunde ewig heilig sein; denn durch seine 
Lehre, Leben und Sterben ist Er für die Erziehung des Menschengeschlechts 
mehr geworden und ist noch jetzt mehr als es irgend einem Menschen ge- 
lungen ist. Mehr als sechzig Geschlechter, aus den gebildetsten, mensch- 
lichsten Nationen haben sich, Ihn als Ideal w r ahrer, gottinniger Menschlich- 
keit im Auge, zu Menschen gemacht; ihr Glaube und ihre Hoffnung auf 
Gott und Menschheit wurden durch ihn erweckt, erhalten, erhöht; auf Ihn 
gestützt haben sie den Heldenkampf für Tugend und Recht gekämpft und 
sind, sein göttliches Bild geistig best hauend, in eine höhere Ordnung der 
Dinge sterbend eiugetreten. Dies ist eine Thatsache der Menschengeschichte, 
welche anzuerkennen und zu bewundern Jedem angemutet werden kann, 
der dadurch, dass er sich zum Maurerbund gesellt, zu erkennen giebt, dass 
Menschlichkeit und Menschheit ihm lieb und teuer sind; er bekenne sich 
nun zur christlichen, jüdischen, türkischen oder zu sonst einer Verehrung 
des göttlichen Wesens. Denn die Erkenntnis des wahrhaft Religiösen im 
Heidentum, Judentum und im Mohamedanismus, sofern sie von Aberglauben 
frei ist, besteht recht gut mit dieser Verehrung Jesu und seiner erhabenen 
Verdienste um die Menschheit. Ein Pythagoras, Plato, Cicero, Seneca würden 
Jesum innig lieben und verehren, wenn sic sich auch nicht entschliessen 


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1901. 


Nachrichten lind Bemerkungen. 


63 


dürften, die Kirchenlehren irgend eines christlichen Systems zu unterzeichnen 
und an den gottesdienstlichen Gebräuchen irgend einer Kirchenpartei vollen 
Anteil zu nehmen. Diese Ansicht Jesu als eines gottinnigen Menschen, als 
Erzieher des Menschengeschlechts, ist es, welche wir als Maurer 
festhalten und ausbilden müssen; die Ansicht seines Verhältnisses zu Gott 
und zum Wesen Gottes überlassen wir der Kirche und dem Gewissen jedes 
Mitbruders. Die Idee gottinniger Menschheit erkannte Jesus gewiss und 
die reinste Liebe zur Menschheit beseelte Ihn ; die Menschheit erschien Ihm 
als ein Bürger des Einen unendlichen und ewigen Reiches Gottes, welches 
alle Wesen und alles Leben umfasst. Der Menschheitbund geht seinem 
Wesen nach auf die Ausbildung zur Menschlichkeit und auf den inneren 
Ausbau der Menschheit innerhalb des ganzen Umfangs der Menschen natu r. 
Daher nannte ich auch die Freimaurerei, sofern sie als Keim des Me n sehen - 
bu ndes diesem hohen Berufe treu bleibt, eine jenem Reiche Gottes wesent- 
liche Anstalt und sagte, dass sie einen wesentlichen Teil dieses ewigen 
Gottesreiches ausmache.“ 


In den älteren freien Akademien war (ähnlich wie später in den 
Königlichen) die Zahl der Mitglieder fest begrenzt, und zwar er- 
scheint besonders häufig die Zwölfzahl oder doch eine durch drei teilbare 
Zahl, z. B. 24 oder 30. Die „Akademien“ waren innere Ringe innerhalb 
der „Sozietäten“, d. h. es waren zwar alle Mitglieder der Akademien zugleich 
„Gesellschafter“, aber nicht alle „Gesellschafter“ waren Angehörige der 
Akademien. Wurde eine der Stellen der Akademie frei, so erfolgte die 
Zuwahl aus dem Kreise der „Gesellschafter“ oder der „Socii“, und die Auf- 
nahme in die Akademie, deren Angehörige sich unter einander Brüder 
nannten, war mit feierlichen Handlungen verbunden. Merkwürdig ist, dass 
die gleichen Einrichtungen sich auch in der „Sozietät der Maurer“ bis in 
die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts an vielen Orten nachweisen lassen '), 
nur mit dem Unterschied, da*s an Stelle des Wortes „Akademie“ meistens 
(aber nicht immer 2 ) der Ausdruck „Loge“ gebraucht ward. In sehr vielen 
Logen oder Akademien (s. W. Keller, Geschichte der Freimaurerei in 
Deutschland, 2. Aufl. Giessen 1859 S. 95 f.) war eine bestimmte Zahl von 
Brüdern festgesetzt, die nicht überschritten werden durfte. Daneben gab es 
aber sonstige Angehörige der „Sozietät“ oder Genossen und zwar wird be- 
richtet, dass es auch unter den „Socii“ verschiedene Grade gegeben habe. 
Erst wenn der dritte dieser Grade erreicht war, konnte ein solcher nach 
nochmaliger Ballotage Mitglied der „Loge“ werden. Allmählich kürzte man 


*) Die Loge „Zur Einigkeit“ in Frankfurt a. M. setzte die Zahl der 
wirklichen Mitglieder im Jahre 1763 auf 30 Personen fest; die im Jahre 
1754 durch von Sporcke in Wien begründete Loge beschränkt die Zahl der 
Mitglieder auf 12; sie arbeitete im tiefsten Geheimnis. Je gefährdeter die 
Lage einer Loge war, um so geringer pflegte die Zahl der Mitglieder zu sein. 

*) In der Loge zu den drei Rosenknospen zu Bochum war der Aus- 
druck „Akademie“ noch im Jahre 1792 statt „Loge“ in überwiegendem 
Gebrauch. Nicht einmal das Verbot der Grossloge vom 16. Juli 1792 ver- 
mochte diesen Brauch ganz zu beseitigen. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 1 11 . 2. 


die Wartezeit der Vorstufe ab — in Halberstadt konnte Jemand schon 
6 Wochen (in Halle 4 Wochen) nach der Aufnahme in die Vorstufe auch 
wirkliches Mitglied der Loge werden — und nach und nach fiel diese Vor- 
stufe ganz weg. Damit wurde auch der Name „Sozietät“ überflüssig, der 
denn auch seit der Mitte des 18. Jahrhunderts mehr und mehr verschwindet. 
Auffallend ist, dass um die gleiche Zeit eine neue Vorstufe und ein neuer 
innerer Ring in die Erscheinung tritt: in die Stelle der Akademien als innerer 
Kreis treten die sogenannten „Andreas-Logen“, die zuerst in Schottland 
nachweisbar sind, und als deren äusserer Kreis erscheinen die „Johann is-Logen“, 
die in dieser Form aus England stammen. Die Formen und die Namen 
hatten sich geändert, die Sache war die alte geblieben. 


Die Bedeutung der Akademien nnd Sode täten beruhte u. A. darauf, 
dass sie auf Grund ihrer eigenartigen uralten Verfassung Erziehungs- 
institute allerersten Ranges waren, nämlich Erziehungsstätten für die 
eigenen Mitglieder, die dabei die schwere Kunst erlernten, in aufopfern- 
der, vernünftiger Weise sich in ein festgeschlossenes Ganze einzufügen 
und an einem grossen Werke mitzuarbeiten, ihre Talente, besonders 
rednerische, musikalische und dichterische auszubilden und das 
also Erworbene auch ausserhalb der geschlossenen Räume nutzbar zu machen. 
In einer Zeit, wo es keine Parlamente, keine Volksversammlungen und Ver- 
eine im heutigen Sinne gab, waren diese „Philosophen-Schulen“ in der That 
wichtige Schulen für viele Mäuuer, die sonst in ihren Studierzimmern ver- 
kümmert wären. 

Die älteren „Sozietäten“ haben den bestehenden Kirchen von 
jeher erhebliche Dienste geleistet. Jeder, der den Dingen tiefer auf den 
Grund sieht, wird sich durch den Schein des Gegenteils nicht täuschen 
lassen. Die „Akademien“ haben es sich von je zur Aufgabe gemacht, den 
Menschen ewige Wahrheiten durch Hüllen zu vermitteln, welche für 
viele Personen der einzige Weg sind, um für sie das ewige Licht, nach 
ihrem Auge gemässigt, durchschimmern zu lassen. Gewiss hat es stets 
Menschen gegeben, die kurzsichtig genug waren, diese Hüllen für das Wesen 
der Sache zu halten; aber die besseren Geister waren sich stets bewusst, 
dass es sich um vergängliche Hüllen handelt, die in dem Augenblicke 
fallen können, wo die stumpfen Augen der Massen von dem Glanze des 
ewigen Lichtes nicht mehr geblendet, sondern erwärmt und erleuchtet werden. 


Buckdruckerei von Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Die Comenius-Gesellschaft 

zur Pflege (1er Wissenschaft und der Volkserzieliung 

ist am 10. Oktober 1 SOI in Berlin gestiftet worden. 

Mitglioderzahl 11)01: rund 1200 Personen und Körperschaften. 


Gesellschaltssehriften: 

1. Die Monatshefte der C.-G. Deutsche Zeitschrift 'zur Pflege der Wissenschaft 
im Geiste des Comenius. Herausgegeben von Ludwig Keller. 

Band 1—0 ( 181 »2 — 1000) liegen vor. 

2. Comenius-Blätter für Volkserziehung. Mitteilungen der Comenius-Gesellschaft. 

Der erste bis achte Jahrgang ( 1893 — 1000) liegen vor. 

3. Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. Zwanglose Hefte zur Ergänzung der 
M.-H. der C.-G. 

Der Gesamtumfang der Gescllschnftsschriftcn beträgt etwa 32 Bogen Lex. 8°. 


Bedingungen der Mitgliedschaft: 

1. Die Stifter (Jahresbeitrag 10 M.; 1 2 Kr. österr. W.) erhalten die M.-H. der C.-G. 
und die C.-Bl. Durch einmalige Zahlung von 100 M. werden die Stifterrechte 
von Personen auf Lebenszeit erworben. 

2. Die Teilnehmer (Jahresbeitrag f> M.; 6 Kr. österr. W.) erhalten nur die Monats- 
hefte; Teilnehmerrechte können an Körperschaften nur ausnahmsweise verliehen 
werden. 

3. Die Abteilungsmitglieder (Jahresbeitrag 3 M.) erhalten nur die Comenius- 
Blätter für Volkserzieliung. 


Anmeldungen 

sind zu richten an die Geschäftstelle der C.-G*, Berlin NW., Bremerstr. 71. 

Der Gesamtvorstand der C.-G. 

Vorsitzender : 

Pr. Ludwig Keller, Geheimer Mnatsarrhivar und Geheimer Archiv-Kat, in Borlin-Charlottonburg, 

Kcrlincr Str. 22 . 

Stellvertreter des Vorsitzenden: 

Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath, M. d. Ii., Schlot*« Amtitz (Ktvis Gülten). 

Mitglieder: 

Prediger 1). Pr. Th. Arndt, Berlin. Pirektor Pr. Begemann, Charlott*-nhurg. Prof. W. Bötticher, Hagen 
tWcstf.t Stndtrat a. P. Herrn. Heyfelder, Verlagsburhhändler , Berlin. Prof. Pr. Hohlfeld, Presen. 
M. Jablonski, General-Sekretär, Berlin. Israel, Oberscluilrat a. D., Presden-Blasewitz. W. J. Leendertz, 
Prediger, Amsterdam. Prof. Pr. Nesemann, Lissa ( Posen». Seminar- Pirektor Pi. Heber, Bamberg. Pr. 
Hein, Prof, an d. Universität Jena. Pr. Schwalbe, Reaigymn. -Pirektor u. Stadtverordneter, Berlin. Hofrat 
Prof. Pr. B. Suphan, Weimar. Univ. -Professor Pr. von Thudichum, Tübingen. Prof. Pr. Waetzoldt, 
Geh. Reg. -Rat u. Vortragender Rat im Kultusministerium, Berlin. Pr. A. Werntcke, Pirektor der städt. Ober- 
realscbule u. Prof. d. techn. Hochschule, Braunschweig. Weydmann, Prediger, Crefeld. Prof. Pr. Wolfstieg, 
Bibliothekar des Abg.-H., Berlin. Prof. P. Zimmer, Direktor des Ev. Diakonie- Vereins, Berlin-Zehlendorf. 

Stellvertretende Mitglieder : 

Lehrer R. Aron, Berlin. J. G. Bertrand, Rentner, Berlin-Siidende. Pastor Bickerich, Lissa (Posen). 
Dr. Gustav Diercks, Berlin-Sieglitz. Prof. H. Fechner, Berlin. Bibliothekar I)r. Fritz, Charlottenburg. 
Geh. Regierungs- Rat Gerhardt, Berlin. Prof. G. Hamdorff, Malchin. Oberlehrer Pr. Heubauxn, Berlin. 
Univ.-Prof. Pr. Lasson, Berlin -Friedenau. Piakonus K. Mämpel, Eisenach. Univ. -Prof. Pr. Natorp, 

Marburg a./L. Bibliothekar Pr. NÖrrenberg, Kiel. Rektor Rissmann, Berlin. Land tags- Abg. v. Schencken- 
dorfif, Görlitz. Archivar Pr. Schuster, Charlottenburg. Slamenfk, Bürgerschul-Direktor, Prerau. Univ.- 
Prof. Dr. H. Suchier, Halle a. S. Univ.-Prof. Pr. Uphues, Halle n. 8. Oberlehrer W. Wetekamp, 

M.d.A.-IE, Breslau. 

Schatzmeister : Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstras.se. 


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Kernfragen 


höheren Unterrichts 


l)r. Oskar Weisseufels, 

Professor am Königl. Französischen (■ymnasium in Berlin. 

XVI und 352 Seiten gr. s°. (> 31k., geh. 7 31 k. SO Pfsr. 


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Der echte 


und der 

Xenophontische Sokrates. 

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Professor an di r Universität Basel. 

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I. Bmid. Preis 14 31 k. 

II. Band (in zwei Hälften). 2S 31k. 

Dieses Werk sucht eine Umbildung unserer Auffassung der Sokratik aus einer 
historischen, die am Buchstaben der Tradition hängt, in eine 1 itterarische, künstlerisch 
freie, mehr philosophische. Es erkennt in Sokrates den undogmatischen Urdialektiker, 
in Xenophon den kynisierenden Praktiker, in seinen theoretischen Schriften, vor allem 
in den Memorabilien und zugleich selbst in den frühesten Dialogen, Platos Gedanken- 
dichtungen, in denen litterarische Nachahmung, Verteidigung und Konkurrenz, satiri- 
sches Spiel unter historischer Maskierung und das eigene Ringen der Zeit sich aus- 
sprechen. Es bringt ferner eine Restauration der einflussreichen kvnischen Sokratik 
und gelangt dabei zu Aufschlüssen über die Sophisten, den aristophanischen Sokrates 
und andere wichtige Stücke der Traditon von den Anfängen griechischen Denkens bis 
zu den späten Sammlern. Es bietet endlich eine Rettung des verkannten Kynismus 
und erkennt in ihm den Vermittler, der das klassische Hellas und den echten Sokrates 
mit der Welt des Orients und vorahnend mit der Weit nach Christo verbindet. 


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K n han nnOUKOH Comenios- Blatter der C -O., 

vlVvll sowie für jede der beiden Zeitschriften, 

je 1 31. 9 empfiehlt die Buchdruckerei von Job. Bredt, Münster i.W. 


Buchdruckeni von Johannes Bredt, Münster i.W. 


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Herausgegeben von Ludwig Keller. 


Berlin 1901 


R. Gaertners "Verlagsbuchhandlung 

Hermann Heyfelder. 

SW. Schönebergerstrasse 26. 


Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark. 
Alle Rechte Vorbehalten. 


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Inhalt 

des dritten und vierten Heftes 190 1. 


Abhandlungen. s eit«* 

Prof. Dr. August Wolfstieg, Der Staat bei Christus, Paulus und den Re- 
formatoren. Nach einem Vortrage 55 

Dr. Heinrich Romundt, Der Platonismus in Kants Kritik der Urteils- 
kraft. Erster Teil 82 

Friedrich Nippold, Zur Erinnerung an Karl von Hase 99 

Kleinere Mitteilungen. 

Zur Geschichte des deutschen Journalismus. Von Ludwig Keller 111 
Waldenser und Reformierte im 18. Jahrhundert. VonLudwigKeller 113 


Besprechungen und Anzeigen. 

Fr. Steudcl , Der religiöse Jugondunterricht. Auf Grtind der neuesten wissenschaftlichen Forschung 
für die Hand der l^chrcr und Schüler sämtlicher evangelischen Ix'hranstaltcn bearbeitet etc. 

(Dr. G. Wvneken) 115 

Nachrichten und Bemerkungen. 

Die Id«*e des Reiches Gottes. Über die Bedeutung der Namenfrage in der Geschichte der grossen 
Religionsgemeinschaften. — Über die Sekteimainen Enthusiasten und Katharer. — Über 
die Grade und Stufen in den Akademien der Neuplntoniker. Über den Grundsatz der 
,, Reinheit der Gemeinde“ und seine Konsequenzen. — Über die beiden Märtyrer der Wal- 
denser Joh. Drändorf und Peter Turnau im 15. Jahrhundert. — Friedrich von Heydeck, der 
Förderer der Reformation in Preussen und die Wiedertäufer. — Zur Charakteristik des christ- 
lichen Humanismus im 18. Jahrhundert. — Die Betonung Johannes des Täufers und seines 
Vorbildes in den älteren Akademien. — Der Grosse Kurfürst und das Florieren der Manufak- 
turen in Brandcnburg-Preussen“. - Comenius als Herausgeber de* Gesangbuchs der Brüder- 
gemeinde von 1GG1. — Über den Ausdruck ,, allgemeine Religion“. — Über den Gebrauch 
des Namens „Patriot“ seit dem 17. Jahrhundert in der deutschen Litteratur. — Über Beat 
Ludwig von Muralt (Küio— 1749) und seinen Verwandten Beat von Muralt, den Freund J. J. 

Bodinors. — Ein Urteil K. Chr. Fr. Krauses DIm_t Platos „Politik«»*“. — Ad. Hnmacks Urteil 

über das Neue im Christentum 11U 


Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.-G., Geheimen Archiv- 
Rat Dr. Ludw. Keller, Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten. 

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen monatlich (mit Ausnahme des Juli 
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Comenii^@#g©Üschaft 


X. Band. 


~s 1901. e~ 


Heft 3 u. 4. 


Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 

Nach einem Vorträge. 

Von 

Prof. Dr. August Wolffetieg in Berlin. 


Der Gegenstand greift an eine sehr schwierige Materie, 
dessen bin ich mir bewusst; denn das Problem berührt die höchsten 
Gedanken menschlicher Weisheit, die Grundlagen von Macht und 
Recht, die Grenzgebiete von religiösem Empfinden und sittlichem 
Handeln. Hierüber selbst nur die Gedanken Anderer darzustellen, 
ist eine schwierige Aufgabe. Denn alle Anschauungen werden in 
der Zeit, nicht nur nach dem Stande der Erkenntnis, sondern 
auch aus dem Wunsche geboren, die historisch gegebenen Zustände 
in einer ganz bestimmten Richtung weiterzuführen. Und auch in 
dieser letzteren Hinsicht gilt es für die grossen Denker, den Zeit- 
genossen nicht allein das Ziel vorzuzeigen, zu dem hin sie die 
Dinge zu führen trachten, sondern auch den Kampf mit dem 
Alten, mit dem Gewöhnten, dem Liebgewordenen, mit der fest 
gewurzelten Weltanschauung aufzunehmen. Da giebt es dann 
keinerlei Rücksicht auf das vielleicht auch Richtige oder noch 
Richtige. Es ist die ganze Linie, die bekämpft werden muss, 
auch der Tross. Die Rede selbst wird nun zur Waffe. Und der 
Streit verlangt eine scharfe Spitze, das Wort kehrt seine Schärfe 
heraus. Das soll man nie vergessen, wenn man die Gedanken 
eines solchen Gewaltigen, wie Jesus Christus, oder führender 
Geister wie Paulus, Luther und Calvin darzustellen unternimmt. 

Zweierlei bildet daher die Grundlage einer solchen Dar- 
stellung der Anschauung vom Staate, wie ich sie zu geben ver- 

Alonatshefte der Coinenius-Gesellachaft. 1901. ß 


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Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


suchen will, einmal das Gesamtbild der Zeit, in der der Denker 
und Sprecher lebt, und zweitens das Ziel, welches er mit der 
Aufstellung seines Systems erreichen will. 

Wenden wir das auf Jesus Christus an. 

Christi Gedanken gingen nicht auf eine Erläuterung der 
sittlichen Gesetze der Menschheit, auch nicht auf ein Umwerten 
dieser Werte, sondern eher auf ein Erfüllen derselben im Q/eiste 
des Menschheitgedankens in seiner Vollkommenheit und Voll- 
endung in Gott. „Des Menschen Sohn ist nicht gekommen, das 
Gesetz aufzulösen, sondern es zu erfüllen.“ Was er treffen 'Will, 
sind nicht die verrotteten sittlichen Zustande seiner Zeit, sondern 
vor Allem das Übel selbst, die Sünde. Sein Wirken ist Heilands- 
wirken, seine Gedankenwelt umfasst das Diesseits und Jenseits 
zugleich; es gilt das verschrobene und verschobene Verhältnis der 
Menschenseele mit Gott wieder herzustellen, es in das verlorene 
Kindschaftsverhältnis wieder hineinzubringen, von dem sich kaum 
noch eine Spur vorfand in der antiken jüdischen und griechischen 
Welt. Das Reich Gottes und sein Kommen zu verkünden, ist 
seine hohe Aufgabe. Wo er auf die rein innerweltlichen sittlichen 
Werte stösst, wie Ehe, Recht, Staat u. s. w., giebt er zwar Vor- 
schriften zu ihrer Erhaltung, aber er nähert sich ihnen sichtlich 
ungern. Er selber war nie verheiratet, verbot den Seinen, Recht 
zu suchen, selbst im Falle eines Angriffes auf Person und Eigen- 
tum, und kümmerte sich absolut nicht um die hochgehenden 
Wogen staatlicher Politik und ihre theoretischen und geschicht- 
lichen Grundlagen. Allerdings stösst er einmal auf einzelne in 
unserem Gebiete liegende Fragen sittlicher Art, dann passt er sie 
auch seinem tiefen religiösen Empfinden an, vertieft die in ihrem 
Wesen liegende Idee, ja vollendet sie iro höchsten Sinne des 
Wortes. 

Das antike Staatswesen und vor Allem der im Vordergründe 
von Christi Gesichtskreis stehende jüdische Staat war ein Volks- 
staat, der nur den Volksgenossen als Vollbürger anerkannte und 
alle anderen Menschen vom Rechte am Staate ausschloss. Das 
war natürlich, da der Staat nur eine Erweiterung der Familie, 
der Sippe und als solcher Kultgemeinschaft war und den Verkehr 
mit dem Gotte oder den Göttern vermittelte, die über des Volkes 
Wohlfahrt wachen. Bürgerrecht ist Teilnahmerecht an dem volks- 
tümlichen Gottesdienst, an der Staatsreligion. Das wurde damals 


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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 67 

besonders deutlich, da gerade zu Christi Zeit das Land, das Staats- 
gebiet an sich keinen Abschluss mehr darstellte. Nicht nur die 
Römer, sondern auch die Griechen und vor Allem die Juden 
waren über den ganzen Erdkreis zerstreut Was diese Volks- 
genossen zusammenhielt war weder das Nationalbewusstsein, noch 
die Sprache, sondern allein die Kultgemeinschaft. Wer nicht dazu 
gehörte, war des Landes Feind. Diesen Zusammenhang zwischen 
Religion, Kult und Staat hat Ranke mit voller Schärfe im Ver- 
laufe der alten Geschichte aufgewiesen. Dass es eine andere Re- 
ligion als eine Staatsreligion, einen andern Staat als einen nationa- 
len geben könne, dämmerte selbst den erleuchtetsten Köpfen des 
ganzen Altertums nicht. Auch das römische Weltreich hatte sich 
über diesen Gedanken in keiner Weise erhoben: nur der civis 
Romanus war Vollbürger. 

Da ging Christus von einer ganz anderen Ideenwelt aus 
und lehrte zum ersten Male, dass Religion Sache des Menschen, 
nicht des Bürgers sei, und zerbrach damit die Grundlage des 
antiken Staates in tausend Scherben. Die Individuen, welche natio- 
nale, soziale und rechtliche Stellung sie auch einnehmen mochten, 
beschäftigten ihn eben nur als Menschen, als Seelen in ihrer 
Beziehung zu Gott, dem Vater, und zu den Nächsten als Brüdern 1 ). 
Selbstverständlich schloss diese Stellung eine rein weltliche, recht- 
liche und soziale Organisation der Menschheit nicht aus, sondern 
verlangte sie sogar. Aber Christus nahm für alle Organisationen 
einen andern Ausgangspunkt als die Antike: hier war der Staat 
das Ganze gewesen und der Bürger nur ein Teil desselben; beim 
Herrn war der Mensch das Ganze und der Staat wurde eine unter 
vielen sittlichen Gruppierungen. Mochten sie also auf diese neue 
Grundlage einen neuen, einen christlichen Staat auf bauen, seine 
Lehre widersprach dem wahrlich nicht; nur dass dieser auf der 
Liebe und den christlichen Freiheitsgedanken, statt auf realer 
Macht und individuellem Recht, auf der Menschheitsreligion, statt 
auf der Staatsreligion basieren musste. Das Christentum hat den 
nationalen Staatsgedanken als Kultgemeinschaft zertrümmert und 
den heutigen Kulturstaat als Menschheitsgemeinschaft in christ- 
lichem Sinne erst möglich gemacht. 

Indessen hat sich Christus über Form und Inhalt des Staates 


') Pa u Isen, Ethik. 4. Aufl. Bd. 2 S. 538. 


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Wolfstieg, 


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nie ausgesprochen, er hatte geistig nicht die geringste Beziehung 
zu diesen weltlichen Fragen. Ihn kümmerte nur das Reich Gottes, 
das er zu bereiten in die Welt gekommen war. Als man ihn 
einmal fangen und seine Parteistellung zur jüdischen nationalen 
Frage festlegen wollte, betonte er diesen seinen Standpunkt sehr 
scharf und fertigte die Frager mit schneidender Ironie ab: Wessen 
ist das Bild auf diesem Zinsgroschen? Des Kaisers. Nun, Ihr 
Schlauberger 1 ), was fragt Ihr denn noch lange? Gebt doch dem 
Kaiser, was sein ist, aber vergesst nicht, dass Ihr Gott Eure Seele 
schuldet 2 ). Auch seinen eigenen Landesherrn betrachtet Christus 
lediglich mit den Augen des Heilands, fand ihn offenbar auf der 
Wage der göttlichen Gerechtigkeit zu leicht und behandelt ihn 
demgemäss mit merkwürdig geringem Respekt 8 ): „Gehet hin und 
sagt doch diesem Fuchs“ (Luk. 13, 32). Und als ihm Herodes, 
der eine grosse Freude darüber hat, den gewaltigen Rabbi einmal 
zu sehen und hofft, dass er vor ihm, seinem Herrn, Zeichen und 
Wunder verrichten werde, eine Reihe von Fragen vorlegt, ant- 
wortet ihm Jesus überhaupt nicht, so dass dem Fürsten schliess- 
lich nichts übrig bleibt, als auf die Anklagen der Christus ver- 
höhnenden und verlästernden Hohenpriester und Schriftgelehrten 
zu hören. Da er ihn aber nicht zu richten wagt — die Anklage 
stand wegen der leicht missverständlichen Form des Einzuges in 
Jerusalem und der Besitzergreifung des Tempels als Messias auf 
Aufruhr und Annahme der Königswürde — schickt er den Herrn, 
symbolisch als König gekleidet, zum römischen Prokurator, der 
gerade von Cäsarea nach Jerusalem gekommen war (Luk. 13, 7 ff.). 
Aber der arme Pilatus kann erst recht nichts mit ihm anfangen: 
Christus antwortet auf all die Anklagen und Fragen, die ihm der 
Prokurator vorlegt, entweder gar nichts oder nur mit einem ironi- 
schen: Du sagst es ja 4 ). (Matth. 27,12). Auch bei einer Unter- 
redung, die Pilatus im Prätorium mit Jesus gehabt zu haben scheint 
(Joh. 18, 33 ff.), kam weiter nichts heraus, als dass der Herr seine 
Heilandsmission der königlichen Bezeugung der Wahrheit betonte 
und jede weltliche Beziehung zum Staate ablehnte, einen Unter- 

r ) So übersetzt F. Paulsen, Das Ironische in Jesu Stellung und Lehre. 

2 ) Yergl. hierüber die wundervollen Ausführungen in Harnacks 
Wesen des Christentums S. 65 ff. 

8 ) Das hebt Hilty hervor im 3. Bd. seines „Glück“, „Heil den Enkeln“. 

4 ) Dass auch diese Stelle ironisch gemeint sei, zeigt Paulsen. 


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schied, den der in griechischer Schule philosophisch gebildete 
Römer allerdings nicht verstand. „Was ist denn Wahrheit? 4 

Dennoch darf man aus dieser selbstbewussten Haltung nicht 
scliliesseu, dass Jesus Recht und Obrigkeit als solche überhaupt 
nicht anerkannt habe. Das ist leider auch schon von namhafter 
Seite behauptet worden. Sowohl Leo Tolstoi und seine Nachtreter 
als auch der deutsche Jurist Rud. Sohm lehren in allem Ernste, 
nach Christi Gebot habe Obrigkeit und Rechtsordnung einfach 
aufzuhören, weil ihr Vorhandensein Sünde sei. Das ist zweifellos 
ein Missverständnis; in Wahrheit hat Christus, wie seine Verhaf- 
tungsgeschichte beweist, die obrigkeitliche Gewalt als zu Recht 
bestehend und als sittliche Notwendigkeit anerkannt und sich ohne 
Weiteres unterworfen. Seine Jünger hatten nach dem Abendmahle 
offenbar genaue Nachricht von der bevorstehenden Festnahme und, 
während Jesus im heissen Gebet mit seinem Gotte rang, sich zum 
Widerstande auf dem Olberge vorbereitet, um den Herrn zu 
dedken 1 ). Da macht dieser selbst dem beginnenden Kampfe ein 
Ende und giebt sich gefangen, nicht weil er glaubte, die Position 
nicht halten zu können, sondern aus Achtung vor der rechtmässigen 
Gewalt, die hier nur den Willen Gottes, dessen war er sich im 
Gebete gewiss geworden, vollzieht. „Oder meinst Du, ich könnte 
nicht meinen Vater angehen, dass er mir sogleich mehr als zwölf 
Legionen Engel schickte?" (Matth. 26, 53.) 

Eben als sittlicher Institution hat Christus das Wesen auch 
der obrigkeitlichen Gewalt und aller Rechtsordnung vertieft. 
Harnack weist auf eine Stelle hin (Matth. 20, 25) 2 ), in der sich 
Christus über die Richtung der sittlichen Vollendung dieser Dinge 
ausspricht: „Jesus rief seine Jünger und sprach zu ihnen: Ihr 
wisset, dass die, welche als Herrscher gelten unter den Völkern, 
Gewalt gegen sie brauchen und die Mächtigen unter ihnen Macht 
gegen sie üben. So soll es aber nicht bei euch sein; sondern 
wer unter euch gross werden will, der soll euer Diener sein, und 
wer unter euch der erste sein will, der soll euer Knecht sein". 
Also die Grundlage der staatsrechtlichen Ordnung, wie sie damals 
bestand, die Macht, und die Form ihrer Ausübung, die Gewalt, 
sind es, die die Missbilligung des Herrn hervorrufen; er will an 

*) Dass Petrus zufällig und allein von den Jüngern ein Schwert trug, 
wird Niemand glauben 

*) Bei Harnack steht hier in Folge eines Versehens ein falsches Citat. 


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Wolfstieg, 


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ihre Stelle die brüderliche Liebe und den Dienst in derselben 
setzen. Herrschen heisst ihm dienen. 

Aber das halte man unter allen Umständen fest: Christus 
interessiert nicht der Herrscher, sondern nur der Mensch im 
Herrscher, nicht die weltliche Obrigkeit als Machtfaktor und 
Wahrer des Rechts, sondern nur als Organ für die Ausbreitung 
des Reiches Gottes auf Erden. Es bleibt eben dabei : sein Reich 
ist nicht von dieser Welt Also die Rede von der unbedingten 
Zusammengehörigkeit von Thron und Altar, welche die Romantiker 
im Anfänge dieses Jahrhunderts aufbrachten J ) und bis zum heutigen 
Tage festhalten, kann sich keineswegs auf Christus berufen. Eher 
auf Paulus. Denn unter den Händen dieses gewaltigsten aller 
Apostel ging eine merkwürdige Verwandlung vor: er brachte das 
Evangelium, gleichsam ein anderer Prometheus, vom Himmel auf 
die Erde. Paulus hat, und das ist sein unsterbliches Verdienst 
um die Ausbreitung des Christentums, die goldene Brücke ge- 
zimmert, welche das Reich Gottes mit dem Reiche dieser Welt 
verband. Wir verzichten auf die Prüfung der Frage, ob die 
Thätigkeit des Apostels auf die christlichen Anschauungen selbst 
lediglich heilsamen Einfluss geübt hat; für uns genügt es, fest- 
zustellen, dass er die nachherige Auffassung fast völlig beherrschte. 
Man kennt die grossartige Wirkung seines Römerbriefes bis auf 
die heutige Zeit; er ist die Grundlage aller Dogmatik in den 
Kirchen geworden, und gerade hier findet sich die erste 
Andeutung von dem Zusammenhänge von Thron und 
Altar, die Verquickung der religiösen Idee des Gottesdienstes 
mit der sittlichen Rechts- und Weltordnung. Paulus spricht den 
Gedanken aus, dass alle Obrigkeit von Gott sei; auch der Be- 
stand der heidnischen Obrigkeit in Rom ist Gottes Wille. Darum 
hat jeder Christ sich derselben zu unterwerfen, Steuern zu ent- 
richten, Gehorsam zu leisten um des Gewissens willen. Dies „um 
des Gewissens willen“ ist das Neue. Also das Unterthanen Ver- 
hältnis ist für Paulus nicht das Gesetz einer unabweisbaren sitt- 
lichen Forderung, die der Vertiefung bedarf und der Vertiefung 
fähig ist, sondern ein durch die Religion geheiligtes unveränder- 
liches Gebot Wider die Obrigkeit sich auflehnen, heisst sich 
auflehnen wider Gott. 


*) Ziegler, Geistige und soziale Strömungen, S. 52. 


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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 71 

Auch die Aufgabe der Obrigkeit ist bei Paulus eine ganz 
andere, als sie Christus festgestellt hatte. Letzterer hatte den 
Herrscher, indem er ihm ein Wirken in christlicher Liebe und 
im Dienste seiner Unterthanen vorgeschrieben hatte, in der That 
mit einem Tropfen göttlichen Öles gesalbt; im Übrigen waren im 
Einzelnen der Wirksamkeit des Staates keinerlei Schranken gesetzt. 
Dem Herrn schwebte auch hier wohl das Bild der Familie, das 
Verhältnis zwischen Vater und Kindern als das Ideal eines Bandes 
zwischen Herrscher und Volk vor. Von alle dem findet sich bei 
Paulus kaum noch eine Spur. Nach ihm hat der Staat eine doppelte 
Aufgabe: er ist Gottes Gehilfe, um das Individuum zum Guten 
zu führen, und Gottes Gerichtsvollstrecker für den, der Böses 
thut; denn sie (die Obrigkeit) trägt das Schwert nicht umsonst 
(Rom. 13,4). Hier mit dem Gedanken der staatlichen Führung zum 
Guten beginnt jene Lehre, dass eine wohlwollende Obrigkeit dem 
Unverständigen und Übelwollenden das Gute, den Glauben, die 
gute Sitte auch aufdrängen könne, die Lehre von der Unfreiheit 
der Unterthanen und der unfehlbaren Wirkung der Staatsgewalt 
auf die endliche Erlangung des Reiches Gottes auf Erden. Der 
Apostel ist an der Ausgestaltung dieser Lehre gewiss unschuldig, 
aber es ist die Konsequenz seiner Theorie von der staatlichen 
Führung zum Guten und der Abstrafung des Bösen durch die 
Obrigkeit im Aufträge Gottes als dessen Gehilfin. 

Die Entwicklungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte 
nach der angedeuteten Richtung hin vollzogen, sind durch das 
Auftreten Luthers ohne Frage lediglich gefördert worden. Wir 
verdanken diesem Manne unendlich viel, was wir ihm nie ver- 
gessen wollen. Er hat in wahrhaftigem ernsten Ringen mit sich 
selbst die finstern Gewalten mittelalterlicher Irrlehren verscheucht, 
die wissenschaftliche Anknüpfung an die ursprüngliche christliche 
Idee durchgesetzt, einer neuen modernen Lehre vom Wesen des 
Christentums Bahn gebrochen und den Kampf mit der mächtigen 
Organisation der damaligen Kirche für weite Gebiete siegreich 
durchgefochten. Aber Luther war von Augustin erzogen und 
seiner ganzen Anschauung nach im eigentlichsten Sinne „paulinisch“ 
gesinnt. Und dazu blieb dieser gewaltige Bauernsohn immer ein 
unverkennbares Kind seiner Zeit, die einen mächtigen Einfluss 
auf ihn übte. Und der Zug der Zeit drängte mit Gewalt auf die 
endliche Lösung der religiösen Frage, der dann ja auch der Re- 


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Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


formator sein Leben widmete. Darum trat bei Luther die Frage 
nach Inhalt und Organisation der weltlichen Ordnung weit zurück 
hinter der Reform der christlichen Lehre. Das geängstigte Ge- 
wissen erheischte die Herstellung des Verhältnisses der irrenden 
Menschen zu Gott, die Sicherstellung der ewigen Seligkeit. Was 
galt ihm dagegen das Wesen des Staates? 

Aber ganz Vorbeigehen konnte Luther an diesen Fragen 
doch nicht, er kam zu heftig mit dem Staate in Berührung 1 ). 
Das zwang ihn, sich auch mit ihm zu beschäftigen. Indessen ist 
es doch auch eigentlich nicht das Wesen des Staates als solches, 
das sein Interesse erweckt, sondern nur die praktische Seite des- 
selben, die seine Lehre und schliesslich die Organisation seiner 
Kirche berührt Es sind Vorkommnisse des täglichen Lebens, 
die ihm die Feder in die Hand drücken und ihn nötigen, über 
einzelne Teile des staatlichen Aufbaues oder der staatlichen Auf- 
gabe, z. B. über die öffentliche Gewalt (Uberkeit), die Stände, den 
Adel der deutschen Nation, die Bauerif u. s. w. zu sprechen. Luther 
kommt es bei allen seinen hierher gehörenden Erörterungen immer 
nur darauf an, zu zeigen, wie sich der wahre Christ in einzelnen 
praktischen Fragen zu den bestehenden Institutionen und ihrem 
Thun zu verhalten hat. Es ist der Christ, nicht der Staatsbürger, 
den er vor sich sieht und zu dem er spricht, und er schreibt 
um des Gewissens willen, nicht aber um die öffentliche Wohl- 
fahrt oder gar die allgemeine Erkenntnis vom Wesen des Staates 
zu fördern. 

Darum spricht er auch als Theologe, nicht als Rechtskundiger 
oder als Philosoph. Ihm ist die Quelle, aus der er schöpft, nicht 
das bestehende Recht und der lebendige Staatsgedanke, sondern 
ganz allein das Wort Gottes, das ihn auch über diese Dinge be- 
lehren muss 2 ). Hier findet er in Sprüchen und Beispielen des 
neuen und des alten Testamentes, wie ein Christ in dieser oder 
jener Lage, als Fürst, als Beamter, als Unterthan sich zu verhalten 


l ) Luthers Schrift von der weltlichen Obrigkeit in der Erlanger Ausgabe 
22 S. 61 ff. Vergl. Bluntschli, Geschichte der Staatswissenschaften ; M. Lenz, 
Berliner Kaisers-Geburtetagsrede 1894. Ward, Darstellung und Würdigung 
der Ansichten Luthers vom Staat. Jena 1898, in Conrads Sammlung 21. 

*) „Das sag ich darumb, dass man nicht meine, es sei gnug und 
köstlich Ding, wenn man dem geschrieben Recht oder Juristen Rathen 
folget. Es gehört mehr dazu.“ Werke 22, 95. 


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hat, und das genügt ihm vollständig. Die griechische und römische 
Welt mit ihren lebhaften Erörterungen über den Staat von der 
Höhe philosophischer Überschau herab, jene Welt, in der der 
jugendliche Humanist Luther gelebt hatte, aber doch nicht auf- 
gegangen war, sind nun in einer Versenkung verschwunden und 
interessieren den Reformator Luther nicht mehr. 

Alle Schriften Luthers über den Staat sind, wie gesagt, 
Gelegenheits-Schriften, meist sogar Agitationsschriften. Auch das 
beeinflusst ihre Haltung und ihre Denkweise. Die heftige Flug- 
schrift von „welltlicher vberkeytt, wie weytt man yhr gehorsam 
schuldig sei" ist veranlasst durch das Verbot der lutherischen 
Übersetzung des Neuen Testamentes in einigen deutschen Ländern 
und durch den Befehl, dass die Unterthanen dieselbe vorkommen- 
den Falls der Obrigkeit ausliefern sollten 1 ). Wie ein Bauer, dem 
man sein Eigentum nehmen will, fährt Dr. Martinus mit dem 
Dreschflegel in den Haufen seiner Gegner hinein : Die Obrigkeit 
hat sich den Teufel um der Seelen Seligkeit zu kümmern. „Das 
weltlich Regiment hat Gesetz, die sich nicht weiter strecken, denn 
über Leib und Gut, und was äusserlich ist auf Erden. Denn 
über die Seele kann und will Gott Niemand lassen regiern, 
denn sich selbs alleine. Darumb wo weltlich Gewalt sich ver- 
misset, der Seelen Gesetz zu geben, do greift sie Gott in sein 
Regiment, und verführet und verderbet nur die Seelen." (S. 82.) 
Und dann unter deutlichem Hinweis auf die Verkehrtheit der 
Ordnung des Reiches in seiner Zeit, wo es Bischöfe und Abte 
gar weit in der Fürstenskala gebracht hatten und arg verweltlicht 
waren, sagt er: „Was sind denn die Priester und Bischoffe? 

Antwort: Ihr Regiment ist nicht ein Uberkeit oder Gewalt, 

sondern ein Dienst und Ampt; denn sie nicht höher noch besser 
für andern Christen sind." (S. 93.) Mochten die Herren sich das 
merken, dass der schon mächtig gewordene Wittenberger Mönch 
dem einen Teile der Reichsfürsten jede Autorität in weltlichen 
Dingen, dem andern Teile aber in geistlicl^pn Dingen auf Grund 
der Schrift absprechen zu können glaubte: „Zum Glauben kann 

und soll man Niemands zwingen" (S. 85) und „ob man gleich alle 
Juden und Ketzer mit Gewalt verbrennet, so ist und wird doch 
keiner dadurch uberwunden und bekehret" (S. 92). 


*) Erlanger Ausgabe 22, S. 59. 


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Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


Luther war damals noch nicht der Vertreter des Glaubens- 
zwanges, der er nachher wurde. Noch weht das Bewusstsein von 
der Unüberwindlichkeit der Idee durch seine Schrift, und man 
fühlt einen Hauch von der „Freiheit des Christenmenschen 44 in 
ihr. Luther geht hier von der Teilung der Menschen in ein Reich 
Gottes und in ein Reich der Welt aus; hätten wir das erstere, 
das in den Herzen aller wahrhaft Frommen hier auf Erden wohnt, 
ja das Ziel und die Aufgabe aller Christenheit überhaupt ist, jetzt 
schon völlig in uns herrschend, wir brauchten wahrlich kein welt- 
lich Regiment. „Dem. Gerechten ist kein Gesetz geben, sondern dem 
Ungerechten/ 4 (S. 67.) Aber da „der Bösen immer viel mehr sind, 
denn der Frommen 44 (S. 69) und „kein Mensch von Natur Christen 
oder frumm ist, sondern allzumal Sünder und böse sind, wehret 
ihnen Gott allen durchs Gesetz 44 (S. 67); denn wo das nicht 
wäre . . ., „würde eins das ander fressen, dass Niemand kunnt 
Weib und Kind ziehen, sich näheren und Gotte dienen, damit 
die Welt wüste würde. Darumb hat Gott die zwei Regiment ver- 
ordnet: das geistliche, wilchs Christen und frumm Leut macht, 
durch den heiligen Geist unter Christo; und das weltliche, wilchs 
den Unchristen und Bösen wehret, dass sie äusserlich müssen 
Fried halten, und still sein ohn ihren Dank 44 (S. 68). 

Also der Staat ist nach Luther eine Organisation, die ledig- 
lich der Sünde der Menschen ihr Dasein verdankt und keineswegs 
sittliche Begründung in sich selber findet. Er ist nur ein Teil 
der Gottesordnung in der dem Menschen anbefohlenen und zu 
rechtem Gebrauch unterworfenen Schöpfung. Nur darum ist er 
göttlichen Rechtes, von Gottes Gnaden, „denn es ist kein Gewalt 
ohn von Gott. Die Gewalt aber, die allenthalben ist, die ist von 
Gott verordnet 44 (S. 63). Es ist also ganz gleichgültig, wer und 
welcher Art die Obrigkeit ist, woher sie stammt Auch der Gross- 
sultan ist Obrigkeit und ein Christ kann ihm ohne Weiteres 
dienen, selbst daun dienen, wenn der Türke die Christenheit und 
das Evangelium bedrqhte. Denn auch diese Obrigkeit ist von 
Gott gewollt und ihr Thun von Gott erlaubt, ja ist selbst Gottes- 
dienst. „Wenn die Gewalt und das Schwert ein Gottisdienst ist, 
so muss auch das Alles Gottesdienst sein, das der Gewalt noth 
ist, das Schwert zu führen. Es muss je sein, der die Bösen fähet, 
verklagt, würget und umbringt 44 (S. 81). Man kann so mit Blut- 
vergi essen den Himmel besser verdienen als Andere mit Beten. 


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Der Unterthan muss nach Luther der Obrigkeit dienen und 
in weltlichen Dingen unter allen Umständen der gebietenden 
Herrschaft gehorchen, er würde sich sonst gegen Gott und Gottes- 
orduung versündigen. Gehorsam ist der lutherischen Staats Weisheit 
letzter Schluss; denn „Gott will lieber leiden die Oberkeit, so 
Unrecht thut, denn den Pöbel, so rechte Sache hat“. Voraus- 
setzung ist allerdings immer, dass die Gewalt, die die Obrigkeit 
ausübt, rechtmässig ist, d. h. ihr Thun sich auf rein weltliche 
Dinge erstreckt und dem Bösen wehrt, oder wie man später lehrte, 
in Glaubenssachen förderlich war. Öffentliche Violentia hebt 
allerdings alle Pflicht zwischen Unterthan und dem Oberherrn 
auf 1 ) jure naturae „und es ist kein Unterschied zwischen einem 
Privatmann und dem Kaiser, so er ausser seinem Ampt unrecht 
Gewalt vornimmt“. Das unterschrieb Luther gleicherweise mit 
Jonas, Bucer und Melanchthon in einem Gutachten, das sie im 
Januar 1539 gemeinsam über die Frage abstatteten, ob die Obrig- 
keit — hier sind die Landesfürsten gemeint, zu denen der Prote- 
stantismus seine Zuflucht nahm, nachdem sich Karl V. ihm versagt 
hatte — schuldig sei, sich und ihre Unterthanen wider Unrechte 
Gewalt zu schützen, wider gleiche Fürsten und den Kaiser. 

Indessen verdanken wir Luthers Auftreten eine Errungen- 
schaft für das Staatswesen doch: die Erhebung des Staates zu 
gleichem Range mit der Kirche und die Stabilierung der Souve- 
ränität der weltlichen Obrigkeit in weltlichen Dingen. Bis dahin 
hatte sich das Verhältnis zwischen Staat und Kirche im Laufe 
der Geschichte so entwickelt, dass die weltliche Gewalt der geist- 
lichen untergeordnet und von ihr vielfach abhängig war. Die 
Bulle „Unam sanctam“ hatte auch theoretisch die Oberherrschaft 
des Papstes über die Fürsten in klaren Worten ausgesprochen 
und der gläubigen Christenheit zum Gesetz gemacht. Dagegen 
trat Luther von vornherein ganz im Sinne und in der Richtung 
seiner übrigen Lehren vom Staate sehr energisch auf; „Drumb sag 
ich: dieweil weltlich Gewalt von Gott geordnet ist, die Bosen zu 

*) Früher war Luther allerdings anderer Ansicht: „Dass kein Fürst 
wider seinen Uberherrn, als den König und Kaiser, oder sonst seinen Lehen- 
herrn, kriegen soll, sondern lassen nehmen, wer da nimpt. Denn der Uber- 
keit soll man nicht widerstehen mit Gewalt, sondern nur mit Erkenntniss 
der Wahrheit: kehret sie sich dran, ist gut, wo nicht, so bist Du entschul- 
diget, und leidest Unrecht umb Gottes willen“ (S. 101). 


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76 


Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


strafen, und die Frummen zu schützen, so soll man ihr Ampt 
lassen frei gehen und unvorhindert durch den ganzen Körper der 
Christenheit, niemands angesehen, sie treff Papst, Bischof, Pfaffen, 
Munch , Nonnen oder was es ist“ .... „Denn also sagt St Paul 
allen Christen: ein igliche Seele (ich halt des Papste auch) soll 
unterthan sein der Ubirkeit“ 1 ). Und daran hat Luther und der 
Protestantismus überhaupt festgehalten. Aber wie die Bewegung 
nun weiter verlief, blieb doch eine weite Kluft zwischen der ur- 
sprünglichen Idee, den Staat unabhängig von der Kirche zu stellen, 
und der Ausführung derselben ; man gelangte bekanntlich schliess- 
lich zu einer völligen Unterordnung der Kirche unter den Staat und 
des geistig-religiösen Lebens in der Gemeinde unter das politisch- 
soziale Wirken der Obrigkeit. Allerdings soll man anerkennen, 
dass damals der Protestantismus keine Wahl hatte; er musste sich 
unter den Schutz des Schwertes stellen und durfte hoffen, dass 
der religiöse Gedanke stark genug sein werde, die Idee rein wieder- 
herzustellen, was sich freilich als Irrtum erwies. 

Im Gegensatz sowohl zum asketischen Katholizismus wie 
zum Luthertum ruft der Calvinismus 2 ) den Menschen zur 
energischen Thätigkeit auf und verlangt, dass der Gottesdienst 
die Arbeit eines thätigen Lebens sein soll: Religiosität muss sich 
in die Sittlichkeit des täglichen Lebens umsetzen. Aber da Cal- 
vin und seine Anhänger auf das alte Testament zurückgingen, so 
erhält die Thätigkeit selbst einen strengen und düstern Charakter 
und verliert die sonnige Fröhlichkeit, die sie bei Zwingli und bei 
Luther noch besitzt. Das zeigt sich auch in Calvins Staatstheorie. 
In Allem erscheint es dem grossen Reformator besser, dass die 
Obrigkeit in ihrem Amt zu strenge als zu milde verfahre 3 ). Mit 
furchtbarer Gewalt handhabte er selber die Strafgesetze. Nicht 
nur Diebstahl und Mord fiel ihm unter den Begriff des Ver- 
brechens, sondern auch Unzucht, Ehebruch, Trunkenheit und 


0 An den Christlichen Adel deutscher Nation. Werke Erlanger Ausg. 

21 S. 284. 

2 ) Eucken, Lebensanschauungen der grossen Denker; Elster, Calvin 
als Staatsmann, Gesetzgeber und Nationalökonom in Conrads Jahrbücher 31 
p. 163. 1878. Stähelin in Herzogs Encyclop. 3. Aufl. Bd. 3. Dann Stähe- 
lin, Calvin im „Leben der Väter und Begründer“. Bd. 1. S. 320 ff. 

8 ) Instit. IV, 20. 10. Dagegen Luther Werke 22 S. 100: „Wer nicht 
kann durch die Finger sehen, der kann nicht regieren.“ 


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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 77 

Schmähungen des göttlichen Namens. Das Leben wird in Calvins 
Hand zu einem Kampfe zur Ehre Gottes, die Triebfeder alles 
Handelns ist allein die Pflicht „Diese Religiosität unterscheidet 
sich, sagt Dilthey, von der Luthers durch die rauhen Pflichten 
des in einem strengen Dienst stehenden Kriegers Gottes, welche 
jeden Lebensmoment ausfüllen. Sie unterscheidet sich von der 
katholischen Frömmigkeit durch die in ihr entbundene Kraft der 
selbständigen Aktion“ Man erkennt den Einfluss dieser ver- 
schiedenen Weltanschauungen an den drei grossen Feldherrn, die 
wenn auch verschiedenen Alters, doch Zeitgenossen waren: an 
Tilly, Gustav Adolph und Friedrich Heinrich von Oranien. Der 
Bayer war nichts als ein Landsknecht seiner Kirche, trotz seiner 
Bigotterie selbst entmenscht wie seine Soldateska. Dagegen war 
der Schwedenkönig eine liebenswürdige Natur und in seinem 
Denken und Handeln weniger streng als gemütvoll. Gustav Adolph 
konnte, den Degen in der Faust, vor seinem Heere mit Inbrunst 
beten und fromme Choräle in tiefster Andacht singen und nach 
der Schlacht dann in seinem Zelte gar wacker zechen und wie 
ein Troubadour zur Laute singen, Gott zur Ehr und seinem 
Liebchen zur Freude. Ihm fehlte, wie weiland dem Dr. Martinus, 
die helle Lust am Leben bei aller Tiefe der Frömmigkeit nicht. 
Das Alles war dem Pflichtgefühl des grossen Oraniers fremd, so 
sehr auch ihm die Freude am Dasein aus den Augen lachte. 
Friedrich Heinrich lag wider seine Feinde im dumpfen Gefühle 
der ganzen Schwere der persönlichen Verantwortlichkeit Gott 
gegenüber und begründete die stolze Härte gegen sie mit der 
religiösen Pflicht wider die Feinde Gottes, für die er seine Gegner 
natürlich ansah. Es gab keine Freude in seinem Feldlager, und 
als dann der junge Kurprinz von Brandenburg, der nachmalige 
Grosse Kurfürst, sich aus einem Kreise junger Cavaliere und 
ihren verführerischen Gelagen im Haag losriss und zu ihm in die 
Trancheen vor Breda eilte, erkannte Friedrich Heinrich Geist 
von seinem Geiste in dem standhaften Jünglinge: „Ihr habt eine 
grössere That gethan, als wenn ich Breda nähme“. Es gab nur 
eins für den eifrigen und gottesfürchtigen Oranier: Pflicht, Pflicht 
und wieder Pflicht Es ist in Wahrheit oranische Erziehung auf 
der Grundlage calvinistischer Weltanschauung, die im Zollern- 
Geschlecht seither haftet; hier haben sie gelernt zu schaffen „für 
Gott und fürs Volk“. 


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78 


Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


Dennoch ist dem Calvinismus die Idee der „Libertät“ keines- 
wegs fremd. Das klingt zwar paradox, ist aber nichtsdestoweniger 
richtig. Die calvinistische Lehre hat zuerst in Holland, dann 
durch Oliver Cromwell und die Seinen in England und schliess- 
lich nach einigen romantischen Verirrungen in das Gebiet des 
„beschränkten Unterthanen Verstandes“ auch in Preussen die poli- 
tische Freiheit gezeitigt. Diese musste unter dem lutherischen 
Gedanken der Unfreiheit des Willens und des unbedingten Ge- 
horsams gegen die Obrigkeit notgedrungen erbarmungslos ver- 
kümmern; Calvins Staatslehre ist dagegen dadurch eine mächtige 
Triebkraft zur religiösen und bürgerlichen Freiheit geworden, 
dass sie Pflicht und Gewissen zur Grundlage auch des poli- 
tischen Handelns machte. Der Genfer Reformator legte von 
vornherein auf die Freiheit selbst sehr hohen Wert. „Gerne 
bekenne ich,“ ruft er aus, „dass es keine glücklichere Regierungs- 
form giebt, denn diejenige, wo die Freiheit sich in den Grenzen 
einer richtigen Beschränkung bewegt ; trägt doch auch eine solche 
die Bürgschaft der Dauer in sich. Ich meine aber gleichfalls, 
dass diejenigen, die unter einer solchen Herrschaft stehen, sehr 
glücklich sind, und ich behaupte, dass die Magistratspersonen ihre 
Pflicht vernachlässigen, ja zu Verrätern werden, welche nicht 
Alles daran setzen, die Freiheit standhaft und tapfer zu bewachen 
und zu verteidigen.“ 1 ) Es schreibt sich auch wohl aus dieser 
Anschauung her, dass Calvin die Monarchie verwarf, weil er ihre 
Ausschreitungen fürchtete. Seinem ganzen Wesen nach neigte er 
zur aristokratischen Republik, da ihm auch das Majorisieren der 
urteilslosen Menge verhasst war. Aber an sich hatte er auch 
gegen die monarchische Regierungsform und gegen die Demokratie 
nichts einzuwenden, und er stand nicht an, auch gegen diese von 
seinen Gläubigen strengsten Gehorsam zu fordern. Denn auch 
Calvin ist wie Luther (S. 20) Gehorsam selbst gegen eine tyran- 
nische Regierung vornehmste Pflicht der Unterthanen. Aber 
Calvin machte von diesem Satze die Ausnahme, dass, wenn sich 
die Obrigkeit in Gegensatz stellt zu den Befehlen Gottes, dann 
solle man Gott unter allen Umständen mehr gehorchen als den 
Menschen, und der Widerstand gegen die gottlose Obrigkeit wird 
Pflicht Man begreift, wie diese Ausnahme die ganze Theorie zu 


l ) Pol. III, 4, 7. 


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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 79 

Schanden macht. Oliver Cromwell und seine puritanischen Gottes- 
streiter haben unter Berufung auf diese Lehre das Schwert gegen 
ihren König ergriffen, die englische Freiheit erfochten kraft des 
Gebotes ihres Gewissens. Wunderbar genug: Luther ging einst 
in jungen Jahren von dem fruchtbarsten Prinzip staatlichen Lebens, 
der Freiheit des Christenmenschen, aus, während Calvin seinen 
Ausgangspunkt von der Abhängigkeit des Individuums von der 
Gemeinschaft nahm; aber der Wittenberger entgleiste auf dem 
Wege zur politischen Freiheit, während der Genfer mutig zur 
Freiheit des guten Gewissens auch im staatlichen Leben f ort- 
schritt. 

Merkwürdig ist auch, dass Calvin der erste war, welcher 
die vollständige Trennung von Staat und Kirche verlangt hat. 
Calvin forderte die Selbständigkeit und Gleichheit beider In- 
stitutionen auf Grund der Trennung der vollständig verschiedenen 
und an sich gleichwertigen Arbeitsgebiete derselben am Körper 
der christlichen Menschheit. Denn Kirche und Staat haben zwar 
denselben Zweck, die „Verherrlichung Gottes durch die Heiligung 
seiner Bekenner“, aber jener fällt die Arbeit an der Seele, diesem 
die Förderung des Leibes und des äusseren Lebens zu. Die 
Kirche entfaltet demgemäss ihre Thätigkeit auf den drei Gebieten 
der christlichen Lehre, der Seelsorge und der sittlichen Zucht, 
und hier steht ihr Gewalt und souveränes Recht zu, das von der 
Kirchengemeinde, in welcher Form es auch immer sei, ausgeübt 
wird. Der hauptsächlichste Zweck der staatlichen Organisation 
ist dagegen der, „den äussern Dienst Gottes zu nähren und zu 
erhalten, die reine Lehre und Religion zu schützen, uns zu bilden 
zu Jeglichem, was lieblich und ehrbar ist und das rechte Zu- 
sammenleben der Menschen fördern kann“ ! ). Man sah in Calvins 
theokratischem Staate in Genf häufig genug Magistrat und Geist- 
liche Zusammenwirken, weiss allerdings heute auch ganz genau, 
dass in praxi doch der geistliche Einfluss in den ersten Gene- 
rationen der Reformation hier stark überwog, und der Staat sich 
in seiner Unabhängigkeit in Wahrheit nicht behaupten konnte. 
Welchem Arbeitsgebiete die Schule zugehörte, darüber hätte man 
mit Fug und Recht damals nicht Streiten können, sie war überall 
wie hier in den Händen der Kirche; aber auch die Gerichtsbar- 


*) Instit. IV, 20. 


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80 


Wolfstieg, 


Heft 3 u. 4. 


keit war in Genf fast vollständig in der Gewalt der die Zucht 
streng ausübenden Geistlichkeit übergegangen, was Zwingli wieder 
ein Greuel war: „Alles so der geistlich Staat im zugehören rechtes 
und rechtes schirm halb furgibt, gehöret den weltlichen zu, ob sy 
Christen syn wellind“ 1 ). 

Mit Zwingli protestierte gegen solche Zustande auch ein 
Häuflein evangelischer Christen, die überhaupt mit keiner der 
unter einander hadernden Kirchen ihre Überzeugung in Einklang 
zu bringen vermochten : ich meine die sogenannten Wiedertäufer 2 ). 
Schlimm, dass diese frommen und friedfertigen Leute durch die 
Münsterische und Münzersche Bewegung, die sie selber als Sünde 
bezeichneten und mit allen Zeichen des Abscheus verurteilten, 
unrettbar kompromittiert sind. Sie erklärten einmütig, dass sie 
einen Einfluss der weltlichen Obrigkeit auf die religiöse Über- 
zeugung und das christliche Leben nicht gestatten könnten, und 
verwarfen den Gebrauch des Schwertes, der ebensowenig nach 
der Lehre des Herrn erlaubt sei, wie der mit seiner Führung 
verbundene Hass und Zorn. Niemandem, auch der Obrigkeit nicht, 
steht das Recht zu, einen Verbrecher mit dem Schwerte zu richten. 
Nach Paulinismus schmeckte ihre Überzeugung, wie man sieht, 
nicht. Sie legten, wenn ich diese Männer recht verstehe, über- 
haupt den Hauptton auf die Erziehung, die ja an einem Gerich- 
teten unmöglich ist. Die Täufer erlaubten es daher auch nicht, 
dass einer der Ihrigen ein obrigkeitliches Amt übernahm, da mit 
diesem, wie die Dinge nun einmal standen, die Führung des 
Schwertes notwendig verbunden war. Der Staat, sofern er Gewalt- 
herrschaft und Zwang übt, war ihnen ein notwendiges Übel, wel- 
ches nur solange erträglich scheint, als es neben Gläubigen und 
Gerechten auch Ungläubige und Ungerechte giebt. Im Übrigen 
forderten sie ihre Anhänger dringend zum Gehorsam gegen die 
einmal bestehende Obrigkeit auf und litten Verfolgung und Gewalt 
um ihres Glaubens willen gern. Das Streben nach der Nachfolge 
Christi und der Herstellung des Reiches Gottes auf Erden, dessen 
Kommen sie nahe wähnten, macht diese frommen Menschen be- 
sonders interessant, und man kann nicht läugnen, dass gerade die 
m 

x ) Thea. 36. 

2 ) Ludwig Keller, Geschichte der Wiedertäufer zu Münster (Mün- 
ster 1880). Derselbe, Ein Apostel der Wiedertäufer (Hans Denck) (Leipzig, 
S. Hirzel 1882). 


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1901. Der Staat bei Christus, Paulus und den Reformatoren. 81 

Täufer, namentlich solche erleuchteten Köpfe wie Denck, ihrer Zeit 
um ein Beträchtliches voraus waren. Wir wissen oft nicht, wie 
viel von dem, was uns heute in Fleisch und Blut übergegangen 
ist, eine alte, vielbestrittene Forderung der Täufer war. 

Das wird eine künftige Zeit noch des Näheren feststellen 
müssen; ihr Staatsideal ist jedenfalls damals unrettbar gescheitert 
und verloren gegangen, und wird erst heute wieder, aber aus ganz 
andern Motiven, hie und da aufgenommen und verteidigt Weder 
Bertha v. Suttner mit ihren „Waffen nieder“, noch Max Sdrners 
Nachtreter mit ihrem ausgeprägten individualistischen Nihilismus, 
noch auch Krapotkins und Reclus’ Anarchismus kann sich mit 
ihnen an Reinheit und Tiefe der Gesinnung irgendwie messen. 

Wir sind am Ende. Die Skizzen, so lückenhaft sie auch 
sind, werden gezeigt haben, wie unendlich schwer es ist, die hohen 
Ideale, die uns Jesus Christus in unvergänglicher Schrift vor- 
gezeiehnet hat, mit dem praktischen Leben dauernd und fest zu 
verknüpfen. Das Ziel ist zu hoch, die Schneide, auf der man 
zu ihm vorwärts schreiten muss, ist zu schmal, als dass Mensch 
und Menschen werk nicht verderben sollte auf dem Wege dahin. 
Welches Bild vom Staatsleben man aber als das dem gewollten 
ähnlichste auch wählen mag, immer muss es, wenn es dauern soll, 
einen Spruch als Umschrift und vornehmsten Befehl enthalten: 

An’s Vaterland, an’s teure, schliess Dich an, 

Das halte fest mit Deinem ganzen Herzen. 


Monatshefte der Comenius-Gcscllschaft. 1Ö01. 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft 

Von 

Dr. Heinrich Bomundt in Dresden-Blasewitz. 


Erster Teil. 

Der Platonlsmus in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft. 

1. Kapitel. 

Beim Urteil über Schönheit giebt sich ein Bestandteil 
der Erkenntnis von platonischer Art kund. 

Die Monatshefte der Comenius-Gesellschaft, Bd. IX. (1900) 
S. 129 — 145, enthalten einen Aufsatz über „Kants schiedsrichter- 
liche Stellung zwischen Plato und Epikur“. Den Anlass zu dem- 
selben gab das Buch von Friedrich Paulsen, „Immanuel Kant. Sein 
Leben und seine Lehre. Stuttgart 1898.“ 

In diesem Bliche ist zwar durchaus nicht zum ersten Male, 
aber doch mit einem Nachdruck wie vielleicht nie zuvor auf die 
Verwandtschaft Kants mit Plato hingewiesen und damit zugleich 
der Versuch gemacht, eine bis dahin herrschende gerade entgegen- 
gesetzte Auffassung der Kantischen Philosophie vom Markte zu 
verdrängen. Diese letztere, die den Anfang der erneuten Be- 
schäftigung mit Kant in den sechziger Jahren des neunzehnten 
Jahrhunderts machte und von Männern wie Fr. Alb. Lange, dem 
Verfasser der Geschichte des Materialismus, und seinen Freun- 
den, den Neukantianern, vertreten wurde, sah in Kant nur den 
Naturforscher und Erfahrungsphilosophen, der die Wissenschaft 
auf die blosse Erfahrung habe einschränken wollen, kurz: den 
Epikuräer und Humisten. 

Nach dem Hervortreten der dieser ersten gerade entgegen- 
gesetzten Auffassung bei Paulsen scheint nunmehr der Zeitpunkt 
gekommen zu sein, um das Verständnis des Kantischen Werkes 
über alle bisherigen Einseitigkeiten hinauszuführen und dieses Werk 
in seiner Ganzheit und wirklichen Eigentümlichkeit im Geiste, 
wenn auch nicht im Buchstaben seines Urhebers zu erneuern. 

Diese Arbeit ist von dem Verfasser dieser Zeilen zwar schon 
einmal vor bald zwanzig Jahren im Jubeljahre des Erscheinens 
der Kritik der reinen Vernunft 1881 in „Antäus. Neuer Aufbau 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


83 


der Lehre Kants über Seele, Freiheit und Gott." Leipzig, Veit 
u. Komp., in Angriff genommen, aber vielleicht, wie jetzt zu ver- 
muten, vor der Zeit, sofern damals die zweite Einseitigkeit der 
Auffassung, die platonisierende, ausser etwa in einer gänzlich ver- 
alteten Form, noch keine energische öffentliche Vertretung ge- 
funden hatte. Die jetzt in dieser Hinsicht veränderte Lage zu- 
sammen mit anderen Umständen scheint für die Wiederholung des 
Unternehmens im gegenwärtigen Zeitpunkte Hoffnung auf besseren 
Erfolg zu geben. 

Der Anfang dieser zweiten Erneuerung aber ist dem Publi- 
kum bereits in dem Eingangs erwähnten Aufsatze dieser Zeitschrift 
vorgelegt worden. Was nun in der genannten Abhandlung für 
Kants Kritiken von 1781 und 1788, für die Kritik der reinen 
Vernunft und die Kritik der praktischen Vernunft, dargelegt ist, 
das soll heute für das Werk von 1790, die Kritik der Urteilskraft, 
unternommen werden. Diese kündigt schon durch ihren Namen 
ihre Gleichartigkeit mit den Kritiken von 1781 und 1788 an: dass 
nämlich auch sie ein Schiedsgericht enthält oder dass, anders 
ausgedrückt, auch in ihr ein Gerichtshof errichtet ist für den 
Streit zweier Parteien, eben der Platoniker und der Epikuräer. 
Für Epikuräer mag jedoch auch hier wegen der Übeln Bedeutung, 
die sich an dieses Wort seit Alters angehängt hat, lieber gesagt 
werden: der Humisten. 

Sowohl in der Kritik der reinen wie in derjenigen der prak- 
tischen Vernunft fanden wir Kant damit beschäftigt, einen Be- 
standteil der menschlichen Erkenntnis von platonischer Art oder 
ein ideelles Moment darzuthuu, was aber, da auch ein völlig anders- 
artiges, entgegengesetztes, sensuelles oder materielles Element zwar 
mehr vorausgesetzt und hingenommen als ausführlich nachgewiesen 
wird, offenbar keineswegs gleichbedeutend mit blossem Platonismus 
ist. Einen Bestandteil gleicher platonischer, ideeller Art haben 
wir nun danach auch als Gegenstand der dritten Kantischen Kritik 
zu erwarten. Und Kant verhehlt nicht, dass er nach einem solchen 
geradezu gesucht hat, und ebensowenig, aus welchem Grunde er 
danach gesucht hat. 

Es macht sich nämlich zwischen der nach der Analytik der 
Kritik der reinen Vernunft uns zuzumutenden und mit Entwicke- 
lung der Wissenschaften mehr und mehr wirklich zugemuteten un- 
bedingten Unterwerfung der Geistes vermögen unter das zu Gebende 
zum Behuf der Erkenntnis oder dem durch diese Erkenntnis zu 
gewinnenden Wahren und andererseits der reinen rücksichtslosen 
Bestimmung des inneren und äusseren Verhaltens nach dem Gesetz 
der Exemplarität oder dem durch dieses Verhalten zu wirkenden 
Guten eine Kluft bemerklich. Ist es doch ein Gegensatz wie 
zwischen Nehmen und Geben. Zwischen dem leidenden Nehmen 
und dem thätigen Geben würde aber etwa vermitteln das Finden 

6 * 


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84 


Romundt, 


Heft 3 u, 4. 


eines Gesuchten oder die Erfüllung eines Wunsches. Beim Suchen 
nun nach einer Brücke, die diesem letzteren entspräche, zwischen 
dem auf Naturerkenntnis gerichteten und durch Erfahrungsbestäti- 
gung zu befriedigenden Geiste einerseits und dem sich von aller 
Erfahrung losreissenden und dieser selbst entgegenarbeitenden reinen 
Wollen andererseits fand Kant, dass wir uns eines Momentes, das 
über das blosse kalte Erkennen z. B. eines Palastes hinausführt, 
bewusst werden, wenn wir ruhiger verweilender Betrachtung Rpum 
gebend ein solches Gebäude noch zu beurteilen oder zu empfinden 
und zu schmecken versuchen. Dann nämlich werden wir eines 
Verhältnisses der gegebenen Vorstellung solches Gegenstandes 
nicht etwa nur zu irgend welchen vorzustellenden Gebrauchs- 
zwecken, wie z. B. zum Wohnen, inne, sondern vielmehr zu unseren 
Auffassungsvermögen selbst, die bei der Erkenntnis desselben in 
Anwendung kommen, und zu Forderungen, wie etwa der Einfach- 
heit, Fasslichkeit und wiederum der Mannigfaltigkeit, die in deren 
Natur begründet sind. Der Gegenstand aber, der Palast, heisst 
uns, je nachdem ein durch die Vorstellung desselben veranlasstes 
wohlgefälliges Spiel dieser Erkenntniskräfte, eine stärkende An- 
regung, deren Andauern zu wünschen wir nicht unterlassen kön- 
nen, oder auch das Gegenteil uns ins Bewusstsein tritt, in Kants 
Sprache: eine subjektive Zweckmässigkeit oder auch Unzweck- 
mässigkeit, schön oder hässlich. 

Für die einzelnen Merkmale dieses Gefallens, beziehungsweise 
Missfaljens, gestatte man dem Verfasser, der Kürze wegen auf 
die ausführliche möglichst fassliche Darlegung derselben in seiner 
Schrift „Eine Gesellschaft auf dem Lande. Unterhaltungen über 
Schönheit und Kunst mit besonderer Beziehung auf Kant.“ Leipzig, 
bei C. G. Naumann 1897, S. 13 — 36 zu verweisen. Hier werde nur 
das besonders Bedeutsame erwähnt, dass das von uns empfundene 
Gefallen oder Missfallen an der Vorstellung des Gegenstandes als 
ein notwendiges und allgemeingültiges jedem anderen Menschen 
gleichfalls von uns zugemutet oder angesonnen wird. In dieser 
Hinsicht besteht eine bemerkenswerte Verschiedenheit dieses Em- 
pfindens oder Schmeckens der Schönheit oder Hässlichkeit eines 
Palastes von dem Zungengeschmack. Niemand masst sich an, den- 
jenigen, dem junge Erbsen zu essen eine Qual ist, zu meistern, da 
über den Geschmack nicht zu streiten sei. Bei der zwar in Wirk- 
lichkeit vielleicht nicht geringeren Uneinigkeit über Schönheit von 
Gemälden, Statuen, Häusern aber ist man nicht zu der gleichen 
Duldsamkeit geneigt. Dieser Anspruch auf Allgemeingültigkeit 
meines subjektiven individuellen Schmeckens kann nun nach 
Menschenermessen begründet sein nur, sofern ich mich bei meiner 
Beurteilung von besonderen individuellen subjektiven Befangen- 
heiten des Urteils völlig frei nicht nur meine, sondern weiss. Dann 
aber wären — und darauf läuft Kants Deduktion oder Recht- 
fertigung dieses Anspruchs auf Allgemeingültigkeit des geistigen 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


85 


Geschmacks hinaus — einzig und allein die der Erfahrung ent>- 
gegenzutragenden zur gemeinen und gemeingültigen Erkenntnis 
dienenden Vermögen des Verstandes und der Einbildungskraft in 
Thätigkeit getreten als dasjenige Apriorische, an dem die Gegen- 
stände, die uns etwa Vorkommen, sich zu messen haben. Deren 
Übereinstimmung aber bei allen Menschen ist schon Voraussetzung 
aller Mitteilbarkeit von Erkenntnis. 

2. Kapitel. 

Das Unplatonische in der Fassung des platonischen 
Moments durch Kant 

Warum aber geben wir jenem von Kant im ersten Teil der 
Krit d. Urt, d. i. in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft, auf- 
gestellten, sorgfältig auseinandergelegten und eingehend beschrie- 
benen Apriori die Bezeichnung platonisch? Dies geschieht nicht 
nur, weil es ein der Erfahrung schon entgegenkommendes und 
nicht allererst aus ihr zu gewinnendes Moment ist. Eine weitere, 
genauere Begründung findet diese Benennung noch darin, dass 
jenes Apriori Kants den Kenner Platos geradezu an eine Stelle 
in der von Sokrates im platonischen „Gastmahl“ berichteten Rede 
der weisen Diotima erinnert, eine Stelle, welche nicht undeutlich 
als der Gipfel von deren Weisheit bezeichnet wird. Diotima 
spricht nämlich hier als von einem Letzten und Höchsten von 
einem gestaltlosen Schönen, „nicht wie ein Gesicht oder Hände 
oder sonst etwas, was der Leib an sich hat“, sondern „an dem 
alles andere Schöne auf irgend eine solche Weise Anteil hat, dass, 
wenn auch das andere entsteht und vergeht, jenes doch nie irgend 
einen Gewinn oder Schaden davon hat noch ihm sonst etwas 
begegnet“. Gastmahl, Kap. 29. 

Wer dies liest, wird uns zugeben, dass Plato hier wenigstens 
auf dem Wege zu der von Kant aufgedeckten und auseinander- 
gelegten Voraussetzung für die Erfahrung des Schönen einzelner 
sinnlicher und auch nicht sinnlicher Gegenstände in der mensch- 
lichen Natur war. Diese Voraussetzung kann ja ebenfalls mit 
Gesichtern und Händen keine Ähnlichkeit haben. Ob mehr als 
bloss auf dem Wege, dürfte aus den weiteren Darlegungen der 
Diotima erhellen. In diesen erklärt sie für das richtige Verfah- 
ren, von dem einzelnen Schönen beginnend, also z. B. von einem 
schönen Jünglingskörper, jenes einen Schönen wegen immer höher 
hinaufzusteigen, gleichsam stufenweise, von einem zu zweien und 
von zweien zu allen schönen Gestalten und von den schönen Ge- 
stalten zu den schönen Sitten und Handlungsweisen und von den 
schönen Sitten zu den schönen Kenntnissen, bis man von den 
Kenntnissen endlich zu jener Kenntnis gelange, welche von nichts 
Anderem als eben von jenem Schönen selbst die Kenntnis ist, 
und man also zuletzt jenes selbst, was schön ist, erkenne. Scheint 


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86 


Roraundt, 


Heft 3 u. 4. 


nun nicht hiernach Plato eine Reihe angenommen zu haben, die 
mit dem einzelnen schönen Körper beginnt und mit dem Schönen 
an sich selbst endet? Das aber wäre durchaus nicht dasselbe 
wie bei Kant. Denn bei diesem steht das bei Plato zuletzt Ge- 
nannte nicht mit jenen anderen Erfahru'ngsgegenständen in einer 
Reihe, sondern vielmehr ihnen allen insgesamt gegenüber. 

Übrigens bietet sich hier eine Gelegenheit, um ein für alle 
Mal zu bemerken, dass, wenn wir in dieser Abhandlung wie schon 
in dem vorher erwähnten Aufsatz der M.H. der C.G. und vielleicht 
auch in Zukunft von einem platonischen Bestandteil in Kants 
kritischer Philosophie sprechen, niemals an eine historische Ab- 
hängigkeit Kants von Plato zu denken ist Wir dürfen vielmehr 
einzig auf eine der platonischen verwandte Geistesart und Geistes- 
richtung schliessen, die unseren Landsmann auf eben dasselbe wie 
den grossen Denker des Altertums achten Hess. Aber die Fassung 
ist bei dem Nachlebenden schon wegen des fortgeschrittenen 
Standes der Wissenschaften und des Denkens notwendig eine 
andere, eine wahrere als bei seinem grossen Vorgänger. 

In dem vorliegenden Falle nun unterscheidet Kant das- 
jenige, was man nach den Worten der Mantineischen Fremden 
an Sokrates mit köstlichem Gerät oder Schmuck oder mit schönen 
Knaben und Jünglingen, kurz: mit einzelnen schönen Objekten 
nicht wird vergleichen wollen, als blosse Voraussetzung der Er- 
fahrung des Schönen zunächst allein im menschlichen Gemüte 
oder im Subjekte klar und scharf von allem einzelnen Schönen 
als Gegenständen der Erfahrung und Beurteilung. Dies schliesst 
nicht aus, dass in den geheimnisvollen W r orten Platos noch weit 
mehr und Höheres enthalten sein mag, als Kant daraus zunächst 
in der Analytik der Kritik der ästhetischen Urteilskraft einer ge- 
nauen eingehenden und erschöpfenden „Exposition" unterwarf und 
dadurch für die allgemeine Erkenntnis und Benutzung barg. Denn 
sollte Plato nach seiner Art nicht auch hier unter geringerer Be- 
achtung eines Nächsten, Mittleren auf das Höchste losgegangen 
sein? In diesem Falle würden wir noch einmal mit Kant auf 
diesen platonischen Bestandteil der Erfahrung des Schönen zurück- 
kommen müssen. Zunächst aber wollen wir nicht unterlassen, uns 
zu vergegenwärtigen, was schon mit dem ersten Fortschritt an 
Klärung der Einsicht bei Kant gewonnen ist. 

Dadurch, dass Kant das platonische Moment nicht wie Plato 
als ein gestaltloses Schönes, sondern als eine blosse Voraussetzung 
von Erfahrung im menschlichen Gemüte auffasst, entzieht er sich 
einer Gefahr, der Plato trotz allem nicht entgangen ist und nicht 
wohl entgehen konnte. Wir zielen hiermit auf eine Verdoppelung 
der Welt mit Bevorzugung des übersinnlichen Urbildes, die Plato 
schon von Aristoteles vorgeworfen ist und die verführen musste, 
die Welt der gestalteten Dinge, das einzige objektiv Schöne, zu 
fliehen, um bloss in einem Wölkenkuckucksheim herumzuschwär- 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


87 


men. Kant dagegen kann nur meinen, durch seinen Hinweis auf 
die Ursachen und Vermögen, die im menschlichen Subjekt liegen, 
das Verständnis der Erfahrung des Schönen dieser Welt gefördert 
zu haben. Diese Beschränkung auf die bescheidenere Aufgabe hat 
aber die weitere wichtige Folge, dass Kant anders als der welt- 
flüchtige Plato auch für sehr andersartige Bemühungen um eben 
dieselbe Erfahrung des Schönen offen und empfänglich bleibt. 

So, wie § 34 der Krit d. Urt. beweist, für das Streben eines 
Lessing, der sich auf das Objektive der Schönheit beschränkt und 
durch mannigfache Vergleichung der Objekte unter einander unter- 
scheidende Merkmale des Schönen zu gewinnen sucht. 

Ebenso hat Kant bereits, hierin ein Vorläufer unserer Moder- 
nen, aber ohne deren Einseitigkeit, ein sehr unplatonisches, viel- 
mehr humesches oder epikurisches Element in der Betrachtung 
schöner Kunst, nämlich die von Gegenständen dieser zu fordernde 
Naturwahrheit, zu würdigen vermocht. 

Wir denken hier an den goldenen Satz Kants in dem An- 
hang „von der Methodenlehre des Geschmacks" § 60: „Was das 
Wissenschaftliche in jeder Kunst anlangt, welches auf Wahrheit 
in der Darstellung ihres Objekts geht, so ist dieses zwar die un- 
umgängliche Bedingung der schönen Kunst, aber diese nicht selber." 
Wie ist mit dieser Einbeziehung eines neuen Moments, des wissen- 
schaftlichen, doch zugleich eine im Schlepptau blosser Wissenschaft 
laufende Kunst, diese grosse Gefahr überwiegend wissenschaftlicher 
Zeitalter, sofort für immer abgefertigt! 

Auf die im Objekt liegenden Ursachen der Schönheit tiefer 
einzugehen, konnte nun Kant freilich nicht für seine Aufgabe 
halten. 

Das unter Verweisung auf die entsprechenden Abschnitte der 
Kritik von 1790 von uns über Kant Bemerkte dürfte genügen, « 
um darzuthun, dass, wenn Kant sich in Bezug auf das Schöne 
auf eine bestimmte bis dahin vernachlässigte Aufgabe einschränkte, 
er doch für andere Beschäftigungen mit dem Gegenstände und für 
deren Bedeutung sich ein offenes Auge bewahrte. 

3. Kapitel. 

Worauf die Umänderung des erwähnten platonischen 
Bestandteils beruht und wie das neu Gefasste in seiner 
Eigentümlichkeit gesichert wird. 

Es drängt sich die Frage auf, wodurch die so völlig andere 
Fassung eines Moments, das offenbar schon Plato vorschwebte, 
bei Kant verursacht ist. Dass der neuere Denker eben dasselbe 
sofort so ganz anders gesehen hat als sein Vorläufer im Alter- 
tum, dafür finden wir die Ursache in einer Einsicht, die in den 
Jahrhunderten nach der Reformation allmählich auf den brittischen 


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Romundt, 


Heft 3 u. 4. 


Inseln aufgegangen war. Dieselbe Einsicht wurde Kant ausserdem 
schon durch die Richtung seines Geistes auf empirische Natur- 
forschung und Beobachtung, sofern sich nämlich mit dieser gründ- 
liche Selbstbesinnung verband, nahe gelegt Ausdruck gab ihr 
David Hume, wenn er schon 1739 f. in seinem Traktat über die 
menschliche Natur betonte und danach in der Untersuchung über 
den menschlichen Verstand wiederholte, dass alle unsere Gedankeu 
aus Eindrücken (impressions) unbekannter Dinge auf unsere Sinne 
hervorgehen und solche Dinge also uns nicht anders denn als ein 
im engen Kreise unseres Selbst, in meinem und in deinem Vor- 
stellungsvermögen Erschienenes gegeben und bekannt sind. Rech- 
ten und entschiedenen Ernst hat jedoch mit dieser Grundbesinnung 
erst Kant gemacht und konnte vielleicht erst er machen. Erst er 
nämlich wusste ihr ein Gift zu nehmen, das derselben sowohl bei 
dem Schotten Hume wie bei dem von diesem im letzten Abschnitt 
seiner „Untersuchung“ als Haupt aller alten und neuen Skeptiker 
gepriesenen irischen Bischof Berkeley noch innewohnt: das Gift 
der Parteilichkeit und Übertreibung mit seinen unheilvollen Wir- 
kungen. 

Wir finden den Ausdruck der in Rede stehenden Besinnung 
bei Kant in der Kritik der reinen Vernunft, z. B. in dem Satze 
(bei Rosenkranz S. 389): „Es sind die Gegenstände der Erfahrung 
niemals an sich selbst, sondern nur in der Erfahrung gegeben 
und existieren ausser derselben gar nicht“ Und S. 390: „Uns ist 
wirklich nichts gegeben als die Wahrnehmung und der empirische 
Fortschritt von dieser zu anderen möglichen Wahrnehmungen.“ 
Von Kant wird mit Entschiedenheit die ganze Zeitlichkeit mit 
allem ihrem unerschöpflichen Inhalt als solche dem menschlichen 
Gemüt und seiner blossen Auffassung zugeeignet; aber, wohlzu- 
merken, weil er sich gerade hierin und hierdurch völlig von den 
beiden genannten Skeptikern trennt, nicht, ohne alle innerhalb 
der Erfahrung bisher gemachten und zu machenden wesentlichen 
Unterschiede zu belassen und völlig anzuerkennen. Berkeley 
und Hume dagegen nahmen Partei für den einen Bestandteil der 
Erfahrung, den sinnlichen, zu Ungunsten des anderen, des intel- 
lektuellen oder geistigen. 

Auf unseren gegenwärtigen Fall angewendet verbleibt es also 
bei der zuerst von Plato gefundenen Unterscheidung zwischen den 
einzelnen schönen Gegenständen, köstlichem Gerät oder Schmuck, 
und dem damit nicht Vergleichbaren, Gestaltlosen, dem notwendig 
niemals zu Vermissenden, wo auch immer entstehende und ver- 
gehende einzelne schöne Gegenstände von uns angetroffen werden. 
Nur ist die von Plato als überschwänglich bezeichnete objektive 
Bedingung des Schönen, an der, was von Gesichtern und Händen 
u. dgl. schön sein solle, Anteil haben müsse, zu einem Über- 
schwänglichen in dem urteilenden menschlichen Subjekt geworden 
oder, mit Kants Ausdruck, aus einem nur kaum und mit Mühe 


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1901. 


Der Platon ismus in Kant» Kritik der Urteilskraft. 


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und bloss wie an einem nachschleppenden Zipfel zu erfassenden 
vermeintlich Transscendenten zu einem in eines jeden, auch des 
gemeinsten, Menschen Besitz befindlichen Transscendentalen. 

Es ist nur eine andere Benennung, wenn wir das der Men- 
schennatur angehörige allgemeine Mass in der strengen Absonde- 
rung, die von uns, wenn überhaupt, nur schwer zu erreichen ist, 
mit Kant als ein reines Apriori bezeichnen und die Fülle und 
Mannigfaltigkeit der einzelnen schönen Gegenstände der Erfahrung 
dagegen auf ein A posteriori zurückführen, das aus einem uner- 
schöpflichen Borne strömt. 

So also erklärt sich die entschiedene Abweichung Kants von 
Plato in der Fassung eines und desselben Moments. 

Auf eine wohlthätige Folge dieser Umänderung bei Kant 
wurde schon am Schluss des zweiten Kapitels hingewiesen. Noch 
nicht aber ist erwähnt, dass dasjenige, wovon wir schon in unserem 
ersten Kapitel wenigstens eine Probe vorlegten, die erschöpfende 
Darlegung der einzelnen Merkmale des ästhetischen Gefallens oder 
des Schönen, wie sie* in der Exposition von Kants Analytik vor- 
liegt* gleichfalls der Kantischen neuen Fassung verdankt wird. 

Plato konnte an eine solche vollständige Auseinandersetzung 
noch nicht wohl denken. Denn ihm erschien, wie wir schon an- 
deuteten und wie er durch den Mund der weisen Diotima, Gast- 
mahl Kap. 28, hinläuglich zu verstehen giebt, die letzte Ursache 
der Schönheit, wir würden heute sagen, der Erfahrung der Schön- 
heit aller einzelnen Gegenstände, das Schöne an sich selbst, sofort 
als etwas kaum noch zu Fassendes, das einer weiten See gleich 
für das geistige Auge sich ins Unendliche und in undurchdring- 
liche Nebel verliere. Ganz anders nun, nachdem durch Kants 
neue Fassung gerade dasjenige, das dem Plato sich zu entziehen 
schien, als in der Gewalt eines jeden Menschen befindlich offen- 
bar geworden ist Nun verlieren sich umgekehrt vielmehr die am 
menschlichen Masse zu messenden schönen Gaben und Produkte 
der Natur ins Unendliche und nie Auszuschöpfende, ein Gegen- 
stand nie abzuschliessender Beobachtung und Vergleichung. 

Und nicht genug, dass nun eine vollständige Darlegung der 
Merkmale der Schönheit möglich geworden ist. Es konnte jetzt 
sogar eine Rechtfertigung der überschwänglichen Anmassung, deren 
sich ein Menschenkind in Urteilen des Geschmacks schuldig zu 
machen scheint, wenn es für seine Sprüche die Zustimmung aller 
anderen Beurteiler, also Allgemeingültigkeit fordert und dieselben 
als notwendig behauptet, mit Aussicht auf Gelingen unternommen 
werden. Dies ist etwas in der bisherigen Philosophie geradezu 
Unerhörtes. Wir haben im Unterschiede von Kant diese De- 
duktion der Merkmale der Allgemeingültigkeit und Notwendigkeit 
der Kürze wegen gleich mit der Exposition im ersten Kapitel am 
Schluss verbunden, wohin zurückzuverweisen gestattet sei, 


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no 


Rnmundt, 


Heft 3 u. 4. 


Hier wollen wir nur noch einmal betonen, dass die Recht- 
fertigung dieser Ansprüche des ästhetischen Urteils unter eine 
bedeutsame einschränkende Bedingung gestellt war. Bedingung 
ist, dass die Beurteilung von allen privaten individuellen subjek- 
tiven Befangenheiten frei sei. Das nun aber ist ein Verlangen, 
das in Wirklichkeit vielleicht nie erfüllt wird, so dass wir für 
kein wirklich gefälltes Urteil über Schönheit eines Gegenstandes 
die Anerkennung aller andern zu fordern je berechtigt sind. In- 
sofern also würde jene Deduktion nur die Rechtfertigung eines 
Ideals, nicht einer überall schon anzutreffenden gemeinen Wirk- 
lichkeit bedeuten. 

Da aber dasjenige, was Kant vorsichtig allein in Betracht 
zieht, in der That doch allen wirklichen noch so stark verun- 
reinigten Urteilen des Geschmacks zu Grunde liegt, so ist diese 
Beschäftigung mit dem Ideal auch für die Wirklichkeit nicht etwa 
verloren. Enthält sie doch eine Aufforderung zu sorgsamer Rein- 
haltung und Reinigung solcher Urteile von allem Fremdartigen, 
bloss Subjektiven. Und weiter bildet dieser Hinweis auf ein Ideel- 
les, das der Wirklichkeit zu Grunde liegt, einen festen bleibenden 
Hort gegen allerlei Angriffe auf das gemeine Geschmacks vermögen. 
Solche Anfechtungen werden gerade durch dessen wirklichen, oft 
misslichen Zustand veranlasst und zielen selbst auf seine völlige 
Verdrängung ab, um an Stelle des allgemeinen Geschmacks allein 
die verschieden begründete, zum teil auch in ihrer Gestalt wech- 
selnde Befangenheit von Fachleuten, Technikern und Kunstge- 
lehrten, als einzig massgebende Autorität zu setzen. So jedoch 
würden wir zwar nicht aus dem Regen unter die Traufe, aber 
doch wohl auch noch nicht unter ein sicheres Dach geführt 

Wohlmeinende neuere Künstler haben bei dem zunehmenden 
Subjektivismus moderner Künstler und Kritiker vielmehr schon den 
so leicht gefährdeten und verunreinigten rohen Geschmack und 
seine Grundlage, den gesuuden Menschenverstand, im Publikum 
als dasjenige in den modernen stürmischen Kunstbewegungen be- 
zeichnet, ohne dessen Vorhandensein und Vorhalten in der Kunst 
längst alles drunter und drüber gegangen wäre. Wir denken hier 
z. B. an einen in Künstlerkreisen mit Beifall aufgenommenen und 
auch als Sonderabdruck aus der „Deutschen Revue" vom Septem- 
ber 1898 veröffentlichten Artikel von dem Düsseldorfer Land- 
schaftsmaler Heinrich Deiters über „Künstler, Kunstschreiber und 
den gesunden Menschenverstand". — Was dürfen wir danach erst 
von einem Volksgeschmack hoffen, der unter der Zucht des Ideals, 
so weit dieses in einer schönen Kunst hoher und lauterer Meister 
von Genie, wie etwa in Albrecht Dürers Stich „Ritter, Tod und 
Teufel" und in Alfred Rethels beiden Holzschnitten vom Tode 
Verwirklichung und Bekräftigung gefunden hat, als seinem Ge- 
wissen steht! 


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1901. Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 91 

Während wir uns soeben aus unserem ersten Kapitel wieder 
vergegenwärtigten, wie wir die Allgemeingültigkeit der Urteile 
eines reinen Geschmacks zu begründen haben, ist vielleicht dem 
Leser schon aufgefallen, dass von Kant durch sein Zurückgehen 
auf eine nicht irgendwie, so oder so, subjektiv getrübte Thätig- 
keit eben derselben menschlichen Auffassungsvermögen, die für 
gemeine Erkenntnis in Betracht kommen, aus Anlass der gegebenen 
Vorstellung z. B. eines Palastes eine uralte dunkle Ahnung ver- 
ständlicher gemacht ist. Wir meinen die Sage von einer tiefen 
Verwandtschaft des Schönen mit dem Wahren, bis dahin nicht 
viel mehr als ein völlig rätselhafter Traum. 

Die bei Gelegenheit der Rechtfertigung des Geschmacks 
in seinen Ansprüchen von uns angedeuteten Gefährdungen des 
lebendigen gemeinen Menschenurteils in seiner Reinheit, z. B. durch 
die Sensationen gröberer Reize und deren Vordrängen an seine 
entscheidende Stelle oder auch durch das Betonen blosser grösster 
Naturwahrheit von Kunstwerken und der Illusion dieser, sind aber 
nicht die einzigen. Es findet sich auch eine Bedrohung der 
Stellung des Geschmacks als eines autonomen obersten Beurteilungs- 
vermögens in der öffentlichen Meinung durch einen argen Streit 

Dieser entspinnt sich aus dem gewöhnlichen sinnlichen 
Denken und dem Hange dieses, blosse Erfahrungsgegenstände als 
solche schon für Dinge an sich selbst anzusehen, einem Dogma- 
tismus, dem die Kantische Kritik überall mit ihrer schon erwähnten 
Grundbesinnung entgegentritt. 

Gerade die Einzigartigkeit des Geschmacks, die in seiner 
Subjektivität und dabei doch beanspruchten Objektivität bei und 
mit einander besteht, scheint ein Missverständnis und daraus ent- 
stehenden Widerstreit veranlassen zu müssen. Diese entwickeln 
sich eben deshalb in einem jeden von uns Menschenkindern, 
kommen aber auch hier wie auf anderen Gebieten menschlicher 
Erkenntnis gleichfalls äusserlich in grossen Parteien in der Mensch- 
heit und in deren Kampf mit einander zum Ausdruck. Hier nun 
so, dass man einerseits wohl zu begreifen vermag blosse Sub- 
jektivität des Geschmacks von der Art, wie sie nach unserem 
1. Kapitel beim Zungen- und Gaumengeschmack statt hat als 
Wirkung eines und desselben Gegen Standes ~auf leibliche Organe, 
die bei verschiedenen Personen vielleicht nicht ganz gleich ge- 
artet sind. Diese Wirkung wird deshalb auch bei verschiedenen 
Individuen nur zufällig übereinstimmen, und ein Anspruch auf 
Allgemeingültigkeit kommt nicht auf. Solches wahrheitswidrige 
Hinunterdrücken des geistigen Geschmacks auf eine dem Zungen- 
geschmack entsprechende niedere Stufe ist aber bei denjenigen 
anzutreffen, die sagen : „Ein jeder hat seinen eigenen Geschmack“, 
und deshalb „lässt sich über den Geschmack nicht streiten“. 

Hiergegen nun regt sich notwendig eine Gegnerschaft, welche 
auf die natürlicherweise ebenfalls beanspruchte Objektivität des 


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Roimmdt, 


Heft 3 u. 4. 


Geschmacks sich stützt und am Ende meint, sogar mit wissen- 
schaftlicher Strenge und Unanfechtbarkeit jene Formen feststellen 
zu können, die, wie sich ein Anhänger dieser Partei einmal aus- 
drückt, dem schönen vor dem hässlichen Gehäuse den Vorzug 
geben. 

Wenn nach diesen Objektivisten die Entscheidung über ein 
Gemälde nicht nur dafür, ob es naturwahr oder, besser nur, ob 
es gross oder klein, sondern ob es schön ist, gleichsam bei einer 
im Schranke aufzubewahrenden und nur noch an das gegebene 
Bild anzulegenden Elle mit ihren genau bestimmten Unterab- 
teilungen liegt, so wäre in der That der Anspruch des Geschmacks 
auf Allgemeingültigkeit und Objektivität sehr wohl zu verstehen, 
in sich klar, so zu sagen wasserklar. Das kann nun freilich von 
einer Verbindung von Subjektivität und Objektivität, Feuer und 
Wasser, in eins, wie sie Kants Kritik als Eigentümlichkeit des 
gemeinen Geschmacks unentwegt und treu festhält und verficht, 
nicht behauptet werden. Sollte jedoch bei den letztgenannten 
Objektivisten nicht im Gegensatz zu den früheren Subjektivsten 
von einem wahrheitswidrigen Uberschrauben des Geschmacks ge- 
redet werden dürfen? 

Jedenfalls aber ist bei diesen wie bei jenen, und das heisst: 
bei allen möglichen Parteien, von einem Mangel an gebührender 
Achtung vor sei es begreiflichen, sei es unbegreiflichen Thatsachen 
der Natur und Erfahrung zu sprechen. Denn ein bloss Ersonnenes 
und Ausgeklügeltes ist in Urteilen des Geschmacks die Betonung 
des Subjekts und derUnerlässlichkeit von dessen eigenem Schmecken 
zum Behuf der Beurteilung ganz und gar nicht Vielleicht hat 
sogar diese Eigentümlichkeit dem geistigeren Geschmack den 
gleichen Namen mit dem Zungen- und Gaumengeschmack zu- 
gezogen, und in ebenderselben Eigenschaft dürfte auch begründet 
sein, dass man sich die Schönheit eines Gedichtes oder eines 
Bildes ebenso wenig wirklich auf sch watzen lässt wie den Wohl- 
geschmack einer Speise. Ein bloss Erdichtetes aber ist genau 
ebenso wenig der Anspruch auf den Beifall eines jeden anderen 
zu meinem Urteil. 

Von einem Manne wie Kant, der in erster Linie, was aller- 
dings z. B. Fichte, der Moralprediger, noch nicht beachtet hat, als 
Naturfreund und Naturforscher angesehen sein will , war nun 
zunächst Achtung vor dieser Thatsache und wahrheitsgemässes 
Stehenbleiben bei ihr zu erwarten ; von eben demselben als einem 
gründlichen Denker danach aber freilich auch die Besinnung, dass 
es sich bei dem so beschaffenen Urteilen des Menschen um ein 
blosses Phänomen, zu deutsch : Erscheinung, eine blosse Erfahrung 
handelt, das heisst : nicht schon um ein Letztes, sondern um etwas, 
das in der Besinnung noch für ein Letztes Raum lässt. 

Ein derartiges Letztes aber nun bietet sich tar in dem von 
uns im zweiten Kapitel erwähnten gestaltlosen Schönen Platos, 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


93 


„dem an und für sich immer einartig seienden", das heisst doch 
wohl: einem Übersinnlichen von gänzlich unbestimmter Art 
für unsere menschliche Auffassung. Nehmen wir eine Beziehung 
auf den Begriff dieses Übersinnlichen an als einer Sache, die 
dem Subjekt, das über Schönheit einer Blume urteilt, und ebenso 
diesem beurteilten Gegenstände in der Erfahrung des Subjekts 
zu Grunde liegt, so sind in dem unter diesen Beziehungen ent- 
stehenden Urteil sowohl die Gewissheit, dass ich für mich selbst 
die Blume als schön erkenne, wie auch die darüber hinausgehende 
Ausdehnung der Gültigkeit des Schönheitsprädikats auf alle 
anderen Beurteiler oder, mit anderen Worten, die Gewissheit, dass 
die Blume schön ist, mit einander ganz wohl zu verstehen. 

Die Rücksicht auf den Begriff des Übersinnlichen von un- 
bestimmter Art würde aber auch den Widerstand der blossen 
Subjektivisten gegen die mit dem bestimmten eingeteilten Mass- 
stab ihrer Elle auf sie vorrückenden Objektivsten wie auch 
andererseits die Gegnerschaft dieser Objektivisten gegen eine Art 
von blossem Zungen- und Gaumensubjektivismus erklären. Dass 
der berechtigte Widerspruch aber auf beiden Seiten, wie die Jahr- 
tausende her vor dem Erscheinen von Kants V ernunftkritik ge- 
schehen ist und auch künftig schwerlich unterbleiben wird, in 
völlige Ausschliessung des Gegners ausartet, geschieht unter Ein- 
wirkung des sinnlichen Dogmatismus der natürlichen Denkweise. 
Dieser verbitternden Übertreibung für die Zukunft mehr und 
mehr zu wehren, ist die Aufgabe einer Kantischen Vernunftkritik. 

Dass nun Kant den Begriff eines für uns völlig unbestimmten 
Übersinnlichen als letzte Ursache aller Urteile des Geschmacks 
und aller Schönheit annimmt, erscheint nach der Absonderung 
der allgemeinen Merkmale des Schönen in der Exposition der 
Analytik, wie sie in einer Probe in unserem ersten Kapitel vor- 
liegt, sehr verständlich, ja unvermeidlich. Wie aber sollen wir 
uns die gleiche Annahme schon bei Plato erklären, bei dem wir 
das Fehlen jener Ausscheidung eines Mittleren als grössten Mangel 
bezeichnen mussten? Hier bleibt als einzige Auskunft der all- 
durchdringende Tiefblick des Genius, dem nun nach Jahrtausenden 
endlich Kants kritische Zergliederung zur dauernden Rechtfertigung 
verholfen hat. 


4. Kapitel. 

Herstellung einer Brücke zwischen dem Wahren und 
dem Guten durch das Schöne. 

Wir blicken noch einmal auf den rasch durchlaufenen Inhalt 
von Kants Kritik der ästhetischen Urteilskraft zurück. Von Auf- 
decken, Darlegen in einer berichtigten Form, danach Rechtferti- 
gung eines neuen platonischen Moments schritten wir zuletzt vor 
zur Verteidigung desselben in seiner einzigartigen zarten Eigen- 


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Romundt, 


Heft 3 u. 4. 


tümlichkeit gegen Anfechtungen von links und von. rechts her 
und damit zu seiner dauernden Bergung aus einem Streit, der nie 
erlischt und allzu leicht verderblich wird. Wir haben auch nicht 
unterlassen, darauf aufmerksam zu machen, dass die Auflösung 
der Antinomie in diesem Falle zunächst und vor allem auf der 
unverbrüchlichen Achtung Kants, des Physikers, vor der Natur 
und vor gegebenen Thatsachen beruht. Diese lässt ihn übereiltem 
Schliessen und Vernünfteln gegenüber treu an dem Gegebenen 
und seiner Eigentümlichkeit festhalten, vorenthält aber dann auch 
nicht, sondern gewährt vielmehr in einer für uns Menschen wohl 
abschliessenden Gestalt dasjenige, worauf es das Vernünfteln in 
seinem rücksichtslosen Vordringen einzig abgesehen hatte: nämlich 
eine letzte Ursache der Natur und Beschaffenheit unseres Wohl- 
gefallens am Schönen aller Art 

Der Schluss unseres dritten Kapitels aber dürfte den Leser 
hinlänglich überzeugt haben, dass die Form eines Schiedsgerichts 
zwischen zwei Parteien* auch in der Kritik der ästhetischen Urteils- 
kraft von Kant keineswegs gesucht und früheren Abteilungen der 
Kritik nur nachgekünstelt ist, wie auch hier wieder Schopenhauer 
und Paulsen gemeint haben. Von diesen tadelt der erstere in 
seiner Kritik der Kantischen Philosophie ganz besonders die 
Antinomie der ästhetischen Urteilskraft als „an den Haaren her- 
beigezogen“. 

Wenn wir so der Verkennung der innerlichen Begründung 
der äusseren Gestalt auch der Kritik von 1790 entgegen treten 
müssen, so wollen wir doch auch hier durchaus nicht die mannig- 
fachen Mängel von Kants Darstellung bemänteln, sondern möchten 
vielmehr Kants eigene Bezeichnung der Kritik der reinen Ver- 
nunft als einer , frohen Bearbeitung“ Moses Mendelssohn gegen- 
über auch auf die Kritik der Urteilskraft wie überhaupt auf alle 
Teile der Kantischen Kritik ausdehnen. Gut aber, dass Kant 
sich durch die von ihm selbst empfundene Dunkelheit und Ver- 
wickelung des Problems der ästhetischen Urteilskraft, über die 
er sich in der Vorrede ausspricht und auf die er auch nachher 
noch einmal in der zweiten Anmerkung nach der Auflösung der 
Antinomie zurückdeutet, nicht von der Leistung desjenigen hat 
abschrecken lassen, was nur er geben konnte. 

Den wenn auch durchaus nicht bloss äusserlichen Mängeln 
der Darstellung kann jetzt allmählich abgeholfeu werden. Hätte 
ihnen aber nicht schon längst abgeholfen sein sollen ? Diese Frage 
legt ein Blick auf die Geschichte der Philosophie im letzten 
Jahrhundert zumal in Deutschland nahe genug, ein Blick auf die 
Nachfolger Kants an den Universitäten und ihre längst zusammen- 
gefallenen Kartenhäuser, die an Güte schwerlich auch nur den- 
jenigen gleichzustellen sind, die Kant im Eingänge zum dritten 
Hauptstück des ersten Teils der „Träume eines Geistersehers, 
erläutert durch Träume der Metaphysik“ im Jahre 1766 als Ge- 


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1901. 


Der Platon iemuß in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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dankenwelten von Luftbaumeistern vor Augen hatte. Zumal beim 
Gedenken an den Wunsch, den Kant so oft in seinen Büchern 
seinem Leser ans Herz legt, er möge seine Bemühungen mit denen 
des Verfassers vereinigen und das Seinige dazu beitragen, um 
den von Kant gebahnten Fusssteig zur Heeresstrasse zu machen. 

Ehe wir nun Kants Lehre vom Schönen verlassen, müssen 
wir noch einmal auf die Frage unseres ersten Kapitels zurück- 
kommen, ob und fnwiefern durch denjenigen Teil der kritischen 
Philosophie, der von der Schönheit handelt, eine Brücke zwischen 
dem Wahren von 1781 und andererseits dem sittlich Guten von 
1788 hergestellt ist. 

Uber die innere Verwandtschaft des Schönen mit dem 
Wahren, über dessen kalte Erkenntnis die Beschäftigung mit 
jenem hinausführt, dürfte das in dem vorangehenden Abschnitt 
Gesagte genügen. Dass aber die Brücke der Schönheit, die von 
der Wahrheit ausgeht, über die Kluft hinüber wirklich bis an 
die andere Seite des sittlich Guten hinführt, dafür weist Kant in 
dem § 59 „Von der Schönheit als Symbol der Sittlichkeit“ auf 
eine merkwürdige Ähnlichkeit zwischen dem Schönen und dem 
sittlich Guten hin. 

Es kommt hier besonders der in unserem ersten Kapitel 
erwähnte Anspruch auf allgemeine Zustimmung für unsere Urteile 
über Schönheit und Unschönheit von Gegenständen in Betracht 
Denn erinnert dieser Anspruch nicht an die allerdings allererst 
von der kritischen Philosophie gewonnene strenge Formulierung 
des sittlichen Gesetzes, die Formel der Allgemeingültigkeit, ver- 
mittelst deren wir mit deutlichstem Bewusstsein in Zweifelsfällen 
feststellen, ob ein Verhalten, das sich uns in gegebener Lage 
empfiehlt, in der That zu wählen oder zu verwerfen ist? — 
Wahrhaftigkeit, Treue, Keuschheit u. s. w. eignen sich zum äusseren 
und inneren Verhalten nach dieser Probe, so dass man mit ihnen, 
wie es heisst, jedermann frei unter die Augen treten kann mit 
dem stillschweigenden Anspruch, dass alle anderen sich ebenso 
betragen. 

Die Ähnlichkeit nun zwischen dem Schönen und dem sittlich 
Guten in dieser Hinsicht oder, wie Kant mit scharf treffendem 
Ausdruck sagt, „die Analogie“ der Reflexion über das Schöne 
und das Gute ist unverkennbar. Nur dass im Praktischen als 
eine deutliche Forderung erscheint, was bei Urteilen des Ge- 
schmacks noch als blosse Erwartung sich darstellt, nach deren 
Erfüllung wir doch gern z. B. in Museen und Theatern um uns 
sehen. Im Gebiete des Wahren und der blossen kalten Erkenntnis 
ist es eine kaum noch empfundene, von keinem Zweifel ange- 
fochtene sichere Voraussetzung. 

Einmal aufmerksam gemacht auf diese Beziehung zwischen 
dem Schönen und dem Guten, genauer: in dem Denken über 
dieses und jenes, bemerken wir leicht noch andere Ähnlichkeiten. 


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Romundt, 


Heft 3 u. 4. 


So das von irgend welchen Zweckerwägungen völlig Unabhängige, 
Unmittelbare sowohl in dem Wohlgefallen an der Anschauung 
einer Tulpe wie auch in demjenigen an dem Begriffe von un- 
wandelbarer Treue und Redlichkeit in der Freundschaft Weiter: 
die Unabhängigkeit beider Arten des Wohlgefallens von jedem 
besonderen Interesse und Verlangen persönlicher Art, von Hunger, 
Durst und jedem anderen Appetit. Endlich hier wie dort das 
innerlich Einstimmige, Harmonische, tief Ruhige: die Stille der 
Seele darin. 

Diese Ähnlichkeiten fallen um so mehr auf, da übrigens 
die Geistesthätigkeit im Urteil über Schönes und über Gutes 
keineswegs ganz die gleiche ist. Denn als Ursache davon, dass 
uns eine Blume gefällt oder auch missfällt, haben wir eine re- 
flektierende Anschauung derselben anzusehen, demnach aber ein 
Verbleiben unseres Geistes im Gebiete der Anschauung auf der 
Gestalt, die uns vorliegt, gleichsam ein Auf- und Niederwandeln 
auf dieser, welchem Verweilen wir je nachdem uns hingeben oder 
auch widerstreben. Dagegen hat das allgemeingültige Wohlgefallen, 
das uns z. B. durch das unentwegte Festhalten an einer einmal 
ergriffenen grossen und guten Aufgabe abgenötigt wird, ein blosses 
Denken und den allgemeinen Begriff solches Verhaltens zur Vor- 
aussetzung. 

Diese Verschiedenheit in den Geistesthätigkeiten selbst aber 
muss doch auch in der Beschaffenheit des Wohlgefallens, das da- 
durch bewirkt wird, zum Ausdruck kommen. 

In der That ist es bei dem ästhetischen Urteil einzig eine 
Harmonie der durch die Vorstellung einer Blume oder einer mensch- 
lichen Gestalt angeregten und an ihr thätigen Vorstellungskräfte, 
die wir mit Lust empfinden. In dem Begriff der Treue dagegen 
und anderer allgemeingültiger Verhaltungsarten werden wir einer 
Freude an der Einstimmigkeit des Willens mit sich selbst, die in 
dieser Vorstellung nie zu vermissen ist, bewusst. Von dieser 
Freude sind wir auch gewiss, dass nicht nur wie bei dem Schönen 
alle sinnlich-vernünftigen Wesen, kurz: alle Menschen, sondern, 
welche vernünftigen Wesen wir auch ausser den Menschen und 
über sie hinaus uns denken mögen, sie teilen müssen. 

Der auffälligste Unterschied aber dürfte sein, dass das Ge- 
fallen an einer schönen Gestalt interesselos und rein beschaulich 
nicht nur anfängt, sondern auch in diesem Zustande unveränder- 
lich verbleibt, durch das in der Vorstellung Gegenwärtige schon 
völlig befriedigt, während das Gefallen an Treue und Redlichkeit, 
das zwar ebenso uninteressiert anfängt, doch ein Interesse an der 
Existenz solcher Handlungen auch ausserhalb der blossen Vor- 
stellung mit sich führt, nämlich bewirkt. Deshalb ist es mit einem 
nötigenden Stachel und Antrieb verbunden. 

Ziehen wir das Schlussergebnis aus dieser Übersicht der 
Ähnlichkeiten und der Verschiedenheiten für das Verhältnis einer 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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wirklichen ernsten Beschäftigung mit reiner hoher Schönheit in 
Natur und Kunst zum Sittlichguten: jene wird geeignet sein, in 
die rechte Stimmung auch für strenge Sittlichkeit des Verhaltens 
zu versetzen. Und sollte man nicht so viel in der That von einer 
empfänglichen Aufnahme einer Goetheschen Iphigenie oder auch 
von Goethes Hermann und Dorothea erwarten dürfen, ja auch von 
einer verweilenden und sich wiederholenden Betrachtung eines 
praxitelischen Hermes oder des so unsagbar keuschen, ernsten und 
treuherzig-innigen Liebesfrühlings von Max Kruse, eines Tizian- 
schen Zinsgroschens und der Sixtinischen Madonna des Rafael? 
Es ist dieselbe reine Luft, nur in der Strenge unterschieden, die 
im Reiche der echten Schönheit und in dem des Sittlichguten 
weht 

Auch wird mit unserer Bezeichnung des Verhältnisses nichts 
Unerhörtes behauptet Ja, diese Auffassung scheint schon die- 
jenige Platos gewesen zu sein, mehr allerdings nach einem Ein- 
druck, der im Publikum von dessen Gesprächen verbreitet ist, 
von ihrer künstlerischen, anmutigen Form bei dem tief ernsten 
Inhalt, als nach dem Wortlaut seiner Lehren. Denn Plato scheint 
einen Übergang von blossen schönen Natur- und Kunstdingen 
selbst zu hoher Tugend nicht gekannt und anerkannt zu haben, 
sondern einzig von dem Übersinnlichen, das dem Wohlgefallen 
am Schönen zu Grunde liegt, von demjenigen, was er das Schöne 
an sich selbst nennt In Bezug auf denjenigen Menschen, der 
bis zu dieser Höhe sich erhoben hat, was aber doch etwas völlig 
Anderes als blosse Natur- und Kunstbetrachtung ist, die bei den 
Gegenständen verweilt, lässt er freilich Diotima im Gastmahl Kap. 
29 den Sokrates fragen, ob derselbe wohl ein schlechtes Leben 
führen könne. Ob Sokrates nicht meine, fährt sie fort, dass ein 
solcher nicht bloss geringe Nachbilder der Tugend, sondern das 
Original selbst, wahre Tugend, erzeugen und auf ziehen werde? 

Wir sind danach zwar berechtigt zu sagen, dass für Plato 
der Eros, die durch das Schöne entzündete Liebe, der Führer zu 
herrlichen Tugenden und zu allem Höchsten war. Aber angesichts 
der etwas geringschätzigen Äusserungen besonders in dem zweiten 
und dritten der platonischen Bücher vom Staate über Kunst und 
Künstler, über Homer und andere grosse griechische Dichter, die 
zwar durch den besonderen Zusammenhang in einem pädagogischen 
Abschnitt bedingt sind, muss man sich wohl hüten, die Schätzung 
Platos für die Erhebung des Geistes zu der letzten Ursache des 
Schönen auf die Gegenstände schöner Natur und zumal Kunst 
selbst zu übertragen. Die Philosophie hat in Plato noch nicht 
diejenige hohe Unparteilichkeit erreicht, die sie befähigt, den ge- 
gründeten Ansprüchen sowohl der Kunst des Schönen wie der 
Wissenschaft des Wahren auf Selbständigkeit völlig gerecht zu 
werden. Beide Bedürfnisse mit einander befriedigt erst die Kan- 

Monatshcfte der Comenius-Gesellschaft. 1901. 7 


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Romundt, Der Platonismus etc. 


Heft 3 u. 4. 


tische Kritik , deren dritter Teil in seinem ersten Abschnitt ge- 
radezu dem Zweck gewidmet ist, der Schönheit den eigenen, 
dauernden Platz, der ihr gebührt, allen Widersachern von rechts 
wie von links, von unten wie von oben gegenüber in der Welt 
zu sichern. 

So dürfen wir denn Kant im Unterschied von Plato als 
Verteidiger der Selbständigkeit der Schönheit und ihrer Kunst 
bezeichnen. Wenn wir aber dies thun und mit ihm in der Schön- 
heit nicht mehr als ein Symbol, d. h. eine nur sehr indirekte 
Darstellung der Sittlichkeit, erkennen, die also mit einem platten 
unmittelbaren Moralisieren, wie es Schiller in der Satire „Shake- 
speares Schatten“ geisselt und wonach am Schlüsse des Schau- 
spiels das Laster sich erbricht und die Tugend sich zu Tische 
setzt, nicht das Mindeste gemein hat, so wollen wir doch auch 
nicht eine Andeutung am Schlüsse des letzten Paragraphen der 
Kritik der ästhetischen Urteilskraft übersehen. Hier meint unser 
Philosoph, dass die Strenge des sittlichen Verhaltens, die immer 
nur mit Mühe zu erreichen und zu behaupten ist, und die Gewöh- 
nung an sie eine bessere Propädeutik für Reinheit und Höhe des 
ästhetischen Geschmacks sei als umgekehrt. Ein wertvoller Wink 
unseres kritischen Philosophen, der aus der Einsicht in die ganze 
Schwierigkeit der Verwirklichung echter Tugend, aber auch echter 
Schönheit in dieser Welt hervorgeht und der gemeinen Meinung 
über diese Dinge wenig gemäss ist Denn diese ist wohl bereit, 
im Schönen eine Schule für das Sittlichgute zu sehen, gar nicht 
aber umgekehrt Kant begründet seine paradoxe entgegengesetzte 
Ansicht sehr einleuchtend damit, dass nur von der von ihm em- 
pfohlenen Ordnung eine bestimmte unveränderliche Form für den 
Geschmack zu erhoffen sei. Übrigens würde durch solche Unver- 
änderlichkeit und Einheit die grösste Mannigfaltigkeit und Natur- 
wahrheit im Inhalte der von diesem Geschmack gut zu heissenden 
Kunstwerke keineswegs ausgeschlossen sein. 

Es wird kaum noch erforderlich sein anzugeben, dass durch 
Kants Hinweis auf die Ähnlichkeit zwischen dem Schönen und 
dem Guten nunmehr der Beweis für eine Verbindung des Wahren 
mit dem Guten, nämlich durch das Band der Schönheit, vollen- 
det ist. 

(Der zweite Teil folgt im nächsten Hefte.) 


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Zur Erinnerung an Karl von Hase. 

Festrede, 

gehalten bei der Denkmals -Enthüllung in Jena am 11. Juli 1900 

von 

Friedrich Nippold. 


Hochverehrte Festgenossen ! 

Was kann an dieser Statte, in diesem Augenblick über einen 
Mann wie Hase gesagt werden? Wie lässt das geistige Bild des 
all verehrten Patriarchen sich überhaupt zeichnen, während wir 
doch alle ungeduldig darauf warten, die Verkörperung seines 
Wesens mit Augen zu schauen? Von irgend welcher wissenschaft- 
lichen Würdigung des gelehrten Forschers kann hier nicht die 
Rede sein. Auch die knappste Zusammenfassung eines schier 
unermesslichen Stoffes wäre in diesem Moment unthunlich. Nur 
darum kann es sich handeln, das zum Ausdruck zu bringen, was 
unser aller Herzen gemeinsam bewegt 

Eben deshalb aber drängt sich demjenigen, der dem per- 
sönlich Unersetzlichen im Amt, in der Fachwissenschaft folgte, 
unwillkürlich das gleiche Wort auf die Lippen, wie bei meiner 


Anmerkung. Über die Enthüllungsfeier des Hasedenkmals haben 
die Zeitungen und die illustrierten Blätter die üblichen Berichte gebracht. 
Das — in der That überaus gelungene — Denkmal ist in denselben zur 
Genüge beschrieben, der äussere Hergang der Feier, die von musikalischen 
Aufführungen umrahmte Festrede des zeitigen Dekans der theologischen 
Fakultät und die Übernahme des Denkmals in den Besitz der Stadt durch 
Herrn Oberbürgermeister Singer desgleichen. Auch der zahlreichen Reden 
bei dem Festmahl und der sinnigen Nachfeier am Abend in dem (in den 
Besitz von Herrn Dr. Oscar von Hase übergegangenen) alten Haseschen 
Berggarten ist wohl nirgends vergessen. Dagegen ist die Festrede (mit Aus- 
nahme der Dorfzeitung vom 25. August 1900) bisher nicht im Wortlaut zu- 
gänglich gewesen. Das Gleiche gilt von den hochinteressanten Festgrüssen 
aus In- und Ausland. Es gereicht uns zur Freude, einige dieser Festgrüsse 
am Schlüsse der Nippoldschen Rede veröffentlichen zu können. Wie sehr 
die alten Ideale des Comenius in Hases vielumfassender Wirk- 
samkeit zu neuer Geltung gekommen sind, braucht ja keinerlei 
Darlegung. 

7* 


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Nippold, 


Heft 8 u. 4. 


Einführung im akademischen Senat: Wenn die Könige bauen, 

haben die Kärrner zu thun. Und daneben das andere Wort, in 
welches bei Hases Begräbnisfeier unser damaliger Prorektor das 
philosophische Facit hineinlegte von Hases Stellung in der Ge- 
samtwissenschaft: Sei gegrüsst Ewiges! 

Dieser Hintergrund des Ewigen, des Unvergänglichen wird 
ja niemals so greifbar als bei der Weihe eines Denkmals. Von 
solchem Hintergrund aus gestaltet sich alsbald die besondere Frage 
zu einer allgemeinen. Wir fragen nicht mehr, weshalb gerade 
diesem Einen unter so vielen anderen hochberühmten verdienst- 
vollen Lehrern unserer Hochschule dies Denkmal gesetzt wurde, 
sondern wir blicken um uns, und dann stellt die Örtlichkeit selbst 
die Frage : warum wird in Zukunft der Blick aller derer, die nach 
Jena pilgern, hier Karl Hase schauen in der Mitte zwischen Oken 
und Fries? 

I. 

Es ist eine lehrreiche Stufenfolge in unserer nationalen Ent- 
wickelung, die sich vor uns aufrollt, wenn wir der Tage gedenken, 
an welchen die beiden benachbarten Denkmäler enthüllt wurden, 
und an die gleiche nationale Bedeutung wird in Zukunft ein jeder, 
der das neue Denkmal neben den alten schaut, wohl zunächst 
denken. Diese nationale, vaterländische, oder, wie man heute sagt, 
völkische Seite verlangt daher obenan eine gedrängte Darlegung. 

Als das Oken-Denkmal ans Licht trat, zählte man das Jahr 
1857. Noch war das trübe Jahrzehnt nicht abgelaufen jener durch 
die Revolution von 1848 heraufbeschworenen dumpfen Reaktion, 
die erst im folgenden Jahre einer wirklich neuen Ara hat Platz 
machen müssen. Aber gerade in jenem Jahrzehnt, in welchem 
den preussischen Universitäten das freche Wort zugeschleudert 
werden durfte, die Wissenschaft müsse umkehren, hat unser kleines 
Jena seine stolzesten Traditionen glaubensmutig gewahrt Ein 
solches Zeichen der Zeit, das weithin geleuchtet hat, ist damals 
die Gedächtnisfeier für Öken gewesen. Wenige Monate nachher 
hat dann Rückerts Prorektoratsrede über die Aufgabe der Jena- 
schen Theologie im vierten Jahrhundert der Hochschule ein un- 
zerstörbares Zukunftsprogramm aufgestellt Und in den ernsten 
und schweren Jahren vorher ist unserem Hase, wie die Annalen 
seines Lebens es nachweisen, das Meisterwerk seines Alters, das 
Handbuch der protestantischen Polemik, herangereift 

Einst hatte der 26 jährige eine alle Einzelprobleme zusammen- 
fassende evangelische Dogmatik herauszugeben gewagt. Der 
29 jährige Hess das kleine, aber die ganze — heute wichtigste — 
theologische Disziplin begründende Büchlein über das Leben Jesu 
folgen, sechs Jahre vor dem theologischen Revolutionsjahr, dem 
des allbekannten Straussischen Buches. Beides war noch in Leipzig 
geschehen. Das erste grosse Geschenk, das Hase in Jena seiner 


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1901. 


Zur Erinnerung an Karl von Hase. 


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Wissenschaft brachte, ist — als das Produkt dreijähriger ernster 
Zusammenfassung — die erste Auflage der weltberühmten Kirchen- 
geschichte gewesen: ein Werk von 1834. Dann sind eine grosse 
Zahl von Einzelarbeiten und die immer neuen Auflagen der alten 
Bücher gefolgt Aber erst aus den Jahren, in welchen sich Jena 
auf Oken besann, stammt wieder ein ähnlich zusammenschauendes 
Werk. Es ist dasjenige, welches die Fahne des schwer darnieder- 
liegenden deutschen Protestantismus höher wie jemals erhob. 

Fragen wir aber weiter, welche Gedankenbrücke vom Fries- 
zum Hase-Denkmal uns führt! Das von Fries ist im Jahre 1873 
enthüllt worden. Ist es nicht jener bei uns Alteren heute noch 
nachzitternden jubelnden Freudenstimmung entstammt, die die 
Erfüllung des heissesten Sehnens des deutschen Volkes erzeugte? 
Die endlich errungene nationale Einheit konnte hier in Jena 
schwerlich ein treffenderes Symbol finden, als in dem neugeweckten 
Dankgefühl für einen ihrer edelsten Vorkämpfer. Ist jedoch nicht 
die gleiche Ruhmeszeit von 1870 auch dadurch typisch gekenn- 
zeichnet, wie unser Hase seine drei Söhne in dem harten Kriegs- 
jahr im Feld hatte, und alle drei ihm das eiserne Kreuz mit nach 
Hause gebracht haben? Weissagung und Erfüllung aber reihen 
auch hier einander sich an. Oder wer denkt unter uns dabei 
nicht zugleich der Gefängniszeit des kaum habilitierten Tübinger 
Dozenten auf dem Hohenasperg? Oder steht es nicht so, dass 
alle die geistvollen Werke, dass alle die Ehren und Würden, wie 
sie kaum je ein Professor erreicht, die Gestalt Hases nicht so 
volkstümlich gemacht haben, als diese Busse für das, was mit 
ihm sein Volk — damals noch vergeblich — ersehnte? 

Verehrte Festgenossen! Erst jetzt werden Sie es völlig ver- 
stehen, weshalb der Hauch der Ewigkeit uns umweht, wenn wir 
die Sonnenfäden weben sehen von Oken zu Fries, und von Fries 
zu Hase. Denn die drei Denkmäler sind uns nun nicht bloss 
beredte Zeugnisse des Ringens und Kämpfens um unsere Volks- 
einheit, sondern auch Vorbilder der Zukunft unter dem höchsten 
Gesichtspunkt, den die Menschheitsgeschichte kennt, dass sich 
keine grosse Idee verwirklicht ohne Martyrium. Die Lösung der 
Geschichtsrätsel lernt sich nur unter dem Kreuz Jesu Christi. 
Immer wieder bedarf es der Männer, welche Opfer zu bringen 
vermögen für ihre Überzeugung; denen das eigene kleine Ich 
gering gilt im Vergleich mit der grossen Aufgabe, die an sie 
gestellt ist. Davon zeugt Oken, als er lieber die Professur auf- 
giebt, als die Isis, die Zeitschrift, die den Gegnern des Deutsch- 
tums in einer Zeit, in welcher Deutschland nur für einen geo- 
graphischen Begriff gelten sollte, so besonders verhasst war. 
Davon zeugt Fries, als ihm die in seinen Händen zu gefährliche 
philosophische Professur abgenommen war, aber die „Lehren der 
Liebe, des Glaubens und der Hoffnung“ sich ihm um so klarer 
zur „Tugendlehre“ gestalteten. Und müssen wir nicht, wenn wir 


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Nippold, 


Heft 3 u. 4. 


dieser Dinge in Verbindung mit den Leiden des jungen Hase 
gedenken, noch immer weiter uns umschauen? Ist es nicht eine 
recht eigentliche Ruhmesallee deutscher Bekenner (Bekenner = 
Confessoren im altkirchlichen Sinn des Wortes) geworden, dieser 
Fürstengraben in der Stadt des fürstlichen Bekenners, vom Reuter- 
Denkmal dort unten bis zu dem von Stoy oben? 

Wenn wir also heute das Hase- Denkmal in die Mitte der 
anderen gestellt sehen, so verbindet sich damit aufs neue der Rück- 
blick: wie hat sich doch das, wofür jene litten, so herrlich erfüllt! 
und wie ist doch speziell das, was unser Jena mit angebahnt hat, 
zu so allseitiger Anerkennung gelangt! Unwillkürlich werden dabei 
stets wieder die zu so gewichtigen Momenten der Zeitgeschichte 
gewordenen Stunden in Erinnerung treten, als Fürst Bismarck den 
Jenaer Professoren das von ihm selber so genannte Colleg las und 
auf dem Marktplatz den Text „Ohne Jena kein Sedan“ auslegte. 
Es ziemt sich, gerade bei Hases Denkmalsenthüllung auch dieser 
Momente nicht zu vergessen, die so würdig sich anreihen an die 
Begrüssung des 86jährigen Gelehrten durch den 70jährigen Staats- 
mann am 21. August 1886 in Gasteiu, von der die Lebensannalen 
noch lebendig erzählen. Ist nicht aber auch das ein Zeichen einer 
gründlich veränderten Lage der Dinge, wie vor wenig Wochen 
der zeitige Leiter unserer auswärtigen Politik das Wartburgfest 
von 1817, das viel verleumdete, um dessentwillen unsere ganze 
Universität so hart büssen musste, gekennzeichnet hat als den 
Ausgangspunkt der Erkenntnis der Notwendigkeit der deutschen 
Flagge auch auf dem Meere ! Und hinfort wird nun Hase inmitten 
aller jener vom Geist des Wartburgfestes getragenen Männer hier 
stehen, er, der die Ideale der Jugend treu bis ins höchste Greisen- 
alter gepflegt hat, treu gegen sich selbst, auch den ungünstigsten 
Tagesströmungen gegenüber, treu gegen den Gott seiner Jugend. 
Wie trifft es nicht auf ihn so besonders zu, jenes fromme Lied 
Julius Sturms, das aller Möncherei und Muckerei Krieg ansagen 
darf in dem demütig stolzen Bewusstsein: 

Der eignen Würde mir bewusst, 

Gilt gleich mir Lob und Spott. 

Denn in den Tiefen meiner Brust 
Wohnt der lebend’ge Gott. 

Und wert gilt mir nur seine Gunst 
Und nicht der Welt Geschrei. 

Nur ihm verdank’ ich meine Kunst 
Und meine Kunst ist frei. 

n. 

Hochverehrte Festgemeinde ! 

Es ist auch noch ein weiterer Grund, aus welchem ich das 
Sturmsche Lied auf Hase anwandte. Denn es redet speziell von 


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Zur Erinnerung an Karl von Hase. 


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der gottbegnadeten Kunst. Nur als eine Künstlernatur aber ist 
Hase wirklich allseitig zu würdigen. Gilt dies Denkmal in erster 
Reihe dem Patrioten, so in zweiter Reihe dem Künstler. Unter 
den Männern der Wissenschaft sind es nur die zugleich mit der 
künstlerischen Gestaltungskraft ausgerüsteten, die selber wieder 
zum Gegenstand der künstlerischen Nachbildung werden. Denn 
auch ihrer Fachwissenschaft ist diese Begabung derart zu gut 
gekommen, dass das folgende Geschlecht sie unter seinen tüchtig- 
sten Lehrmeistern noch besonders heraushebt. 

Es ist keinerlei geringere Wertung der Wissenschaft, wenn 
wir dieser grösseren Tragweite der Kunst uns bewusst werden. 
Der höchste Stolz des wissenschaftlichen Forschers liegt in der 
Selbstlosigkeit, welche es sich stetig bewusst bleibt, dass jedes 
gelehrte Werk, wie auf einen begrenzten Kreis, so auch nur auf 
eine begrenzte Zeit einwirken kann, dass dann seine Gedanken 
sich in andere Formen kleiden. Aber die künstlerische Persön- 
lichkeit, die auch den Büchern ihren Geist einzuhauchen verstand, 
die lebt fort im Andenken der jüngeren Geschlechter. Darf ich 
auch hier noch einmal die Fäden sich herüberziehen lassen von 
einem dieser drei Denkmale zum andern? Von Okens Lehr- 
büchern der Naturphilosophie und der Naturgeschichte wissen 
heute nur noch die Fachgelehrten. Das Gleiche ist der Fall 
bei Fries* philosophischer Rechtslehre und seinem System der 
Philosophie als evidenter Wissenschaft. Aber der phantasie- 
reiche Begründer des deutschen Naturforschervereins hat fort 
und fort angeregt zu begeisterter Nachfolge. Und nicht minder 
der Philosoph, der die Poesie der stillen Brüdergemeinde ins 
öffentliche Leben hinaustrug. Wenn nun wieder Hase neben 
sie tritt, so ists, weil auch auf seinem Leben die Verklärung 
der Kunst ruht. 

Für diese schöne Morgengabe der Kunst, die da scharf 
unterschieden sein will von der blossen Phantasie, diesem Pro- 
krustesbett für die ernste Forschung, haben wir eigentlich nur 
das unübersetzbare Wort Intuition. Lassen Sie mich darum das, 
was diese Intuition besagt, etwas genauer erklären durch die 
Beschreibung eines Mannes, dem sie wahrlich auch im höchsten 
Sinn zu teil wurde. „Etwas vom Schauen des Dichters muss 
auch der Forscher in sich tragen. Freilich ist letzterem wirksame 
und geduldige Arbeit nötig, um das Material zu sichten und bereit 
zu machen. Aber Arbeit allein kann die lichtgebenden Ideen 
nicht herbeizwingen. Diese springen wie die Minerva aus dem 
Kopf des Jupiter, unvermutet, ungeahnt, wir wissen nicht, von 
wannen sie kommen?“ 

Es ist Helmholtz, der also redet. Und er fährt weiterhin 
fort: „Wenn der stille Frieden des Waldes den Wanderer von 

der Unruhe der Welt scheidet, wenn er zu seinen Füssen die 


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Nippold, 


Heft 3 u. 4. 


reiche üppige Ebene mit ihren Feldern und Dörfern in einem 
Blicke umfasst und die sinkende Sonne goldene Fäden über die 
Berge spinnt, dann regen sich wohl auch sympathisch im dunklen 
Hintergrund seiner Seele die Keime neuer Ideen, die geeignet 
sind, Licht und Ordnung in der inneren Welt der Vorstellung 
aufleuchten zu lassen, wo vorher Chaos und Dunkel war.“ So 
Helmholtz* Worte bei dem grossen Heidelberger Fest von 1886, 
die Erwiderung auf die Art, wie dort der Entdeckung der Spektral- 
analyse und des Augenspiegels gedacht war. Zeichnet er aber 
nicht in diesen Worten zugleich unseren Hase? Den Hase in so 
vielen schönen Frühlingszeiten in Rom, aber auch den Hase, der 
abends still in seinen Berg wandelt, sich daran erfreuend, dass 
ihm der Marmor immer wieder zum Thon wurde? In diesem 
sinnigen Bild über die immer neuen Auflagen seiner Bücher hat 
ja der Mann, den wir so gern den Goethe der Theologie nennen, 
sich selber als darstellenden, als schöpferischen Künstler gezeichnet. 
Auch als Mann der Wissenschaft hat er das volle Recht dazu 
gehabt. Denn er liess es ebenso wie Helmholtz niemals an der 
wirksamen und geduldigen Arbeit fehlen, um das Material zu 
sichten und bereit zu machen; es lag ihm jedes Absprechen fern 
über die Dinge, welche nicht zu seinem eigenen Forschungsbereich 
gehörten. Dies der Grund, dass diese Künstlernatur zugleich vor 
uns steht als der echte Historiker, der nicht nur das hellenische 
Charisma in sich trug, das sein kongenialer Schüler Kyriakos in 
Athen in ihm so bewundert, sondern der auch selber zum Seher 
geworden ist in der höchsten Schule aller Geschichtsbetrachtung, 
der von Israels Propheten. Der Notwendigkeit der Verbindung 
dieser beiden Elemente ist sich Hase von früh an bewusst ge- 
wesen. In dieser Verbindung liegt zugleich das höchste, was er 
in jedem seiner gewichtigen Werke seiner Fachwissenschaft giebt. 

III. 

Doch wir sind, meine hochverehrten Damen und Herren, 
mit gutem Grund davon ausgegangen, dass es an diesem Ort 
schlechterdings unmöglich sei, einem wissenschaftlichen Lebens- 
werk wie demjenigen Karl Hase's auch nur annähernd gerecht 
zu werden. Noch zieht jedes seiner Werke in seiner Eigenart 
immer ausgedehntere Kreise. Und jedes der berühmten Bücher 
hat seine eigene Geschichte. Einiges wenige darüber haben manche 
aus Ihrer Mitte gestern abend gehört. Heute bin ich genötigt, 
all die Gedankengänge, die sich dabei weiter aufdrängen, wieder 
zurückzudrängen. Statt dessen stellt dagegen gerade diese Stunde 
der Denkmalsenthüllung uns schliesslich noch eine ganz anders 
gerichtete Frage, die sich nicht abweisen lässt: was soll sie uns 
mitgeben für die Weiterarbeit in den Aufgaben, in den Gefahren 
der Zukunft? 


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Zur Erinnerung an Karl von Hase. 


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Voll eigener Mitfreude haben wir vorher in den Freudenton 
eingestimint über das, was unserem ganzen Volk in dem jungen 
wie in dem alten Hase gegeben war. Aber auch daraus dürfen 
wir in einem so feierlich ernsten Moment kein Hehl machen, dass 
es schwere Sorgen sind, mit denen gerade nach all dem Gewal- 
tigen, was Gottes Gnade dem geeinigten deutschen Volk zu teil 
werden liess, das Auge eines Mannes wie Hase auf die Zukunft 
dieses Volkes hinausblicken würde. Nicht nur an die fremde, 
sondern auch an die eigene Volksseele würde er die Mahnung 
richten: was hülfe es — wie dem einzelnen Menschen, so — 
unserem gesamten Volk, wenn es die ganze Welt gewönne und 
nähme Schaden an seiner Seele? 

Mit nur zu viel Recht ist an einem Ehrentag unserer Stu- 
dentenschaft von einem Mann wie Wildenbruch darauf hingewiesen, 
dass das junge Geschlecht aufwächst gleich den Söhnen von Mil- 
lionären, ohne Ahnung, wie mühsam diese Schätze erworben wurden. 
Wer die Reden Hase’s aus den Tagen der jungen Burschenschaft 
verständnisvoll liest, der hat Mühe, sich in so vielem, was ganz 
anders geworden, zurechtzufinden. Und ebenso umgekehrt Seit 
unser Volk reich und mächtig geworden, sind die alten Ideale 
von Hase's Studienzeit für nur zu viele zu unpraktischen Irrtümern 
geworden. Es ziemt uns, gerade im eigenen Haus mit der Selbst- 
kritik zu beginnen. Denn in immer ausgedehnteren Kreisen erhebt 
sich zugleich ein immer heftigeres Misstrauen gegen die gelehrten 
Zünfte ausnahmslos, von dem Medizin und Jurisprudenz fast noch 
mehr betroffen werden, als Philosophie und Theologie. In den 
Massen der nicht humanistisch Gebildeten wird dieser Gegensatz 
systematisch geschürt Aber auch durch unsere gebildetsten Kreise 
geht ein klaffender Riss zwischen den klassisch und den kirchlich 
Gerichteten. Soll sich nun gar der alte Streit der Fakultäten er- 
neuern, dem doch Kant den gleichen ewigen Frieden verheissen 
zu können glaubte, wie den Kämpfen der Völker? 

Es ist Hase’s reichstes Erbteil, dessen wir uns gerade 
während solch sorgenvoller Erwägungen mit um so tieferem Dank 
bewusst werden dürfen. Wie hat doch sein weises Masshalten, 
sein feiner Takt, jene wieder unübertragbare „Sophrosyne“, alle diese 
Eigenschaften, die sich auch in den Wirren und Stürmen der 
Revolutionszeit so bewährten, seiner ganzen Lehrthätigkeit den 
eigentümlichen akademischen Charakter gegeben. Und wie ist 
nicht eben dadurch zugleich alles, was er für seine Fachdisziplin 
schuf, der Gesamtwissenschaft zu gut gekommen. Darum ists ein 
Dreifaches, was ich für unsere Zukunft von der Vertiefung in 
sein Lebensbild, wie es diese Tage so vielen unter uns gebracht 
haben, erhoffe. Zunächst die unumgängliche Wechselwirkung 
zwischen Naturwissenschaft und Theologie. Sodann die energische 
Wahrung der humanistischen Grundlage aller wirklich allseitigen 


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Nippold, 


Heft 3 u. 4. 


Bildung. Und endlich die Erinnerung an die oberste Aufgabe der 
sittlich-religiösen Gemeinschaft: als derjenigen, die allein die Über- 
windung aller zeitlichen Gegensätze verbürgt im gemeinsamen 
Aufblick zum Ewigen. 

Wie reiche Bergwerksschächte hat nicht der Theologe in 
Hase in allen diesen Beziehungen erschlossen? Aus der Fülle 
dessen, was er seinen alten Schülern gegeben, lassen Sie wenigstens 
drei seiner schwerwiegenden Zukunftsworte den Abschluss bilden 
für unsere heutige Gedenkfeier! Das erste ist ein Bekenntnis zu 
jener friedvollen Resignation, in die jeder Einzelteil der Wissen- 
schaft mündet: 

Die Kirchengeschichte hat nachzuweisen, wie das Heil, 
das von oben gekommen ist, in die Besonderheit eigentüm- 
licher Menschen und Völker eingehend, in immer wechselnden 
Gestalten sich dargestellt hat, und wie eine die Jahrhunderte 
durchschreitende Gemeinde forschender und irrender Menschen 
versucht hat, das Unendliche zu begreifen, das ihnen doch 
nur als ein Geheimnis offenbart worden ist. 

Das zweite ist ein begeistertes Aufblicken zu den Ideal- 
gestalten, die seine Vorbilder waren, in dem gleichen Sinn, wie 
er es uns wurde: 

Was als durchgebildeter Begriff für das Zeitalter noch 
in harten Kämpfen und Überschreitungen liegt, das ist 
ahnungsvoll in einzelnen Persönlichkeiten bereits erschienen, 
die, selber noch im Kampf der Wissenschaft und Frömmig- 
keit tief bewegt, doch mit hoher Geistesfreiheit festgewurzelt 
standen im kirchlichen Vaterland. 

Das dritte ist ein Wort vertrauender Hoffnung auf die Ernte 
auch seiner Aussaat: 

Unmittelbar nach dem Eisenacher Attentat haben unsere 
Studenten uns ein Zeugnis dargebracht, dass sie hier — in 
der Freudigkeit ihres theologischen Studiums neu gestärkt 

- der getrosten Zuversicht leben, dass sie, aus unserer 
Schule seiner Zeit als tüchtige Pfarrer hervorgegangen, der 
evangelisch-protestantischen Kirche und so auch ihren Lehrern 
Treue halten werden. 

Es ist wie ein Siegel, das unter eine Urkunde gesetzt wird, 
wenn die erste Anregung zu diesem Denkmal gerade von den 
leitenden Vertretern der Thüringer Kirchen ausgegangen ist. Die 
theologische Fakultät unserer Universität hat ihrem tiefen Dank- 
gefühl für die auch ihr in Hase erwiesene Ehre Ausdruck zu 
geben gewünscht, indem sie zu dem heutigen Festtag die General- 
superintendenten der Coburger und der Altenburger Kirche, Wil- 
helm Bahnsen und Rudolf Lohoff, zu Doktoren der Theologie 
promovierte. 


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Zur Erinnerung an Karl von Hase. 


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Festgrftsse. 

1. Begrüssung des Professor Dr. Diomedes Kyriakos 

aus Athen. 

Gruss an Karl Hase. 

Erlauben Sie einem griechischen Theologen in Athen, einem 
dankbaren Schüler und Bewunderer von Karl Hase, seinen Schatten 
aus der Stadt von Pallas Athene beim Anlass der Enthüllung 
seines Denkmales in Jena zu grüssen und seiner Dankbarkeit, 
seiner Bewunderung und seiner Liebe zu Hase A usdruck zu geben. 

Das protestantische Deutschland darf auf seine Theologie 
und seine grossen Theologen mit Recht stolz sein. Aus der 
deutschen protestantischen Theologie nährt sich die Theologie 
aller christlichen Kirchen, aller Konfessionen in allen christlichen 
Ländern. Die deutschen protestantischen theologischen Fakultäten 
sind heute der anerkannte Hauptherd der christlichen theologi- 
schen Wissenschaft und die deutschen Theologen die Meister 
und Lehrer der Theologen der ganzen christlichen Welt trotz der 
konfessionellen Gegensätze, die sie trennen. Ein Theologe, er 
gehöre einer Kirche und Konfession an, welcher er will, kann 
heute ohne genaue Kenntnis der kolossalen und grossartigen 
theologischen Arbeiten in allen Gebieten der deutschen Theologie 
seit Mitte des 18. Jahrhunderts nicht als ein wissenschaftlich ge- 
bildeter Mann betrachtet werden. Bei uns in Athen kann wenig- 
stens Niemand Privatdocent oder Professor der Theologie werden, 
ohne Deutsch zu verstehen oder in Deutschland studiert zu haben. 
Die Namen der grossen deutschen Theologen, eines Schleiermacher, 
De Wette, Hase, Gieseler, Schweitzer, Biedermann, Keim, Lipsius, 
Holsten, Baur, Nitzsch, Dorner, Müller, Rothe, Neander, Hagen- 
bach, Hofmann (um bloss Tote zu nennen) sind überall in allen 
christlichen Ländern bekannt und gelten als Autoritäten ersten 
Ranges in theologischen Fragen. 

Einer von diesen Koryphäen ist auch Hase, der grosse 
Kirchenhistoriker, der grosse Systematiker und Polemiker, der 
grosse Biograph Jesu, der grosse theologische Schriftsteller über- 
haupt, geistreich, tief, gelehrt, elegant, kunstvoll wie wenige. Ich 
bin ein dankbarer Schüler von ihm, ich bewundere ihn, ich 
liebe ihn. 

Ich bin ihm dankbar, da ich von ihm erst gelernt habe, 
über religiöse Gegenstände frei und wissenschaftlich zu denken. 
Als ich zum ersten Mal seine Gnosis gelesen habe, ging ein 
Licht meinem Geiste auf; ich habe damals zum ersten Mal ein- 
gesehen, dass man* fromm sein und doch frei denken kann, und 
seitdem (seit 1870) folge ich der rein wissenschaftlichen Richtung 
sowohl in meinen Vorlesungen als auch in meinen Schriften, ohne 


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Nippold, 


Heft 3 u. 4. 


aufzuhören, der griechischen Kirche anzugehören, da ich diese 
meine Kirche, in der ich geboren bin und die eine so grossartige 
und glorreiche Vergangenheit hat, als die richtige Mitte zwischen 
den Gegensätzen des Katholizismus und Protestantismus achte 
und liebe. Aber der wissenschaftliche Geist kann in allen Kirchen 
sich geltend machen, so weit sie das ertragen können und ihre 
jetzige Entwickelung es erlaubt. Die alte alexandrinische Theo- 
logie, die Gnosis von Clemens und Origenes, die wissenschaftlich 
frei war und die damalige Kultur und neuplatonische Philosophie 
mit dem Christentum zu versöhnen suchte, ist mein Vorbild. 

Ich bewundere Hase andererseits wegen seiner Gelehrsam- 
keit und wegen seiner grossen lehrreichen theologischen Werke, 
welche wahre Fundgruben theologischer Weisheit sind. Ich be- 
wundere sein Leben Jesu und seine Geschichte Jesu, durch welche 
Schriften er mit Schleiermacher und vor Strauss der Gründer 
dieser neuesten theologischen Wissenschaft wurde; sein Lehrbuch 
der Kirchengeschichte und die grössere Kirchengeschichte auf 
Grundlage akademischer Vorlesungen, die auf dem kirchen- 
geschichtlichen Gebiete neben den Werken von Neander, Gieseler 
und Baur mit Recht eine grosse, eminente Bedeutung und hervor- 
ragende Stelle haben, und Hase mit seiner gedankenreichen Kürze 
und geistvollen Gedrängtheit, seinem verschlungenen, geistreichen, 
rätselhaften Stil, seiner genauen Kenntnis der Quellen und seinen 
unparteiischen, sicheren Urteilen als den Thukydides der Kirchen- 
geschichte erwiesen haben; seine Gnosis, seine Dogmatik und 
seinen Hutterus redivivus, die Hase in die Reihe der grössten 
neuesten Dogmatiker neben Biedermann, Schweitzer, Lipsius und 
Pfleiderer erhoben haben; seine Polemik, die die gelungenste 
Antwort gegen Möhlers Symbolik und die mächtigste Waffe gegen 
die römischen Irrtümer und Prätensionen ist; seine Heiligen und 
Propheten, die Hase nicht bloss als Theologen, sondern auch als 
deutschen Schriftsteller ersten Ranges zeigten; seine theologischen 
Streit- und Zeitschriften gegen Röhr, die Tübinger und andere, 
und seine theologischen Reden und Denkschriften, durch welche 
Werke man in die grosse kirchliche und theologische Bewegung 
Deutschlands während des ganzen vorigen Jahrhunderts eingeführt 
wird; seine vaterländischen Reden und Denkschriften, in denen 
wir den grossen Patrioten in Hase sehen und die uns einen Blick 
in das politische Leben Deutschlands während der letzten Zeiten 
zu werfen ermöglichen; endlich seine Ideale und Irrtümer und 
seine „Annalen meines Lebens“, diese geistreiche und lehrreiche 
Autobiographie, die nicht weniger interessant als die Confessionen 
von Augustinus und Rousseau und die Monologe von Schleier- 
macher ist. 

Wegen aller dieser Werke bewundere ich Hase nicht bloss, 
sondern ich liebe ihn auch und finde in ihm den liebenswürdigsten 
deutschen Theologen der letzten Zeiten. Ein besonderer Grund 


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Zur Erinnerung an Karl von Hase. 


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für mich dazu liegt vielleicht auch darin, dass Hase nicht bloss 
das alte klassische Griechenland, wie alle gebildete Welt, ehrte, 
sondern auch für das neuere Griechenland während des grossen 
Freiheitskrieges von 1821, als er noch ein junger Mann war, und 
spater bis an die letzten Zeiten eine warme Sympathie gehegt hat 

Deshalb komme ich aus Griechenland, ein Hasianer in Athen, 
um an den Festen beim Anlass der Enthüllung des Hase -Denk- 
mals in Jena dem Geiste nach teilzunehmen und mit ihnen das 
Denkmal des grossen Jenenser Theologen zu grüssen. 

Sei gegrüsst von mir, du Geist von Hase! Dein Denkmal, 
das wir, deine Verehrer aus der ganzen christlichen Welt, heute 
in deinem lieben Jena errichtet haben, wird alle Theologie- Stu- 
dierenden in Jena für unzählige Zeiten an dich und deine grosse 
theologische Weisheit und deine für Kirche, Theologie und 
Deutschland grossartige Wirksamkeit erinnern, und den freien 
Geist und die wissenschaftliche, die neuere Kultur mit dem 
Christentum versöhnende Richtung wach erhalten, die allein in 
den neueren Zeiten das von vielen Seiten bekämpfte Christentum 
retten und für das jetzige Europa seine Segnungen möglich machen 
kann. So lang es fromme und zugleich frei und vernünftig denkende 
Geister und eine wissenschaftliche Theologie in der christlichen 
Welt geben wird, wird dein Name als der eines der grössten 
Theologen aller Jahrhunderte verehrt werden. 

Es lebe dein Andenken, Karl Hase! 

2. Begrüssung des Professor Dr. Poszo^k, Direktor der 
theologischen Lehranstalt in Oedenburg (Ungarn). 

Hochwürdige theologische Fakultät! 

Hochgeehrte Herren Professoren! 

Es drangt mich, anlässlich der Enthüllungsfeier des Hase- 
Denkmales au die verehrlichen Mitglieder jener Fakultät, deren 
Zierde unser Grossmeister kirchenhistorischer Wissenschaft ge- 
wesen, einige von herzinniger Pietät inspirierte Worte aus dem 
räumlich Ihnen fernen, doch glaubensbrüderlich nahen Ungarn- 
lande zu richten. 

Zur Rechtfertigung meines Festgrusses brauche ich wohl 
keinen äusseren Rechtstitel zu suchen. Derselbe wurzelt in dem 
kindlichen Gemüte des einstigen (1860/1) Jenenser Theologie- 
studierenden, in welchem die erhaltene ehrende Einladung zu dem 
am 11. ds. Mts. stattfindenden Feste alte Erinnerungen an die 
schönen Tage meiner letzten theologischen Studienzeit wachgerufen 
und mich treibt, die Gefühle pietätvoller Anerkennung, welche 
ich dem Andenken meiner grossen Lehrer stets treu bewahrt, 
zum schlichten Ausdrucke zu bringen. 

Ich stehe seit beinahe vierzig Jahren im Dienste unserer 
ungarländischen evangelischen Kirche, über 23 Jahre als Professor 


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HO Nippold, Zur Erinnerungen Karl von Hase. Heft 3 u. 4. 

und Direktor der theologischen Lehranstalt in Sopron (Oedenburg) 
im Dienste des theologischen Jugendunterrichtes. Der Geist, 
welcher mich umschwebte, als ich zu den Füssen eines Hase, 
Rückert, Carl Eduard Schwarz u. A. sass, ist mir zum Leitstern 
auf meinen bisherigen Wegen geworden, und ich danke unserm 
guten Gotte, dass es mir vergönnt war, deutsche Wissenschaft, 
mit innigem Glauben gepaart, unsern ungarländischen Theologie- 
studierenden vermitteln zu dürfen. 

Ich glaube dies nicht allein in meinem Namen aussprechen 
zu dürfen. Eine grosse Anzahl einstiger Jenenser Studenten, die 
jetzt in meinem Vaterlande ehrenvolle Stellen einnehmen, stimmen 
mir zu. Als Nestor der evang. theologischen Professoren Ungarns 
fühle ich mich berufen, beim Denkmale Hases, bei dessen Ent- 
hüllungsfeier ich leider nur im Geiste anwesend sein kann, hier- 
von Zeugnis abzulegen. 

Der liebe Gott walte über dem Standbilde, welches dem 
Andenken unsres Hase geweiht ist! Es möge den Geist dieses 
Heroen reformatorischer Wissenschaft verewigen, stets mahnend 
an die hehre Aufgabe, Glauben und Wissen im Einklänge zu er- 
halten, zum Heile unsrer teuren evangelischen Kirche, zum Wohle 
unsers evangelischen Volkes! 

Genehmigen Sie, hochgeehrte Herren, mit diesem schlichten 
Festgrusse den Ausdruck meiner ausgezeichneten Hochachtung. 

Sopron (Oedenburg), 4. Juli 1900. 

3. Begrüssung des Landeskonsistorhims von Sieben- 
bürgen. 

Zur Gedächtnisfeier Karl Hases, des feinsinnigsten prote- 
stantischen Kirchenhistorikers, der — gründlich als Forscher und 
ein Künstler der Darstellung — das Bild des Heilandes und das 
äussere und innere Leben der Kirche seit ihrer Stiftung auch für 
die Nichtgelehrten anziehend und lehrreich gezeichnet, die Quellen 
der evangelischen Lehre und diese Lehre selbst zum Gemeingut 
vieler gemacht, und das gute Recht des Protestantismus den 
Gegnern gegenüber frei und mannhaft verteidigt hat, der lang- 
jährigen Zierde der Universität Jena, der stolzen Freude des 
deutschen evangelischen Volkes, endlich dem allzeit hülfsbereiten 
Freunde auch unserer Kirche und Förderer ihres theologischen 
Nachwuchses sendet ehrerbietigsten Huldigungsgruss das Landes- 
kousistorium der evangelischen Landeskirchen A. B. in den sieben- 
bürgischen Landesteilen Ungarns. 

Hermannstadt, 10. Juli 1900. 

D. Friedrich Müller, Bischof. Karl Fritsch, Schriftführer. 


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Kleinere Mitteilungen 


Zur Geschichte des deutschen Journalismus. 


Dass die sogenannten moralischen Wochenschriften des 
18. Jahrhunderts ein sehr wichtiges Kapitel in der Geschichte des 
deutschen Journalismus bilden, hatte schon Robert Prutz erkannt, 
als er im Jahre 1845 sein gross angelegtes Werk über diesen Gegen- 
stand begann, das dann, wie bekannt, leider nicht über das Jahr 1713 
hinaus geführt worden ist. Man hat heute im Allgemeinen weder 
von der grossen Verbreitung noch von dem geistigen Einfluss dieser 
Wochenschriften eine genügende Kenntnis; die erstere mag aber z. B. 
durch den Umstand erläutert werden, dass eine einzige dieser Wochen- 
schriften, der Hamburger „Patriot“, schon im ersten Jahre seines 
Erscheinens (1724) fünfthalb tausend Bezieher besass. Über diese und 
viele andere wichtige Thatsachen giebt die Schrift von Prof. Dr. Karl 
Jacoby (Hamburg), die ersten moralischen Wochenschriften Hamburgs 
am Anfang des 18. Jahrhunderts (Wiss. Beilage zum Oster-Programm 
des Wilhelms-Gymnasiums in Hamburg 1888) wertvolle Aufschlüsse. 
Wir wollen hier aus dieser Abhandlung nur einige Punkte hervor- 
heben, die uns im Zusammenhänge mit der deutschen Geistesgeschichte 
besonders beachtenswert erscheinen. Die Geschichte der Hamburger 
Wochenschriften beweist zunächst, dass ihre Herausgeber von den 
damaligen staatlichen und kirchlichen Autoritäten völlig unabhängig 
dastanden: diese Autoritäten haben, wo sie zu der Bewegung in Be- 
ziehung traten, lediglich hemmend eingegriffen, insbesondere sind von 
den Vertretern der hamburgischen Staatskirche an der vollen Recht- 
gläubigkeit der Herausgeber ernste Zweifel geäussert worden. Jeder 
Kenner der damaligen Zustände weiss, dass jedes litterarische Unter- 
nehmen hierdurch noch weit grössere Hindernisse fand, als es etwa 
im 19. Jahrhundert der Fall gewesen sein würde, und dass daher 
in dieser Unabhängigkeit ein wichtiges und wesentliches Kennzeichen 
der moralischen Wochenschriften liegt. Auch die Herausgeber der 
Hamburger Wochenschriften bekennen sich ausdrücklich als Freunde 
und Gesinnungsgenossen des Londoner Spectator und seiner Heraus- 
geber. Und der „Patriot“ erklärt in Nr. 36 ausdrücklich, dass er 
mit seinen „Vorgängern“ (den Herausgebern des Spectator und 
Guardian) in London „vertrauliche Freundschaft gestiftet“ habe (Jacoby 


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112 


Kleinere Mitteilungen. 


Heft 3 u. 4. 


S. 35). Der geistige Vater der ersten oder einer der ersten deut- 
schen moralischen Wochenschriften, nämlich des im Jahre 1713 zu 
Hamburg erschienenen „Vernünftlers“, war Johannes Mattheson 
(geb. 28. Sept. 1681 in Hamburg), und dieser war Sekretär des 
Kgl. Grossbrittannischen Ministers im Niedersächsischen 
Kreise, eines Herrn von Wich (über den wir leider keine Lebens- 
nachrichten haben ermitteln können), also eines Mannes, der mit 
englischen Personen und Interessen eng verknüpft war. Man weiss 
ausserdem, dass keine deutsche Stadt damals und später nähere Be- 
ziehungen zu London besass als Hamburg. Sonderbar ist, dass 
Mattheson gelegentlich erklärt (1714), dass man in den moralischen 
Wochenschriften sich der „cbymischen Methode“ zur Heilung 
der Krankheiten der Zeit bedienen und in kleinen Tropfen ihr die 
Medizin, deren sie bedürften, eingeben wolle. Das erinnert doch sehr 
an die Thatsache, dass die englischen Freunde als „Alchymisten“ ver- 
schrieen waren. Als allgemeines Vorbild wird hier ebenso wie in der 
Leipziger moralischen Wochenschrift des Jahres 1738, dem „Frey- 
maurer“, die sokratische Philosophie betrachtet; auch die im 
Jahre 1714 erschienene französische Übersetzung des Spectator nannte 
sich „Le Spectateur fran 9 ais ou le Socrate moderne“ (Jacoby 
S. 7). Wie hinter dem „Spectator“ und dem „Freymaurer“ steht nach 
Aussage Matthesons (Jacoby S. 8) hinter dem Patriot eine Gesell- 
schaft, die aus mindestens sieben, bisweilen aber mehr Personen 
besteht. Diese Gesellschaft und ihre Zeitschrift haben es, wie der 
Inhalt und die eigenen Angaben bestätigen, vornehmlich auf die Er- 
ziehung des Menschengeschlechts abgesehen. 

Das Titelblatt des seit 1724 erscheinenden „Patrioten“ zeigt 
eine Medaille, die jeden Kenner an die bekannten Kleinode der 
italienischen und deutschen Akademien erinnert Sie zeigt auf 
der einen Seite (Jacoby S. 30) den Kopf des Sokrates mit der 
Umschrift: 

„Cosmopolites oder zu Teutsch: Der Welt-Bürger“. 

Auf der anderen Seite sieht man die Göttin der Weisheit in der 
Tracht der Minerva und die Göttin des Überflusses (Amalthea), die 
sich umarmen; die Überschrift lautet: 

Civium felicitati. 

Das Motto auf dem äussersten Rande heisst: 

Sunt hic etiani sua praemia laudi. Virgil. 

Ludwig Keller. 


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1901. 


Kleinere Mitteilungen. 


113 


Waldenser und Reformierte im 18. Jahrhundert 


Wir haben früher (M.H. der C.G. 1895 S. 129 und 1896 S. 63 f.) 
aus den Akten erwiesen, dass die Reformierten am Niederrhein und 
in Mähren während des 17. Jahrhunderts mit aller Entschiedenheit 
(auch durch ihre amtlichen Organe) der Überzeugung Ausdruck gegeben 
haben, dass die evangelische Lehre und Kirche älter sei als 
Luthers Auftreten im Jahre 1517. Die Deputierten der clevi- 
schen Synode des Jahres 1664 richteten eine Eingabe an den Grossen 
Kurfürsten, in der sie erklärten, dass „die Evangelische Lehr und 
deren Ceremonien . . . vor etlichen hundert Jahren, ehe Dr. Luther 
sei. sich herfürgethan, in diesen Landen bekannt gewest und von 
vielen Christen gehalten worden“. Aber auch noch im 18. Jahrhundert 
war dieselbe Überzeugung in weiten Kreisen der Reformierten ver- 
breitet. Unter dem 8. Mai 1793 richteten die „evangelisch - 
reformierten Gemeinden in Südpreussen“ — gemeint ist 
hauptsächlich das Gebiet der heutigen Provinz Posen — eine Eingabe 
an König Friedrich Wilhelm II., in welcher sie dringend baten, ihnen 
ihre bisherige Kirchenverwaltung zu belassen, auch ihnen ihre Liturgie 
und ihre Synode als oberste Provinzial-Instanz nicht zu nehmen und 
ihre Senioren, die aus den Wahlen der Gemeinden hervorgingen, zu 
bestätigen. Ferner gehe, fahren sie fort, ihr Gesuch dahin, 

„dass die von den uralten Waldensern auf die Böhmen 
und von diesen auf uns hergebrachte Stufenfolge des 
Lehramtes und die bisher ununterbrochene bischöfliche Ordi- 
nation der General -Senioren geistlichen Standes (deren sich die 
Römische Kirche als eines besonderen Vorzugs rühmet) beibehalten 
werde; doch wie bisher, ohne Anmassung des bischöflichen Titels, 
ausser gegen die Englische Kirche. Wie denn auch dieses, unser 
unschädliches Herkommen, von welchem Lasicius und Comenius 
in ihren Schriften und besonders Daniel Ernst Jabionski in 
einem des Tübingschen Canzlers Pfaff Juri ecclesiastico einver- 
leibten Traktat handelt, nicht nur von den Englischen hohen 
Kirchen, mit welchen wir auch in dieser näheren Verbindung zu 
bleiben wünschen, anerkannt wird, sondern auch Ew. K. Majestät 
Allerhöchste Vorfahren, bloss zur Erhaltung dieser ununterbrochenen 
Ordinations-Folge den in Höchst dero Residenz Berlin angestellten 
Predigern, den Oberhofprediger D. E. Jabionski, dem Prediger 
an der Dreifaltigkeitskirche Friedrich Jabionski und dem an der 
Böhmischen Kirche gestandenen Joh. Theoph. Elsner vergönnet 
haben, diese Würde und Ordination anzunehmen und an andere 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. $ 


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114 


Kleinere Mitteilungen. 


Heft 3 n. 4. 


zu ertheilen, ja selbst Kirchen in den königlichen preussischen 
Landen eröffnet worden sind“. 

(S. R. Prümers, Das Jahr 1793. Urkunden und Aktenstücke zur 
Geschichte der Organisation Südpreussens. Posen 1895 S. 658). 

Aus diesen Worten erhellt, dass die Reformierten des damaligen 
Südpreussens sich in einer festen , ununterbrochenen Beziehung zu 
„den uralten Waldensern“ — gemeint sind die Waldenser, deren 
Bischof Stephan im Jahre 1467 den Abgesandten der böhmischen 
Brüder die Weihe erteilte, s. M.H. der C.G. 1894 S. 173 — fühlten 
und dass sie auf diesen Zusammenhang den grössten Wert legten, 
also die eigne Gemeinschaft für älter als die lutherische Kirche hielten. 
Dass diese südpreussischen Reformierten aber von den Reformierten in 
Holland und der Schweiz ausdrücklich als solche anerkannt wurden, 
ist eine geschichtlich bekannte Thatsache und bedarf der Erörterung 
nicht; die Synoden beider ref. Länder unterstützten die Reformierten 
Südpreussens wie ihre eigenen Glieder. 

Ludwig Keller. 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Fr. Steudel, Der religiöse Jugendunterricht. Auf Grund der 
neuesten wissenschaftlichen Forschung für die Hand der Lehrer und 
Schüler sämtlicher evangelischen Lehranstalten bearbeitet. Stuttgart. 
Max Kielmanu. 10,75 M. 

I. Hauptteil: Die geschichtliche Grundlage. 1. Heft: Die gött- 
liche Offenbarung im Alten Testamente (79 S. Mk. 1,25). 2. Heft: 

Die christliche Verkündigung im neuen Testamente (144 S. u. Tabelle. 
Mk. 3). II. Hauptteil: Der systematische Aufbau (338 S. Mk. 6,50). 

Mit der „neuesten wissenschaftlichen Forschung“, auf der der 
Verfasser sein Werk auf gebaut zu haben glaubt, meint er nicht die 
pädagogische. Im Gegenteil, er hat diese Wissenschaft fast ganz 
beiseite gelassen. Sondern — als Theologe — hat er die theologische 
Forschung vor Augen. Und dadurch eben wird sein Buch — bei- 
nahe eine That. Das ist traurig und beschämend zu sagen. In allen 
Wissenschaften, Geschichte, Naturforschung u. s. w. hält man es für 
selbstverständlich, dass auch die Jugend teil hat an den Errungen- 
schaften des Menschengeistes und sie vor allem. Warum muss erst 
jetzt ein Buch geschrieben werden, das die Religionsforschung der 
Neuzeit für den Unterricht fruchtbar macht? Warum muss sein 
Urheber gar noch darüber zum Märtyrer werden? 

Steudels Buch hat den Zweck, die historische und systematische 
Arbeit der wissenschaftlichen Theologie für den Unterricht zu verwerten. 
Folgen wir ihm. Das 1. Heft behandelt den alttestamen tlichen 
Unterricht. Zunächst giebt er einen kurzen Überblick über die Ge- 
schichte Israels im Anschluss an die Auffassung, die durch Well- 
hausen volkstümlich geworden ist. Hierauf folgt ein Abschnitt über 
die Wirksamkeit der Propheten in der Auffassung, wie sie auch der 
liberalen Theologie noch eigen ist. Unter den Schriften der Propheten 
findet sich als erster Theil die prophetische Geschichtsschreibung, als 
zweiter die eigentlichen prophetischen Bücher. Bedeutende Schwierig- 
keit macht hier nur der erste Teil. Was ist zu der Methode zu 
sagen, die der Verfasser bei demselben an wendet? Wenn jemand 
wirklich mit Ernst die neuere Kritik im Unterrichte an wenden will 
(und überdies für" die Behandlung des A. T. über 70 Unterrichts- 
stunden [!] zur Verfügung hat wie der Verf.), so ist es unrichtig, 

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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 3 u. 4. 


wenn man dann bei der Durchnahme der prophetischen Geschichte-: 
Schreibung wieder den alten Weg geht von 1. Mos. 1, 1 an kapitel- 
weise weiter. Dadurch zerstört man mit einem Schlage alles wieder, 
was man durch den historischen Überblick gut gemacht hatte. Hier 
kann es nur einen richtigen Weg geben: dass man wirklich litterar- 
geschichtlich verfährt, etwa mit dem Deborahliede anfängt und dann 
die Religionsgeschichte Schritt für Schritt vorwärts verfolgt, wie sie 
im A. T. sich niedergeschlagen hat. Es kann nicht ausbleiben, dass 
dies Verlassen der gefundenen richtigen Methode sofort wieder mitten 
in das alte Verfahren hineinführt: der Unterricht wird zur Presse, 

um aus den uralten, ehrwürdigen religiösen Denkmälern moralische 
Katechismuswahrheiten herauszuquetschen. Da haben wir z. B. die 
Sintflutgeschichte; aus ihr „können wir lernen, dass Gott die Natur- 
ereignisse zur Erziehung der Menschen benutzt“, und aus dem Schlüsse 
der Sage entnehmen wir die „Mahnung zu fröhlicher Dankbarkeit“. 
Sollte Herders Geist so ganz bei uns erloschen sein, dass sich nicht 
schon der Geschmack gegen diese moralisierende Fruktifizierung 
sträubt? Das konnte man auch schon vor 150 Jahren, dazu brauchte 
kein Buch „auf Grund der neuesten wissenschaftlichen Forschung“ 
geschrieben zu werden. Sollte aber jemand die Frage stellen, wie 
denn dergleichen Berichte zu behandeln seien, so schlage ich ihm 
(für höhere Stufen) etwa folgenden Weg vor: er lasse die Sage lesen, 
lese dann seinerseits den Schülern dieselbe Sage in der alten baby- 
lonischen Fassung vor (Ischdubar-Legende) und vergleiche; ich setze 
voraus, dass er schon vorher die Geschichte und Kultur des alten 
Vorderasien behandelt hat, und dass auf Grund alter Anspielungen 
und neuer Funde (Teil Amarna!) die Schüler die allgemeine An- 
schauung gewonnen haben, wie die altpalästinische Kultur von Babylon 
abhängig ist Auf diese Weise geht man freilich der „Moral von der 
Geschichte“ verlustig; aber ist der Schaden so gross? Mich wenigstens 
will es wenig wahrscheinlich bedünken, dass nach Durchnahme der 
Sintflutgeschichte nunmehr „fröhliche Dankbarkeit“ gegen Gott in die 
kindlichen Gemüter einziehe. Wohl aber ist mirs gewiss, dass ein 
wirklich grosser und bleibender Eindruck durch die schiefe moralische 
Anwendung ganz geschwächt wird: der ästhetische; und der bleibt 
immer die beste Brücke zu wirklich religiösem Nachempfinden jener 
alten, erhabenen Gedanken. Obendrein beruht die ganze alte Methode 
der religiösen Verwertung derartiger Sagen auf einer falschen Voraus- 
setzung, deren Kernpunkt die unrichtige Verwendung des Namens 
„Gott“ ist. Wo wir „Gott“ sagen, steht im Alten Testamente meistens 
„Jahve“, ein Eigenname also wie Zeus oder Osiri, den Luther aber 
immer mit „der Herr“ wiedergegeben hat Unser Wort „Gott“ um- 
fasst durchaus andere Vorstellungen, als für den Hebräer „Jahve“. 
Dass „Gott“ zu Abram gesprochen habe, ist ein un vollziehbarer Ge- 
danke. Dass aber ein Stammesgott Jahve (vielleicht der Ahngeist 
des Stammes) zu einem Stammeshaupte und vielleicht Seher Abram 


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1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


117 


„spricht“, hat nichts Verwunderliches, sondern sehr zahlreiche Analoga 
bei allen Natur- Völkern. Das eröffnet freilich einen langen, ganz 
andern Gedankengang, und wenn Steudel denselben gefunden und 
verfolgt hätte, so wäre sein Buch ein wesentlich anderes geworden. 
Wir nehmen es ihm keineswegs (wie andere Kritiker) übel, dass er 
gewisse noch nicht völlig gesicherte Forschungsergebnisse einfach 
dogmatisch vorträgt. Der Unterricht von Kindern wird immer irgend- 
wie dogmatisch (besser: episch) bleiben müssen, erst das Jünglings- 
alter kann naturgemäss dem Kritizismus gehören. Aber Steudel irrt, 
wenn er sich auf die „neuesten“ Forschungen der Theologie zu stützen 
glaubt. Schon seit einer Reihe von Jahren ist die alte liberale Rich- 
tung der theologischen Forschung nicht mehr die neueste. Sie ist 
überholt worden von der religionsgeschichtlichen, vertreten durch 
Eichhorn, Gunkel, Troeltsch, Bousset u. a., welche längst die ent- 
schiedene Führung der jüngeren Dozentengeneration hat. Und mit 
Recht. Denn würde sich diese Richtung einmal statt der vorsichtigen 
Zweifler und Relativsten eines grossen, genialen Mannes bemächtigen, 
so möchte vielleicht die Theologie den bedeutendsten Schritt thun, 
den sie je gethan haben wird : sie wird ihre Schranken abwerfen und 
damit in die allgemeine unbefangene Religionswissenschaft übergehen, 
dieser möglicherweise gerade das Element zuführend, was derselben 
bislang noch fehlt. Im Grunde ist es ja wieder einmal selbstverständ- 
lich, dass christliche „Theologie“ nur ein Zweig der allgemeinen 
Religionswissenschaft sein kann, wenn sie überhaupt eine Wissen- 
schaft sein will. 

Das zweite Heft bringt zunächst eine populäre neutestament- 
liche Einleitung mit Kanonsgeschichte; es ist ausführlicher als das 
vorige Heft und nur für den Lehrer bestimmt. Auf kritische Einzel- 
heiten können wir hier nicht eingehen, im Allgemeinen halten wir 
diesen Teil für sehr verdienstvoll, wenn er auch nur als Überleitung 
zu der Lektüre gründlicherer Werke dienen sollte, z. B. der auch 
dem Laien zugänglichen und wenig umfangreichen Einleitungen von 
Cornill und Jülicher. — Der zweite Teil behandelt vor Allem die 
Person Jesu in Geschichte und kirchlicher Umbildung (Paulus, Jo- 
hannes). Hier haben wir natürlich eine der unzähligen Variationen im 
Geiste Renans vor uns; wir teilen diese Vorstellung von Jesus nicht, 
wünschten aber doch in einzelnen Punkten (Wunder, Beurteilung des 
kirchlichen Christentums u. dgl. mehr) etwas grössere Entschiedenheit 
und Konsequenz. 

Auch der dritte Band ist nur für die Hand des Lehrers be- 
stimmt. Er giebt in einem ersten, vor allen Dingen historischen Teile 
eine „allgemeine Religionslehre“. Was soll man darüber urteilen? 
Solange man glaubt, dass die Geschichte der Menschheit vor allen 
Dingen aus ihren Büchern gelernt werden könne, solange die Ge- 
schichte sozusagen ein Zweig der Philologie ist, solange man nicht 
die dunkeln Triebe der Urzeit und der ältesten Kulturstufen studiert, 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 3 u. 4. 


um von ihr aus den Weg der Menschheit zu begreifen, solange wird 
auch eine Geschichtsbetrachtung, wie die des aufklärerischen Ver- 
fassers, noch beinahe auf der Höhe unsrer Zeit stehen. Wer aber 
ein wenig sich in den Geist alter Völker, ja, nur in die offenkundigen 
Thatsachen ihres religiösen Lebens versenkt hat, der wird mit den 
Hypothesen des Verfassers über die Entstehung der Religion, wie 
sie heut vielfach üblich sind, auch wirklich nichts mehr anzufangen 
wissen. Statt der dünnen Gedankengespinste und modernen Re- 
flexionen betrachte man die wuchtigen Thatsachen des Seelenkultes, 
des Gespenstersehens, der alten Magie u. s. w., und man mag wohl 
schaudern über solche Energie des Wahnwitzes, wird aber hinfort 
nicht mehr Centnerlast an einem Spinngewebefaden aufhängen wollen. 
Genug über diesen Punkt, über den nur eine That die Geister eines 
bessern belehren könnte. Nach dem historischen Teil folgt dann ein 
höchst unhistorischer positiver Aufbau. Es wird ein Wahrscheinlich- 
keitsbeweis für die Existenz eines Gottes gebracht — also Gott als 
Hypothese — dann eine Gotteslehre gegeben, die den billigen Theis- 
mus lehrt, der mit Faust alle Worte ablehnend, sein Nichts doch 
hinter Worten versteckt. Das Christentum liefert dazu das Ingrediens 
der Gotteskindschaft. Den Schluss macht eine Ethik. — Es will 
uns scheinen, als habe der Verfasser seine Aufgabe, ein Hilfsbuch 
für den Unterricht zu schreiben, mehr und mehr aus dem Auge 
verloren. Es ist freilich leichter, eine Art von Weltanschauung, aus- 
staffiert mit vielen Citaten und — meist recht minderwertigen — 
Dichterworten für einen halbwegs gebildeten Menschen zusammen- 
zuschreiben, als ein Buch zu bieten, aus dem der Lehrer als solcher 
und mittelbar auch die Schüler wirklich schöpfen können. Man 
könnte gerade zu diesem Bande noch viele Bemerkungen machen. 
Will man einmal die Religion auf eine Philosophie gründen, so be- 
sinne man sich doch, dass wir darin in der deutschen Geschichte 
schon eine gewisse Vergangenheit haben, aus der man eher schöpfen 
wird, als aus den skizzenhaften Auseinandersetzungen eines Katechis- 
mus der üblichen liberal-theologischen Weltanschauung. Meint man, 
die Werke eines Kant, Hegel, Schopenhauer u. s. w. seien zu hoch, 
um auf irgend eine Weise für den Unterricht fruchtbar gemacht 
werden zu können: gut, so wähle man andere Wege, aber nicht auf 
demselben Wege minderwertige Mittel. Oder ist jene philosophische 
Vergangenheit überwunden? vielleicht; nur dass man dann erst recht 
nicht den teleologischen Gottesbeweis beibringen und Linnes Lobpreis 
der Weltharmonie anführen darf — im Zeitalter Darwins. 

Was ist unser kritisches Ergebnis? Wir haben Achtung vor 
der Überzeugungstreue des Theologen, der mit gerechter Entrüstung 
den alten Betrieb des Religionsunterrichtes beobachtet hat und der 
Wahrheit eine Bresche machen will. Aber wir glauben, dass sein 
Werk mehr dem Theologen neu und gar reformatorisch Vorkommen 
wird, als — leider — dem Pädagogen und Didaktiker. Er bringt 


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1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


119 


im Grunde nur viel alten und manchen neuen Stoff in neuer Be- 
leuchtung. Was uns fehlt, ist und bleibt immer noch: die neue 
Methode. 

Ilsenburg. Dr. G. Wyneken. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Alle Welten und alle Wesen sind Teile eines einzigen, ewigen und 
unendlichen Gottes-Reiches, oder sie sind doch dazu befähigt, Teile dieses 
Reichs zu werden, dessen erhaltende, verbindende und alles beherrschende 
Kraft die Liebe ist. Die Menschen und die Menschheit sind ihrem Wesen 
und ihrer Anlage nach bestimmt, ebenfalls Teile dieses Reichs zu sein, zwar 
nur untergeordnete Teile, aber doch Teile. Die Menschen sollen Börger 
dieses Reiches werden und der unendliche Wert, den jede unsterbliche Seele 
besitzt, sichert ihnen die gleichen Pflichten und Rechte, sofern sie sich der- 
selben nicht freiwillig entäussern und begeben. Dieses Reich besitzt für 
seine Ordnungen ein Abbild in der Ordnung der Familie, die dort, wo 
sie vollkommen ist, zwar in der Autorität, aber doch vornehmlich in frei- 
williger Unterordnung, Liebe und Hingabe ihre Kraft und ihre Einheit 
findet. So sollen die Menschen auf dieser kleinen Erde wie im Vaterhause 
wohnen und freiwilligen Gehorsam leisten, mit einander als Brüder und 
Schwestern in Liebe leben und für die grossen Ziele, zu deren Erreichung 
sie bestimmt sind, unter Gottes thätiger Hülfe wirken. In diesem Sinne 
sollen wir beten: „Unsei* Vater, der Du bist im Himmel . . . Dein Reich 
komme, wie im Himmel also auch auf Erden.“ 


Es giebt fast keine Religionsgemeinschaft und keine einzige Philo- 
sophenschule und Weltanschauung, ja kaum irgend eine grosse Bewegung, 
die nicht ihren Stifter, Anfänger und Begründer mit Namen nennen 
konnte und die nicht in den Worten und den Thaten dieses oder dieser 
Stifter die massgebende Norm ihres Glaubens und ihrer Überzeugungen 
fände. Man denke an den Buddhismus, den Mohamedanismus und den 
Mosaismus, an Luthertum und Calvinismus, an Wesleyaner und 
Irvingianer, an Mennoniten und Darbysten u. s. w. Diese Erschei- 
nung beruht darauf, dass jede Gemeinschaft für die Festigkeit ihres inneren 
Zusammenhaltes und für die Klarheit ihrer Zielpunkte ganz ausserordent- 
liche Vorteile in den Anregungen überragender Persönlichkeiten zu finden 
im Stande ist, Vorteile, die überall dort fehlen, wo die Anfänge im Dunkel 
liegen und keine mächtige Persönlichkeit dem betreffenden Religionssystem 


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120 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 3 u. 4. 


den inneren Halt verleiht, der in allen grossen geistigen Kämpfen erforder- 
lich ist. Dennoch aber giebt es Religions- oder Kultgemeinschaften, deren 
Anhänger es grundsätzlich ablehnen, sich nach dem Namen ihres Stifters zn 
nennen, ja es giebt sogar solche, innerhalb deren nie eine Einzelpersönlicli- 
keit eine so überragende Bedeutung gewonnen hätte, dass sie als alleiniger 
Stifter angesehen werden könnte, besonders unter den grossen Gemein- 
schaften, die aus dem Schosse des Christentums und der Antike erwachsen 
sind. In weiser Entschliessung lehnt die katholische Kirche es ab, sich 
nach einem Menschen zu nennen; sie hat seit frühen Zeiten zur Bezeichnung 
ihrer KultgemeinBchaft sich das Wort Kirche gebildet und damit unter- 
scheidet sie ihre Organisation von anderen Religionsgemeinschaften in aus- 
reichend klarer Weise. In ähnlicher Art haben die Vertreter der Kultge- 
nossenschaft, welche die römische Kirche seit dem vierten Jahrhundert 
zuerst unter dem Namen Katharer, dann unter zahllosen anderen Sekten- 
namen verfolgt hat — den engen geschichtlichen Zusammenhang aller dieser 
sogenannten Häretiker, die aus den „Katharern“ hervorgegangen sind, be- 
streitet heute niemand mehr — , es grundsätzlich abgelehnt, sich nach irgend 
einem sterblichen Menschen zu nennen und selbst der Name „Waldenser“ 
ist bis ins 16. Jahrhundert ein nur von den Gegnern gebrauchter Name 
geblieben. Den gleichen Grundsatz hat die Sozietät der Freunde (Society 
of friends, Quäker) in aller Form für sich verkündet und mit ihr alle die 
übrigen Sozietäten, in denen sich die Anhänger altchristlicher Denkart zu 
festgeschlossenen Organisationen zusammenfanden, gleichviel ob sie sich 
„Sozietäten der Maler“ oder „Societies of Masons“ nannten. 


Die Geschichte der älteren Sek tenn amen ist leider noch sehr 
wenig zum Gegenstände der Nachforschung gemacht worden; und doch 
liefert diese Geschichte oft für wichtige Zusammenhänge und Eigentümlich- 
keiten wertvollstes Material. Der Name Enthusiasten kehrt zur Bezeichnung 
der sog. Mystiker seit den Zeiten des Neuplatonismus durch alle Jahr- 
hunderte wieder und wurde z. B. im 16. und 17. Jahrb. von der kirchlichen 
Polemik mit Vorliebe zur Bezeichnung der sog. Wiedertäufer, Quäker u. s. w. 
gebraucht. Auch schon die altchristlichen Gemeinden besassen angeblich 
ein sehr starkes „enthusiastisches Element“, das erst allmählich aus- 
strömte (s. Harnack, Lehrbuch der Dogmengeschichte I 3 , S. 49); früher 
waren diese Gemeinden ebenso wie alle obengenannten Richtungen von dem 
Geist der „Ekstase“ stark beherrscht. Und zur Bezeichnung derselben Ge- 
meinschaften und Richtungen kommt viele Jahrhunderte hindurch der Name 
Ka&agoi, Katharer vor. Geht man nun der Geschichte dieser griechischen 
Sektennamen nach, so findet man, dass ev&eoi, „Enthusiasten“, Anhänger 
jener Mysterien heissen, die an eine Gemeinschaft der Menschenseele mit 
Gott glaubten und die merkwürdigerweise in den Kultgenossenschaften der 
Pythagoräer und den Akademien Platos ihre Fortsetzung fanden 
(s. Windelband, Platon. Stuttg. 1900, S. 128 f.). Die „Ekstase“ war der 
selige Zustand dieser „Enthusiasten“ und ihr Kult hatte die Reinigung 
(Ka&agotg) und die Erleuchtung der Seelen zum Inhalt und zum Zweck. 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


121 


Beruhen diese Übereinstimmungen lediglich auf Zufälligkeiten oder haben 
sie unaufgeklärte innere Gründe? 


In den Philosophen-Schulen (Akademien) der Neuplatoniker des 
2. und 3. Jahrhunderts — über den engen Zusammenhang dieser Schulen, 
die in jenen Jahrhunderten unter den Namen Collegium, Congregatio, Syna- 
goga, Thiasos, auch Secta und Haeresis Vorkommen, mit dem Gnostizismus 
s. Harnack, Lehrbuch der Dogmen geschieh te I*, S. 229 — gab es verschie- 
dene Grade und Stufen der Mitgliedschaft und zwar hiessen die Mitglieder 
des innersten Kreises halgoi, d. h. Freunde oder Vertraute. (S. Keller in 
den M.H. der C.G. 1898 S. 285). Die Namen „Freunde“, „Kunden“ (Wohl- 
bekannten), Gottes- Freunde u. s. w. kommen auch in den späteren „Schu- 
len“, die man Sekten und Häretiker nannte, zur Bezeichnung der innersten 
Kreise — auch hier gab es Grade und Stufen — sehr oft vor. Ist das ein 
zufälliges Zusammentreffen? 


Unter den Sektennamen, welche die werdende Weltkirche schon seit 
dem 4. Jahrhundert für ihre Gegner in Gebrauch genommen hat — solche 
Namen haben sich, wo ihre Durchsetzung gelang, als äusserst wirksame 
Kampfmittel erwiesen — , ist der Name Katharer einer der merkwürdigsten. 
Der Name deutet auf einen sehr wesentlichen Grundsatz der also genannten 
Christen hin, einen Grundsatz, der in seinen Folgerungen den Charakter 
der betreffenden Partei in vielen wichtigen Punkten bestimmt erkennen 
lässt; wir besitzen also dort, wo wir die Anwendung dieses Namens in der 
kirchlichen Litteratur feststellen köunen, ein wertvolles Mittel, um uns ein 
klares Bild von dem Charakter der „Katharer“ zu machen, ein Mittel zu- 
gleich, dessen Wert diejenigen zu schätzen wissen werden, welche die Dürftig- 
keit und die Mangelhaftigkeit der Berichte kennen, die über die ausserkirch- 
lichen Christen auf uns gekommen sind. Der Grundsatz der Reinheit der 
Gemeinde, d. h. der Ausschliessung offener Sünder, pflegt uns nur dort zu 
begegnen, wo der Charakter der christlichen Kultgenossenschaft als einer 
Brüderschaft festgehalten und die Idee der Kirche als Rechtsgemein- 
schaft ausgeschlossen ist. Mit der Idee der Brüderschaft ist der Grundsatz 
der Freiwilligkeit verknüpft, d. h. es können weder Unmündige noch 
Unselbständige der Gemeinde als volle Glieder angehören, ebenso ist die Aus- 
übung der Zwangsgewalt ausgeschlossen. — Seit der Mitte des 3. Jahrhun- 
derts begegnen uns im Abendlande zwei grosse christliche Konföderationen, 
welche beide den Namen ecclesia catholica für sich in Anspruch nahmen, 
die eine unter Führung Novatians, die andere als diejenige Partei, auf die 
sich nachmals Kaiser Konstantin gestützt hat; die erstere erhielt, nachdem 
Konstantin seine Anhänger zum Siege geführt hatte, den Namen „Katharer“ 
(8. Harnack, Dogmengeschichte I 8 , S. 390 ff.). Diese sog. Katharer behaupte- 
ten von sich, die wahrhaft Evangelischen zu sein und das Gesetz 
Christi zu erfüllen. Wo ist diese grosse Partei in späteren Zeiten ge- 
blieben ? 


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122 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 3 u. 4. 


Wir haben früher hier und an anderer Stelle (8. Allg. deutsch. Bio* 
graphie Bd. 39 S. 22 f.) auf die beiden Märtyrer der deutschen Wal- 
denser des 15. Jahrhunderts, den sächsischen Geistlichen Joh. von Schlieben, 
gen. Drändorf und den Schulrektor Peter Tnrnau, hingewiesen. Der erstere, 
ein Edelmann von hervorragender Bildung, Bibelkenntnis und Gelehrsamkeit 
war bereits von Luther (s. Erlanger Ausg. Bd. 53 S. 128 und L.’s Brief- 
wechsel bearb. v. Enders Bd. III. S. 308 ff.) und Melanchthon (s. Opera 
Vol. IX, 887) erwähnt und von Flacius unter die Zeugen der evangelischen 
Wahrheit (Catalogus testium veritatis 1666, S. 732) aufgenommen worden, 
und sein Freund und Gesinnungsgenosse Turnau war in gleicherweise in den 
Märtyrerbüchern der Taufgesinnten (s. Tilemann van Braght, Het bloedig 
Tooneel etc. 1685 I, 378) verewigt worden. Es ist nun sehr erfreulich, dass 
über diese Männer und ihr Schicksal neuerdings immer zahlreichere Quellen 
erschlossen werden und wir wollen nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, 
dass in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Neue Folge, Bd. 
XV (1900), S. 479—493 das bis dahin unbekannte Inquisitionsurteil von 
H. Haupt veröffentlicht wird. Eine zusammen fassende monographische Be- 
arbeitung des Gegenstandes wäre erwünscht. Das Schicksal dieser gelehrten 
Vertreter des „Waldensertums“ hat in ganz Süddeutschland die Gemüter 
aller Beteiligten viele Jahrzehnte hindurch, ja bis in das 16. Jahrhundert 
hinein, erregt und beschäftigt und den Widerwillen gegen die Inquisition 
lebendig erhalten. 

Eine kürzlich erschienene Schrift von Theopil Besch über Fried- 
rich von Heydeck (Friedrich von Heydeck, Ein Beitrag zur Geschichte 
der Reformation und Säkularisation Preussens. Königsberg. Diss. 1897), 
den Förderer der Reformation in Preussen, bestätigt aufs neue, dass eine 
organische Betrachtung und ein wirkliches Verständnis der Entwicklung 
der grossen Religionskämpfe des 16. Jahrhunderts an der Hand der bis- 
herigen Betrachtungsweise nicht möglich ist. Plötzlich und wurzellos aus 
dem Boden erwachsen erscheint nach Besch um 1526 eine starke Ausbreitung 
der „Wiedertäufer“ und weitverzweigte „schwarmgeisterische Anschauungen“. 
Woher diese Bewegung, die doch keinen namhaften literarischen Wortführer 
und Vertreter, keine „Väter und Begründer“ besessen hat, in Preussen kommt, 
weiss auch Besch nicht zu sagen: sie ist da und damit ist die Sache fertig. 
Dass eine Bewegung, die sich unter schweren Kämpfen durchzusetzen hat, 
die weder von staatlichen noch von hierarchischen Mächten oder Interessen 
getragen ist, tiefe Wurzeln haben muss, sehen die meisten nicht ein oder 
wollen es nicht einsehen. In den Jahren, wo Luther der Herold der deut- 
schen Mystik war, waren natürlich altevangelische und lutherische Regungen 
nicht zu unterscheiden; seit 1525 aber trat der Gegensatz doch zu Tage und 
es ist für das Verständnis dieser ganzen Kämpfe notwendig, die Wurzeln 
der Gegensätze blosszulegen. 


Es ist wichtig, die Eigenart des christlichen Humanismus auch 
aus den Schilderungen seiner Gegner kennen zu lernen. Uhlhorn giebt in 
seiner Geschichte der Christlichen Liebesthätigkeit III, 261 ff. eine Charak- 


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1901. Nachrichten und Bemerkungen. 123 

teriBtik des Zeitalters der Humanität im 18. Jahrhundert und ihres Führers 
J. G. Herder, die zwar in vielen Punkten schief ist, aber doch manches 
richtig darstellt; die Anfänge dessen, was die „Aufklärung“ befestigte, 
erkennt Uhlhorn bereits im Pietismus. Diese Richtungen des Humanismus 
und der Humanität kennen, nach Uhlhorn, nichts Wissenswerteres, als den 
Menschen; die Menschlichkeit zu fördern und die Menschenliebe zu pflegen 
setzen sie sich zum Ziel. Dabei verhalten sie sich „gegen die bestimmte 
Ausprägung der Lehre gleichgültig“, „reissen den Einzelnen von der Kirche 
und damit von der geschichtlichen Entwicklung los“, sie „beseitigen die 
Autorität“ (d. h. die der Kirche). „An die Stelle des historisch gewordenen 
Christentums (d. h. der Kirche) tritt die natürliche Religion.“ „Für die 
Geheimnisse des Christentums (d. h. die Wunder) fehlt jedes Verständnis, 
man weies weder von Sünde etwas noch von Erlösung. Die Sünde wird 
nur als Thorheit begriffen, und wenn man noch von Versöhnung und Er- 
lösung redet, so meint man damit nur, dass der Mensch durch vernünftige 
Belehrung gebessert werde.“ Die Religion löst sich angeblich in Moral auf, 
selbst bei Herder (!). Zur Charakteristik dieser verderblichen Richtung, die 
lediglich auf den Nutzen und das Nützliche gerichtet ist, führt Uhlhorn 
mehrere Stellen aus Herders Predigten an, deren eine also 6chliesst: „Es ist 
offenbar, dass man Gott in der Welt nie mehr verherrlichen kann, als wenn 
Jeder in seinem Stande dem Ruf der Vorsehung folgt, sich auf dem Platze, 
auf welchem er steht, so ausbildet, so gut, so nützlich, so vollkommen, so 
glückselig zu machen sucht, als er kann. Er wird ein Christ dadurch, 
dass erMensch wird und seiner Bestimmung vor Gott treu bleibt.“ 

Gewisse Bezugnahmen auf den hl. Johannes — es bleibt dabei einst- 
weilen unklar, ob der Täufer oder der Evangelist gemeint war, obwohl vieles 
für den ersteren spricht — sind innerhalb der „Akademien“ nachweisbar, 
welche, wie wir wissen, um das Jahr 1620 in Venedig, Mantua, Haag, 
Amsterdam, Hamburg, Nürnberg, Danzig, Erfurt u. s. w. bestanden. Diese 
Bezugnahmen waren so in die Augen springend, dass eiu gleichzeitiger Bericht- 
erstatter glauben konnte, diese Sozietäten, die bei ihren Arbeiten einen Schurz 
um die Lenden trugen, seien aus dem Johanniter-Orden entstanden. 
(S. Keller, Comenius und die Akademien der Naturphilosophen. M.H. der C.G. 
1895, S. 141.) Das war nun wohl ebenso unrichtig wie die Schlussfolgerung, 
dass die Sozietäten der „Kunstliebenden“ („Artisten“) — wie der Ausdruck 
der Zeitgenossen lautet — wegen der Sitte des Schurzes aus den Bauhütten 
entstanden seien, aber diese Bezugnahme auf den hl. Johannes giebt doch zu 
denken. Unser Berichterstatter war, wie er selbst berichtet, in der Sozietät, 
der er angehörte, „über die Probierjahre nicht hinausgekommen“, d. h. er 
hatte von den Graden des „anfangenden“, „fortschreitenden“ und 
„vollkommenen Menschen“, die jene Akademien kannten (s. M.H. der 
C.G. 1898 S. 200 u. öfter), nur die erste Stufe durchgemacht und eben in 
dieser war ihm die Vermutung des Zusammenhangs mit den Johannitern ge- 
kommen. Wenn man nun bedenkt, dass auf der ersten Stufe „das Gesetz 
der Natur“, auf der zweiten das „Sittengesetz“ und auf der dritten das 
„Gesetz Christi“ gelehrt zu werden pflegte (a. 0. S. 200), so gewinnt die 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 3 u. 4. 


Betonung des Vorbildes Johannes des Täufers ihren wohldurchdachten 
und tiefen Sinn. Johannes der Täufer, den Jesus als seinen Vorläufer und 
als den bezeichnet hatte, von dem seine Sache begonnen worden war, war 
der Prediger des Sittengesetzes; er hatte sich darauf beschränkt, die 
Menschen und zwar alle Menschen auf das sittliche Thun und seine Be- 
deutung zu verweisen und war so der Herold der Humanität geworden. 


Im Jahre 1701 schrieb Gotfried Wilhelm Leibniz bei Gelegen- 
heit eines Gutachtens über die Bedeutung der preussischen Königswürde die 
Bemerkung nieder, dass nirgends in Deutschland, auch nicht in den nor- 
dischen Reichen, „die Manufakturen mehr florieren als unter dem neuen 
Könige in Preussen“. (Guhrauer, Leibniz’ deutsche Schriften, Berlin 1840 
II, 312). Man hat, soviel ich sehe, die inneren Gründe und Zusammen- 
hänge dieser für die Machtentwicklung Preussens überaus wichtigen That- 
sache bisher keineswegs nach allen Seiten gewürdigt. Wie ist es gekommen, 
dass das arme Preussen in dieser Beziehung z. B. dem reichen Kursachsen 
damals überlegen war, Kursachsen, das, wie die weitere Entwicklung zeigen 
sollte, in ganz anderem Umfange die natürlichen Vorbedingungen für eine 
grosse Blüte des Gewerbfleisses besass. Man hat darauf hingewiesen, dass 
die flüchtigen Hugenotten viele Industriezweige mitgebracht haben. Das 
ist wahr, aber diese Aufnahme der französischen Goldschmiede, Weber u.s.w. 
ist mehr eine Folgeerscheinung des letzten Grundes als dieser Grund selbst. 
Geht man dieser letzten Ursache nach, so muss man sie in der zielbewussten 
Handels- und Gewerbepolitik der Hohenzollern erblicken, wie wir sie seit 
1640 verfolgen können, und diese Politik ist ein Ausfluss der allgemeinen 
Grundsätze, von welchen die gesamte soziale Weltanschauung des 
Grossen Kurfürsten und seiner Nachfolger getragen war. Friedrich 
Wilhelm hat seit 1634 allen Fragen des Handels, der Technik und der 
exakten Wissenschaften ein eingehenderes persönliches Interesse zugewandt, 
als seine fürstlichen Zeitgenossen es zu thun pflegten; diese Thatsache er- 
scheint als Ursache und Wirkung der nahen Beziehungen, in die er zu den 
grossen Vertretern der Technik und der Naturwissenschaften in Holland 
getreten war; er fühlte sich in seiner Weltanschauung diesen damals ander- 
wärts durchaus nicht hoffähigen Kreisen innerlich verwandt und zugethan. 


Dass wir Comenius als Herausgeber des 1661 in Amsterdam er- 
schienenen Gesangbuches der Brüdergemeinde ansehen dürfen, erscheint 
nach einem in den „Böhmisch -Mährischen Blättern“ (1898, Nr. 19/20 S. 15 ff.) 
enthaltenen Aufsatze als sichergestellt. Es geht hervor aus der Vorrede, 
mit der D. E. JablonRki die Berliner Ausgabe des Liederbuches von 1731 
eingeleitet hat und worin dieser den letzten Bischof der alten Brüderkirche, 
Comenius, als Herausgeber der Amsterdamer Edition von 1661 ausdrücklich 
bezeichnet. Sie wurde veranstaltet, als bei der Einäscherung von Polnisch- 
Lissa im Jahre 1656 alle dort vorhandenen Exemplare des Gesangbuches 
von 1639 verbrannt waren; Comenius bezeichnet sich hier als „einer der 
Zerstreuten — J. A. C.“ Das Gesangbuch enthält in drei Teilen die Lob- 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


125 


wasserscheu Psalmen, sowie die Lieder von Huss , Luther und noch einigen 
andern deutschen Dichtern von Kirchengesängen. 


Wir haben früher bereits betont, dass der Ausdruck „allgemeine 
Religion 64 oder Religion, in der alle Menschen übereinstimmen, nicht bloss 
von den Katholiken, sondern auch von Comenius und dessen Brüdern mit 
Vorliebe gebraucht wurde, um die von ihnen vertretene Religion s- Auffassung 
zu bezeichnen. Dabei ist es beachtenswert^ dass auch ein anderer bekannter 
Gelehrter des 17. Jahrhunderts, Ratichius, den Ausdruck „uralte katho- 
lische Lehre“ gebrauchte, um damit die von ihm geglaubte Religion zu 
kennzeichnen. Wer, ohne die Stellung des Ratichius zu kennen, aus seinem 
Bekenntnis zur „allgemeinen Religion“ schliessen wollte, er habe sich zu 
einem Glauben bekannt, der Christen, Heiden und Juden gemeinsam sei, 
der würde völlig fehlgehen. 


In der Geschichte der Sozietäten des 18. Jahrhunderts spielt der Name 
Patriot eine starke, bisher nicht in jeder Beziehung aufgeklärte Rolle. Ur- 
sprünglich nämlich bedeutet das mittellateinische Patriota nicht den Vater- 
landsfreund, sondern einfach den Landsmann, den Einheimischen und 
in weiterem Sinne den Wohlbekannten, Vertrauten oder den Freund. Diesen 
Sinn scheint das Wort dann auch im Französischen längere Zeit beibehalten 
zu haben. In die deutsche Sprache ist es nach Grimms Deutschem Wörterbuch 
VIII, 1504 seit dem 16. Jahrhundert aus dem Französischen übernommen 
worden Und Anklänge an die ursprüngliche Bedeutung scheinen sich auch 
hier lange erhalten zu haben. Das früheste Beispiel, das sich bei Grimm 
findet, stammt aus den Schriften Fischarts (Kurz, 3, 299), dann kehrt es 
in Schlesien 1618 wieder. Später findet es sich, wie gesagt, besonders zahl- 
reich in Äusserungen, die aus dem Kreise der „Deutschen Gesellschaften“ 
stammen. Weitere Aufklärungen wären erwünscht. 


Der bekannteste Schriftsteller, welchen die Schweiz um die Wende 
des 17. und 18. Jahrhunderts besessen hat, Beat Ludwig von Muralt 
(1665 — 1749), wurde durch Regierungsbeschluss des Magistrats zu Bern vom 
15. Februar 1701 nebst drei anderen Patriziern (darunter Friedrich von 
Wattewyl, dem Vater des berühmten Freundes Zinzendorfs) aus seiner 
Heimat verbannt, weil er sich weigerte, die Teilnahme an geheimen 
Gesellschaften abzuschwören. (Mörikofer, Die schweizerische Litte- 
ratur des 18. Jahrhunderts, S. 21 f.) Es wäre erwünscht, wenn sich ein 
Forscher einmal die Mühe geben möchte, fcstzustellen, welches die „geheimen 
Gesellschaften“ waren, die so bedeutende Männer wie Muralt und Wattewyl 
zu ihren Mitgliedern zählten und die vom Magistrat zu Bern so ernster 
Bekämpfung für wert gehalten wurden. Spätere Quellen berichten, dass 
Muralt das Haupt einer „Sekte“ gewesen sei, ohne aber genaueres über das 
Wesen und die Geschichte derselben mitteilen zu können; es scheint also 
eine geheime „Sekte“ gewesen zu sein. Die Familie Muralt stammte aus 
Italien. Beat Ludwigs Vorfahren waren in der zweiten Hälfte des 16. Jahr- 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 3 ii. 4. 


hunderte aus Locarno angeblich wegen ihres reformierten Glaubens aus- 
getrieben worden ; im Jahre 1570 hatte die Familie in Bern Bürgerrecht 
erworben. Beat Ludwig hatte weite Reisen gemacht und von England, wo 
er lange lebte, eine grosse Vorliebe für dessen Zustande zurückgebracht, 
denen seine berühmten „Lettres sur les Anglais et sur les Fransais“ 
Ausdruck geben. Nach seiner Verbannung zog er sich erst nach Genf, dann 
nach Neuch&tel zurück, wo er im Dorfe Colombier eine Besitzung erwarb, 
in welcher die Freunde und Genossen vielfach verkehrten. Einige sagten, 
Muralt sei „Freidenker“, andere schalten ihn mit dem damals aufkommenden 
Namen einen „Pietisten“. Er liess sich das ruhig gefallen und ging seine 
eignen Wege. Sein Einfluss in der geistigen Bewegung, und zwar nicht 
nur in der litterarischen , sondern auch in der religiösen, die in ihm einen 
der einflussreichsten Vertreter der Toleranz kennt, reicht weit über 
die Grenzen seiner engeren Heimat hinaus, ist aber, da er sich im Stillen 
vollzog, noch nicht genügend klargestellt. Die kleine Biographie, die Greyerz 
im Jahre 1888 über ihn veröffentlicht hat, giebt keine genügenden Auf- 
schlüsse. Hier nur einige Fingerzeige. Ein naher Verwandter Beate, Kaspar 
von Muralt aus Bern, war mit J. J. Bodmer näher bekannt und ver- 
mittelte die für des letzteren Geistesentwicklung so wichtige Beziehung zu 
dem feinsinnigen italienischen Gelehrten, dem Grafen Pietro di Calepio 
in Bergamo. Sicher ist auch, dass die Schriften Beate von Muralt auf 
Bodmer einen starken Einfluss geübt haben; er behandelte ihn wie eine 
Autorität, von der er, der selbständige und eigenwillige Bodmer, sich stete 
gern belehren liess. War es Zufall, dass auch Bodmer Mitglied 
einer „geheimen Gesellschaft“ gewesen ist? 


Über Platos „Politikos“ macht Karl Christian Friedrich Krause, 
„Die drei Kunsturkunden etc.“ Dresden 1810, S. 427, folgende Bemerkung: 
„Jeder Freimaurer, dem es darum zu thun ist, seine allgemein menschliche 
Kunst mit Geist und Gemüt zu umfassen, sollte die ächt freimaurerische 
Schrift des göttlichen Platon lesen und studieren. In ihr ist die Grund- 
idee der Freimaurerei: die Vollendung der Menschheit als Eines 
organisch-geselligen Ganzen, mit Umfassung der ganzen Erde und 
doch nur als untergeordnete Person der Menschheit im Weltall, schön und 
lichtvoll angedeutet.“ 


„Wozu betont Ihr das Christentum — so wird heute sehr oft 
gefragt — was hat es denn Neues gebracht? Die Religion, die wir 
bekennen, steht höher als das Christentum, es ist die Religion, in welcher 
alle Menschen übereinstimmen, gleichviel welcher Religionsgemeinschaft oder 
Kirche sie angehören — es ist die Humanität.“ Sehr richtig bemerkt dazu 
Adolf Harnack (Das Wesen des Christentums. 2. Aufl. Lpz. 1900 S. 30), 
dass es „namentlich jüdische Gelehrte sind, die diese Einwen- 
dungen machen“ und, fügen wir hinzu, viele deutsche Gelehrte und 
Ungelehrte, die, ohne es zu wissen, unter dem Einflüsse dieser jüdischen 
Geschichte- und Weltbetrachtung stehen. Hören wir aber Harnacks Antwort, 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


127 


die er im Anschluss an Wellhausen giebt und die diese Einwände schlagend 
widerlegt: „Gewiss, das, was Jesus verkündigt, was Johannes vor ihm in 
seiner Busspredigt ausgesprochen hat, das war auch bei den Propheten, das 
war sogar in der jüdischen Überlieferung seiner Zeit zu finden. Selbst die 
Pharisäer hatten es; aber sie hatten leider noch sehr viel anderes 
daneben. Es war bei ihnen beschwert, getrübt, verzerrt, unwirksam ge- 
macht und um seinen Emst gebracht durch tausend Dinge, die sie auch 
für Religion hielten und so wichtig nahmen wie die Barmherzigkeit und 
das Gericht. Alles stand bei ihnen auf einer Fläche, alles war in ein 
Gewebe gewoben, das Gute und Heilige nur ein Einschlag in einen breiten 
irdischen Zettel. Nun fragen Sie noch einmal: ,Was war denn das Neue*?“ . . 
Und giebt es in Wirklichkeit eine „Religion, in welcher alle Menschen über- 
einstimmen** oder ist das angebliche Vorhandensein einer solchen idealen 
Religion nicht bloss eine Fiktion? Auch die katholische Kirche behauptet 
zwar von sich, sie lehre nur die „allgemeine Religion**, nämlich dasjenige, 
„was überall und von allen geglaubt worden sei**; aber wie steht es, wenn 
man dieser Behauptung einmal auf den Grund geht? Es giebt in dieser 
Welt der Gegensätze thatsächlich keine Religion, die allen gemeinsam wäre, 
und diejenigen, die eine solche zu besitzen wähnen oder vorgeben, täuschen 
sich oder andere. 




Buchdruckerei von Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Die Comenius-Gesellschaft 

zur Pflege der Wissenschaft und der Yolkserziehung 

ist am 10. Oktober 1891 in Berlin gestiftet worden. 


Mitgliedcrzalil 1901: ruml 1200 Personen und Körperschaften. 

_ TC 

Gesellsehartsschriften : 

1. Die Monatshefte der C.-G. Deutsche Zeitschrift zur Pflege der Wissenschaft 
im Geiste des Comenius. Herausgegeben von Ludwig Keller. 

Band 1—9 (1892 — 1900) liegen vor. 

2. Comenius-Blätter für Volks er Ziehung. Mitteilungen der Comenius-Gesellschaft 

Der erste bis achte Jahrgang (1893—1900) liegen vor. 

3. Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. Zwanglose Hefte zur Ergänzung der 
M.-H. der C.-G. 

Der Gesamtumfang der Gesellschaftsschriften beträgt jährlich etwa 32 Bogen Lex. 8°. 


Bedingungen der Mitgliedschaft: 

1. Die Stifter (Jahresbeitrag 10 M.; 12 Kr. österr. W.) erhalten die M.-H. der C.-G. 
und die C.-Bl. Durch einmalige Zahlung von 100 M. werden die Stifterrechte 
von Personen auf Lebenszeit erworben. 

2. Die Teilnehmer (Jahresbeitrag 5 M.; 6 Kr. österr. W.) erhalten nur die Monats- 
hefte; Teilnehmerrechte können an Körperschaften nur ausnahmsweise verliehen 
werden. 

3. Die Abteilungsmitglieder (Jahresbeitrag 3 M.) erhalten nur die Comenius- 
Blätter für Volkserziehung. 


Anmeldungen 

sind zu richten an die Geschäftstelle der C.-G-, Berlin NW., Bremerstr. 71. 


Der Gesamt Vorstand der C.-G. 

Vorsitzender: 

Dr. Ludwig Keller, Geheimer Staatsarchivar und Geheimer Archiv-Rat, in Berlin-Charlottenburg, 

Berliner Str. 22. 

Stellvertreter des Vorsitzenden: 

Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath, M. d. R., Schloss Amtitz (Kreis Guben). 

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Prediger, Amsterdam. Prof. Dr. Nesemann, Lissa (Posen). Seminar-Direktor Di. Heber, Bamberg. Dr. 
Hein, Prof, an d. Universität Jena. Hofrat Prof. Dr. B. 3uphan, W r cimar. Uni v. -Professor Dr. von Thu- 
dichum, Tübingen. Prof. Dr. YVaetzoldt, Geh. Reg.-Rat u . Vortragender Rat im Kultusministerium, Berlin. 
Dr. A. Werntcke, Direktor der stiidt. Oberrealsehule u. Prof. d. techn. Hochschule, Braunschweig. Weyd- 
mann, Prediger, Crefeld. Prof. Dr. Wolfstieg, Bibliothekar des Abg.-H., Berlin. Prof. D. Zimmer, Direktor 
des Ev. Diakonie- Vereins, Berlin-Zehlendorf. 

Stellvertretende Mitglieder: 

Lehrer H. Aron, Berlin. J. G. Bertrand, Rentner, Berlin-SDdende. Pastor Bickerich, Lissa (Posen). 
Dr. Gustav Diercks, Berlin-Steglitz. Prof. H. Fechner, Berlin. Bibliothekar Dr. Fritz, Charlottenburg. 
Geh. Regierungs-Rat Gerhardt, Berlin. Prof. G. Hamdorff, Malchin. Oberlehrer Dr. Heubaum, Berlin. 
Univ.-Prof. Dr. Lasson, Berlin-Friedenau. Diakonus K. Mämpel, Eisenach. Univ.-Prof. Dr. Natorp, 
Marburg a./L. Bibliothekar Dr. Nörrenberg, Kiel. Rektor Hissmann, Berlin. Landtags-Abg. v. Sehen cken- 
dorff, Görlitz. Archivar Dr. Schuster, Charlottenburg. Slamenfk, Bürgerschul-Dircklor, Prerau. Univ.- 
Prof. Dr. H. Suohier, Halle a. S. Univ.-Prof. Dr. Uphues, Halle a. S. Oberlehrer W. Wetekamp, 

M.d.A.-H., Breslau. 

Schatzmeister : Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse. 


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Soeben erschienen: 

Veit Valentin. 

Von 

Max Sflmeidewln. 

Mit Veit Valentins Bildnis. 1,20 Mk. 

Diese Blätter sollen an ihrem Teile 
beitragen zur Ehrung des Andenkens 
eines vor kurzem entschlafenen edlen 
Mannes: als Kunsttheoretiker, als Schul- 
mann, als Mitglied des Vorstandes der 
Goethe -Gesellschaft wie als Vorsitzender 
des Akademischen Gesamtausschusses des- 
Freien Deutschen Hochstiftes zu Frankfurt 
a. M. ist sein Name weithin bekannt. 


R. Gaertners Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW. 

Soeben erschienen: 

Die Erziehung zum Mute 

durch Turnen, Spiel und Sport. 

Die geistige Seite der Leibesübungen. 

Von 

Dr. Konrad Koch, 

Professor am Herzoglichen Gymnasium Martino-Katharincum zu Braunschweig. 

4 Mk., gebunden 4,80 Mk. 

Herr Schulrat Dr. Küppers schliesst eine Besprechung obigen Werkes in der 
„Monatsschrift für das Turnwesen“ 1900, Heft 9 wie folgt: 

„In dem gesamten turnerischen Schriften turne ist kein Buch zu finden, 

das die erziehliche Seite des Turnens so eingehend und gründlich behandelt. 

Dieses Buch scheint auch berufen zu sein, das Interesse für pädagogische Fragen * 

in die weitesten Kreise zu tragen und besonders schon die reifere Jugend dafür 

— , 

zu gewinnen. Es darf in keiner Schulbibliothek fehlen und wird auch bei den 

Schülern der oberen Klassen seine Anziehungskraft bewähren.“ j 


Buchdruckerei von Johannes Bredt, Münster i.W. 

Mit einer Beilage von Herrn Schuldirektor B. Haitsdimann in Coswig (Sachsen). 


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Herausgegeben von Ludwig Keller. 


(•i.sKi.i.sn! Ai r.. , 


Zehnter Band. 

fünftes und sechstes Heft. 
Mai — Juni 1901. 


Berlin 1901 


R. Gaertners Verlagsbuchhandlung 
Hermann Heyfelder. 

SW. Schöneberge rstrasse 26. 


Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark. 
Alle Hechte Vorbehalten. 

Die nUchsten Hefte erscheinen Mitte September. 




Inhalt 

des fünften und sechsten Heftes 190 1. 


Abhandlungen, Seite 

J. Hausmann, Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. Festrede, 

am 12. August 1900 gehalten 129 

Dr. Heinrich Romundt, Der Platonismus in Kants Kritik der Urteils- 
kraft Zweiter Teil 140 

Ludwig Keller, Sebastian Francks Aufzeichnungen über Joh. Denck 

(f 1527) aus dem Jahre 1531 173 


Besprechungen und Anzeigen. 

Kvacala, Neue Beiträge zum Briefwechsel zwischen D. E. Jablonsky mul G. W. Leibniz (L. K.). — 

Carl Bo n hoff, Christentum und christlich-soziale Lebensfragen. Vier volkstümliche Hoch- 
schulvortrflge (L. K.). — Johann Jakob Bodmor, Denkschrift zum 200. Geburtstag (L. K.). 

— Der Katechismus des Johann Arnos Comenius. Ein Sendschreiben etc. (C. Th. Lion) . . 180 

Nachrichten und Bemerkungen. 

Die Idee der Erlösung in der Lehre Christi. — Das Alte Testament und seine Bedeutung in der Ge- 
schichte des Christentums. — Rechtglüubigkcit und Glaubenszwang seit Errichtung der Welt- 
kirche im 4. Jahrh. — Die Verdrängung der griechischen Sprache durch die lateinische in der 
christlichen Kirche und ihre Bedeutung. — Der Dienst der Liebe und des Schönen in der 
Kultgenossenschaft der platonischen Akademie. — Zur Geschichte der Namen Hairesis u. Secta. 

— Koste des Isiskultcs in der Symbolik der christlichen Kirche. — Die Glaubensverfolgungen 
als Ursachen der geheimen Gottesdienste. — Eine Ausgabe alter Lieder der sog. Wiedertäufer. — 

Die Bedeutung der grossen Kanalschlachten des August 1588 für die Entwicklung des toleranten 
Protestantismus. — Ein Antrag des Institut de France auf Herstellung einer Gesamtausgabe von 
Leibniz’ Schriften. — Die Bewilligung von 50000 Mk. für die Geschichte des Schulwesens aus 
Reichsmitteln. — Die Wiederbelebung der Philosophie des Thomas von Aquino. — Die Auf- 
nahme von Glaubensflüchtlingen in Brandenburg-Preussen in ihrer Wirkung auf die Befestigung 
des Deutschtums in den Ostmarken. — Die Philosophie Christian Wolffs und ihre Bedeutung 
für die Geistesgeschichte des 18. Jahrhunderts. — Die Vertreibung der Salzburger Protestanten 
(1732) und die Ausbreitung des Toleranzgedaukens in Europa. — Sebastian Franck und Gott- 
hold Ephraim Lcssing. — Friedrich Nicolai in Berlin giebt einige Schriften sog. Wiedertäufer 
im Jahre 1781 neu heraus. — Graf Wilhelm von Schaumburg-Lipi»c (1724 — 1777) .... 187 


Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.-G., Geheimen Archiv- 
Rat Dr. Ludw. Keller, Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten. 

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen monatlich (mit Ausnahme des Juli 
und August). Die Ausgabe von Doppelheften bleibt Vorbehalten. Der Gesamt- 
umfang beträgt vorläufig 20 — 25 Bogen. 

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre Jahresbeiträge; falls die 
Zahlung der letzteren bis zum 1. Juli nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur 
Erhebung durch Postauftrag unter Zuschlag von G0 Pf. Postgebühren berechtigt. 
Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf. 

Jahresbeiträge, sowie einmalige und ausserordentliche Zuwendungen bitten 
wir an das Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse zu senden. 

Bestellungen übernehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes 
und die Postämter — Postzeitungsliste Nr. GG55. 

Für die Schriftleitung verantwortlich: Geheimer Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller. 


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Monatshefte, 

der \ ' 

Comenius-Gesellschaft 


X. Band. ~s 1901. e~ Heft 5 u. 6. 


Graf Zinzendorf, 

der Stifter der Brüdergemeinde. 
Festrede, am 12. August 1900 gehalten von 

J. Hausmann, 

Pfarrer zu Schwenda (Harz). 


An dem vom grünen Rhein durchströmten Bodensee liegt 
die altertümliche Stadt Konstanz, berühmt durch ihr Konzil (1415), 
jene Kirchen Versammlung traurigen Andenkens, welche den böh- 
mischen Reformator Johann Huss zum Feuertode verurteilte. — 
Es war am 6. Juli 1415, als ein unheimlicher Zug zum Thore 
der Stadt hinauszog: Mönche, Krieger, Henkersknechte, in ihrer 
Mitte der geisterleuchtete Prager Prediger und Professor in der 
hohen Ketzermütze von Papier, mit Teufelsfratzen bemalt. Bald 
war der Holzstoss, zu dem „die heilige Einfalt" eines alten über- 
frommen Bäuerleins, wie Huss lächelnd bemerkte, auch ihre Scheit- 
lein beigetragen, in Brand gesteckt, und im erstickenden Rauch 
und in der quälenden Glut der verzehrenden Flamme hauchte 
psalmensingend der treue Zeuge Christi sein Leben aus. Da ge- 
schahs, wie der spätere deutsche Sänger gesungen: 

Von dem Scheiterhaufen hatten 
In dem lichten Flammenwagen 
Engel eine Menschenseele 
Auf zu ihrem Gott getragen. 

Eine Gans liesst ihr zu Kostnitz 
Auf den Scheiterhaufen gehen. 

Doch ein Schwan wird unserm Volke, 

Ja, ein Schwan wird auf erstehen. *) 

Das war der Schwan von Wittenberg, der seinen Geg- 
nern zum Trotz noch lange nicht sein Schwanenlied anstimmen 


*) Stolberg, Ep. Dichtung von F. Bode. Cassel, G. H. Wigand 1890. 
Eins der besten Epen der neuen Litteratur. Das Aufleuchten der Vorrefor- 
mation im 15. Jahrhundert wird hier poetisch verherrlicht. 

Monatshefte der Couieniua-Geaellschaft. 1901. q 


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130 


Hausmann , 


Heft 5 u. 6. 


wird. In seiner Gefolgschaft erschien dann später auch ein stolzer 
Adler, der weit hinaus über Land und Meer und hoch hinauf zur 
Sonne den königlichen Flug genommen hat: Graf Zinzendorf, 
der Stifter der erneuerten Brüdergemeinde, welcher als einer der 
Jünger des grossen Dr. Luther zugleich unter den Nachkommen 
jenes Johann Huss seine Wirksamkeit und seine Werkzeuge ge- 
funden hat 1 ). 

Wunderbare Fügungen Gottes! Wo Scheiterhaufen brennen, 
von menschlicher Mordgier und rohem Fanatismus entzündet, da 
stieben und fliegen auch Feuerflammen und Lichtfunken der gött- 
lichen Wahrheit, der unbesiegbaren, in die Welt hinaus. Ich meine 
in diesem Falle nicht die schreckliche Brandfackel der Hussiten- 
kriege, die, obwohl in gerechter Abwehr, doch viele Gaue Deutsch- 
lands auf beklagenswerte Weise verwüsteten; nein, ich meine die 
segensreiche, heilige Flamme evangelischen Glaubens, wie sie in 
der „alten böhmisch-mährischen Brüderkirche", der wahren 
und echten Hussiten, vor und nach Luther mit hellem Glanze 
aufleuchtete. 

Noch heute singen wir einige ihrer köstlichen Lieder, wie 
das : „Gott wollen wir loben, der mit edlen Gaben die Kirche, sein 
heilig Stadt herrlich erbauet hat" Noch heute betrauern wir voll 
Wehmut ihr unverdientes tragisches Schicksal. Denn auch sie, 
deren die Welt nicht wert war, ist nach der Schlacht am weissen 
Berge und dem Prager Blutgericht unter den Schrecken des 
30 jährigen Kriegs bis auf wenige Überreste zu Grunde gegangen. 

Aber wiederum: welche wunderbare Fügungen Gottes! Ahn- 
test du es, du frommer Comenius, du grosser Lehrer der Mensch- 
heit und Bischof der alten Brüderunität, als du auf der Flucht 
nach Polen vom letzten der heimatlichen Berge die Neugeburt 
deiner Kirche aus Schutt und Trümmern erflehtest; ahntest du 


*) Aus der im Vorstehenden benutzten Zinzendorf-Litteratur möchte 
ich folgende Schriften empfehlen: „Graf Zinzendorf“ von H. Römer. 
Gnadau, Unitätsbuchhandlung 1900. Eine vorzügliche populäre Biographie. 
„Zinzendorfs Jugendjahre“ von W. Goetz, Prediger in Bremen. Leipzig 
bei Janso 1900. „Zinzendorf und sein Christentum im Verhältnis 
zum kirchlichen und religiösen Leben seiner Zeit“ von D. B. Becker. 2. Ausg. 
Leipzig, Jansa 1900. Bisher (ausser Schrautenbach) das Beste, was über 
Zinzendorf geschrieben wurde. „Der Graf Zinzendorf und die Brüder- 

f emeine seiner Zeit“ von Ludwig Karl Freiherr von Schrautenbach. 

. Aufl. Gnadau 1871. Jos. Th. Müller, „Zinzendorf als Erneuerer der 
alten Brüderkirchc.“ Festschrift des theol. Seminars zu Gnadenfeld. 
Leipzig, Jansa 1900. Die einzige Schrift von wissenschaftlichem Wert, 
welche das Jubiläumsjahr hervorgebracht hat (vgl. die ausführliche Recension 
Ecks in der Theol. Litt.-Ztg. von A. Harnack, Nr. 4, 1(3. Febr. 1901). Zum 
Schluss kann ich im Namen vieler Zinzendorfsverehrcr die Bitte nicht unter- 
drücken, dass die hochwürdige Unitätsdirektion in Bethelsdorf doch baldigst 
eine kritische Gesamtausgabe der Werke Zinzendorfs, sowie auch 
eine populäre Auswahl seiner besten Schriften in Angriff nehmen 
möge — beides thut dringend not. Der Verfasser. 


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1901. 


Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. 


131 


es im prophetischen Geiste, wie bald dein heisses Gebet sich er- 
füllen sollte? 

Schon 70 Jahre darauf wanderten die letzten Nachkommen 
jener alten Brüderunität um ihres Glaubens willen aus dem Vater- 
lande aus, um auf dem Gute des Grafen Zinzendorf zu Berthels- 
dorf in der Oberlausitz sich anzusiedeln und hier, freundlich will- 
kommen geheissen, eine neue Heimat zu finden. 

Am 17. Juni 1722 fällte Christian David, der mährische 
Zimmermann, „der Knecht Gottes", den ersten Baum zum Anbau 
von Herrnhut mit den Worten des Psalmisten: „Hier hat der 
Vogel sein Haus gefunden und die Schwalbe ihr Nest, nämlich 
deine Altäre, Herr Zebaoth, mein, König und mein Gott." 

Neue Vertriebene folgten mit Weib und Kind, frischer Zu- 
zug kam aus allen Teilen Deutschlands, Haus um Haus entstand 
in der Wildnis, und in kurzer Zeit war eine „Stadt auf dem 
Berge" gegründet, von welcher unter Zinzendorf s Leitung die 
reichsten Segensströme ausgehen sollten in alle Welt. 

Was die Mähren mitbrachten als ihr unveräusserliches Eigen- 
tum, das war ihr tapferer Streitersinn und das köstliche Kleinod 
ihrer brüderischen Verfassung, um die ihre Vorfahren schon Dr. 
Luther beneidet hatte. Zinzendorf aber gab ihnen, der stets wach- 
senden Gemeinde, das Gepräge seines ebenso echt evangelischen 
wie (im guten Sinne) katholischen, nämlich aufs Ganze, aufs 
Allgemeine gerichteten, weltüberwindenden Glaubens. 

Wahrlich, ein ausserordentlicher Mann, dieser Graf Zinzen- 
dorf! Herder nennt ihn einen der grössten Eroberer im Reiche 
des Geistes; der scharfsinnige Lessing bezeugt ihm seine auf- 
richtige Bewunderung ; der junge Goethe ! ) war nach seinem eigenen 
Bekenntnis drauf und dran, ein Herrnhuter zu werden, so mächtig 
fesselte ihn, der 10 Jahre nach Zinzendorfs Tode einer Brüder- 
synode zu Marienborn beiwohnte, der Zauberbann dieses Ge- 
waltigen im Reiche Gottes. 

Und wir sollten heut von ihm schweigen, dessen 200 jährigen 
Geburtstag die gesamte protestantische Christenheit in diesem 
Jahre mit seltener Einmütigkeit gefeiert hat? 

In Dresden, dem schönen Elbflorenz, ward er als Spröss- 
ling eines uralten österreichischen Dynastengeschlechts und einziger 
Sohn eines sächsischen Staatsministers am 26. Mai 1700 geboren 
— in Herrnhut, dem Vorort seines weltumspannenden Wirkens, 
ist er am 9. Mai 1760 heimgegangen. Was aber hier zwischen 
Wiege und Sarg sich ereignete, das Heldenleben und Streben eines 
Gottesmannes, der Wenige seines Gleichen kennt, das kann man 
nicht mit kurzen Worten erschöpfend schildern und erzählen. 


*) Als ein Herr „Jedde“ steht der grosse Dichter in dem betreffenden 
Diarium verzeichnet. 


9* 


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132 


Hausmann 


Heft 5 u. 6* 


Drei Wahl spräche aus seinem eigenen Munde und drei 
Bilder aus seinem und der Gemeinde Leben und Wirken mögen 
uns genügen. 

Man denkt sich in manchen Kreisen die Herrnhuter nur 
als die „Stillen im Lande“, die ihren Gott fürchten und vorzüg- 
lich mit Leinwand handeln, und ihren seltsamen Grafen als Urbild 
einer weichlichen und überspannten Frömmigkeit Weit gefehlt! 
Wie diese Stillen im Lande ihrer Zeit — freilich ohne es zu 
wollen — Lärm genug gemacht haben in der weiten Welt, so 
war Zinzendorf s Wahlspruch der seines erlauchten Geschlechts 
von Alters her: „Ich weiche nicht, nicht Einem, auch nicht 
Allen!“ 

So tapfer, so standhaft, stets seine eigenste Persönlichkeit 
bewahrend und behauptend, sehen wir ihn kämpfen und siegen 
von der Jugend bis ins Alter; es ist die christliche Tapfer- 
keit, eins mit der Treue gegen Gott und sich selbst, ein Grund- 
zug seines echt männlichen, heroischen Charakters. 

„Ein Mensch sein, heisst ein Kämpfer sein!“ dies Goethe- 
wort hat sich an ihm bewahrheitet 

Das früh verwaiste Kind, durch den Tod des frommen 
Vaters beraubt, während die gleichfalls christlich gesinnte, mit 
dem General von Natzmer in Berlin aufs Neue vermählte Mutter 
sich nur aus der Ferne, aber mit treuer Fürsorge um seine Er- 
ziehung kümmern konnte, verlebte die ersten 10 Jahre unter der 
Pflege seiner geliebten Grossmutter, der geistvollen Freifrau von 
Gersdorf auf Schloss Hennersdorf in der Ober-Lausitz. 

Glückselige Tage ungetrübter Kindheit, da die reichen Gaben 
des Wunderkindes sich aufs erstaunlichste entfalteten, dem der 
edle Spener, sein Taufpate, segnend die Hand aufs Haupt legte, 
bis es auf der Mutter und des Vormunds (des sächsischen Ge- 
neralfeldzeugmeisters von Zinzendorf) Wunsch nach Halle gebracht 
ward, unter des berühmten A. H. Francke gesegnete Leitung. Hier 
aber begann der Kampf, der standhafte und energische, des früh- 
reifen Knaben und Jünglings gegen die ihn umgebende Welt. 

Neckereien, ja Misshandlungen von Kameraden, durch seinen 
bevorzugten Stand wie durch seine aufrichtige, aber noch schwär- 
merische Frömmigkeit hervorgerufen; arge Verkennung von Seiten 
einiger Lehrer, die seinen vornehmen Sinn und hochstrebenden 
Geist als schändlichen Hochmut beurteilten; vor allem die schimpf- 
liche Behandlung, die ihm durch einen talentierten, aber heuch- 
lerischen Hofmeister lange Jahre zu teil ward: in solcher früh- 
zeitiger Trübsalsglut ward das Eisen seines Willens zum biegsamen, 
elastischen und doch unüberwindlichen Stahl unbeugsamer Willens- 
kraft geschmiedet, während zugleich der junge Graf durch seine 
glänzenden Fortschritte in den alten und neuen Sprachen wie in 
jeglicher Wissenschaft eine Zierde des Halleschen Pädagogiums 
bildete. 


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1901. 


Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. 


133 


Stiller, aber nicht minder standhaft gestaltete sich der un- 
aufhörliche Kampf gegen die eigene Familie, die ihn durchaus 
zum Staatsmann heranbilden wollte. Ihn selbst dagegen verzehrte 
der Drang, ein Gottesgelehrter, ein Prediger des Evangeliums zu 
werden. 

Gehorsam dem 4. Gebot geht der Jüngling nach Witten- 
berg, um dort die Rechte zu studieren ; aber alle freie Zeit widmet 
er seinem Lieblingsfach, er lernt die ganze Bibel auswendig und 
sucht überall christlichen Verkehr. Gleichfalls dem 4. Gebot ge- 
horchend, tritt der junge Mann — 1721 mit der gleichgesinnten 
Lebensgefährtin, der frommen Gräfin Erdmuth Dorothea von Reuss 
vermählt — in Dresden als Justizrat in sächsischen Staatsdienst; 
aber auf die sauren Wochentage des Amtes, der Akten und Pro- 
zesse folgen köstliche Sonn- und Sonnentage, wo der kurfürstliche 
Beamte August des Starken — angesichts des in üppiger Sinn- 
lichkeit schwelgenden Hofes — regelmässige öffentliche Gottes- 
dienste in seiner Wohnung abhielt und durch seine Schriften, 
zumal den monatlich erscheinenden „Dresdener Sokrates", 
tiefgehenden Einfluss ausübt 

Endlich fallen nach Gottes Leitung die in Demut getragenen 
Fesseln des äusseren Berufs; der Graf wird mündig und frei, er 
entsagt dem drückenden Staatsdienst; mit heiligem Feuereifer 
widmet sich der Gutsherr von Berthelsdorf der Pflege der eben 
entstandenen Herrnhuter Gemeinde als ihr Vorsteher und nach- 
maliger erster Bischof, wozu er durch Jablonsky, den Enkel des 
Comenius, den Hofprediger König Friedrich Wilhelms I., die 
Weihe empfing. 

Wiederum harter Kampf, zunächst gegen die Freunde, die 
Seinen. Von Schwärmern und Sektierern aller Art heimgesucht, 
drohte Herrnhut ein Sektennest zu werden; da gab der Graf der 
Gemeinde ihre Statuten auf Grund der altbrüderischen Verfassung 
im Geiste der apostolischen Kirche. Der 13. August des Jahres 
1727, da nach dem äusserlichen der innerliche Zusammenschluss 
laut dem Königlichen Gebot der Bruderliebe erfolgte, wird noch 
heute von den Brüdern als hoher Festtag gefeiert. „Wir lernten 
lieben!" so heisst es im Bericht von jenem Tage; Lutheraner und 
Reformierte, ja frühere Katholiken und bekehrte Juden fanden 
sich auf dem gemeinsamen Boden des altbrüderischen, echt evan- 
gelischen Programms als ein Herz und eine Seele zusammen: 
„In der Hauptsache Einheit, in Nebendingen Freiheit, in Allem 
die Liebe!" 

An der Spitze dieser durch die Feuertaufe von oben ver- 
bundenen und geheiligten Gemeinde begann nun des Grafen 
Heldenkampf für Gottes Reich. Da wars, wie wenn einer in ein 
Wespennest sticht Schmähungen und Verfolgungen von oben 
und unten, von rechts und links, von allen Seiten. Dort die 


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134 


Hausmann, 


Heft 5 u. 6. 


Orthodoxen, die unlutherisch Starrgläubigen, denen Zinzendorf 
mit seinem Geisteschristentum zu freiheitlich und nicht Buch- 
stabenknecht genug war; hier die Pietisten, denen die Brüder- 
gemeinde mit ihrer noch so strengen Kirchenzucht nicht weltflüchtig 
und asketisch genug erschien; drittens die ungläubige Welt, 
die mit dem „verrückten Grafen und seiner Tollhausgemeinde" 
ihren Spass und Spott trieb gleich den Spöttern vom 1. Pfingst- 
tag: „Sie sind voll süssen Weines"; und endlich jene Stumpf- 
sinnigen, Gemeinen und Schadenfrohen, die überall, wo 
etwas Gutes und Grosses geschieht, weil sie selbst zu dergleichen 
unfähig sind, es alsbald zu bekritteln und zu vernichten suchen. 
Kampf auf allen Seiten, aber unentwegter und endlich siegreicher 
Kampf, getreu dem gräflichen Wahlspruch: „Ich weiche nicht, 
nicht Einem, auch nicht Allen". 

Aber Einem ist er doch gewichen von Kindesbeinen an, 
Einer ist ihm, dem Starken, zu stark geworden, so dass er ihm 
Stand und Hab und Gut, sein ganzes Leben und Streben ge- 
widmet hat: das war sein Herr und Heiland Jesus Christus. 

So vernehmt denn des Grafen 2. Wahlspruch, der uns sein 
innerstes Herz erschliesst: „Ich habe nur eine Passion, das 
ist Er, nur Er!" 

Der Knabe, der, als er kaum die Feder führen konnte, 
kindliche Briefe an den Heiland schrieb und in den Henners- 
dorfer Schlossgarten warf, in der Meinung, der Herr Jesus werde 
sie wohl finden; der Schüler in Halle, der als Stifter des 
Senfkornordens seine Ordensbrüder verpflichtete, für das Reich 
Christi und seine Ausbreitung zu leben und zu sterben ; der 
jugendliche Graf auf Reisen, der in Düsseldorf vor dem Ge- 
mälde des Dornengekrönten wie festgebannt stehen blieb und jene 
Unterschrift nie vergass: „Das that ich für Dich! Was thust 

du für mich?" Der gereifte Mann, der aus tiefstem Herzen 
gesungen hat: 

„Ich bin durch manche Zeiten, 

Wohl gar durch Ewigkeiten 
In meinem Geist gereist. 

Nichts hat mir’s Herz genommen, 

Als da ich angekommen 

Auf Golgatha! Gott sei gepreist!“ 

Er ist und bleibt uns ein Vorbild der innigsten Heilands- 
liebe. Es war, wie er sagt, die „Noblesse des Heilands, sein Er- 
barmen gegen die Armen und Elenden, die ihm, dem Aristokraten, 
von Jugend an das Herz gewonnen. Mit diesem seinem Herrn 
und Heiland verkehrte er wie ein Freund mit dem Freunde; Er 
war sein täglicher Begleiter in der Jugend wie im Alter, auf 
Reisen zu Land und See; noch auf dem Sterbebett konnte er 
demütig -triumphierend sprechen: „Mein Heiland ist mit mir zu- 
frieden". 


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1901. Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. 135 

Es war die Liebe zum Gekreuzigten wie einst Pauli und 
Luthers so auch Zinzendorfs felsenfester Glaubensgrund. In 
hundert und aber hundert Schriften hat er mit Flammenworten 
diesen Glauben, diese Liebe bezeugt; in hundert und aber hundert 
Reden (ich nenne hier nur die „Berliner“, die er, weil alle Kirchen 
ihm verschlossen waren, auf dem Boden seiner dortigen Wohnung 
vor Hoch und Niedrig gehalten und zwar eine Woche lang Tag 
für Tag, wobei manchmal 40 Kutschen vor dem Hause hielten) 
mit apostolischer Zunge und hinreissender Glut das Wort vom 
Kreuze verkündigt 

Und endlich die Lieder des frommen Sängers, tausend und 
aber tausend, in denen sich die ganze inbrünstige Andacht dieses 
gottgeweihten Christenherzens in Lust und Leid, in Frieden und 
Streit, in Sturm und Stille, in Sorge und Seligkeit ergossen hat! 
Viel Sand, zumal für unsern geläuterten Geschmack wertlose, 
wenn auch oft geistreiche Reimereien; aber dazwischen zahlreiche 
Perlen von kostbarem, unvergänglichem Glanz, ein Schatz der 
evangelischen Christenheit und Liederdichtung für alle Zeiten! 
Wird nicht in Schloss und Hütte gesungen: „Jesu, geh voran!“? 
Stimmen nicht Kind und Greis ein in den Hochgesang: „Christi 
Blut und Gerechtigkeit“? Tönt es nicht von der Unmündigen 
Lippen: „Ich bin ein kleines Kindelein und meine Kraft ist 

schwach; ich möchte gerne selig sein und weiss nicht wie ichs 
mach.“ ? Jubelt nicht unsre Seele auf, wenn wir singen : „Christen 
sind ein göttlich Volk, aus dem Geist des Herrn gezeuget“? 
Trocknen nicht unsere Thränen beim Klange des Lieds, einst auf 
den Tod seiner Grossmutter gesungen: „Die Christen gehn von 
Ort zu Ort durch mannigfachen Jammer“? Und endlich, wer hat 
je so innig und gewaltig die Herzensgemeinschaft der Christen, 
wie sie uns heute hier vereinigt, zum Ausdruck gebracht als 
Zinzendorf in seinem wundersamen Hymnus: 

„Herz und Herz vereint zusammen 
Sucht in Gottes Herzen Buh. 

Lasset eure Liebesflammen 
Lodern auf den Heiland zu. 

Er das Haupt und wir die Glieder, 

Er das Licht und wir der Schein, 

Er der Meister, wir die Brüder, 

Er ist unser, wir sind sein !“ 

Denn also lautet sein dritter Wahlspruch: 

„Ich statuiere kein Christentum ohne Gemeinschaft ! 46 

„Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da 
bin ich mitten unter ihnen,“ dies Wort im Bunde mit dem neuen 
Königlichen Gebot: „Dass ihr euch unter einander liebet, gleich- 
wie ich euch geliebt habe“ — das war das leitende Zwiegestim 
für Zinzendorfs Wirksamkeit. Nachdem er in und mit seiner 
Gemeinde unter Christi Kreuz sein Glück und Heil für Zeit und 


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Hausmann, 


Heft 5 u. 6. 


Ewigkeit gefunden, da suchte er christliche Gemeinschaft in aller 
Welt: Gemeinschaft zwischen Lutheranern und Reformierten, 

Katholiken und Protestanten, Sekten und Landeskirchen; an die 
fernen Kirchen des Morgenlandes, ja an die Juden und Muhame- 
daner gingen seine Botschaften aus, damit sie Alle Eins seien, 
ein Hirt und eine Heerde. Wer nur mit ihm an den Gekreuzigten 
glaubte, der sollte sein Freund und Bruder sein. 

Hat er zu viel gehofft, hat er zu Hohes erstrebt, ist er wie 
alle wahrhaft grossen Männer seiner Zeit um Jahrhunderte voran- 
geeilt? Es mag sein. Aber eine dauernde Segensfrucht hat sein 
heiliger Eifer geschaffen, nämlich die Heidenmission der 
Brüdergemeinde, welche noch heute die anderen meist später 
entstandenen Schwestergesellschaften durch Zahl der bekehrten 
Heiden und Opferwilligkeit der einheimischen Christen überragt 

Dazu, zum treuen Streiterdienst in fernen Heidenländern, 
waren seine Brüder wie geschaffen. „Willst du morgen nach 
Grönland gehn?“ fragte Zinzendorf den Einen. „Ja, wenn ich 
ein Paar Schuhe bekomme,“ war des Gefragten Antwort, der dann 
40 Jahre lang dort in Segen gewirkt hat Ein Anderer hatte auf 
der Fahrt nach Westindien Schiffbruch gelitten und sich mit 
Angst und Bangen an einer Klippe festgehalten, bis glücklich die 
Rettung kam. Er antwortete auf Zinzendorf s Frage, was er da 
auf der Klippe gemacht? „Ich habe Ihren Vers, Herr Graf, 
gesungen : 

„Ihr Mauemzerbrecher, wo sieht man euch? 

Die Felsen, die Löcher, die wilden Strauch*, 

Die Inseln der Heiden, die tobenden Wellen, 

Sind eure von Alters verordneten Stellen.“ 

Und als Zinzendorf nach Westindien reiste, um die dortigen 
Missionare zu besuchen, da fragte er kurz vor der Ankunft einen 
seiner mährischen Begleiter: „Wie, wenn wir nun keinen mehr 

lebend antreffen?“ 

„Nun, dann sind wir da!“ war die frische, freudige Ant- 
wort. „Gens aeterna (unverwüstliches Geschlecht), diese Mähren !“ 
rief da Zinzendorf aus. Wir dürfen wohl hinzufügen: Genius 
aeternus, dieser Zinzendorf! — 

Nun zum zweiten drei Bilder aus des Grafen und seiner 
Gemeinde weltumspannender Wirksamkeit 

Folgt mir nach Westindien, dem blühenden Gottesgarten, 
einst von dem grossen Columbus entdeckt, wo unter der Sonne 
scheitelrechten Strahlen die Natur ihre üppigste Vegetation ent- 
faltet und die Kaffee- und Zuckerrohrplantagen reiche Erträge 
liefern. 

Aber sind die Menschen glücklich, die dort wohnen, 
ich meine damals ums Jahr 1732? Und zwar auf der Insel S. 
Thomas, einer der fruchtbarsten und gesegnetsten? O nein! die 
armen schwarzen Negersklaven seufzen unter der Peitsche ihrer 


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1901. Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. 137 

Dränger und Treiber, der europäischen Plantagenbesitzer, die sie 
mehr als Vieh, denn als Menschen behandeln. 

Da erscheinen eines Tages dort zwei Weisse, von ganz 
anderer, seltsamer Art. 

Der Töpfer Leonhard Dober, ein Schwabe; der Zimmer- 
mann David Nitschmann, ein Mähre. Wie kommen die hieher? 

Ein Neger, Namens Anton, den Zinzendorf in Kopenhagen 
am Hofe des Königs von Dänemark, seines hohen Gönners, kennen 
gelernt und mit nach xHerrnhut genommen hatte, erzählte der 
dortigen Gemeinde von dem grenzenlosen Elend seiner Volksge- 
nossen auf S. Thomas, und sofort fanden sich die beiden Genannten 
bereit, diesen armen Heiden das Evangelium zu verkündigen. 

Am 21. August 1732 in aller Herrgottsfrühe fuhren die ersten 
Missionare der Brüdergemeinde mit dem Grafen nach Bautzen, 
wo er ihnen segnend die Hand aufs Haupt legte, und wanderten 
dann weiter, jeder einen Dukaten in der Tasche, nach London 
und von da, sich selbst ihr Brot während der Überfahrt ver- 
dienend, übers Weltmeer. Und was thun sie in S. Thomas? Sie 
arbeiten werktäglich in hartem Frohndienst mit den schwarzen 
Brüdern; aber am Feierabend und Feiertag, da erzählen sie ihnen 
von dem Herrn Jesus Christus, der für alle Menschen, die Weissen 
und Schwarzen, am Kreuze gestorben ist. Da wird es warm in 
den kalten Heidenherzen, da lernen sie sich als Menschen, als 
teuer erkaufte Christen und Kinder Gottes fühlen, es sammelt 
sich eine Gemeinde von viel hundert Seelen. Andere Missionare 
folgen aus der Heimat; etliche erliegen dem Fieber der Tropen, 
denen Zinzendorf den schönen Vers gesungen: 

„Es wurden zehn dahingesät, 

Als wären sie verloren. 

Auf ihren Beeten aber steht: 

Das ist die Saat der Mohren !“ 

Endlich kommt er selbst im Jahre 1739. Er hat die für 
die damalige Zeit ungeheure Reise nicht gescheut, um seine Mis- 
sionare zu trösten und zu stärken. Und als er ankommt, da sitzen 
sie im Gefängnis, durch die Niederträchtigkeit der weissen Pflanzer, 
die die Bekehrung ihrer Sklaven und Sklavinnen aus unlautern, 
ja unreinen Gründen missbilligten, in Ketten gelegt. 

Sobald Zinzendorf erscheint, mit Briefen vom dänischen 
König, da springen die Kerkerpforten auf, der Graf küsst seinen 
treuen Boten, zum Erstaunen des Gouverneurs, die Hand und 
predigt Tag für Tag den Negern das Evangelium. Drei neue 
Missionsstationen werden gegründet 

Endlich kehrt der Unermüdliche in die Heimat zurück. 
Aber wie? Die hohe Gestalt, vor welcher, wo er auch erschien, 
die Menschen ehrfurchtsvoll stehen blieben, verfallen; die grossen, 
leuchtenden Augen klein geworden ; die gewaltige Stirne tief 


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138 


Hausmann 


Heft 5 u. 6. 


gefurcht, aber derselbe unentwegte Streiter und Knecht seines 
Herrn. 

Und Westindieii? Heutzutage neben der deutschen, eng- 
lischen und amerikanischen die vierte Provinz der evangelischen 
Brüderkirche, wo die Gemeinden der schwarzen Christen sich 
selber erhalten und kaum einer Unterstützung mehr bedürfen. 

Wir versetzen uns weiter nach Nordamerika mit seinen 
Urwäldern und Prärien, wo damals noch in ungeschwächter Kraft 
das Volk der Indianer hauste. Zum zweiten Male ist Zinzendorf 
übers Weltmeer gesegelt und im November 1741 in New-York 
gelandet. In Philadelphia, der Hauptstadt von Pennsylvanien, hat 
er für seine „Pilgergemeine“ von 17 Personen (darunter seine lieb- 
liche Tochter Benigna) ein Haus gemietet, worin er täglich vor 
Christen der verschiedensten Richtungen predigt und von wo er 
drei gefahrvolle Reisen zu den Indianern unternimmt, unter denen 
bereits seine Brüder in gesegneter Arbeit standen. Das Weih- 
nachtsfest feierte er in einem stallähnlichen Gebäude, woraus dann 
durch allmähliche Ansiedelung Be tl eh em sich erhob, heute eine 
blühende Stadt, woselbst 2000 Mitglieder der Brüder-Gemeinde 
wohnen. Dort entstand sein schönes Weihnachtslied: „Glückseliger 
ist uns doch keine Nacht, als die uns das Wunderkind hat ge- 
bracht.“ An den Häuptling der Kirikisen, eines Indianerstammes, 
der seine Brüder freundlich aufgenommen, hatte er einen Brief 
geschrieben, des Inhalts: „Weiser Mann! Lieber König! Ich höre, 
Du suchst Weisheit; die Weisheit, die Du suchst, hast Du; denn 
das ist die grösste Weisheit, wenn man weiss, dass man nichts 
weiss. Weisst Du aber, was dir fehlt?“ Und nun malt er ihm 
den Gekreuzigten vor Augen, der allein die Menschen glücklich 
und selig macht. „Glaube dieses, lieber König! und lass Dich 
taufen in Jesu Tod. Ich schreibe aus Liebe an Dich. Dein 
Knecht Zinzendorf.“ 

Auf der zweiten Reise traf er mit den Oberhäuptern der 
Irokesen zusammen, des mächtigsten Indianerstammes. Er liess 
ihnen durch seinen Dolmetscher sagen, dass er Gottes Wort an 
sie und ihre Völker hätte. Sie luden ihn ein, zu kommen. Nach 
indianischem Brauch wurden Schnüre von Muscheln zur Besiege- 
lung der Freundschaft ausgetauscht. Das war der Anfang der 
Irokesenmission. Der „Indianerapostel“ David Zeissberger hat 
Jahrzehnte hindurch hier seine berühmte Wirksamkeit entfaltet, 
gleichwie Christian Heinrich Rauch unter den Mohikanern. Dort 
bewohnte Zinzendorf mit seiner Tochter im Indianerdorf Scheko- 
meko eine Hütte aus Baumrinde, wovon er schreibt: Das war mir 
das lieblichste Haus, welches ich noch bewohnt habe.“ 

Und nun zum Schluss. Soll ich erzählen von der Brüder- 
mission im Kapland, wo der bekannte Georg Schmidt ein volles 
Menschenalter unter den Hottentotten gewirkt hat, um dann im 


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1901. 


Graf Zinzendorf, der Stifter der Brüdergemeinde. 


139 


heimatlichen Niesky (Ober-Lausitz), weil er auch im Alter nicht 
müssig gehen wollte, seine Tage als einfacher Tagelöhner zu be- 
schliessen ? 

Soll ich euch führen nach Suriname, wo heut über 100 000 
Heidenchristen unter der Pflege der Brüder stehn ? Oder auf die 
höchsten Berge der Erde, des Himalayagebirges, wo treue Send- 
boten seit einem halben Jahrhundert mit den Lehren des Buddhis- 
mus kämpfen? Oder nach Deutsch-Ostafrika, wo am Nyassasee 
Urenkel jener mährischen Streiter sich angesiedelt haben? 

Ich denke: Ihr folgt mir zum Schluss nach Herrnhut, 
dem stillen Friedensort am Abhang des Hutbergs. 

Es ist das Jahr 1760, es ist die Frühe des Ostermorgens. 
Heilige Sabbathruhe über dem sonst so gewerbfleissigen Ort. Da 
zieht die Gemeinde, nach „Chören“ geordnet, wie alljährlich noch 
heute unter den Klängen der Posaunen auf den Gottesacker hin- 
aus, und dort wird Zinzendorfs sinnige und stimmungsvolle Oster- 
litanei an den Gräbern der Entschlafenen gesungen und gebetet, 
während der Osten sich rot und röter färbt und endlich die Oster- 
sonne in strahlendem Glanze aufgeht. 

Etwa einen Monat später, da geht durch Herrnhuts Gassen 
ein anderer, viel grösserer Zug; voran die Frauen und Mädchen 
in weissen Kleidern (denn die Brüdergemeinde kennt keine Trauer- 
farbe), aber ein Trauerzug. Zinzendorf war am 9. Mai heimge- 
gangen; nicht wie Huss den Märtyrertod erleidend, nein, sanft im 
Glauben an seinen Heiland entschlummernd, und doch ein Märtyrer 
sein Leben lang: das Feuer der Liebe, die sein Herz erfüllte, der 
Liebe zu Gott und den Brüdern hatte ihn verzehrt 

Zweiunddreissig Geistliche der Brüderkirche trugen abwech- 
selnd den Sarg; ein Kommando kaiserlicher Grenadiere aus Zittau 
(es war ja der 7jährige Krieg) hielt die Ordnung aufrecht; denn 
viele Tausende von Nah und Fern waren zu diesem Begräbnis 
herbeigeströmt. 

Nun ruht er dort auf dem Hutberg in Mitten seiner beiden 
Gemahlinnen: Erdmuth Dorothea von Reuss, die ihm vier Jahre 
zuvor vorangegangen, und Anna Nitschmann, der Mährin, die ihm 
ein halbes Jahr später nachgefolgt ist Auf dem würdig-einfachen 
Grabsteine liest man die Inschrift: „Er war gesetzt, Frucht zu 
bringen, eine Frucht, die da bleibet.“ Nun hat sich an ihm er- 
füllt, was über seinem Schlossthor zu Berthelsdorf geschrieben 
stand: 

„Wir übernachten hier als Gäste. 

Drum ist dies Haus nicht schön noch feste. 

Gottlob! Wir haben noch ein Haus! 

Im Himmel, da siehts besser aus.“ 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft 

Von 

Dr. Heinrich Romundt in Dresden-Blase witz. 

Zweiter Teil. 

Der Platonisiiius in der Kritik der teleologischen 
Urteilskraft. 

1. Kapitel. 

Ein dem Schönen verwandter Begriff platonischer Art 
giebt sich kund im Urteil über lebendige Natur. 

Kants Kritik der Urteilskraft besteht nicht nur aus einer 
Lehre vom Schönen und vom Erhabenen, welche letztere wir in 
unserer gegenwärtigen Abhandlung ganz beiseite lassen durften, 
sondern noch aus einem zweiten Hauptteil, der hinter dem ersten 
ästhetischen nur wenig an Umfang zurückbleibt, im Inhalte aber 
auf den ersten Blick von jenem so stark abweicht, dass man an 
der Verbindung beider zu einem Ganzen und zu einem Buche 
öfter Anstoss genommen hat* Ob mit Recht, ist zwar noch in 
diesem Kapitel, jedoch erst am Schlüsse desselben zu entscheiden. 

Nach dem vorangehenden ersten Teil dieser Abhandlung 
nicht nur, sondern auch bereits nach unserer darin erwähnten 
Betrachtung der beiden ersten Kritiken Kants ist nun auch in 
Kants Kritik der teleologischen Urteilskraft ein platonisches 
Moment der Erkenntnis zu erwarten. Dieses aber ist hier ein 
Begriff, der uns durch das Nachdenken über die Entstehung 
gewisser Erfahrungsgegenstände von besonderer Art, nämlich der 
Pflanzen und Tiere, zugeführt wird. Denn solche Erfahrung hat 
schon Plato stutzig gemacht. Dieser muss nach der von Sokrates 
im „Gastmahl“ berichteten Rede der Diotima, Kap. 26, erkannt 
haben, dass ein Mensch zwar von Kindesbeinen an bis zum 
Greisenalter immer derselbe genannt wird, aber doch nie dasselbe 
an sich behält, sondern immer ein neuer wird und das Alte ver- 
liert an Haaren, Fleisch, Knochen, Blut und am ganzen Leibe. 
Es bleibe also in Wahrheit nur immer, meint die weise Frau aus 
Mantinea (im Wachstum und in der Erhaltung eines tierischen 
Körpers ganz ähnlich wie bei der Zeugung) ein anderes Junges 
statt des Alten zurück. 

Werden wir nicht in der That, ohne dass wir natürlich 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


141 


(vgl. I, Kap. 2) irgend an Entlehnung zu denken berechtigt sind, 
an diese wahre Betrachtung Platos erinnert, wenn Kant § 64 
meint, Wachstum eines Baumes sei in Wahrheit fortgesetzte 
Selbstzeugung desselben als eines Individuums und der Ausdruck 
Zeugung also eigentlich nicht mit dem gewöhnlichen Sprach- 
gebrauch auf Hervorbringung eines anderen Baumes derselben 
Gattung zu beschränken? Hiernach wäre vielmehr der Baum, 
der etwa gegenwärtig vor uns steht, als eine Wirkung von sich 
selbst als früherem Baum zu verstehen, dasselbe Wirkung von 
demselben als Ursache. Kant begründet die Gleichsetzung des 
blossen Wachstums in diesem besonderen Falle mit Zeugung durch 
den Hinweis darauf, dass die Grössenzunahme, die im Wachstum 
eines Baumes sich zeigt, von einer jeden anderen nach mechanischen 
Gesetzen — man denke z. B. an diejenige einer rollenden Schnee- 
lawine — gänzlich unterschieden sei. Denn die Materie, die der 
Baum zu sich hinzusetze, verarbeite dieses Gewächs vorher zu 
spezifisch eigentümlicher Qualität, welche der Naturmechanismus 
ausser ihm nicht liefern könne, und bilde sich selbst weiter aus 
vermittelst eines Stoffes, der seiner Mischung nach sein eigenes 
Produkt sei. 

So nun etwa, als Wirkung von sich selbst als Ursache, er- 
fahren wir ja aber auch ein Haus in der Wirklichkeit, nämlich 
als eine Wirkung der ihm entsprechenden gleichen Vorstellung 
im Kopfe seines Erbauers, aufgenommen in dessen Willen und 
danach von diesem mit Benutzung alles zu Gebote Stehenden zur 
Verwirklichung gebracht. Dieses ist in der That das einzige in 
unserer Erfahrung sich bietende Verhältnis, an dem wir uns die 
Art der Entstehung und Erhaltung einer Pflanze, eines Tieres 
bis soweit, dass kein Rest von Dunkelheit zurückbleibt, verständ- 
lich und fasslich machen können. Eins müssen wir freilich bei 
Benutzung dieser Analogie sofort bemerken: dass in der Natur 
nicht ein solcher verstand- und willensbegabter Baumeister organi- 
sierter Körper angetroffen, sondern auf einen solchen einzig und 
allein geschlossen wird. 

Demgemäss wendet Kant gegen die Zusammenstellung der 
Natur und ihres Vermögens in organisierten Produkten mit mensch- 
licher Kunst, wo man sich den Künstler (ein vernünftiges Wesen) 
ausser dieser denke, § 65 ein, sie, die Natur, organisiere sich 
vielmehr selbst und in jeder Spezies ihrer organisierten Produkte, 
zwar nach einerlei Exemplar im Ganzen, aber doch auch mit 
schicklichen Abweichungen , die die Selbsterhaltung nach den 
Umständen erfordert. Geht man dem weiter nach, so wird man 
wohl mit Kant, der mit so inniger liebevoller Hingebung bei der 
Beobachtung der Natur und ihres Lebens verweilte, ebendort in 
allerdings schroffem, aber wohl begründetem Gegensätze zu dem, 
was soeben über die Analogie der baumeisterlichen Wirksamkeit 
bemerkt wurde, vielmehr sagen, dass die Organisation der Natur, 


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142 


Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


genau zu reden, nichts Analogisches habe mit irgend einer Cau- 
salität, die wir kennen. Selbst die Vergleichung mit der Kunst 
des Genies, wie diese uns etwa in dem Schaffen des jungen 
Goethe entgegentritt und die allerdings am meisten das Dunkel 
dieses Naturgeheimnisses für uns aufzuhellen dienen mag, will 
Kant anders, als Paulsen in seinem Kantbuch 1. Aufl. S. 271 
von ihm anzunehmen scheint, nicht als völlig angemessene Ana- 
logie gelten lassen. Der Grund ist, dass wir ja „selbst zur Natur 
im weitesten Sinne gehören“. Wenn wir nun meinten, durch das 
Schaffen des Genies schon das Walten der Natur vollständig 
erklären zu können, würde das nicht allzusehr dem Wahne gleichen, 
wir könnten die verborgene grosse Ursache schon durch eine 
einzelne Art von Wirkungen ausschöpfen? Das Weltmeer mit 
einem Fingerhut? 

Diese Anzweiflung der Vergleichbarkeit jedwelcher Art von 
sonst bekannter Causalität, kurz völlige Neuheit und Rätselhaftig- 
keit überhebt aber natürlich nicht im Geringsten der Pflicht, eine 
ganz andere Art von Ursachen, als die Vorgänge der unorganischen 
Natur, wie z. B. Regen und Wind, zur Erklärung ihres Entstehens 
fordern, für das Werden von Pflanzen und Tieren anzunehmen, 
wenn solche zum Verständnis dieses unentbehrlich sind. Und 
schon danach, wie wir Kant in unserem ersten Teile kennen ge- 
lernt haben, ist zu erwarten, dass er selbst rückhaltlos bereit sein 
wird, jene Notwendigkeit, wenn wirklich vorhanden, anzuerkennen 
und auch einen in Dunkel und Geheimnis tief eingehüllten Begriff 
nach Möglichkeit für die Erforschung der organischen Körper zu 
verwenden. Diese Erwartung wird auch nicht getäuscht. 

Nach allem Vorangehenden ist es eine neue Art von Natur- 
ursachen, die in der Kritik der teleologischen Urteilskraft zu den 
mechanischen, die in der Kritik der reinen Vernunft als dem 
Organon der allgemeinen Naturwissenschaft allein in Betracht 
gezogen wurden, hinzutritt Sie heisst auch im Unterschiede von 
diesen die der teleologischen Ursachen. Der deutsche Name dafür 
ist derjenige der Endursachen, als welche das Ende ihrer Wirk- 
samkeit in sich schon vorausnehmen, wie z. B. der Baumeister 
das zu bauende Haus. Die mechanischen Ursachen aber heissen 
deutsch bloss wirkende wie z. B. der Stoss gegen eine dadurch 
ins Rollen gebrachte Kugel oder auch die zur Verwirklichung 
jenes baumeisterlichen Hausgedankens führende und dienende 
Zueinanderbewegung von Steinen ganz für sich und abgesehen 
von der Leitung, die auch in ihr sich äussert, eine zwar schwer 
vollziehbare Abstraktion. Am treffendsten und besten aber, auch 
nach Kant, werden jene ideale, diese bloss reale Ursachen genannt, 
weil aus dieser Bezeichnung zugleich erhellt, dass ausser diesen 
beiden Klassen von Ursachen keine dritte Art zu denken ist 

Der Leser unseres ersten Teils aber wird fragen, ob sich 
nicht auch diesem neuen platonischen Moment der Erkenntnis 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


143 


gegenüber die Kant mit Hume und dessen Vorläufern gemeinsame 
Besinnung geltend mache. In der That konnte Kant nicht mehr 
gleich Plato in dem Menschen, der von Kindesbeinen an bis zum 
Greisenalter immer derselbe genannt wird, aber doch nie dasselbe 
an sich behält, sofort schon etwa ein fortgesetztes Teilnehmen von 
. dessen sich erneuerndem Leibe und ganzer Person an einem und 
demselben Überschwänglichen oder Übersinnlichen jenseits aller 
erkannten Natur, sagen wir: an einem an sich seienden Urbilde 
dieses Menschen, annehmen. Vielmehr auch dieses platonische 
Jenseits gehört als ein von Menschen Erschlossenes und Gedach- 
tes zunächst völlig nur dem Bereiche menschlicher Erkenntnis 
und ihrer Voraussetzungen im Gemüte an. So wird denn auch 
hier durch die brittische Besinnung ein platonisch Transscendentes 
in ein zunächst bloss Transscendentales umgeändert, d. h. aber in 
ein sich uns aufdrängendes unentbehrliches Mittel und Werkzeug, 
um der Naturgegenstände, die sich uns darbieten, in Forschung 
und Erkenntnis mehr und mehr Herr zu werden. 

Durch Erfahrungsgegenstände besonderer Art, durch Pflanzen 
4 und Tiere, durch Wahrnehmung von deren Werden und Wachsen 
wird uns der Begriff von idealen Ursachen zuerst aufgenötigt. 
Ist uns aber so an der gegebenen Natur einmal ein Vermögen 
offenbar geworden, Produkte hervorzubringen, deren Möglichkeit 
ohne Anwendung des Begriffs von Endursachen von uns nicht 
verstanden werden kann, so wäre es nicht Bescheidenheit, sondern 
blosse Willkür, nicht auch die Anwendung dieses Begriffs auf 
solche Gebiete der Natur zu versuchen, die ihn an sich wie die 
leblosen unorganischen Naturgegenstände, z. B. Steine oder atmo- 
sphärische Vorgänge, nicht herausfordern. Ja, es ist unerlässlich, 
diesen Versuch auch auf das Naturganze auszudehnen. 

Freilich ist und bleibt die Endursache ein blosser Versuchs- 
begriff. Wird dieser Begriff uns ja doch erst durch Reflexion 
und besonderes Nachdenken über die Entstehung bestimmter 
Naturdinge, von Pflanzen und Tieren, aufgedrängt. Dadurch 
unterscheidet er sich wesentlich von den in die Erfahrung selbst 
eingemischten Begriffen (z. B. von demjenigen einer notwendigen 
Verknüpfung von Vorgängen), mit deren Zusammenfassen zu einem 
Ganzen, Erörterung und Rechtfertigung nach vorangehendem Aus- 
lesen solcher Begriffe aus der Erfahrung sich die Analytik der 
Kritik der reinen Vernunft zu beschäftigen hatte. So als blossen 
Versuchsbegriff konnte den Gedanken idealer Naturursachen frei- 
lich noch nicht Plato verstehen. Bei diesem gleicht er vielmehr 
noch einer Bildsäule, die mit allen anderen ideellen Momenten 
der Erkenntnis zusammen in einem Wölkenkuckucksheim steif 
und starr dasteht Um ihn zugleich menschlicher und richtiger 
zu fassen, dazu musste erst die mit der Entwickelung ernster 
Naturerforschung zusammenhängende brittische Grundbesinnung 
auf kommen und erstarken, die nun zuletzt auch diesen altgriechi- 


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144 


Komundt, 


Heft 5 11 . 6. 


sehen Standbildern überweltlichen Charakters gleichsam die Glieder 
löst und sie beweglich macht. 

Wir deuteten an, dass in der Analytik der Kritik der teleo- 
logischen Urteilskraft eine Ergänzung des entsprechenden Ab- 
schnittes der Kritik von 1781 enthalten ist. Zunächst aber wird 
durch sie offenbar die Kritik der ästhetischen Urteilskraft er- 
weitert. Vergleichen wir den Begriff idealer Ursachen von Natur- 
vorgängen, der nun auf taucht, mit dem dort erörterten Begriff 
der Schönheit! 

In der letzteren erkannten wir eine Angepasstheit bloss an 
das auffassende menschliche Subjekt und seine Vermögen, also 
an uns selbst. Zu dieser subjektiven Zweckmässigkeit sehen wir 
nun in dem neuen Fall der idealen Ursache den keinem Menschen- 
kinde fremden Begriff einer Anpassung von Gegenständen der 
Erfahrung wie an ein aussermenschliches, jedoch menschenähnliches 
Subjekt und dessen der Entstehung solcher Gegenstände zu Grunde 
liegende Vermögen und Ideen hinzukommen. Mit Kants Worten: 
„eine objektive Zweckmässigkeit“, eine für uns gleichsam objektive 
Zweckmässigkeit. Damit aber ist der Begriff eines Masses, das • 
im Menschen für sich darbietende Natur gelegen ist, an dem diese 
zu messen und so zu erproben wir nicht unterlassen können, voll- 
ständig erschöpft 

Wir haben hier den doch wohl zureichenden Grund an- 
gegeben, weshalb Kant die Begriffe der Schönheit und der Zweck- 
mässigkeit der Natur, die zunächst freilich sehr verschiedenartig 
erscheinen, mit einander in einem Buche vereinigt hat. An dieser 
Verbindung hat man, wie schon erwähnt, öfter Anstoss genommen. 
So hat Schopenhauer in seiner Kritik der Kantischen Philosophie 
diese Vereinigung barock genannt 

2. Kapitel. 

Eine aus Anlass des neuen Begriffs von Zweckgemäss- 
heit der Natur notwendige Vorüberlegung. 

Wir erwähnten Kants unbefangenes Hinnehmen und An- 
erkennen des durch Thatsachen der Erfahrung zugeführten neuen 
platonischen Moments der Erkenntnis. Hierin aber hat Kant einen 
Vorgänger schon an Plato, dem allerdings solche Unbefangenheit 
von anderem abgesehen schon dadurch sehr erleichtert wurde, 
dass er im vierten Jahrhundert vor Christus noch nicht auf so 
viel Widerspruch gegen den Begriff idealer Ursachen, Streit und 
Verwirrung infolge des daraus entstehenden Kampfes wie der 
deutsche Denker am Ende des 18. Jahrhunderts nach Christus 
zurücksah. Dem griechischen Denker im Jünglingsalter der Philo- 
sophie lag auch schon darum weniger nahe dasjenige, wodurch 
sich nun Kant ein dauerndes Verdienst um wahre Wissenschaft 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


145 


und Philosophie erworben hat: nämlich eine eingehende Erörte- 
rung des Begriffs idealer Ursachen im Verhältnis zu dem Begriffe 
realer Ursachen, eine, wie sich zeigen wird, nicht entbehrliche 
Vorüberlegung vor jedem künftigen Gebrauch. Bei dieser Vor- 
erwägung konnte aber unserem Kant auch hier nicht die Gefahr 
eines Widerstreites entgehen, in den das sinnliche dogmatische 
Denken des Menschen diesen beim Gebrauche der beiden Arten 
von Ursachen mit einer gewissen Unentrinnbarkeit verwickelt, 
eines Widerstreits einer jeden Menschenvernunft innerlich mit sich 
selbst und dann auch der Parteigänger der einen Klasse von 
Ursachen im Vorzüge vor der anderen äusserlich mit einander. 

Es war ja nicht das erste Mal, dass Kant eine solche Anti- 
nomie der gemeinen Vernunft gewahr wurde, und ohne Zweifel 
hatte er 1790 längst als Aufgabe seiner Kritik und der von ihm 
zu begründenden kritischen Philosophie erkannt, was er 1796 in 
der „Verkündigung des nahen Abschlusses eines Traktats zum 
ewigen Frieden in der Philosophie“ aussprach. Hier bezeichnet 
er die kritische Philosophie als einen immer gegen die, welche 
verkehrterweise Erscheinungen mit Sachen an sich selbst ver- 
wechseln, bewaffneten, eben dadurch auch die Vernunftthätigkeit 
unaufhörlich begleitenden Zustand. 

Was aber wird unter dem Einfluss der Übertreibung eines 
sinnlichen Denkens, die überall gleichmässig der eben von Kant 
erwähnten Verwechselung zu Grunde liegt, aus dem so proble- 
matischen Begriff von idealen oder Zweck Ursachen? Zunächst 
wird von der natürlichen Beziehung dieses Begriffs zu unserem 
Erkenntnisvermögen, zur menschlichen Vernunft abgesehen. Infolge 
dieses Zurücktretens, ja völligen Schwindens der subjektiven Be- 
dingtheit aus dem Bewusstsein aber verwandelt sich das feinere, 
zartere „gleichsam“, das „als ob“, das in Kants neuer Fassung so 
deutlich hervortreten konnte und musste (vgl. II, Kap. 1), für 
uns unvermerkt in ein gröberes „dass“, etwa in der Art, wie uns 
die idealen Ursachen des Werdens und Wachsens bei Plato, der 
sich noch unbefangen dem Zuge des natürlichen Denkens über- 
liess, naiv entgegentreten. 

Diese vergröbernde Umwandlung aber besagt nichts Anderes 
als, dass der bloss, wenn auch mit Notwendigkeit, aus der Er- 
fahrung herausvernünftelte Versuchsbegriff den in die Erfahrung 
selbst eingewebten Verstandesbegriffen wie z. B. demjenigen einer 
notwendigen Verknüpfung, den unentbehrlichen Handhaben, ohne 
die nach der Analytik der Kritik der reinen V ernunft Erfahrungs- 
gegenstände als solche für uns überhaupt nicht möglich sind, 
völlig gleichgesetzt wird. Und nun heisst es: Einige Produkte 
der materiellen Natur sind (nur) durch Endursachen und nicht 
nach bloss mechanischen Gesetzen möglich. Befreien wir das 
eingeklammerte „nur“ von seiner Klammer, so haben wir Kants 
Formulierung der Behauptung, die sich nun ergiebt, in § 70. 

Monatshefte der CoincniuB-Gesellschaft. 1901. 10 


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146 


Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


Weiter hat Kant das Verfahren der natürlichen Denkweise 
hier nicht verfolgt, also nicht bis zu dem Schluss, zu dem das 
Denken, das einmal die zarten Grenzlinien strenger Naturwahrheit 
überschritten hat, leicht weiter eilt. Wir meinen den Schluss auf 
ein letztes Subjekt solcher als objektiv vorhanden angenommener 
Naturzwecke, kurz: auf ein aussermenschliches, aber menschen- 
ähnliches Wesen als Urheber der Zweckmässigkeit organisierter 
Naturkörper und dann notwendig weiter aller Naturdinge über- 
haupt, der Natur insgesamt. Zu diesem Schluss ist man im 
Abendlande besonders in den Jahrhunderten seit Aufkommen der 
christlichen Kirche und durch Missverstehen von deren religiösen 
Bedürfnissen gern weitergegangen. 

Das Ergebnis ist also eine Theologie, die dem Anschein 
nach auf zuverlässige Data bloss der äusseren materiellen Natur 
sich gründet, eine eigentlich so zu nennende Naturtheologie, und 
zwar eine Physikotheologie, die sich mit Wahrnehmungsthatsachen 
nicht viel mehr zu befassen braucht, nachdem sie diese einmal 
als Sprungbrett benutzt und dann hinter sich gelassen hat. 

Durch solchen Schluss, den keine Erfahrung bestätigt, aber 
auch schon durch die sinnliche Übertreibung des feineren „als 
ob" in ein plumpes „dass", die ihm zu Grunde liegt, und durch 
die darauf gegründete Behauptung der Ausschliesslichkeit des 
Prinzips der idealen Ursachen für die Erklärung einiger Erzeugung 
wird aber die Opposition des reinen Verstandes und seiner Freunde 
herausgefordert. Köpfe, die auf eine praktische Erforschung der 
Naturvorgänge gerichtet sind, können nicht anders als sich durch 
jene „Idealisten" arg beeinträchtigt fühlen und werden dann leicht 
im Interesse solcher Forschung ebenso einseitig die mechanischen 
wirkenden Ursachen für allgenugsam erklären, zumal sie damit 
die Sache des unentbehrlichen grundlegenden Verstandes und nicht 
bloss die einer vernünftelnden Urteilskraft zu vertreten meinen 
dürfen. So wird denn in ihrem Satze, den Kant in § 70 so 
formuliert: „Alle Erzeugung materieller Dinge ist nach bloss 

mechanischen Gesetzen möglich," auf eine trotzige Naturtheologie 
mit einer ebenso trotzigen Ausschliessung von allen und jeden 
idealen Ursachen in jeder Hinsicht geantwortet. 

In diesem Kampfe fehlt es selbst nicht an Versuchen von 
Parteigängern der Physik, den Ausgangspunkt der Naturtheologen, 
die Zweckmässigkeitsauffassung der organischen Körper, zu einer 
blossen Einbildung, die aus Wünschen, Wollen und Wähnen des 
unwissenden selbstsüchtigen Menschen bloss psychologisch zu er- 
klären sei, hinabzusetzen. Spinoza ist es, der in einem längeren 
Anhang zum ersten Buche seiner „Ethik", der aber wenig tief 
eindringt und wenigstens in intellektueller Hinsicht sehr mit Un- 
recht berühmt ist, diese Abschätzung der idealen Ursachen zu 
einem blossen Schein, einem „modus tan tum modo imaginandi", ver- 
tritt. Die Erzeugung nach bloss mechanischen Gesetzen dagegen 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


147 


gilt ihm für eine ewige Wahrheit. Der in Bezug auf Teleologie 
demnach wohl als Subjektivist zu bezeichnende dogmatische Denker 
des 17. Jahrhunderts steht aber trotzdem, was schon sein Verhalten 
zum Mechanismus der Natur beweist, mit seinen Gegenfüsslern, 
den Naturtheologen, den, so zu sagen, extremen Objektivisten, 
auf einem und demselben Boden, nämlich auf demjenigen eines 
natürlichen, darum jedoch noch nicht richtigen, absoluten Denkens. 

Dass es auch in der Frage der Ursachen des Werdens und 
Wachsens der Pflanzen und Tiere nicht an Aufforderung zur 
Einsetzung eines Gerichtshofes fehlt, der nach Kants Worten von 
1787 der Gewaltthätigkeit, welche Bürger von Bürgern zu be- 
sorgen haben, einen Riegel vorschiebe, damit ein jeder seine An- 
gelegenheit ruhig und sicher treiben könne, wird man nach unseren 
Darlegungen schwerlich leugnen. Dass aber gerade Kant im Be- 
sitze der entscheidenden Einsicht war, um auch diesen Streit end- 
gültig zu schlichten, wird der Leser gleichfalls schon aus den 
früheren Abschnitten dieser Abhandlung entnehmen können. 

Es ist wiederum die brittische Grundbesinnung, welche die 
sinnliche Übertreibung und Rechthaberei einer jeden der beiden 
Parteien, die einander ausschliessen, in die Schranken der Natur 
und Besonnenheit zurückweist und ihre Transscendenzen wiederum, 
damit wir uns eines wohl nicht mehr missverständlichen kurzen 
Ausdrucks bedienen, in blosse Transscendentalismen umwandelt. 
Dies sind aber blosse Voraussetzungen von Erkenntnis für zu er- 
wartende Naturgegenstände im menschlichen Gemüte oder, anders 
ausgedrückt, Waffen zur Eroberung der Natur durch die mensch- 
liche Vernunft, sei es für das Wissen, sei es auch über dieses 
hinaus für einen nicht willkürlichen, sondern allgemeingültigen 
unparteiischen Glauben. 

Jn ihrer berichtigten Gestalt nun schliessen die Grundsätze 
der Physiker und der Theologen sich nicht mehr wie vorher 
gegenseitig aus, sondern können ohne alle Schwierigkeit mit ein- 
ander vereinigt werden. Oder was für ein Widerspruch wäre 
zwischen dem Satz (und dem Gegensatz, wie sie Kant zu An- 
fang des bereits erwähnten § 70 formuliert? Da lautet der Satz 
des Physikers : „Alle Erzeugung materieller Dinge und ihrer 
Formen muss als nach bloss mechanischen Gesetzen möglich 
beurteilt werden." Der Gegensatz aber heisst: „Einige Pro- 
dukte der materiellen Natur können nicht als nach bloss mecha- 
nischen Gesetzen möglich beurteilt werden. (Ihre Beurteilung 
erfordert ein ganz anderes Gesetz der Kausalität, nämlich das der 
Endursachen.)" 

Kants Kritik stellt so durch ihre Besinnung die Beziehung 
zum menschlichen Erkenntnisvermögen, die unvermerkt aus dem 
Bewusstsein des Menschen leicht schwindet, in der That aber 
doch immer gleich sehr vorhanden ist und bleibt, mit dem er- 
forderlichen Nachdruck wieder her. Dadurch aber ist nun unserem 

10 * 


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ßomundt, 


Heft 5 u. 6. 


Geschlechte die Einfalt der Natur, von der wir jedoch nicht sageu 
dürfen, dass sie zu Zeiten von Menschengedenken je geherrscht 
habe, gleichsam zurückerworben. Es ist das menschlich beschei- 
dene „als ob“ statt des natürlicheren, aber trotzdem vermessenen 
„dass“ für die Zweckmässigkeitsauffassung der organischen Natur 
und für die auf sie sich gründende Naturtheologie, das Kant mit 
der angegebenen Begründung für immer auf den Platz zurück- 
führt, der ihm von Rechtswegen zukommt. Dies geschieht nach 
erfolgter Auflösung der Antinomie am Schlüsse des § 75, dessen 
Überschrift schon dahin weist: „Der Begriff einer objektiven 
Zweckmässigkeit der Natur ist ein kritisches Prinzip der Vernunft 
für die reflektierende Urteilskraft.“ 

Aber diese Wiederherstellung der einfältigen Natur ist hier 
wie anderswo in der Kritik keineswegs der einzige Gewinn aus 
der glücklichen Auflösung der Antinomie. Durch die zum Behuf 
dieser Auflösung erforderliche Erinnerung an die völlige Sinnen- 
bedingtheit gegebener Natur ist Raum geschaffen für Dinge an 
sich selbst, damit aber auch für eine noch ganz andere Vereini- 
gung der beiden möglichen Arten von Ursachen, der realen und 
der idealen, als sie sich im Altertum etwa ein Aristoteles, der von 
seines Lehrers Plato vorwiegendem Idealismus für sein stärkeres 
Interesse an Naturerforschung mit Recht nicht befriedigt war, als 
wirkliche Ordnung der Natur gedacht haben mag. Nach Aristo- 
teles sollten wirkende oder Bewegungsursachen, denen zwar auch 
er in jenen Kindheitstagen der abendländischen Wissenschaft noch 
nicht völlig gerecht zu werden vermochte, im Dienste von idealen 
Zweckursachen stehen ungefähr so, wie Maurer und deren Zu- 
pfleger unter der Leitung des Baumeisters. 

Für eine noch ganz andere Art von Vereinigung sei Raum 
geschaffen, sagten wir soeben, durch die Unterscheidung der Dinge 
an sich selbst von den Dingen für uns, den Sinnendingen. Diese 
Vereinigung wird von Kant nach Auflösung der Antinomie in 
zwei Paragraphen vorbereitet. Von diesen ist der letzte, § 77, 
mit der Überschrift „Von der Eigentümlichkeit des menschlichen 
Verstandes, wodurch uns der Begriff eines Naturzwecks möglich 
wird“, von Schopenhauer in einer Notiz gelegentlich seiner Lek- 
türe desselben „sehr tiefsinnig, aber höchst dunkel“ genannt, eine 
Bezeichnung, die für die vorhergehende Anmerkung, durch die er 
vorbereitet wird, nicht weniger zutreffen dürfte. 

Hier wird von Kant dasjenige, was bereits in seiner Inan- 
spruchnahme des Versuchsbegriffs idealer Ursachen und Ihnen 
entsprechender Wirkungen als blosser Voraussetzungen und Werk- 
zeuge für Erkenntnis im menschlichen Gemüte gelegen ist, weiter 
entwickelt und zur Geltung gebracht. Dies aber nicht ohne Be- 
rücksichtigung auch der analogen Art, wie die geistige Form einer 
notwendigen Verknüpfung von Bewegungsursachen im Begriffe 
des Mechanismus bereits in der Kritik der reinen Vernunft ge- 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


149 


fasst wurde. Kant weist auf die tiefer liegenden Wurzeln der 
Zweckauffassung oder des Zweckbegriffs in einer Eigentümlichkeit 
des menschlichen Erkenntnisvermögens hin. 

Bei uns nämlich sind Anschauungen und das Denken, das 
diese zu Begriffen zusammenfasst, getrennt. So enthält der ge- 
dachte Begriff eines Hausbaus als Ganzes in und unter sich alle 
anschaulichen zur Vollführung eines solchen Baus erforderlichen 
Handlungen verschiedener Gewerke als Teile, die dann durch ihr 
Zusammenwirken das Ganze in der Wirklichkeit unter der Ober- 
leitung jenes zustandebringen. 

Wir wissen nun zwar gar nichts von einem anders beschaf- 
fenen Erkenntnisvermögen und würden dessen Art und Verfahren, 
wenn man es uns beschreiben wollte, vermutlich nicht einmal ver- 
stehen. Aber zu denken ist trotzdem wohl, wenn auch gar nicht 
bestimmt vorzustellen, ein anschauender oder intuitiver Ver- 
stand, in dem das bei uns Getrennte, Anschauung und Denken, 
Teile und Ganzes, zusammenfallen würden. Die Vergegenwärti- 
gung eines Wesens mit diesem Vermögen einer intellektuellen An- 
schauung, dessen Gedanken freilich nicht unsere Gedanken sind, 
kann nun dienen, uns von der Zufälligkeit und blossen Mensch- 
lichkeit unserer Zweckauffassung der Natur zu überführen. Und 
in keiner anderen Absicht ist diese Betrachtung, die bei ihm in 
die dunkelste Tiefe unserer Vernunft, in die wir aber hier nicht 
folgen wollen, hinunterdringt, von Kant angestellt. Also nicht 
etwa, um uns zu völlig eingebildeter Übung eines uns nicht ein- 
mal verständlichen Vermögens von dem uns natürlichen Denken 
mit Benutzung von Zweckbegriffen, das auch wohl von statten 
geht, hinweg zu locken. Ob sich aber das wohl alle Leser Kants 
von Anfang an völlig klar gemacht haben, auch die vermeinten 
Erben und zugleich, wie sie von gefälligen Trabanten genannt 
wurden, „Überwinder“ Kants am Ende des 18. und in der ersten 
Hälfte des 19. Jahrhunderts? 

Es wurde zuvor in diesem Kapitel von uns Spinozas Ab- 
schätzung der idealen Ursachen zu einem blossen Schein erwähnt. 
Kants Angriff nun auf den teleologischen Verstand verhält sich 
zu dem Vorgehen Spinozas wie tiefer bitterer Ernst zum leichten 
Spiel. Und doch hat das so viel gründlichere Verfahren des Ver- 
nunftkritikers lange nicht das Aufreizende und bloss Beunruhigende 
des blinden Dogmatikers. Denn jener lässt die erfahrungsmässige 
Realität der Zweckauffassung der Natur völlig unangefochten und 
giebt die Zweckmässigkeit der Natur nicht etwa nur für eine will- 
kürliche Einbildung des von Spinoza so genannten „vulgus“ aus, 
zu dem wir ja doch alle gehören mit einziger Ausnahme etwa des 
spekulierenden Denkers, der ausschliesslich dem Ideale theoretischer 
Forschung nachhängt und der sich über den gemeinen Mann in 
seinem einsamen Dachstübchen hoch erhaben — dünkt So ver- 
schieden ist, ob man dasselbe mit Spinoza für eine Wesenheit 


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Romundt. 


Heft 5 u. 6. 


blosser Einbildung (ens imaginationis) oder mit Kant für eine 
solche der natürlichen, obzwar nicht rein wissenschaftlichen Ver- 
nunft (ens rationis) ansieht. 

Von einem versuchsweise zu denkenden anschauenden Ver- 
stände, den die Auflösung der teleologischen Antinomie uns nahe 
bringt, dürfen wir nun annehmen, dass er das Übersinnliche, für 
das dieselbe Auflösung in den für sie erforderlichen Erwägungen 
uns schon zuvor Kaum gewährte, ganz anders erkennen würde, 
als es uns Menschen möglich ist. Denn für uns Menschen lässt 
die erwähnte Inanspruchnahme der teleologischen Auffassung 1790 
wie der mechanischen schon 1781 als blosser Erkenntniswerkzeuge 
durch Kants Kritik — in starkem Unterschiede auch hier von 
Plato, der noch nicht so strenge zu sondern vermochte — für 
das Übersinnliche nur völlige Unbestimmtheit übrig. So also 
ist das gemeinschaftliche Prinzip der mechanischen Ableitung 
einerseits und der teleologischen andererseits für unsere Einsicht 
beschaffen, dasjenige Gemeinschaftliche, von dem Kant in § 78, 
dem Schlussparagraphen der Dialektik der teleologischen Urteils- 
kraft, nach der Vorbereitung in den vorhergehenden §§ sagt, dass 
wir es der Natur als einem blossen Phänomen unterlegen müssen. 
In Betreff dessen fügt auch er dort sofort noch hinzu, dass wir 
uns von ihm in theoretischer Absicht nicht den mindesten bejahend 
bestimmten Begriff machen können. 

Wenn wir aber demnach auch hier gerade so wie im Ab- 
schluss der Kritik der ästhetischen Urteilskraft Unbestimmtheit 
des Übersinnlichen behaupten, so gilt diese Unbestimmtheit doch 
mit Notwendigkeit einzig und allein für uns und also gar nicht 
z. B. für einen anschauenden Verstand, den wir uns wenigstens 
denken können. Dieser mag also das übersinnliche gemeinschaft- 
liche Prinzip des Mechanismus und der Teleologie als ein völlig 
und genau Bestimmtes denkend anschauen. 

Auch in dieser Hinsicht folglich, damit wir die Unbestimmt- 
heit ja nicht etwa über uns Menschen hinaus willkürlich ausdehnen, 
hat die Vergegenwärtigung eines Geistes von übermenschlicher 
Art eine Bedeutung, die nicht zu verachten ist. 

Für uns Menschen andererseits aber ist gerade die von Kants 
Kritik festgestellte Unbestimmtheit des Übersinnlichen von dem 
allergrössten praktischen Wert und Nutzen und zwar zunächst für 
unsere Naturforschung. Denn durch solche Unbestimmtheit wird 
für jede Kühnheit, ja Verwegenheit mechanischer Forschung, für 
deren Hypothesen und Experimente völlige Freiheit gelassen. 
Darum aber ist nicht schon zu besorgen, es werde dadurch das 
teleologische Denken je ausgeschlossen oder aufgehoben. Aufge- 
schoben ist nicht aufgehoben. 

Sollte übrigens das Auslaufen auch der Kritik der teleolo- 
gischen Urteilskraft genau so wie vorher derjenigen der ästheti- 
schen in die Idee eines Übersinnlichen von völlig unbestimmter 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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Art nicht auch für eine Verwandtschaft der beiderseitigen Aus- 
gangspunkte, des Begriffs der Schönheit und desjenigen der Zweck- 
mässigkeit der Natur, Zeugnis ablegen? — Dies nebenbei zur 
Ergänzung der Schlussbemerkung von II. Kap. 1. 

In dem Buche von A. Drews „Kants Naturphilosophie als 
Grundlage seines Systems (!?).“ Berlin 1894, findet sich über die 
Antinomie der teleologischen Urteilskraft, von der wir jetzt die 
Verursachung wie auch die Auflösung samt ihrer wohlthätigen 
Folge kennen gelernt haben, S. 481 der folgende Satz: „Hier 

haben wir es zu offenbar nur mit einer Parallele zu den Antino- 
mien der Vernunftkritik zu thun, die Kant nur aus systematischen 
Gründen erfunden (!) hat, als dass es sich verlohnte, näher darauf 
cinzugehen.“ 

Ob sich das hier vom hohen Pferde herab abgelehnte Ein- 
gehen auf diese Antinomie nicht doch weit mehr gelohnt hätte 
als der Wahn, der zwar mehrfach umgeht, aber trotzdem völlig 
grundlos ist, dass der für blosses Erfinden in den Wissenschaften 
so wenig eingenommene Kant diese wie andere Antinomien nur 
aus systematischem Grunde erfunden, d. h. ehrlich deutsch und 
grob ausgedrückt, aus den Fingern gesogen habe? Denn im Falle 
ernster Beschäftigung mit dieser Antinomie hätte auch Drews als 
den Schlüssel zur Auflösung derselben die Idee eines Übersinn- 
lichen, das für uns Menschen notwendig unbestimmt ist, antreffen 
müssen. Dies ist aber, dürfen wir annehmen, eben diejenige 
Folgerung, die er nun S. 437 seines Buches bei Kant im Inter- 
esse der Naturphilosophie mit Bedauern vermisst, „obwohl dieselbe 
doch, meint er, unzweideutig in seinen Praemissen enthalten ist.“ 
Einfachen platt rationalistischen Theismus hätte Drews dann ge- 
wiss nicht Kant als seiner Weisheit Schluss nachsagen können. 

Nach Kants Urteil bedurfte es eines Zurückgehens auf „die 
Eigentümlichkeit des menschlichen Verstandes, wodurch uns der 
Begriff eines Naturzwecks möglich wird“, um noch über das nächste 
Bedürfnis hinaus für ein höheres Interesse, das erst in den folgen- 
den Kapiteln auseinandergesetzt werden kann, die Begriffe des 
Mechanismus und der Teleologie in der Auffassung der Natur 
zu vereinigen. Ein wesentlich anderes Verhalten dieser Aufgabe 
gegenüber begegnet uns am Ende des 19. Jahrhunderts. Wir 
haben hier im Sinne das „System der Philosophie“ von Wilhelm. 
Wundt, das zuerst 1889 veröffentlicht und danach 1897 in 2. Auf- 
lage erschienen ist, und besonders S. 322 dieses Buches (2. Aufl. 
S. 312). 

Nicht, als ob hier auf Kants Ziel verzichtet würde. Es wird 
vielmehr dasjenige, was Kant allein als erreichbar, aber auch allein 
als praktisch, nämlich für die dauernde Befreiung menschlicher 
Naturforschung, notwendig erachtete, dem Anscheine nach sogar 
weit überboten. Jedoch einer mühsamen Zergliederung des mensch- 
lichen Verstandes scheint es heutzutage zu diesem Zwecke nicht 


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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


mehr zu bedürfen; ja, vielleicht ist nicht einmal mehr ein Ver- 
ständnis der von Kant versuchten erforderlich. Zwei kleine Worte 
schon bringen, was man nur wünschen mag, zustande, nämlich der 
von Wundt soeben in sein System eingeführte Begriff einer „aktu- 
ellen Kausalität“. 

Uber diese heisst es auf der angegebenen Seite: „Vom 
Standpunkt der aktuellen Kausalität aus ist die Zweckbetrachtung 
lediglich (!!) — in der 2. Auflage steht dafür: bloss — die 
Umkehrung der Kausalbetrachtung.“ Mit anderen Worten, die 
eben vorhergehen: die progressive Richtung der Kausalität ist 
(nämlich durch die Wundtsche Begriffsschöpfung einer „aktuellen 
Kausalität“) in eine regressive verwandelt oder auch, wie es in 
unmittelbarem Anschluss an den zuvor angeführten Satz wörtlich 
weiter heisst: „Ursache und Mittel, Wirkung und Zweck sind zu 
äquivalenten (!) Begriffen geworden. Der Streit beider Prinzipien 
um die Herrschaft hat damit endgültig sein Ende erreicht“ 

Das ist nun fürwahr nichts Geringes. Sind wir aber nicht, 
ehe wir blossen zwei wenn auch fremdklingenden Worten so Uber- 
gewaltiges Zutrauen, berechtigt, ja verpflichtet, über das Wie und 
Woher eines so unerhörten Vermögens uns Klarheit zu verschaf- 
fen? Vielleicht bringt Wundts Kapitel von dem „Prinzip der 
aktuellen Kausalität“ S. 311 ff. (2. Aufl. S. 301) darüber einiges 
Licht. 

Zuvor aber wolle sich der Leser die gemeine Thatsache ver- 
gegenwärtigen, dass jede Wirkung im Naturlauf Ursache wiederum 
von anderen Ereignissen als Wirkungen werden kann, so Schnee- 
schmelze im Frühjahr im Gebirge infolge der laueren Lüfte vom 
Anschwellen der Bäche und Flüsse, dieses wieder von Über- 
schwemmungen und Verwüstungen im niederen Lande u.s.w. u.s.w. 
Ebenso ist jede Ursache wiederum als eine Wirkung von früheren 
Ereignissen als ihren Ursachen anzusehen. Werden wir aber 
deshalb schon meinen und sagen, dass, weil jede Wirkung wieder 
Ursache werden könne und jede Ursache wieder als Wirkung sich 
darstelle, ohne Rücksichtnahme auf das Zeitverhältnis in 
jedem einzelnen Falle die Begriffe der Ursache und der Wir- 
kung beliebig zu vertauschen seien? Um eine solche Behauptung 
wagen zu können, müssten wir ja zuvor von der lebendigen An- 
schauung und Erfahrung, die uns doch erst die Begriffe von Ur- 
sache und Wirkung an die Hand gab, völlig abgesehen haben. 

Ob nun aber nicht der bekannte Leipziger Naturforscher 
und Psychologe auf eine solche Abstraktion, die freilich gewiss 
nicht gut zu heissen ist, sich eingeschränkt hat? Dies lassen 
seine Worte am Anfang des eiwähnten Kapitels S. 31 1 vermuten: 
dass in allen Kausalitäts Verhältnissen „Ursache und Wirkung Er- 
eignisse sind und dass diese letzteren nur in der Relation, in 
die sie gebracht werden, jene Bedeutung annehmen, während in 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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anderem Zusammenhang J ) stets auch die Ursache als Wirkung 
und die Wirkung als Ursache gedacht werden kann“ „Die so 
entstandene neue Form des Kausalprinzips“, so schliesst Wundt, 
„bezeichnen wir als diejenige der aktuellen Kausalität“ 

Auf diese Weise meinen wir ein Verständnis für das Ent- 
stehen der sehr seltsamen Wundtschen Behauptung über die Mög- 
lichkeit der Vertauschung von Ursache und Wirkung und der im 
Gefolge dieser Vertauschung einziehenden wahrhaft verblüffenden 
Umstülpung der Begriffe, der Umwandlung eines Progressiven in 
ein Regressives gewonnen zu haben. Ob aber auch diese Be- 
hauptung selbst dadurch an Sinn gewonnen hat, überlassen wir 
dem Leser zu beurteilen. Für den Verfasser dieser Abhandlung 
hat sie keinen. 

Es dürfte hier in Wundts System ein Fall von Verwechse- 
lung eines bloss abstrakten Verstandesgebrauchs mit dem kon- 
kreten vorliegen, wie sie in der Geschichte der Philosophie nicht 
ganz selten, obwohl gewiss selten so auffällig und so grob an- 
getroffen wird. Solcher Verwechselung ist selbst der einfachste 
gesunde Menschenverstand, der mit den Sinnen in Verbindung 
bleibt, weit weniger als der abstrakte Philosoph ausgesetzt. 

Wenn aber hiernach die grosse Entdeckung einer „aktuellen 
Kausalität“ auch bei einem berühmten Naturforscher für eine blosse 
schimmernde Seifenblase des abstrakten Denkens zu halten ist, die, 
sobald sie den Erdboden der Anschauung und Erfahrung berührt, 
unvermeidlich zerplatzt, so ist es ja auch nichts mit den ihr nachge- 
rühmten ungeheuren Leistungen und ebenfalls nichts mit dem schon 
winkenden Sieg des 19. Jahrhunderts und seines Geschwindschritts 
über das noch schwerfälligere 18. Jahrhundert in diesem Punkte. 

Auf die Wiederherstellung der reinen Natur und auf deren 
Sicherung durch Aufsteigen zu der letzten Ursache des Phänomens 
in der Kritik der ästhetischen Urteilskraft konnte eine Methoden- 
lehre, d. h. eine Anweisung für das Verfahren mit den erörterten 
Voraussetzungen der Erfahrung des Schönen zum Behuf des Er- 
werbs von Wissenschaft, nicht folgen. Denn es giebt keine Wissen- 
schaft vom Schönen, die in objektiven oder materiellen Merkmalen 
festzulegen vermöchte, wodurch sich schöne Gegenstände von un- 
schönen unterscheiden. Der lebendige mit dem Anspruch auf All- 
gemeingültigkeit urteilende Geschmack des Publikums, der, wenr\ 
irre geführt, einzig durch die Schule hoher Muster des Schönen 
in Natur und Kunst unter Beihülfe von strengen und feinsinnigen 
Geschmacksrichtern, wie G. E. Lessing, wieder auf den rechten 
Weg zu bringen ist, bildet die letzte autonome Instanz, die sich 
über alle vermeinten objektiven Feststellungen und Vorschriften 
hinwegsetzt. 


*) In Wahrheit freilich nicht in anderem, sondern in demselben Zu- 
sammenhang, nur zu anderen Ereignissen. 


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Romundt, 


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Ganz anders in der Kritik der teleologischen Urteilskraft 
Hier macht die Methodenlehre dem Umfange nach in Kants Werk 
sogar die grössere Hälfte aus. Diese ist zwar von Kant in den 
folgenden Auflagen, vielleicht nur — auch ein grosser Mann hängt 
mit der gewöhnlicheren Menschheit durch kleine Schwächen zu- 
sammen — , um eine völlige äussere Übereinstimmung mit dem 
ersten Teil der Kritik von 1790 herzustellen, gleichfalls als blosser 
Anhang bezeichnet worden. Dieser „Anhang“ giebt aber die wert- 
vollsten Winke für die Behandlung des Begriffs idealer Ursachen 
sowohl in der Naturforschung wie für die Theologie. 

Für die Auflösung dieser Aufgabe war Kant durch das von 
ihm 1781 geschaffene Organon theoretischer Naturwissenschaft wie 
auch durch das diesem 1788 hinzugefügte Oi^anon der Moral und 
der Moraltheologie in einer Weise vorbereitet, wie nie ein Denker 
vor ihm. Deshalb haben wir gerade hier eine Glanzleistung der 
Kritik zu erwarten. Diese ist aber, nach vorliegenden Äusserungen 
darüber, auch den neuesten im 4. und 5. Bande der „Kantstudien“, 
dort in einem Aufsatz des Professor A. Dorner in Königsberg, 
hier des Dr. A. Pfannkuche, zu schliessen, noch wenig gewürdigt, 
ln den Abhandlungen dieser Gelehrten zeigt sich kein nennens- 
werter Fortschritt in der Würdigung selbst gegenüber der „Dar- 
stellung der wichtigsten Wahrheiten der kritischen Philosophie für 
Uneingeweihte. Zweiter Teil, welcher die Kritik der Urteilskraft 
zum Gegenstände hat.“ von J. G. C. Kiesewetter, Doktor und’ Pro- 
fessor der Philosophie, Berlin 1803. Und doch sind seit diesem 
unsäglich schwachen Buche, das freilich trotzdem (oder vielleicht 
gerade deshalb?) vier Auflagen erlebt hat, jetzt fast 100 Jahre 
vergangen. Jene Leistung Kants konnte auch nicht wohl in 
ihrem Werte erkannt werden, so lange die Grundmotive von Kants 
ganzem Werk nicht besser verstanden, besonders aber nicht sehr 
viel ernster genommen waren. 

Eins, was Kant zur Verhütung von Missverständnissen hätte 
thun können, wollen wir heute nicht unterlassen: die strengere 
auch äusserliche Unterscheidung der Erörterung des Interesses des 
Physikers an dem Begriff idealer Ursachen einerseits von der- 
jenigen des Interesses des Moralisten und Theologen andererseits. 

3. Kapitel. 

Der Begriff der Zweckgemässheit der Natur 
und die Naturwissenschaft. 

Wir hören zuerst den Naturforscher. Ihm ist daran gelegen, 
die Naturvorgänge in ihrem Werden bis zu dem Grade zu ver- 
stehen, dass er sie nach seinen Begriffen davon selber zustande- 
bringen könne. „Nur so viel sieht man vollständig ein, als 
man nach Begriffen selbst machen und zustandebringen kann.“ 


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1901. 


Der Platoniamus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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Krit. d. Urt. § 67. Und ist eine solche wahrhaft praktisch zu 
nennende Erkenntnis für Blitz, Regen und Wind und andere Er- 
scheinungen der unorganischen Natur noch erst zu suchen? Der 
Mensch, der kleine Gott der Welt, kann längst im Kleinen blitzen 
und donnern, regnen und Wind machen. 

Wie aber steht es mit Pflanzen und Tieren und dem Ver- 
ständnis von deren Entstehen? „Organisation als innerer Zweck 
der Natur übersteigt unendlich alles Vermögen einer ähnlichen 
Darstellung durch Kunst." Dieser Satz Kants, der durch ein 
„aber“ unmittelbar mit dem eben vorher angeführten verknüpft 
ist, dürfte trotz aller Fortschritte gerade der Naturwissenschaft 
seit 1790 auch heute noch nicht durch die That widerlegt sein. 

Drängt sich hiernach nicht geradezu auf der Versuch, den 
Begriff von Naturzwecken möglichst beiseitezu lassen und zu sehen, 
ob man nicht mit Hülfe der für die unorganische Natur so erfolg- 
reich bewährten blossen Bewegungsursachen und des Mechanismus 
auch der organisierten Naturprodukte völlig Herr werden könne? 
Damit würde man zwar einen der aristotelischen Philosophie, von 
der man gesagt hat, dass sie das organische Wachstum als Typus 
alles dessen, was in der Natur geschieht, feststellte, und einiger- 
massen auch schon dem Plato gerade entgegengesetzten Weg be- 
treten, den Weg einer mechanischen Naturauffassung. Von dieser 
bemerkt derselbe dänische Autor, Harald Höffding, Geschichte der 
neueren Philosophie, Leipzig 1895 f., I. S. 7, sie sei der neueren 
Naturwissenschaft, die im 16. und 17. Jahrhundert emporkam, 
sowohl Mittel als erstrebtes Ziel. 

Für blosse Naturbeschreibung zwar konnte eine Beachtung 
des Zweckes in aristotelischer Weise, die z. B. allein die Einrich- 
tung des Auges verstehen lehrt, Grosses leisten. Mit der Aus- 
dehnung aber der praktischen Erkenntnis der mechanischen Natur- 
wissenschaft allererst auf die organische Natur würde auch hier 
glücklichen Falls aus blosser Naturbeschreibung eine wirkliche 
Naturgeschichte, mit welchem Namen sich zwar jene längst miss- 
bräuchlich, wenn nicht etwa in dunkler Vorahnung und Vorweg- 
nahme einer vollkommneren Zukunft, geschmückt hat, oder eine 
eigentliche Theorie der Natur. Den letzteren Ausdruck umschreibt 
Kant § 79 geradezu durch „mechanische Erklärung der Phäno- 
mene derselben durch ihre wirkenden Ursachen.“ 

Aus dieser Anführung bereits wie auch schon aus unseren 
beiden vorhergehenden Kapiteln im Ganzen erhellt, dass Kant 
sich zu Versuchen, das Gebiet mechanischer Naturforschuug zu 
erweitern, nicht so verhalten würde, wie Verfasser kürzlich in einer 
Kritik las, die von einem „Philosophen“ dieser Tage an dem 
„Glaubensbekenntnis eines Naturforschers“ geübt wurde. Dieser 
fand z. B. den Hinweis des Zoologen Häckel auf die Erscheinung 
der mimicry, nach der manche Tiere dieselbe Farbe haben wie 
die Unterlage, auf der sie sich aufzuhalten pflegen, und in dieser 


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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


Farbe einen Schutz gegen verfolgende Feinde, zwar höchst an- 
ziehend, zeigte aber gar keinen Sinn für die Würdigung einer 
natürlichen Erklärung des Entstehens dieser Schutzfarbe etwa 
durch Vererben und infolge davon allmähliges Ansamrnelu zu- 
fälliger Anpassungen dieser Art, sondern bemerkte einzig und 
allein: „Aber der Zweckbegriff wird doch verworfen.“ 

Ob Kant hier nicht, ganz anders als dieser „Philosoph“, 
übrigens heutzutage schon ein seltnerer Vogel von Philosoph, 
vielmehr einzig zu bedauern gefunden hätte, dass der Zweckbegriff 
durch diese Erklärung mechanischer Art allzu wenig überflüssig 
gemacht sei? Muss der Zweckbegriff ja doch für die Bildung 
des Anzusammelnden, wenn auch nicht mehr im Ganzen, so doch 
nun in seinen kleinsten Partikelchen von uns unvermeidlich vor- 
ausgesetzt werden. 

Den besten Beweis aber für seine Anerkennung des Be- 
strebens der neueren Naturforscher nach möglichstem Auskommen 
schon mit natürlichen wirkenden Ursachen bei ihrem Geschäft, 
einen Beweis nicht durch Worte, sondern durch That hat Kant 
durch seine schon erörterte Aufhebung des teleologischen Ver- 
standes gegeben. Diese bereitete zwar zunächst nur den Weg für 
die Bestimmung der Beschaffenheit eines letzten gemeinschaftlichen 
Prinzips von Mechanismus und Teleologie, für das die Auflösung 
der Antinomie Raum geschaffen hatte. Das Ergebnis der Er- 
wägung war ja völlige Unbestimmtheit des anzunehmenden Über- 
sinnlichen für die menschliche Erkenntnis. Bei Erwähnung dieses 
Resultats haben wir aber schon nicht unterlassen, auf die überaus 
günstigen Folgen dieser Unbestimmtheit gerade für Naturforschung 
und zwar für deren moderne Richtung auf mechanische Erklärung 
hinzuweisen. 

Für diese sehen wir nun Kant vorwiegend auch in den 
ersten Paragraphen der Methodenlehre sich bemühen. Zwar durch- 
aus nicht so, wie blosse Fanatiker des Mechanismus verlangen. 
Also nicht etwa unter Ausschliessung des Prinzips der idealen 
Ursachen, wie sie von den Dogmatikern des Mechanismus, einem 
Spinoza u. a., her bekannt ist, die aber durch eine besonnene 
Kritik völlig unmöglich gemacht wird. 

Nach dieser offenbart sich uns auch in der teleologischen 
Auffassung, wo sie uns durch Produkte der Natur, Pflanzen und 
Tiere, unabwendbar an die Hand gegeben wird, ein Moment über- 
schwänglicher Naturbeschaffenheit, das für die Forschung nicht 
unbeachtet zu lassen ist. Aber freilich stellt sich uns dieses Mo- 
ment in einer solchen menschlichen Form und Weise dar, mit 
der für den Zweck der Unterwerfung der Natur unter den mensch- 
lichen Geist zu praktischer Erkenntnis derselben nach allen bis- 
herigen Erfahrungen nur wenig zu machen ist, so paradox gerade 
diese Unbrauchbarkeit zunächst erscheinen mag. Die notwendige 
Abschätzung dieser idealen Auffassung durch die Kritik zu einem 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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zwar unentbehrlichen, aber doch bloss menschlichen Mittel der 
Erkenntnis schafft nun erwünschten Raum für das von Menschen 
besser zu handhabende Mittel des Mechanismus zur Aufbietung 
aller Kräfte, die in diesem etwa liegen, in immer neuen erfinde- 
rischen Versuchen, damit er seinerseits der Menschheit zu dem 
erstrebten Erwerb verhelfe. 

Einen Beweis für die Richtigkeit unserer Behauptung über 
Kants vorwiegendes Bemühen für die mechanische Forschung in 
seiner Methodenlehre liefert eine Durchsicht der §§ 80 und 81. 
Bei allen Vorbehalten für den Zweck als Letztes und Oberstes 
fällt doch der Ton hier durchaus auf das Anstreben einer mecha- 
nischen Erklärung. 

Gleich im Eingänge von § 80 wird die Befugnis, auf eine 
bloss mechanische Erklärungsart aller Naturprodukte auszugehen, 
als an sich ganz unbeschränkt bezeichnet. Nur das Vermögen, 
damit auszu langen, sei für uns Menschen in Bezug auf organisierte 
Naturprodukte nicht unbeschränkt Es ist „nicht allein sehr be- 
schränkt, sondern auch deutlich begrenzt“. 

In § 81 aber wird nach der verhältnismässig grösseren 
Zurückl^ltung im vorhergehenden Paragraphen mit besonderem 
Nachdruck sofort betont, dass wir bei Produkten der Natur, wie 
Pflanzen und Tiere, geradezu auf hören müssten, sie als solche 
Naturwesen zu betrachten, wenn nicht der Mechanismus der Natur 
dem blossen teleologischen Grunde beigesellt würde gleichsam als 
das Werkzeug einer absichtlich wirkenden Ursache. Und weiterhin 
lehnt Kant von vornherein im Sinne mechanischer Naturforschung 
alle solche Theorien der Erzeugung von Naturprodukten ab, welche 
die Natur oder, mit einem anderen Wort, den Mechanismus ver- 
loren gehen lassen. So den Occasionalismus, der solche Erzeugung 
zu einer völligen Neuschöpfung des Welturhebers bei Gelegenheit 
einer jeden Begattung und diese damit zu einer blossen Forma- 
lität macht gegenüber einem Praestabilismus, nach dem der Natur 
selbst wenigstens die Anlage zur Vermehrung zuerkannt wird. 
Innerhalb des Praestabilismus aber wieder verwirft Kant eine 
blosse Evolutionstheorie, die ein jedes organische Wesen, das von 
seines Gleichen gezeugt wurde, gleichsam eingeschachtelt von jeher 
vollständig vorhanden sein und durch die Zeugung nur noch aus- 
geschachtelt werden lässt. Kurz: er giebt derjenigen Theorie prin- 
zipiell den Vorzug, die „mit dem kleinstmöglichen Aufwande des 
Übernatürlichen alles Folgende vom ersten Anfänge an der Natur 
überlässt“. Geradezu feindselig aber verhält sich der Naturforscher 
Kant gegen eine völlige Hyperphysik, „die aller Naturerklärung 
entbehren kann“. 

Und was hat Kant, dem Physiker, den Mut zu dieser Be- 
fürwortung einer kühnen, wir dürfen sagen, Einseitigkeit der Natur- 
forschung gegeben? Nichts Anderes als, was wir bereits seine 
That als eines besonnenen Kritikers für das Heil der Naturwissen- 


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Romundt. 


Heft 5 u. 6. 


schaft genannt haben: die Überwindung des blossen teleologischen 
Menschenverstandes wie andererseits freilich auch des, so zu sagen, 
bloss empirischen Mechanismus durch das höhere gemeinschaft- 
liche Prinzip eines für uns Menschen völlig unbestimmten 
Übersinnlichen. 

Von diesem ist wahrlich nicht mit Grund anzunehmen, dass 
wir uns ihm mehr vermittelst blosser teleologischer Betrachtungen 
der organischen Naturprodukte, die keine Einsicht in deren Ent- 
stehen gewähren, anzunähern vermögen als durch eine ausschliesslich 
mechanische Forschung. Vielmehr nach den bisherigen Erfolgen 
in allerdings vielleicht unteren Sphären der Natur im Gegenteil, 
sofern die letztere, die mechanische Wissenschaft, sich durch Thaten 
und Werke bewährte! 

Wie sehr verständlich ist hiernach der Satz, mit dem Kant 
den zweiten Absatz von § 80 beginnt: „Es ist vernünftig, ja ver- 
dienstlich, dem Naturmechanismus zum Behuf einer Erklärung der 
Naturprodukte so weit nachzugehen, als es mit Wahrscheinlich- 
keit geschehen kann, ja diesen Versuch nicht darum aufzugeben, 
weil es an sich unmöglich sei, auf seinem Wege mit der Zweck- 
mässigkeit der Natur zusammenzutreffen, sondern nur darum, weil 
es für uns als Menschen unmöglich ist.“ 

Welcher Dogmatiker und» Fanatiker des Mechanismus hat je 
so viel für die mechanische Forschung gethan, wie dieser Kritiker?! 
Nicht Epikur, nicht Lukrez, nicht Spinoza noch das ganze Heer 
derer, die ihnen folgten. Und das ohne alle unnötige Aufregung 
und Erbitterung der teleologischen Gegenpartei, der selbst für die 
Naturerkenntnis der ihr gebührende Platz unbeschränkt gelassen 
wird, geschweige für eine etwaige Erhebung über alle Natur und 
deren Erkenntnis, von der hier noch nicht die Rede sein kann. 

Muss dieses Verhalten Kants nicht geradezu anlockend und 
vorbildlich sein für einen Forscher und Arbeiter, der nicht auf 
unnützen Streit, sondern einzig auf Mehrung gründlicher Natur- 
kenntnis gerichtet ist und der für diesen Zweck keinerlei sich 
ihm bietende brauchbare Mittel, nicht grosse, aber auch nicht 
kleine, verschmäht ? 

Nach dem schon im zweiten Kapitel Bemerkten brauchen 
wir uns hier nicht mehr bei einem möglichen Missbrauch des tiefen 
Kantischen Gedankens, dass unsere natürliche Zweckauffassung 
der Natur nur die Übersetzung einer übermenschlichen in eine 
menschliche Sprache sein möge, aufzuhalten. Versuche, den so 
anzunehmenden letzten Urtext durch blosses menschliches Denken 
hinter dem warmen Ofen in Schlafrock und Hausschuhen herzu- 
stellen und so gleichsam über seinen eigenen Schatten hinweg- 
springen zu wollen, richten sich selbst durch ihre unvermeidliche 
Ün Verständlichkeit und dabei völlige Vergeblichkeit und Eitelkeit. 

Nicht unterlassen aber werde ein kurzer Hinweis darauf, 
dass die Besinnung der Kritik auf die Menschlichkeit unserer 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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Erkenntnis, von welcher Besinnung man wohl geneigt ist zuzu- 
geben, dass sie dem Glauben der Menschheit durch so ermöglichte 
strenge Unterscheidung von Wissen und Glauben sich förderlich 
erweisen kann, aber auch nur ihm, sich soeben vielmehr als eine 
mächtige Befeuerung und Förderung der Wissenschaft zum Be- 
harren auf den für sie gangbarsten Wegen erwiesen hat. Sie dient 
in der That, unsere geistigen Vermögen überhaupt für jeden Ge- 
brauch in die zweckmässigste, am meisten Frucht verheissende 
Verfassung zu bringen. 

Nach dem, was über Kants Eintreten für eine mechanische 
Naturauffassung von uns bemerkt wurde, ist nun auch zu ver- 
stehen, wie es kommt, dass gerade Kant auf Grund einer An- 
merkung zu § 80 der Kritik der teleologischen Urteilskraft unter 
den Vorläufern des englischen Naturforschers Charles Darwin und 
von dessen Versuch vom Jahre 1859 an, die Entstehung der Arten 
des Pflanzen- und Tierreichs unter grundsätzlichem Absehen von 
idealen Ursachen bloss durch Benutzung realer wirkender Ur- 
sachen zu erklären, in erster Reihe genannt werden kann. In 
erster Reihe, obwohl er von Darwin selbst in der geschichtlichen 
Übersicht des neuerlichen Fortschritts der Meinungen über den 
Ursprung der Arten, mit welcher der Autor sein grundlegendes 
Werk 1859 eröffnete, unter den 30 Vorläufern überhaupt nicht 
erwähnt wird. Auch nicht da, wo Darwin die in den Jahreu 
1794—95 fast gleichzeitig in verschiedenen Ländern auftretenden 
Vorgänger nennt, nämlich Goethe in Deutschland, Erasmus Daiwin, 
seinen eigenen Grossvater, in England, Geoffroy Saint Hilaire in 
Frankreich. Kant geht diesen in der Kritik von 1790 sogar noch 
um mehrere Jahre voran und würde sich in der That nicht wenig 
gefreut haben über das, was dem grossen englischen Forscher 
endlich geglückt ist. Dies ist, so viel dürfte allgemein zugegeben 
werden, der Anfang zu einer empirischen Erhärtung der bis dahin 
lediglich spekulativen, als einer solchen freilich uralten, Annahme 
einer natürlichen Entwickelung. Diese erfahrungsmässige Bestäti- 
gung besteht aber in Darwins Aufzeigung bestimmter Ursachen, 
die in der Richtung von Neubildung wirken, wie sie z. B. die 
durch Tierzüchter in England schon seit langer Zeit geübte Her- 
vorbringung neuer Rassen durch „künstliche Zuchtwahl" ihm an 
die Hand gab. 

Kant hätte vermutlich diese Theorie der Neubildung von 
Arten des Pflanzen- und Tierreichs als einen schätzenswerten Bei- 
trag zur Verwirklichung eines von ihm gehegten Gedankens, der 
in einer Anmerkung zu § 82 angedeutet wird, hoch willkommen 
geheissen. Er spricht nämlich hier von einer Ergänzung der soge- 
nannten Naturgeschichte, richtiger Naturbeschreibung, durch etwas, 
„was die erstere buchstäblich anzeigt" und was noch über die- 
jenige Art von Naturgeschichte, die von uns am Anfänge dieses 
Kapitels in Vorschlag gebracht wurde, hinausgeht. Dies ist näm- 


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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


lieh „eine Vorstellung des ehemaligen alten Zustandes der Erde“, 
ja, wir dürfen hinzusetzen, weiter zurück unseres ganzen Sonnen- 
systems. Für dieses letztere hatte in dieser Hinsicht Kant selbst 
bereits in einer seiner Erstlingsschriften, der „Allgemeinen Natur- 
geschichte und Theorie des Himmels“ 1755, eine berühmt ge- 
wordene Hypothese begründet, die mit der späteren des Laplace 
ziemlich überein kommt. Weiter vorwärts aber gehört zu dieser 
„Naturgeschichte“ eine Vorstellung des Ursprungs des Pflanzen- 
uud Tierreichs und ihrer Arten. Über alle diese Themata einer 
Theorie der Erde, für die Kant die glückliche Bezeichnung einer 
„Archäologie der Natur“ in Vorschlag bringt, darf man nach ihm 
zwar keine Gewissheit hoffen, aber doch mit gutem Grunde Ver- 
mutungen wagen. Dass es aber zu irgend welchen wertvollen 
Zwecken unseres Geschlechts gut oder gar für eine letzte um- 
fassende Ursache aller Dinge in höherem Grade ehrend sei, wenn 
wir uns das Gebiet des natürlichen Zusammenhangs möglichst 
enge vorstellen, war durchaus nicht die Meinung Kants, von dem 
man doch übrigens wahrlich nicht, schon nach allem, was bisher 
von uns dargelegt ist, behaupten kann, dass er bloss für Natur- 
wissenschaft Sinn gehabt habe. 

Ganz besonders aber, so vermuten wir, würde unser kriti- 
scher Philosoph au dem englischen Forscher geschätzt haben, dass 
dieser sich durch mancherlei Unzulänglichkeiten und Schwierig- 
keiten seiner Theorie nicht irre machen liess. Darwin selbst ver- 
heimlichte solche Bedenken durchaus nicht, wie wohl dieser und 
jener Anhänger, liess sich aber doch nicht von der Theorie selbst 
abbringen, die er als ein brauchbares Arbeitsmittel und als einen 
„verständlichen Faden“ für die Aneinanderknüpfung von Thatsachen 
erkannt hatte. Der mühsam gebahnte, wenn auch hier und da 
noch mangelhafte schmale Fusssteig einer wirklichen Wissenschaft 
stand bei beiden grossen Germanen in höherer Geltung als das 
bequeme Spazierengehen auf der breiten Heerstrasse eines bloss 
teleologischen für die Natureinsicht wesentlich leeren Denkens. 

Wir begnügen uns hier mit der Erwähnung der einen der 
beiden Schranken seiner Theorie, die Entstehung neuer Arten von 
Pflanzen und Tieren durch eine natürliche Auslese in der Kon- 
kurrenz von Besonderheiten und Verschiedenheiten, die im Kampfe 
um das Dasein auftauchen, zu erklären, die Darwin bereits selbst 
deutlich erkannt zu haben scheint. Der Leser wolle sich an das 
von uns in diesem Kapitel über die mimicry Gesagte erinnern. 
Woher wohl dort die erste vielleicht ganz geringe grössere An- 
passung der Farbe solcher Tiere an die Unterlage, auf der sie 
sich aufzuhalten pflegen, und die fernere Fortpflanzung und auch 
Fortsetzung oder Vermehrung solcher Anpassung, die für die 
Bildung des endlichen Ergebnisses einer wirksamen Schutzfarbe 
vorauszusetzen sind? Darwin nimmt die Entstehung solcher 
Variationen als blosse Thatsache hin und hat, wenn wir einem 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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sonst glaubhaften Autor vertrauen dürfen, dabei ausdrücklich ein- 
geräumt, dass wir „in Betreff der Ursachen der Variabilität an 
allen Punkten sehr unwissend sind“. Diesen Ausspruch bei Dar- 
win selbst aufzufinden war leider nicht möglich, da die Angabe 
seines Standortes fehlte. Jedoch stehen dieser Satz und das eben 
berührte Verhalten des grossen englischen Forschers in Einklang. 
Die Wirkungen der Zuchtwahl zwischen solchen Variationen waren 
Problem der Forschung Darwins, nicht die Entstehung der Varia- 
tionen selbst. 

Dafür/ dass der gründliche Naturforscher hier in seiner 
Praxis eine Schranke seiner Theorie erkannt haben dürfte, scheint 
auch das Verhalten Kants schon bei der Inaussichtnahme einer 
natürlichen Entwickelungslehre zu sprechen. Der Philosoph sah 
nämlich in eben dieser selben Schranke eine bleibende unaufheb- 
bare Schwierigkeit für den Versuch einer rein realen mechanischen 
Erklärung. Diese Einsicht veranlasste ihn zu folgender Vorbe- 
merkung § 80: „Was die Veränderung betrifft, welcher gewisse 
Individuen der organisierten Gattungen zufälligerweise unterworfen 
werden, wenn man findet, dass ihr so abgeänderter Charakter erb- 
lich und in die Zeugungskraft aufgenommen wird, so kann sie 
nicht füglich anders denn als gelegentliche Entwickelung einer in 
der Spezies ursprünglich vorhandenen zweckmässigen Anlage 
zur Selbsterhaltung der Art beurteilt werden; weil das Zeugen 
von seines Gleichen bei der durchgängigen inneren Zweckmässig- 
keit eines organisierten Wesens mit der Bedingung, nichts in die 
Zeugungskraft aufzunehmen, was nicht auch in einem solchen 
System von Zwecken zu einer der unentwickelten ursprüng- 
lichen Anlagen gehört, so nahe verbunden ist“ 

Schon vorher hatte Kant betont, dass der allgemeinen Mut- 
ter Erde, die beim Herausgehen aus ihrem chaotischen Zustand 
anfänglich Geschöpfe von minder zweckmässiger Form gebar, eine 
auf alle diese Geschöpfe sowohl des rohen Anfangs wie auch der 
Zukunft, die sich dem Zeugungsplatze dieser Wesen und ihrem 
Verhältnisse unter einander angemessener gestalte, zweckmässig 
gestellte Organisation beizulegen sei. „Widrigenfalls ist die Zweck- 
form der Produkte des Tier- und Pflanzenreiches ihrer Möglich- 
keit nach gar nicht zu denken.“ 

Trotz dieses Festhaltens der Bedingung der idealen Ursachen 
zu oberst als für uns Menschen unerlässlich und unaufgebbar 
wollte aber Kant gerade so wie der englische Naturforscher von 
dem Versuch nicht abstehen, das Reich menschlicher Einsicht und 
Wissenschaft, d. h. aber realer mechanischer Ursachen, auch auf 
und über dieses Gebiet der Natur auszudehnen. In Darwins 
Theorie aber würde Kant gewiss wenigstens einen bedeutsamen 
Anfang der Bestätigung seiner kühnen Hoffnung und eine kräftige 
Ermunterung zum Beharren auf dem zwar gar nicht natürlichen, 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. 1 1 


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Rom und t. 


Heft 5 u. 6. 


aber nichts desto weniger uns Menschen recht angemessenen, weil 
echt menschlichen Wege begrüsst haben. 


4. Kapitel. 

Der Begriff der Zweckgemässheit der Natur und 
die Theologie. 

Bisher zogen wir nur den Physiker im Menschen und sein 
Interesse für möglichst gründliche Erkenntnis gegebener Natur in 
Betracht. Der Physiker aber ist nicht schon der ganze Mensch, 
sondern gleichsam nur der Kopf des Menschen. Die Kritik Kants 
kennt aber auch den Menschen als Mehr- als -Physiker, um den 
leicht misszu verstehen den Ausdruck „Hyperphysiker“ zu vermeiden; 
sie weiss auch den Moralisten und Moraltheologen zu würdigen. 

Es könnte nun sein, dass diesem letzteren die dem blossen 
Physiker zwar hochwillkommene Ausserkraftsetzung des teleologi- 
schen Verstandes völlig gleichgültig ist, mehr noch, dass er für 
eine Gültigkeit der Zweckauffassung der Natur auch über alle 
mögliche bestätigende Erkenntnis hinaus, für eine, so zu sagen, 
überempirische Realität derselben, wegen des darauf zu Gründen- 
den und zu Bauenden voreingenommen ist. Ja, nach allem, was 
wir heute und zuvor von der kritischen Philosophie dargelegt 
haben, ist sogar die Notwendigkeit dieses Interesses für den wesend 
lieh und nach seiner tiefsten Bestimmung praktischen Menschen 
von uns zu behaupten. 

Und wie nun auch über Fug und Recht solcher Voreinge- 
nommenheit von uns zu urteilen sein mag, wird wohl durch die 
bisherigen Einräumungen der Kritik an den blossen Physiker, die 
freilich weit gehen, das Interesse des Moralisten an einer über- 
schwänglichen Realität idealer Ursachen irgend berührt, geschweige 
verletzt? Es wurde ja einzig und allein die Welt als Erfahrung 
für die mechanische Forschung des Physikers und deren mög- 
lichste Ausbreitung unbeschränkt in Anspruch genommen. Diese 
selbe Welt ist aber auch als Ding an sich wenigstens zu denken 
und in Erwägung zu ziehen. Insofern aber kam sie in der Me- 
thodenlehre für den Physiker gar nicht in Frage. 

Hiernach nun bedeutet selbst eine ins Unendliche durchge- 
führte Unbeschränktheit mechanischer Ursachen nicht notwendig 
schon eine völlige Aufhebung idealer Verursachung, sondern höch- 
stens ein Aufschieben derselben ins Unbestimmte. Eben dieselbe 
Besinnung, die für unbeschränkte Ausdehnung des Mechanismus 
Raum gab, lässt Raum für eine ebenso unbeschränkte ideale Ver- 
ursachung oder Teleologie über dem Mechanismus im Reich der 
Dinge an sich, dann aber doch auch in der Erfahrungswelt. Denn 
diese ist ja nur unsere menschliche Erfahrung von solchen Dingen 
an sich selbst. Mit anderen Worten: aller Mechanismus der Natur 


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Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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ist zuletzt doch idealen oder Zweckmässigkeitsursachen unterge- 
ordnet zu denken. 

Und haben wir nicht am Schluss des vorangehenden Kapitels 
gesehen, dass selbst der empiristische Darwin, der sich grund- 
sätzlich auf blosse Naturforschung einschränkte und bloss ideale 
Ursachen im wohlerwogenen Interesse menschlicher Wissenschaft 
und Einsicht mit Bedacht ausschloss, in seiner Theorie einer Ent- 
wickelung der organischen Natur durch bloss mechanische Ur- 
sachen schliesslich wider Willen stillschweigend für eine völlig 
andere Klasse von Ursachen Raum lassen musste? Es ist derselbe 
Raum, den der Kritiker Kant von vornherein einer idealen Kausa- 
lität Vorbehalten wissen wollte. Demgemäss sagt Kant in dem öfter 
genannten § 80 von dem „Archäologen der Natur“, d. h. gerade einem 
Naturforscher von Darwins Art und Richtung, in genauer Überein- 
stimmung mit' unseren Darlegungen, er habe den Erklärungsgrund 
nur weiter aufgeschoben und könne sich nicht anmassen, die Er- 
zeugung der zwei Reiche (der Pflanzen und der Ttere) von der 
Bedingung der Endursachen unabhängig gemacht zu haben. 

Kant und Darwin im Verein lehren durch ihr Beispiel, dass 
nicht einmal der blosse Physiker sich der Annahme metaphysischer 
Ursachen völlig erwehren kann, obwohl doch sein Geschäft mög- 
lichstes Absehen von solchen und selbst Kühnheit in Versuchen 
einer bloss mechanischen Erklärung von ihm verlangt. Für den 
Menschen überhaupt, dem nicht ein solches besonderes Fachinter- 
esse Pflichten auferlegt, ist darnach schwerlich Grund vorhanden, 
Naturzwecke, die ihm das Nachdenken über das Werden von 
Pflanzen und Tieren aufdrängt, nicht so, wie es natürlicher Weise 
geschieht, für real und objektiv zu halten. Allerdings aber sollte 
auch für ihn die Kantische Kritik nicht umsonst auf die im Unter- 
schiede von anderen Begriffen grössere Menschlichkeit der Zweck- 
auffassung der Natur, auf d.eren eigentümliche Versuchsbeschaffen- 
heit aufmerksam gemacht haben.. Einem bequemen teleologischen 
Salbadern, das etwa die Korkbäume in Spanien für das Zustöpseln 
von Champagnerflaschen in Frankreich gewachsen sein lässt und 
das nur dient, einen Spötter wie Voltaire herauszufordern, dürfte 
dadurch am sichersten vorgebeugt werden. 

Die bleibende Möglichkeit der Erhebung über die Sinnen- 
welt und Zeitlichkeit zu idealen Ursachen schafft nun sogar Raum 
für etwas, das für den blossen Physiker völlig überschwänglich 
ist und nach dem zu fragen und zu suchen ihm sogar jeder An- 
lass fehlt. Dies ist aber ein letzter und oberster Endzweck der 
ganzen Natur, dem alle einzelnen Zwecke innerhalb der Natur 
unterzuordnen wären. Und mehr noch: es ist auch dasjenige 
Wesen innerhalb der Erfahrungswelt und Natur, in dem und durch 
das die Schöpfung zu ihrem Gipfel gelangen kann, mit Sicherheit 
zu bezeichnen. Dies kann nicht schon ein bloss gegebener Natur- 

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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


zweck sein, nicht etwa eine Schildkröte und auch nicht ein weisser 
Elephant, überhaupt kein blosses innerhalb der Erfahrungswelt 
und Natur eingeschlossenes Ding, kein blosses Naturding, sondern 
einzig ein Wesen, das die Erfahrung wieder in sich befasst und 
selbst Zwecke setzt. Als ein solches aber kennen wir allein den 
Menschen, von dem deshalb Kant § 82 mit gutem Grund sagt: 
„Er ist der letzte Zweck der Schöpfung hier auf Erden, weil er 
das einzige Wesen auf derselben ist, welches sich einen Begriff 
von Zwecken machen und aus einem Aggregat von zweckmässig 
gebildeten Dingen durch seine Vernunft ein System der Zwecke 
machen kann.“ 

Was aber nun in des Menschen Natur und mannigfaltigen 
Anlagen eignet sich dazu, als letzter höchster Zweck der ganzen 
Natur von ihm befördert zu werden? Der Erwägung bietet sich 
Verschiedenes an, auch in einer gewissen natürlichen Reihenfolge. 

Dem blossen Physiker, von dem wir herkommen, dürfte am 
nächsten liegen, auf das Streben nach Glückseligkeit, das allen 
Menschen inne wohnt, als ein gleichsam von der Natur selbst uns 
Eingeflösstes hinzuweisen, das dazu noch dem Anscheine nach 
die menschliche Gattung mit den Tiergattungen bis zum Wurm 
hinunter innig zusammenknüpft. 

Zur Bestätigung dürfte er anführen, dass, was ein Mensch 
unter Glückseligkeit versteht, etwas bei Verschiedenen allerdings 
sehr Verschiedenes und bei allen immer schwankend, offenbar der 
eigene letzte subjektive Zweck des Menschen ist, ausser wel- 
chem vielleicht eine unendlich grosse Mehrzahl der Menschen von 
einem anderen Zwecke für sich kaum eine Ahnung hat. Scheint 
man doch eine Befriedigung jenes wesentlich passiv schon von 
der Natur in ihrer Wohlthätigkeit erwarten zu können. 

Aber nun die Einwendungen, die ein strengerer Physiker 
gegen diese Befürwortung der Glückseligkeit als eines von der 
Natur selbst eingegebenen Zwecks zu erheben hat und die Kant 
nach seiner Art auch hier keineswegs zurückhält! Auch wenn 
noch abgesehen wird von dem Phantastischen in der immer wech- 
selnden Idee eines glückseligen Zustandes, dem selbst eine der 
Willkür des Menschen völlig unterworfene Natur schwerlich würde 
gerecht werden können, ist die Naturbeschaffenheit des Menschen 
nicht von der Art, „irgendwo im Besitze und Genüsse aufzuhören 
und befriedigt zu werden“. (§ 83.) 

Und weiter: ist Glückseligkeit des Menschen als ein Zweck 
der Natur irgend kenntlich gemacht? Gegen eine Einbildung, 
dass die Natur den Menschen zu ihrem besonderen Liebling auf- 
genommen und vor allen Tieren mit Wohlthun begünstigt habe, 
führt Kant das wirkliche Verhalten der Natur ins Feld, das dieser 
Annahme so schroff widerstreitet. Damit aber nimmt er in § 83 
einen Gedanken des vorhergehenden Paragraphen wieder auf, näm- 
lich diesen, dass in Ansehung des Menschen als eitler der vielen 


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Der Platon ismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


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Tiergattungen die Natur so wenig von den zerstörenden als von den 
erzeugenden Kräften die mindeste Ausnahme gemacht hat, alles 
einem Mechanismus dieser Kräfte ohne einen Zweck zu unterwerfen. 
Danach ist der Mensch zwar wegen des Vermögens, das ihn aus- 
zeichnet, sich selbst willkürlich Zwecke zu setzen, wohl als ein 
berufener Herr der Natur zu betiteln, von der Natur selbst aber in 
ihrer Wohlthätigkeit hat er dem Anschein nach die Realisierung 
der Ansprüche, die in diesem Titel liegen, durchaus nicht zu erwarten. 

Aber nicht allein in der Zurückweisung der Glückseligkeit 
als eines Zwecks der Natur für den Menschen ist dem Kritiker 
Kant gegen einen stumpferen und weichlicheren Naturalismus bei- 
zutreten. Er führt in dem überaus gedankenreichen und tief ein- 
dringenden § 83 „Von dem letzten Zwecke der Natur als eines 
teleologischen Systems“ einen noch wuchtigeren Streich gegen eine 
Überschätzung der Glückseligkeit als desjenigen, was im Menschen 
als Höchstes anzusehen und zu fördern wäre. Dies ist die Be- 
merkung, dass die Glückseligkeit (auf Erden, wie zunächst allein 
zu verstehen) zum ganzen Zwecke erhoben, also kurz: ein Glücks- 
rittertum, den Menschen geradezu unfähig macht, sich selbst und 
durch und in sich der ganzen Natur einen Endzweck jenseits aller 
Sinnenwelt zu setzen und an solchem erhabenen Ziele in allem 
Handeln und Wandeln unerschütterlich festzuhalten. Ist doch 
Glückseligkeit auf Erden notwendig ein Prinzip der fortwährenden 
Bewegungsveränderung, welches also den Menschen, der ihm an- 
hängt, zu einer wahren Windfahne macht, mag auch gerade der 
Beweglichste oft durch eine feine Weisheit seiner „Vernunft“, 
vielfältige Klugheit und Verschlagenheit diesen seinen Windfahnen- 
charakter vor den Augen der Menschen glücklich verheimlichen. 

Wenn nun der materielle Zweck der Glückseligkeit kaum den 
Platz eines Zwecks der Natur, geschweige denjenigen des letzten 
Naturzwecks oder gar eines übernatürlichen Endzwecks vor der 
Kritik behaupten kann, wie steht es mit dem danach in Betracht 
zu ziehenden formalen Zweck einer Bildung oder Kultur des Men- 
schen? Dass ein ernstes Bemühen unsererseits um Erwerb von 
Tauglichkeit zum zweckmässigen freien Gebrauch aller unserer 
Naturvermögen nicht von dem letzten schweren Vorwurf gegen 
das Glückseligkeitsstreben getroffen wird, bedarf keiner Ausein- 
andersetzung. Nicht allein, dass das Bildungsstreben einem End- 
zwecke des Menschen jenseits der Natur nicht entgegen ist, es 
muss vielmehr geradezu ein Weg und eine Vorbereitung zu diesem 
genannt werden. Ja, ob Kultur aller Art nicht mit Kant § 83 
als dasjenige zu bezeichnen ist, was die Natur in Absicht auf den 
Endzweck, der ausser ihr liegt, ausrichten und welches so als 
ihr letzter Zweck angesehen werden kann? 

Die nächstliegende, von einer weit überwiegenden Mehrzahl 
von Menschen allein gesuchte Kultur aber ist diejenige der Ge- 
schicklichkeit. 


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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


Es ist nicht wenig anlockend, hier auszuführen, mit welcher 
grossartigen Unbefangenheit eines nüchternen tiefen Naturkenners 
Kant die harten Bedingungen der Entwickelung dieser Geschick- 
lichkeit in der Menschengattung wie ebenso danach am Schluss 
des Paragraphen derjenigen einer noch höheren Art von Kultur 
darlegt So das bittere Mittel der Ungleichheit unter Menschen, 
welches für Entwickelung von allerlei Besonderheiten und Ein- 
seitigkeiten der Naturgaben Raum schafft, ein grosses Mittel, aber 
auch ein grosses, immer schwerer empfundenes Übel, und weiter 
alles das, was wieder zur Sicherung der Bedingungen dieser Ent- 
wickelung und der Produkte derselben erforderlich wird, die stren- 
gen Ordnungen einer bürgerlichen Gesellschaft u. s. w. u. s. w. 

Der gebotenen Kürze wegen aber gehen wir sogleich über 
eine Kultur der blossen Geschicklichkeit aller Art hinaus weiter 
zu einer Disciplin der Neigungen, die schon viel weniger beliebt 
ist. Kant nennt sie auch eine Kultur der Zucht 

Diese allererst befreit den Willen von dem lähmenden 
Despotismus der Begierden und dient, Triebe der Natur, die zu 
Fesseln ausgeartet sind, in blosse Leitfäden, damit wir die „Be- 
stimmung der Tierheit in uns nicht vernachlässigen oder gar ver- 
letzen“, zurück zu verwandeln. Im Besitze solcher Freiheit zeigte 
sich nach einer bekannten Anekdote der Cyrenaiker Aristipp, der 
Jünger des Sokrates, wenn er seinem unter der Last des Geldes, 
das er zu tragen hatte, seufzenden Sklaven zurief: „Wirf weg, 
was zu viel ist; trage, was du tragen kannst!“ — Er bewies 
damit, zwar nicht ohne Fratzenhaftigkeit, Freiheit dem Gelde 
gegenüber in hohem Grade und also Kultur der Zucht. Aus der 
stark fratzenhaften Erscheinung dieser Freiheit aber dürfte be- 
sonders deutlich der bloss negative Charakter derselben erhellen, 
der verbietet, selbst eine Kultur der Zucht, geschweige eine solche 
der blossen Geschicklichkeit, für mehr als eine von fernher vor- 
bereitende Bearbeitung der menschlichen Natur für Zwecke, die 
über alle blosse Natur weit hinausliegen, anzusehen. 

Aristipp wollte ebenso wie sein ihn anbellender Gegenfüssler, 
der Cyniker Diogenes, der auf der Strasse für seinen Tisch selber 
Kohl abwusch, während jener zu Hofe gieng, wo die Obersten die 
Ohren an den Füssen haben, solche Freiheit durch sokratisches 
Philosophieren erworben haben, einen für sehr wenige Leute gang- 
baren Weg. 

Kant, der Physiker, aber weist dem, was wir vorher über 
ihn bemerkten, entsprechend auch hier auf ein sehr viel allge- 
meiner zugängliches Erziehungsmittel des blossen Naturlaufs hin. 
Ein solches entwickelt sich mit Notwendigkeit aus dem Überge- 
wicht der Übel im Gefolge einer Kultur der blossen Geschick- 
lichkeit, des Luxus aller Art, der infolge derselben entsteht, und 
der dadurch wieder geweckten nicht zu befriedigenden Menge 
von Neigungen und Bedürfnissen, von deren geradezu „tropischem 


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Der Platonismus in Kant« Kritik der Urteilskraft. 


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Wachstum" zumal in den letzten vorwiegend physikalisch-techni- 
schen und allzu materiellen Zeiten man hat sprechen können. Kant 
will in solchen Übelstanden, die er eingehend darlegt, ein zweck- 
massiges Streben der Natur zu einer Ausbildung erkennen, die 
uns höherer Zwecke, als die Natur selbst liefern kann, empfäng- 
lich macht, zu einem Aufbieten, Steigern und Stählen der Kräfte 
der Seele, um den mancherlei Übeln nicht zu unterliegen. 

Jenseits aller Natur aber ist das bisher noch zu vermissende 
Letzte und Höchste, das Positive zu dem wesentlich Negativen 
für jedermann ohne Unterschied des Standes und auch für den 
Ärmsten an Geist zu finden. Es ist dasjenige Gut, dessen Idee 
aus der Vereinigung der Ansprüche und Bedürfnisse des Physikers, 
der in jedem schlummert* mit denjenigen des Moralisten, beide in 
ihrer Strenge gefasst, hervorgeht, also aus der gemeinen Menschen- 
natur in ihrer Gesamtheit. 

Dieses Gut ist dem letzten Gegenstände des physischen 
Begehrungs Vermögens , uneingeschränkter Glückseligkeit, für sich 
allein wie auch demjenigen eines höheren Begehrungsvermögens, 
eines reinen Willens, nämlich wahrer echter Tugend, für sich allein 
dadurch überlegen, dass es diese beiden Bestandteile mit einander 
vereinigt und zwar die Glückseligkeit als das niedere Gut in ge- 
nauer Proportion mit der Tugend als dem oberen Gute. 

Aus der hier gegebenen Ableitung geht schon hervor, dass 
das höchste Gut immer unendlich hoch über jedem Menschen 
liegen wird, nichtsdestoweniger aber ist es mit Notwendigkeit der 
höchste und letzte Gegenstand des Begehrungs Vermögens aller 
Menschen und aller vernünftigen Wesen, die ihnen gleichen. Es 
ist ein notwendiges Ideal, das wir gar nicht aufhcben können, auch 
wenn wir aus Bequemlichkeit und Trägheit ihm entfliehen möch- 
ten, um etwa bei dem einen der beiden dann rasch vertrocknenden 
und in Dürre hinfälligen Bestandteile desselben stehen zu bleiben. 

In der kritisch -dogmatischen Aufstellung und Begründung 
dieses praktischen Ideals hat Kants Kritik das tief Wahre vor- 
weggenommen, das in der neueren zwar in mancher Hinsicht 
phantastischen und verzerrten, weil bloss dogmatischen Verkündi- 
gung eines Überschwänglichen, nämlich des „Übermenschen" als 
„des Sinns der Erde" und der letzten Bestimmung des Menschen 
unzweifelhaft enthalten ist 

Von der Idee eines höchsten Gutes musste nun schon bei 
Gelegenheit unserer Behandlung der Kantischen Kritiken von 1781 
und 1788 und zwar am Schlüsse der Kritik der praktischen Ver- 
nunft die Rede sein und dann nicht bloss von diesem höchsten 
Gegenstände selbst, sondern auch von den Bedingungen seiner 
Verwirklichung, so weit dieselben in unserer Gewalt sind und 
soweit etwa nicht. Bei der Erwägung dieser Bedingungen aber 
zeigt sich, dass der praktischen Überschwänglichkeit, die bei aller 
Richtigkeit und Triftigkeit der Idee eines höchsten Gutes unleug- 


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Romundt, 


Heft 5 u. 6. 


bar anhaftet, eine ähnliche, jedoch mehr theoretische Überschwäng- 
lichkeit der Voraussetzungen für die Verwirklichung dieser Idee 
entspricht 

Wie aber jene erstere Überschwänglichkeit doch die prak- 
tische Notwendigkeit der Idee für das Begehren von jedermann 
nicht aufhebt, ja nicht einmal beeinträchtigt, so steht es auch mit 
diesen theoretischen Voraussetzungen. Obwohl von niemandem 
wahrzunehmen und jedes theoretische Erkenntnisvermögen des 
Menschen weit übersteigend, sind sie doch niemandem, auch nicht 
dem Eingeschränktesten an Geist, notwendig verborgen. Es sind 
Gegenstände zwar nicht eines allgemeinen Wissens, wohl aber 
eines noch allgemeineren Glaubens. 

Diese überschwänglichen Voraussetzungen sind unter ein- 
ander wieder, wie wir schon andeuteten, verschiedenartig, je nach- 
dem sie in einer Hinsicht in unserer Gewalt sind als durch Thaten 
zu beweisen, wie die Freiheit, oder völlig darüber hinausliegen. 
Von der letzteren Art ist die Unsterblichkeit des Menscheu und 
das Dasein einer uns verborgenen obersten Natur. 

Wir wollen heute nur diejenige Voraussetzung in Betracht 
ziehen, welche die spezifische Verschiedenheit der beiden Be- 
standteile eines höchsten Gutes, der Tugend und der Glück- 
seligkeit, nötig macht, sofern die proportionale Vereinigung dieser 
in jedem Grade als möglich von uns festgehalten wird. Hierfür 
kann eben wegen jener spezifischen Verschiedenheit, die vor Kant 
der Aufmerksamkeit entgangen war, nicht entbehrt werden eine 
oberste Natur von solchen Eigenschaften, dass sie reine Tugend- 
gesinnung mit entsprechender Glückseligkeit zu krönen nach ihrer 
Beschaffenheit imstande ist. Daraus aber ergiebt sich unweiger- 
lich die Forderung des Daseins einer selbständigen Natur von 
derjenigen Beschaffenheit, dass sie eine der moralischen Gesinnung 
geraässe Kausalität oder Wirkungsart hat, d. h. eines Wesens von 
Verstand und Willen., Ein Wesen aber, das durch Willen und 
Verstand die Ursache, folglich der Urheber der Welt ist, ist Gott. 
Derselbe bedarf der Allwissenheit, um als ein Herzenskündiger 
den moralischen Wert der Handlungen, das Innerste der Gesin- 
nungen, durchschauen zu können, deshalb aber auch des Vermögens 
der Allgegenwart. Für die Verwirklichung des höchsten Gutes 
muss ihm Allmacht eignen. Weise muss er sein als Richter, der 
Güte und Gerechtigkeit verbindet 

Der Leser erkennt sofort die völlige Bestimmtheit einer 
Gotteslehre oder Theologie, die von der Idee eines höchsten 
Gutes ausgeht, eine Bestimmtheit, die bis auf Kants Kritik Ver- 
suchen natürlicher Theologie stets gefehlt hat. Was freilich auch 
einer kritischen, rein praktischen Theologie trotz solcher Ent- 
schiedenheit noch fehlt und auch von keiner blossen Philosophie 
verschafft werden kann, ist die bis ins Einzelne bestimmte Am- 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


169 


Behauung solcher Prädikate und die erst mit dieser verbundene 
Lebhaftigkeit. 

Auf den ersten Blick erhellt, dass die kritische Theologie 
keinerlei Naturerkenntnis, geschweige tiefe Naturwissenschaft vor- 
aiissetzt und also völlig für sich besteht Was aber der auf die 
Idee eines höchsten Gutes allein zu gründende rein praktische 
Vernunftglaube nicht voraussetzt, das kann er doch umgekehrt 
fördern. Denn treibt er nicht an, Bestätigungen seiner Voraus- 
setzung einer überschwänglichen göttlichen Weisheit in dem Weben 
und Walten der Natur und dessen ungezählten Wunderwerken zu 
suchen? Es ist aber ein himmelweiter Unterschied zwischen kalt 
vermessenem hochmütigem Beweisen- und Demonstrierenwollen und 
andererseits einem bescheidenen bloss beiläufigen Bestätigen und 
Illustrieren. 

In dieser völligen Umkehrung der gemeinen „Uhrmacher- 
philosophie“ hat Kant in einigem Grade einen Vorgänger schon 
an J. J. Rousseau, der im Unterschiede von Voltaire in so vielen 
Stücken der kritischen Philosophie praeludiert Freilich ist es 
mit diesem Vorspielen wie mit allem anderen nicht eben seltenen, 
z. B. auch mit dem des sinnreichen Baco von Verulam in manchen 
Stücken und auch demjenigen von David Hume, im Verhältnis 
zu Kants Kritik: dort ist Traum, und hier ist Erfüllung. 

Wenn wir soeben die völlige Unabhängigkeit einer kritischen 
Moraltheologie von der Physik behaupteten, so wollten wir jedoch 
damit nicht sagen, dass dieses Vorgehen der Kritik je schon wirk- 
licher Weg der Menschen gewesen ist. Dies dürfte weder von 
einem rohen Altertum noch auch in erheblich höherem Grade von 
neueren Zeiten zunehmender Verflüchtigung der Moral- und Re- 
ligion sbegriffe, die sich dadurch ältesten Perioden der Menschen- 
geschichte in bedenklichem Masse und gewiss nicht zu ihrem 
Vorteil in den Villen, Palästen und Mietskasernen der Grossstädte 
vielleicht noch mehr als in ländlichen Hütten wieder annähern, 
mit Grund angenommen werden. 

Ja, es konnte nicht einmal das Älteste und Ursprüngliche 
sein, wenn es auch jetzt mehr als hundert Jahre nach Kants 
Vernunftkritik längst vorherrschen könnte und selbst sollte. Das 
im ersten Teil dieses Satzes Ausgesprochene ist dasjenige, was 
Kant zusammen mit dem Erfolg dieses ersten natürlichen Ver- 
haltens schon vor der Erörterung der Moraltheologie darlegt. 

Die Natur muss uns nämlich allererst in organisierten Pro- 
dukten den Begriff von Naturzwecken an die Hand gegeben haben, 
damit wir überhaupt von solchen reden dürfen. Von diesen Daten 
der Natur aus steigen wir dann nicht ohne mancherlei Schwierig- 
keiten, zu deren Überwindung es der gründlichsten Besinnung 
bedarf, endlich über alle Natur hinaus und damit zuletzt bis zu 
einem göttlichen Urheber hinauf. 


% 


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170 


Rom und t, 


Heft 5 u. 6. 


Durch die Besinnung von Kants Kritik wird nun der Gefahr 
vorgebeugt, aus blossem löcherichten Bimsstein Wasser heraus- 
pressen zu wollen. Wie aber steht es mit dem Erfolg des ersten 
natürlichen Vorgehens vor aller Vernunftkritik? Ist dieser so, 
dass er zu der Wiederholung des Ganges von unten nach oben 
ohne alle vorausgeschickte Kritik, welche Wiederholung in unserem 
gegenwärtigen naturwissenschaftlichen und hyperempirischen Zeitr- 
alter sehr nahe liegt und auch gar nicht selten angetroffen wird, 
statt eines umgekehrten Ganges, wie er von uns zuvor angedeutet 
und empfohlen wurde, aufmuntern kann? Auf diese Frage giebt 
Kant eine Antwort in dem „Von der Physikotheologie“ über- 
schriebenen § 85. 

Indem er so mit der Erwägung einer Theologie, die von 
Natur und Physik aus vorgeht, den Anfang macht, schliesst er 
sich dem natürlichen Verfahren selbst an, während wir hier mit 
Absicht den § 86 „Von der Ethikotheologie“ vorweggenommen 
haben, in dem Kant noch einmal die Moraltheologie berührt. 
Deren klassischer Ort ist jedoch in der Kritik der praktischen 
Vernunft von 1788 zu suchen. 

Etwa in der Mitte des § 85 wird das Ergebnis des ersten 
natürlichen Vorgehens der Menschheit in folgenden nach allen 
unseren früheren Erörterungen nicht mehr verwunderlichen Sätzen 
wie beiläufig erwähnt: „Man kann es den Alten nicht so hoch 

zum Tadel anrechnen, wenn sie sich ihre Götter als teils ihrem 
Vermögen, teils den Absichten und Willensmeinungen nach sehr 
mannigfaltig verschieden, alle aber, selbst ihr Oberhaupt nicht 
ausgenommen, noch immer auf menschliche Weise eingeschränkt 
dachten. Denn wenn sie die Einrichtung und den Gang der Dinge 
in der Natur betrachteten, so fanden sie zwar Grund genug, etwas 
mehr als Mechanisches zur Ursache derselben anzunehmen und 
Absichten gewisser oberer Ursachen, die sie nicht anders als 
übermenschlich denken konnten, hinter dem Maschinenwerk dieser 
Welt zu vermuten. Weil sie aber das Gute und Böse, das Zweck- 
mässige und Zweckwidrige in ihr, wenigstens für unsere Einsicht, 
sehr gemischt antrafen und sich nicht erlauben konnten, ins- 
geheim dennoch zum Grunde liegende weise und wohlthätige 
Zwecke, von denen sie doch den Beweis nicht sahen, zum Behuf 
der willkürlichen Idee eines höchst vollkommenen Urhebers an- 
zunehmen, so konnte ihr Urteil von der obersten Weltursache 
schwerlich anders ausfallen, sofern sie nämlich nach Maximen des 
bloss theoretischen Gebrauchs der Vernunft ganz konsequent 
verfuhren.“ 

Das Grundgesetz dieses theoretischen Vernunftgebrauchs, 
das Kant wohl nicht mit Unrecht in der antiken Mythologie 
überwiegend sich bethätigen sieht und das die Alten eben hinderte, 
aus sehr gemischten Wirkungen in der Natur auf etwas Anderes 


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1901. 


Der Platonismus in Kants Kritik der Urteilskraft. 


171 


als ebenfalls sehr gemischte Ursachen zu schliessen, war von ihm 
auch in dem in Rede stehenden Paragraphen wieder und sogar 
wiederholt zum Ausdruck gebracht und formuliert worden. So 
in dem Satze, dass dieser theoretische Gebrauch der Vernunft 
durchaus verlange, zu Erklärung eines Objekts der Erfahrung der 
Ursache „nicht mehr Eigenschaften beizulegen, als empirische 
Data zu ihrer Möglichkeit anzutreffen sind“. Auf derselben Seite 
oben hiess es: „als uns die Erfahrung an den Wirkungen der- 
selben offenbart“. 

Das angegebene günstige Urteil Kants über die Mythologie 
der Alten wird den Kenner Platos vielleicht an dessen stark 
abweichende, ja entgegengesetzte Kritik des Homer und anderer 
grosser griechischer Dichter erinnern, die wir schon einmal im 
letzten Kapitel des ersten Teiles flüchtig berührten. 

In diesem pädagogischen Abschnitt seines „Staates“ findet 
Plato unter vielem anderen am Homer zu tadeln, dass dieser den 
Zeus als Verteiler des Guten und des Bösen darstelle. Als erste 
Richtschnur in Bezug auf die Götter, nach der in seinem Staate 
Redner und Dichter unweigerlich sich zu verhalten haben, giebt 
aber der Philosoph an, dass der Gott nicht für den Urheber von 
allem, sondern nur vom Guten zu erklären sei. (Platos Staat, 
II. Kap. 19.) 

Dass Kant dei) in dieser wie in anderen Vorschriften der 
Staatspädagogik Platos sich mächtig regenden höheren Geist des 
grossen griechischen Denkers und sein ernstes Bemühen um eine 
reine und hohe Gotteslehre zu würdigen wusste, erhellt schon 
aus dem, was wir vorher über die kritische Moral theologie sagten. 
Kant aber nun hat im Unterschiede von Plato auch Sinn für das 
einer hohen Metaphysik Entgegengesetzte, für die Bescheidenheit 
der Natur in Homer und anderen Dichtern, über die Plato so 
rücksichtslos hinwegschritt. 

Die griechische Volksmythologie und Homer sind in höherem 
Grade oder, wenn man so will, bessere Physiker als Plato, der 
Urahn der christlichen Theologie, dessen Bildsäule als ihres Patrons 
aus dem Altertum nicht ohne Grund vor dem Universitätsgebäude 
in Kiel aufgestellt ist. In dem § 85 aber, der nur „von der 
Physikotheologie“ handelt, durfte Kant allein dasjenige, was von 
gegebener Natur aus zu erreichen ist, in Betracht ziehen. Von 
diesem Gesichtspunkte aus hätte er sogar an Homer und der 
griechischen Volksreligion noch aussetzen dürfen, dass sie bei 
weitem nicht genug Physiker waren und deshalb schon allzuviel 
Ähnliches mit Plato hatten, mögliche Berührungs- und Streitpunkte 
mit diesem, die sonst vermieden wären. Auch bei ihnen wand 
sich, um mit unserem grossen deutschen Dichter zu sprechen, 
der Dichtung zauberische Hülle um die Wahrheit oder, um uns 
genauer und mehr prosaisch auszudrücken, auch sie haben nicht 


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172 


Romundt, Der Platonismus etc. 


Heft 5 u. 6. 


abgelehnt, „den Mangel dessen, was die Beweisgründe leisten, 
durch willkürliche Zusätze zu ergänzen/* eine Ablehnung und 
Enthaltsamkeit, die jedoch mit Kant vom Physiker unnachsicht- 
lieh zu verlangen ist. 

Als strengere Physiker würden Homer und die griechische 
Volksreligion in ihren Vorstellungen von den letzten Ursachen 
der Dinge gewiss nicht diejenige Bestimmtheit erreicht haben, die 
nun in den Sagen von Göttern und ihrer Persönlichkeit vorliegt, 
eine Bestimmtheit, wie wir sie aber gleichfalls bereits aus der 
kritischen Moraltheologie kennen. Nur schritt diese zu solcher 
Entschiedenheit von der geläuterten reinen Idee eines höchsten 
Gutes aus mit unfehlbarer Sicherheit vor. Es findet aber hier- 
nach selbst auf die von Kant belobten „Alten“ schon Anwendung 
der Satz, der diesem Lobe vorangeht: „Bei näherer Prüfung 

würden wir sehen, dass eigentlich eine Idee von einem höchsten 
Wesen, die auf ganz verschiedenem Vernunftgebrauch (dem prak- 
tischen) beruht, in uns a priori zum Grunde liege, welche uns 
antreibt, die mangelhafte Vorstellung einer physischen Teleologie 
von dem Urgründe der Zwecke in der Natur bis zum Begriffe 
einer Gottheit zu ergänzen.“ 

Dieses bei Homer noch innig mit Sinnen, Verstand und 
Einbildungskraft verbundene höhere Vermögen und Streben der 
menschlichen Natur suchte sich in der griechischen Philosophie 
schon lange vor Plato, z. B. bei den grossen eleatischen Philo- 
sophen, von dem niederen Genossen, der dasselbe stark einengte, 
zu befreien und hat endlich in Platos Richtschnuren lind Gesetzen 
der Theologie mit wuchtiger Faust die schöne Welt des Homer 
zertrümmert 

Wäre es doch statt dessen zu einer ruhigen gründlichen 
Auseinandersetzung zwischen den mit einander ringenden Mächten 
gekommen! Ein vorzüglicher Kenner des griechischen Altertums, 
Er>vin Rohde, urteilt aber in seinem Werke „Psyche. Seelenkult 
und Unsterblichkeitsglaube der Griechen“. 2. Aufl. 1898. II. S. 138, 
dass „eine grundsätzliche Auseinandersetzung und vollbe wusste 
Scheidung zwischen Religion und Wissenschaft in Griechenland 
niemals stattgefunden hat“. 

Diese Aufgabe blieb einem besser vorbereiteten Zeitalter 
und einem durch Naturausstattung und Persönlichkeit in einziger 
Weise dazu berufenen deutschen Manne Vorbehalten. Die Auf- 
lösung dieser Aufgabe für alle künftigen Zeiten ist die Leistung 
der Vernunftkritik von Immanuel Kant. 


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Sebastian Francks Aufzeichnungen 
über Job. Denck (+ 1527) aus dem Jahre 1531. 

Herausgegeben von Ludwig Keller. 


Wir haben früher in diesen Heften (M.H. der C.G. 1897 
S. 78) das günstige Urteil abgedruckt, welches Leopold von 
Ranke im Jahre 1839 in seiner deutschen Geschichte im Zeit- 
alter der Reformation (Bd. III 5 , S. 362) über den geistigen Führer 
der sog. Wiedertäufer Johannes Denck 1 ) abgegeben hat und nach- 
gewiesen, dass dies Urteil von den protestantischen wie katho- 
lischen Zeitgenossen Rankes, soweit sie nicht streng konfessionell 
gesinnt waren, geteilt wurde. 

Heute wollen wir das Urteil eines anderen grossen deutschen 
Historikers anführen, eines Zeitgenossen des verfolgten „Wieder- 
täufers", nämlich Sebastian Francks. Der Umstand, dass Franck 
sowenig wie Denck heute in weiteren Kreisen bekannt sind, be- 
weist nichts, weder für die geistige Bedeutung noch für die Nach- 
wirkungen dieser deutschen Männer; jeder, der sich genauer mit 
ihnen beschäftigt hat, wird zu dem Rankeschen Ergebnis kommen, 
und was insbesondere Franck anbetrifft, so haben wir noch vor 
einiger Zeit an dieser Stelle Gelegenheit gehabt, nachzuweisen, 
wie günstig sich mehr und mehr das Urteil aller Sachkenner über 
den Wert dieses Mannes gestaltet. „Franck", sagt ein neuerer 
Historiker, „bleibt nicht nur einer der erste n deutschen Schrift- 
steller, nicht allein zeitlich genommen, sondern auch seinem 
Range nach, vor Allem in der Kraft und Wahrheit seiner Per- 
sönlichkeit" (s. M.H. 1899 S. 190). 

Franck veröffentlichte im Jahre 1531 sein nachmals berühmt 
gewordenes und in verschiedenen Ausgaben erschienenes Geschichts- 
werk : „Chronika, Zeitbuch und Geschichtbibel." In diesem Buche 

*) Näheres über Denck s. in dem Buche Ludwig Kellers, Ein Apostel 
der Wiedertäufer. Lpz., S. Hirzel 1882. 


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174 


Keller, 


Heft 5 u. 6. 


(die dritte Chronik, Der Bapst und Geistlichen Händel. Ausgabe 
von 1536 fol CLVIII f.) finden sich nun folgende merkwürdige 
Aufzeichnungen, die wir hier nach der Ausgabe desselben Werkes 
vom Jahre 1565 (fol. 136) wörtlich wiedergeben. 

«Johannes Denck und seine Artiekel. 

Anno tausend fünfhundert sechs und zwentzig entstund ein 
neuwe Sect, die Widertäuffer genannt 1 ). Under disen ward 
Johannes Denck, Schulmeister zu S. Sebolt zu Nürnberg, ein 
zumal gelehrt Mann in dreyen Zungen, ir Vorsteher und Bi sch off. 
Dieser hat under andern gehalten die Meynung Origenis, dass sich 
Gott werd endtlich Aller erbarmen, Gott werd und mög nit ewig 
zürnen noch verstossen und werd in Summa endlich alles selig, auch 
die verstossnen Geister und Teuffel. Er sol sonst ein still, eyngezogen 
fromb Mann seyn gewesen. Er ist, wie man sagt, zu Basel an der 
Pestilentz gestorben 2 ), und etlich Artiekel, im Truck aussgegangen, 
widerruft oder sich vilmehr bass erklärt 3 ), wie folgen wirt. 

Er hat vil Büchlin geschrieben: Vom Gesatz Gottes 4 ), item 
wie Gott das Übel schaff und thu 5 ) und mit Ludovico Hätzer (als) 
erster (die) Propheten in Teutschen Zungen geworfen 6 ). Etlich achten, 
Johannes Chrysostomus sey umb disen Artiekel Origenis ins Elend 
verwiesen worden. 


*) Man beachte, dass Scb. Franck nur von den sogenannten Wieder- 
täufern spricht; er wusste sehr wohl, dass die Gemeinschaft, die man also 
nannte, diesen Scheltnamen grundsätzlich ablehnte und dass deshalb kein 
unparteiischer Berichterstatter das Recht hat, ihn ohne Zusatz zu gebrauchen. 

2 ) Der geächtete und verfolgte Mann, der sich nur im Geheimen in 
Basel aufhielt (im Hause seines Freundes Michael Bentinus), starb in aller 
Stille und ward im Stillen beigesetzt. Deshalb drang nur unsichere Kunde 
über die Ursache seines Todes in die Öffentlichkeit. 

8 ) Es ist die Schrift „Hans Dencks Protestation und Bekenntniss“ 
gemeint, die wir in den M.H. der C.G. 1898 (Bd. VII) S. 231 ff. neu 
herausgegeben und besprochen haben. Die Schrift war nicht für die Öffent- 
lichkeit bestimmt und ward von Öcolampad nach Dencks Tode gedruckt; 
auch Franck sagt ja nicht, dass Denck sie veröffentlicht habe. 

4 ) Vom Gesatz Gottes. Wie das Gesatz auffgehaben sei und doch 
erfüllet werden muss. Hanns Denck. O. O. u. J. (1526). Über die ver- 
schiedenen Ausgaben s. Keller, Ein Apostel etc., S. 242 f. 

5 ) „Was geredt sei, das die Schrift sagt, Gott thue und mache guts 
und böses. Ob es auch billich, das sich yemandt entschuldige der Sünden 
und sy Gott überbinde MD.XXVI.“ O.O. Näheres bei Keller, a. O. S. 241. 

°) Alle Propheten nach Hebräischer sprach verteutscht von Ludwig 
Hetzer und J. Dengk. Wormbs. Jo. Schöffer 1527. — Es sind später 
zahlreiche weitere Ausgaben erschienen. Näheres bei Keller, a. O. S. 246. 


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1901. 


Sebastian Francks Aufzeichnungen etc. 


175 


Folgen seine Artickel, allermeist auss seinem letzten Büchlin 
und Retractation gezogen. 

Gott ist allein gut, deshalb wirkt er allein das Gute im 
Menschen und nichts Böses, noch das da wider ihn ist und ist kein 
Ursächer des Übels oder der Sünd, die er nit will und verbeut 1 ). 

Das Gesatz ist nicht allein geben zu eim Spiegel, dass wir 
unser sündige Art darin ersehen, sonder auch dass mans halt 2 ). 

Das Gesatz sey den Gläubigen nit allein möglich, sonder 
auch leichtlich zu halten, derhalb unser Unvermögen ein thorecht 
Aussred und ein Zeichen unsers Unglaubens, den wir damit verrathen. 

Den Kinder tau ff hat er zuletzt unnötig, frey und für ein 
Menschen Gebot und der Christen Freyhait (aber nit nach dem Be- 
fehl Christi) gehalten, auch den Widertauff widerrathen, weil zu 
disem Ampt ein gewisser Befehl und Beruf gehöre, auch an seiner 
Berufung gezweifelt und gewölt, er hett nie getauft. Jedermann sehe 
auf, dass er nit ehe diene, ehe er gedingt wird. 

Welcher sich auf das Verdienst Christi verlässt und nit 
dester weniger viehisch lebt, der hält Christum für einen Abgott und 
lästert Gott. 

Wer glaubt, das Christus ihn von Sünden erlässt hab, der meid 
die Sünd, denn er mag der Sünden und Christi Knecht nit beyde 
zusammen sein. 

So wir im alten Leben ligen mit unserm Glauben, so ist der 
Glaub gewiss nicht recht; der Schad ist grösser dann ihn Jemand 
beweinen mag. 

Wo der Gehorsam der Gebot nit ist, da ist der Glaub falsch, 
denn die Lieb ist des Glaubens Frucht und Folg, die gewisslich 
nit aussbleibt, wo der Glaub recht ist. 


*) Dieser Satz ist ebenso wie die beiden folgenden gegen die durch 
die lutherische Dogmatik festgelegten und zur herrschenden Kirchenlehre 
erhobenen Auffassungen gerichtet. Über die bezügliche lutherische Lehre 
sagt Julius Köstlin (Luthers Theologie u. s. w. I, 381): „Nicht bloss in 

Bezug auf die herrschende Sünde erklärt Luther den Menschen für unfrei, 
sondern er zieht biblische Worte bei, wornach aus dem allgemeinen Ver- 
hältnis zu Gott ihre Unfreiheit folge. — Wie könne nun der Mensch zum 
Guten sich bereiten, da es nicht einmal in seiner Macht sei, seine bösen 
Wege einzuschlagen? Denn auch die bösen Wege regiere Gott in den 
Gottlosen.“ — „Hiermit (fährt Köstlin fort) ist Luther bereits zu Aussagen 
fortgeschritten, welche offenbar den freien Willen überhaupt, auch abgesehen 
von der Sünde, aufheben.“ — Näheres über Luthers bezügliche Auffassungen 
bei L. Keller, Die Reformation und die älteren Reform parteien. Leipzig. 
Hirzel 1885, S. 255 ff. 

*) Auch dieser und die folgenden Artikel lassen sich nur dann recht 
verstehen, wenn man ihn im Zusammenhang mit der gleichzeitig aufkom- 
meuden lutherischen Dogmatik betrachtet. 




176 


Keller, 


Heft 5 u. 6. 


Wo der Glaub recht ist, macht er ein recht geschaffen Herz, 
dem folgen dann die Frücht des Geists, wie ein böss Herz sich auch 
verräth mit des Fleisches Werken. 

Es gilt gleich, wie man es nennt, den gefangnen oder freyen 
Willen, der Nam ist nit Zancks werth an im selbs, so man nur 
verstehet, wie oder warumb. 

Wer seinen Willen in Gottes Willen giebt, der ist zu Gutem 
frei und gefangen. 

Wer aber diesen in der Welt Wesen oder Teuffels Willen ge- 
fangen gibt und versenkt, der ist übel frei und übel gefangen. Wess 
Knecht einer ist, der macht in gleich wider frei, es sei Gottes oder 
der Sünd. 

Gott belohnet die Werck darumb, nicht dass sie von uns ein 
Ursprung haben, sonder dass wir die Gnad, die er uns darbotten 
hatt, nit vergebens haben lassen fürgehen oder gar aussschlagen. 

An der Absonderung tragt er (Denck) nit sonder Gefallens 
und spricht, sein Hertz sey von Niemand gescheiden. 

In Glaubenssachen sol es frey, alles willig, ungenot 
(ungenötigt) zu gehn. „Ich weiss (sagt Denck), dass ich ein Mensch 
bin, der geirret hat und noch irren mag.“ 

Ceremonien an ihn (ihnen) selbss sind nicht Sünd, wer aber 
vermeint, dardurch etwas, sei wie gering es wöll, zu erlangen, es sei 
durch Teuffen oder Brotbrechen (das er gar nicht für den Leib 
Christi hält nach Lutherischer oder päpstischer Weiss), der hat ein 
Aberglauben. 

„Hierinn beweisen sich die Menschen am allermeisten Menschen 
zu sein, dass sie sich in eusserlichen Ceremonien also zancken.“ 

Ein Gläubiger ist aller ding frey in äusserlichen 
Dingen, doch wirt er sich, als immer möglich ist, hierin nach der 
Lieb richten, fürnemlich nach dem Glauben und Gottes Ehr. 

Wann man gleich alle Ceremonien verlür, so hett man doch 
sein kein Schaden und zwar wer es besser, ihr (ihrer) zu manglen 
dann (sie) zu missbrauchen. 

Schweren mit Eydt, so es die Lieb oder Gottes Ehr erfordert, 
hat er wider viel ander Teuffer gebillicht und zugelassen. 

Die heylig Schrift heit er über aller Menschen Schätz, aber 
niendert (keineswegs) also hoch als Gottes Wort, das da lebendig, 
krefftig und ewig ist, aller Element frey, das weder geredt noch ge- 
schrieben kann werden. 

Gottes Wort ist Geist und kein Buchstab, ja Gott selber, 
ohn Feder und Papyr geschrieben, durch den Finger Gottes in unser 
Hertz eingetruckt oder eyngepflanzt 

Die Seligkeyt ist an die Schrifft nit gebunden, wie 
nütz und gut sie immer darzu seyn mag, sonst weren nur die Ge- 
lehrten selig. 

Es ist der Schrifft nicht möglich, ein böss Hertz zu besseren, 


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177 


1901. Sebastian Francks Aufzeichnungen etc. 

ob es schon gelehrter wirt. Ein frombs Hertz aber wirt durch alle 
Ding gebessert. 

Die heylig Schrift ist den Gläubigen wie alle Ding, gut, den 
Ungläubigen zur Verdainniss geben. 

Also mag ein erwählter Mensch von Gott gelehrt, ohn Predigt 
und Schrift selig werden, sonst weren vil Länder versaumpt und 
verdampt, darumb dass sie nit Prediger haben und auch die Un- 
gelehrten, die die Schrift nit lesen können. — 

Irn Büchlin von der Ordnung Gottes und Creaturen 
(Werk) 1 ) sind wider die, die da sprechen, sie haben kein freyen 
Willen, sie vermögen nichts guts, Gott schaff es alles im Menschen, 
auch das Bös und die Sünd etc. dise und dergleichen Artickel ein- 
geleibt : 

Die da reden, wir können und vermögen nichts Guts, die reden 
kein Wahrheit. 

Item von denen, die da sagen, wir müssen dies oder das thun, 
wir sind darzu verordnet, spricht er: O Brüder, Brüder, wie thut ir 
dem Allerhöchsten so unrecht, dann ir wisst, dass er euch das Wider- 
spil heisst, nemlich das Gut und ihr sprecht, er zwing euch zum 
Bösen 2 ). 

Die Worte Gottes sind an ihnen selbss licht und klar, aber 
unsere Finsterniss begreifet sie nicht. 

Wir wollen Gottes Wort auss den Büchern lernen und über 
Meer holen und in unsern Hertzen verleugnen wirs etc. und 
nehmen die Schrift als Dieb und Lügner an. 

Gott ist gut und hat alle Ding gut erschaffen. So vil nun 
der Mensch böss ist, das ist er ohn Gott auss seinem Eygenthumb. 

Gott gibt Jedermann Ursach, Gnad und Kraft sich zu be- 
kehren, Niemand aber Ursach zu Sünden (sündigen). „Das Licht, 
das Wort Gottes, scheinet in aller Menschen Hertzen und gibt 
jedermann freyen Gewalt, wer es wöll annemen, dass der leben sol 
und ein Kind Gottes genannt zu werden.“ 

Gott, der ungezwungen Dienst wil, wirdt Niemandt, ihm zu 
dienen, wider seinen Willen zwingen, wie er auch gleichwol Niemand 
zum Bösen zwingt. 

Gott will, dass jedermann selig werd, weiss aber wol, dass sich 
selbs vil verdammen. 

Gott hat auss seim vorwissen den Esau im Mutter Leib ge- 


*) Es ist Dencks Schrift gemeint : „Ordnung Gottes und der Creaturen 
werck: zu verstören das geticht gleissnerisch aussreden der falschen und 
faulen ausserwelten , auff das die warheyt raum hab, zu verbringen das 
ewig unwandelbare wolgfallen Gottes. Colos. 1. Ephes. 1. Hanns Denck.“ 
O. O. u. J. — Näheres bei Keller, Ein Apostel etc., S. 242. 

*) Auch dieser Satz richtet sich gegen Luthers Theologie. Vgl. Keller, 
Die Reformation S. 356. 

Monatshefte der Comenius-Gesellachaft. 1901. ] o 


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178 


Keller, 


Heft 5 u. 6. 


hasst, Jacob geliebt, dann er wusste, dass Esau immer übertreten 
würde, darumb er ihn von Mutter Leib an ein Schelmen nennt. 
Esa. 48. Jacob aber, ehe er denn in Mutter Leib formieret, er- 
kennet er aufrichtig zukünftig sein, darumb er ihn geliebt und ge- 
heyliget hat, auch auss disem Vorwissen zum Erb und ewigen Leben 
verordnet. 

Selig ist der allein, der da mag sündigen und nit sündigt 
Eccles. 31. Also ist der Lohn der Ausserwählten von Anfang bereit 
wie ihr Leben vor Gottes Augen gewesen ist ehe der Welt Grundt etc. 
Nit anderss im Gegen theyl geht es mit den Gottlosen zu; der Schlund 
(Abgrund) und Straff schon nit feyret 

Wann man lang von den Elementen der Welt zanckt und von 
den eusserlichen Ordnungen redt so gewinnt, man doch nichts daran 
und kann nichts endlichs noch bestandigs beschliessen. 

Die Hell, darein die Gottlosen gesetzt werden, heit er für 
die Marter des Gewissens, die nicht ausserhalb, sonder inner dem 
Menschen sein werde und alsdann angehe, wann dem Menschen sein 
Sünd und Unglauben angezeigt werde. Auch dargegen Gottes Ge- 
rechtigkeit und das nagend Gewissen ihm sein billiche Verdamniss 
predigt. 

Nit dass er da bleiben wöll oder muss und kein Gnad in der 
Hell sein werd, dann auch die Hell vor dem Herren bloss ist und 
das verdamniss kein Decke hat, Hiob 16 *). (Summa, wie man darein 
und darauss komm, liss das dritt und viert Capitel biss aufs sibend 
diss Büchlins selbs.) 

Christus ist allein im Geist hinab in die Hell gefahren und 
den Ungläubigen Geistern gepredigt. 

Das Wort Gottes (ist) in aller Menschen Hertz gelegt, 
leidt in uns getruckt zur Verdamniss, so lang wir sein nit achten. 

Welcher sagt, er hab nit Gnad von Gott fromb zu werden 
oder Guts zu thun, der ist ein Lügner wie alle Menschen sind. 

Gott geusst sein Gnad und Barmhertzigkeit über alle 
Menschen auss, sonst weren die Gnadlosen oder Gottlosen unschuldig 
und entschuldigt 2 ). Ettlich sagen, sie haben eyn Freyen Willen, 
etlich, sie haben kein. Dise red sind beyde wahr, aber auch beyde 
erlogen. 

Wer sich selbss verlieren wil, der hat es (dessen) frey Macht, 
nit von ihm selbss, sonder das eynwohnend Wort gibt uns dise freye 
Macht, Kinder Gottes zu werden. 

Welcher glaubt, dem ist nit möglich, dass er irre, wann er 
schon irret, er erfüllt das Gesetz Gottes aufs höchst, wann ers schon 
bricht. 


*) Am Rande ist erläuternd bemerkt: „Gott in allen Menschen 
*) Am Rande steht: „Gott giebt Jedermann Gnad und Ursach, sich 
zu bekehren. Wer da will, der mag es thun“. 


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1901. 


Sebastian Francks Aufzeichnungen etc. 


179 


Die Christen sind eben eins mit Christo, wie Christus mit dem 
Vatter. 

Ein Christ ist dess (dessen), das er glaubt und seiner Seligkey t 
gewiss und versigelt. 

Wann Gott das böss auch ohn all Underscheid thet, wie seine 
untreuwe Knechte sagen, so köndte er die Welt nimmer straffen und 
richten, er wolt dann sich selbs richten und strafen. Es gehört nichts 
zur Seligkeit, dann dass wir dem, der in uns ist, gehorchen, feyren 
und still halten in wahrem rechtem Sabbath und Gelassenheit mit 
Verlierung unser selbss und alles des unseren, dass Gott beyde in 
uns ledigen, freyen (Menschen) wirke und leide. Was vor diesem 
Sabbath in der alten Haut vom Fleisch und Blut gelitten oder ge- 
wirkt wirdt, ist Sund, ein unrein Gerechtigkeit des unverzehrten 
Fleisches und ein Adamswerck und Leiden. Der aber, der in uns 
ist, wil alle Stund und Augenblick wann wir nur wollen, folgen, 
sein Zeit ist allweg, die unsere aber nicht. Er ruffet und breitet den 
gantzen Tag seiue Hand aus, allezeit bereit, Niemand gibt ihm Ant- 
wort, Niemand lässt ihn zu oder eyn etc. Sucht allein den Herren, 
so werdet ir ihn finden, ja er sucht euch selbs schon, allein lasst 
euch finden, ja er hat euch schon gefunden und klopfet bereyts an, 
allein thut ihm auf und lasst ihn ein, ergreifet und erkennet den 
Herren, wie ihr von ihm begriffen und erkannt seid. 

Diss ist sein Theology auss ehegemeldtem Büchlin gezogen, 
wer wil, less selber. 

Für die Geschichte der Wirkungen, welche von Dencks 
Schriften, des einstigen „Vorstehers und Bischofs" jener altevan- 
gelischen Gemeinden, die man Täufer nannte, ausgegangen sind, 
ist dieser empfehlende Hinweis Francks in seiner vielgelesenen 
und immer von neuem aufgelegten Weltchronik von erheblicher 
Wichtigkeit Er hat bewirkt, dass das Andenken an Denck auch 
in den Kreisen nicht völlig erlosch, die nicht zu den Täufern 
gehörten und dass es bis in das Zeitalter des Johannes Arndt 
(f 1621), des Verfassers der „Vier Bücher vom wahren Christen- 
tum“, und des älteren Pietismus lebendig blieb, wo Gotfried 
Arnold in Francks Fussstapfen trat und sehr nachdrücklich von 
neuem auf Denck hinwies. 


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Seit einer Reihe von Jahren beschäftigt sich Prof. Dr. Kvaöala 
in Dorpat-Jurjew mit Studien zur Geschichte Daniel Ernst Jablonskys, 
des Enkels des Comenius. Eine Frucht dieser Arbeiten liegt seit länge- 
rer Zeit in dem Buche vor, welches unter dem Titel: „Neue Beiträge 
zum Briefwechsel zwischen D. E. Jablonsky und G. W. Leibniz. 
Hrsg, von Prof. Dr. Kvaöala. Jurjew, gedruckt bei C. Mattiesen 
1899“ erschienen ist 1 ). Es handelt sich bei dieser Veröffentlichung 
um eine wertvolle Ergänzung der früheren Publikationen des Jablonsky- 
Leibnizschen Briefwechsels , welche wir den Leibnizforschern Kapp 
und Guhrauer verdanken. Die Mehrzahl der hier gegebenen Briefe 
entstammt der Königl. Bibliothek in Hannover, die bekanntlich den 
Nachlass von Leibniz bewahrt; einiges fand sich im Geheimen Staats- 
Archiv zu Berlin. Kvaöala hat sich aber nicht mit einem einfachen 
Abdruck begnügt; vielmehr bietet er in einer Einleitung (S. I — XXVI11) 
aus seiner genauen Kenntnis der Zeitgeschichte wertvolle Erläuterungen; 
auch ist am Schluss von ihm ein Namen-Register beigefügt, das die 
Benutzung des Inhalts sehr erleichtert. Viele bekannte Zeitgenossen 
werden in dem Briefwechsel namhaft gemacht, insbesondere natürlich 
aus dem Kreise der geistesverwandten Freunde der Brief Schreiber 
(Comenius, Duraeus, A. H. Francke, Paul von Fuchs, Molanus, Phil. 
Naudö, Pufendorf, Rave, Otto von Schwerin, Kurfürstin Sophie Char- 
lotte, Ez. Spanheim, Ph. Spener, Bened. Skytte und viele Andere). 
Interessant sind u. A. die Ausführungen Kvaöalas (S. XVIII) über 
die persönlichen Beziehungen zwischen Leibniz und Comenius, die 
durch Skytte in Amsterdam angeknüpft zu sein scheinen. — Wir 
empfehlen die wichtige Veröffentlichung Allen, die sich mit der Ge- 
schichte des geistigen Lebens im 17. und 18. Jahrhundert beschäf- 
tigen, angelegentlich. L. K. 


Carl Bonhoff, Prediger an der evangelisch-reform. Gemeinde 
zu Leipzig, hat im Februar und März 1900 vier Hochschulvorträge 
über das Christentum gehalten und dieselben dann auf mehrfachen 
Wunsch von Zuhörern in den Druck gegeben; sie liegen jetzt vor 

0 Der Verfasser hat den Selbstverlag übernommen; Exemplare des 
Buches sind daher von ihm selbst zu beziehen. 


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Besprechungen und Anzeigen. 


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unter dem Titel: „Christentum und sittlich-soziale Lebens- 
fragen. Vier volkstümliche Hochschul vorträge etc. Leipzig 
1900. Druck und Verlag von B. G. Teubner.“ Es kommt Bonhoff 
darauf an — und wir sind der Meinung, dass er mit Erfolg dahin 
gestrebt hat — das unbewusste Christentum vieler Zeitgenossen wieder 
in ein bewusstes zu verwandeln; er will dies erreichen, indem er be- 
weist, dass „der Kern des Christentums Christi, wie es unsere 
drei ersten Evangelien darstellen“ mit dem sittlich-sozialen Empfinden 
vieler Zeitgenossen im Grossen und Ganzen übereinstimmt. ' Die 
Themata der Vortrage sind folgende: I. Die Wertschätzung der 

bürgerlichen Gemeinschaften und die sozialen Tugenden. II. Die 
Wertschätzung der Persönlichkeit und die Pflichten des Einzelnen 
gegen sich selbst. III. Der sittliche Kampf des modernen Kultur- 
menschen. IV. Die Religion Jesu als Kraftquelle der Sittlichkeit. 
Der Natur der Sache nach konnten diese Gegenstände keine er- 
schöpfende Behandlung finden ; es sind vielfach nur Anregungen, die 
der Verfasser giebt, nur Richtlinien, die er zieht, aber die Wege, die 
er uns zeigt, erleichtern denen, die den Dingen weiter nachgehen 
wollen, die Vertiefung in den umfassenden und schwierigen Gegen- 
stand in hohem Masse. Besonders hat uns der zweite Vortrag über 
den Wert der Persönlichkeit angesprochen. Erst das Christen- 
tum ist es gewesen, welches die Würde des Menschen voll und recht 
eingeschätzt und damit das Wesen der Humanität begründet hat. 
Die griechische Philosophie (sagt Bonhoff S. 29) hat trotz ihrer An- 
läufe zur Ausgestaltung der Humanitätsidee niemals das Wort ge- 
sprochen: „Es ist kein Ansehn der Person vor Gott“, niemals hat 
sie auch im Sklaven oder im Barbaren oder im Weibe den Menschen, 
die Persönlichkeit in der Art achten gelehrt, wie es das Christentum 
Christi gethan hat. Jesus ist es gewesen, der zuerst den unendlichen 
Wert einer jeden Menschenseele klar erkannt und ihr Endziel, die 
göttliche Vollkommenheit, bestimmt ausgesprochen hat: in dieser Per- 
sönlichkeit hat er die Voraussetzung für das Kommen des Reiches 
gesehen, das er als den Inhalt seiner Botschaft bezeichnet. — Wir 
empfehlen die Bonhof fschen Vorträge allen unseren Mitgliedern zur 
Beachtung und Prüfung; sie werden viel von comenianischer Denkart 
darin finden. L. K. 


Unter dem Titel: Johann Jakob Bodmer. Denkschrift 
zum CC. Geburtstag (19. Juli 1898) ist im Kommissions -Verlag 
"von Albert Müller zu Zürich 1900 ein prächtiges, reich illustriertes 
Werk erschienen, dessen Herausgabe der Lesezirkel Hottingen ver- 
anlasst und dessen Kosten die Stiftung von Scheyder von Wartensee 
bestritten hat. Die Kommission, welche die literarische Seite des 
Unternehmens geleitet hat, bestand aus den Herren Theodor Vetter, 
Hans Bodmer und Hermann Bodmer, welche sich die Mitwirkung 
einiger angesehener Forscher und Schriftsteller bezw. Schriftstellerinnen, 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 5 u. 6. 


nämlich der Herren Otto Hunziker, Gustav Tobler, Louis P. 
Betz, Leone Donati, Hedwig Waser und Johannes Widiner, 
gesichert hatten. Durch dieses erfolgreiche Zusammenwirken ist ein 
Buch zustande gekommen, welches ebenso dem Andenken des be- 
deutenden Mannes, dem es gewidmet ist, wie seinen Verfassern und 
Gönnern zur Ehre gereicht; wenn man das gleichzeitig in Deutsch- 
land von Eugen Reichel unter persönlichen Opfern begonnene 
Unternehmen des Gottsched-Denkmals mit der Schweizer Arbeit ver- 
gleicht, so kann man sich als Deutscher eines beschämenden Gefühles 
nicht erwehren. Es ist erfreulich, dass der Gemeinsinn der Deutschen 
im Reiche und die Teilnahme für die Vorkämpfer ihrer eignen Ehre 
nicht auf allen Gebieten so tief unter dem der Schweizer steht, wie 
es bei einem Vergleiche dieser beiden Unternehmungen scheinen könnte. 
Das Werk zerfällt in sieben Abteilungen ; die erste schildert den 
äusseren Lebensgang J. J. Bodmers, S. 1 — 49 (Hans und Hermann 
Bodmer), die zweite giebt eine Beschreibung des Bodmerhauses (S. 50 
bis 79) am oberen Schönberg, das J. J. Bodmer seit 1739 bewohnte 
und das noch heute existiert (Hedwig Waser), die dritte behandelt 
Bodmer als Vater der Jünglinge (Otto Hunziker, S. 80—113), die 
vierte ist Bodmers politischen Schauspielen gewidmet (Gustav Tobler, 
S. 1 IG— 163), in der fünften behandelt Louis P. Betz Bodmers Be- 
ziehungen zur französischen, in der sechsten Leone Donati Bodmers 
Verhältnis zur italienischen, und in der siebenten Th. Vetter die- 
jenigen zur englischen Litteratur, welch* letztere drei Abteilungen den 
grössten Raum des Buches (S. 164 — 386) füllen. Den Schluss bilden 
eine Bibliographie der Schriften Bodmers und der von ihm besorgten 
Ausgaben (S. 387 — 404) und ein Register der Eigennamen. Dem 
Ganzen ist ein reicher und vortrefflich ausgewählter Bilderschmuck 
beigegeben, in dem die Porträts berühmter Zeitgenossen überwiegen; 
gleich zu Beginn findet sich auch ein Faksimiledruck des Titelblatts 
der „Diskurse der Maler“ vom Jahre 1721 mit dem merkwürdigen 
Kupferstich (Maurer mit Schurzfell und Hammer etc.), auf den wir 
in diesen Heften (s. M.H. der C.G. 1898 S. 44) bereits früher hin- 
gewiesen haben. 

Die Zusammenfassung solcher Einzelarbeiten, die ja natürlich 
vielfache Ungleichartigkeiten zeigen, auch Wiederholungen unvermeid- 
lich machen, kann eine aus einem Guss gearbeitete Gesamtdarstellung 
eines seinen Stoff beherrschenden Historikers natürlich nicht ersetzen. 
Indessen hat dieses Zusammenwirken vielleicht den Erfolg gehabt, 
dass ein überaus reiches geschichtliches Material hier zusammen- 
getragen worden ist, das auf alle älteren und neueren Arbeiten auf 
diesem Felde Bezug nimmt und damit für weitere Forschungen eine 
vorzügliche Grundlage liefert. Nicht bloss zur Geschichte Bodmers, 
sondern zur Geschichte aller Zeitgenossen, die mit ihm in Berührung 
traten, ist hier ein reicher Stoff gesammelt worden. L. K. 


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Besprechungen und Anzeigen. 


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Der Katechismus des Johann Amos Comenius. Ein Send- 
schreiben an die evangelischen Glaubensgenossen besonders in Böhmen 
und Mähren. Leipzig, 1900. Verlag der Buchhandlung des Evangel. 
Bundes von Carl Braun. XIII u. 44 S. 8° geheftet. Preis 1 M. 

Das ist der Titel, den der Herausgeber T. O. Radlach (in 
Gatersleben) dem Büchlein gegeben hat, der eigentliche Titel findet 
sich auf S. XIII: „Die uralte ohristliohe katholische Religion 
in kurze Fragen und Antworten verfasset. Für alle Christen- 
menschen, Alt und Jung, seliglich zu gebrauchen. Gedruckt 
in Amsterdam. Im Jahre 1601.“ S. V — XI enthält ein „Vorwort 
des Herausgebers“. Luther hat für die Abfassung seines kleinen 
Katechismus von seiten der böhmisch - mährischen Brüder bedeutende 
Einwirkungen empfangen, es ist daher interessant, seinen Katechismus 
mit dem des Comenius zu vergleichen. Comenius übersandte ihn, 
wie er in der Vorrede sagt, „allen frommen hin und her zerstreuten 
Schäflein Gottes, sonderlich denen von F(ulnek), G(ersdorf), G(asters- 
dorf), K(uhnewalde), K(landendorf), S(tachewalde), S(eitendorf) und 
Z(auchtel)“. Der Herausgeber teilt uns einiges über diese Gemeinden 
mit, wir erhalten als Beigabe zugleich eine Abbildung (Photographie- 
druck) der evangelischen Kirche in Zauchtel, sonst noch ein Bild des 
Joh. A. Comenius selbst (vor dem Titel), dasselbe, das der 2. Auflage 
von Dr. Anton Gindely: „Über des Johann Amos Comenius Leben 
und Wirksamkeit, Znaim 1892“ beigegeben ist, ferner Bilder der 
Comenius -Denkmäler in Prerau und in Fulnek, endlich auf Seite 3 
eine symbolische Darstellung von Glaube, Hoffnung, Liebe, von der 
der Herausgeber nicht sagt, ob sie dem Original entnommen ist. Von 
diesem ist seiner Angabe nach jetzt nur noch ein Exemplar nach- 
weisbar in der Bibliothek des theologischen Seminars zu Gnadenfeld 
in Oberschlesien. Der Abdruck stimmt mit diesem Original überein, 
nur hat sich der Herausgeber die Freiheit genommen, die Orthographie 
und einzelne nicht mehr gebräuchliche Wortformen mit der heutigen 
Schreib- und Sprechweise in Übereinstimmung zu bringen. Vielleicht 
darf dieses Verfahren auf einen grösseren Leserkreis rechnen, da 
immerhin das Studium des Katechismus durch die Schreib- und Sprech- 
weise der damaligen Zeit einigermassen erschwert wird. Es mag ja 
auch an der Probe genug sein, die ich bei dem Neudruck des „IN- 
FORM ATORIUM. Der Mutter Schul. Langensalza 1898“ davon 
gegeben habe. Der Katechismus des Comenius ist nicht bloss wegen 
der darin beobachteten katechetischen Methode interessant, er bietet 
zugleich eine Erklärung zu den im 24. Kapitel der Grossen Unter- 
richtslehre aufgestellten Grundsätzen. Radlach giebt richtig an, dass 
die Überschrift: „Die uralte katholische Religion“ nichts Auffälliges 
habe: Comenius wollte damit der römischen Kirche gegenüber sein 
und aller evangelischen Christen gutes Recht, Glied der wahrhaft 
allgemeinen christlichen Kirche zu sein, zum Ausdruck bringen. Mit 
seiner Dreiteilung: Glaube, Liebe, Hoffnung, lehnte er sich an die 
älteren Katechismen der Waldenser und böhmischen Brüder, sowie 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 5 u. 6. 


den Katechismus Johann Calvins an ; weil er die Leser zugleich in 
die Bibel einführen will, führt er durchweg reichlich Sprüche und 
zwar nach Luthers Bibelübersetzung an, in der Vorrede reiht er 
Spruch an Spruch, ebenso in der letzten Frage, in der bekräftigt 
wird, dass uns die Barmherzigkeit Gottes fröhlich hindurchhilft. 

Auf der Rückseite des Titels findet sich der Wortlaut der 
Sprüche Jer. 6, IG und Pred. Sal. 12, 12, 13. 14., auf den folgenden 
beiden Seiten folgt das schon erwähnte Rundschreiben. Es erinnert 
die Gemeinden daran, dass Comenius bei seinem Abschiede im An- 
schluss an Mich. 7, 14. ff. sie dem Erzhirten Christo empfohlen habe, 
und fügt weitere Mahnungen für die Zukunft hinzu. Wir können 
uns nicht versagen, die schönen Schlussworte daraus anzuführen: 
„Gott, der Vater aller Barmherzigkeit, gebe euch durch seinen Geist 
um Christi willen stark zu sein an dem innerlichen Menschen: damit 
ihr im Gebet anhaltet, in Sünden innehaltet, in Versuchung und 
Trübsal aushaltet, zu Lob seinem Namen und zu eurem ewigen Trost 
in seinem Reich. Amen, Amen, Amen. — Also seufzet für euch 
täglich euer treuer Vorbitter zu Gott, durch Christum den einigen 
Erzhirten J. A. C.“ Comenius hat seinen Namen, ebenso wie die 
der Gemeinden, nur mit den Anfangsbuchstaben bezeichnet, „weil die 
Glaubensgenossen leicht in grosse Gefahr kamen, wenn bei ihnen 
neue evangelische Bücher entdeckt wurden, nachdem ihnen die alten 
abgenommen waren“ (S. VIII). 

Der eigentliche Katechismus beginnt auf S. 5 mit der Über- 
schrift: „Hauptstücke zu wahrem Christentum gehörig. In 

Fragen und Antworten verfasset.“ und giebt als Antwort auf die 
Frage 5 die Stücke an: „Drei vornehmlich: I. Ein rechter Glaube. 

II. Ein frommes Leben. III. Und ein fröhliches Hoffen auf die 
Barmherzigkeit Gottes im Leben und im Sterben. — Kürzlich : 
Glaube, Liebe, Hoffnung: und dass man darin bis ans Ende ver- 
harre, es gehe, wie es wolle.“ I. Vom christlichen Glauben. 
Frage 9 — 34 (S. 6 — 10). 11. Von der christlichen Liebe und 

rechtem Gebrauch des Gesetzes und Evangelii. Frage 35 — 72 
(S. 10 — 17). III. Vom Gebet und Hoffnung der Christen. 
Frage 73 — 115 (S. 17 — 24). Dem folgen noch Fragen 116 — 141 
(S. 24 — 32) unter der Überschrift: „Beschluss: Von der Christen 
Beständigkeit, Geduld, Streit und Überwindung“. Die Seiten 
33 — 38 enthalten 12 schöne Gebete unter der Überschrift: Wie die 
Eltern ihre Kindlein zu diesen gefährlichen Zeiten sollen 
zu Gott halten und stets beten lehren (Ps. 8, 3. 22, 31. 32.). 
Das Ganze schliesst ab S. 39 — 44 als: „Kurze Erinnerung, wie 
man von allem, was einem durchs ganze Leben vorkommt, 
gute Gedanken schaffen kann und soll, sich dadurch in 
steter Gottseligkeit zu üben.“ Nach einer allgemein gehaltenen 
Einleitung werden 65 Exempel zu dem Ende angeführt, den frommen 
Christen anzuweisen, wie er stets vor Gott wandeln, in Allem, was 
ihm begegnet, Gott beschauen und sich in göttlicher Liebe, Gehorsam, 


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Besprechungen und Anzeigen. 


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Geduld, .Freude immerdar üben soll; z. B. „9. Siehest du einen 
schönen klaren Tag um dich, sage: Herr, erhebe über uns das Licht 
deines Antlitzes, so freuet sich unser Herz. Ps. 4. 7.“ „10. Regnet 

es heftig, so gedenke an die Sündflut und dass Gott noch das Wasser 
im Meer rufen und auf den Erdboden schütten kann. Arnos 5. 8.“ 
Ich schliesse mit der Angabe dessen, was mir im einzelnen 
aufgefallen ist oder besonders gefallen hat. — Die Antwort auf 
Frage 27. Was hat der zehnte Artikel (der Glaube an die Ver- 
gebung der Sünden) auf sich? lautet: „Dass man an Gott den Vater, 
Sohn, heiligen Geist herzlich glaubet und mit der Kirche Christi treue 
Gemeinschaft hält, demselbigen eine weiland begangene Sünde (oder 
was noch aus Schwachheit anklebet) nicht zugerechnet, sondern be- 
deckt und vergeben werde, um des teuren Verdienstes Christi willen, 
an welchen er glaubt. Das heisst gerechtfertigt sein durch den Glauben 
wie Abraham. 1. Mos. 15, G; Rom. 3, 24. 25. 28 etc.“ Es leidet 
wohl keinen Zweifel, dass das von uns durch kursiven Druck aus- 
gezeichnete „man“ durch „wer“ zu ersetzen ist. Ein Druckfehler im 
eigentlichen Sinne des Wortes scheint es nicht zu sein, vielleicht 
steht es schon so im Original, vielleicht hat der Herausgeber die 
Lettern des Originals falsch gedeutet und einen Lesefehler gemacht, 
eine Möglichkeit, von der ich mich bei Gelegenheit des Neudrucks 
des Informatorium überzeugt habe. — Interessant ist die Beant- 
wortung der 48. Frage über die ersten vier Gebote: Ist aber nicht 
auch von christlichen Geheimnissen allhier etwas zu finden ? „Ja. 
Das erste Gebot gehet eigentlich Gott den Vater an, das andere 
Gott den Sohn, der allein Gottes wesentliches Ebenbild ist, allein 
anzubeten, das dritte Gott den heiligen Geist, welcher, wenn etwas 
Unnützes aus unserm Mund gehet, sonderlich betrübt wird. Ephes. 
4, 29. 30. Das vierte Gebot, den Sabbath heiligen, begreift die 
Ehre der ganzen Gottheit in sich, dadurch wir durch und durch ge- 
heiligt werden an Leib, Seele und Geist. 1. Thess. 5, 23.“ Ebenso 
die Erklärung der göttlichen Geheimnisse der anderen Gesetztafel in 
der Antwort auf die 50. Frage. „1. Denn Vater und Mutter soll 
man ehren, weil sie anstatt des ewigen Vaters sind. 2. Einen 
Menschen soll man nicht töten, weil er zu Gottes Bild gemacht ist. 

1. Mos. 9, 6. 3. Den Leib soll man rein und keusch halten, weil 

er des heiligen Geistes Tempel ist. 1. Kor. G, 19. Wiederum, 4. 
niemand soll mau befehlen, weil wir alle des himmlischen Vaters 
Kinder sind, der uns alle versorget, wenn wir nur in unserm Beruf 
bleiben. 5. Niemand soll man belügen, weil wir alle Brüder und 
Schwestern Christi, in dessen Mund kein Betrug zu finden (1. Petri 

2, 22.), sind. G. Endlich sollen auch die Gedanken in Schranken 
gehalten werden, zu Ehren Gott dem h. Geiste, der in uns wohnet 
und die Frucht davon ist die Liebe, Freude, Friede etc. Gal. 5, 22.“ 
Ebenso interessant ist die Beantwortung der 51. Frage: Hat denn 
Gott nichts befohlen, wie sich ein Mensch gegen sich selbst verhalten 
soll ?, die wir einem jeden recht zu beherzigen empfehlen : „Sich selbst 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 5 u. 6. 


lieben, ist allen Menschen von Natur eingepflanzet, man darf niemand 
dazu vermahnen, nur unterweisen, wie er darinnen gebührend Mass 
halten soll, wie es Gott gethan, indem er gesagt, du sollst deinen 
Nächsten lieben als dich selbst. Denn hiermit wird geboten, 
dass all dasjenige, was wir andern Menschen zu thun schuldig sind, 
erstlich uns selbst thun sollen. Nämlich, 1. uns selbst in Ehrbar- 
keit halten, 2. uns selbst nicht töten, welches alle Wagehälse, die 
mit Fressen, Saufen, Balgen und allerlei Vermessenheit ihr Leben in 
Gefahr setzen, thun, 3. uns selbst mit Unkeuschheit nicht besudeln, 
4. uns selbst nicht bestehlen, wie alle Nachlässigen, Faulenzer, Miissig- 
gänger, Prasser und Verschwender thun, 5. uns selbst in kein böses 
Gerücht bringen, 6. auch niemand zum Argwohn von uns oder Miss- 
gunst Ursache geben.“ — Die sieben Bitten des Vaterunser werden 
wie die zehn Gebote in zwei Tafeln geteilt: „Denn die ersten drei 

Bitten betreffen Gottes Ehre, die andern vier unsere menschliche 
Notdurft“. Die drei ersten Bitten gehen die drei göttlichen Personen 
an, wie auch die nächstfolgenden drei (Frage 95). „Denn das täg- 
liche Brot giebt der himmlische Vater seinen Kindern; die Sünde 
auf Erden zu vergeben hat der Sohn Gewalt (Matth. 9, 6.); die 
Einführung in Versuchung und wieder heraus ist des heiligen Geistes 
Werk. Matth. 4, 1. Daneben aber sehen diese anderen drei Bitten, 
als die IV., V., VI., auf die drei Teile des menschlichen Wesens: 
Leib, Seele und Geist.“ Hübsch ist auch die Erklärung der zwei 
Wörtlein, täglich und heut (Frage 99): „Sie zeigen an, dass wir 

dieser Dinge täglich bedürfen und um sie täglich bitten müssen, 
solcher aber nicht allzu übrig, sondern nur zur täglichen Notdurft 
begierig sein sollten.“ Interessant ist die Auseinandersetzung in der 
128. Frage, dass man den Glauben nicht allein bekennen, sondern 
auch thun und beten soll, und das Gebot nicht allein thun, sondern 
auch bekennen und beten, das Gebet aber nicht allein beten, sondern 
auch bekennen und thun soll; ebenso die Darlegung in der 134. Frage, 
dass die menschliche Glückseligkeit in drei Stücken bestehe: I. Wohl 
geboren sein. II. Wohl leben. III. Und wohl sterben. Der ver- 
stattete Raum ermöglicht uns jedoch nicht, noch weiteres anzuführen, 
die angeführten Stellen werden wohl einen jeden, der mit Katechismus- 
unterricht zu thun hat, überzeugen, dass er von dem Besitze und 
Gebrauche des Katechismus des Comenius nur Freude zu haben er- 
warten darf : andere werden jedenfalls noch viele andere Stellen 
eigenartig und vielleicht auch praktisch verwendbar finden. 

Eisenach, im März 1901. C. Th. Lion. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Die Idee der Erlösung bildet einen wesentlichen Teil der Lehre 
Christi. Besonders nachdrücklich tritt dementsprechend dieser Gedanke in 
der altdeutschen Mystik (Deutsche Theologie, Tauler u. s. w.) hervor, wie 
wir dies früher (s. Keller, Johann von Staupitz, Leipzig 1888 ) betont haben. 
Den Weg zur inneren Umwandlung des Menschen erkannten die Mystik 
und alle ihre rechten Nachfolger in der Gelassenheit (wie sie sagten) 
oder in der Beugung unseres Eigenwillens, der Ergebung und Hingabe an 
Gottes Willen, auch im Leiden, wie es Christus selbst zum Kennzeichen 
seiner rechten Jünger gemacht hatte. Wer in diesem Sinne den Weg 
Christi geht und das Leiden Christi sich aneignet, dem w T ird die Hilfe 
Gottes (die Gnade) zuteil werden und durch die Vereinigung der Seele mit 
Gott wird das Werk der Erlösung aus menschlicher Unvollkommenheit 
und Sünde sich vollziehen. So entsteht iin Menschen eine Umwandlung, 
deren Natur und Wesen für uns ein Geheimnis ist. Durch Gnade und 
Gelassenheit, die letztere auf Seite des Menschen, die erstere auf Gottes 
Seite, erringt die Seele ihre Befreiung und ihr Heil. Sonstige „Werke“ oder 
„Verdienste“, durch welche die Erlösung oder die Seligkeit erworben wird, 
kennt die altdeutsche Mystik im Anschluss an die Evangelien nicht. So 
hören Leistung und Verdienst, Lohn und Strafe, Furcht und Hoffnung auf, 
die leitenden Beweggründe menschlichen Thuns zu sein, wie sie es in den 
Religionen des Heidentums und Judentums waren. 


Die jungen christlichen Gemeinden richteten ihr Augenmerk zunächst 
ausschliesslich auf die Lehre und die Person Jesu Christi. Die „Herren- 
worte“ (wie es in den altchristlichen und altevangelischen Gemeinden aller 
Zeiten heisst) waren die Richtschnur ihres Glaubens und Handelns und seine 
leidenswillige Ergebung für die, die mit dulden, der Weg der Erlösung und 
der Trost im Sterben. Diesen Bürgschaften gegenüber traten die heiligen 
Schriften der Juden anfänglich vollkommen zurück; ja, wir wissen, dass sie 
den altchristlichen Gemeinden, mit Ausnahme der Propheten und der Psalmen, 
sogar als verdächtige Quellen galten. Männer wie Origenes, ja selbst noch 
Hieronymus, wollten dem Alten Testament kein normatives Ansehn zu- 
gestehen ; die meisten Gnostiker verwarfen es ganz und gar. Mit seiner 
Annahme begann eine neue Epoche der christlichen Entwicklung. Der 
Mann, der das meiste für die Durchsetzung dieser Änderung gethan hat, 
ist Paulus: „er hat die historische Denkweise und die Traditionen des Alten 
Testaments zu einem integrierenden, bleibenden Bestandteil des Christen- 


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188 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 5 u. 6. 


tums gestempelt“ (Chamberlai n). Und noch mehr: Durch die Verschmelzung 
des Alten Testaments mit den „heiligen Büchern“ der Christen nahmen 
letztere einen ganz veränderten Charakter an: das Alte Testament waj ge- 
offenbarte Wahrheit, konnte dessen anderer Teli einen anderen Charakter 
besitzen? So ward allmählich, ähnlich wie es beim alten der Fall gewesen 
war, eine plan massige Zusammenstellung des neuen Kanons nötig, die dann 
wie man weiss von den Konzilien auch vollzogen ward, mit der Massgabe 
freilich, dass bei dem verschiedenartigen Ursprung der einzelnen Teile ihre 
Arbeit Stückwerk bleiben musste, deren Lücken man durch die Schaffung 
neuer Autoritäten auszufüllen gesucht hat. Und wie hat sonst die An- 
knüpfung an das Alte Testament gewirkt? Der Buchstabenglaube, der 
Glaubenszwang, der Fanatismus der Weltkirche haben ihre Wurzeln in den 
alten Gesetzbüchern, die man zu wesentlichen Bestandteilen der christlichen 
Überlieferungen gemacht hat. 

Der Kaiser Gratian (375 — 383) ist es gewesen, der zuerst den Be- 
griff der Orthodoxie im Sinne der römischen Weltkirche aufgestellt hat. 
Diese Orthodoxie wurde im Sinne des römischen Rechts zur staatlichen An- 
gelegenheit; wer nicht orthodox war, verlor sein Staatsbürgerrecht. Der 
Kaiser Theodosius (f 305) war es dann, der jeden anderen Glauben, als 
den von ihm zur Staatsreligion erklärten, als Sekte und Häresie erklärte 
und verbot: alle Kultstätten und Kirchen des Reichs wurden zu Gunsten 
der römischen Kirche konfisciert. Auf der Abweichung von dem römischen 
Glauben stand die Todesstrafe; diese Abweichung galt juristisch als Majestäts- 
verbrechen. — War das noch derselbe Glaube Christi, der die Toleranz als 
ein wesentliches Stück seiner Lehre betrachtete? 


In dem grossen Wandlungsprozess, den die Christenheit seit dem 
3. Jahrhundert vom Bruderbünde zur Weltkirche vollzog, spielt das 
Emporkommen der lateinischen Sprache (statt der griechischen) in der 
kirchlichen Organisation eine ganz erhebliche Rolle. Mit der Einführung der 
lateinischen Sprache in die Dogmatik, traten auch die der Rechtswissen- 
schaft und der Staatslehre entnommenen Begriffe viel schärfer in ihr Recht, 
und vor allen Dingen wurde die griechische Litteratur, die griechische 
Philosophie (Plato, Sokrates) naturgemäss zurückgedrängt. Der Kampf des 
Humanismus gegen das Dogma seit dem 15. Jahrhundert setzt mit dem 
Kampf für die griechische Sprache und Litteratur ein. Es wäre sehr der 
Mühe wert, dieser Sache einmal weiter nachzugehn. 


Wir haben früher an dieser Stelle (s. M. H. der C.G. 1899 S. 273 f.) 
daraufhingewiesen, dass Plato in der Anschauung des Ewigen, die ihm 
mit der Weisheit zusammenfiel, das Ziel alles menschlichen Strebens er- 
kannte; den Weg zu diesem Ziel und gleichsam den Mittler zwischen dem 
Himmel und der Erde, erkannte er in der Liebe. Nun erscheint aber in 
der Kultgenossenschaft der „Akademie“, welche Plato schuf, nicht bloss 
der Dienst der Liebe (des Eros), sondern auch der Dienst der Schönheit 
(Apollos und der Musen) als Ziel und Zweck der Brüderschaft, deren Haupt 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


189 


er war. Wie mag das kommen und welcher geistige Zusammenhang bestand 
zwischen diesen Einrichtungen? Die Antwort auf diese Frage liegt in der 
(früher von uns nicht erwähnten) Thatsache, dass Plato in der Anschauung 
und dem Kult des Schönen (oder der Musen) die beste Führerin zur 
Liebe erkannte; an der Schönheit entzündet sich die Liebe, die Liebe ist 
die Führerin zum Guten und das Gute (und die Tugend) führt uns zur 
Weisheit und zur Anschauung des Ewigen. So liegt im Kult der Musen 
die erste Stufe und im Kult der Liebe (des Eros) die zweite auf der 
Leiter, die zur Weisheit und zum wahren Lichte, der dritten Stufe, empor- 
führt. Diese Stufen muss man im Auge behalten, wenn man manche dunkle 
Ausdrücke in dem Sprachgebrauch der „Akademien“ der späteren Zeiten 
verstehen will. Schon in der Brüderschaft der platonischen Akademie gab 
es Grade (s. M.H. der C.G. 1898 S. 269 ff.), deren Mitglieder unter sich 
einen Verband bildeten. Die „Söhne Apollos und der Musen“ unterschieden 
sich von den übrigen Graden. Es ist möglich, dass Namen wie „Secta 
Heroica“ und „Collegium Lucis“ etc., wie sie bei Comenius Vorkommen, aus 
solchen Unterscheidungen zu erklären sind. 


Wir haben schon früher in diesen Heften darauf hingewiesen, dass 
die Bezeichnungen Hairesis und Secta in altchristlicher Zeit in demselben 
Sinne zur Bezeichnung der christlichen Philosophenschulen, besonders der 
neuplatonischen und gnostischen, gebraucht zu werden pflegten, wie die 
Ausdrücke Schola, Academia, Collegium. Ein Tadel oder ein ge- 
hässiger Beigeschmack wohnte den Ausdrücken in den ersten Jahrhunderten 
nicht bei; Clemens von Alexandrien braucht das Wort „hairesis“ auch noch 
im alten Sinn. Erst seitdem jede Abweichung von dem Glauben, wie er in 
Rom zur Herrschaft gelangt war, als Verbrechen galt und zwar als Ver- 
brechen, das schlimmer war als Mord, Diebstahl und Ehebruch, wurden 
die Namen Hairesis und Secta zu Kennzeichen von Verbrechen. Diesen 
Namen wiederfuhr also das gleiche Geschick, wie dem Namen „Katharer“, 
das ja in der Form der „Ketzer“ bekannt genug ist. Hier ist es Thatsache, 
dass der mächtigste Teil der Nicht -Orthodoxen allen verschiedenartigen 
„Ketzern“ den Namen gab. Ist es da nicht sehr wahrscheinlich, dass bis 
zum Emporkommen der neuen Weltkirche im 4. Jahrhundert auch die 
„Schulen“ der Philosophen (d. h. die Neuplatoniker) die mächtigsten Ver- 
treter des nichtorthodoxen Glaubens gewesen sind? Es zeigt sich immer 
mehr, wie wichtig die Untersuchung der Namen und ihrer Geschichte ist. 


Die Religion der Agrypter, insbesondere der Isiskult, hatte in der 
gesamten antiken Welt, soweit sie unter römischer Herrschaft stand, bis zur 
Aufnahme des Christentums eine ausserordentliche Verbreitung gefunden. 
Beweise dafür liefern die fortgesetzten Entdeckungen, die man an allen Haupt- 
orten des römischen Reichs noch heute macht. Als nun seit dem 4. Jahr- 
hundert alle Bekenner fremder Kulte mit Hilfe der Strafgesetze in die christ- 
liche Kirche hineingezwängt wurden, vollzog sich dieser Wandel nicht ohne 
dass die Isisanbeter starke Elemente (z. B. in der Symbolik und im Kult) 


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190 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 5 u. 6. 


mit in die neue Kirche hinübernahmen — Elemente, die dann später in 
christlichem Sinne umgedeutet und zu christlichen Symbolen gemacht wur- 
den. Wie denn z. B der berühmte Ägyptologe Flinders Petrie (Religion and 
conscience in ancient Egypt 1898) den Nachweis erbracht hat, dass das 

christliche Monogramm ^ ehemals das in Ägypten übliche Symbol des 
„Gottessohnes“ (wie die ägyptische Religion lehrt) Horus gewesen ist. Der 
Kult der Isis, die als Mutter des Gottessohns gedacht war, hatte der Ver- 
ehrung der „Mutter Gottes“ im ganzen römischen Reiche einen breiten 
Boden bereitet, ja dieser Muttergottes -Kult war in vorchristlicher Zeit in 
ganz Italien fast so verbreitet wie später der Madonnenkult. Es ist heute 
nicht mehr zweifelhaft, dass eine sehr starke Einwirkung der ägyptischen 
Lehren und Bräuche auf die römische Weltkirche stattgefunden hat, die 
durch Zwangsgesetze die Isis-Anbeter in ihren SSchooss peitschte. (Man vgl. 
Chamberlain, Grundlagen des 19. Jahrh. Bd. II. 556 ff.) 


In den grossen Kämpfen, die seit 1525 mit Hilfe derjenigen Obrig- 
keiten, welche lutherisch geworden w r aren, gegen ihre bisherigen Mitkämpfer, 
welche nicht lutherisch sein wollten oder konnten (es w’aren dies sowohl die 
Reformierten wie die sog. Wiedertäufer), geführt wurden, ward den letzteren 
vielfach mit sittlicher Entrüstung der Vorwurf gemacht, dass sie sich im 
Geheimen versammelten oder (wie Urbanus Rhegius einmal sagt) „in 
den Winkeln murmelten“. Dieser Vorwurf w r urde von derselben Seite er- 
hoben, die in jedem Falle, wo Öffentliche Versammlungen der Ver- 
folgten stattfanden, die alten Ketzergesetze und ihre furchtbaren Strafen 
über die Teilnehmer verhängten. Wer war also schuld daran, dass die „Sek- 
ten“ sich im Geheimen versammelten? Wer ist es gewesen, der im Laufe 
der Jahrhunderte die „geheimen Gesellschaften 46 grossgezogen hat? Die 
Entrüstung über sie trägt alle Kennzeichen der Heuchelei an der Stirne. 


Wir haben es früher wiederholt als eine ebenso für die deutsche Litte- 
ratur wie für die Geschichte der altevangelischen Gemeinden wichtige Auf- 
gabe bezeichnet, endlich einmal auch die Lieder der sogenannten 
Wiedertäufer zu sammeln, die in grosser Fülle auf uns gekommen sind (vgl. 
M.H. der C. G. 1898. S. 332). Fast aus keiner Lebensäusserung kann man 
den Geist und das Wesen einer Religionsgemeinschaft klarer und sicherer 
erkennen, als aus ihren Liedern. Es ist deshalb mit Freude zu begrüssen, 
dass eins unserer Mitglieder, Herr Privatdozent Dr. Wolkan in Czernowdtz, 
sich entschlossen hat, die Sammlung und Herausgabe dieser seltenen und 
vernachlässigten Gesänge zu übernehmen. Das umfangreiche Buch wird, 
wie wir erfahren, voraussichtlich schon im Herbst 1901 erscheinen. 


Der ausserordentliche Aufschwung des toleranten Protestantismus oder 
jener dritten Haupt- und Grundform des Christentums, die wir als christ- 
lichen Humanismus bezeichnen, wie er sich in Mitteleuropa vom Ende des 
16. Jahrhunderts bis zur Schlacht am weissen Berge (1620) darstellt — 
es ist die Zeit, w ? o die Hohenzollern , das hessische Fürstenhaus, die An- 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


191 


haltiner u. s. w. zur reformierten Kirche übertraten — , beruht auf der 
gewaltigen Niederlage, welche Spanien als katholische Weltmacht in den 
unvergesslichen Kanalschlachten des August 1588 gegen England 
erlitten hat. Damit war die Aussicht auf die Rückgewinnung Englands 
geschwunden und die weltgeschichtliche Epoche dieses Staates stieg herauf. 
Und diese Erfolge brachten dem toleranten Protestantismus seine entschei- 
dende Hilfe, zunächst indem Holland Luft bekam und sich gegen Spanien 
behaupten konnte. Beide Länder, Holland und England, übernahmen die 
geistige Führung des zersplitterten Protestantismus. 


Seit fast zehn Jahren haben wir an dieser Stelle immer wieder die 
Mahnung erneuert, dass die Dokumente der deutschen Geistesgeschichte, 
wie sie in den Schriften gerade der Geistesverwandten des Comenius in 
älteren und neueren Zeiten vorhanden sind, endlich eine grössere Beachtung 
finden möchten, als es bisher der Fall gewesen ist; insbesondere haben wir 
auf die Notwendigkeit verwiesen, eine Gesamtausgabe der Werke von Leibniz 
zu veröffentlichen, die heute ebenso fehlt, wie eine Ausgabe der Schriften 
des Comenius, Val. Andreae, Paracelsus und vieler anderen grossen Männer 
dieser Richtung (s. M. H. der C.G. 1900 S. 59 f.). „Wie schwer“, hat 
H. v. Treitschke schon im Jahre 1875 gesagt, „hat sich doch die Gegenwart 
an diesem Denker (Leibniz) versündigt! Klingt es nicht unglaublich, dass 
unsere gelehrte Nation noch keine Gesamtausgabe seiner Werke besitzt? 
Sollte nicht endlich die Berliner Akademie die Ehrenpflicht 
fühlen, ihrem Stifter das einzig würdige Denkmal zu setzen?“ 
Die Berliner Akademie hat sich diesem Rufe Treitschkes bisher verschlosseii. 
Um so interessanter ist es, dass jetzt das Institut de France (und zwar dessen 
Abteilung für politische und moralische Wissenschaften) bei Gelegenheit des 
ersten Kongresses der „Internationalen Vereinigung der Akademien“, welcher 
am 16. April d. J. zu Paris abgehalten worden ist, beantragt hat, es möge 
diese Vereinigung die Mittel bereitstellen, um die Herausgabe 
der vollständigen Werke des Philosophen Leibniz zu ermög- 
lichen (s. Lit. Centralbl. v. 27. April 1901 Sp. 700). Ob die deutschen 
Akademien jetzt diesem Rufe aus Frankreich mehr Gehör schenken werden? 


Der Reichstag hat im vorigen Jahre 30000 M. und in diesem Jahre 
50000 M. bewilligt, um die älteren deutschen Schulordnungen, Schulbücher, 
Katechismen und sonstige Quellen zur Geschichte des Schulwesens von neuem 
herauszugeben. Das ist gewiss sehr erfreulich und verdient den Dank aller 
Freunde unseres älteren Schul- und Erziehungswesens. Aber ist es nicht 
weit wichtiger und dringlicher, die Quellen zur Entwicklungsgeschichte 
des neuzeitlichen Geisteslebens, insbesondere der Religions- und 
Geistesgeschichte, einmal planmässig zu sammeln und herauszugeben? Wir 
verweisen in dieser Beziehung auf das, was wir eben in Betreff einer Ge- 
samtausgabe der Schriften von G. W. Leibniz gesagt haben. 

Durch Pius IX. und Leo XIII. ist die Philosophie des Thomas von 
Aquino zur offiziellen Philosophie der Kirche erhoben worden: seit der 


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192 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 5 u. 6. 


Encyklika Aetemi Patris vom 4. August 1879 beherrscht sie in allen Priester- 
Seminaren und kirchlichen Lehranstalten als anerkannte Quelle der Weisheit 
den Unterricht (s. M.H. der C.G. 1898 S. 64 f.). Man hat wohl gesagt, 
philosophische Systeme seien Luftgebilde ohne praktische Bedeutung; wenn 
das auf einige Systeme zutreffen sollte, auf Thomas von Aquino trifft es 
jedenfalls nicht zu. Thomas ist es z. B. gewesen, der nach der Überzeu- 
gung seiner Anhänger die Lehre von der Pflicht des weltlichen Arms zur 
Ausrottung der Ketzerei „wissen schaf tlich“ begründet hat. Thomas lehrt 
(Summa II, 2. Quaestio XI, Art. 3): „Circa haereticos duo sunt consi- 
deranda, unum quidem ex parte ipsorum, aliud vero ex parte ecclesiae. Ex 
parte ipsorum est peccatum, per quod meruerunt non solum ab ecclesia 
per excommunicationem separari, sed etiam per mortem a mundo ex- 
cludi. Ex parte autem ecclesiae statim ex quo de haeresi convincuntur, 
possunt non solum excoramunicari sed et juste occidi.“ (M.H. der C.G. 
1894 S. 119). — Wird man der Wiederbelebung dieser Philosophie der 
Intoleranz gegenüber endlich die Notwendigkeit begreifen, auch die Lehren 
derjenigen Philosophen zu erneuern, die die Lehren der Toleranz zuerst 
wissenschaftlich begründet haben, die Philosophie des Comenius, Leibniz, 
Pufcndorf und Thomasius? 


Der Kampf für die Toleranz, welchen die Kurfürsten und Könige 
Preussens seit dem Übertritt Johann Sigismunds zum reformierten Glauben 
(1614) aus Gewissensüberzeugung geführt haben, hat zugleich für das „Re- 
tablissement“ des an Menschen wie an Geldmitteln armen und durch den 
30 jährigen Krieg noch mehr verarmten Landes ausgezeichnete Wirkungen 
gehabt. Die planmässige Aufnahme von Glaubensflüchtlingen in 
Branden bürg- Preussen beginnt in den Jahren, wo Comenius an der Spitze 
zahlreicher flüchtiger Brüder aus Böhmen in Berlin war; sie setzt sich dann 
durch das ganze Jahrhundert fort und erreicht ihren Höhepunkt nach 1685 
und dann wieder nach 1732, wo König Friedrich Wilhelm I. etwa zwanzig- 
tausend Salzburger bei sich aufnahm. Es war ein hervorragendes Werk, 
das damit vollendet ward, ein Werk, das in gleicher Weise der religiösen 
Freiheit, wie dem proussischen Staate, vor allem auch der Befestigrung des 
Deutschtums in den Ostmarkeu zu statten kam. Mit Recht nennt Schmoller 
die Ansiedelung der Salzburger ein „sozialpolitisches Meisterwerk“ (Die 
preussische Kolonisation etc. S. 16), aber sie w r ar auch eine mit vollem Be- 
wusstsein vollzogene nationale That. Denn der König, der zwar eifrig be- 
flissen war, ohne Rücksicht auf nationale Verschiedenheiten, den Flüchtlingen 
die Thore seines Landes zu öffnen, war doch fest entschlossen, auf den Grenz- 
marken gegen Polen nur Deutsche anzusiedeln. Daher rührt sein denkwür- 
diger Befehl, dass für diese Gegenden „bei Leib- und Lebensstrafen keine 
Polen, sondern lauter deutsche Leute“ angesiedelt werden sollten. 


Eduard Zeller bemerkt in seinen „Vorträgen und Abhandlungen ge- 
schichtlichen Inhalts“ sehr richtig (S. 134), dass seit etwa 1715 die Philo- 
sophie von Christian Wolff die Geister in Deutschland mit einer Macht be- 
herrscht hat, „wie sie von den späteren Systemen höchstens das Kantische 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


' 193 


in ähnlicher Weise gehabt hat“. Zu diesen Erfolgen haben seine kirch- 
lichen Gegner sehr viel beigetragen; zunächst wurde er, der Anhänger von 
Leibniz, bekanntlich von der lutherischen Orthodoxie aus Kursachsen ver- 
trieben; dann gelang es seinen Feinden, dem Könige Friedrich Wilhelm I. 
die Idee beizubringen, dass die Philosophie des Haller Professors die mili- 
tärische Disziplin untergrabe und es folgte die berüchtigte Kabi- 
netsorder vom 8. November 1723, die Wolff „bei Strafe des Stranges“ aus 
Preussen verwies. Damit war sein Ruf vollends begründet; welches aber 
waren die Kreise, auf die Wolff sich allen Feinden gegenüber zu stützen 
vermochte ? 


Die Vertreibung der Salzburger Protestanten, und der Zug 
dieser zwanzigtausend Glaubensflüchtlinge durch Deutschland, der sich in 
vielen Gegenden zu einem Triumphzuge für die armen Leute gestaltete 
(1732) und das Volksgemüt auf das tiefste erregte, hat in der Geschichte 
des deutschen Geisteslebens in einer Richtung Epoche gemacht, wie es die 
Anstifter dieser Austreibung keineswegs erwartet oder vorausgesehen haben. 
Die Früchte der Intoleranz traten vielen Hunderttausenden in einer solchen 
Deutlichkeit vor ihr geistiges und selbst vor ihr leibliches Auge, dass die 
Vertreter des Toleranzgedankens, wie sie in den „geheimen Gesellschaften“ 
organisiert waren, von da ab ungeahnte Schaaren von Freunden und An- 
hängern fanden; kein Ereignis, selbst der Anschluss Friedrichs des Grossen 
nicht, hat die Ausbreitung der * „Sozietät der Freimaurer“ in der ganzen 
Welt mehr gefördert, als die Wahrnehmung, welches Elend durch den Glau- 
benshass erzeugt werden kann. Besonders bemächtigte sich auch innerhalb 
der katholischen Welt aller derer, die dem Toleranzgedanken anhingen, die 
berechtigte Besorgnis ähnlicher Vergewaltigung, und so entstand über die 
Grenzen der Konfessionen hinaus das Gefühl, dass vor der Macht der inter- 
nationalen Organisation der römischen Kirche nur eine grosse interkonfessio- 
nelle und internationale Gegen-Organisation einen gewissen Schutz gewähren 
könne. Zorn, Mitleid und Furcht machte die Herzen der Grossen wie der 
Kleinen bereit und opferwillig und es entstand ein Gemeingefühl, das der 
Schaffung einer Organisation die Wege geebnet hat. Endlich trat der ge- 
rade in protestantischen Kreisen seit zweihundert Jahren wuchernde Partei- 
hader, das Theologengezänk und der Dogmenstreit so weit zurück, dass für 
eine grosse und mächtige Organisation die Bahn frei wurde. In demselben 
Augenblick, wo der Pietismus der Wucht der orthodoxen Angriffe erlag 
und in die Rolle einer Sekte gedrängt ward, erhob sich jener Menschheits- 
bund der Freimaurer, der durch alle Angriffe seiner Gegner lediglich grösser 
und mächtiger werden sollte. 

Im 18. Jahrhundert war das Andenken an einen der ersten deutschen 
Schriftsteller und Historiker, an Sebastian Franck, so gut wie völlig er- 
loschen. Der erste einflussreiche Deutsche, der die Aufmerksamkeit wieder 
auf ihn lenkte, war merkwürdiger Weise G. E. Lessing. In Lessings Col- 
lectaneen, hrsg. v. Maltzahn, Lpz. 1857, Bd. XI, 2 S. 325—339, giebt ersterer 
Auszüge aus Seb. Francks Sprüchwörter-Sammlung, die im 16. Jahrhundert 


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194 


.Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 5 u. 6. 


viel gelesen, später aber verschollen war. Auf welchem Wege ist Lessing 
mit Francks Schriften bekannt geworden? 


Im Jahre 1781 gab LessingB Freund, Friedrich Nicolai in Berlin, 
unter sorgfältiger Verhüllung der Autorschaft und des Verlagsortes — auf 
dem Titelblatte steht: Regensburg 1681 — folgenden Traktat heraus: „Geist- 
licher Diskurs und Betrachtung, was für eine Gottseligkeit und Art der 
Liebe erfordert wird“; er erschien in einem Bande mit den angeblichen 
Rosenkreuzer-Schriften „Fama Fraternitatis“ und der „Allgemeinen und Ge- 
neralreformation“, die ja bekannt genug sind. Der „Geistliche Diskurs“ des 
Jahres 1781 war ein Neudruck des im Jahre 1618 unter gleichem Titel er- 
schienenen Traktats, der keinen Verfasser namhaft machte. (Die Ausgabe 
von 1618 wird genau beschrieben von G. Kloss, der sie unter Nr. 2538 
in seine Bibliographie der Freimaurerei aufgenommen hat.) Sieht man nun 
näher nach, so erkennt man, dass der „Geistliche Diskurs“ zwei Traktate 
enthält und zwar erstlich eine Bearbeitung der Schrift Joh. Dencks „Von 
der wahren Liebe“ (1527) und der Schrift des sog. Wiedertäufers Christian 
Endtfelder „Von wahrer Gottseligkeit“ (1530). Wie kommt Friedrich 
Nicolai dazu, diese Wiedertäufer-Schriften von neuem heraus- 
zugeben? (Näheres bei L. Keller, Die Reformation etc. Lpz. 1885, S. 470.) 


Die Bedeutung, welche der Freund Friedrichs des Grossen und Her- 
ders Graf Wilhelm von Schaumburg-Llppe (1724—1777) für die Förderung 
der deutschen National- Li tteratur des 18. Jahrhunderts gewonnen hat, ist 
bei weitem noch nicht genügend gewürdigt, jedenfalls nicht genügend be- 
kannt geworden. Zur Klarstellung des Sachverhalts wäre es erwünscht, 
wenn die Urteile der Zeitgenossen über diesen merkwürdigen Mann 
einmal gesammelt und veröffentlicht werden könnten. Es würde sich dann 
in überraschender Weise heraussteilen, in welchem Umfange der Geist dieses 
Mannes das Werden und Wachsen der grössten Epoche unserer Litteratur 
angeregt und befruchtet hat. Hinter den überragenden Verdiensten des 
Weimarschen Hofes sind diejenigen der kleinen Residenz zu Bückeburg 
allzustark zurückgetreten; und doch waren die Aufgaben der Anfangszeit 
seit 1765 viel schwieriger, als die der grossen Weimarschen Epoche. 




Buchdruckerei toü Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Die Comenius-Gesellschaft 

zur Pflege der Wissenschaft und der Volkserzieliung 

ist am 10. Oktober 1891 in Berlin gestiftet worden. 


Mitgliederzahl 1901: rund 1200 Personen und Körperschaften. 

^ 

Gesellschaftsschriften : 

1. Die Monatshefte der C.-G. Deutsche Zeitschrift zur Pflege der Wissenschaft 
im Geiste des Comenius. Herausgegeben von Ludwig Keller. 

Band 1—9 (1892—1900) liegen vor. 

2. Comenius-Blätter für Volkserziehung. Mitteilungen der Comenius-Gesellschaft 

Der erste bis achte Jahrgang (1893 — 1900) liegen vor. 

3. Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. Zwanglose Hefte zur Ergänzung der 
M.-H. der C.-G. 

Der Gesamtumfang der Gesellschaftsschriften beträgt jährlich etwa 32 Bogen Lex. 8°. 


Bedingungen der Mitgliedschaft: 

1. Die Stifter (Jahresbeitrag 10 M.; 12 Kr. österr. W.) erhalten die M.-H. der C.-G. 
und die C.-Bl. Durch einmalige Zahlung von 100 M. werden die Stifterrechte 
von Personen auf Lebenszeit erworben. 

2. Die Teilnehmer (Jahresbeitrag 5 M. ; G Kr. österr. W.) erhalten nur die Monats- 
hefte; Teilnehmerrechte können an Körperschaften nur ausnahmsweise verliehen 
werden. 

3. Die Abteilungsmitglieder (Jahresbeitrag 3 M.) erhalten nur die Comenius- 
Blätter für Volkserziehung. 


Anmeldungen 

sind zu richten an die Geschäftstelle der C.-G-, Berlin NW., Bremerstr. 71. 


Der Gesamtvorstand der C.-G. 

Vorsitzender: 

Dr. Ludwig Keller, Geheimer Staatsarchivar und Geheimer Archiv-Rat, in Berlin-Charlottenburg, 

Berliner Str. 22. 

Stellvertreter des Vorsitzenden: 

Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath, M. d. R., Schloss Amtitz (Kreis Guben). 

Mitglieder : 

Prediger D. Dr. Th. Arndt, Berlin. Direktor Dr. Begemann, Charlottenburg. Prof. W. Bötticher, Hagen 
tWestf.) Stadtrat a. D. Herrn. Heyfelder, Verlagsbuchhändler, Berlin. Prof. Dr. Hohlfeld, Dresden. 
M. Jabionski, General-Sekretär, Berlin. Israel, Oberschulrat a. D., Dresdcn-Blasewitz. W. J. Leendertz, 
Prediger, Amsterdam. Prof. Dr. Nesemann, Lissa (Posen). Seminar-Direktor Dr. Beber, Bamberg. Dr. 
Bein, Prof, an d. Universität Jena. Hofrat Prof. Dr. B. Suphan, Weimar. Uni v. -Professor Dr. von Thu- 
dichum, Tübingen. Prof. Dr. Waetzoldt, Geh. Reg.-Rat u. Vortragender Rat im Kultusministerium, Berlin. 
Dr. A. Wemicke, Direktor der städt. Oberrcalschule u. Prof. d. techn. Hochschule, Braunschweig. Weyd- 
mann, Prediger, Crcfeld. Prof. Dr. Wolfstieg, Bibliothekar des Abg.-H., Berlin. Prof. D. Zimmer, Direktor 
des Ev. Diakonie-Vereins, Berlin-Zehlendorf. 

Stellvertretende Mitglieder : 

Lehrer B. Aron, Berlin. J. G. Bertrand, Rentner, Berlin-Südende. Pastor Bickerich, Lissa (Posen). 
Dr. Gustav Diercks, Berlin-Steglitz. Prof. H. Fechner, Berlin. Bibliothekar Dr. Fritz, Charlotten bürg. 
Geh. Regierungs-Rat Gerhardt, Berlin. Prof. G. HamdorfF, Malchin. Oberlehrer Dr. Heubaum, Berlin. 
Univ.-Prof. Dr. Lasson, Berlin-Friedenau. Diakonus K. Mämpel, Eisenach. Univ.-Prof. Dr. Natorp, 
Marburg a./L. Bibliothekar Dr. Nörrenberg, Kiel. Rektor Bissmann, Berlin. Landtags-Abg.v. Sehen cken- 
dorff, Görlitz. Archivar Dr. Schuster, Charlottenburg. Slamenfk, Bürgerschul-Direktor, Prerau. Univ.- 
Prof. Dr. H. Suchier, Halle a. S. Univ.-Prof. Dr. Uphues, Halle a. S. Oberlehrer W. Wetekamp, 

M.d.A.-H., Breslau. 

Schatzmeister : Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse. 


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Aufträge und Anfragen a > Aufnahmebedingungen: 

sind zu richten an £111701 0*011 gespaltene Nonpareillezeilc oder 

R. Gaertners Verlag. II. lleyfeldcr, fl| iLviwivI la deren Raum 20 Pfg. Bei grösseren 
Berlin SW., Schönebcrgerstrassc 2t>. O Auftrügen ent sprechende Ermässigung. 

R. Gaertners Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW. 

Soeben erschienen: 

Jahresberichte 

der 

Geschichtswissenschaft 

im Aufträge 

der 

Historischen Gesellschaft zu Berlin 

herausgegeben 

von 

E. Berner. 

XXII. Jahrgang 
1899 . 

Lexikon-Oktav. 30 Mark. 


Erschienen sind ferner: Jahrgang 1878 12 M., 1879 16 M., 
1880 16 M, 1881 18 M, 1882 22 M., 1883 22 M., 1884 26 M., 

1885 24 M, 1886 25 M., 1887 24 M., 1888 30 M., 1889 30 M., 

1890 30 M., 1891 30 M, 1892 30 M., 1893 30 M, 1894 30 M., 

1895 30 M., 1896 32 M, 1897 30 M., 1898 30 M. 

Die ersten 20 Jahrgänge LS 7 8 — 1897, Ladenpreis 507 Mark, 
sind zusammen zu dem entlässt gten Preise von 300 Mark 
zu beziehen. 

Handbuch zu Litteraturberichten. 

Im Anschluss an die Jahresberichte der Geschichtswissenschaft 

bearbeitet von J. J&StrOW. 

Gr. 8°. Preis 8’ Mk. 

Buchdruckerei von Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Herausgegeben von Ludwig Keller. 


1CHAFT. 


Zehnter Band. 

Siebentes und achtes Hert, 

September — Oktober 1001. 


Berlin 1901 


PI. Gaertners Verlagsbuchhandlung 
Hermann Heyfelder. 

SW. Schönebergerstrasse 26. 


Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark, 


Alle Rechte Vorbehalten 


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Inhalt 

des siebenten und achten Heftes 190 1. 


Abhandlungen, seit© 

Ludwig Keller, Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe und die 

Anfänge des Maurerbundes in England, Holland und Deutschland 195 
Theobald Hermann, Immanuel Kant und die moderne Mystik. Ein 

Vortrag 231 

Ein altchristliches Glaubensbekenntnis von W 244 

Besprechungen und Anzeigen. 


Fürstenau, Herrn., Johann von Widifs Lehren von der Einteilung der Kirche etc. (O. Giemen). — 

Ernst Fr. Wyneken , Das Ding an sieh und das Naturgesetz der Seele (II. Romundt). — 
RealcncyklopiUlie für protest. Theol. und Kirche Bd. IX (Keller). - Ad. Langguth, Die 
Bilanz der akademischen Bildung (Keller) 249 

Nachrichten und Bemerkungen. 

Über den Begriff des Wortes Weltanschauung. -- Ülwr «las Wesen des Glaubens. — ülwr die Idee der 
Persönlichkeit und Freiheit und ihre Geschichte. — Über die Würdigung von Religion und 
Kirche als innersten Rades im Uhrwerk nationalen Lettens. — Neuen? Urteile über Luther 
und sein Werk. — Das Zeitalter der Entdeckungen und der Humanismus. — Schillers Stellung 
zur christlichen Religion. — Weitherzigkeit und Toleranz innerhalb der Kultgcnossenschaft 
der älteren Akademien. — Eine Preisangabe der Gesellschaft für Rheinische Geschichts- 
kunde. — Goethes patriotisches Festspiel. — Bodmers Einfluss auf Pestalozzi 2.>4 


Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.-G., Geheimen Archiv- 
Rat Dr. Ludw. KeUer, Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten. 

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen monatlich (mit Ausnahme des Juli 
und August). Die Ausgabe von Doppelheften bleibt Vorbehalten. Der Gesamt- 
umfang beträgt vorläufig 20 — 25 Bogen. 

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre Jahresbeiträge; falls die 
Zahlung der letzteren bis zum 1. Juli nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur 
Erhebung durch Postauftrag unter Zuschlag von GO Pf. Postgebühren berechtigt. 
Einzelne Hefte kosten 1 Mk. 25 Pf. 

Jahresbeiträge, sowie einmalige und ausserordentliche Zuwendungen bitten 
wir an das Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse zu senden. 

Bestellungen übernehmen alle Buchhandlungen des In- und Auslandes 
und die Postämter — Postzeitungsliste Nr. GG55. 

Für die Schriftleitung verantwortlich: Geheimer Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller. 


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Monatshefte 



Comenius-Gesellsehaft. 

X. Band. 1901. Heft T u. 8. 


Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg- Lippe 
und die Anfänge des Maurerbundes in England, Holland 
und Deutschland. 

Von 

Ludwig Keller. 

In einem besonders schonen Kapitel von Dichtung und 
Wahrheit hat Goethe dem Fürsten ein Denkmal gesetzt, der 
als erster unter den regierenden Häuptern des Reichs der deut- 
schen Litteratur und ihren Vertretern ein werkthätiger Förderer 
geworden ist und der, wie Goethe sagt, anderen deutschen Für- 
sten darin ein Beispiel gab, das Nachfolge weckte, nämlich dem 
Grafen Wilhelm von Schaumburg-Lippe (1724 — 1777), der 
als Freund Herders, Thomas Abbts, Gleims, Jacobis und als Er- 
zieher unseres grossen Scharnhorst bekannt geworden ist 

Aus Goethes Darstellung leuchtet der tiefe Eindruck hervor, 
den die eigenartige Persönlichkeit des Mannes selbst auf ferner 
stehende Mitlebende gemacht hat. Auf dem Hintergründe der 
grossen militärisch-politischen Kämpfe, an denen Graf Wilhelm 
seit dem Beginn des siebenjährigen Krieges beteiligt war, hob sich 
die markige Gestalt dieses Fürsten kräftig ab und die vielfachen 
biographischen Aufzeichnungen, die wir aus der Feder hervorragen- 
der Schriftsteller der nachfolgenden Jahrzehnte besitzen, beweisen, 
dass seine Thaten sich dem Gedächtnisse seiner Landsleute weit 
über die schaumburgischen Lande hinaus tief eingeprägt haben. 

Es ist begreiflich, dass hinter dem Ruhme des Sohnes der- 
jenige des Vaters, des Jugendfreundes Friedrichs des Grossen, 
des Grafen Albrecht Wolfgang (1699 — 1748), einigermassen 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. i •-* 


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196 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


zurückgetreten ist. Aber kein unbefangener Betrachter, der dem 
Zusammenhang der Dinge genauer nachgeht, kann sich der Einsicht 
verschliessen, dass der Vater an geistiger Bedeutung hinter dem 
Sohne nicht zurücksteht, und dass der Ruhm des Grafen Wilhelm 
zum teil auf den Errungenschaften Albreeht Wolfgangs beruht 
Nicht nur hat letzterer dem Sohne durch seinen Vorgang die 
Wege gezeigt, er hat sie ihm auch geebnet. Insbesondere sind 
die wertvollen Beziehungen zum Hause Hohenzollern wie zum 
Hause Hannover, die Graf Wilhelm vorfand, durch den Vater 
begründet worden. Und wenn Graf Wilhelm sich die Förderung 
„geistreicher und vielversprechender Männer“, wie Goethe sagt, 
zur fürstlichen Pflicht machte, so folgte er auch darin nur dem 
Beispiele, das ihm sein weitschauender Vater gegeben hatte: die 
Wertschätzung jedes wahren Verdienstes, gleichviel in welchem 
Stande oder Gewände er dessen Träger vorfand, hatte Graf 
Wilhelm von dem Vater gelernt, der von den Grundsätzen echter 
Humanität tief durchdrungen war, wie sie in seiner reinen Seele 
auf dem Grunde einer ernsten Religiosität gereift waren. 

Das alte Dynastengeschlecht der Grafen von Schaumburg 
hatte nach der Erbauung des gleichnamigen Schlosses im Weser- 
thale bei Rinteln unter Adolf I. (um 1030) in den Händeln des 
Reichs sich eine so mächtige Stellung erworben, dass Kaiser 
Lothar sich etwa hundert Jahre später entschloss, das Haus durch 
die Belehnung mit den Grafschaften Holstein und Stormarn 
in sein Interesse zu ziehen. Fast zwei Jahrhunderte blieben diese 
Länder ungeteilt in der gleichen Linie des Hauses Schaumburg, 
das sich dadurch in die Reihe der grossen Fürstengeschlechter 
des Reiches erhob. Die Geschicke sowohl der reichen schaum- 
burgischen Lande an der Weser wie die Holsteins nebst Hamburg 
und Lübeck blieben von da an viele Jahrhunderte hindurch eng 
mit der Geschichte dieses Geschlechts verbunden und das Wappen- 
schild mit dem schaumburgischen Nesselblatt wurde für Freund 
und Feind ein geachtetes und gefürchtetes Wahrzeichen. Die 
Grafen und Herzoge dieses Stammes haben mit Glück und Geschick 
die Grenzwacht gegen die Slaven und Dänen gehalten und weite 
Gebiete der deutschen Kultur neu erschlossen. Mit gutem Grunde 
hat die Stadt Hamburg dem Grafen Adolf IV. in ihren Mauern 
ein Denkmal gesetzt zur Erinnerung an die siegreichen Schlachten, 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 197 

durch die dieser Fürst sein Land dauernd der fremden Herrschaft 
entrissen hat. Einer seiner Nachkommen, Adolf VIII., Graf von 
Holstein und Herzog von Schleswig, erzwang im Jahre 1435 die 
Belehnung mit Schleswig und hätte im Jahre 1448 die ihm an- 
gebotene Königskrone von Dänemark erlangen können, wenn er 
es nicht vorgezogen hätte, seinem Neffen diese Würde zuzu wenden. 
Die Grafschaft Schaumburg war inzwischen in den Besitz einer 
Nebenlinie übergegangen, deren Glieder mit Ernst III. im Jahre 
1619 durch Kaiser Ferdinand II. in den Reichsfürstenstand erhoben 
wurden. Indessen erlosch mit dem Tode Ottos V. von Sehaumburg 
(f 1640) der Mannesstamm dieser Linie, und dessen Mutter Elisa- 
beth, eine Tochter des Grafen Simon zur Lippe, ernannte ihren 
Bruder, den Grafen Philipp zur Lippe (1601 — 1681), im Jahre 
1643 zu ihrem Erben. Im westfälischen Frieden kam es zu einer 
Teilung der schaumburgischen Lande, bei der Philipp etwa die 
Hälfte der ehemaligen Besitzungen mit Bückeburg als Hauptstadt 
empfing und diese dann mit seinen älteren Besitzungen Lipperode 
und Alverdissen vereinigte. Als Philipp im Jahre 1681 starb, 
erhielt sein ältester Sohn Friedrich Christian die Grafschaft 
und sein zweiter Sohn Philipp Ernst Alverdissen. Ersterer 
wurde der Stammvater der im Jahre 1777 erloschenen, letzterer 
der jetzt regierenden Linie des alten Fürstengeschlechts. 

Schon seit dem 17. Jahrhundert sehen wir die regierenden 
Mitglieder des lippischen Hauses an den grossen Kämpfen, zumal 
den religiösen, welche die Zeit bewegten, stark beteiligt und es 
scheint, dass die Verwandtschaft, welche die Grafen mit grossen 
reformirten Fürstenhäusern verband — Friedrich Christian war 
der Enkel des Landgrafen Moritz von Hessen durch dessen Tochter 
Sophie (f 1670) — in dieser Richtung nicht ohne Bedeutung ge- 
wesen ist. Gi*f Friedrich Christian galt unter den fürstlichen 
Standesgenossen als ein gelehrter Mann und wir wissen, dass er 
ebenso wie sein Sohn lind sein Enkel eine besondere Vorliebe 
für die technischen und mathematischen Wissenschaften besass, die 
er im Verkehr mit den Lehrern der Universität Rinteln, zumal mit 
dem Mathematiker Professor Dr. Wigand Kahler, pflegte. Ehe 
er im Jahre 1681 die Regierung der Grafschaft übernahm, hatte 
er grössere Reisen gemacht und in der Schweiz, wo er sich auf- 
hielt, Beziehungen zu französischen Reformirten angeknüpft, die 
in ihm den Entschluss reifen Hessen, sein Land den flüchtigen 

13 * 


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198 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


Hugenotten zu öffnen; im Jahre 1692 ward in Bückeburg eine 
französisch-reformirte Gemeinde begründet A ), und der Prinz, dem 
die Lande zufallen mussten, der am 27. April 1699 geborene Graf 
Albrecht Wolfgang, wurde von dem französischen Prediger 
dieser Gemeinde getauft. 

Zerwürfnisse, welche zwischen Friedrich Christian und seiner 
Gemahlin Johanna Sophie (+ 1743), einer Tochter des Grafen 
Heinrich Friedrich von Hohenlohe-Langenburg, 2 ) ausbrachen, 
führten im Jahre 1702 zu einer dauernden Trennung der Ehe- 
gatten. 

Die Gräfin verliess mit ihren beiden jungen Söhnen Albrecht 
Wolfgang und Friedrich Bückeburg und lebte von da ab bis zum 
Tode ihres Mannes unter schwierigen Verhältnissen an verschie- 
denen Fürstenhöfen. Sie scheint zuerst in Hannover am Hofe 
des Kurfürsten Ernst August und seiner Gemahlin Sophie (1630 
bis 1714), der bekannten Tochter des Winterkönigs Friedrichs V 
von der Pfalz und der Elisabeth Stuart, eine Zuflucht gefunden 
zu haben. Erzieher der jungen Grafen wurde um das Jahr 1703 
der kluge und kenntnisreiche Wilhelm Heinrich Thulemeier 
(1683 — 1740), der nachmalige Leiter der auswärtigen Politik 
Preussens, der den vaterlosen Prinzen stets ein treuer Berater 
geblieben ist Am hannoverschen Hofe, der durch den Geist 
Sophiens und Leibnizens seine philosophisch -religiöse Rich- 
tung empfing, erhielt das empfängliche Gemüt des hochbegabten 
Knaben die ersten Eindrücke; Albrecht Wolfgang ward hier von 
dem reformirten Prediger N ölte nius, dem späteren Professor der 
Theologie in Frankfurt a./0. und Erzieher Friedrichs des 
Grossen, konfirmirt und in die Lehren der Religion eingeführt. 

Als im Jahre 1714 der damalige Kurfürst von Hannover 
Georg Ludwig als Georg I. (f 1727) den englischen {Thron bestieg, 
folgte die Gräfin Johanna Sophie dem Hofe nach London. 

Aus erhaltenen Briefen geht hervor, dass letztere sich die 


*) Friedrich H. Brandes, Die französische Kolonie in Bückeburg 
(Geschichtsblätter des deutschen Hugenotten -Vereins. III. Zehnt. Heft 7 u 8). 
Magdeburg 1894. 

®) Albrecht Wolfgang von Hohenlohe (1659—1715), der der Stamm- 
vater der am 7. Januar 1764 in den Reichsfürstenstand erhobenen evange- 
lischen Linie Hohenlohe-Langenburg geworden ist, scheint der Pathe Albrecht 
Wolfgangs von Schaumburg gewesen zu sein. 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 199 

Liebe und Achtung der königlichen Familie in hohem Grade ge- 
sichert hatte, und ein Brief der Königin von Preussen, Sophia 
Dorothea, der Mutter Friedrichs des Grossen, vom 4. September 
1723 — sie war bekanntlich die Tochter König Georgs I. — 
beweist, dass noch damals nähere Beziehungen zwischen beiden 
Frauen bestanden. 

Anordnungen des Grafen Friedrich Christian, der inzwischen 
sehr nahe Fühlung mit katholischen Kreisen gefunden hatte, zwangen 
die Mutter, ihre jungen Söhne an den Hof nach Wolfenbüttel zu 
schicken, wo der Vater offenbar vertraute Freunde besass, von 
deren Einfluss er viel erhoffte. Seit dem Übertritt der Prinzessin 
Elisabeth Christine von Braunschweig zum Katholizismus (1707) 
und ihrer Verheiratung mit dem nachmaligen deutschen Kaiser 
Karl VI. (1708) war in Wolfenbüttel der Einfluss der Hofburg und 
der Kurie herrschend, und es ist bekannt, dass es im Jahre 1710 
sogar gelang, den betagten Herzog Anton Ulrich in den Schoss 
der katholischen Kirche zu führen. 

Friedrich Christian machte seine jungen Söhne alsbald mit 
seinem Wunsche bekannt, dass sie ebenfalls katholisch werden 
möchten; er entliess zunächst ihren evangelischen Gouverneur und 
sandte ihnen einen katholischen. Als er auf Widerstand stiess, 
verweigerte er die Zahlung der Unterhaltskosten für seine Kinder, 
die nunmehr gezwungen waren, Vorschüsse des Herzogs von 
Braunschweig zu erbitten und sich in Schulden zu stürzen. 

Der neue Gouverneur brachte den Befehl, dass seine Zög- 
linge ohne Erlaubnis die Residenz nicht verlassen dürften; es lag 
im Plane, dass die Grafen unter seiner Leitung nach Italien reisen 
sollten. „Es war die Absicht meines Vaters, schreibt 
Graf Albrecht Wolfgang später, dass wir eine Religion 
abschwören sollten, die ich gelobt hatte nur mit meinem 
Leben zu verlassen“. 

Das Netz war bereits so festgezogen, dass diejenigen, die 
es gesponnen hatten, sich am Ziele glauben durften. Da trat ein 
für alle Beteiligten unerwartetes Ereignis ein: die jungen Grafen 
ergriffen, ermutigt durch eine Aufforderung König Georg I. von 
England, in den ersten Tagen des Mai 1718 die Flucht, und 
gingen zunächst nach Hannover und von dort, um sich den Nach- 
stellungen des kaiserlichen Hofes und dem Zorne des Vaters 
zu entziehen, in die Niederlande, wo sie auf Anordnung König 


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200 


Keller. 


Heft 7 u. 8. 


Georgs zunächst in Utrecht ein Unterkommen fanden. Es war 
der erste Beweis einer Selbständigkeit und eines Mutes, dem 
Albrecht Wolfgang späterhin weitere Proben folgen lassen sollte. 
Die Entschlossenheit, die er im Jahre 1718 gegenüber dem Kaiser 
und seinen Helfern an den Tag legte, bethätigte er zwanzig Jahre 
später gegenüber dem König Friedrich Wilhelm von Preussen bei 
einem Anlässe, den wir noch kennen lernen werden. 

Von den Niederlanden aus ging Albrecht Wolfgang zunächst 
nach Paris und dann im Jahre 1720 nach London, an den Hof 
König Georgs, wo er in St. James Wohnung nahm. Aus erhaltenen 
Briefen erhellt, dass er hier alsbald einen Kreis von Männern fand, 
in welchen er sich — zum ersten Male in seinem jungen, aber 
ernsten Leben — wohl und heimisch fühlte, einen Kreis, dessen 
Mitglieder eine ihm sympathische Weltr- und Lebensanschauung 
vertraten. Auch für ihn, wie einst für zahllose um der Religion 
willen flüchtige Deutsche, wurde London zu einer neuen „Herberge 
der Gerechtigkeit“. Allerdings, der Erbgraf von Schaumburg-Lippe 
war kein Glaubensflüchtling im Sinne der früheren Zeiten, aber 
dennoch waren es religiöse Fragen, die sein Schicksal bisher 
bestimmt hatten und auch weiter bestimmen sollten. Im Jahre 
1722 erliess der regierende Graf Friedrich Christian ein Dekret, 
in welchem er die Enterbung seiner beiden Söhne androhte, wenn 
sie nicht in den Gehorsam des kaiserlichen Hofes, dem sie sich 
durch ihre Flucht entzogen hatten, zurück kehrten. Es schien, als 
ob die Auflehnung wider den väterlichen Willen die ernstesten 
Folgen nach sich ziehen werde, und man darf annehmen, dass dies 
thatsächlich der Fall gewesen sein würde, wenn nicht die Könige 
von Grossbritannien und von Preussen ihre schützende Hand über 
ihn gehalten hätten. Friedrich Christian selbst hielt sich damals 
in Angelegenheiten seiner zweiten Ehe mit dem katholischen 
Fräulein von Galen vielfach in Tirol auf und wir erfahren, dass 
man dort auf seine Bekehrung hoffte. Diese Verhältnisse zwangen 
den jungen Fürsten, sich mehr und mehr mit den schwierigen 
religiösen Fragen selbst zu beschäftigen, und sein Briefwechsel 
aus diesen Jahren ergiebt, dass er sich eingehend damit befasste 
und eine rege Teilnahme auch für die wissenschaftlichen Werke 
dieses Gebiets bekundete. 

Es war ganz natürlich, dass die Mitglieder der Hofgesellschaft, 
die schon von Hannover aus in gegenseitiger Beziehung standen, 


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1901. Graf Albrecht Wulfgang von Schaumburg-Lippe etc. 201 

einen der Verkehrskreise der jungen Grafen bildeten. Aus diesem 
Kreise stammte Margaretha Gertrud, Tochter des Grafen 
Raban Christoph von Oeynhausen und der Sophie Juliane 
von der Schulenburg, die im September 1721 die Gattin 
Albrecht Wolfgangs wurde; es war eine Heirat, die einer Herzens- 
neigung entsprang und die eine sehr glückliche, leider nur fünf- 
jährige Ehe zur Folge hatte; ihr entsprossen am 4. Oktober 1722 
der älteste, im Jahre 1742 verstorbene Sohn Georg und am 
9. Januar 1724 der zweite Sohn, Friedrich Wilhelm Ernst 

Sowohl für die Innigkeit des Verhältnisses zu seiner Frau 
und seiner Mutter wie für die religiöse Grundstimmung seines 
Geistes sind einige Stellen des Testamentes lehrreich, welches der 
Graf am 2. November 1726 unterzeichnet hat. 1 ) Der einzige 
Wunsch, sagt er, den er für sich selbst in diesem letzten Willen 
ausspreche, sei der, dass man seinen Leichnam in dem gleichen 
Grabe mit seiner heissgeliebten Gattin beisetze, die das ganze 
Glück seines Lebens gewesen sei. Ferner wünsche er vor allem, 
dass seine Söhne sich stets der Tugenden ihrer Mutter erinnern, 
dass sie sich wert machen, die Kinder einer solchen Mutter zu 
sein. „Sie sollen stets sich gegenwärtig halten, dass sie Gott liebte 
und anbetete mit der ganzen Reinheit ihrer Seele, dass sie ihm 
alles anheimstellte und alles von ihm erwartete. Unter Hingabe 
an seinen Willen erkannte sie seine Hand in allen Dingen und 
sie liebte ihn als das vollkommenste Wesen, das nur das Beste 
aller seiner Geschöpfe will. Sie sollen sich erinnern, dass ihr 
(der Mutter) ganzes Leben ein Vorbild der Rechtschaffenheit, 
der christlichen Moral und folglich der Tugend war, dass sie 
das beste Herz und die edelste Seele war, die Gott je einem 
Menschen gegeben hat.“ .... „Da Gott mir die Gnade erwiesen 
hat, mir eine Mutter zu schenken,“ fährt er fort, „deren Tugend, 
aufrichtiges Christentum und grosse Weisheit aller Welt 
bekannt sind, so kann ich das Teuerste, was ich auf dieser Welt 
habe, meine armen Kinder, keinen besseren Händen anvertrauen .... 
Sie (die Mutter) soll das Herz (der Kinder) vor allem darauf 
richten, dass sie Gott lieben und fürchten .... dass sie ihre Ehre 
und ihr Gewissen allen anderen Gütern voranstellen und dass man 

l ) Das Original des eigenhändigen Testaments ruht (leider zerrissen 
und nicht ganz vollständig) im Fürstl. Archiv zu Buckeburg unter der 
Correspondenz des Grafen Albrecht Wolfgang vom J. 1726. 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


sie gewöhne, ihr wahres Gluck in sich selbst zu suchen, in einem 
vollkommenen Frieden mit ihrem Gewissen und in einer 
verständigen Geringschätzung alles dessen, was sie von ihrer 
inneren Ruhe abziehen kann, die die einzige Quelle wahrhafter 
Glückseligkeit ist . . . 

Der Gedankengang und sogar manche Ausdrücke dieses Selbst- 
bekenntnisses, dessen Wert durch seinen vertraulichen Charakter 
nur erhöht wird, erinnern den Kenner der religiösen Strömungen 
des beginnenden achtzehnten Jahrhunderts an die Anschauungen, 
wie sie z. B. durch Leibniz und Newton an den Höfen von Berlin 
und Hannover, aber auch am Hofe von St. James vertreten wurden, 
Anschauungen, die bei entschiedener Festhaltung des Christentums 
doch den Weg zum Frieden nicht sowohl in dem rechten Glauben 
als in der rechten Liebe, der Weisheit und der Tugend erblickten, 
und die bei aller Glaubensinnigkeit, Gelassenheit und Hingabe an 
den göttlichen Willen eine tolerante Gesinnung gegen alle Formen 
der Gottesverehrung und gegen alle Konfessionen ermöglichten. 

Diese Ueberzeugungen des Grafen waren sicherlich zum teil 
der Niederschlag der persönlichen Erfahrungen, die er im Laufe 
der Jahre gesammelt hatte. Es konnte nicht ausbleiben, dass die- 
selben ihn mit Männern zusammenführten, die von verwandten 
Stimmungen beseelt waren. Jedenfalls steht es fest, dass er bald 
nähere Beziehungen zu dem Freunde und Schüler Newtons Dr. 
Theophile Desaguliers fand, der ungefähr gleichzeitig mit ihm 
an den Hof von St. James gekommen war und der die gleichen 
Anschauungen vertrat Desaguliers hielt Vorlesungen über experi- 
mentelle Philosophie im Sinne Newtons, dessen naturphilosophische 
Anschauungen zu seiner Zeit in England weit verbreitet waren 1 ) 
und die durch Gelehrte wie den Grafen Francesco Algarotti (1712 
bis 1764) und Lord Baltimore auch in Deutschland 2 ), Italien und 
Amerika verbreitet wurden. 


*) D. Brewster, Memoirs of the life of Sir Isaac Newton, Edinb. 
18851, 342 erzählt: „Desaguliers commenced his lectures at Harthall in Ox- 
ford in 1710 and delivered more than a hundred and twenty discourses; 
and when he went to settle in London 1713, he informs us that he found 
the Newtonian Philosophy generally received aniong persons of all 
ranks and professions and even among the ladies by the help of experiments“. 

2 ) Algarotti und Lord Baltimore (letzterer war seit 1730 Freimaurer) 
besuchten den Kronprinzen von Preussen im J. 1739 in Rheinsberg und 
trugen ihm den Newtonismus vor (Koser, Friedr. d. Gr. als Kronprinz S. 150). 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 203 

Desaguliers, dessen Name in der Geistesgeschichte des 18. 
Jahrhunderts mit hoher Achtung genannt zu werden verdient, war 
am 13. März 1683 zu La Rochelle als Sohn eines Hugenotten- 
predigers geboren und mit dem Vater als Glaubensflüchtling nach 
England gekommen. In Oxford hatte sich der junge Franzose mit 
solchem Erfolge philosophischen und theologischen Studien gewid- 
met, dass Isaac Newton, damals der erste Gelehrte seines Zeit- 
alters, im Jahre 1704 den 31jährigen zum Mitglied der Royal Society 
vorschlug. Mit der Aufnahme in diese hochangesehene Körperschaft 
war Desaguliers Ruf begründet und der Weg in die grosse Welt 
für ihn eröffnet: zunächst wurde er Geistlicher des Herzogs von 
Chandos, Marquis von Caernarvon, und erregte als solcher die 
Aufmerksamkeit König Georgs I., der seine öffentlichen Vorträge 
und Predigten besuchte. Der günstige Eindruck, den Georg ge- 
wonnen hatte, führte später zur Berufung an den Hof und in die 
Umgebung des Prinzen von Wales. 

Um das Jahr 1714 war Desaguliers auch Mitglied einer 
jener freien Sozietäten, die als Literary Societies, Societies 
of Music oder Societies of Gentlemen in England neben 
der Königlichen Sozietät von Alters her bestanden und auf deren 
Vorgeschichte wir sogleich zurückkommen werden 1 ). 

Es ist möglich, dass Graf Albrecht Wolfgang, aus dessen 
Briefwechsel sich ein reges Interesse für Litteratur, Musik und 
exakte Wissenschaften ergiebt, ebenfalls einer dieser Gesellschaften 
angehört hat ; sicher wissen wir, dass er bald einer anderen Sozietät 


*) Vgl. John Nichols, Literary Anecdots of the Eighteenth Century, 
comprizing Biographical Memoire etc. London 1S12 Vol VI, I S. 81. 
Nichols bemerkt zu dem Namen Desaguliers: He was the son of the Rev. 

John D., a French refugee, and was born 1683 at Rochelle; admitted at 
Christ Church, Oxford; and succeeded Dr. Keill in reading lectures on Ex- 
perimental Philosophy at Hart Hall, to which he removed. In 1713 he 
proceeded M. A. and married a daughter of William Pudsey, Esqu. and 
next year removed to Westminster, where he continued his lectures. He 
was elected F. R. S. in 1714 and was much patronised by Sir Isaac 
Newton. About this time the Duke of Chandos presented him to the living 
of Edgware. In 1718 he took the degree of LL. D. of Oxford and was 
presented by the Earl of Sunderland to a living in Norfolk, which he 
afterwards exchanged for a Crown living in Essex. He continued his lectures 
tili his death 1749, having published: A Couree of Experimental Philo- 
sophy in 2 Vols 4° 1734; and 1735 a second edition of Gregorys „Elements 
of Catoptrics and Dioptrics“ 8°. 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


beitrat, deren Seele und bewegende Kraft damals Desaguliers war, 
der Society of Masons 1 ). In der Mitgliederliste der Loge, die 
zuerst in der Rümmer and Grapes Tavern, Channel Row, West- 
minster, und später in Horn Tavern, New Palace Gard, Westminster, 
arbeitete 2 ), erscheinen Desaguliers und der berühmte Altertums- 
forscher Georg Payne 3 ) sowie (seit 1725) der Graf zur Lippe 4 ) 
als Mitglieder und Brüder. 

Für den jungen Grafen von Schaumburg war es keineswegs 
ein Schritt der Konvenienz, als er sich entschloss, Mitglied dieser 
Sozietät zu werden. Sein Geist und sein Charakter waren durch 
die inneren und äusseren Kämpfe der letzten Jahre gereift und 
gestählt; er stand den massgebenden Männern nah genug und be- 
fand sich durch seine Beziehungen in einer hinreichend einfluss- 
reichen Stellung, Aufklärung über Wesen und Bedeutung des 
Bundes, dem er beitrat, erlangen und fordern zu können. Der 
Freimut und die Festigkeit, die ihn sein ganzes Leben hindurch 
ausgezeichnet haben, bieten die Gewähr, dass er keine Verbindung 
eingegangen wäre, die seinen schwer erkämpften Überzeugungen 
zuwiderlief oder die er eines Fürsten für unwürdig halten musste. 
Die Anfeindungen und Verdächtigungen, die der Bund schon vor 
dem Anschlüsse Al brecht Wolfgangs teils von Seiten eifersüchtiger 
Gegner, teils von Unkundigen vor der breitesten Öffentlichkeit 
erfahren hatte, mussten jeden einsichtigen Mann belehren, dass es 
sich hier um eine ernste Sache handele, deren vorherige Prüfung 
die Pflicht eines Jeden, besonders aber eines Mannes von Stand 
war. Man könnte ja trotzdem glauben, dass der Graf getäuscht 
worden sei; aber hätte er in dem Bunde nicht gefunden, was man 


‘) Bis um das Jahr 1750 erscheint in allen amtlichen und in den 
meisten ausseramtlichen Kundgebungen der neue Bund entweder unter dem 
Namen Society of Free-Masons (oder Masons) oder Fratcrnity of F. M. 
Den urkundlichen Nachweis dieser Thatsache s. u. A. bei L. Keller, die 
deutschen Gesellschaften des 18. Jahrhunderts und die moralischen Wochen- 
schriften. Berlin, R. Gaertners Verlag 1900. - Vgl. auch den Artikel 

„Sozietäten“ im Allg. Handbuch der Freimaurerei 3. Aufl. Lpz. 1900. 

2 ) The New Book of Constitutione of the ancient and honourable 
Fraternity of Free and accepted Masons etc. London 1738 S. 185. 

3 ) R. Fr. Gould, The History of Freemasonry etc. London 1885 
Vol. IV S. 279 Anm. 3. 

4 ) In den Briefen seiner Freunde wird der Graf oft einfach „eher 
Lippe“ oder „La Lippe“ angeredet. 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg- Lippe etc. 205 

ihm versprach, so hätte gerade dieser Fürst, wie er nun einmal 
beanlagt war, sicher mit raschem Schnitte ein Band gelost, das 
ihm Fesseln anlegte oder ihn in missliche Lagen drängte. Die 
Thatsache, dass er statt dessen nicht bloss in England, sondern 
auch als regierender Herr in Deutschland, wo er in solchen Dingen 
vollkommen unabhängig dastand, ein thäfciger Fürsprecher des 
Bundes geblieben ist, beweist vielmehr, dass er darin etwas fand, 
was ihn befriedigte und festgehalten haben muss. Am kenn- 
zeichnendsten aber ist, dass er im Jahre 1738 sich entschloss, die 
Thore des Baues, in den er eingetreten war, keinem Geringeren 
als dem Kronprinzen von Preussen zu öffnen. Man mag die 
Bedeutung der geschichtlichen Thatsache, die sich damit vollzog, 
so hoch oder so gering anschlagen, wie man will; jedenfalls wird 
durch sie der Umstand bestätigt, dass Graf Albrecht Wolfgang 
damit sein fürstliches Wort und seine Ehre für den Bund einsetzte; 
wie hätte er sonst dem Kronprinzen die Hand zu diesem Schritte 
bieten können? 


In Grossbritannien wie auf dem Festlande bestanden seit 
alten Zeiten freie Organisationen, welche unter dem Namen von 
Sozietäten — auch der Name Akademien ist im Sprachge- 
brauch der Eingeweihten nachweisbar — vor der Öffentlichkeit 
literarische , künstlerische, wissenschaftliche oder gemeinnützige 
Ziele vertraten, die aber Aussenstehenden ihre Verfassung und 
ihre Bräuche nicht mitzuteilen pflegten und deshalb vielfache An- 
fechtungen als geheime Sozietäten erfuhren. 

Die reiche Symbolik dieser alten Gesellschaften berührt sich 
auffallender Weise in vielen Punkten nah mit den Bräuchen und 
Zeichen, wie wir sie in den altchristlichen Katakomben finden, 
Bräuchen, wie sie uns im Mittelalter teilweise in den Bauhütten 
von neuem begegnen. Wir lassen, nachdem wir an anderer Stelle 
auf gewisse Berührungen der Akademien mit den Katakomben 
eingegangen sind 1 ), erstere Beziehung auf sich beruhen; dagegen 
muss die letztere hier kurz gestreift werden. 

Die Gilden und Zünfte der Werkleute hatten seit dem 
frühen Mittelalter in der ganzen abendländischen Christenheit für 


‘) Ludwig Keller, Die römische Akademie und die altchristlichen 
Katakomben im Zeitalter der Renaissance. Berlin, R. Gaertners Verlag 1899. 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


die Angehörigen uralter Kultgenossenschaften christlichen 
Ursprungs, die seit der Begründung der römischen Weltkirche 
schweren Verfolgungen ausgesetzt waren, eine Art von Rückzugs- 
linie und Zufluchtsstätte gebildet. Trotzdem diese Thatsache schon 
den Zeitgenossen bekannt war — einer der Namen, die Aussen- 
stehende den sogenannten Waldensern gaben, heisst Tisserands, 
d. h. Weber, und zwar aus dem Grunde, weil sich diese Christen 
vielfach in die Zünfte der Weber geflüchtet hatten — so war es 
den herrschenden Gewalten doch nicht gelungen, dies zu verhin- 
dern. Insbesondere hatten sich auch die alten Bauinnungen als 
geeignete Hülle erwiesen, da sie eine grosse Unabhängigkeit be- 
sassen, auch Beziehungen zu mächtigen Bauherrn ermöglichten und 
geistige Bildung voraussetzten. Viele Männer von Ruf, die nicht 
Bauleute und Steinmetzen waren, Hessen sich von Alters her gern 
gerade bei den Bauhütten eiubrudern. Die Verfassung der Bau- 
hütten mit ihren Grossmeistern, Meistern, Gesellen und Lehrlingen 
und den Zeichen und Bräuchen des Handwerks bot für die Ver- 
schleierung, die man angesichts des entsetzlichen Verfolgungswahns 
jener Zeiten brauchte, vorzügliche Handhaben dar. Insbesondere 
Hessen sich hier leicht innere Ringe von Eingeweihten schaffen, 
die man unter irgend einer Hülle, z. B. zur Pflege der Hütten- 
geheimnisse und der technischen Wissenschaften, organisierte; es 
war nicht schwer, innerhalb solcher besonderer Gesellschaften die 
Bräuche und Ideen der alten Kultvereine fortzupflanzen 1 ). 

Ihre erste grosse Epoche in der neueren Geschichte hatten 
diese alten Sozietäten in Italien erlebt, wo sie unter der Führung 
der Medici und unter erheblicher Mitwirkung der aus ihrer Heimat 
flüchtenden Griechen das grosse Zeitalter der Renaissance 
heraufgeführt hatten 2 ). Das Vorbild der platonischen Akade- 
mien war es, dem sie nachstrebten, und jeder, der in ihre Ge- 
schichte eindringt, wird mit Überraschung gewahren, in welchem 
Umfang es ihnen gelungen ist, ihre Mitglieder mit den besseren 
Seiten des griechischen Geistes, seinem Schönheitssinn, seiner 
Heiterkeit, Seelenruhe und reinen Menschlichkeit von neuem zu 
durchdringen. Mehr als irgendwo in der abendländischen Welt 

*) Ludwig Keller, Zur Geschichte der Bauhütten und der Hütten- 
geheimnisse. Berlin, R. Gaertnere Verlag 1898. 

-) Ludwig Keller, Die römische Akademie und die altchristlichen 
Katakomben Berlin, R. Gaertners Verlag, 1899. 


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1901. 


Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 


207 


fand man unter den Angehörigen dieser Akademien die besseren 
Seiten der Antike, verklärt durch altchristliche Überzeugungen und 
Anschauungen, wieder. Die Organisation und die Symbolik, welche 
diese geheimen Kultgesellschaften des 15. Jahrhunderts besassen, 
zeigen eine so auffallende Übereinstimmung mit den Formen und 
Bräuchen des nachmaligen Maurerbuudes, dass angesehene prote- 
stantische und katholische Forscher — ich nenne hier nur Ferdinand 
Gregorovius und Ludwig Pastor — sie direkt als „klassische Frei- 
maurerlogen" bezeichnet haben 1 ). 

Eben dieselben Akademien erlebten ihre zweite grosse Epoche 
im 17. Jahrhundert auf englischem Boden in der Zeit, wo 
dieses Land nach den Erfolgen der katholischen Reaktion auf dem 
Festlande ein Hort der Glaubensflüchtlinge aller Länder geworden 
war. Flüchtige Mähren wie Comenius, Deutsche wie Samuel 
Hartlieb, Engländer wie Christoph Wren, Robert Boyle u. a. 
erwogen damals allen Ernstes den Plan, unter dem Schutze Eng- 
lands eine organisatorische Zusammenfassung der Sozietäten herbei- 
zuführen, die von ihren mächtigen Gegnern bisher in einer für 
ihre Entwicklung sehr gefährlichen Vereinzelung festgehalten worden 
waren 2 ). Es war natürlich, dass mit der Rückkehr der Stuarts 
nach England und mit der eintretenden Reaktion diese Pläne in 
sich selbst zerfielen. 

Mit den Erfolgen, die der Grundsatz der Toleranz unter 
Wilhelm von Omnien seit 1689 in England errungen hatte, wurde 
eine starke Zunahme ihrer Kräfte und ihres Anhangs bemerkbar 8 ). 
Die von ihnen herausgegebenen moralischen Wochenschriften 
bekundeten einen so starken Hauch echter Frömmigkeit im Sinne 
des toleranten Christentums, dass viele Personen sich dadurch 
angezogen fühlten. Aber ihre wertvollsten Erfolge sollte die Be- 
wegung erst nach dem Jahre 1714 erzielen. Es war nicht das 
erstemal in der englischen Geschichte, dass die herrschenden Per- 
sonen in den Sozietäten einen beachtenswerten Machtfaktor er- 
blickten. Als die Stuarts nach England zurückgekehrt waren, 


*) Keller a. O. S. 2. 

2 ) LudwigKeller, Comenius und die Akademien der Naturphilosophen 
des 17. Jahrhunderts. Berlin, R. Gaertners Verlag 1895. 

®) Wilhelm von Oranien soll im Jahre 1695 selbst Mitglied einer der 
damals bestehenden Bauhütten (Lodges) geworden sein. Hettner, Geschichte 
der englischen Litteratur. 3. Aufl. Braunschweig 1872. 8. 216. 


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Keller, 


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hielten sie es für zweckmässig, die leitenden Männer dieser Kreise 
in ihr Interesse zu ziehen: man schuf aus den Mitgliedern der 
alten Sozietäten eine neue Sozietät, die zur Unterscheidung von 
den übrigen unter einem neuen Namen begründet ward (1662). 
Diese Königliche Sozietät (Royal Society) setzte die wissen- 
schaftlichen Bestrebungen der bisherigen freien Gesellschaften fort, 
behielt auch die alte Dreiteilung der Mitgliedschaft und manche 
anderen Formen bei, ward aber im übrigen eine staatliche An- 
stalt, die mit öffentlichen Mitteln unterhalten wurde. 

In den Kreisen, die dem Hause Hannover nahe standen und 
zugethan waren, hielt man einen anderen Weg für richtiger: die 
freie Sympathie gesinnungs verwandter Männer war es, die man 
wünschte, und es schien zweckmässig, den alten Gesellschaften 
die freie Verwaltung ihrer Angelegenheiten zu lassen, auf die 
diese selbst den allergrössten Wert legten. Wenn man in der 
Lage war, ihnen den königlichen Schutz angedeihen zu lassen, 
dessen sie in ihrer gedrückten Lage bedurften, so ward ihnen die 
Erwerbung von Körperschafts-Rechten und von Grundbesitz und 
eine wirksame Ausbreitung ermöglicht. Natürlich aber konnte 
nicht jede beliebige Sozietät die Vorteile des Schutzes gemessen, 
sondern nur diejenigen, welche die festzulegenden Grundsätze, 
Formen und Namen anerkannten und eine Anerkennungsurkunde 
besassen. 

Dadurch wurde die Einführung neuer Formen und Namen, 
durch die sich die anerkannten von den „wilden“ Sozietäten unter- 
schieden, zu einem selbstverständlichen Bedürfnis; wichtig aber 
ist, dass der Name Sozietät als Zusatzbezeichnung zunächst bei- 
behalten, auch nur solche Namen gewählt wurden, die dem alten 
Gebrauchtum und der überlieferten Symbolik entnommen und 
angepasst, zweifellos auch in engeren Kreisen schon früher üblich 
waren *). 

l ) Sehr bezeichnend für die Zugeständnisse, die man zunächst in der 
Namenfrage machen musste, ist die Thatsache, dass in der amtlichen Logen- 
liste von 1725 eine Korporation aufgeführt ist, welche sich nicht Loge, 
sondern „Societas Philo-Musicae et Architecturae“ nennt, die also 
auch nach amtlicher Einführung des neuen Namens die alte Bezeichnungs- 
weise beibehalten hatte; sie besass, wie die Liste ergiebt, kein Patent 
ihrer Konstituierung als Loge, dennoch aber hatte der neue Verband, wie 
er seit dem 25. Juni 1717 durch den Zusammenschluss von vier alten Logen 
begründet worden war, sie stillschweigend als „Loge“ anerkannt. Die 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 209 

Dr. Theophile Desaguliers war es, der mit Hülfe gleich- 
gesinnter Freunde an den Neugestaltungen der alten Sozietäten den 
wirksamsten Anteil genommen hat. Die einflussreiche Stellung, 
die er einnahm, und die Begabung, die er mitbrachte, machten es 
ihm möglich, die grossen Schwierigkeiten, die auf diesem Wege 
lagen, allmählich zu überwinden. Es gelang ihm zunächst, vier 
der bis dahin in gegenseitiger Unabhängigkeit arbeitenden Sozietäten 
zum Zusammenschluss und zur Wahl eines Grossmeisters zu be- 
wegen (24. Juni 1717), dann wusste er Männer von Namen zur 
Übernahme dieses neuen Grossmeistersamtes zu bestimmen; er 
vermittelte ferner im Jahre 1721 durch seine persönlichen Be- 
mühungen in Edinburgh den Bund mit den alten Sozietäten 
Schottlands, als deren Vertreter nunmehr Dr. James Anderson, 
ein ausgezeichneter Dissenter-Geistlicher, erfolgreich an dem neuen 
Unternehmen mitwirkte; endlich gelang es auch, ein Grundgesetz 
(Constitution) zu entwerfen und die Zustimmung aller massgebenden 
Instanzen im Jahre 1723 zu erwirken. 

Trotz der Vorsicht, mit der Desaguliers und Anderson zu 
Werke gegangen waren, war es nicht unbemerkt geblieben, dass 
hier ein neuer Machtfaktor, der seine Stellung im geistigen Leben 
beanspruchte, auf den Plan getreten war. Alsbald setzten sehr 
heftige Angriffe gegen die Brüder ein, aber sie steigerten zunächst 
lediglich das Anwachsen der Bewegung, die eine ausgezeichnete 
Organisation besass. Als am 5. November 1737 der Prinz von 
Wales, Friedrich Ludwig, durch Theophile Desaguliers zum Maurer 
aufgeuommen worden war und am 27. April 1738 der Herzog 
von Chandos, Marquis von Caernarvon, das Grossmeisteramt über- 
nahm, hatte der Bund seine Gründungszeit hinter sich und konnte 
den Kämpfen, die ihm bevorstanden, mit Kühe entgegengehen. 


Von jeher haben gerade die Gegner, welche seit dem 
Jahre 1735 in starker Rüstung auf dem Plan erschienen, die 


„Societas“ arbeitete mit den gleichen symbolischen Formen wie die „Logen“. 
Ein erhaltener Briefwechsel ergiebt , dass zeitweilige Meinungsverschiedenheiten 
zwischen der erwähnten „Societas“ und der Logen- Vereinigung (Grossloge) 
von 1717 vorhanden waren; die „Societas“ beschuldigte letztere, dass sie 
sich unbefugte Machtvollkommenheiten anmasse. Näheres in dem Allg. 
Handbuch der Freimaurerei. 3. Aufl. Leipzig 1900 I, S. 255 fl’ (s. v. Englische 
Lehrart). 


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Bedeutung des Maurerbundes am nachdrücklichsten hervorgehoben. 
Selbst wenn man geneigt ist, anzunehmen, dass dabei starke 
Übertreibungen mituntergelaufen sind, bleibt die Frage nach der 
Geistesrichtung und dem Charakter der in den entscheidenden 
Jahren 1717 — 1737 mithandelnden Personen und nach den Ge- 
danken und Zielen, die ihnen vorschwebten, von hohem geschicht- 
lichem Interesse. Je dürftiger bisher unsere Quellen über diese 
Fragen f Hessen, um so wichtiger ist es, dass aus der Lebens- 
geschichte und dem Briefwechsel des Grafen Albrecht Wolfgang, 
dessen Veröffentlichung wir im Interesse der Wissenschaft drin- 
gend befürworten möchten, sich mannigfache Aufklärung gewinnen 
lässt, deren Ergebnis ebenso wertvoll für die Charakteristik dieses 
merkwürdigen deutschen Fürsten wie des Maurerbundes genannt 
werden muss. 

Wer die frühesten Anfänge, so weit sie sich vor der 
Öffentlichkeit abspielten, überblickt, dem tritt die starke Teil- 
nahme der hohen englischen Aristokratie als wichtigste geschicht- 
liche Thatsache entgegen. In der That ist diese Anteilnahme 
auch insofern von grösster Bedeutung geworden, als durch den 
Beitritt dieser Männer gleichsam das Knochengerüst geschaffen 
worden ist, das dem Körper der neuen Organisation Kraft und 
Widerstandsfähigkeit gegen ihre mächtigen Feinde verlieh. Aber 
die treibende Kraft und die innere Übereinstimmung in Fragen 
der Weltanschauung, ohne die keine Organisation dauernden Be- 
stand gewinnt, entnahm der neue Bund nicht aus diesen Kreisen, 
sondern aus dem Schatze an Überlieferungen und Ideen, welche die 
alten Sozietäten besassen und mit der Zähigkeit, wie sie Kult- 
genossenschaften eigen zu sein pflegt, bewahrt hatten. 

Da indessen die letzteren ohne die ersteren und umgekehrt 
diese ohne jene zu keiner grösseren Kraftentfaltung imstande 
waren, so lag die entscheidende Thatsache der Epoche, die mit 
der Begründung des englischen Grossmeistertums begann, in dem 
Umstande, dass sich Männer fanden, welche zwischen jenen und 
diesen erfolgreich eine Brücke schlugen, und zu diesen gehört 
neben Desaguliers, Payne und anderen auch der Graf 
von Schaumburg. 

Auf König Georg I. war, wie man weiss, von dem Wesen 
seiner geistreichen Mutter wenig übergegangen. Aber die Über- 
lieferungen, wie sie unter den Frauen im Weifenhause seit der 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 211 

Kurfürstiu Sophie und der Königin Sophie Charlotte von Preussen 
vorhanden waren, wurden am Hofe von St James durch die 
Prinzessin von Wales, Karoline, geborene Prinzessin von 
Brandenburg-Ansbach (1683 — 1737), aufrecht erhalten. Karoline 
hatte einst, ebenso wie die oben genannten Frauen, mit Leibniz 
in Briefwechsel gestanden und seine religiös-philosophischen An- 
schauungen waren ihr in Fleisch und Blut übergegangen. Tolerant 
gegen Andersgläubige, legte sie doch grosses Gewicht auf ihren 
evangelischen Glauben und bewies diese Gesinnung durch die 
That, indem sie die Hand des Erzherzogs Karl, des nachmaligen 
Kaisers Karl VI., ausschlug, da sie die an das Ehebündnis ge- 
knüpfte Bedingung, ihren Glauben abzu schwören , nicht erfüllen 
wollte. 

Man kann ermessen, dass ein Prinz wie Albrecht Wolfgang 
schon durch seine Schicksale die Anteilnahme eines Hofes fand, 
an dem eine Frau von solcher Gesinnung den Ton angab; beide 
hatten für ihre Überzeugungen schwere Opfer gebracht und beide 
hatten die betrübenden Folgen des Glaubenshaders derart kennen 
gelernt, dass ihnen die Unionsgesinnung, wie sie Leibniz und Newton 
vertraten, sympathisch sein musste. Dazu kam, dass der Charakter 
wie die wissenschaftlichen und künstlerischen Neigungen beider 
Fürstlichkeiten viele verwandte Züge zeigten : Freimut und Offen- 
heit galten als eine besondere Starke Karolinens, dazu war sie, 
ähnlich wie Albrecht Wolfgang, bei aller Würde anspruchslos 
und bescheiden, freundlich gegen Jedermann und von echter 
Humanität erfüllt, vor allem aber von vielseitigen geistigen 
Interessen durchdrungen. 

König Georg I., der ohne seine Gemahlin nach England 
gekommen war, sah es gern, dass die Prinzessin von Wales zu 
Repräsentationszwecken deren Stelle vertrat, und er hielt darauf, 
dass in den abendlichen Zirkeln des Prinzen von Wales thunlichst 
ebenso die Geburts- wie die Geistes- Aristokratie Londons ver- 
treten war. Graf Albrecht Wolfgang und seine junge geistvolle 
Gemahlin l ) wussten sich in kurzer Zeit die Sympathie der Hof- 
gesellschaft wie der Künstler und Gelehrten zu erwerben und 

*) Der Bruder der Gräfiu war Ludwig Ferdinand von Oeynhausen, 
Graf von der Schulenburg (1701 — 1754), der K K. Feldzeugmeister wurde. 
Der Bruder ihrer Mutter war der berühmte venetianische Feldmarnchall 
von der Schulenburg. 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. 1 4 . 


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Keller, 


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der Umstand, dass der König selbst seinen Schützling alsbald 
besonders auszeichnete 1 ), konnte dessen Stellung in der grossen 
Welt nur befestigen. Die uns erhaltenen Berichte von Zeit- 
genossen ergeben, das9 der junge Erbprinz von Schaumburg viel- 
leicht ebenso sehr durch seine Schicksale, die um 1720 das Ge- 
sprächsthema aller Höfe und Salons bildeten, wie durch Charakter 
und Talente eine sehr bekannte Persönlichkeit geworden war. 
Gewiss hatten dazu die Anfeindungen der Gegner — am 11. Februar 
1722 erliess der kaiserliche Reichshofrat in Wien ein wiederholtes 
Mandat gegen die beiden Brüder „wegen Hintansetzung des treu 
gemeinten väterlichen Willens“ — nicht wenig beigetragen. Aber 
indem König Friedrich Wilhelm I. von Preussen dem Grafen im 
Jahre 1723 seinen hohen Orden vom Schwarzen Adler verlieh 
und im Januar 1724 bei dem am 9. Januar geborenen zweiten 
Sohne, dem Grafen Friedrich Wilhelm Ernst, Patenstelle annahm, 
trug auch der Berliner Hof dazu bei, die öffentliche Aufmerksamkeit 
auf diesen deutschen Fürstensohn zu lenken. 

Unter diesen Umständen lag in der Stellung, die Albrecht 
Wolfgang zu den politischen und geistigen Machtgruppen der 
damaligen Zeit nahm, doch eine Frage von wesentlicher Bedeutung. 
Indem der König ihm zunächst kein festes Staatsamt übertrug, 
konnte der Graf seinen Neigungen entsprechend wirken und diese 
führten ihn in die Kreise der Künstler, Dichter und Natur- 
philosophen, mit denen er in den Zirkeln der Prinzessin von 
Wales zusammentraf, dieselben Kreise, die auch an den Höfen 
einzelner Magnaten, wie z. B. des Herzogs von Chandos 2 ), damals 
gern gesehene Gäste waren. Georg I. sah es offenbar nicht 
ungern, dass er, der sich selbst diesen Kreisen nicht anzupassen 
verstand, in seiner nächsten Umgebung einen Mann von Stand 
besass, der von den Sympathien dieser Kreise getragen wurde. 
Mit seinem für Machtfragen wohlgeübten Blicke erkannte der 

*) Der köni^l. preuss. Gesandte am Londoner Hofe, von Wallenrod t, 

berichtete am 1722 nach Berlin, dass Graf Albrecht Wolfgang 

o» Marz 

und seine Frau „bei Ihrer Majestät in grossen Gnaden ständen“. 

2 ) Seine Freunde hofften von ihm, dass er ebenso wie er den Lebenden 
ein Freund war, auch Erneuerer des Andenkens der grossen toten Dichter 
werden würde: er müsse, sagte man im Jahre 1723, vor allem dem grosseu 
Mil ton ein Denkmal setzen. British Journal v. 30. März 1723 (hier nach 
Fr. Chry sander, G. F. Händel, Bd. II, S. 190.) 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc 213 

König, dass seine von vielen Gegnern bedrohte Regierung in 
Männern von geistiger Bedeutung thätige Freunde gewinnen konnte. 
Je mehr es sich allmählich herausstellte, dass der König zur 
Geistlichkeit der Hochkirche und den von ihr abhängigen hohen 
Schulen kein rechtes Verhältnis finden konnte, um so wichtiger 
war es, andere Faktoren des geistigen Lebens wirksam mit dem 
Interesse des Herrscherhauses zu verknüpfen. 

Es war doch keineswegs bloss ein äusserliches Verhältnis, 
in dem Isaac Newton zum Hause Hannover stand; zwar hören 
wir von des Königs Teilnahme an seinen Arbeiten nichts, aber 
am Hofe des Prinzen von Wales ging der grosse Naturphilosoph 
— er war zugleich Münzmeister des Königreichs — aus und 
ein und die Prinzessin Karoline war seine gelehrige Schülerin; sie 
sprach es offen aus, dass sie sich glücklich schätze, eine Zeit- 
genossin dieses grossen Mannes zu sein. Über die Beziehungen 
seines Schülers Desaguliers zum kronprinzlichen Hofe haben wir 
schon gesprochen. Zu dem Kreise der Naturphilosophen, die sich 
um Newton und Desaguliers sammelten, gehörten auch italienische 
Gelehrte, wie der Chemiker John Francis Vigani aus Verona, der 
in London eiu Laboratorium besass, ferner manche Forscher und 
Dilettanten, die von Aussenstehenden als Alchemisten bezeichnet 
wurden, wie der Herzog John Montagu, auch Richard Steele, 
den wir noch kennen lernen werden, und Dr. William Stuckei ey 1 ) 
(1687 — 1765), der erst Arzt in Boston war und in späteren 
Lebensjahren ein geistliches Amt zu Stamford übernahm. Diese 
Männer waren sämtlich Mitglieder entweder der Royal Society 
oder der Society of Gentlemen 2 ) oder (wie Steele und sein Freund 
Addison) des Button Club in London, die zum Teil, soweit sie 

*) Über Stuckeley s. Gould, The History of the Freemasonry, London 
1885, IV, 284, und Dictionary of Nat.-Biogr., LV, S. 127 ff. 

‘-) Gould a. O. IV, 284 sagt, die Societies of Gentlemen hätten unter 
dem Schutz bekannter Freimaurer gestanden und nennt als solche u. a. : 
1) Desaguliers; 2) den Earl of Dalkeith und Lord Coleraine (Grossmeister, 
1710, 1723, 1727); 3) Jos. Ames; 4) Dav. Chasley; 5) Francis Drake (Gross- 
meister, 1761/62); 6) Martin Folkes (Dep.-Grossmeister, 1724); 7) Sir Andrew 
Ramsay (12. 3. 1729). Da das Grossmeistertum seit 1723 die mächtigere 
Organisation wurde, mag dies für die späteren Zeiten zutreffen; anfangs 
war das Verhältnis der beiden Sozietäten, der Society of Gentlemen und 
der Society of Freemasons, das umgekehrte. Die Society of Gentlemen in 
Spalding war nach dem Zeugnis Stuckeleys im Jahre 1710 errichtet. 

14* 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


freie Gesellschaften waren, längst vor dem Entstehen des englischen 
Grossmeistertums unter maurerischen Formen arbeiteten. 

Neben der Philosophie, Physik, Mathematik, Medizin und 
Chemie war es aber vor allem die Musik, die vom Hofe wie 
vom gesamten hohen Adel des Landes gefördert ward, und man 
weiss, dass die Regierung Geoids I. in der Musikgeschichte Eng- 
lands Epoche gemacht hat. Die Musiker, welche nicht wie die 
Vertreter der exakten Wissenschaften altüberlieferte Verbände 
besassen, schlossen sich in dieser Zeit nach deren Vorbild eben- 
falls zu Akademien und Sozietäten zusammen und die Ge- 
schichte der Royal Academy of Music, die sich namentlich auch 
der Teilnahme des Herzogs von Chandos erfreute, ist ja bekannt 
genug geworden. Neben dieser königlichen Sozietät gab es aber 
auch noch freie Gesellschaften der Musik ! ) , von denen uns hier 
die „Societas Philo-Musicae et Architecturae“ deshalb besonders 
interessiert, weil sie nachweislich, ohne von dem seit 1717 be- 
stehenden englischen Grossmeistertum eine Konstitution erhalten 
zu haben, unter maurerischen Formen arbeitete 2 ). Die vornehmsten 
Träger dieser Akademien waren ijicht Engländer, sondern Italiener 
und Deutsche, an ihrer Spitze unser geistesgewaltiger Landsmann, 
Georg Friedrich Händel (1685 — 1759) 3 ) und dessen Freund, 
Francesco Xaverio Geminiani aus Lucca (geb. 1680), der 
Vorsteher der eben erwähnten „Societas Philo-Musicae“, die sich 
Apollo nannte. Im engen Zusammenwirken mit Männern wie 
Joseph Addison (1672 — 1719), dem ersten englischen Opern- 
dichter und Sir Richard Steele (1671 — 1729), der zum Schutze 

Maurice Johnson, deren erster Leiter, sagt in einem Briefe vom Jahre 1729 : 
„This Society was founded with the encouragemcnt of Secretary Addison, 
Captain Steele and others of Buttons Club“. Die Liebe zur Natur- 
philosophie habe sie verbunden. 

9 Als solche werden u. a. genannt: Castle Society of Music, Apollo- 
Society of Music, Academy of Ancient Music, Philharmonie Society. 

2 ) Die Protokolle der im Jahre 1724 erneuerten „Societas Ph.-M. et A.“ 
sind von der englischen Loge Quattuor Coronati in ihre Masonic Reprints, 
Vol. IV (London 1900) aufgenommen worden. Aus diesen Protokollen er- 
giebt sich, dass diese Sozietät älter war als 1724 (s. 8. 9 der Ausgabe); 
sie wurde, wie gesagt, im Jahre 1724 nur reorganisiert. 

3 ) Auf Händels nahe Beziehungen zu den älteren deutschen Sozietäten 
wirft die Thatsache ein gewisses Licht, dass er mit Barth. Heinrich Brockes 
(s. unten), dem berühmten Vertreter der „Deutschen Gesellschaft“ in Hamburg, 
nah befreundet war. 


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1901. 


Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 


215 


der Künstler im Jahre 1720 die Zeitschrift „Das Theater“ be- 
gründete 1 ), gelang es jenen Musikern, ihrer Kunst eine grössere 
Stellung im Geistesleben zu erringen, als sie sie früher jemals 
besessen hatte. 

Da ist es doch sicher kein bloss änsserliches Zusammen- 
treffen, dass sich seit den zwanziger Jahren eine nahe freund- 
schaftliche Beziehung zwischen den beiden hervorragenden Deut- 
schen, dem Grafen Albrecht Wolfgang von Schaumburg und Georg 
Friedrich Händel nachweisen lässt 2 ) und dass etwa um die 
gleiche Zeit derselbe Künstler, der bis dahin nur in den Palästen 
adliger Musikfreunde aufgetreten war, an den Hof gezogen ward 
— er übernahm seit etwa 1721 oder 1722 die musikalische Er- 
ziehung der Töchter des Prinzen von Wales — und dass seine 
Stellung wie seine Thätigkeit damit einen ganz neuen Grund und 
Boden gewann: die goldene Zeit des Künstlers und die Epoche 
seiner Vollendung fällt eben in diese Jahre. 

*) Berühmter noch sind Steele und Addison als Begründer der 
ersten periodischen Wochenschriften, des „Tatler“ (1709—1711) und vor 
allem des „Spectator“ (1711 ff.) geworden. Wir wissen, dass hinter dem 
„Tatler“ und dem „Spectator“ eine der bekannten Sozietäten stand. Wenn 
man die Anspielungen des „Tatler“ auf Bräuche und Ausdrücke liest, wie 
sie später in der Society of Freemasons (und nur in dieser) nachweisbar 
sind, so ist es nicht zweifelhaft, dass auch diese Sozietät des „Tatler“ schon 
maurerische Formen besass. Dann erklärt es sich auch, dass Steele, obwohl 
er in keiner Liste einer „anerkannten“ Loge erscheint, doch thatsächlich 
nach seinem Tode als Maurer anerkannt worden ist. Im Jahre 
1730 erschien eine amtliche Liste von 129 damals bestehenden Logen. An 
der Spitze dieser Liste erscheint neben dem Bilde des damaligen Grossmeisters 
Lord Weyraouths ein Bild von Richard Steele. Eine Abbildung in Nr. 3060 
der Illustr. London News v. 11. Dez. 1897. 

2 ) Des Grafen Freund, der Graf von Wassenaer von Obdam, Besitzer 
des Schlosses Twickelo bei Delden im Amt Twenthe (Overyssel) schreibt am 
29. Febr. 1728 aus dem Haag an den Grafen: „Saumaise part mercredi, 
il vient ici ce soir, musiquer; le trio, que vous lui avez envoyö, est bon. 
Vous serez le bien receu sous les auspices de Popera, que vous m’apportez. 
J’enrage en Payen, d’etre ici comme un chien ä la chaine. Embrassez 
l’amy Hendel de ma part“. — Unter dem 5. Febr. 1728 schreibt der 
Bruder des Königs Friedrich von Schweden, Prinz Wilhelm von Hessen 
d. d. Kassel an den Grafen Albrecht Wolfgang: Je voudrais .... vous 
charger d’unc petite Commission comme vous ötes de tres bon gout et tres 
entendue dans la Musique; voudriez vous bien me faire fabriquer 
une Marche par S. Hendel pour mes Grenadiers? (Füretl. Archiv 
in Bückeburg.) 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


Man hat die Schattenseiten der Zeit, die wir hier zu schildern 
haben, oft stark hervorgekehrt, und insbesondere haben sich die 
Widersacher des religiösen Toleranzgedankens, der damals seine 
ersten grossen Erfolge feierte, in solchen Schilderungen nicht 
genug thun können. Aber es ist doch merkwürdig, dass in dieser 
Zeit ein Mann von der rauhen Gradheit, männlichen Starke und 
tiefen Religiosität Händels — seit den Tagen Miltons war keine ähn- 
liche Erscheinung erlebt worden — sich zu einem geistigen Führer 
der englischen Nation, ja Europas, hat emporschwingen können. 
Und stellt es nicht beiden Männern, dem deutschen Fürstensohne 
wie dem deutschen Künstler, auch nach der Seite des Charakters 
ein vortreffliches Zeugnis aus, dass sie trotz grösster sozialer 
Unterschiede in Freundschaft verbunden geblieben sind? 

Es lag in der Natur der Verhältnisse, dass zwischen den 
italienischen Künstlern und Albrecht Wolfgang keine ähnliche 
Freundschaft sich entwickeln konnte; indessen ist es um so 
weniger zweifelhaft, dass auch diese an dem Grafen einen Für- 
sprecher bei Hofe besessen haben, als Geminiani Leiter einer 
der maurerischen Sozietäten Londons *) ^var, denen auch Albrecht 
Wolfgang angehörte. Wir dürfen annehmen, dass die musikalischen 
Kompositionen des Grafen, von denen wir aus seinem Briefwechsel 
erfahren, eine Frucht des nahen persönlichen Verkehrs mit den 
Freunden gewesen sind. 

Ein ähnliches Band gemeinsamer geistiger Interessen ver- 
knüpfte, wie wir oben schon andeuteten, den Grafen mit den Ver- 
tretern der exakten Wissenschaften, die zugleich die Vertreter einer 
bestimmten philosophischen Richtung, eben der Naturphilosophie 
waren. Seine lebhafte Teilnahme wandte der Graf den neuen Er- 
findungen der physikalischen Wissenschaften zu und aus seinem 
Briefwechsel erhellt, dass er auch seine Verwandten und Standes- 
genossen in Deutschland für diese Fragen zu interessieren suchte 2 ). 
Auch hier also versuchte er, der geistige Vermittler zwischen den 
Gelehrten und dem hohen Adel seines Vaterlandes zu werden. 


*) Geminiani war von der Societas Philo-Musicae et Archit. — s. oben 
S. 214 — am 1. Febr. 1724 zum Maurer gemacht worden. Masonic Reprints, 
Vol. IX, London 1900, S. 7. 

2 ) Ein Brief des Grafen Ludwig Gottfried von Hohenlohe vom 
23. Sept. 1723 an Albrecht Wolfgang ist hierfür sehr bezeichnend. (Fürstl. 
Archiv in Bückeburg.) 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 217 

Selbstverständlich wandte er den Fragen, um derentwillen 
er die Kämpfe seiner Jugend ausgefochten hatte, nach wie vor 
regen Anteil zu. Er unterhielt schriftlichen und persönlichen 
Verkehr zu reformirten Predigern wie Desfournaux 1 ), dem er 
im Jahre 1718 in Utrecht näher getreten war und der später an 
den Hof des Prinzen von Wales berufen wurde. In dem uns 
erhaltenen Briefwechsel beider Männer tritt eine warme Vorliebe 
für Mil ton zu Tage und es scheint, als ob ihnen dieser grosse 
Mann keineswegs bloss als Dichter, sondern auch als Mensch 
und Christ teuer gewesen sei. Aus der Teilnahme für diese 
Fragen erwuchsen dem Grafen auch seine ersten politischen 
Aufträge. Als König Georg I. sich entschloss, zu gunsten 
der am Rhein schwer verfolgten Reformirten einzutreten, war 
es Graf Albrecht Wolfgang, der im Aufträge des Königs an 
den kurpfälzischen Hof gesandt ward, um den Bedrängten Hilfe 
zu bringen. Als er dann zwei Jahre später abermals als Ge- 
sandter thätig war, galt sein Auftrag einer ähnlichen Angelegen- 
heit. Bei dieser zweiten Mission war es, wo er seine Frau 
verlor (1726) 2 ). 

Als der Graf von Schaumburg -Lippe um das Jahr 1723 
oder 1724 seinen Anschluss an die Sozietät der Maurer 
vollzog und damit in einen Bund eintrat, dessen geistige Träger 
die Naturphilosopheu und die Künstler waren, war diese Ver- 
einigung eine Körperschaft von bescheidener Bedeutung. Wir 
wissen, dass die erwähnte unabhängige Sozietät der Musiker sich 
im Jahre 1724 der Sozietät der Maurer völlig gleichstellen konnte 
und dass die um 1721 in der Schweiz bestehende Sozietät der 
Maler eine Gesellschaft von gleichem Charakter gewesen ist, 
ohne dass sie von London aus begründet war. In der That 
konnte damals niemand Voraussagen, welches System 
und welcher Name den Sieg über die gleichnamigen 
Mitbewerber davontragen werde. 


*) Leider haben sich nähere Nachrichten über Desfournaux nicht er- 
mitteln lassen; für den Nachweis solcher würden wir dankbar sein. 

2 ) Der erhaltene Briefwechsel giebt kein näheres Bild über den Ver- 
lauf dieser Gesandtschaften ; doch ist anzunehmen , dass seine amtlichen 
Berichte (vielleicht auch sonstige Akten) in den Londoner Archiven erhalten 
sind. — Es wäre überhaupt in hohem Grade der Mühe wert, der amtlichen 
und ausseramtlichen Korrespondenz des Grafen weiter nachzuforschen. 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


Es lässt sich heute selbstverständlich nicht mehr feststellen, 
wie weit der Anschluss des Grafen auf die Entwicklung der 
Dinge, wie sie sich seit 1724 in rascher Folge vollzogen, von 
unmittelbarem Einfluss geworden ist Man darf diesen Beitritt, 
selbst wenn man von der geistigen Bedeutung der Person absieht, 
schon deshalb keinesfalls gering anschlagcn, weil in dem Grafen 
der erste Angehörige eines souveränen Fürstenhauses Mitglied 
wurde, und weil dieser Prinz dem Könige und dem ganzen könig- 
lichen Hause persönlich nahe stand. Wie dem auch sei, so steht 
geschichtlich fest, dass sich seit dem angegebenen Zeitpunkt in 
den Listen des Bundes die grossen Namen, die bisher seltener 
gewesen waren, in überraschender Weise mehren. Wir nennen 
hier nur Philipp Dormer Stanhope, Graf von Chesterfield 
(1694 — 1773), Thomas Pelham, Herzog von Newcastle (1693 
— 1768), Robert Walpole (1676 — 1746) und Lord Lovel, 
die allen denen wohl bekannt sind, die sich mit jenem Abschnitt 
der englischen Geschichte beschäftigt haben. Aber wichtiger 
noch als die zahlreichen Beitritte aus dem hohen und höchsten 
Adel wurde für den aufstrebenden Maurerbund der Anschluss 
eines deutschen Fürsten, der mit dem Grafen Albrecht Wolfgang 
befreundet war, des Herzogs Franz von Lothringen (1708 — 
1765), der seit 1736 Gemahl Maria Theresias, seit 1737 Gross- 
herzog von Toscana und seit 1745 deutscher Kaiser war. 
Es wird sich wohl niemals aktenmässig feststellen lassen, welche 
persönlichen Beziehungen es gewesen sind, die den Enkel Elisabeth 
Charlottens von Orleans dem Bunde zugeführt haben; sicher aber 
ist, dass der Herzog einige Monate vor seinem Anschluss, der 
im Mai oder Juni 1731 erfolgte, mit dem regierenden Grafen 
von Schaumburg zu Braunschweig eine Zusammenkunft gehabt 
hat 1 ), dass die Aufnahme durch einen nahen Freund Albrecht 
Wolfgangs, nämlich Theophile Desaguliers, im Haag vollzogen 
ward, dass der Graf um jene Zeit gleichfalls in den Nieder- 
landen weilte und dass seit jener Zeit ein freundschaftlicher Brief- 
wechsel zwischen beiden Fürsten entstanden ist. 

Es mag sein, dass für manche dieser Männer der Beitritt 
ein Schritt der Zweckmässigkeit und der Konvenienz gewesen ist, 

Albrecht Wolfgang nimmt auf diese Zusammenkunft in einem Briefe 
an den Herzog vom 5. Nov. 1740 ausdrücklich Bezug; danach hat die Be- 
gegnung etwa zu Anfang 1731 stattgefunden. (Fürstl. Archiv zu Bückeburg.) 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaum bürg- Lippe etc. 2 19 

der für sie selbst wie für die Sache wertlos bleiben musste; aber 
zu diesen Männern gehörte, wie die Zukunft zeigen sollte, der 
Graf von Schaumburg nicht. Für den ernsten Sinn des jungen 
Deutschen war und blieb die „Königliche Kunst“ eine ernste 
Sache und so ist es gekommen, dass durch ihn den Mitgliedern 
der alten Sozietäten manche sonst verschlossene Pforte geöffnet 
ward. Männer, die durch hohe soziale Scheidewände getrennt 
waren, fanden jetzt die Möglichkeit gemeinsamen Arbeitens. Es 
zeigte sich, dass der uralte Bund in seinen schönen und sinn- 
reichen Formen einen Weg darbot für eine persönliche Berührung 
von Gesellschaftskreisen, die ohne ihu in dauernder Trennung 
verharrt haben würden ; die weitere Entwicklung der Dinge sollte 
zeigen, dass aus dieser gemeinsamen brüderlichen Thätigkeit für 
alle Beteiligten ein grosser Segen erwachsen konnte : jeder Erfolg 
des Bundes, der auf dieser Grundlage erzielt ward, bedeutete für 
die Vervollkommnung des Einzelnen wie für die Erziehung des 
Menschengeschlechts einen wertvollen Fortschritt. 

Gründe, die sich einstweilen nicht klar erkennen lassen, die 
aber, nach Andeutungen erhaltener Briefe, mit Hofkabalen Zusammen- 
hängen, bestimmten den Grafen, im Jahre 1727 in den Nieder- 
landen Kriegsdienste zu suchen. König Georg I. selbst, der dem 
Grafen die Wege zu ebnen wünschte, wandte sich ganz persönlich 
an die Generalstaaten und empfahl ihn in der Hoffnung, dass 
man ihm im Haag die Führung eines niederländischen Regiments 
an vertrauen werde 1 ). Das geschah indessen nicht, sondern die 
Staaten erklärten sich uur bereit, den deutschen Fürstensohn als 
Kolonel anzustellen. In der Thatsache, dass Albrecht Wolfgang 
sich entschloss, dies Anerbieten anzunehmen, liegt der Beweis, 
dass sein Wunsch, den englischen Hof zu verlassen, sehr dringend 
gewesen sein muss. Als Georg I. am 11. (22.) Juni 1727 ge- 
storben war, änderte sich an der Entschliessung des Grafen nichts; 


l ) Der preuss. Gesandte in London berichtete unter dem 4. März 1727 
nach Berlin: „Man hat sich zwar alhier flattiret, dass der Graf von der 
Lippe-Bückeburg sogleich in Holland ein Regiment bekommen würde, 
weilen Ihro Gross -Brittanische Maj. in Faveur dieses Grafens in so ver- 
bindlichen und obligaten Terminis an die Generalstaaten ge- 
schrieben, als jemahls geschehen. Allein dem ohngeacht findet 
selbiger Graf anitzo Difficultäten ; worüber denn auch Ihro Maj. etwas in 
Verwunderung sind gesetzt worden.“ — Weitere Akten über diese Sache 
dürften sich im Reichsarchiv im Haag finden. 


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220 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


obwohl er London häufig besuchte, blieb er jetzt lind bis an seinen 
Tod in holländischen Diensten, wo er erst Oberst und dann 
General wurde. 

Albrecht Wolfgang war kein Fremdling in den Niederlanden. 
Abgesehen von den Familienbeziehungen zu dem Grafen Friedrich 
Wilhelm von Nassau, dessen ältere Schwester Charlotte Friederike 
im Jahre 1730 des Grafen zweite Gemahlin wurde, besass er auch 
sonstige wertvolle Anknüpfungen, aus denen sich rasch eine sehr 
innige Freundschaft entwickelte. Mit Wilhelm III. (f 1702) war 
bekanntlich die ältere oranische Linie des Hauses Nassau aus- 
gestorben, und die Erbstatthalterwürde zum zweitenmale in den 
Niederlanden abgeschafft. Nur in Friesland war Prinz Wilhelm 
aus der Linie Nassau-Dietz Statthalter geblieben — es ist der- 
selbe, der im Jahre 1747 als Wilhelm IV. die Erbstatthalterwürde 
wieder herstellte — und eben Friesland war um die Zeit, wo 
Albrecht Wolfgang England verliess, der Sitz der oranischen 
Partei und der Gesinnungsgenossen Wilhelms des Befreiers. 

In den erhaltenen Akten findet sich ein Briefwechsel des 
Grafen mit einem hervorragenden Mitgliede dieser Richtung, dem 
Grafen Unico Willem von Wassenaer (1696 —1766), der ebenso 
durch die Vertraulichkeit des Tons wie durch gewisse eigenartige 
Formen bemerkenswert ist. Das Geschlecht der Wassenaer von 
Obdam besass das Schloss Twickelo bei Delden (unweit Enschede) 
im Amt Twenthe, wo Unico Willem als reicher Grossgrund- 
besitzer in Unabhängigkeit lebte; er leistete seinem Vaterlande 
gemeinsam mit gleichgesinnten Freunden wie dem Herrn van 
Boetselaer Nyeveen in mannigfachen wichtigen Ehrenämtern 
Dienste. Die Thatsache, dass die Könige Georg I. J ) und Georg II. 
auf ihren Reisen von und nach Hannover den Grafen wiederholt 
besuchten — in den erhaltenen Briefen beschreibt Wassenaer diese 
Besuche — liefert den Beweis, dass er in den Niederlanden grossen 
Einfluss besessen haben muss. Unico Willem war seit 1723 mit 
Dodonea Lucia, Tochter des Sicco von Goslinga, verheiratet und 
unterhielt zu dessen Landsleuten, den Friesen, insbesondere dem 

*) Der König Georg I. hatte seine letzte Reise nach Hannover (1727) 
über Holland gemacht, am 19. Juni in Gesellschaft des Lord Townshend 
und der Herzogin von Kendal in Delden (bei Enschede) gerastet und war 
eine Stunde nach der Abfahrt vom Schlage gerührt worden; er kam noch 
bis Osnabrück, wo er starb. 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 221 

Grafen Bentinck nahe Beziehungen. Wilhelm Graf von Ben- 
tinck und Aldenburg, Herr zu Vaerle (1704 — 1773) genoss 
in seiner Heimat ein allgemeines und wohlbegründetes Ansehen, 
und er benutzte dasselbe, um in ähnlicher Art wie Wassenaer für 
das Wohl der Niederlande zu wirken. Auch zwischen diesem 
uud dem Grafen Albrecht Wolfgang knüpfte sich in kurzer Zeit 
ein Band inniger Freundschaft. Ebenso wie früher in Englapd 
knüpfte der Graf jetzt auch hier zu Vertretern der Litteratur 
und der Wissenschaft Beziehungen an. So war er, um nur einen 
Namen zu nennen, mit Just van Effen (1684 — 1735), dem Her- 
ausgeber des holländischen Spectator, der unter dem Namen Le 
Misanthrope erschien, persönlich bekannt, und cs ist wahrschein- 
lich, dass er auch dessen litterarische Freunde kannte. Wie dem 
auch sein mag, so ist sicher, dass durch die Übersiedelung des 
Grafen nach Hollaud im Jahre 1727 sich zuerst festere Bezieh- 
ungen der niederländischen Gesinnungsgenossen zum neuen eng- 
lischen Grossmeistertum knüpften, die durch Desaguliers und be- 
sonders durch Graf Chesterfield befestigt wurden. Der erstere 
hatte sich im Interesse seiner Sache ebenso wie einst nach Schott- 
land, später auch nach Holland begeben und hier mit den alten 
Gesellschaften der Naturphilosophen J ) und ihren Vertretern — 
dazu gehörten damals u. A. Hermann Boerhaave (1668 — 1738) und 
der Schüler von Christian Huygens, der Philosoph s’Gravesande — 
Fühlung gesucht, ohne aber zunächst sein Ziel zu erreichen. Da kam 
im Jahre 1728 Chesterfield als englischer Gesandter in den Haag, 
der Boerhaave sich zum Arzte wählte, und schon im Jahre 1731 
wurde eine Loge im Haag unter Teilnahme holländischer und 

! ) Die älteren Brüderschaften der Naturphiiosophen spielen in den 
Niederlanden (Haag, Amsterdam u. s. w.) eine erhebliche Rolle; sic arbeiteten 
ebenso unter maurerischen Formen wie die übrigen „Akademien“ des Fest- 
landes. In diesen Sozietäten spielen die Familien Wassenaer- 
Obdam und van Boetselaer als Häupter und Führer eine 
Rolle; als Mitglieder werden aus gelehrten Kreisen genannt Constantin 
Huygens van Zuylichem, der Hugenotten-Prediger Ra felis, Michiel 
van der Merwede, Jacob Westcrbaan, Reinier Anslo u. A. Auch 
wird erzählt, dass John Locke im Jahre 1687 eine solche Brüderschaft in 
Holland begründet habe. Jedenfalls ist das Haus Oranien an dieser 
Sache von je stark beteiligt gewesen. Näheres in der als Handschrift ge- 
druckten Arbeit von Jacob us Scheltema, Jets voor of over de openbare 
Geschiedenis van de Orde der Vrijmctselaars in Oud-Nederland. ’sGraven- 
hage 1837. 


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222 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


englischer Brüder gehalten, die zur Aufnahme des Herzogs Franz 
von Lothringen führte. Als dann im Jahre 1734 durch Chester- 
field^ Bemühungen der Statthalter von Friesland, Prinz Wilhelm, 
die Prinzessin Anna, die Tochter Georgs II. heiratete, folgten 
bald die ersten dauernden Logengründungen nach englischem System 
in verschiedenen Städten der Niederlande, und die Wassenaer, 
Boctselaer und Bentinck übernahmen in den Jahren 1734, 1758 
und 1759 nacheinander die Grossmeisterwürde. 

Auch in Holland war es gelungen (ebenso wie es früher in 
England gelungen war und später in Deutschland gelingen sollte), 
die Reste der alten Sozietäten herüberzuziehen und sie mit Hülfe 
einflussreicher Männer dem neuen englischen System einzugliedern. 
Und auch hier steht die thätige Mitwirkung Albrecht Wolfgangs, 
der in jedem Jahre seine niederländische Garnison zu besuchen 
pflegte, ausser Zweifel. 


Schon ehe sich diese Dinge vollzogen, war die entscheidende 
Wendung im Leben Albrecht Wolfgangs eingetreten. Der am 
13. Juni 1728 erfolgte Tod seines Vaters machte ihn zum souveränen 
Fürsten eines zwar kleinen, aber reichen Landes von grossen ge- 
schichtlichen Überlieferungen. In dem Jubel der Bevölkerung, 
die den Einzug des Fürsten begleitete, spiegelt sich die Thatsache 
wieder, dass die Schaumburger in dem Hader des Hauses auf der 
Seite der Mutter und ihrer Söhne gestanden hatten. Wir kennen 
die Gründe der häuslichen Zwietracht im Einzelnen nicht; sicher 
aber ist, dass die Mehrheit der unparteiischen Zeitgenossen von 
Anfang an auf die Seite Johanna Sophiens getreten war. Schon 
am 25. Januar 1703, alsbald nach der erfolgten Trennung der 
Ehegatten, hatte König Friedrich I. von Preusscn, der durch 
seine Räte in Minden genau unterrichtet war, Friedrich Christian 
geschrieben, er möge den Frieden herstellen. „Ihr wollet,“ riet der 
König, „doch einmal in Euch gehen und Euch mit Eurer Gemahlin 
als einer tugendhaften, frommen und wohlgestalteten, Euch 
von Gott zugesellten Ehegattift . . . vollkömmlich und aus dem 
Grunde versöhnen.“ Weder dieser Rat, noch das weite Entgegen- 
kommen, das Albrecht Wolfgang nach Ausweis erhaltener Briefe 
in allen Fragen mit Ausnahme der religiösen bewiesen hatte, hatte 
irgend eine Wiederannäherung herbeigeführt; immer tiefer geriet 


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1901. 


Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 


223 


der Vater in die Netze seiner katholischen Umgebung und immer 
schroffer wurde sein Auftreten gegen die Söhne, die sich weigerten, 
ihre Bekehrung in seinem Sinne vorzunehmen. Natürlich hatte 
die evangelische Bevölkerung mit Spannung die Haltung des Erb- 
prinzen verfolgt und trotz der langjährigen Trennung war er für 
sie kein Unbekannter, als er im Jahre 1728 nach Bückeburg kam. 
Was dem jungen Grafen gegenüber dem Vater zum Nachteil ge- 
reicht hatte und vielleicht zu seiner Enterbung hätte führen hönnen, 
das war in den Augen des Landes seine Ehre und sein Ruhm; 
die Schaumburger wussten sehr wohl, dass sie einen neuen Herrn 
erhielten, der schon damals in England, Holland und Deutschland 
im Rufe eines ausgezeichneten Mannes stand. 

„Gott sei Dank/ 4 schrieb einer seiner zahlreichen Freunde, 
der Graf von Wassenaer, am 10. August 1728 an den neuen 
Landesherrn, „Gott sei Dank, ich bin jetzt ziemlich unterrichtet 
über das, was sich seit Ihrem Regierungsantritt zugetragen hat; 
Herr von Neuburg hat mich au fait gesetzt; ich billige und be- 
wundere Ihre weise, kluge, edelmütige Haltung; er hat mich an- 
genehm überrascht durch die Beschreibung, die er mir von Ihrer 
Grafschaft gemacht hat, die, wie er sagt, das schönste und frucht- 
barste Land ist, das er je gesehen hat .... Wenn Sie in der 
Folge den Versuchungen zu widerstehen wissen, die das Wohl- 
ergehen und die Grösse begleiten, wenn Sie fortfahren, freundlich 
und liebenswürdig gegen Jedermann zu sein, so werde ich Sie wie 
einen Mann betrachten, der ganz einzig in seiner Art ist, und die 
Wertschätzung und die Verehrung Ihrer ganzen Umgebung wird 
Ihnen sicher sein. Wer weiss, ob nicht Ihr Beispiel einige Ihrer 
Standesgenossen bessern wird in ihrem Stolz und ihrem unerträg- 
lichen Hochmut. 44 

Der neue Herr fand bei seiner Ankunft ein durch die 
starke Misswirtschaft der vergangenen Jahre arg zerrüttetes Land 
und Verhältnisse, die durch die Beziehungen zu der Stiefmutter 
sehr erschwert waren. Albrecht Wolfgang selbst war infolge der 
Weigerung seines Vaters, den Unterhalt seiner Angehörigen zu 
bestreiten, tief in Schulden geraten und durch alle diese Dinge 
gezwungen, sich ganz der Verwaltung seines Landes und der 
Ordnung seiner eigenen Verhältnisse zu widmen. Die Zustände 
am Bückeburger Hofe, wo sich allerlei Personen und Einflüsse 
festgenistet hatten, forderten ein klares Auge und eine feste Hand; 


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Keller, 


Heft 7 u. 8. 


zunächst hielt es der Graf nicht einmal für angänglich, seine 
Söhne Georg und Wilhelm bei sich zu behalten; sie wurden der 
Hut der Grossmutter übergeben, die in Stadthagen Hof hielt 
Alle künstlerischen und litterarischen Neigungen traten vor den 
Sorgen des Tages zurück. Noch im Jahre 1738 schrieb er einem 
Freunde, der ihm einige Gedichte geschickt hatte, um sie in 
Musik zu setzen, er habe jetzt keine Zeit mehr zum Komponieren. 
Zudem bot weder die kleine Residenz, noch die sonstige Um- 
gebung Anregung zur Pflege künstlerischer oder litterarischer Inter- 
essen. Nur den gewohnten Briefwechsel mit seinen zahlreichen 
Freunden setzte er fort, unter denen im November 1730 auch der 
braunschweigische Geheime Rat Friedr. de Thom genannt wird, 
der im selben Jahr durch den Herzog von Norfolk zum Prov.- 
Grossmeister von Niedersachsen ernannt worden war. 

Besondere Aufmerksamkeit erforderte die Lage der kon- 
fessionellen Verhältnisse, da die Bevölkerung durch die katho- 
lisierenden Neigungen Friedrich Christians stark erregt war. 
So sehr der Unionsgedanke auf dem Wege des regierenden Grafen 
lag, so war bei der eingetretenen Verschärfung der Gegensätze 
jeder bezügliche Versuch aussichtslos; er musste sich daher darauf 
beschränken , Geistliche von versöhnlicher Gesinnung in das 
Land zu berufen, die damals wie früher in grösserer Zahl als 
anderswo unter den reformirten Predigern zu finden waren. Als 
es sich um die Berufung eines solchen an die von Albrecht Wolf- 
gang neubegründete reformirte Gemeinde zu Stadthagen handelte, 
bat der Graf unter dem 2. Juni 1736 den Hofprediger Noltenius 
zu Berlin um die Empfehlung eines Geistlichen, der geeignet 
sei, „die Harmonie unter den Konfessionen seines Landes zu 
befestigen.“ Neben den Regierungs- und Familienangelegenheiten 
— im April 1730 fand seine Hochzeit mit Friederike Charlotte 
von Nassau-Siegen, der Witwe des im Jahre 1728 verstorbenen 
Fürsten Leopold von Anhalt- Dessau statt — war es besonders 
die Ausbildung seiuer beiden Söhne, die des Grafen Aufmerk- 
samkeit in Anspruch nahm. Er hatte sich im Jahre 1733 ent- 
schlossen, die jungen Grafen in Begleitung des ihm durch Ber- 
liner Freunde empfohlenen Hugenotten Philipp von Beschefer 
und des Hauptmanns Henry Dufresnoy nach Lausanne zu 
schicken ; er begnügte sich aber nicht damit, für sie zwei tüchtige 
Gouverneure ausgewählt zu haben, sondern erörterte in eingehendem 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg- Lippe etc. 225 

Briefwechsel mit letzteren den Studienplan und die Erziehungs- 
methode l ). 

Die Mitwirkung an den Arbeiten des Maurerbundes war 
nach Lage der Verhältnisse für den Grafen seit seinem Regierungs- 
antritt stark erschwert. Mitglieder englischer Logen gab es um 
jene Zeit in Deutschland nur wenige und jedenfalls fehlte ihneu 
jeder feste Mittelpunkt und jede geistige oder gesellschaftliche 
Bedeutung. Wohl aber war für den Grafen ein Verkehr mit den 
Mitgliedern der auch in Deutschland zahlreich vorhandenen älteren 
Sozietäten möglich. Und wirklich sehen wir ihn frühzeitig in einem 
freundschaftlichen Briefwechsel mit zweien der angesehensten Führer 
dieser alten Gesellschaften, nämlich mit Barthold Heinrich 
Brockes in Hamburg und mit J. G. Hirzel in Zürich 2 ) — einem 
Briefwechsel, der eine gewisse Übereinstimmung der beteiligten 
Männer gerade in denjenigen Fragen erkennen lässt, welche das 
einende Band jener Sozietäten bildeten, nämlich in Fragen der 
philosophisch-religiösen Weltanschauung. Indem Albrecht Wolfgang 
Brockes gestattete, ihm (dem Grafen) seine im Jahre 1738 erschie- 
nene Sammlung religiöser Dichtungen zu widmen, bekundeten beide 
Männer öffentlich eine hohe gegenseitige Wertschätzung. 

Die Widmung des Werkes 3 ) lautete: 

Grosser Graf! 

Erhabener Geist! 

Auszug dessen, was die Welt 

An Verdienst und Seelengrösse gross und für vor- 

1 trefflich hält; 

Der an Wissenschaft, Erfahrung, Muth, Vernunft, 

Person und Stande, 

Tugeud, Menschen-Lieb' und Grossmuth unserm 

ganzen Teutschen Lande 

Selbst ein Irdisches Vergnügen! Dir auf Dein gehofft 

Belieben, 

Wird, des Irdischen Vergnügens Auszug, billig zu- 
geschrieben. 

(gez.) B. H. Brockes. 


*) Der sehr beachtenswerte Briefwechsel aus den Jahren 1733 — 1741 
beruht im Fürstl. Archiv zu Bückeburg. 

2 ) Der Briefwechsel beruht im Fürstl. Archiv zu Bückeburg. 

*) Der Titel lautet: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem von 
Herrn Barthold Heinrich Brockes in fünf Teilen herausgegebenen Irdischen 
Vergnügen in Gott. Mit Genehmigung des Herrn Verfassers gesammelt 


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226 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


Bei dem Ansehen, welches Brockes damals in Deutschland 
genoss — er war vor Klopstock wohl der meistgenannte nord- 
deutsche Dichter — waren diese Verse, so unbeholfen und hölzern 
sie sein mochten, doch ein Denkmal, das weithin sichtbar wurde. 

Die im Jahre 1643 zu Hamburg begründete „deutschgesinnte 
Genossenschaft“ — im Kreise der Mitglieder ward sie auch die 
Brüderschaft der •drei Rosen genannt 1 ) — hatte im 18. Jahr- 
hundert in der um 1705 durch Brockes (1680 — 1747) neu auf- 
blühenden „teutschübenden Gesellschaft“ eine Fortsetzung erhalten. 
Diese Sozietät war es, deren Angehörige zuerst seit 1724 ihre 
moralische Wochenschrift, den „Patriot“, herausgaben, ohne die 
Namen zu nennen, und die dann im Jahre 1737 öffentlich als 
Mitarbeiter des erneuerten „Patrioten“ hervortraten. 

Mitglieder der „Hamburger Sozietät“ waren u. a. der Leiter 
des akademischen Gymnasiums Michael Richey, der Prediger 
der englischen Sozietät John Thomas, der Senator Conrad 
Widow, der Professor der Moral Joh. Albert Fabricius, der 
auch Mitglied der Sozietät an der Pegnitz (Pegnitzschäfer) war, 
die sich nach ihrem Abzeichen (der Passions-Blume) auch Blumen- 
gesellschaft nannte, und der im Jahre 1728 die „Teutsche Ge- 
sellschaft“ zu Jena begründet hatte. Zu dem Hamburger Kreise 
der „Poeten“ gehörten auch der berühmte Mediziner Peter 
Carpser, der Hausarzt von Brockes war, und der Neffe Conrad 
Widows und Schüler Richeys, Dr. Peter von Stüven, der als 
thätiger Mitarbeiter des „Patrioten“ genannt wird 2 ). 

und mit verschiedenen Kupfern ans Licht gestellt. Hamburg, Bey Christian 
Herold 1738. — Das Buch zeigt auf einem Titelkupfer ein Kleinod (Medaille) 
der Hamburger Sozietät, wie es ähnlich auch die älteren Sozietäten besassen, 
mit bekannten symbolischen Zeichen und Figuren. (Uber diese Kleinode 
vgl. Keller, Comenius u. die Akad. d. Naturphilosophen im 17. Jahrh. Berl. 
1895.) Auch die „verschiedenen Kupfer“ enthalten zahlreiche maurerische 
Symbole, wie sie schon in den alten Sozietäten nachweisbar sind. — Die 
Vorrede zu dem Buche hat Hagedorn geschrieben und „Hamburg, den 
13. März 1738“ gezeichnet. 

*) Einiges über ihre Geschichte s. bei Keller, Comenius und die 
Akademien, Berlin 1895, S. 29 ff. — Die Sozietät führte als Zeichen einen 
Rosenstock mit drei weissen Rosen. Die Gesellschaft bestand in Resten 
noch im 18. Jahrhundert. Wie kommt es, dass die im Jahre 1770 in Hamburg 
auftauchende Loge ebenfalls den Namen „Zu den drei Rosen“ führt? 

*) S. über Stüven u. a. den Artikel Ferd. Heitmüllers in d. Allg. 
deutsch, Biogr. Bd. 37, S. 94 f. 


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1901. 


Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 


227 


Es ist möglich, dass die jüngeren Mitglieder dieses Hamburger 
Freundeskreises aus ihren Verbindungen mit London und aus dem 
wachsenden Ansehen der neuen englischen Sozietät die Anregung 
schöpften, nach dem Vorbild der „Ecole Britannique“ eine Sozietät 
von „freien Maurern“ zu konstituieren. Jedenfalls steht fest, dass 
am 6. Dez. 1737 zu Hamburg unter dem Namen „Societö des 
acceptds Magons libres de la ville de Hambourg“ — so lautet 
die Bezeichnung des erhaltenen Protokolls *) — eine Loge be- 
gründet ward, die damals 7 Mitglieder zählte. Begründer dieser 
Sozietät und ihre ersten Beamten waren neben zwei von auswärts 
stammenden Brüdern der Arzt Peter Carpser und Dr. Peter 
von Stiiven, jener als Aufseher (Surveillant), dieser als erster 
Sekretär. Diese Loge war es, an die sich Graf Albrecht Wolf- 
gang durch Vermittlung F. C. von Albedy 11s wandte, als es 
sich um die Aufnahme des Kronprinzen von Preussen handelte. 

Ebenso finden wir den Grafen frühzeitig in Verbindung mit 
dem zweiten Hauptsitz der älteren Gesellschaften, nämlich mit 
der Schweiz. In Zürich bestand unter Teilnahme J. J. Bodmers 
und Breitingcrs ums Jahr 1721, wie oben erwähnt, eine Sozietät 
„Die Mahler“, welche unter maurerischen Formen arbeitete 2 ). Zu 
diesem Kreise der „Mahler“ und ihrer Freunde gehörte auch die 
Familie Hirzel. 


Auf der Reise, welche König Friedrich Wilhelm I. von 
Preussen im Jahre 1738 in Begleitung seiner beiden ältesten Söhne 
und des Grafen Leopold von Anhalt- Dessau in die Niederlande 
machte, nahm er am 17. und 18. Juli in Minden Aufenthalt, und 
hier machte Graf Albrecht Wolfgang seine Aufwartung. Bei Tafel 
kam das Gespräch auf die neue Sozietät, und während Friedrich 
Wilhelm sich sehr abfällig über sie äussertc, hatte der Graf den 
Mut, dem Könige in Gegenwart der Umgebung zu widersprechen. 
Er verteidigte nicht nur den angegriffenen Bund mit grosser 
Freimütigkeit, sondern wagte es auch, öffentlich zu erklären, dass 
er selbst Maurer sei. Dieses offene Bekenntnis, das durch die 
begleitenden Umstände die That eines mutigen Mannes war, machte 

*) Näheres in der Schrift: „Säkularfeier der Einführung der Frei- 
maurerei in Hamburg und Deutschland am G. Dez. 1837“. 

2 ) Keller, Die deutschen Gesellschaften etc. Berlin 1900. S. 14 f. 

Monatshefte der Comenius-GesellBchaft. 1901. i r, 


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228 


Keller, 


Heft 7 u. 8. 


auf alle Anwesenden Eindruck, nicht am wenigsten auch auf den 
Kronprinzen, der während des Gesprächs, das sich vor seinen 
Augen und Ohren zutrug, seinen Entschluss gefasst hatte. Sofort 
nach aufgehobener Tafel nahm er den Grafen beiseite und sprach 
ihm unter dem Siegel der Verschwiegenheit den Wunsch aus, 
Mitglied einer Verbindung zu werden, der so ausgezeichnete 
Männer angehörten. 

Aus dem erhaltenen Briefwechsel lässt sich der Gang, den 
die Sache dann unter Leitung des Grafen Albrecht Wolfgang 
nahm, in allen seinen Abschnitten genau verfolgen. Zunächst 
wandte sich der Graf an den ihm persönlich am nächsten stehenden 
Herrn von Albedyll in Hannover 1 ), und dieser führte den am 
29. Juli 1738 erfolgten Beschluss der oben erwähnten Hamburger 
Loge herbei, zur Aufnahme des Kronprinzen eine Abordnung nach 
Braunschweig zu senden, die am 11. August auch dort anlangte 
und mit dem Grafen Albrecht Wolfgang und dem Grafen Georg 
Ludwig von Kielmannsegge aus Hannover zusammentraf 2 ). 

In der Nacht vom 14. zum 15. August 1738 erschien der 
Kronprinz in der Loge — er hatte aus seiner Umgebung den 
Reichsgrafen von Wartensleben ausgewählt, um ihn auf diesem 
Gange zu begleiten — und Hess sich zum Mitgliede aufnehmen. 

Mit dieser Aufnahme hatte sich durch Vermittlung des 

! ) Der im Protokoll-Buch der Hamburger Loge erhaltene Auszug aus 
dem Anschreiben des Grafen an Friedrich Christian von Albedyll vom 
19. Juli 1738 lautet: 

Pai commission d’une main illustre, mais qui ne veut point etre connu 
d’avance, d’arranger s’il est possible, qu’il puisse etre re$eu Franc Mayon a 
Bronsvic cette foire d’Etd, ou le rendezvous seroit. Je ne connois que Vous 
de Confreres de Pordre: pour moi, quoique re£eu maitre, j’en ignore trop 
pour oser me charger de la direction de la Loge, supposö que nous puissions 
en assembler un nombre süffisant. Je Vous suppiie de me marquer si Vous 
pourcz suppliez ä ce döfaut. Vous juger aisement Mons., qu’il faut que la 
commission me soit donnöe par une main illustre et respectable, puisque je 
me porte a Vous en importunez. J’en ai etö cependant presst si vivement 
qu’encas que Vous ne pouroz nous tirez d’embarras et que Vous ne puissiez 
Vous rendre a Bronsvic, ou je me rendrai en cas que Vous v vennez et m’y 
indiquer un nombre süffisant et un Maitre propre a l’acte de la Reception, 
il me faut une response ostensible. 

De Schaumburg Lippe. 

*) Es waren u. A. anwesend von Oberg, von Löwen, von Bielfeld 
(Stiiven war durch Krankheit verhindert) und von Albedyll. 


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1901. Graf Albrecht Wolfgang von Schaumburg-Lippe etc. 229 

Grafen eine Thatsache von geschichtlicher Bedeutung vollzogen, 
eine Thatsache, die ihre Wirkungen allmählich weit über die 
Kreise der nächstbeteiligten Männer hinaus erstreckte und die 
in ihren weiteren Folgen das gesamte deutsche Geistesleben tief 
beeinflusst hat. Als Friedrich nach seiner Thronbesteigung im 
Jahre 1740 seinen Anschluss an den Bund öffentlich bekannt 
machte, war das Erstaunen allgemein, je mehr aber in den folgenden 
Jahrzehnten der Ruhm seines Namens alle anderen deutschen 
Namen überragte, um so mehr fand das gegebene Beispiel gerade 
unter den geistigen Führern der Nation Nachahmung, und ein 
grosser Teil der Männer, die sich zu Friedrichs Mitkämpfern 
und Geistesverwandten zählten, suchte und fand den Anschluss 
an den Maurerbund. Mit dem Scharfblick, wie er dem Hasse 
eigen zu sein pflegt, erkannten die Gegner, welch gewaltigen 
Machtzuwachs die Sache des grossen Königs durch die freiwillige 
Mitarbeit bewährter Männer gewinnen musste, die zu gleichem 
sittlichem Streben sich die Hand reichten, und es ist erklärlich, 
dass kein Mittel unversucht geblieben ist, um in die geschlossenen 
Reihen Bresche zu legen. 

Für die nächstbeteiligten beiden Fürsten knüpften sich an 
das Braunschweiger Ereignis durchweg erfreuliche Ergebnisse; 
das brüderliche Band, welches seit 1738 geschlossen war, fand 
in den folgenden Jahren seinen Ausdruck in einem lebhaften und 
intimen schriftlichen und persönlichen Verkehr. Aus dem Brief- 
wechsel, der bis zur Thronbesteigung des Königs ein sehr reger 
war, sind bisher leider nur die Schreiben Friedrichs des Grossen 
(und auch diese nicht sämtlich), nicht aber die Antworten Albrecht 
Wolfgangs der Öffentlichkeit übergeben worden l ). Es waren in 
den Jahren 1738 — 1740, wo der Briefwechsel eigenhändig geführt 
ward, vornehmlich Fragen der Kunst und der Wissenschaft, die 
den Gegenstand des Meinungsaustausches bildeten; man erkennt, 
wie Graf Albrecht Wolfgang, den die Regierungssorgen seinen 
früheren Neigungen und Beschäftigungen einigermassen entfremdet 
hatten, auf Anregung Friedrichs jetzt zu seiner alten Liebe, ins- 
besondere zur Musik, zurückkehrt; er fing wieder an, eigene 
Kompositionen zu machen, die er dann dem Kronprinzen zu- 
schickte. Aber er unterliess auch nicht, in seinen Briefen die 


l ) Oeuvres de Fr«kl6ric le Grand. Berlin 1850 ff. Bd. XVL 

15* 


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230 


Keller, Graf Albrecht Wolfgang etc. 


Heft 7 u. 8. 


tiefsten Fragen philosophischer Natur, besonders solche, welche 
die Pflichten eines Fürsten betrafen, zu berühren und sie im 
Geiste der Humanität — auch dieses Wort wird wiederholt 
betont — mit dem ihm eigenen Freimut zu erörtern. 

Der Briefwechsel zwischen diesen beiden bedeutenden Fürsten, 
deren Geist die weitesten Gebiete menschlicher Interessen um- 
spanute, bietet noch heute dem Betrachter ein nicht gewöhnliches 
Interesse dar; jedenfalls bildet er ein Denkmal des deutschen Geistes- 
lebens am Beginne einer seiner entscheidendsten Entwicklungen. 

Man kann leicht ermessen, mit welcher Genugthuung Albrecht 
Wolfgang dem auf steigenden Stern des grossen Königs seit dem 
Beginn der schlesischen Kriege folgte. Wie dem Grafen die 

Teilnahme Friedrichs erhalten blieb, so bewahrte er sie auch 
seinerseits dem Freunde in treuer Ergebenheit Als Albrecht 
Wolfgang im Jahre 1748 die Augen schloss, starb in ihm ein 
deutscher Fürst und ein deutscher Mann, dem sein Land wie die 
Nation zu Dank verpflichtet sind. Die Saat, die er in stiller, 
aber thätiger Arbeit ausgestreut hatte, trug vielfältige Frucht und 
sein Geist lebte fort in seinem Sohne und Nachfolger, der unter 
günstigeren Verhältnissen als der Vater zu wirken berufen war. 


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Immanuel Kant und die moderne Mystik. 

Ein Vortrag 
von 

Theobald Hermann. 


Der moderne Occultismus, insbesondere sein Haupt Vertreter, 
der unlängst verstorbene Professor Du Prel in München, hat 
wiederholt versucht, den grossen Philosophen von Königsberg als 
Schildhalter für die von ihm vertretene Mystik in Anspruch zu 
nehmen. Die Meinung hat, wie billig, von verschiedenen Seiten 
Widerspruch erfahren; aber die Erörterung der Frage ist noch 
nicht ganz verstummt So behandelt u. A. Chamberlain in seinen 
Grundlagen des XIX. Jahrhunderts (Kapitel: Weltanschauung 
und Religion) die Verwandtschaft Kants mit den Mystikern wie 
eine gewissermassen selbstverständliche Sache. Es scheint mir 
nicht unwichtig für die moderne Philosophie, die trotz allem, was 
im abgelaufenen Jahrhundert geschrieben wurde, noch heute durch 
und von Kant lebt, mit dieser Sache endgültig aufzuräumen. 
Denn gerade die Erkenntnis dessen, was Kant nicht war und 
nicht wollte, kann ein Fingerzeig werden, wo und wie wir ein- 
mal über ihn hinaus kommen können. Soweit es im Rahmen 
eines Vortrages möglich ist, habe ich vor zu zeigen, dass die 
Mystik in Kants Lehre keinen Boden findet. 

Verständigen wir uns zunächst über den etwas schwankenden 
Sinn des Wortes „Mystik“. Die Definition muss ziemlich weit 
gefasst werden, um alles einzuschliessen, was der Sprachgebrauch 
mit diesem Worte zu verknüpfen pflegt. Eine kurze historische 
Einführung wird hier von Nutzen sein. 

Im engeren, theologischen Sinne bezeichnet man mit Mystik 
eine Richtung des religiösen Lebens, welche es versucht, auf dem 
Wege der Andacht die Immanenz des Unendlichen im Endlichen 
zugleich praktisch zu erfahren und theoretisch festzustellen. Im 
Gegensatz zur Scholastik, welche die Vereinigung mit Gott erst 
im jenseitigen Leben für erreichbar hielt, wollte die Mystik an 
dieses höchste Ziel christlichen Strebens, unter Überschreitung 
aller rationellen Vermittelung, durch das Gefühl, mit dem das 
Ich im All, im unterschiedslosen Wesen Gottes aufgeht, schon 


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Hermann, 


Heft 7 u. 8. 


in diesem Leben gelangen. Da nun das in allen Wesen vor- 
handene Allgemeine nichts Bestimmtes, Persönliches ist, so hat 
allezeit Wahlverwandtschaft der christlichen Mystik mit dem Pan- 
theismus bestanden. Sie nimmt ihren Ausgang von den aus dem 
Anfang des 6. Jahrhunderts stammenden, fälschlich dem Dionysius 
Areopagita der Apostelgeschichte zugeschriebenen Werken und 
hat sich durch das ganze Mittelalter, im Morgen- wie im Abend- 
lande, in verschiedenen Schattierungen entwickelt, deren Unter- 
schiede ich hier nicht weiter verfolgen kann. Ich bringe die 
grössten Namen in Erinnerung: Joh. Scotus Erigena, Bernhard 

v. Clairveaux, Bonaventura als Vertreter der romanischen, Eckhart, 
Tauler, Suso, den unbekannten Verfasser der deutschen Theologie, 
Ruysbrock, Thomas a Kempis als Vertreter der germanischen 
Mystik. In der neueren Zeit haben an diese letzteren Männer 
Jacob Böhme und später Schelling und Schleiermacher angeknüpft. 
— Paracelsus, Giordano Bruno, Thomas Campanella sind natura- 
listisch gefärbte Mystiker, Franz von Sales, Angelus Silesius, 
Molinos dagegen katholisch .gläubige, wenn auch nicht orthodoxe. 

Die christliche Mystik ist aber nur ein Teil dessen, was 
man sich gewöhnt hat, unter den Begriff der Mystik überhaupt 
zu bringen. Dazu gehört viel mehr aus ältester und neuester Zeit 
Schon der Pseudo-Dionysius schöpfte aus weiter zurückliegenden 
Quellen. Er übersetzte die christliche Dogmatik in die neu- 
platonische Spekulation, deren emanatistische Doctrin, ebenso wie 
die phantastische Theosophie der christlichen Gnostiker und die 
jüdisch-alexandrinische Philosophie, insbesondere Philos, sicherlich 
nicht allein von den offen vorgetragenen Lehren der grossen 
hellenischen Philosophen, sondern auch durch die Mysterien und 
Geheimkulte beeinflusst worden sind, welche noch in den ersten 
Jahrhunderten der christlichen Zeitrechnung in den Ostländern 
des Mittel meeres in Blüte standen, und von denen unsere Kirchen- 
historiker nur sehr bedauern, so wenig zu wissen. Überall ist es 
das bewusste oder unbewusste Verlangen nach synthetischer Ein- 
heit, das zur Annahme eines transcendenten Ürwesens als des 
Grundes aller Vielheit führt. Da aber die Entwickelung dieser 
aus der Einheit begrifflich nicht gelingt, so entsteht einerseits 
durch Zuhülfenahme der Phantasie jene wunderliche Brücke von 
substantialisierten Ideen, Engeln, Dämonen u. s. w. bis herab zum 
Menschen, der organischen und unorganischen Natur, andrerseits 
unter Zuhülfenahme des Gefühls das Bestreben, eine direkte Be- 
ziehung der Einzelseele zum Allwesen auf dem Wege der inneren 
Erleuchtung herzustellen und damit eine Erkenntnis zu erlangen, 
die mehr ist als Glaube, was aber immer nur Wenigen und diesen 
Wenigen nur selten gelingt. Damit verknüpft sich die Auffassung 
der Seele als einer immateriellen Substanz, ihre Präexistenz und 
ihre Postexistenz. 


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1901. 


Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


233 


Erkennbare Fäden führen nicht nur rückwärts zu den orphi- 
schen und anderen antiken, endlich zu den egyptischen Mysterien, 
sondern auch weiter nach Osten. Die Essäer, aus deren Geheim- 
lehre, wie es scheint, die mittelalterliche Kabbala erwuchs, sind 
wahrscheinlich weniger durch alte pvthagoräische Ideen als durch 
den Parsismus beeinflusst worden, der seinerseits schon buddhistische 
Elemente aufgenommen hatte. So gelangen wir nach Indien, 
dem Mutterlande der Metaphysik und Mystik. Nicht zwar möchte 
ich den esoterischen Buddhismus zu der letzteren rechnen, wenn 
auch „Versenkungen“ zweiffcllos zur buddhistischen Praxis gehört 
haben; denn wir wissen mit Sicherheit, dass Gotama jede Art 
von Metaphysik abgelehnt hat und eine rein diesseitige Erlösungs- 
religion geben wollte. Die Seele wird niemals transcendent. Sie 
bleibt bei ihrer Wanderung im Diesseits. Darum erlöst von dem 
immer leidvollen Leben nicht der Tod, sondern allein der Wille, 
der das Leben verneint. — Um so mehr aber gehört zur Mystik 
die Erleuchtung des brahmanischen Waldeinsiedlers, jene Spitze 
der Vedänta-Philosophie , in der die Identität von Brahman und 
Atman, des Alls und der Seele, nach langer körperlicher und 
geistiger Vorbereitung blitzartig aufgeht und damit die Quelle 
alles Übels, das „Nichtwissen“, endgültig verstopft, der Schleier 
der Maya zerrissen wird. 

Mit der Emanations- oder Identitätstheorie und der Praxis 
der religiösen Erleuchtung verknüpft sich nun naturgemäss die 
Magie. Die Seele, welche sich als Ausfluss des Urwesens oder 
gar als mit ihm identisch gefühlt und erfasst hat, ist auch Herr 
der Natur, wie jenes. Sie glaubt den Schlüssel zu ihrem unsicht- 
baren Wesen zu besitzen und ihre Erscheinungen meistern zu 
können. Die Zaubereien der alten Priester, die wunderbaren 
Heilungen, das Weissagen, die theurgische Magie der Neuplatoniker, 
die Astrologie und Alchemie des Mittelalters, die Geisterseherei 
des IS. Jahrhunderts: dies alles findet — von den zahlreichen Fällen 
bewusster Betrügerei abgesehen — in jenen Gedanken seine ernst- 
hafte Grundlage. Je mehr aber wirkliche Erfahrungswissenschaft 
und Forschung durchbricht, aus Astrologie Astronomie, aus Al- 
chemie Chemie, aus Zauberei Medizin, aus Magie im Allgemeinen 
gesundende Naturphilosophie wird, desto mehr ändert sich das 
Verhältnis. Die moderne Mystik, zu der Du Prel den tierischen 
Magnetismus, den Hypnotismus, den Somnambulismus und den 
Spiritismus rechnet, will Erkenntnis des Übersinnlichen nicht 
durch theosophische Spekulation oder religiöse Erleuchtung, son- 
dern auf dem Wege des Experiments erreichen. Sie versucht 
Erfahrungswissenschaft zu sein, verbindet sich mit der empiri- 
schen Psychologie und will letzten Endes, wie alle Mystik, das 
religiöse Bedürfnis nicht durch Glauben, sondern durch Wissen 
befriedigen. 


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Hermann, 


Heft 7 u. 8. 


Versuchen wir nun, alle diese Erscheinungen überblickend 
und zusammenfassend, zu definieren, so können wir vielleicht 
sagen: 

Mystik ist — praktisch — eine nur von Wenigen anwend- 
bare und daher meist in geschlossenen Kreisen gepflegte Methode, 
unter Benutzung von entweder spontan sich einstellenden oder 
künstlich erzeugten eigentümlichen psychischen Zuständen, in denen 
Phantasie und Gefühl stark hervor-, begriffliches Denken und be- 
wusste Willensthätigkeit dagegen zurücktreten, die objektive Reali- 
tät des Uebersiunlichen, welche das subjektive metaphysische 
Bedürfnis bereits voraussetzt, auf dem Wege der Erfahrung zu 
erweisen; theoretisch aber ist Mystik die eine solche Praxis 
begründende Weltanschauung oder die Lehre von der Möglichkeit, 
Anwendbarkeit und dem Werte jener Methode, d. h. eine mystische 
Philosophie hätte zu beweisen, dass das Übersinnliche der äusseren 
oder inneren Erfahrung überhaupt zugänglich ist, dass die Er- 
fahrungen Einzelner allgemein-giltige Folgerungen zulassen, und 
endlich dass die Resultate, falls erreicht, sittlichen und religiösen 
Wert haben. 

Welche Stellung nimmt nun Kant hierzu ein? 

Der Versuch, in seiner Lehre eine Begründung der Mystik 
zu finden, ist keineswegs neu. Schon im Dezember 1781 schrieb 
der „Magus des Nordens“ Hamann an Herder folgendes: 

„Bei Green traf ich neulich Kant. Er war sehr vertraut 
mit mir, ungeachtet ich ihn das vorige Mal ein wenig stutzig 
gemacht hatte, da ich seine Kritik billigte, aber die darin ent- 
haltene Mystik verwarf. Er wusste gar nicht, wie er zur Mystik 
kam. Mich hat es sehr gefreut, dass L. (Lavater) eine gleich- 
förmige Sprache mit Kant führt: ein neuer Beweis für mich, dass 
alle Philosophen Schwärmer sind, und umgekehrt, ohne es zu 
wissen. 1 “ 

Aus diesem interessanten Passus folgt zweierlei: 1. dass 

Kaut selbst nicht daran gedacht hat, der Mystik Vorschub zu 
leisten, 2. aber, dass in seiner Lehre doch etwas stecken muss, 
was den Freunden der Mystik wenigstens Veranlassung geben 
kann, sich auf ihn zu berufen. 

Was den ersten Punkt an langt, so ist er mit Leichtigkeit 
aus ungezählten Stellen der Kantischen Schriften zu beweisen. 
Herr von Lind hat sich in seiner 1895 erschienenen Widerlegung 
der Du PrePschen Ansicht, betitelt: „KanPs mystische Welt- 

anschauung, ein Wahn der modernen Mystik“ die Mühe genommen, 
eine ganze Anzahl derselben zusammenzustellen. Sie lassen sich 
leicht vermehren. Kant zieht eigentlich bei jeder sich bietenden 
Gelegenheit mit gewichtigem Ernst und mit beissendem Spott 
gegen die „Schwärmerei“, wie er die mystische Erleuchtung nennt, 
als den Tod aller Philosophie zu Felde. Gefühlsphilosophie ist 


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1901. 


Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


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ihm, dem Manne der reinen Vernunft, eine Contradictio in adjecto. 
Nirgends ist die Satyre stärker als in der Schrift: „Träume eines 
Geistersehers, erläutert durch Träume der Metaphysik“. Sie 
steigert sich dort sogar, was bei Kant sehr selten ist, zum 
Cynismus. Swedenborg wird als Erzphantast und halbverrückter 
Schwärmer, seine Arcana coelestia werden als 8 Quartbände Un- 
sinn abgethan. Es gehört in der That eine eigentümliche Vcrrannt- 
heit dazu, um aus dieser Schrift, wie ernsthaft versucht worden 
ist, Kant mystische Anschauungen nachzuweisen. Freiherr Eber- 
hard v. Danckelmann hat in einer kleinen Studie „Kant als 
Mystiker?“ (Leipzig 1897) den Aufsatz Du Preis im 4. Jahrgang 
der Zukunft (Nr. 48) „Kant und Swedenborg“ eifrig bekämpft. 
Das Schriftchen fasst die Träume eines Geistersehers im Wesent- 
lichen richtig auf. Das Verständnis dieser merkwürdigen Kan- 
ti sehen Schrift wird dadurch etwas erschwert, dass die Satyre sich 
nicht nur auf die Geisterseherei, sondern auch auf die Meta- 
physik in ihrem damaligen Zustande erstreckt, und dass eine 
leichte Selbstironie mit unterläuft. Kant stand damals, 1766, in 
seiner sogenannten empiristisch-skeptischen Periode. Er hatte den 
Glauben an Leibniz, Wolf und Crusius gründlich verloren, sich 
mit den Engländern, Humc an der Spitze, beschäftigt, aber seinen 
eigenen kritisch-rationalistischen Standpunkt noch nicht gewonnen, 
den Schlüssel noch nicht gefunden, „wie Metaphysik als Wissen- 
schaft möglich sei“. Dazu macht erst die berühmte Dissertation 
vom Jahre 1770 über Formen und Prinzipien der sensiblen und 
intelligiblen Welt den Anfang, in welcher er die im Hauptwerke 
ganz fallende Erkennbarkeit der letzteren noch festhält Man 
bemerkt in den „Träumen“, wie die Gedanken, welche die Rück- 
wendung zum Rationalismus vorbereiten, gegen den Zweifel an 
der Sicherheit der Wissenschaft, den der Empirismus mit sich 
führt, ankämpfen, und dadurch entsteht, namentlich im Anfang, 
eine ernste Färbung, die zu dem Missverständnis Anlass gegeben 
hat. Die eigentliche Tendenz der Schrift ist zweifellos: Er ver- 
lacht die Mystik seiner Zeit gründlich. Die Überschriften der 
Abschnitte genügen allein, dies zu erkennen: „Ein verwickelter 
metaphysischer Knoten, den man nach Belieben auflösen oder 
abhauen kann“. — „Ein Fragment der geheimen Philosophie, den 
Zugang zur Geister weit zu eröffnen“. — „Antikabbala oder ein 
Fragment der gemeiuen Philosophie, die Verbindung mit der 
Geisterwelt aufzuheben“. Ich denke: Sapienti sat. 

Auch mit dem vielbesprochenen Briefe Kants an Fräulein 
v. Knobloch möchte ich mich nicht lange aufhalten. Da er ent- 
weder von Kant selbst oder von seinem Biographen Borowski 
versehentlich falsch datiert ist, haben die Freunde der modernen 
Mystik versucht, den Brief nach 1766 zu setzen, um zu beweisen, 
dass Kant sein ungünstiges Urteil über Swedenborg in den „Träumen“ 
durch ein milderes in dem Briefe korrigiert habe. Der Versuch 


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Hermann, 


Heft 7 u. 8. 


ist misslungen, wie Robert Zimmerinann in Wien schon 1879 in 
seiner Schrift „Kant und der Spiritismus“ nachgewiesen hat. Der 
Brief gehört ins Jahr 1763 (allenfalls 1764), also vor die „Traume“ 
und ist geschrieben, ehe noch Kant die Swedenborgschen Werke 
gelesen hatte. Ausserdem enthält aber der Brief bei aller höflichen 
Zurückhaltung und Rücksicht einer jungen vornehmen Dame gegen- 
über, die sich, wie die ganze damalige Zeit, für Geisterseherei offen- 
bar lebhaft interessierte, doch einen so deutlichen Zweifel an der 
Zuverlässigkeit aller angeblichen mystischen Thatsachen, dass es 
verlorene Liebesmühe ist, Kant auf diesen Brief hin als Mystiker 
festnageln zu wollen. 

Anderweitig möchte ich auf den kleinen Aufsatz vom Jahre 
1790 hin weisen, betitelt: „Über Schwärmerei und die Mittel da- 
gegen“ und den Schluss citieren: „Nun glaubt der Schwärmer mit 
gutem Grunde von einer Sache, die seiner Meinung nach der 
grösste Naturforscher ihrer inneren Beschaffenheit nach ebenso 
wenig kennt als er, auch in Ansehung der möglichen Wirkungen 
derselben ebenso gut mitreden zu können. Aber der Letzte lässt 
nur solche Wirkungen gelten, die er vermittelst des Experiments 
jederzeit unter Augen stellen kann, indem er den Gegenstand 
gänzlich unter seine Gewalt bringt, indessen dass der Erstere 
Wirkungen auf rafft, die sowohl bei der beobachtenden als der 
beobachteten Person gänzlich von der Einbildung herrühren können, 

und also sich keinem wahren Experimente unterwerfen lassen. 

Wider diesen Unfug ist nun nichts weiter zu thun, als den ani- 
malischen Magnetismus magnetisieren und desorganisieren zu lassen, 
solange es ihm und anderen Leichtgläubigen gefällt. Weit- 

läufige Widerlegung ist hier wider die Würde der Vernunft und 
richtet auch nichts aus; verachtendes Stillschweigen ist einer 
solchen Art von Wahnsinn besser angemessen.“ 

Offenbar steht die Sache schlecht für die Mystiker, was 
ihre Berufung auf Kant angeht, und besser wird sie nicht, wenn 
wir lesen, was der zweite Biograph Kants, Jachmann, über diesen 
Punkt sagt: 

„Waren irgend eines Menschen Religionsmeinungcn kalte 
Aussprüche der Vernunft; hat je ein Mensch alles, was Gefühl 
heisst, von seinen religiösen Handlungen ausgeschlossen und alle 
fühlbare Gemeinschaft mit der Geisterwelt — — abgeleugnet; 
bestand je eines Menschen Gottesdienst blos in einem Gehorsam 
gegen das Vernunftgesetz und in einer von allem Sinnlichen ge- 
reinigten und rein motivierten Pflichterfüllung, so war dies bei 
Kant der Fall. — Man wird weder in den Schriften noch in 
dem Leben Kants irgend etwas Mystisches entdecken. Kant hat 
sich hierüber auch gegen mich ganz unverhohlen erklärt und ver- 
sichert, dass keins seiner Worte mystisch gedeutet werden müsse, 
dass er nie einen mystischen Sinn damit verbinde, und er nichts 


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1901. 


Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


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weniger als ein Freund mystischer Gefühle sei. Bei der Gelegen- 
heit tadelte er noch den Hang Hippels zur Mystik und erklärte 
überhaupt jede Neigung zur mystischen Schwärmerei für eine Folge 
und für ein Zeichen einer gewissen Verstandesschwäche.“ — — 

Trotz alledem werden wir noch den zweiten Punkt zu unter- 
suchen haben, ob nicht in der Lehre Kants sich dennoch Elemente 
finden, welche zu Gunsten der Mystik verstanden werden können. 
Dabei sehen wir nur auf die Grundgedanken des fertigen Systems, 
nicht auf die Entwickelungsperiode, nicht auf Einzelcitate, nicht 
auf die zerstreuten Reflexionen und auf lose Blätter aus dem 
Nachlass. Liest man aus den Schnitzeln einer philosophischen 
Werkstatt das Passende zusammen, so kann man mit einigem 
Geschick und gutem Willen so ziemlich alles beweisen, was man 
wünscht. Auf die Vorlesungen über Religions-Philosophie, Meta- 
physik, Psychologie, die nicht von Kants Hand, sondern in den 
Collegien nachgeschrieben sind und nach langer Vergessenheit so 
viel Lärm gemacht haben, komme ich am Schluss noch mit einigen 
Worten zurück. 

Wie steht es zunächst in der theoretischen Philosophie mit 
dem Ding an sich, dem Noumenon, der intelligiblen Welt? 

Nach Kant sind alle Dinge und Vorgänge, einschliesslich 
unserer psychischen Zustände, Erscheinungen eines uns unbekannten 
Etwas, das mit unsern äussern Sinnen und unserem inneren Sinne 
in einer durch keine Kategorie ausdrückbaren Beziehung derart 
steht, dass Empfindungen zustande kommen, welche wir durch 
die in uns a priori vorhandenen reinen Anschauungsformen von 
Raum und Zeit (die an sich nichts sind) neben und nach einander 
ordnen und durch die ebenfalls a priori gegebenen reinen Denk- 
formen (die an sich leer sind) zu Gegenständen und zu einem 
gesetzmässig verknüpften Ganzen zusammenfassen, welches Natur 
heisst. Die Erscheinungswelt ist also für uns wirklich, weil wir 
selbst sie schaffen. Für andere vernünftige Wesen, die Kant 
mit seinem Jahrhundert auf anderen Weltkörpern nicht nur für 
möglich, sondern sogar für sehr wahrscheinlich hielt, kann es je 
nach deren Sinnlichkeit unzählige andere Erschein ungs weiten geben, 
die alle empirische Realität haben. Die wirklich wirkliche Welt 
aber, oder das Ding an sich, oder die Dinge an sich könnte nur 
eine Vernunft erkennen, bei der Anschauung und Denken zusammen- 
fallen, von der wir uns aber nicht die geringste Vorstellung 
machen können. Es kann auch die Möglichkeit, zwar nicht be- 
wiesen, aber doch angenommen werden, dass es ausser den Dingen 
an sich noch andere, eigentliche Noumena giebt, denen gar nichts 
in der Erscheinungswelt correspondiert, und wenn man sich alle 
Noumena durch eine gesetzmässige Beziehung verbunden denkt, 
so entsteht die intelligible Welt. Die Noumena habefn aber für 
uns nur negative Bedeutung, d. h. es lässt sich so wenig als die 


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Hermann, 


Heft 7 u. 8 


Möglichkeit, so auch nicht die Unmöglichkeit von Dingen beweisen, 
welche nicht Objekte unserer sinnlichen Anschauung sind. Das 
ist alles was gesagt werden kann. Also, wohlbemerkt! auch die 
psychischen Zustände sind Erscheinungen, auch das Bewusstsein 
des Ich, auf das jene sämtlich bezogen werden, ist ein Phänomen. 
Das Ich selbst, das sogenannte transcendentale Subjekt, ist ein 
ganz unbekanntes Etwas, auf das die Kategorieen keine An- 
wendung finden; ob es ein einzelnes Ding, ob es beharrlich, ein- 
fach ist, in einem räumlichen Verhältnis steht u. s. f., davon 
wissen wir gar nichts. Emil Arnoldt hat das Kantische Verhältnis 
von Erscheinung und Ding an 6ich, sowie von Physischem und 
Psychischem meines Erachtens sehr zutreffend wie folgt präzisiert: 
„Die Affektion unserer leiblichen Organe durch bewegte Materie 
ist ein blosses Phänomen, dem ein uns unbekannter und für uns 
unfassbarer, nicht sinnlicher Vorgang zu Grunde liegt, welcher 
zwischen dem an sich seienden Substrat unserer Seele und dem 
an sich seienden Substrat der Körperwelt zum Vollzug kommt Das 
an sich seiende Substrat unserer Seele ist das unbekannte Wesen, 
dem wir das uns bekannte Denken und Anschauen zuschreiben; 
hingegen das an sich seiende Substrat der Körperwelt ist das 
unbekannte Wesen, dem wir die uns bekannten, Materie genannten 
Erscheinungen eines Ausgedehnten, Beweglichen, Anziehenden und 
Zuriickstossenden, Undurchdringlichen und Teilbaren zuschreiben; 
ob aber jene Wesen wirklich zwei sind oder ein und dasselbe, 
und wenn keines, dann ein Eins, welches die Vielheit nicht aus- 
schliesst, d. h. ein solches Eins, auf das der Zahlbegriff keine 
Anwendung findet: Davon kann Niemand etwas wissen.“ Wir 

sehen hier — nebenbei bemerkt — dass auf dem Boden des 
Kantischen Denkens der Monismus sehr wohl möglich, wenn auch 
durchaus unerweislich ist, niemals allerdings der Spinozismus. 
Will nun Jemand behaupten, Kant habe das transcendentale Subjekt 
in Du Preis Sinne, diese „Hauptsäule der modernen Mystik“ 
anerkannt, so kann dies nach dem Obigen unmöglich zugestanden 
werden, und will Jemand sagen, Kant habe durch die Zulassung 
der Noumena — wenn auch nur in negativer Bedeutung — der 
Mystik, wenn er sie auch persönlich nicht mochte, doch wenigstens 
ein Feld der möglichen Entwickelung eingeräumt, so muss auch 
dies verneint werden; denn gesetzt auch, es gelänge der empi- 
rischen Psychologie, auf deren erst in den Anfängen stehende 
Entwickelung die Mystik besonders hofft, die unendlich ver- 
wickelten psychischen Prozesse unter allgemein gütige Gesetze 
zu bringen und auch die Anomalien, auf welche sich der Occultis- 
mus hauptsächlich gründet, in jene Gesetze einzuordnen, ja selbst 
durch „Verschiebung der Bewusstseinsschwelle“ ganz neue psy- 
chische Thatsachen zu entdecken: was wäre, nach Kant, anderes 
gewonnen als eine vermehrte Erkenntniss der Erscheinungswelt? 


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Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


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Dem Übersinnlichen wurden wir ebenso nab und ebenso fern 
sein, wie heut und wie immer. 

Wie aber steht es nun in der praktischen Philosophie? 

Theoretisch hatte Kant die Möglichkeit der transcendentalen 
Freiheit durch seine Unterscheidung des Sensiblen und Intelligiblen 
gerettet. Ein und dieselbe Handlung eines vernünftigen Wesens, 
welche unter der Naturnotwendigkeit steht, sofern dieses Wesen 
als Phaenomenon zeitlich bedingt aufgefasst wird, kann wider- 
spruchslos als frei gedacht werden, insofern jenes als Noumenon 
zeitlos betrachtet wird. Der empirische Charakter als die streng 
kausal verknüpfte Kette der Handlungen ist die zeitlich auseinander- 
gezogene Erscheinung des intelligiblen Charakters, der sich durch 
eine zeitlose Freiheitsthat bestimmt. Die transcendentale Freiheit, 
theoretisch nur von negativer Bedeutung, wird positiv oder er- 
langt — in praktischer Absicht — objektive Realität als sittliche 
Freiheit d. h. als das Vermögen, dem durch die Vernunft ge- 
gebenen moralischen Gesetze auch gegen alle sinnlichen Triebe 
zu gehorchen, welches Können als unerlässliches Korrelat des 
Sol lens mit diesem gegeben ist, „selbst wenn es in Wirklichkeit 
niemals geschähe“, wie denn in der That keine moralische Hand- 
lung — da es sich bei ihr um die Gesinnung handelt — erfahrungs- 
mässig nachweisbar ist. Jedes vernünftige Wesen ist durch die 
ihm gestellte moralische Aufgabe Selbstzweck, und die Verbindung 
der vernünftigen Wesen zu einem Reich der Zwecke unter der 
Herrschaft des von ihnen selbst gegebenen Moralgesctzes ist der 
Endzweck der Welt. Da völlige Angemessenheit der Gesinnung 
zum moralischen Gesetze, oder Heiligkeit, keinem vernünftigen 
Wesen der Sinnenwelt in irgend einem Zeitpunkt seines Daseins 
zukoramen kann, so ist der Endzweck nur unter Voraussetzung 
eines unendlichen Progressus und einer ins Unendliche fortdauernden 
Existenz der Persönlichkeit denkbar. Da wir bei einem unend- 
lichen Progressus innerhalb der Zeitanschauung bleiben, so muss 
Kant, obwohl er es in den Hauptwerken nicht ausdrücklich sagt, 
der Meinung sein, dass der Tod uns nicht von der Sinnlichkeit 
befreit, sondern dass wir eine neue erhalten : also Seelenwanderung 
und Berührung mit Lessing. „Das heilige Oberhaupt im Reiche 
der Zwecke, der Unendliche, dem die Zeitbedingung nichts ist, 
sieht in dieser für uns endlosen Reihe das Ganze der Angemessen- 
heit mit dem moralischen Gesetze.“ Aber giebt es ein solches 
Oberhaupt? Ist es notwendig in dieser Geisterrepublik, in der 
jeder Bürger an der Gesetzgebung teilnimmt? Kant sieht sich, 
als er den Schlussstein setzen will, genötigt, das bisher sehr zurück- 
gesetzte Verlangen nach Glückseligkeit doch als eine gegebene 
erste Thatsache anzuerkennen. Sittlichkeit zwar das oberste, aber 
doch nicht das ganze höchste Gut Wer sich der Glückseligkeit 
würdig machte, ohne nach ihr zu streben, der muss, so fordert es 


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Hermann. 


Heft 7 u. 8. 


die Vernunft, sie im Verhältnis zu seiner moralischen Qualität 
erhalten. Bewirken aber kann dies nur ein oberster Urheber und 
Herr der Natur, ein höchstes Wesen mit moralischen Eigenschaften, 
ein heiliger, gütiger und gerechter Gott. Sein Dasein anzunehmen 
ist moralisch notwendig, damit das höchste Gut wirklich werde, 
wie das moralische Gesetz es verlangt. 

Diese Grundzüge der praktischen Philosophie scheinen nun 
in der That mystische Elemente aufzuweisen: der mit dem kate- 
gorischen Imperativ gesetzte Freiheitsbegriff schlägt die Brücke 
ins Übersinnliche; der intelligible Charakter mit seiner ausser- 
zeitlichen Freiheitsentschliessung ist ebenso, wie die wenigstens 
angedeutete Seelenwanderung nur unter der Voraussetzung über- 
sinnlicher Individualitäten denkbar: die Verbindung der vernünftigen 
Wesen zu einem intelligiblen Reich der Zwecke, „die Idee eines 
Corpus mysticum der vernünftigen Wesen in der Siunenwelt, das 
darin bestehen soll, dass die freie Willkür dieser vernünftigen 
Wesen unter moralischen Gesetzen, sowohl mit sich selbst als mit 
jeder anderen Freiheit durchgängige systematische Einheit hat“: 
dies alles scheint genügenden Grund für eine mystische Auslegung 
zu geben. Aber wenn man genau zusieht, scheint es eben doch 
nur so, denn dies alles gilt — Kant wiederholt es bei jeder thun- 
lichen Gelegenheit in der Kritik der praktischen Vernunft, wie in 
der der Urteilskraft — lediglich in praktischer Absicht; d. h.: 
Theoretisch lässt sich nichts darüber ausmachen; wollen wir aber 
in unser Leben Sinn und Zweck bringen, so werden uns theoretisch 
zulässige Hypothesen zu Postulaten, zu moralisch notwendigen 
Annahmen. Wir müssen glauben, weil wir handeln müssen. 
Das ist ja Kants unsterbliches Verdienst, dass er einerseits alle 
Schranken niederriss, welche eine sich selbst missverstehende Re- 
ligion der Wissenschaft im Felde der Erfahrung setzen wollte 
und noch heute will, und dass er andrerseits das Gebiet des un- 
erkennbaren Übersinnlichen dem Glauben vorbehielt. Die schweren 
Bedenken, denen die begriffliche Konstruktion der Postulate unter- 
liegt, habe ich hier nicht aufzuweisen. Genug, dass Kant sie 
nicht zum theoretischen Gebrauch bestimmte. Auch keine mystische 
Operation kann jemals den Schleier heben, theosophische Schwär- 
merei höchstens die Pflichterfüllung beeinträchtigen; denn auch 
darüber lässt Kant keinen Zweifel, dass er Gewissheit vom Über- 
sinnlichen der praktischen Bestimmung des Menschen nicht für 
zuträglich hielt. Erreichte die Mystik ihr Ziel, Gott und Un- 
sterblichkeit zu beweisen, so würden die mehrsten gesetzmässigen 
Handlungen aus Furcht, nur wenige aus Hoffnung und gar keine 
aus Pflicht geschehen, wahrhaft sittliche, dem Gesetz unmittelbar 
geweihte Gesinnung könnte also nicht stattfinden. (Vgl. d. IX. Ab- 
schnitt der Dialektik der praktischen Vernunft) — Man gestatte 
eine abschliessende Bemerkung: Die Metaphysik ist neuerdings 


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Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


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hier und da in Verruf gekommen: Die Einen, voll berechtigten 

Dankes, dass Kant die moderne Erkenntnistheorie entbunden hat, 
meinen, dass er damit die Metaphysik umgebracht habe, er, „der 
sein Lebenlang in diese Wissenschaft verliebt war,“ die Anderen 
versichern uns zum Trost, er sei im Grunde seines Herzens 
Mystiker gewesen. Die Wahrheit ist: Kant steckte die Grenzen 
des Erkennbaren ab und wies zugleich auf das darüber hinaus 
liegende Gebiet des nur Denkbaren hin, auf die Ideen, ohne 
welche die Menschheit nicht leben kann. Er war Metaphysiker. 
Metaphysik ist aber nicht Mystik, sondern nur eine ihrer Voraus- 
setzungen. Die kritische Grenzbestimmung scheidet ihn von der 
letzteren unwiderruflich. 

Nun noch ein kurzes Wort über jene nachgeschriebenen 
Vorlesungen, von denen Du Frei diejenigen über Psychologie mit 
einer längeren Einleitung „Kants mystische Weltanschauung“ 1889 
erneut herausgegeben hat, und die 1892 von Arnoldt in der Alt- 
preussischen Monatsschrift und 1895 von Heinze in den Mit- 
teilungen der Sächsischen Akademie der Wissenschaften eingehend 
behandelt worden sind. Die Datierung ist unsicher. Die bis jetzt 
vorliegenden Manuskripte weisen auf den Zeitraum von der Mitte 
der 70er bis in den Anfang der 90er Jahre. Sie sind, wenn es 
auch an kritischen Erinnerungen hier und da nicht fehlt, auf 
einen viel dogmatischeren Ton gestimmt als die Schriften, die 
früheren allerdings mehr als die späteren. Doch interessieren 
hier grade die aus den 90er Jahren, weil zu dieser Zeit das 
, System in allen Teilen feststand, Widersprüche mit demselben 
also um so mehr auffallen. In diesen Vorlesungen sind u. a. 
— das ist ohne Weiteres zuzugeben — die beiden ersten Sätze 
der rationalen Psychologie, der der Substantialität und der der 
Simplizität der Seele, welche die Kritik der reinen Vernunft als 
Paralogismen nach weist, ohne Hinweis auf ihre Fehlerhaftigkeit 
vorgetragen. Das beständige logische Subjekt des Denkens ist 
fälschlich für das reale Subjekt der Inhärenz, die logische Einheit 
des Subjekts fälschlich für die wirkliche Einfachheit desselben 
genommen; hier liegt also ein offenbarer Widerspruch mit dem 
Hauptwerke vor, und Herr v. Lind hat nicht Recht, wenn er ihn 
läugnet. Mystiker wie blinde Verehrer Kants rufen nun ein- 
stimmig: Der Mann der absoluten Wahrheitsliebe kann nicht 

gesagt haben, was nicht seine Meinung war; also hat er seine 
Meinung geändert und das transcendentale Subjekt anerkannt, ist 
also Mystiker gewesen. Was werden wir dazu sagen? 

Zunächst ist nicht erwiesen, dass die Zuhörer überall richtig 
verstanden und vollständig nachgeschrieben, Lücken nicht etwa 
durch die noch herrschenden Schulmeinungen oder aus Hand- 
büchern ergänzt haben. Aber nehmen wir an, Kant habe wirklich 
so vorgetragen, so ist zu bedenken, dass er zumal im Anfang der 


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242 


Hermann, 


Heft 7 u. 8. 


90er Jahre, wo die orthodoxe Koalition in Blüte stand, so frei 
er sich auch als Schriftsteller bewegen mochte, doch als aka- 
demischer Lehrer Rücksichten nehmen musste und nahm; seine 
Verantwortung auf die berüchtigte Ordre Wöllners vom Jahre 94 
beweist es. Sie mutet zwar nicht unwürdig, aber doch auch 
keineswegs heldenhaft an. Weniger der Entschluss zu gehorchen, 
als die Widerlegung der vom Standpunkte des Ministers aus be- 
gründeten Vorwürfe ist zu bemängeln. So mag er auch in dieser 
späteren Zeit — vielleicht halb unbewusst — beim Lehren der 
Jugend im freigesprochnen Worte sich mehr als das System eigent- 
lich erlaubte, an die Handbücher gehalten haben, die er, den Be- 
stimmungen entsprechend, seinen Vorträgen formell zu Grunde 
legte. Dabei kam die Kritik ins Hintertreffen. Er schob sie in 
den Collegien wohl auch absichtlich dahin; denn dort verfolgte er 
praktische Zwecke. Ihm, der selbst von der Willensfreiheit, der 
persönlichen Unsterblichkeit und dem Dasein Gottes fest überzeugt 
war, kam es hier mehr darauf an, eine reine und durch den 
Vcrnunftglaubcn gefestigte Moralität zu befördern, als die Kritik 
und die Dialektik zu schüren, und da mag es denn wohl geschehen 
sein, dass er die theoretischen Beweise für die Unsterblichkeit der 
Seele und für das Dasein Gottes so vortrug, als ob sie mehr zu 
garantieren vermöchten, als die blosse Denkbarkeit und Möglich- 
keit des Uebersinnlichen. — Füglich, was Kaut nicht selbst ge- 
schrieben oder approbiert hat, kann nicht als seine Lehre gelten, 
wenn es den. Hauptwerken widerspricht. Auch lässt sich leicht 
aus dem, was wir aus den letzten Lebensjahren von seiner Hand 
besitzen, der Beweis führen, dass er den kritischen Standpunkt in 
Wahrheit niemals wieder verlassen hat. — 

Ich ziehe, rückblickend auf die Definition der Mystik, die 
Summe: Kants Weltanschauung enthält nur anscheinend, nicht 
aber in Wahrheit mystische Elemente. Die Pforten der über- 
sinnlichen Welt sind dem Wissen stets verschlossen und nur dem 
vernünftigen Glauben geöffnet. Nur begriffliches Denken ist 
Philosophie, das Gefühl hat nichts mit ihr zu schaffen. Erfahrungen, 
die nur Einzelnen zugänglich sind, können keine wahre Wissen- 
schaft begründen. Ihr Kennzeichen ist Allgemeingültigkeit. Von 
Geheimbünden wollte Kant nichts wissen; er hat nie einem angehört, 
so viel deren in seiner Zeit blühten. Herr der Natur wird der 
Mensch nur durch Erkenntnis ihrer Gesetze, die gütig sind, weil 
sein eigenes Denken sie construiert. Schwärmerei, Theosophie, 
innere Erleuchtung, Mystik in jeder Form verurteilt Kant un- 
zählige Male als der Wissenschaft ebenso sehr als der Moral 
schädlich. Nur reine Vernunft ist beider Fundament: 

Das war es, was ich feststellen wollte. 

Ob die gänzliche Vernachlässigung der Gefühlsinstanz einer- 
seits, der geschichtlichen Entwickelung andererseits, (die ja, wie 


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1901. 


Immanuel Kant und die moderne Mystik. 


243 


wir gesehen haben, von der ältesten bis auf die neueste Zeit auch 
die Mystik als ein stets wiederkehrendes Moment unseres geistigen 
Lebens nach weist), nicht diejenigen Schwächen sind, welche ver- 
hindern werden, dass Kants geniales System dauernde universale 
Bedeutung als Weltanschauung behauptet; ob nicht Herder einiger- 
massen Recht hatte, als er am 28. Februar 1785 an Hamann schrieb: 
„Es ist sonderbar, dass die Metaphysiker, wie Ihr Kant, auch in 
der Geschichte keine Geschichte wollen, und sie mit dreister Stirn 
so gut als aus der Welt leugnen. Ich will Feuer und Holz Zu- 
sammentragen, die historische Flamme recht gross zu machen, 
wenu es auch abermals der Scheiterhaufen meines philosophischen 
Gerichts sein sollte. — Lass sie nur in ihrem kalten; leeren Eis- 
himmel spekulieren!“ — — Das sind Fragen, welche durch die 
Erörterung des gestellten Themas wachgerufen werden, aber eine 
besondere Behandlung erfordern. 


Monatshefte der ComeniuB-Gesellschaft. 1901. 


16 


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Ein altchristliches Glaubensbekenntnis. 


„Nachdem ich mich in aller Welt um ein Bildungsmittel 
meines wunderlichen Wesens vergebens umgesehen hatte, geriet 
ich endlich an die Ethik des Spinoza. Was ich mir aus dem 
Werke mag herausgelesen, was ich in dasselbe mag hineingelesen 
haben, davon wüsste ich keine Rechenschaft zu geben; genug, ich 
fand hier eine Beruhigung meiner Leidenschaften, es schien sich 
mir eine grosse und freie Aussicht über die sinnliche und sittliche 
Welt aufzuthun .“ Das Schicksal wie vieler Philosophen wird doch 
mit diesem bekannten Worte Goethes charakterisiert! So las das 
Mittelalter den Aristoteles, so las die Romantik Spinoza und 
Böhme, so lasen vor Allem viele Jahrhunderte den Platon. 

Keine Philosophie hat als Bildungsmittel eine solche Rolle 
in weitesten Kreisen gespielt, wie der Platonismus. Es liegt das 
an der merkwürdigen Grundstimmung, die ihn beherrscht: er bildet 
einen Übergang von der Mythologie zur Aufklärung, er ist eine 
Religion in der Form des vernünftigen Denkens. Denn Platons 
System ist eigentlich ein logisches, wie das Hegels und auch 
Spinozas; die Grundfesten der Wirklichkeit sind nach ihm die 
ewigen Begriffe. Dies ist eine Anschauung, die breiten Volks- 
schichten unzugänglich bleiben musste; sie physikalisierten daher, 
wenn wir so sagen dürfen, das System; an die Stelle der ewigen 
Begriffe traten die Mächte und Kräfte als Mütter der Wirklich- 
keit Dieser Dogmatisierung des Platonismus ging ein anderes, 
und minder spekulatives Verstehen Platons voraus, das moralistische; 
denn welchen Sinn man auch immer mit dem vieldeutigen Worte 
Idealismus verbindet, in jeder Bedeutung darf sich diese Welt- 
anschauung auf Platon berufen. Dieser moralistische Platonismus 
fand seine wichtigsten Vertreter in christlichen Kreisen. Ja, es 
war im Grunde ein und dasselbe Bedürfnis, das diese Leute dem 
„Platonismus" und dem Christentume zuführte. 

Die „Apologeten“ sind bekanntlich die Hauptvertreter des 
moralistischen Platonismus. Es würde sich verlohnen , einmal 
nachzuforschen, wie sie und ihresgleichen eigentlich den Platon ge- 
lesen haben. Wahrscheinlich wird im Allgemeinen auf sie Goethes 
zu Anfang angeführtes Wort vortrefflich passen; im Übrigen 
bleiben individuelle Verschiedenheiten. Wir wollen hier ein viel- 
leicht besonders ausgeprägtes Beispiel aus jener Zeit und Theologie 


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1901. 


Ein altchristliches Glaubensbekenntnis. 


245 


vorführen, das erst vor einigen Jahren ans Tageslicht gezogen ist 
und wohl die Kenntnis und das Interesse weiterer Kreise ver- 
dient: die Bekenntnisrede des Apollonius. 

Von dem Martyrium eines Apollonius, der sich zur Zeit des 
Commodus (180 — 192 n. Chr.) vor dem römischen Senat zu ver- 
antworten hatte, wusste man durch Eusebius und Hieronymus. 
Der Prozess barg besondere juristische Schwierigkeiten in sich, 
die uns hier nicht interessieren. Im Jahre 1893 entdeckte dann 
der Engländer Conybeare in einer armenischen Martyriensammlung 
die Akten des Prozesses in der pblichen christlichen Bearbeitung, 
und Adolf Harnack machte uns (in den Sitzungsberichten der 
Kgl. preussischen Akademie der Wissenschaften 1893 S. 731 — 746) 
mit denselben bekannt Wir geben (nach dem Wortlaut bei Har- 
nack) zunächst einen Auszug aus dem Martyrium selber. 

Apollonius weigert sich, den Göttern zu opfern, „weil ich 
ein Christ bin und Gott fürchte, der Himmel und Erde geschaffen 
hat und nicht den eitlen Götzen opferet Auf die Aufforderung, 
zu bereuen und beim Glücke des Kaisers Commodus zu schwören, 
antwortet er: „Höre mit Einsicht auf diese meine Antwort. Einer 
der gerechte und gute Thaten bereut, wahrlich ein solcher ist 
gottlos und hoffnungslos. Aber wer ungerechte Thaten und böse 
Gedanken bereut und sich ihnen nicht wieder zuwendet, ein solcher 
ist gottliebend und lebt der Hoffnung. Und jetzt habe ich die 
feste Absicht, das schöne und herrliche Gebot Gottes zu bewahren, 
welches ich von meinem Herrn Christus gelernt habe, der die 
menschlichen Gedanken kennt und sieht, was im Geheimen und 
öffentlich geschieht. Es ist besser, überhaupt nicht zu schwören, 
sondern friedfertig und wahrhaftig zu leben ; denn der grösste Eid 
ist die Wahrheit, und deshalb ist es unziemlich, im Namen Christi 
zu schwören: aber um der Lüge willen ist das Misstrauen und 
um des Misstrauens willen der Eid da. Ich will wahrhaftig 
schwören bei dem wahren Gott, obschon wir auch den Kaiser 
lieben und für Seine Majestät Gebete darbringen." Als er nun 
opfern soll, fährt er fort: „Was die Opfer betrifft, so bringen 

wir, ich und alle Christen, ein unblutiges Opfer Gott dar, dem 
Herrn des Himmels, der Erde, des Meers und aller Wesen, zum 
Besten der geistigen und vernünftigen Ebenbilder (seil. Gottes), 
die von der göttlichen Vorsehung bestimmt sind, auf Erden zu 
herrschen. Deshalb beten wir gemäss dem Befehle des göttlichen 
Gebots zu dem, der im Himmel wohnt, der der alleinige Gott ist, 
damit jene mit Gerechtigkeit über diese Erde herrschen mögen, 
indem wir sicher wissen, dass von keinem andern, sondern allein 
von dem König, der alles in der Hand hält, von Gott, auch dieser 
Kaiser eingesetzt worden ist." Nach drei Tagen Bedenkzeit will 
er sich immer noch nicht der Senatssentenz fügen: „Ich kenne 

die Sentenz des allmächtigen Gottes; ich bin und bleibe gottver- 

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Ein altchristliches Glaubensbekenntnis. Heft 7 u. 8. 


ehrend, und ich bete nicht an die Idole, die von Händen gemacht 
sind, die von Gold und Silber und Holz sind, die nicht sehen 
und hören, weil sie das Werk von Menschenhänden sind, und die 
wahre Verehrung Gottes kennen sie nicht. Aber ich habe gelernt, 
den himmlischen Gott anzubeten, und nur vor ihm niederzufallen, 
der allen Menschen den lebendigen Hauch eingeblasen hat und 
ihnen immerdar Leben spendet Und ich werde meine Person 
nicht erniedrigen und in diesen Abgrund stürzen; denn es ist eine 
grosse Schande, vor den unwürdigen Dingen (Götzen) niederzufallen, 
und es ist ein Sklavendienst, die Nichtigkeit zu verehren; die 
Menschen versündigen sich, wenn sie solches aubeten. Ihre Er- 
fiuder waren Thoren, ihre Diener und Anbeter noch thörichter. 
Die Ägypter beten in ihrer Verirrung die Zwiebel an. Die Athener 
beten bis auf den heutigen Tag den von Kupfer gemachten 
Ochsenkopf an, und sie nennen ihn „„das Glück der Athener 4 “*; 
sie haben ihn auch aufgestellt auf dem berühmten Platz nahe 
beim Bild des Zeus und Herakles, damit sie zu ihnen beten. 
Nun, um was sind sie besser, als der getrocknete Thon und das 
gebrannte Gefäss? Sie haben Augen und sehen nicht, sie haben 
Ohren und hören nicht, sie haben Hände und greifen nicht, sie 
haben Füsse und gehen nicht, weil die blosse Form das Dasein 
nicht verbürgt. Ich glaube, dass auch Sokrates sich über die 
Athener lustig gemacht hat, wenn er bei der Platane, beim Hunde 
und trockenen Holze schwur. Die Menschen versündigen sich 
erstens gegen sich selber, indem sie sie (die Götzen) anbeten. 
Zweitens aber verleugnen sie Gott, weil sie die Wahrheit ver- 
kennen. — — Drittens versündigen sich die Menschen, wenn sie 
Menschen, Engel und Dämonen anbeten und sie Götter nennen.** 
Der Senatsbefehl, fuhr er fort, könne sich doch dem Göttlichen 
nicht widersetzen; und Gott werde nach dem über alle Menschen 
verhängten Tode Gericht halten. „Aber zwischen Tod und Tod 
ist ein Unterschied. Deshalb sterben die Jünger Christi fort- 
während, indem sie ihre Begierden kreuzigen und sie gemäss den 
göttlichen Schriften foltern; denn es giebt bei uns überhaupt kein 
schamloses Begehren und keine schmutzige Scene, kein lasterhaftes 
Auge, kein der Bosheit zugängliches Ohr, auf dass unsre Seelen 
nicht verletzt werden. Da wir nun solch ein Leben führen und 
freiwillig dem Guten nachkommen, so halten wir es nicht für 
verkehrt, für den wahren Gott zu sterben; denn indem wir leben, 
leben wir für Gott und ertragen die Marterung für ihn, auf dass 
wir nicht grausam den ewigen Tod sterben. Wir wollen uns auch 
nicht grämen über die Einziehung unseres Vermögens, weil wir 
wissen, dass wir, ob wir leben oder sterben, des Herrn sind. Es 
kann Fieber oder Gelbsucht oder eine andere Krankheit dem 
Menschen den Tod bringen. Ich kann annehmen, dass ich an 
einer solchen Krankheit stürbe.** — Der Präfekt sagte: „So bestehst 
Du auf Deinem Tod?** — Appollonius antwortete: „Ich will in 


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1901. 


Ein altchristliches Glaubensbekenntnis. 


247 


Christus leben, fürchte indessen auch den Tod nicht wegen der 
Liebe, die ich zum Leben habe; denn es giebt nichts Schätzens- 
werteres, als das ewige Leben, welches die Mutter der Unsterb- 
lichkeit der Seele ist für die, die hier ein edles Leben geführt 
hat“ Das verstand der Präfekt nicht Darauf verweist Apollonius 
ihn mit einem an Platon, Rep. VI, 508 erinnernden Wort auf die 
Erleuchtung durch den Logos. Dann gedrängt, kurz seine Anschau- 
ung zu entwickeln, sagt er: „Das Wort Gottes, des Erlösers der 
Seelen und der Leiber, wurde Mensch in Judäa, vollbrachte alle 
Gerechtigkeit und wurde mit göttlicher Weisheit herrlich erfüllt 
Er lehrte die wahre Religion, die für die Menschenkinder passend 
war, und den Anfang der Sünde zum Schweigen zu bringen; denn 
er lehrte, den Zorn zu bändigen, die Begierde zu mässigen, die 
Sinnenlust zu mindern, die Sorge zu verscheuchen, mitleidig zu 
sein, die Liebe zu pflegen, die Eitelkeit abzulegen, keine Rache 
zu üben, nicht rachsüchtig zu sein, den Tod zu verachten — aber 
nicht mit Ungerechtigkeit, sondern indem man sich gegen die 
Ungerechten geduldig erweist, den göttlichen Gesetzen zu gehorchen, 
die Könige zu ehren, Gott anzubeten, an die unsterbliche Seele, 
die in Gott ist, zu glauben, das Gericht nach dem Tode zu er- 
warten, auf Belohnung nach der Auferstehung zu hoffen, die den 
Frommen von Gott verliehen wird. Das alles lehrte er mit Worten 
und Thaten mit grosser Standhaftigkeit, und nachdem er. von allen 
für die Wohlthaten, die er that, gepriesen war, wurde er zuletzt 
getötet, wie auch vor ihm die Weisen und Gerechten; denn die 
Gerechten sind den Ungerechten verhasst; wie auch die göttliche 
Schrift sagt: „„Lasst uns den Gerechten binden, denn er ist uns 
ein Ärgernis““ Aber auch einer von den griechischen Weisen 
hat gesagt, dass der Gerechte leiden wird, verspien und gekreuzigt 
werden. Wie die Athener das ungerechte Todesurteil aussprachen 
und abgaben, vom Pöbel überredet, so haben auch zuletzt die 
Ungerechten das Todesurteil ausgesprochen, indem die Ungerechten 
neidisch gegen ihn geworden sind, wie auch gegen die Propheten, 
die vor ihm gelebt haben, die iubezug auf ihn vorausgesagt haben, 
dass er kommen und allen Gutes thun und alle Menschen durch 
seine Tugend überreden wird, Gott den Vater, den Schöpfer aller 
(Dinge) anzubeten: an den wir glauben und vor dem wir uns nieder- 
werfen; denn wir haben von ihm fromme Gebote erlernt, die wir 
nicht kannten, und wir werden fernerhin nicht irre gehen, sondern 
wir leben ein sittliches Leben und hoffen auf das Jenseits.“ — Der 
Vorsitzende sagte: „„Ich glaubte, dass du in der Nacht von 

deiner Ansicht abgekommen wärest.““ Apollonius sagte: „Und 

ich erwartete, dass deine Gedanken in der Nacht sich ändern, 
die Augen deiner Seele durch meine Antworten geöffnet würden 
und dass dein Herz Frucht trüge, sodass du Gott den Schöpfer 
aller (Dinge) verehrest und nur zu ihm unter Almosenspenden 
betest: denn (Almosen) ist ein unblutiges und heiliges Opfer vor 


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Ein altchristliches Glaubensbekenntnis. Heft 7 U. 8. 


Gott (und) eine Gabe an die Menschen, dargebracht durch Menschen- 
hand.“ Zu seinem Bedauern muss nun der Präfekt den Apollonius 
zum Tode verurteilen, er verhängt aber die mildeste Todesart, die 
Enthauptung. 

Obwohl diese Aussagen des Apollonius im Wesentlichen 
nur das Bild bestätigen, das wir von dem Christentum der ge- 
bildeten Stände des 2. Jahrhunderts haben, ist sie doch wertvoll 
als ein ungewöhnlich individuell ausgeprägtes Zeugnis. Wir sehen 
in die Seele eines vornehmen Mannes jener Zeit hinein, erkennen, 
welche Fragen ihn bewegen und welche Gründe ihn dem Christen- 
tume zugeführt haben. Der Satz, der Platonismus sei der einzige 
wirklich philosophische Gedanke der ganzen Antike gewesen, Hesse 
sich vielleicht ohne Mühe verteidigen. Aber gar in der Kaiser- 
zeit, welche elenden Probleme bewegten die gebildete Welt! Man 
denke an die stoischen Spitzfindigkeiten in Beziehung auf das 
höchste Gut oder ihre Deklamationen über die Unabhängigkeit 
des Weisen! Und damals war es vielleicht auch weniger die 
philosophische Seite des Platonismus, welche die besseren Köpfe 
anzog, als das Ausserliche, Persönliche an ihm — alles das, was 
sich in dem Namen des Sokrates zusammenfasst. Irren wir 
nicht, so hat auch Apollonius sich in die Sokratesrolle hineingelebt. 
Erinnert nicht die letzte Antwort an den Präfekten recht an des 
Sokrates Auftreten vor seinen Richtern? Er führt ja auch zwei- 
mal selbst den Sokrates als sein Vorbild an und zitiert jene be- 
rühmte Stelle aus dem 2. Buche von Platons Republik über das 
Schicksal des Gerechten, bei der Platon sicherlich an seinen 
wunderbaren Lehrer, die spätere Kirche aber an den ihrigen 
dachte. Bei Apollonius scheint eine Andeutung auf ein tieferes 
Verständnis Platons hinzuweisen: er nennt das ewige Leben die 
Mutter der individuellen Unsterblichkeit. Das ist vielleicht der 
platonische Gedanke von der primären Wirklichkeit der Idee, des 
Allgemeinen, und der abgeleiteten des Einzeluen. Man setze an 
die Stelle des ewigen Lebens die Weltseele, und man erhält eine 
echte platonische Anschauung. W. 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Fürstenau, Dr. Hermann, Johann von Wiclifs Lehren von der 
Einteilung der Kirche und von der Stellung der weltlichen Gewalt. IV, 
117 S. gr. 8°. Berlin 1900, R. Gaertners Verlagsbuchh. (Hermann Hey- 
felder). 2,80 M. 

Nachdem lange Zeit Wiclif durch Hus in den Schatten gedrängt 
war, hat Loser th bekanntlich die beiden ins rechte Verhältnis gesetzt, 
vor allem aber erscheint Wiclif seit den Veröffentlichungen der Wyclif- 
Society in seiner ganzen Grösse, als „einer der reichsten Geister, die 
England jemals besessen und als der einzige in Wahrheit bedeutende 
Reformator vor der Reformation“ (Loserth zitiert bei Fürstenau S. 3). 
Wie originale und kräftige Gedanken in ihm lebten, zeigt Fürstenau 
an einem Punkte, an dem die man möchte sagen weltgeschichtliche 
Bedeutung des Mannes in die Augen springt. Die Untersuchung, die 
F. angestellt hat, ist sehr verdienstvoll. Sie zeugt von gründlicher 
Durcharbeitung der einschlägigen Schriften des englischen Reformators, 
ist sehr klar geschrieben und erschöpfend innerhalb der gezogenen 
Schranken. Der Leser hat das angenehme Gefühl, von einer sicheren 
Hand von Etappe zu Etappe geführt zu werden. Besonders zu loben 
ist, dass der Verfasser nicht der Versuchung, zu systematisieren und 
harmonisieren, erlegen ist, sondern die einzelnen parallel laufenden 
oder auch divergierenden Gedanken W.’s klar und scharf herausstellt. 
Dies zeigt sich gleich in der Einleitung, in der F. von der ver- 
schiedenen Bedeutung des Begriffs ecclesia oder „chirche“ bei W. handelt. 
Es ergiebt sich, dass dieser bei den uns hier interessierenden Er- 
örterungen nicht den ihm eigenen auf die Prädestination gegründeten 
Begriff der Kirche — congregatio praedestinatorum lautet seine be- 
kannte Definition — im Auge hat, sondern in der Regel hier gut 
mittelalterlich ecclesia auffasst als den die ganze Menschheit umspannen- 
den geistlich-weltlichen Uni Versal verband ; nicht neben, sondern nur 
innerhalb dieser allumfassenden ecclesia können die Nationalkirchen 
und Staaten ihren Platz haben. Auch in dem folgenden 1. Hauptab- 
schnitte: „Wiclifs Lehre von der Einteilung der Kirche“ muss F. gleich- 
zu Anfang z wieträchtige Gedankengänge bei W. konstatieren. Er teilt 
die Kirche (immer in dem eben angegebenen Sinne) doppelt ein : 
in Klerus und Laien — damit auf dem Boden der Kirchenlehre 
bleibend, wenn er auch besonders nach Aufnahme des Kampfes gegen 
die Tran ssubstantiation sieh re auf Aufhebung dieses Unterschieds los- 
strebt — und in clerus, domini seculares (der König und alle Personen 
vom König abwärts bis zu den Rittern) und vulgares oder laboratores 
(alle nicht zum Klerus gehörigen und unter den Rittern stehenden 


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Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 7 u. 8. 


Personen) — damit die weltlichen Herren aus der bisher dem Klerus 
als herrschendem Stand gegenüberstehenden grossen, unterschiedslosen 
Masse der Laien emporhebend und als einen gleichfalls mit besonderen 
Rechten ausgestatteten Stand neben ihn stellend. Sehr interessant, 
vorsichtig und klar sind nun auch die im 2. Hauptabschnitt ver- 
einigten Untersuchungen über W.’s Ansichten von Ursprung und 
Stellung der weltlichen Gewalt, ganz besonders aber die über W.’s 
Lehre betreffs der Verpflichtung der Unterthanen zum Gehorsam 
gegen ihren Herrscher und über die Frage seiner Stellung zum Grund- 
satz der Volkssouveränität. Auf dem sog. Erdbebenkonzil (Mai 1382) 
wurde mit anderen Sätzen W.’s auch der verurteilt, quod populäres 
possint, ad eorum arbitrium, dominos delinquentes corrigere. Danach 
müsste W. als Verteidiger der Volkssouveränität in ihrem vollsten 
Umfange gelten, und wir müssten seinen Gegnern bis zu einem ge- 
wissen Grade beipflichten, die ihn für den furchtbaren Bauernaufruhr 
von 1381 verantwortlich machten. W. hat jedoch diesen Satz als 
eine Erfindung seiner Feinde, der Bettelmönche (iners pictatia a fratribus 
adinventa), bezeichnet. Hatte er das Recht dazu? F. untersucht das 
mit grösster Gewissenhaftigkeit. Sehr schön ist, was W. über den 
Beruf des Königs und der weltlichen Obrigkeit lehrt. Eine gleich 
hohe Auffassung ist erst in den Schriften der deutschen Reformatoren 
wieder zu finden (S. 116). 

Zwickau i. S. Otto Clemen. 


Das Ding an sich und das Naturgesetz der Seele. Eine 
neue Erkenntnistheorie von Ernst Fr. Wyneken, Dr. phil. XVI u. 
446 S. gr. 8°. Heidelberg 1901, Carl Winters Universitätsbuchhand- 
lung. 1 5 M. 

Der Titel dieses Buches erinnert in seinem ersten Teil an die 
immer gleichbleibende unaufhebbare Schranke, die Kants Vemunft- 
kritik 1781 als diejenige aller menschlichen Forschung und Wissen- 
schaft erkannt hat; in seinem zweiten Teil aber an dasjenige, was sein 
Verfasser in seiner Inaugural-Dissertation „Das Naturgesetz der Seele 
oder Herbart und Schopenhauer, eine Synthese“ schon 1869 gefunden 
zu haben meint Das Buch selbst aber hat nach einer Ankündigung, 
die ihm vom Verleger beigelegt ist und deren Inhalt der Verfasser be- 
stätigt, zum Ziel „eine Widerlegung von Kants Kritik der reinen Ver- 
nunft, die doch zugleich eine Rechtfertigung, weil Fortführung derselben 
ist“ Für diese Bezugnahme auf Kant war der Beweggrund nach S. VII, 
dass in unserer Zeit „alle spekulative Wissenschaft immer wieder und 
wieder auf den Weisen von Königsberg zurückkommt“. 

Es dürfte jedoch nicht viele Leute geben, die aus dem Buche 
selbst einen deutlichen, bestimmten Begriff sowohl von der hier be- 
haupteten Widerlegung wie von der darin angeblich zugleich ent- 
haltenen Rechtfertigung, weil Fortführung zu gewinnen vermögen. 
Das liegt an der Darstellung, der man nicht ebenso wie dem Inhalte 
anmerkt, dass sie das Ergebnis anhaltender, vieljähriger Beschäftigung 


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1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


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und Überlegung ist. W. meint im Vorwort S. IV f., wenn er nur 
für den kleinen Kreis der Philosophieprofessoren und anderer Kenner 
der Geschichte der Philosophie hätte schreiben wollen, würde er kürzer, 
knapper, mit Auslassung der meisten Zitate und vieler überleitender 
Mittelglieder u. s. w. geschrieben haben. War aber so zu schreiben 
nicht gerade einem grösseren Leserkreis gegenüber noch dringender 
geboten ? In der That hätte statt einer mühseligen Auseinandersetzung 
mit Kant und seinen Kritikern unter vielen anderen Schriftstellern 
vielmehr eine knappe, fliessende Darlegung der Meinungen des Autors 
selbst gegeben werden sollen. 

Von dem Unternehmen des Verfassers dürfte das Folgende einen 
ungefähren, wenn auch keineswegs erschöpfenden Begriff gewähren. 

Bei den von der Naturwissenschaft angenommenen Atomen und 
Molekülen kann man nicht stehen bleiben; nicht etwa darum, weil 
sie blosse Hypothesen sind, da einer Hypothese ja dadurch, dass sie 
sich für die Erklärung von Naturerscheinungen fruchtbar erweist, zu 
immer grösserer Gewissheit verholfen werden kann, sondern weil sie 
unserem Denken nicht genug thun. Dieses verlangt letzte, wirklich 
unteilbare Teile für die Teilung des Stoffes. Im gesamten Erfahrungs- 
gebiete aber ist uns nur ein einziger Gegenstand als ein wirklich un- 
teilbarer bekannt, nämlich unsere Seele als unteilbare Bewusstseins- 
einheit. Daraus ergiebt sieb die Notwendigkeit der Hypothese, dass 
es Seelen sind, welche der Erscheinungswelt zu Grunde liegen. 

Mit dieser Annahme von Monaden, die W. so an Stelle der 
blossen „Fiktionen“ der Naturforscher, der Atome, setzt, stehen wir 
allerdings erst auf der Schwelle des von ihm unternommenen „neuen 
philosophischen Systems“, das von älteren am meisten an Lotze, 
gerade auch in dessen Abweichung von Leibniz und Herbart, erinnert. 
Die Verhältnisse solcher Monaden zu einander und deren gegenseitige 
Einwirkungen auf einander als Kräfte, ein Ü berwältigt werden , ein 
Überwältigen und ein Gleichgewicht, alles äussere bezw. objektive 
Lagen, werden nun schon nach des Verfassers „Naturgesetz der Seele“ 
von 1869 innerlich bezw. subjektiv als Fühlen, Wollen und Erkennen 
erlebt. So nun also ist in dem „neuen System“ die unerschöpfliche 
Fülle äusserer und innerer Welterscheinungen abzuleiten, damit aber 
das „Ding an sich“ s. z. s. „festzulegen“, oder dürfen wir vielmehr 
sagen: hinauszubugsieren und abzuthun? Hierauf indessen können 
wir an dieser Stelle nicht weiter eingehen, sondern müssen auf das 
Buch selbst verweisen. 

Wir wollen uns hier auch keinen Erwägungen darüber hingeben, 
ob wir mit dem Übertreten der Schwelle dieses Systems nicht in das 
luftige Gebäude einer blossen kalt vernünftelnden Dichtung ein treten 
würden, dessen es doch für keinerlei wertvolle Zwecke der Menschheit, 
sei es des blossen Erkennens, sei es des Lebens und Schaffens, bedarf. 

Nicht unterdrücken aber können wir ernste Zweifel daran, dass 
es irgend berechtigt war, solche Monadologie als eine Fortführung von 
Kants Kritik der reinen Vernunft zu bezeichnen. Wehrt doch Kant 


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252 


Besprechungen und Anzeigen. 


Heft 7 u. 8. 


in dieser mit grösstem Nachdruck gerade den Versuch ab, blosse Denk- 
notwendigkeit schon für eine Erkenntnis von wirklichen Gegenständen, 
so z. B. von einer Seele, die von allem Körperlichen durchaus verschie- 
den wäre, auszugeben und geltend zu machen. Er sah in diesem 
Vorgehen eine schwere Gefahr für ernste gründliche Naturforschung, 
die sich nicht schon mit blossen Gedankendingen begnügen darf. 
Einen scharf treffenden Ausdruck des Gegensatzes zwischen einer 
auf gründliche Erkenntnis ausgehenden Wissenschaft und Philosophie 
und andererseits einer blossen reinen Vernunft, einem puren Denken 
finden wir z. B. in Kants Kritik des 2. Paralogismus der trans- 
scendentalen Psychologie in dem Satze: „Die Einfachheit der Vor- 
stellung von einem Subjekt ist darum nicht (schon) eine Erkenntnis 
von der Einfachheit des Subjekts selbst.“ 

Auf die Übertragung aber eines in dieser Weise angefochtenen 
und abgewehrten Seelen begriffs auf letzte Teile einer Erscheinungs- 
welt findet Anwendung, was Kant schon l7 a Jahrzehnte vor der 
Vernunftkritik 17GG in den „Träumen eines Geistersehers, erläutert 
durch Träume der Metaphysik“ im ersten Teile aussprach: „Man 
kann die Möglichkeit immaterieller Wesen annehmen ohne Besorgnis, 
widerlegt zu werden, wiewohl auch ohne Hoffnung, diese Möglichkeit 
durch Vernunftgründe beweisen zu können.“ 

Hiernach nun ist unser Urteil, dass eine Monadenlehre wie die 
von dem Verfasser aufgestellte gewiss nicht eine Weiterführung von 
Kants Kritik der reinen Vernunft ist, zu der sie vielmehr in schroffem 
Gegensatz steht. Dagegen mag sich diese Monadologie wohl zur 
Grundlage für eine „rationale Orthodoxie“ eignen, die W. S. 7 als 
zweite Fortsetzung seines vorliegenden Buches in Aussicht stellt. 

Am Schluss soll nicht die Anerkennung unterlassen werden, 
dass sich in dem besprochenen Buche, das von einer vielseitigen Be- 
lesenheit Zeugnis ablegt, manche feine und scharfsinnige Bemerkungen 
finden, die aber bei der erwähnten nicht ganz glücklichen Art der 
Darstellung leider nicht recht zur Geltung kommen. 

D resden-Blasewitz. H. Romundt. 


Der vor Kurzem erschienene neunte Band der Realency- 
klopädie für protestantische Theologie u. Kirche, dritte AufL 
Lpz., J. C. Hinrichs 1901 (vgl. M. H. der C.G. 1901 S. 49) um- 
fasst die Artikel Jesus Christus — Kanon Muratori. Es finden sich 
auch in diesem Bande sehr zahlreiche Artikel historischer Natur (z. B. 
über sämtliche kirchenhistorisch merkwürdige Persönlichkeiten, welche 
die Namen Johannes, Innocenz und Julius tragen), aber im Ganzen 
wenige grössere Aufsätze, welche das Arbeitsgebiet der C.G. näher 
berühren. Wir erwähnen von solchen hier den vortrefflichen und ein- 
gehenden Artikel Karl Benraths (Königsberg i. Pr.) über Inquisition 
(Inquisitio haereticae pravitatis), der durch eine genaue Literaturüber- 
sicht besonders wertvoll wird, ferner den Aufsatz He gl er s über 
David Joris, der sich wiederum durch Sachkenntnis auszeichnet, 


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1901. 


Besprechungen und Anzeigen. 


253 


den Artikel Johanniter von Uhlhorn, Kabbala von D. August 
Wünsche, der sehr ausführlich ausgefallen ist, und Uluminaten 
von P. Tschackert in Göttingen. Was wir früher (s. M. H. der 
C.G. Bd. Vni S. 304 ff) über den Artikel desselben Verfassers „Frei- 
maurer“ gesagt haben, trifft zum Teil auch dessen jetzige Arbeit: sie 
ruht in wichtigen Punkten auf den Arbeiten und Urteilen des bezüg- 
lichen Artikels des Jesuiten Raich in Wetzer und Weltes Kirchen- 
Lexikon (s. v. Illuminaten). Auffällig ist, dass jetzt (1901) die 
Freimaurer von Tschackert eine weit bessere Note bekommen als im 
Jahre 1899, wo er seinen erwähnten Artikel schrieb. Keller. 


In der „Burschenschaftlichen Bücherei“ (Herausgeber Dr. Hugo 
Böttger) Bd. I Heft 7 behandelt Dr. Adolf Langguth in Berlin 
(A. M. der C.G.) „die Bilanz der akademischen Bildung“ (Berlin W. 
Carl Heymanns Verlag 1901). Es ist dringend erwünscht, dass die 
Zustände unserer Universitäten und der akademischen Bildung, an 
der die gesamte Nation in hohem Grade interessiert ist, immer wieder 
unter die Sonde genommen und zum Gegenstände der Untersuchung 
gemacht werden, wie es in der Langguth sehen Schrift aus guter 
Sachkenntnis heraus und mit rückhaltslosem Wahrheitssinn geschieht. 
„Man scheint häufig aus dem Auge zu verlieren,“ sagt Langguth 
(S. 48) mit Recht, „dass der Zweck der Universitäten zunächst nicht 
der Vortrag der gelehrten Ansichten des einzelnen Professors, 
so wertvoll dies auch sein dürfte, sondern die einheitliche Ausbildung 
der jungen Leute zu einer sie erhebenden, grossen und klaren Welt- 
anschauung ist.“ Der Verfasser ist mit Bernheim (die gefährdete 
Stellung der Universitäten) der Ansicht, dass eine Universitäts- 
Pädagogik nötig ist; aber mit Grund weist er auch darauf hin, dass 
die bedeutenden Spezialisten, die an grösseren Hochschulen lehren, 
vielfach nicht die in sich geschlossene klare und grosse Weltanschauung 
besitzen, die sie auf die jungen Leute übertragen könnten; wie sollen 
da die letzteren, ihre Schüler, eine solche gewinnen und sich für sie 
begeistern, wie es noch im Anfang des 19. Jahrhundert« der Fall 
war? „Früher“, sagt Langguth S. 54, „erwartete die Nation in allen 
Fragen und Angelegenheiten des Staates und der Kirche die Führung 
von den Universitäten.“ Daher standen sie auch Jahrzehnte hindurch 
in schweren äusseren Kämpfen. „Gegen sie waren jene Gewaltmass- 
regeln gerichtet, denen die Liebe zum Vaterlande und zur Freiheit 
als staatsgefährliche Regungen galten . . .“ Mit Recht hebt Langguth 
den grossen und wichtigen Anteil hervor, den gerade die deutsche 
Burschenschaft an diesen grossen Kämpfen um eine neue Weltan- 
schauung genommen hat. Um so mehr ist es zu bedauern, dass die 
alten Kämpfer heute zurückgetreten sind, und dass die Führung in 
andere Hände übergegangen ist. Keller. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Unsere Leser wissen, dass wir in diesen Heften das Wort Welt- 
anschauung oft gebraucht haben. Da heute mit dem im übrigen sehr 
treffenden Ausdruck vielfach Missbrauch getrieben wird, so ist eine Begriffs- 
bestimmung wohl am Platze. Was bedeutet das Wort Weltanschauung? 
Es bedeutet mehr als der blosse Ausdruck Philosophie, aber begreift 
den Sinn dieses Wortes in sich; es deckt sich auch nicht mit dem Begriff 
Religion, aber die Religion ist ein Bestandteil dessen, was wir Welt- 
anschauung nennen. Es giebt keine echte Weltanschauung ohne Religion 
und ohne Glauben, ja der Glaube und die Vorstellung von den höchsten 
und letzten Dingen ist der Kern der Weltanschauung; sie umfasst ebenso 
die philosophische Erkenntnis der Welt wie der Menschenseele (die doch 
ein Teil der Welt ist), wie den Glauben, der den Antrieb unseres Handelns 
bildet und der die Grundlage unserer Sittenlehre ist. Die C.G. ist weder 
eine philosophische, noch eine religiöse, am wenigsten aber etwa eine 
ethische Gesellschaft: wohl aber besteht sie aus Männern, die sich in einer 
verwandten Weltanschauung zusammengefunden haben, eben in der 
Weltanschauung, die in Comenius, Leibniz, Fichte und Kant einige ihrer 
hervorragendsten Vertreter besitzt. 


Das Wesen des Glaubens, auf dem die religiöse Weltanschauung 
sich aufzubauen pflegt, wird von zahllosen Vertretern der Wissenschaft in 
unbegreiflicher Weise verkannt. Der Glaube an Atome oder an Äther, 
von welchem unsere Naturforscher so fest durchdrungen sind, dass sie alle 
ihre wissenschaftlichen Lehren darauf aufbauen, gilt ihnen als berechtigt 
und notwendig, ja als logisch, obwohl keine menschliche Erfahrung je Atome 
oder Äther aufgezeigt hat oder aufzeigen wird. Sagt man ihnen aber, dass 
der Glaube an Gott sich aus der Weltbetrachtnng und der Eigenart der 
Menschenseele mit gleicher Notwendigkeit ergiebt und dass wir zur Er- 
klärung alles Seins dieser „Prämisse“ oder dieses „Postulats“ ebenso sehr 
bedürfen, wie sie ihrer Postulate und Prämissen, so wollen sie das nicht 
gelten lassen. Männer wie Häckel, die sjch zu förmlichen Religion sgründern 
aufwerfen, behaupten, der Glaube, den sie lehren, (es ist doch nichts 
anderes als ein Glaube, oft ein haarsträubender Glaube), sei lediglich Wissen- 
schaft, lediglich Erfahrung und keine Religion. Man kann solche Behauptungen 
nur verstehen, wenn man annimmt, dass sie über die wahre Natur des Glaubens 
und der Religion ganz unrichtige Vorstellungen an die Sache heran bringen, 
um die es sich handelt. 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


255 


Der Bruderbund, als welcher die älteste Christenheit in der Geschichte 
erscheint, war (wie wir dies schon früher ausgeführt haben 1 ) auf der Idee 
der Persönlichkeit und der Freiheit auf gebaut. Die freie Selbstbestimmung 
und Entwicklung der persönlichen Eigenart war die Vorbedingung für das 
Wachstum des Senfkorns, mit dem Christus das Gottesreich verglichen hatte. 
Was für die Persönlichkeit des Einzelnen als Grundgesetz gilt, das gilt 
natürlich auch für die Stämme und die Völker: auch ihre beste Kraft 
ruht in der Entwicklung ihrer Eigenart, die nur in der Luft der Freiheit 
gedeiht. Es ist merkwürdig, dass an diesen Grundsätzen auch alle diejenigen 
Richtungen festgehalten haben, deren geistige Zusammenhänge mit den alt- 
christlichen Zeiten wir auch sonst nachweisen können, und zwar sowohl der 
Weltbund der Akademien wie die altevangelischen Gemeinden 
aller Jahrhunderte. Ausserordentlich tief war der Gegensatz, der sich in 
dieser grundlegenden Frage zur Welt -Kirche des römischen Kaiserreichs 
seit dem vierten Jahrhundert herausstellte. Die Universalmonarchie und 
die Universalkirche forderten grundsätzlich von dem Einzelnen wie von den 
Völkern das Opfer der Persönlichkeit, der Eigenart und der Freiheit; wo 
sie gelegentlich etwas anderes zuliess, da „tolerierte“ sie nur die Freiheit, 
weil sie es nicht hindern konnte; wo sie dje Macht besass, da vernichtete 
sie Persönlichkeit und Nationalität zum Vorteil des grossen internationalen 
Gottesstaates, der ihr als Ideal vorschwebte. Ein wesentlicher, ja einer der 
wesentlichsten Teile der Freiheit, wie sie Christus gelehrt und gefordert 
hatte, war die Gewissensfreiheit; deshalb haben die rechten Nachfolger 
des altchristlichen Bruderbundes sie von je als eins der wichtigsten Stücke 
ihres Glaubens hingestellt und verteidigt; im Gegensatz hierzu bezeichnet 
die Weltkirche seit dem vierten Jahrhundert die Gewissensunfreiheit als ein 
Stück ihrer Lehre, an die sie die Seligkeit bindet, und noch Papst Pius IX. 
hat im Jahre 1864 feierlich erklärt: „Wer behauptet, ein Mensch dürfe 
diejenige Religion annehmen und bekennen, die er nach bestem 
Wissen für wahr hält, der sei gebannt.“ (Syllabus 5, 15.) 


Viele heutige Historiker, soweit sie nicht Kirchen -Historiker sind, 
verschliessen absichtlich oder unabsichtlich ihre Augen vor der Bedeutung, 
welche die Religion (nicht etwa bloss die Kirche) für die gesamte Gestaltung 
(auch die politische) der menschlichen Gesellschaft besitzt. Da ist es denn 
eine höchst wichtige und erfreuliche Thatsache, dass sich endlich einmal 
ein geistvoller Geschichtsschreiber gefunden hat, der in diesem Punkte tiefer 
sieht, nämlich Houston Stewart Chamberlain in seinen „Grundlagen des 
19. Jahrhunderts“ (München 1900). Mit Recht nennt er Religion und Kirche 
gleichsam das innerste Rad in dem grossen Uhrwerk nationalen Lebens 
und erkennt in ihr den Faktor, der die Kultur eines Volkes am mächtigsten 
fördern oder es zu Grunde richten kann. Aber es ist bezeichnend, dass 
dieser Forscher kein zünftiger Historiker ist und nicht im Banne der 


*) Ludwig Keller, Zur Geschichte der altevangelischen Gemeinden. 
Vortrag, gehalten zu Berlin am 20. April 1887. Berlin, Mittler & Sohn. 
1887. S. 20. 


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256 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 7 u. 8. 


Überlieferung steht. Es ist bestimmt zu erwarten, dass die Hochschul- 
Historiker diese Dinge nach wie vor den Kirchen -Historikern überlassen 
werden. 


Das mit warmer Begeisterung geschriebene Urteil über Luther, welches 
Cbamberlain in seinem Werke (Grundlagen des 19. Jahrh. 2. Aufl. München 
1900. II, 840 ff.) niedergelegt hat, berührt sich in vielen wichtigen Zügen mit 
demjenigen Urteil, das wir hier und anderwärts mehrfach ausgesprochen haben 
und das Cbamberlain, wie sein Zitat (S. 842) beweist, gekannt hat: Luther 
ist es gewesen, der die deutsche Nation aus der verhängnisvollen Umarmung 
der theokratischen Weltmacht losgelöst und damit die gewaltigste That der 
neueren Geschichte vollbracht hat. Diese Erkämpfung der nationalen Un- 
abhängigkeit und diese Befreiung von dem Joche geistiger Knechtschaft, 
wie sie seit der Einführung des Beichtzwanges im 13. Jahrhundert (der den 
Einzelnen dem Priester bedingungslos auslieferte und dessen Herrschaft in 
den Familien derart begründete, dass der Geistliche nahezu in jedem Hause 
an die Stelle des Vaters trat) bestand, war eine politische That und ein 
Sieg des Nationalismus über den Imperialismus; mit gutem Grund ist von 
je (auch Ranke thut es ja) das Auftreten Luthers als eine Revolution, als 
eine kirchlich-politische Empörung bezeichnet worden. Das ist eben Luthers 
gewaltige Leistung, dass er die Sache nicht lediglich als eine religiöse 
Frage aufgriff, wie es die meisten seiner Vorläufer gethan hatten, sondern 
als eine politisch -kirchliche und nationale; in dieser Thatsache liegt das 
Geheimnis seiner weltumgestaltenden Erfolge. Und er liess es keineswegs 
bloss bei der Auflehnung bewenden, er baute zugleich zwei mächtige Pfeiler 
auf: eine neue Kirche und eine neue Schule. Mit vollem Recht sagt 
Chamberlain : „wie fühlt man den warmen Herzschlag des prächtigen Ger- 
manen jedesmal, wenn Luther auf Erziehung zu sprechen kommt.“ Auch 
hierin liegt ein deutlicher Beweis des politischen Scharfblicks, der ihm 
eigen war. Aber — fährt Chamberlain fort — „der schwache Punkt war 
bei Luther seine Theologie“. Er hat „in der Gottesgelahrtheit die Mönchs- 
kutte niemals völlig abgeworfen“. Chamberlain beruft sich mit Recht auf 
zwei der grössten Theologen der Gegenwart, Paul de Lagarde und Adolf 
Harnack. Allerdings kann Chamberlain diesen Mangel, vom politischen 
Standpunkt aus betrachtet, nicht als solchen anerkennen. Denn „indem 
Luther ihnen (d. h. den Fürsten und Magistraten, die in der römischen 
Kirche aufgewachsen waren und unter ihrem Zauber standen) eine „Doublette“ 
der römischen Kirche bot, spitzte er die vorhandene Erregung auf ihren 
politischen Inhalt zu, ohne die Gewissen mehr als nötig zu beunruhigen“. 
Wir räumen dies alles ein; aber, wenn dem so ist, kann dann der Theologe 
Luther, wie heute seine Anhänger lehren und behaupten, eine dauernde 
religiöse Autorität beanspruchen? 


Das Zeitalter der Entdeckungen und zwar nicht bloss der geo- 
graphischen, sondern der naturwissenschaftlichen Entdeckungen, beginnt in 
derZeit des sogenannten Humanismus, d. h. in der Zeit, wo die herrschende 
Kircheulehre zum ersten Male durch eine neue Weltanschauung durchbrochen 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


257 


ward, die sich im Gegensatz zur Scholastik auf den Platonismus stützte. 
Die auf dem Alten Testament auf gebaute Weltanschauung kannte nur eine 
Schöpfung aus Nichts und einen Schöpfer, dessen frei waltende Willkür 
das All beherrschte. Von dieser Grundanschauung aus war es unmöglich, 
„Entdeckungen“ zu machen. Entdeckungen sind nur möglich, wo die Welt 
als kunstvoller Bau gilt, der von einem allmächtigen und allweisen Bau- 
meister nach weisen und ewigen Gesetzen zusammengefügt und geordnet 
ist. Es ist also kein Zufall, dass das Zeitalter der Entdeckungen erst mit 
der Zeit des Humanismus beginnt. 


Es ist eine richtige Beobachtung, wenn Vilmar in seiner berühmten 
Litteraturgeschichte den tiefen Gegensatz betont, der sich zwischen allen 
grossen deutschen Dichtern des ausgehenden achtzehnten Jahrhunderts und 
dem kirchlichen Christentum aufthat; er hätte hinzufiigen können, dass 
dieser Gegensatz bei allen führenden Geistern jener Zeit vorhanden ist. 
Aber Vilmar hat übersehen , dass dieselben Männer einem geläuterten 
Christentum, wie es die Evangelien in den Worten Christi bieten, durchweg 
die höchste Verehrung entgegen brachten. Im Jahre 1795 schreibt Schiller 
an Goethe die für die Auffassung dieser beiden Männer und aller ihrer 
Gesinnungsgenossen bezeichnenden Worte: „Ich finde in der christlichen 
Religion aktualiter die Anlage zu dem Höchsten und Edelsten, und die 
verschiedenen Erscheinungen derselben im Leben erscheinen mir blos des- 
wegen so widrig und abgeschmackt, weil sie verfehlte Darstellungen dieses 
Höchsten sind.“ 

Die Kultgenossenschaft der älteren Akademien hat die grossen 
Erfolge, die sie in einer mehr als tausendjährigen Geschichte unzweifelhaft 
errungen hat, nicht zum wenigsten durch die Weitherzigkeit erzielt, die sie 
gegenüber den verschiedenartigen Strömungen und Anlagen in ihrem eignen 
Schoosse geübt hat. Eine Kultgenossenschaft, welche allumfassend sein und 
keine „Sekte“ werden will, muss allen Geistes- und Gemüts-Anlagen, allen 
Charakteren und allen Glaubensanschauungen eine Heimat werden können, 
sobald deren Vertreter nur zu gemeinsamer Bethätigung und Arbeit unter 
den gleichen Kultformen bereit sind. Eine grosse und alte Organisation, die 
von mächtigen Überlieferungen erfüllt ist, bildet schon an sich ein starkes 
Band der Einigung und enthält eine anziehende Kraft, die sich auf jeden 
Einzelnen überträgt; ganz von selbst wird allmählich auch der rauhe Stein 
geschliffen und behauen, so dass er sich einfügt in den grossen Bau, für den 
kluge Baumeister den Riss entworfen haben. 

Die Gesellschaft für Rheinische Geschichtskunde setzt aus der Mevissen- 
Stiftung einen Preis von 2000 M. auf die Lösung folgender Preisaufgabe: 
Konrad von Heresbach und seine Freunde am Klevischen Hofe, 
mit besonderer Berücksichtigung ihres Einflusses auf die Regierung der 
Herzoge Johann und Wilhelm. Bewerbungsschriften sind bis zum 31. Jan. 1905 
an den Vorsitzenden der Gesellschaft, Archivdirektor Prof. Dr. Hansen in 
Cöln einzusenden. — Die Preisaufgabe berührt das Forschungsgebiet unserer 


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258 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 7 u. 8. 


Gesellschaft, zu dem die Geschichte des Humanismus gehört, sehr nah, und 
wir würden unseren jüngeren Mitgliedern empfehlen, sich in dieses nicht 
blos für die Geschichte des Niederrheins wichtige Gebiet zu vertiefen und 
die Lösung der Aufgabe zu versuchen. 

In Goethes patriotischem Festspiel „Des Epimenides Erwachen“ — 
es wurde zur Siegesfeier am 30. März 1815 zuerst in Berlin aufgefübrt — 
prophezeit im zweiten Aufzug (3. Auftritt) der Genius der Hoffnung den 
Gang der Kämpfe und der Befreiung und beginnt mit der Hindeutung auf 
die Vorbereitung in folgenden Versen: 

„Und nun vernehmt! — Wie einst in Grabeshöhlen 
Ein frommes Volk geheim sich flüchtete, 

Und allen Drang der himmlisch reinen Seelen 
Nach Oben voll Vertrauen richtete, 

Nicht unterliess, auf höchsten Schutz zu zählen, 

Und auszudauern sich verpflichtete : 

So hat die Tugend still ein Reich gegründet 
Und sich zu Schutz und Trutz geheim verbündet. 

Im Tiefsten, hohl, das Erdreich untergraben, 

Auf welchem jene schrecklichen Gewalten 
Nun offenbar ihr wildes Wesen haben, 

In majestätisch hässlichen Gestalten, 

Und mit den holden überreifen Gaben 
Der Oberfläche nach Belieben schalten; 

Doch wird der Boden gleich Zusammenstürzen 
Und jenes Reich des Übermuts verkürzen.“ 

Man hat die Anspielung auf das Reich, das die Tugend gegründet hat, auf 
den Tugendbund beziehen zu sollen geglaubt. Diese Auslegung ist aus 
naheliegenden Gründen unzweifelhaft unrichtig, aber sie deutet den Weg 
an, der zur richtigen Auslegung führt. Freilich kann diesen Weg nur der- 
jenige erkennen, der in den Verlauf der Dinge so eingeweiht war wie Goethe. 


Man pflegt Männer wie J. J. Bodmer und Jaeob Breitlngcr in der 
Regel nur als Förderer der deutschen Sprache und Litteratur zu schätzen und 
zu würdigen. Indessen lehrt jedes nähere Eingehen, dass diese sprachliche 
Thätigkeit nur eine Seite ihres Wirkens darstellt; dass sie auch (ebenso wie 
die Mehrzahl der anderen Männer dieser Richtung) in sonstige Gebiete 
reformierend eingriffen, zeigt sich z. B. daran, dass einer ihrer Schüler, 
Pestalozzi, nach seinem eigenen Zeugnis gerade Bodmer ausserordentlich viel 
verdankt. Man weiss dies aus Pestalozzis Schwanengesang, und in der Um- 
arbeitung von P.’s „Wie Gertrud ihre Kinder lehrt“ tritt die Thatsache auf 
das bestimmteste hervor. Wir verweisen hier auf Pestalozziblätter Jahrg. X 
S. 53 u. 54. Vgl. auch den Aufsatz „Bodmer als Vater der Jünglinge“ in 
der Denkschrift zum CC. Geburtstage (Bodmers), Zürich 1900, und den Artikel 
O. Hunzikers in den Mitt. aus d. d. Erz. u. Schulgesch. Bd. XI (1901) S. 226. 

— M # M m 

Buchdruckerei von Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Die Comenius-Gesellschaft 

zur Pflege der Wissenschaft und der Yolkserziehung 

ist am 10. Oktober 1891 in Berlin gestiftet worden. 


Mitgllederzali 1 1901: rund 1200 Personen und Körperschaften. 

^ 

Gesellschaftsschriften : 

1. Die Monatshefte der C.-G. Deutsche Zeitschrift zur Pflege der Wissenschaft 
im Geiste des Comenius. Herausgegeben von Ludwig Keller. 

Band 1 — 9 (1892 — 1900) liegen vor. 

2. Comenius-Blätter für Volks erziehung. Mitteilungen der Comenius-Gesellschaft. 

Der erste bis achte Jahrgang (1893 — 1900) liegen vor. 

3. Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. Zwanglose Hefte zur Ergänzung der 
M.-H. der C.-G. 

Der Gesamtumfang der Gesellschaftsschriften beträgt jährlich etwa 32 Bogen Lex. 8°. 


Bedingungen der Mitgliedschaft: 

1. Die Stifter (Jahresbeitrag 10 M.; 12 Kr. österr. W.) erhalten die M.-H. der C.-G. 
und die C.-Bl. Durch einmalige Zahlung von 100 M. werden die Stifterrechte 
von Personen auf Lebenszeit erworben. 

2. Die Teilnehmer (Jahresbeitrag 5 M.; G Kr. österr. W.) erhalten nur die Monats- 
hefte; Teilnehmerrechte können an Körperschaften nur ausnahmsweise verliehen 
werden. 

3. Die Abteilungsmitglieder (Jahresbeitrag 3 M.) erhalten nur die Comenius- 
Blätter für Volkserziehung. 


Anmeldungen 

sind zu richten an die Geschäftsteile der C.-G., Berlin NW., Bremerstr. 71. 


Der Gesamtvorstand der C.-G. 

Vorsitzender : 

Dr. Ludwig Keller, Geheimer Staatsarchivar und Geheimer Archiv-Rat, in Berlin-Charlottenburg, 

Berliner Str. 22. 

Stellvertreter des Vorsitzenden: 

Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath, M. d. R., Schloss Amtitz (Kreis Guben). 

Mitglieder : 

Direktor Dr. Begemann, Charlottenburg. Prof. W. Bötticher, Hagen (Westf.) Stadtrat a. D. Herrn. Hey- 
felder, Verlag9buchhändler, Berlin. Prof. Dr. Hohlfeld, Dresden. M. Jabionski, General-Sekretär, 
Berlin. Israel, Obcrschulrnt a. D., Dresden-Blasewitz. W. J. Leendertz, Prediger, Amsterdam. Prof. 
Dr. Nesemann, Lissa (Posen). Seminar- Direktor Di. Heber, Bamberg. Dr. Hein, Prof, an d. Universität 
Jena. Hofrat Prof. Dr. B. Suphan, Weimar. Univ. -Professor Dr. von Thudichum, Tübingen. Prof. 
Dr. Waetzoldt, Geh. Reg.-Rat u. Vortragender Rat im Kultusministerium, Berlin. Dr. A. Wernicke, 
Direktor der städt. Oberrealsehule u. Prof. d. techn. Hochschule, Braunschweig. Weydmann, Prediger, Crefeld. 
Prof. Dr. Wolfstieg, Bibliothekar des Abg.-H., Berlin. Prof. D. Zimmer, Direktor des Ev. Diakonie-Vereins, 

Berlin-Zehlendorf. 

Stellvertretende Mitglieder: 

Lehrer R. Aron, Berlin. J. Q. Bertrand, Rentner, Berlin-Südende. Pastor Bickerich, Lissa (Posen). 
Dr. Gustav Diercks, Berlin-Steglitz. Prof. H. Fechner, Berlin. Bibliothekar Dr. Fritz, Charlottenburg. 
Geh. Regierungs-Rat Gerhardt, Berlin. Prof. G. Hamdorff, Malchin. Oberlehrer Dr. Heubaum, Berlin. 
Univ.-Prof. Dr. Lasson, Berlin-Friedenau. Diakonus K. Mämpel, Eisenach. Univ.-Prof. Dr. Natorp, 
Marburg a./L. Bibliothekar Dr. Nörrenberg, Kiel. Rektor Rissmann, Berlin. Landtags-Abg. v. Schencken- 
dorff, Görlitz. Archivar Dr. Schuster, Charlottenburg. Slamenfk, Bürgerschul-Direktor, Prerau. Univ.- 
Prof. Dr. H. Suchier, Halle a. S. Univ.-Prof. Dr. Uphues, Halle a. S. Oberlehrer W. Wetekamp, 

M.d. A.-H., Breslau. 

Schatzmeister : Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse. 


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Aufträge und Anfragen m • Aufnahmebedingungen 

sind zu richten an Zl fl 701 0*01^1 Pic 8 es P a * tene Nonpareillezeile oder 

R. Gaertners Verlag, U. Heyfelder, IlMLvIiivMi deren Raum 20 Pf g. Bei grösseren 
Berlin SW., Schönebergerstrasse 26. O Aufträgen entsprechende Ermässigung. 

R. Gaertners Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW. 

Soeben erschienen: Früher erschienen: 

Elassicisrnns und Naturalismus über den Begriff der Erfahrung 

bei Pr. Th. Vischer. j bei Helmholtz. 

Von Von 

■»} 

Er. Erich Heyfelder. Er. Viktor Heyfelder. 

86 Seiten gr. 8°. 1,60 Mark. 82 Seiten gr. 6°. 1,60 Mark. 

Seit 1873 erscheinen: 

Mitteilungen 

aus der historischen Litteratur. 

Herausgegeben 

von der 

Historischen Gesellschaft zu Berlin. 

Vierteljährlich ein Heft gr. 8°. 

Preis des Jahrgangs 8 Mark. 

(1873—1876 je 4 M. — 1877 -93 je 6 M.) 

Register über Jahrgang I — XX (1873—1892) 3 M. 

Die „Historische Gesellschaft in Berlin“ liefert durch die „Mitteilungen 
aus der historischen Litteratur“ ausführliche Berichterstattungen über die 
neuesten historischen Werke mit möglichster Bezugnahme auf den bisherigen 
Stand der betreffenden Forschungen. Sie glaubt, da der Einzelne nicht 
alles auf dem Gebiete der Geschichte Erscheinende durchseheo, geschweige 
denn durcharbeiten kann, den Lehrern und Freunden der Geschichte einen 
Dienst zu leisten , wenn sie dieselben durch objektiv gehaltene Inhalts- 
angaben in den Stand setzt, zu beurteilen, ob für ihren Studienkreis die 
eingehende Beschäftigung mit einem Werke nötig sei oder nicht. 

Kritiken werden die „Mitteilungen“ in der Regel fern halten, weil 
weder die auf das allgemeine Ganze gerichtete subjektive Meinungsäusserung, 
noch das polemische Eingehen auf Einzelheiten den hier beabsichtigten 
Nutzen zu schaffen vermögen, überdies eine richtige Würdigung gerade der 
bedeutensten historischen Arbeiten oft erst nach länger fortgesetzten 
Forschungen auf demselben Felde möglich ist. 

Buchdruckerei von Johannes Bredt, Münster i. W. 


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Herausgegeben von Ludwig Keller. 


| Ese llsciiakt 


, 189 « . 


Zehnter Kami 


Neuntes und zehntes Heft, 

November — Dezember 1901. 


Berlin 1901 


li. Gaertnors Verlagsbuchhaudlun 
Hermann Heyfelder. 

SW. Schönebergerstrasse 20. 





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Der Bezugspreis beträgt im Buchhandel und bei der Post jährlich 10 Mark. 

Alle Hechte Vorbehalten. 

Das Personen- und Orts-Register zum X. Bande wird mit dem 1. Hefte dgteSbyBandes ausgegeben. 



Inhalt 

dos neunten u n d / o h n t e n Heftes 1901. 


Abhandlungen, s,.iu* 

Ludwig Keller, Waldenser und Katharer im Urteile J. J. von Döllingers 250 

I. )r. phil. Franz Strunz, Johann Baptist van Helmont und die Grund- 

lagen seiner Naturphilosophie 274 

Die moralische^ Wochenschriften, welche in den Jahren 1713 bis 

1701 in deutscher Sprache erschienen sind 2 !m; 

Kleinere Mitteilungen. 

Otto Clemen, Das Antwerpener Augustiner-Kloster bei Beginn der Re- 
formation (1513 — 1523) ;;<m; 

Nachrichten und Bemerkungen. 

II. st. ( hamborluin über die Bodouhmg der Kümpfe im frühen Christentum. Da.« alte C hristentum 

mul die Einführung der rttmisehen Weltkirche. War das ülteste ('hi istentmu ein Vorläufer 
des ehnstliohen Humanismus? C. Ililtys Erteil über Paulus. Die Idee de.« Oottesreiehs 
als eines Bauwerks. — Die Bedeutung <ler Persönlichkeiten in der (ieistesgesehiehte. - 
Lucius Apulejus von Mtulaura (geh. um 1 2Ö n. Ohr.) und die Akademien der Platoniker. 

Die fl De hten den Griechen im 14. mul die Hugenotten im 17. Jahrhundert in ihrem Einfluss 
auf die Akademien. - Markgraf Johann von Brandenburg . der ,,Alchymist“. — Die Prin- 
zessin Barbara von Hohen /.ollem , die „Humaniston-Mmter“. Jean Baptist von llelmoiit. 

— Samuel Pufendorf und das Collegium anthologieum zu Leipzig. -- Verst hl eierte Organi- 
sationen in politisehen und religiösen Kümpfen. Die deutschen Sprachgesellschaften <le« 

17 Jahrhunderts in ihrer wahren Bedeutung. Die Berufung aul Sokrates lind Plato in 
den SozietiUen des 17. und IS. Jahrhunderts. Die „spekulative“ und die „operative“ Ab- 
teilung in den filteren Bauinniingen. Fr. Paulsens, O. Willmanns und K. Vorlilnders o 

Schriften über Kant. - Alexander Wemieke über die Pcriodenteilung der doutsehen Geschiehte ol I 


Zuschriften bitten wir an den Vorsitzenden der C.-G., Geheimen Archiv- 
Rat Dr. Ludw. Keller, Berlin-Charlottenburg, Berliner Str. 22 zu richten. 

Die Monatshefte der C.-G. erscheinen monatlich (mit Ausnahme des Juli 
und August). Die Ausgabe von Doppelheften bleibt Vorbehalten. Der Gesamt- 
umfang beträgt vorläufig 20 — 25 Bogen. 

Die Mitglieder erhalten die Hefte gegen ihre Jahresbeiträge; falls die 
Zahlung der letzteren bis zum 1. Juli nicht erfolgt ist, ist die Geschäftstelle zur 
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Für die Schriftleitung verantwortlich : Geheimer Archiv-Rat Dr. Ludw. Keller. 


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Monatshefte 

der 

Comenius-Gesellsohaft. 

X. Band. 1901. Heft 9 u. 10. 


Waldenser und Katharer im Urteile J. J. von Döllingers. 

Von 

Ludwig Keller. * 


Ira Jahre 1890, kurz vor seinem Tode, hat der bedeutendste 
katholische Kirchenhistoriker des vorigen Jahrhunderts, J. J. von 
Döllinger, in zwei starken Bänden seine Studien zur Geschichte 
der sog. Katharer und Waldenser der Öffentlichkeit übergeben 1 ). 
Diese Studien hatte Döllinger, wie die Vorrede ergiebt, schon vor 
Jahrzehnten, nämlich in den vierziger und fünfziger Jahren des 
19. Jahrhunderts angefangen und soweit zum Abschluss gebracht, 
dass die Bände schon in jener Zeit von ihm hatten in die Druckerei 
gegeben werden können, auch der Druck thatsächlich begonnen 
hatte; Gründe, die er nicht angiebt, hatten damals die Fertig- 
stellung und die Herausgabe gehindert, die dann, wie gesagt, erst 
etwa 40 Jahre später in der Form erfolgte, wie sie früher beab- 
sichtigt gewesen war. 

Döllinger selbst räumt ein, dass diese Entstehungsgeschichte 
dem Werke, wie es heute vorliegt, in mancher Beziehung Eintrag 
gethan hat In der langen Zeit, die zwischen dem Beginn des 
Druckes und der Ausgabe liegt; sind manche von den Akten- 
stücken, die Döllinger bringt, auch von Anderen gefunden und 
teilweise nach besseren Vorlagen bereits veröffentlicht worden. 
Sodann aber — und das ist die Hauptsache — war der Döllinger 
von 1890 nicht mehr der Döllinger von 1850: der Verfasser 

Ign. v. Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters. 
Erster Teil: Geschichte der gnostisch-manicbäischen Sekten. Zweiter Teil: 
Dokumente, vornehmlich zur Geschichte der Valdesier und Katharer. 
München, C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. 1890. 

Monatshefte der Comcnius-Gesellschaft. 1901. ]_7 


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Keller-, 


Heft 9 u. 10. 


26Ö 

selbst bemerkt in der Vorrede (offenbar im Hinblick auf die 
Thatsache, dass alle Werturteile des Buchs vom Standpunkt eines 
strenggläubigen katholischen Priesters abgegeben sind), dass seine 
Darstellung der Ketzergeschichte „in einer früheren Lebensperiode“ 
geschrieben sei. 

Was dies gerade auf dem vorliegenden Gebiet ausmacht, 
wo es sich um die heftigsten Kämpfe handelt, welche die römisch- 
katholische Kirche im Mittelalter zu bestehen gehabt hat, kann 
man sich leicht selbst sagen ; wie verschieden die Auffassung 
religiöser Kämpfe je nach dem religiösen Standpunkte des 
Schreibers ausfallen kann, das kann man ja an den Darstellungen 
der Reformationsgeschichte sehen; wenn solche Gegensätze wie 
Janssen und Ranke auf einem Gebiete möglich sind, das durch 
zahllose Quellen in seinem äusseren und inneren Verlauf ent- 
schleiert vor uns liegt, wie viel eher müssen dann Meinungs- 
verschiedenheiten auf einem Felde Vorkommen, welches trotz 
mancher Quellenpublikationen immer noch zu den dunkelsten 
Teilen der Kirchengeschichte gehört! Es kommt hinzu, dass die 
Eigenart dieser Quellen die Gewinnung eines sicheren Urteils 
ganz besonders erschwert; denn wir besitzen z. B. zur Geschichte 
der grossen Religionspartei der Katharer bis jetzt nur ein ein- 
ziges Dokument (ein Rituale), welches in den Kreisen 
dieser „Ketzer“ selbst erwachsen ist; alle anderen Quellen 
stammen aus dem Lager ihrer Gegner. Wenn wir uns daher ein 
Urteil über die Geschichte und die Grundsätze der Katharer 
bilden wollen, so müssen wir dies lediglich aus den Erzählungen 
ihrer Feinde thun. Man kann ermessen, wie schwer es sein 
würde, eiu zutreffendes Bild von Luther zu geben, wenn wir 
weder Schriften von ihm noch Nachrichten seiner Freunde, son- 
dern lediglich die Berichte eines Cochlaeus, Eck oder Aleander 
besässen. Ist es da zu verwundern, wenn sich die Meinungen 
der neueren Forscher über Wesen und Wert der mittelalterlichen 
„Ketzer“ schroff gegenüber stehen? Obwohl man sich, wie gesagt, 
bei der Betrachtung der Döllingerschen Darstellung immer die 
Thatsache der frühzeitigen Abfassung gegenwärtig halten muss, so 
darf man doch bei einem Gelehrten von so hervorragendem 
Scharfblick und so umfassenden Kenntnissen in allen Fällen eine 
wesentliche Bereicherung unserer Kenntnis voraussetzen und diese 
Erwartung wird nicht getäuscht. 


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1901. 


Waldenser und Katharer etc. 


261 


Die ausserkircklichen Christengemeinden des Mittelalters, 
die Döllinger Ketzer nennt, die wir aber unter dem Namen der 
altevangelischen Gemeinden zusammenfassen, sind nach 
Döllinger nichts anderes als die „ Ketzergemeinden “ der alt- 
christlichen Zeiten in neuem Gewände und nicht bloss 
das, sondern jene „Sekten“ des 11. bis 13. Jahrhunderts stehen 
durch eine Reihe von Mittelgliedern mit den christlichen Sekten 
des ersten und zweiten Jahrhunderts in einem ununterbrochenen 
geschichtlichen Zusammenhang; am Anfänge dieser Entwicklungs- 
reihe stehen, sagt Döllinger, jene Systeme, die wir als die Lehren 
der Gnostiker zu bezeichnen pflegen, und diese Systeme werden 
charakterisiert durch den Umstand, dass ihr Glaube aus einer 
Verbindung von altchristlichen Überzeugungen mit der 
Weisheit der Orientalen und der Griechen erwachsen ist. 

Diese sogenannten Gnostiker — als Parteiname scheint 
dieser Name von den Anhängern selbst nie zur Bezeichnung der 
eignen Gemeinschaft anerkannt worden zu sein und er ist daher, 
wie alle in solchen Fällen von Gegnern gebrauchte Namen, ein 
Sekten- Name von vielfach schwankender Bedeutung gewesen — 
hatten sich nach Döllinger um die Mitte des 2. Jahrhunderts 
über das ganze römische Weltreich, ja sogar über dessen Grenzen 
hinaus ausgebreitet; sie besassen manche geistig bedeutende An- 
hänger und sogar hervorragende Kirchenlehrer jener Jahrhunderte 
— Döllinger denkt offenbar an verschiedene griechische Kirchen- 
lehrer, vor Allem au Origen es •— haben zahlreiche Berührungs- 
punkte mit den „Gnostikern“ aufzuweisen. 

„Obwohl vielfach unterdrückt, fährt Döllinger fort, ver- 
breitete sich dieses System im Osten wie im Westen, von Persien 
bis nach dem römischen Afrika und behauptete sich Jahr- 
hunderte lang mit zäher Dauerhaftigkeit.“ 

Dass die Glaubens-Anschauungen der sogenannten Gnostiker 
mit denen der Katharer und Waldenser des 11. bis 14. Jahr- 
hunderts gerade in den Grundfragen sich berühren — man braucht 
ja nur an die gemeinsame Grundlage des Neuplatonismus zu 
erinnern — war auch sonst schon bekannt und ist öfters hervor- 
gehoben. Aber die Annahme eines unmittelbaren geschichtlichen 
Zusammenhangs, wie sie von Döllinger vertreten wird, darf sich 
auf solche Übereinstimmungen nicht allein stützen; wenn die 
Gleichheit nicht auch in Bezug auf Verfassung und Kultus 

17 * 


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Keller, 


Heft 9 u. 10. 


nachweisbar ist, so steht die Behauptung auf schwachen Füssen. 
Aber — und das ist das wichtige — auch in diesen Punkten 
sind die merkwürdigsten Berührungen nachweisbar. 

Wir wissen, dass die Gnostiker nach der Art der platonischen 
Akademien *) — auch die Gemeinden der Gnostiker wurden merk- 
würdiger Weise in den Schriften der Gegner Schola, Collegium 
Thiasos, Academia genannt — engere und weitere Kreise von 
Eingeweihten und Grade der Mitgliedschaft besassen, und dass 
die gesamte Organisation auf diesem Grundsatz der Stufenteilung 
beruhte. Ebenso hatten die Gnostiker durch die schweren Kämpfe, 
in denen sie sich befanden, sich gezwungen gesehen, ihre Ver- 
fassung und ihre Bräuche, auch die Namen der Mitglieder vor 
Uneingeweihten zu verhüllen. 

Genau dieselben Erscheinungen kehren bei den Katharern 
und Waldensern wieder. Wir finden bei ihnen (sagt Döllinger 
I, 126) „eine Einteilung in Eingeweihte und Glaubende, eine 
stufenweise und allmählich vorbereitende Einführung in die Ge- 
heimlehre der Sekte“. Die Sekte der Katharer war, wie es in 
einem Schreiben des Klerus von Lüttich an Papst Julius II. vom 
Jahre 1145 heisst, „abgeteilt in Stufen und Grade“. Der erste 
Grad umfasst, sagt dies Schreiben, die „Hörer“, der zweite die 
„Glaubenden“, der dritte die „Getrösteten“. Ebenso hatten die 
Waldenser (wie eine wichtige Urkunde, die Döllinger II, 12 ff. 
zum ersten Mal druckt, uns lehrt) drei Grade, die den erwähnten 
durchaus entsprachen, nur dass die Glieder des ersten nicht als 
Hörer, sondern als „Freunde“ und dass der dritte Grad als der 
der „guten Leute“ oder „Gottesfreunde“ bezeichnet wird ; aus 
diesem letzteren gingen die Beamten der Gemeinden hervor, die 
wiederum in drei Stufen zerfielen : Bischöfe, Älteste und Diakonen. 

Aber nicht bloss der Zusammenhang zwischen den mittel- 
alterlichen Sekten und den Gnostikern wird von Döllinger betont 
— er erklärt die Sekte der Paulicianer, die bis in das 4. und 
5. Jahrhundert hinauf reicht, sowie die sogenannten Bogomilen (zu 
deutsch Gottesfreunde) als Mittelglieder — , sondern er sagt 
auch, dass sämtliche früh -mittelalterlichen Sekten, nämlich die 
Priscillianisten, Paulicianer, Bogomilen u. s. w. „überall nur 

l ) Über die Organisation der Philosophenschule Platos, die eine mehr 
als tausendjährige Geschichte besitzt, s. L. Keiler, Die Akademien der 
Platoniker im Altertum. Berlin, R Gaertners Verlag (H. Heyfelder) 1899. 


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Waldenser und Katharer etc. 


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Verzweigungen einer einzigen grossen Sekten-Familie 
sind, welche, wenn auch in einzelnen Meinungen von einander 
abweichend, doch in allen Hauptpunkten übereinstimmen“. Er 
fühlt daher das Bedürfnis, sie mit einem besonderen Namen als 
eine Partei zusammen zu fassen, und nennt sie, da sie mit den 
alten Manichäern zwar verwandt, aber nicht identisch seien, zum 
Unterschied von diesen „Neumanichäer“. 

Es wäre nicht schwer, die Thatsache der nahen Verwandt- 
schaft jder früh-mittelalterlichen mit den späteren Sekten durch 
die Übereinstimmung aller wichtigeren Lehren und Einrich- 
tungen zu beweisen; hier will ich nur darauf hindeuten, dass 
bei allen diesen Parteien die ganz eigenartige Einrichtung des 
Apostel- Amtes wiederkehrt Dieses Amt der Wanderprediger 
stand eigentlich ausserhalb der regelmässigen Organisation der 
Gemeinschaft, bildete aber doch ein wichtiges und einflussreiches 
Glied des Ganzen. Aus der Zahl der „guten Leute“ oder der 
„Vollkommenen“, d. h. aus den Gliedern des dritten Grades, Hessen 
Einzelne sich bereit finden, dieses Amt der wandernden Prediger 
freiwillig zu übernehmen, und wenn das bestehende Kollegium 
der älteren Wanderprediger bereit war, die Betreffenden aufzu- 
nehmen, so wurden sie der Zahl der „eingekleideten Vollkommenen“ 
(perfecti vestiti) durch eine entsprechende Zeremonie eingereiht; 
diese Apostel hiessen „Gottesfreunde“ und waren sehr strengen 
Lebensregeln und Vorschriften unterworfen: sie durften kein un- 
bewegliches Eigentum besitzen; sie durften nicht in die Ehe treten, 
noch überhaupt ein Weib berühren, kein Blut vergiessen, kein 
Tier töten, kein Fleisch essen, mussten eine bestimmte Tracht 
tragen und lebten stets gemeinsam. 

Während sowohl die Hörer wie die Glaubenden und selbst 
die Glieder des dritten Grades, die nicht „Eingekleidete“ waren, 
sich nicht erheblich von den Katholiken unterschieden und seit 
dem Ausbruch der Verfolgungen sich absichtlich diesen möglichst 
anpassten, musste die Eigenart der „Gottesfreunde“ natürlich den 
gleichzeitigen Chronisten in hohem Grade auffallen und so kommt 
es, dass unsere Quellen sehr viel von jenen Wanderpredigern 
und deren strengen Regeln erzählten , dabei aber zugleich die 
Besonderheiten derselben in vollständiger Verkennung des wirk- 
lichen Sachverhalts zum Merkmal der ganzen Gemeinschaft 
stempeln. 


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Keller, 


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Einen Beleg hierfür bilden die Schilderungen, welche uns 
von den sogenannten Bogomilen erhalten sind. Döllinger bemerkt, 
dass der Name von dem angeblichen Stifter der Sekte, Bogomil 
(slavisch Gottlieb), der sonst auch Jeremias heisse, abgeleitet werde. 
In Wahrheit heisst Bogomilen nichts anderes als Gottesfreunde 
und dadurch lösen sich alle die Rätsel, die sich bei Betrachtung 
unserer Quellenberichte, wie sie Döllinger wiedergiebt, aufdrängen. 
Nicht innerhalb der Gemeinschaft, die man Bogomilen nannte, 
war die Ehe verboten — wie hätte sie sich dann wohl fort- 
pflanzen sollen? — , oder der Fleischgenuss untersagt — wie wäre 
das durchführbar gewesen? — , sondern in dem Kollegium der 
Gottesfreunde oder Bogomilen galten diese Vorschriften als 
Pflichten des Amtes. 

Einige Züge des Bildes, das Döllinger an der Hand gegnerischer 
Quellen (die natürlich mit Vorsicht zu gebrauchen sind) von den 
Lehren und Bräuchen der „Gottes freunde“ (Bogomilen) giebt, sind 
sehr merkwürdig. Bei der Aufnahme in die Brüderschaft herrschten 
bestimmte Riten, die sich bis auf die anzulegende oder abzulegende 
Kleidung erstreckten. Der Aufzunchmende musste sich feierlich 
verpflichten, das zu Offenbarende Niemandem mitzuteilen, auch 
musste er eine Unterschrift ausstellen. Man legte ihm bei der 
Aufnahme das Evangelium Johannis vor und rief den hl. Geist 
an und betete ein Gebet (das Vaterunser). Das war der Schluss 
der Aufnahme in die erste Stufe; dieser folgte eine Prüfungs- 
zeit, die angeblich zu grösserer Reinigung des Herzens nötig 
war; nach Verlauf derselben und auf die Bürgschaft anderer 
Brüder hin, dass er fleissig gerungen habe, wurde der Proselyt 
zur vollen Einweihung zugelassen; abermals ward ihm das Johannes- 
Evangelium auf das Haupt gelegt und mit Handauflegung und 
Gesang endete die Feier (Döllinger I, 43). 

Bei der Aufnahme spielte auch die Taufe eine Rolle; denn 
jeder, der sich anschloss, ward getauft. Aber, sagt Döllinger 
(I, 43), diese sogenannte Taufe ward ohne Wasser vollzogen; ehe 
sie erteilt ward, gingen Prüfungen voraus und ein langes, sieben 
Tage und sieben Nächte fortzusetzendes Gebet 

„Ihr Kanon bestand,“ sagt Döllinger, „aus sieben Schriften; 
diese sollten die sieben Säulen sein, auf welche sich (nach ihrer 
Deutung der Stelle Sprüche 9, 1) das von der Weisheit gebaute 
Haus, d. h. die wahre Kirche der Bogomilen stütze. Ihre sieben 


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Waldenser und Katharer etc. 


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heiligen Bücher waren aber die Psalmen, die sechzehn Propheten, 
die vier Evangelien und Apocalypse“. In Bezug auf manche 
Dogmen, wie die römische Kirche sie ausgebildet hatte, z. B. in 
Betreff der herrschenden Dreieinigkeitslehre, hatten sie ihre be- 
sondere Ansicht und sie besassen solche Lehren, die nur den Ein- 
geweihten, und solche, welche den ferner Stehenden verständlich 
waren. Gegen die üblichen Kirchenbauten, sowie gegen Krucifixe 
trugen sie eine Abneigung zur Schau ; auch von Bildern und Bilder- 
dienst wollten sie nichts wissen, obwohl sie in ihren Gottesdiensten 
sinnbildliche Handlungen liebten und eine bildliche Sprechweise 
oft verwendeten. Ihr Misstrauen gegen das mosaische Gesetz be- 
gründeten sie damit, dass es den Eid, die Tieropfer und den 
Totschlag teils gestatte, teils gebiete. Die Gläubigen, so lehrten 
sie, werden dereinst mit Christus eines Leibes und einer Seele 
sein; die Leiber der Menschen aber, das Gefängnis der Seele, 
fallen der Verwesung anheim und eine Auferstehung des Fleisches 
gibt es nicht. 

Es war zunächst das Gebiet der griechischen Kirche, in 
welcher die Bogomilen Anhang und Ausbreitung gewannen. Zu 
Anfang des 12. Jahrhunderts erregte die Partei durch die grossen 
Fortschritte, die sie machte, in Konstantinopel allgemeine Auf- 
merksamkeit und der Kaiser Alexius Komnenus suchte sie zu 
vernichten; es fanden viele Hinrichtungen statt, aber noch im 
Jahre 1230 klagte der Patriarch Germanus, dass viele Menschen 
sich durch die erheuchelte Frömmigkeit der Bogomilen verführen 
Hessen. Sehr frühzeitig waren aber auch die Länder des Abend- 
landes von ihnen durchsetzt und die politische Verwirrung, welche 
vom 5. Jahrhundert ab im Abendland herrschte, machte es ihnen 
leicht, ihre Verbindung zu bewahren und Sich auszubreiten. 

Indessen fand sich lange Zeit unter den abendländischen 
„Neumanichäern“ (wie Döllingcr sagt) kein Mann, dessen Persön- 
lichkeit so bedeutend und dessen Wirksamkeit so bemerkenswert 
gewesen wäre, dass er eine allgemeine Aufmerksamkeit auf sich 
gelenkt hätte; erst zu Anfang des 12. Jahrhunderts traten im süd- 
lichen Frankreich zwei solche Männer auf: Petrus von Bruys 
und Heinrich von Toulouse, die als gefährliche Irrlehrer galten 
und noch heute von vielen Forschern auf diesem Gebiete — 
Neander, Giseier, Guericke, Engelhardt, C. Schmidt, J. J. Herzog 
— als Stifter besonderer Sekten, nämlich der Petrobrusianer und 


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Keller, 


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Henricianer angesehen werden. Döllinger erbringt dagegen den 
unzweifelhaften Nachweis, dass diese Auffassung unrichtig ist. 
Von eigenen, getrennt bestehenden Gemeinden von Petrobrusianern 
und Henricianern findet sich keine Spur; vielmehr sind die Sekten, 
die man so genannt hat, (sie selbst haben sich wiederum nicht so 
bezeichnet) nur ein Zweig der oben schon besprochenen sog. Neu- 
manichäer, aus deren Lehre und Verfassung wir oben eine Reihe 
bezeichnender Züge als Grundsätze der „Bogomilen“ kennen ge- 
lernt haben. Sie stimmen in allen wesentlichen Punkten mit den 
sog. Paulicianem und Bogomilen überein. 

„Da dieser Zweig der Manichäer,“ sagt Döllinger (I, 91), 
„unter den Webern zu Toulouse und in der Umgegend, die in der 
dortigen Volkssprache Arriens hiessen, ihren stärksten Anhang 
hatte, so gab man der Sekte selbst diesen Namen (also „Weber“), 
wie es auch im nördlichen Frankreich geschah, wo die Katharer 
gewöhnlich Tisserands genannt wurden.“ Indessen seien es wohl 
überhaupt die Handwerker gewesen, die diese Lehren getragen 
hätten. „Es ist nicht zu übersehen,“ sagt Döllinger I, 92, „dass 
das damalige Zunftwesen mit seiner engen und organischen 
Verbindung der Verbreitung der Irrlehre, die sich einmal in eine 
solche Handwerks -Innung eingeschlichen hatte, ungemein günstig 
sein musste.“ Indessen fügt Döllinger an derselben Stelle hinzu, 
dass ein grosser Teil des Adels diese Häretiker ebenfalls be- 
günstigt und ihnen sichere Zuflucht auf seinen Schlössern ge- 
währt habe. 

Von grossem Interesse sind die Ansichten, welche sich 
Döllinger über Ursprung und Wesen der Katharer und Waldenser 
gebildet hat Was zunächst die Letzteren betrifft, so hat Döllinger 
auf ein genaueres Eingehen verzichtet, doch giebt er gelegentlich 
auch über sie eine Ansicht zu erkennen und namentlich ist seine 
Auffassung über deren Ursprung eigentümlich genug, um hier er- 
wähnt zu werden. Bisher hatten die Kirchenhistoriker geglaubt, 
in den Henricianern und Petrobrusianern die Vorläufer der Wal- 
denser erkennen zu sollen. Döllinger ist anderer Ansicht; nach ihm 
ist eine kleine, wenig beachtete Sekte des Niederrheins, die vor 
der Mitte des 12. Jahrhunderts auftritt, als die Vorläuferin der 
Waldenser zu betrachten. „Der Urheber derselben,“ sagt Döl- 
linger, „w T ar jener Tanchelm, der die Grundsätze der Donatisten 
und die wilde zerstörende Schwärmerei der Circumcellionen mit 


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Waldenser und Katharer etc. 


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dem tollkühnen Übermut und den frechen Blasphemien eines Eon 
verband." 

Es ist zu bedauern, dass Döllinger es unterlassen hat, hier- 
für Beweise beizubringen; nach Allem, was wir von den Walden- 
sern wissen, ist es wenig wahrscheinlich, dass aus einer solch 
wilden Sekte diese Gemeinschaft sich entwickelt habe und bis zur 
Beibringung weiterer Belege wird man wohlthun, die frühere Auf- 
fassung für zutreffender zu halten. 

Allerdings muss man bei der Betrachtung dieser religiös- 
geschichtlichen Erscheinungen — wir sagen ausdrücklich religiös- 
geschichtlichen und nicht kirchengeschichtlichen Erscheinungen, weil 
alle Vertreter dieser Gemeinschaften den Namen Kirche für sich 
ablehnten und sich lediglich eine Brüderschaft nannten — stets 
im Auge behalten, dass diese Christen niemals im Sinne der 
römischen Kirche eine geschlossene Einheit dargestellt haben. 
Es waren nicht bloss die Verhältnisse, die eine einheitliche und 
gleiclimässige Entwicklung und die Herstellung eines einheitlichen 
Verbandes hinderten, auch ihre Grundsätze machten ihnen, da 
sie von jeher Anhänger der Freiheit des Glaubens und Gegner 
des Gewissenszwanges waren, unmöglich, mit den Mitteln, die die 
römische Kirche in Anwendung brachte, eine einheitliche Organi- 
sation herbeizuführen. Um so beachtenswerter ist es, dass die 
urteilsfähigsten Zeitgenossen und Chronisten sich mit Päpsten 
und Konzilien in der Überzeugung zusamraenfinden , dass die 
Mehrheit der mittelalterlichen „Häretiker“, unter welchem Namen 
sie auch auftreten, sich in den gleichen Grundgedanken begegnen 1 ). 
In der That zeigt sich unter ihnen trotz der Kämpfe, die sie 
unter sich ausgefochten haben, in allen Zeiten, wo sie von Ge- 
fahren bedroht waren, ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit 
und jede vorurteilslose Prüfung lehrt, dass sie durch alle Jahr- 
hunderte ihre vornehmsten Grundsätze mit ausserordentlicher 
Zähigkeit festgehalten und in einer Leidensgeschichte ohne 
Gleichen siegreich verteidigt haben. 

Wie dem aber auch sein mag, so ist doch nach Döllingers 
Ergebnissen jetzt wenigstens soviel gewiss, dass die sog. Katharer 
nicht eine neue und eigenartige Sekte sind, sondern lediglich ein 

*) Die Beweise aus den Quellen s. bei L. Keller, Die böhmischen 
Brüder und ihre Vorläufer. Berlin, R. Gaertner (H. Heyfelder) 1894. 


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Keller, 


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Glied jener Sektenfainilie darstellen, zu welcher auch die Gemein- 
schaften der Paulicianer, Bogomilen, Petrobrusianer, Henricianer 
u. s. vv. gehören. „Die Ähnlichkeit des Lehrbegriffs der monarch- 
ischen Katharer in Italien mit dem der Bogomilen (sagt Döllinger 
I, 114) ist so auffallend, dass die direkte Abstammung der 
ersteren von den letzteren als unzweifelhaft gewiss betrachtet werden 
kann“, und er bestätigt damit ira Grunde nur, was Bernhard von 
Clairvaux bereits im 12. Jahrhundert ausgesprochen hat, indem 
er sagt, dass die Lehre der Katharer nichts neues, sondern nur 
das von den älteren „Häretikern“ Vorgebrachte enthalte. 

In Wahrheit ist, wie Döllinger richtig bemerkt, der Name 
Katharer nur die griechische Bezeichnung derjenigen Mitglieder 
der Sekte, welche in dem slavischen Sprachgebiet Bogomilen, auf 
deutschem Boden Gottesfreundfc und auf französischem Bons gens 
heissen. Die bekannte Sekten riecherei der herrschenden Kirche, 
die ein Interesse daran hatte, überall ein Chaos verschiedener 
Sekten zu sehen, hat dann aus diesen verschiedenen Namen ebenso 
viele „neue und unerhörte Sekten“ gemacht und die richtigen 
Beobachtungen einzelner Zeitgenossen blieben unbeachtet; hoffent- 
lich wird es jetzt wenigstens gelingen, die veralteten Auffassungen, 
die sich noch immer in fast allen kirchengeschichtlichen Hand- 
büchern finden, allmählich aus der Welt zu schaffen. 

In gewissem Sinne hat die landläufige Geschichtschreibung 
wenigstens eine Art von Verwandtschaft dieser Sekten dadurch 
anerkannt, dass sie ihnen einen gemeinsamen Namen gegeben hat, 
nämlich den Namen Manichäer. So unzutreffend dieser Name 
ist — er war lediglich ein Kampfmittel in dem Streit der Parteien, 
nämlich eine Bezeichnung zur Beschimpfung — so kommt in der 
Wahl eines gemeinsamen Namens doch ein Bedürfnis zum Aus- 
druck, welches auch Döllinger gefühlt hat und dem er durch 
die Bezeichnung des „gnostisch-manichäischen“ Sektenkreises ent- 
gegenzukommen sucht. Indessen trifft auch auf diesen Namen zu, 
was von der Bezeichnung „Manichäer“ gilt; die Männer, die so 
genannt werden, haben sich weder zu den Gnostikern noch zu den 
Manichäern gerechnet, sondern diese Namen mit guten Gründen 
als Scheltnamen zurückgewiesen; sie selbst nannten sich einfach 
Christen und wenn die herrschenden Kirchen ihnen heute diesen 
Namen ohne Beeinträchtigung des eigenen Christen-Namens nicht 
zugestehen zu können glauben, so muss man doch, falls man einen 


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Waldenser und Katharer etc. 


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gemeinsamen Namen nicht entbehren kann, einen solchen wählen, 
der keine Beschimpfung enthält und die wesentlichen Charakter- 
züge der Partei möglichst treffend zusammenfasst, auch unter ihnen 
selbst gelegentlich nachweisbar ist. 

Wenn man daraufhin die Quellen prüft, so findet man, dass 
(wie Döllinger I, 83 andeutet) eines der wesentlichsten Merkmale 
der gesammten Sekten familie in der Betonung des „evangelischen 
Gesetzes“ oder des „Gesetzes Christi“ gelegen ist. Jener bekannte 
Artikel der sogenannten Wiklefiten des 14. Jahrhunderts: „Das 
Evangelium ist die alleinige Norm unseres Glaubens und Lebens 
mit Verwerfung der alttestamentlichen (mosaischen) und nachevan- 
gelischen Vorschriften“ ist schon unter den frühmittelalterlichen 
„gnostisch-manichäischen“ Sekten nachweisbar und es findet sich 
sogar die Thatsache, dass die sogenannten Katharer des 3. bis 
6. Jahrhunderts (denn schon damals taucht der Name Katharer 
auf) den Anspruch erhoben, die wahrhaft Evangelischen zu sein. 
Im Hinblick auf diese und andere Umstände habe ich in meinen 
Untersuchungen zur mittelalterlichen Ketzergeschichte anstatt der 
bisherigen unzutreffenden Sektennamen die Bezeichnung ältere 
Evangelische oder altevangelische Gemeinden in Gebrauch 
genommen und derselbe hat denn auch als Gesamtname der alt- 
christlichen Parteien vielfach Anklang gefunden. Döllinger, dessen 
vor mehreren Jahrzehnten verfasstes Werk diese Bezeichnung noch 
nicht kennt, bringt doch auf manchen Seiten seines Buches Stellen 
bei, welche die innere Berechtigung dieses Namens zu bestätigen 
geeignet sind. Die Lehre der Bogoinilen besagte nach Döllinger 
I, 50, dass den Menschen die Gnade Gottes nach dem Masse 
ihres Glaubens, nicht nach den Werken gegeben werde, und die 
Katharer lehrten (II, 295), dass Jedermann durch und in seinem 
Glauben die Seligkeit erwerbe; auch sagten dieselben Katharer 
von sich aus (II, 287), dass sie sich die Beobachtung „der evan- 
gelischen und apostolischen Wahrheit“ zur Pflicht gemacht hätten. 

Es ist ein besonderes Verdienst des Döllingerischen Buchs, 
dass es manche bisherige Auffassung über die Glaubenslehre der 
Katharer berichtigt hat. Man hatte bisher den sogenannten Dualis- 
mus, d. h. die manichäische Lehre von einem guten und einem 
bösen Gott, als allgemeines Kennzeichen der Katharer hingestellt. 
Döllinger dagegen weist nach, dass diese Lehre von einem grossen 
Teil jener Partei zurückgewiesen worden ist, dass sie kein all- 


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Keller, 


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gemeines und daher auch kein wesentliches Merkmal der Katharer 
darstellt. Verbreitete Meinungen und Schulen hat es in jeder 
Gemeinschaft gegeben, ohne dass es bisher Jemanden eingefallen 
wäre, solche Schulmeinungen als unauslösliche Bestandteile dieser 
Gemeinschaften hinzustellen. Während man mit guten Gründen 
die Lehre von den Dämonen und der Hexen-Verbrennung als ein 
wesentliches Stück der römischen Kirchenlehre des Mittelalters 
bezeichnen kann, da sie von den höchsten Autoritäten in aller 
Form gutgeheissen worden ist, so würde es unmöglich sein, einen 
ähnlichen Beweis in Sachen des angeblichen Dualismus der Katha- 
rer zu erbringen. Jedenfalls ist in unseren Quellen, soweit sie 
unmittelbar aus den Händen der Verklagten selbst und nicht durch 
Mittelspersonen auf uns gekommen sind, keine Spur einer solchen 
Lehre zu erkennen. Das uns erhaltene katharische Rituale enthält 
auch nicht den leisesten Anklang an diese angebliche Grundlehre, 
wohl aber zeigt gerade dieses einzige wirklich authentische Denk- 
mal, dass, wie ein neuerer Forscher (E. Reuss) sagt, „in den 
Gemeinden, die es gebrauchten, ein Schatz von frommen und 
evangelischen Gefühlen lebte, der allein im Stande war, einem 
so gehässig unterdrückten und grausam vernichteten 
Volke Widerstandskraft in seinen Leiden zu gewähren". 

Es ist höchst auffallend, dass Döllinger weder über diese 
Grausamkeiten und den entsetzlichen Verfolgungswahn, dem diese 
Christen zum Opfer gefallen sind, noch über die Folgen, die diese 
Verhältnisse auf die innere Entwicklung der Brüderschaft haben 
mussten, etwas zu sagen für erforderlich hält Zwar findet er sehr 
scharfe Wendungen wider den Fanatismus und vielerlei Ver- 
irrungen der „Häretiker“, aber über die Ursachen dieser Zustände 
schweigt er sich aus. 

Wer die Geschichte der römischen Kirche kennt, der weiss, 
dass sie Jahrhunderte hindurch an schweren Verirrungen gelitten 
und dass z. B. im 9. und 10. Jahrhundert die Geliebte des Mark- 
grafen Adalbert von Toscana ein halbes Jahrhundert hindurch 
den Stuhl Petri mit ihren unehelichen Söhnen und ihren Buhlen 
besetzt hat. Niemand, selbst nicht Kardinal Hergenröther in seiner 
berühmten Kirchengeschichte, bestreitet die tiefe Erniedrigung, in 
welche damals nicht etwa bloss einzelne Personen, sondern die 
Kirche als solche gesunken war. Aber, sagt der Kardinal, diese 
Zustände erklären sich aus der Thatsache, dass „der päpstliche 


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1901. 


Waldenser und Katharer etc. 


271 


Stuhl damals einem Gefesselten glich, dem die Schmach nicht 
zugerechnet werden darf, die er erdulden muss, so lange er der 
Freiheit beraubt ist". Auf wen könnte, wenn sie zutreffend ist, 
eine solche Entschuldigung mit grösserem Recht angewandt werden 
als auf die gefesselten und gebundenen „Häretiker" aller Jahr- 
hunderte? Und darf man sie schelten, wenn sie den entsetzlichen 
Verfolgungen alle die Verteidigungsmittel entgegensetzten, die sie 
ohne Gewissensbedenken in Anwendung bringen konnten? 

Von den frühesten Jahrhunderten an haben die Brüder zu 
diesem Zwecke im Wesentlichen die Form des Geheimbundes 
angenommen, in der sie uns noch in den späteren Jahrhunderten 
des Mittelalters entgegen treten. Zu diesem Zwecke wurde, um 
nur Einiges zu erwähnen, die schriftliche Festlegung von Lehren 
und Bräuchen vermieden oder untersagt; es wurde eine Anpassung 
an kirchliche Vorschriften, z. B. durch den Besuch der Messe, 
gestattet, die den Gegner irre leiten sollte. Es wurden geheime 
Erkennungszeichen, z. B. beim Handgeben (Döllinger II, 254 f.), 
schon im 14. Jahrhundert üblich; Gesetze, wie das Verbot des 
Eides, mussten den Mitgliedern des ersten und zweiten Grades 
nachgelassen werden und nur die kleinen Kreise des dritten 
Grades vermochten die strenge Übung beizubehalten (Döllinger 
II, 248). 

Für gewisse religiöse Zeremonien, die früher gehandhabt 
worden waren, traten harmlose Ersatzmittel (Handauflegung u. s. w.) 
ein, oder der ganze religiöse Brauch wurde durch die Annahme 
weltlicher Formen verdunkelt und verschleiert. Um die Ketzer- 
gesetze, welche z. B. die Taufe auf den Glauben schon seit dem 
5. Jahrhundert unter schwere Strafe stellten, zu umgehen, erteilte 
man nicht mehr die „Taufe", sondern die „Tröstung" (consola- 
mentum) bei der Aufnahme, die übrigens niemals vor dem 18. 
Lebensjahr erfolgte. Grundsätzlich aber hielt man an der Giltig- 
keit der Spättaufe fest und gelegentlich sprachen sich die Wort- 
führer auch ganz offen in diesem Sinne aus (Döllinger I, 186). 
Eben bei der Aufnahme, die durch Handauflegung erfolgte, war 
die Bibel bei dem Evangelium des Johannes aufgeschlagen und 
derjenige, der sie vollzog, verlas die Stelle: Joh. 1, 1. „Im Anfang 
war das Wort" bis Joh. 1, 14: „Und das Wort ward Fleisch und 
wohnete unter uns“ oder auch unter Umständen bis 1, 17: „Die 
Gnade und Wahrheit ist durch Jesum Christum geworden." 


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272 


Keller, 


Heft 9 u. 10. 


Mit vollem Recht hebt Döllinger hervor, was man sonst 
oft übersehen hat, dass diese Christen trotz aller Verfolgungen 
mit der Lehre Christi: „Ihr sollt nicht widerstreben dem Übel“ 
Ernst zu machen bemüht waren. Christus habe seinen Jüngern 
befohlen, sagten sie, alle Unbilden geduldig zu ertragen, Schelt- 
wort nicht mit Scheltwort und Gewalt nicht mit Gewalt zu ver- 
gelten. Sie machten es dem Papst und dem Klerus zum Vorwurf, 
dass diese zu Kriegen und Kreuzzügen die Völker aufriefen und 
ihre Gegner mit Mordwaffen aller Art zu vernichten strebten. 
Diese älteren Evangelischen waren sogar überhaupt gegen die 
Vollziehung der Todesstrafe und sie machten dafür, wie Döllinger 
hervorhebt, auch solche Gründe geltend, wie sie in neuerer Zeit 
vielfach vorgebracht werden, z. B. den Grundsatz, dass jede Strafe 
nur zur Besserung und Erziehung des Schuldigen und nicht zur 
Rache angewandt werden dürfe; aber die Tötung mache jede 
Besserung unmöglich. 

Ähnlich wie die meisten Kirchen historiker sieht auch Döl- 
linger bei der Gegenüberstellung von Kirche und Sekte alles 
Licht auf der einen und allen Schatten auf der anderen Seite; 
ja, Döllinger ist vielfach von einem Zutrauen zu den alten Be- 
richterstattern, die doch als Vertreter der kämpfenden Kirche 
geschrieben haben, erfüllt, die oft in Erstaunen setzt; alle Schil- 
derungen des Hasses werden für bare Münze genommen und 
kein Wort des Misstrauens wird laut; auch stört ihn der Umstand 
keineswegs, dass aus den Quellen durchweg nur die eine Partei 
zu uns spricht. Wenn Döllinger damit, wie gesagt, lediglich in 
die Fussstapfen seiner Vorgänger in der Kirchengeschichte tritt, 
so weicht er doch in einem Punkte von ihnen ab, nämlich in 
der Würdigung der räumlichen und zeitlichen Ausdehnung 
der Bewegung. Die umfangreichen Berichte, die er gefunden 
hat, haben in dieser Richtung doch eine zu deutliche Sprache 
geredet, als dass er das übliche Verkleinerungs-System hätte be- 
obachten mögen. Er ist ganz anderer Ansicht als die, welche in 
diesen „Sekten“ nur kleine Konventikel von begrenzter Wirkung 
und engem Gesichtskreis erkennen. Und ebenso ist er von ihrer 
„zähen Dauerhaftigkeit“ überzeugt. Er teilt das Urteil des Cäsarius 
von Heisterbach, der einst von den Katharern gesagt hatte, dass 
sie, wenn man sie nicht mit dem Schwert bekämpfe, bald ganz 
Europa überziehen würden. Auch dem Abte Joachim (-j- 1202) 


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1901. 


Waldenser und Katharer etc. 


273 


stimmt er zu, der sie mit den Arianern, Moharaedanern , Juden, 
Heiden und den deutschen Kaisern zu den sechs Hauptverfolgern 
der Kirche zählte; sie seien um so gefährlicher, weil sie ihre 
geheimen Sendboten zur Verführung des Volks nach allen Gegenden 
hin ausschickten ; Joachim vergleicht diesen unerhörten Abfall 
mit der Apostasie der griechischen Kirche; ihr Mittelpunkt und 
ihr Hauptsitz sei Oberitalien; von hier aus würden alle übrigen 
Länder angesteckt. 

Wenn man sich diesen Einfluss, diese Verbreitung und diese 
Dauerhaftigkeit unter Jahrhunderte langer Verfolgung vergegen- 
wärtigt, so ist die Frage doch sehr berechtigt, wo denn diese 
mächtige Partei vom 13. Jahrhundert an eigentlich geblieben ist. 
Katharer giebt es von da an — so steht fast in allen Büchern 
zu lesen — nur noch wenige, als Partei sind sie so gut wie ver- 
schwunden; die Waldenser aber sind ganz etwas anderes als die 
Katharer. Sollten sie sich wirklich aufgelöst oder nicht vielmehr 
in anderen Formen weiter gelebt haben? — Wir haben Döllinger 
für manche Aufklärung zu danken ; hierüber aber hat er in seinem 
Werk uns keine Aufklärung gegeben und seinem Plan nach auch 
nicht geben können noch wollen. 


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Johann Baptist van Helmont und die Grundlagen seiner 
Naturphilosophie. 

Von 

Dr. phil. Franz Strunz (Gr.-Lichterfelde bei Berlin). 


I. 

Mit Theophrastus Paracelsus, Robert Boyle und 
Hermann Boerhaave ist Joh. Baptist van Helmont (f 1644) 
wohl der grösste iatrochemische und exakte Naturforscher vor 
Anton Laurent Lavoisier. Und doch blieb — trotz dieser 
Thatsache der historischen Chemie — seinem ganzen Leben und 
seiner weitschichtigen Lehre zugleich eine von glutvoller Theo- 
sophie und christlichem Humanismus durchdrungene Natur- 
philosophie als dauerndes Bestandstück. Das ist der grosse 
kontrastierend erscheinende Zug an dieser hellen Gestalt des 
17. Jahrhunderts: er war der erste, der die Sammlung von Be- 
obachtungen als Voraussetzung aller Theorie hingestellt und so 
der Naturwissenschaft, insbesondere der Chemie, einen weiten 
Ausblick eröffnet hat. Helmonts äussere Entwickelung sei vor- 
erst mit einigen Strichen genauer gezeichnet, da sein Lebensgang 
nicht unwesentlich zur Klarstellung seiner Lehre beiträgt. 

Johann Baptist van Helmont 1 ), Herr von Merode, Royen- 
borch, Orschot, Pellines u. s. w., der Spross alten niederländischen 


*) Unsere deutschen Citate entnehmen wir: Aufgang der Artzney- 

Kunst, Das ist: Noch nie erhörte Grund-Lehren von der Natur, 

von Johann Baptista von Helmont, auf Beyrahten dessen Herrn 

Sohnes, Herrn H. Francisci Mercurii von Helmont, In die Hochteutsche 

Sprache übersetzet Sultzbach, In Verlegung Johann Andreae 

Endters Sei. Söhne, Gedruckt bey Johann Holst — Anno MDCLXXXIII. 
Fol. — Diese Ausgabe hat Christoph Knorr von Rosenroth (1631 — 1689) 
zum Übersetzer. Die lateinischen Stellen sind aus dem: Ortus medicinae. 
Id est, initia physicae inaudita. Progressus medicinae novus, in morborum 

ultionem, ad vitam longam. Authore Joanne Baptista van Helmont 

Edente Authoris filio, Francisco Mercurio van Helmont, cum ejus Prae- 
fatione ex Belgico translata. Amsterodami, Apud Ludovicum Elzevirium, 
CIDIDCXLVIII. 4°. Wir bemerken gleich hier, dass das der ersteren 


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1901. 


Johann Baptist van Helmont etc. 


275 


und zwar katholischen Adels 1 ), wurde 1577 zu Brüssel geboren. 
Im 17. Lebensjahre bezog er die Universität Löwen, wo er den 
philosophischen Lehrkurs absolvierte. Den ihm angetragenen 
Magistergrad schlug er aus. Sagt er doch selbst, dass er für 
einen Meister nicht der Berufene war, wo er sich ja nicht einmal 
für einen leistungsfähigen Schüler hielt, „ausser dass ich — meint 
er — gelernet hatte, wie man künstlich zanken solte. Da fieng 
ich an zu erkennen, dass ich nichts wüste; ja dass ich wüste, 
wie ich so gar nichts sey“ 2 ). Trotzdem aber fallen in diese Zeit 
seine ersten chirurgischen Vorlesungen und Demonstrationen zu 
Löwen, die besonders von Thom. Fyenius, Girard van Villeers u. a. 
angeregt worden waren. Doch schon 1594 zog er sich ebenso 
von dieser Wirksamkeit wie von den Studien bei den Löwener 
Jesuiten zurück. Von den letzteren hatte damals Martin del Rio 
mit seinem Colleg „disquisitiones Magicae“ eine gewisse Berühmt- 
heit erlangt, zumal anziehende Vorlesungen über das „Studium 
Geographicum“ die Studenten der hohen und reichen Stände 
heranlockten. „Beyderley Stunden, erzählt Helmont später, hielt 
ich fleissig mit: Endlich aber, da ich vermeinte Getreyde einzu- 
ärndten, hatt* ich nichts als leeres Stroh, und das armseeligste 
zusammengeraffe aufgesamlet, darinnen gantz kein Urtheil war.“ 3 ) 
Nebstdem gehören dieser Epoche seines Lebens die Algebra- 
und Astronomiestudien an ; es waren vorzugsweise Euclid und 
Copernikus, die damals in den Kreis seines Interesses traten. 
Auch Seneca, Epictet und Pythagoras waren in jenen Tagen seine 
Lehrmeister. Und als er gar, beseelt von einer hohen Freude 
am Ewigkeitsstreben und der stoischen Weltverachtung, dem christ- 
lichen Vollkommenheitsideal im Sinne von Joh. Tauler und Thomas 
a Kempis die passende Formel zu verleihen suchte, da glaubte er 
sich für den Ordensmann berufen. Doch auch für diesen^ Stand 
fühlte er zu bald die innere Vertrauen slosigkeit, jemals ein wahr- 
haftiger Bürger des Reiches Gottes zu werden, und erkannte 
ihn nicht als das Mittel, auf „dass wir in Christo Jesu- leben, 


Edition vorn beigegebene Porträt, ein Stich von J. Alex. Baener, 1578 als 
Geburtsjahr angiebt. Aus dem autobiographischen Material entnehmen wir 
jedoch die Richtigkeit unserer Annahme (d. i. 1577). Unter diesem Helmont- 
Bildnis stehen die Widmungs verse: 

Diss ist der Helle Mond, zur Lehre von Artzneyen; 

Zu Langer Lebens-Frist; von Kranckheit zu befreyen. 

Eröfnet die Natur biss auf den tiefsten Grund 
Komm! höre was Er sagt der Warheit-Helle Mund. 

J ) Mütterlicherseits stammt er aus der alten adeligen [Familie von 
Stassart. 

*) Aufg. d. A, K. pag. 14, Tract. III. 

8 ) ebd. pag. 15. 

Monatshefte der Comeniua-Geaellschaft. 1901. i u 


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276 


Strunz, 


Heft 9 u. 10. 


beweget werden, und sind“. In diesem lebendigen Drange, die christ- 
liche Vollkommenheit zu finden, schrieb er Folgendes: „Nemlich 
es ward mir der Verstand gegeben, dass ohne sonderbare Gnade, 
aus allen unsern Handlungen nichts als Sünde heraus komme. 
Und als ich nun dieses alles sähe, und den rechten Schmack 
davon überkam, verwunderte ich mich über meiner vorigen Un- 
wissenheit; und merckte, dass diese Stoische Strengigkeit mich 
zu einem leeren aufgeblasenen Wesen gemacht, dadurch ich 
zwischen dem Abgrund der Höllen und der Noth wendigkeit des 
erwartenden Todes also da schwebete. Mit einem Worte, ich 
erkannte, dass ich durch dieses Leben, unter dem Schein der 
Massigkeit, überdiemassen hochmüthig ward; und weil ich mich 
auf meinen freyen Willen verliess, fieng ich gleichsam an, der 
Göttlichen Gnade gute Nacht zu sagen; weil wir, so zu sagen, 
alles was wir wolten, durch uns selber thun könten. Weg aber, 
sprach ich, mit diesen gottlosen Gedanken! darumb macht ich 
den Schluss, man könnte diese gottslasterliche Lehre zwar dem 
Heydenthum zu gute halten; von einem Christen aber müsse 
sie durchaus nicht gesagt werden: Und sey demnach die Stoische 
Philosophie umb dieser Ursache willen billich zu hassen“ 1 ). Ja, 
van Helmont ging soweit, sogar die ihm in Aussicht gestellte 
glänzende Kanonikatstelle, falls er Theologe werden wollte, ab- 
zuschlagen, denn „es schreckte mich der heilige Bernhardus hier- 
von ab, (aus welchem ich sähe), dass ich von den Sünden des 
Volkes leben würde. Ich rieff aber den Herrn Jesum an, er 
wolte mich doch dahin berufen, da ich ihm am besten gefallen 
könte“ 2 ). 

Und wiederum ergaben sich neue Wege, die ihn zur Arznei- 
lehre zurückführen sollten und ihn zugleich auf eine hohe Stufe 
der Naturwissenschaft zu setzen berufen waren. Anfänglich waren 
es die Pflanzenbücher des Matthiolus und Dioscorides, später die 
damaligen Klassiker der Medizin, Galenus, Hippokrates und 
Avicenna. Daran schlossen sich die Studien des Fuchsius und 
Fernellius und insbesondere auch die intimere Bekanntschaft mit 
den Schriften des grossen Paracelsus. Dessen tiefdurchdachtes 
Natursystem und Arzneischatz weckten in Helmont reformatorische 
Ideen und mit glühender Überzeugung legte er da den ersten 
Grund seiner wertvollen Lehre. Mit einer seltenen Kunst wusste 
er die Erinnerungen an dieses Vorbild in seine eigentlich anti- 
paracelsischen Vorstellungen zu verspinnen und umzudenken. 
Aus dieser Zeit seines Werdens stammt auch ein tiefinniges Gebet, 
das wie die Flutwelle eines erlebten Glaubens aus einer kindlich 
empfindenden Menschenseele hervorbricht. Es ist die Geschichte 
seines weiteren inneren Lebens: „Du allmächtiger Gott, wie lange 


*) ebd. pag. 15, § 8 u. 9. 
*) ebd. pag. 15, § 6. 


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1901 . 


Johann Baptist van Helmont etc. 


277 


wilst du denn mit dem Menschlichen Geschlechte Zorn halten? Dass 
du biss anhero nicht die geringste Warheit von Artzney- Sachen 
deinen Schulen offenbahret? Wie lange wilst du dem Volk, das dich 
bekennet, das rechtschaffene Wesen vorenthalten? Welches doch 
zu dieser Zeit viel nöthiger wäre, als in der vergangenen? Hast 
du denn Gefallen an so viel Molochs-Opffern ? Ist es dein Will, 
dass dir das Leben der Armen, der Wittwen und Weisen unter 
der erschröcklichen Marter so vieler unheilbaren Kranckheiten 
mit solcher Verzweiflung aufgeopffert werde? Wie hörest du 
denn nicht auf, so viel Geschlechter durch die Ungewissheit und 
Unwissenheit der Aerzte auszurotten? Ich fiel auf mein Angesicht 
und sprach: HErr vergib deinem Knechte, wenn mich die Ge- 
wogenheit gegen meinem Nächsten etwan zu weit aus den 
Schrancken wegreisset“ 3 ). Dann aber erzählt der gewaltige Natur- 
forscher von einem Traume, der diesem Gebete nachfolgte, und 
er sah die ganze weite Welt vor sich, unübersehbar, einem 
chaotischen Gemenge gleich. „Hieraus schöpffte ich einen Ge- 
dancken von einem einigen Worte, der gab mir zu verstehen, 
was folget: — Siehe! du, und was du siebest, ist nichts; du magst 
sagen was du wilst, weniger als nichts ist es gegen dem Aller- 
höchsten zu rechnen. Der weiss den Zweck alles dessen, was zu 
thun ist: Gib du nur achtung auf deine Genesung und Seeligkeit. 
— In diesen Gedanken nun war zugleich ein inwendiger Befehl 
verborgen, dass ich solte ein Arzt werden, und die Verheissung, 
dass mir noch einmal würde die Raphaels -Kraf ft und die Gött- 
liche Artzney selbst gegeben werden.“ 4 ) Und dann erzählt er 
mit psychologischem Feinsinn die grossen und kleinen Sorgen 
und Wünsche seines Lebens und schliesst mit Worten, die wir 
so oft beim grossen Brüderbischof Comenius gelesen — auch 
er empfand so warm, auch er hatte sich die Schlichtheit seiner 
Seele bis zum Tode bewahrt: „Ja der aufs Höchste gelanget, 

werde am allerwenigsten können, wenn ihn nicht die gnädige 
Gewogenheit des HErrn bestrahlen würde. Sehet, auf solche Art 
hab ich meine Jugend zugebracht, so bin ich zu einem Manne, 
uud nunmehr auch alt geworden, und noch nicht viel nütz noch 
dankbar genugsam dem allerhöchsten GOtt, dem allein alle Ehre 
gebühret“ *). 


3 ) ebd. pag. 17, § 19. 

4 ) ebd. § 20. 

*) ebd. pag. 17, § 20. Sagt er doch auch über den Verkehr des 
Christen mit Gott: .... „So ward auch das Loben und Beten, so wol 
unter dem Gesetz Moais, als noch heutigs Tages durch Gesänge, Psalmen 
und Gebeter verrichtet: Aber vor Offenbarung dieser Warheit hat nie 
kein Mensch die Kraft, die Höhe und die Tieffe dieses Liebeswunsches, 
dass nemlich die unbegreifliche Gottheit in uns geheiliget werden möge, 

18* 


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278 


Strunz, 


Heft 9 u. 10. 


Wir haben nicht viel mehr hinzuzufügen. Im Jahre 1599 
nahm er den medizinischen Doktorgrad der Universität Löwen 
an. Es war der Sinn für die Praxis, der ihn von nun an beseelte. 
Reisen und naher Verkehr mit erfahrenen Fachmännern der 
Fremde Hessen ihn mehr und mehr in die damals bereits viel- 
seitige experimentelle Naturforschung und Medizin einblicken. 
1604 — 1605 weilte er in London, vielgefeiert und bewundert und 
auch der Hofkreise Huld und Gewogenheit für würdig erachtet. 
Also 37 Jahre bevor Comenius England bezw. London betreten 
hatte! Von hier zurückgekehrt 2 ) finden wir Helmont verheiratet 
in dem stillen Vilvorden bei Brüssel, woselbst er ganz seinem 
Studium oblag. Hier wirkte er auch in seiner echten christ- 
lichen Liebe und praktischen Religiosität als ein Prophet des 
Friedens und manch Elend und Mühsal ward von der Hand des 
edlen und frommen Menschen gemildert: hier wirkte der Christ 
Helmont und hier starb auch nach noch verschiedenen Gescheh- 
nissen eines vielbewegten Lebens am 30. Dezember 1644 Abends 
6 Uhr bei vollstem Bewusstsein dieser grossangelegte Natur- 
forscher, Philosoph und Mensch. Aus der römischen Kirche ist 
er, trotz seiner religiösen Toleranz, niemals ausgetreten, wenn 
auch herbe Missverständnisse und Verwerfungsurteile hätten dazu 
Anlass geben können. Nirgends ein ungerechtes Wort streit- 


begreiffen können: Als worinnen mehr Vortreffligkeit steckt als alle Crea- 
turen, mit einander erreichen mögen, denn diese Heiligung wird nicht 
gewünschet, umb dess willen das Gott so gar gütig, so gar liebreich, und 
freygebig ist, und was dergleichen mehr: weil dissfalls der Lobende seine 

Ichheit mit dreinmischet Und geschiehet demnach das Verlangen 

und Wünschen einer Gottliebenden Seele, welche sich mit rechter Brünstig- 
keit bloss und schlechter Dinges sehnet nach der Heiligung des Göttlichen 
Namens, nicht also als wenn die Kreatur da unter Gott stünde, sondern 
als wenn das verlangende Gemüthe in der Liebe Gottes zerschmeltzend 
gantz vergienge .... Aber wer bin ich, der dieses schreibe? In Warheit, 
ich fürchte, dass es mir nicht gehe w'ie einer Glocke, so die Gläubigen in 
die Kirche zusammen bcruffet, und doch selbst nicht hineinkommet, sondern 

heraussen und oben auf dem Thurme hencken bleibet“ (Aufg. d. 

A.-K. p. 882, Mentis Complementum). 

*) Dem Rufe Kaisers Rudolf II. (1576—1612), des bekannten Astro- 
logen und Astronomen, leistete er nicht Folge. Auch hatte Helmont enge 
Beziehungen zum Churfürsten von Cöln, Ernst von Bayern; ebenso zum 
Hause Hoensbroech. Seiner Schrift Doctrina inaudita, de causis, modo 
fiendi, contentis, radice, et resolutione Lithiasis setzt er die Widmung 
voran: Illustri Viro, Domino Casparo Uldarico, Sacr. Rom. Imper. 
Baroni de Hoensbroech, Teutonici ord. Commendatori in Gemert; Bon- 
arum artium fautori, Amico atque Patrono suo singulari .... Dieser 
ist ein Vorfahr des heutigen Grafenhauses von Hoensbroech. 


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1901. 


Johann Baptist van Helmont etc. 


279 


süchtiger oder leidenschaftlicher Polemik ! Damals als er mit dem 
Jesuiten Johann Roberti des Marburger Professor Goclenius (1572 
bis 1621) bezw. seines „Unguentum sympatheticum et armarium“ 
wegen in Streit geriet und die Anklage beim Erzbischof von 
Mecheln erfolgte, wurden Konfiskationen seiner Schriften ver- 
anlasst 1 ). In diesen Stunden wurden auch die seinen religiösen 
Glaubenstypus so scharf kennzeichnenden Worte geboren, die er 
am Schlüsse seiner grossen Disputation ausspricht: „Sehet, da 
habt ihr unsere, das ist eine Christliche Art zu philo- 
sophiren, und keine thörichte oder liederliche Traume der 
Heyden. Sehet nun wohl zu, dass ihr nicht auch mich deswegen 
vor Gerichte ziehet, weil ihr im Richten so hurtig gewesen. 
Ich bin einer von den eurigen, und der Römischen Catholischen 
Religion zugethan, habe mir auch nie in Sinn genommen etwas, 
das wieder GOtt und wieder die Kirche wäre zu gedenken: 
So weiss ich auch, dass ich nicht zum Zancken, noch 
auf anderer Leute Bücher zu schwehren, oder dissfalls 
eines andern Sclave zu seyn, geboren bin. Darum habe 
ich dasjenige, was ich gewust habe, durch eine philo- 
sophische Freiheit jedermann wollen gemein machen“ 2 ). 
— Sein Sohn Franciscus Mercurius hat in ergreifender Schlicht- 
heit und Wärme die letzten Tage und Stunden seines genialen 
Vaters geschildert 3 ), er hat uns auch erzählt, dass der Sterbende 
heimging mit den Tröstungen seiner Kirche und Tags zuvor noch 
einem Pariser Freunde geschrieben: „Gott sey Lob und Preis 
immer und ewiglich, dass Er Ihm gefallen lassen, mich aus dieser 
Welt abzufordern: wie ich denn vermuthe, dass mein Leben über 
vier und zwantzig Stunden nicht mehr auslangen werde: denn 
heute greifft mich zum erstenmahl ein Fieber an, vor Schwach- 
heit meines Lebens und dessen Abgang und Mangel, damit ichs 
denn enden muss“. 

Mit dieser Heilsgewissheit und zuversichtlichen Hingabe an 
Gott im Herzen schied Johann Baptist van Helmont aus der Welt. 

II. 

Bevor wir die Grundzüge seiner Naturlehre kurz zu 
zeichnen versuchen, folge erstlich eine allgemeine Orientierung. 
Man wird selbstredend in manchem etwas ausholen und daher 

*) Über diese leider nicht näher hier zu behandelnde Thatsache findet 
man detaillierte Angaben in : Ch. Broeckx, Annales de l’acad^mie d’archäo- 
logie. Brux. 1856. Vgl. überdies Aufgang der Artzney- Kunst pag. 1003 
bis 1043, wo die ganze Polemik ausführlich zur Sprache kommt. 

*) Aufg. d. A. K. pag. 1042, § 174. 

®) Ortus med.: Amico Lectori S. D. Fr. Merc. van Helmont . . . .; 
als Praefatio gedruckt. 


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280 


Strunz, 


Heft 9 u. 10. 


verschiedentlich einer kurzen Gedankenfassung Raum geben müssen. 
Wo es passend schien, Hessen wir immer Helmont selbst reden. 

Van Helmont vereint, wie bereits angedeutet, exaktes Be- 
urteilen, Denkschärfe, lebhafte Phantasie und sinnliche Erfahrung 
mit einer neuplatonisch gegründeten Theosophie. Auch ihm 
sind Kraft und Materie ein unaufgebbares Korrelat. Ja, der 
Gedanke vom formgestaltenden Prinzip in der Materie und das 
durchgebildete Problem vom Archäus als einfacher Lebensgeist 
oder substantielle Lebensform eines Dinges waren doch nicht im 
Stande, das physikalisch-mechanische Moment ganz niederzuhalten. 
Und wie hebt sich nun seine Denkweise in ihren Stimmungen 
und Beweggründen vom Hintergründe ihrer Zeit ab und mit 
welchem rythmischen Nachdruck vermag sie sich in die damalige 
Geistesgeschichte einzuordnen? Und wie gestaltete sich überhaupt 
die Subsumption der Naturgegenstände unter seine Verstandes- 
formen ? 

Der Trieb nach einer unabhängigen Ergründung des 
Wirklichen, dessen Wurzeln immer noch in neuplatonischem Boden 
hafteten, lässt sich deutlich erkennen, und die Linien der Ent- 
wickelung zur exakten Methode treten klar zu Tage. Lag doch 
der Sonnenstrahl der philosophischen Renaissance bereits auf der 
Erde, und was die italienischen Naturphilosophen, die Wieder- 
erwecker und Gegner der antiken Systeme, die Staats- und Rechts- 
lehrer, die Skeptiker und Mystiker, bis zu den exakten Forschern 
der Natur in den verschiedensten Lichtstimmungen reflektiert 
haben, Alles ruhte in zeugungskräftigen Keimen aufgespeichert. 
Und als der Frühling eines neuen geistigen Erwachens ins Land 
kam und der zuversichtliche Glaube an den Besitz eines gnädigen 
Gottes neue Wege wies, da fiel auch Altes und Missratenes, 
Schwaches und Unentwickeltes, Alles, was sich nicht zur unver- 
äusserlichen Überzeugung der nunmehr lebendig fühlenden Menschen 
verdichtete. Auch van Helmont in seiner tiefinnigen Frömmig- 
keit und poetischen Naturempfindung fühlte, dass die Freiheit 
eines neuen naturwissenschaftlichen Denkens auf der Schwelle lag. 
Sein grosser Vorgänger, der geistesmächtige Theophrastus 
Paracelsus, bildet das Anfangsglied einer neuen iatrochemischen 
Denkentwickelung, und wer genauer hinsieht, wird wohl van Hel- 
monts Verwandtschaft zugestehen müssen, wenn auch die An- 
nahme einer direkten Abhängigkeit oder „paracelsischen Schule“ 
zu verwerfen ist. Helmont wollte nie Paracelsist sein und doch 
finden sich viele Fäden, die zurück auf Hohenheim führen. Denn 
wie letzterem, so blieb auch ihm der Neuplatonismus kein fremdes 
Gebiet; mag man sein ganzes System nach innen vorsichtig durch- 
leuchten oder seiner Entstehung nachgehen, so kann man sich 
doch niemals des Eindruckes erwehren, dass uns in Helmont ein 
Neuplatoniker entgegentritt. Dass Helmont Neuplatoniker war 


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1901. 


Johann Baptist van Helmont etc. 


281 


und den Einheitsgedanken vertrat, dass aus der Vereinigung des 
Arkanentheorems und der Physiatrik des Hippokrates seine Therapie 
erwuchs, das ist im letzten Grunde wohl auch das äussere Merk- 
mal seiner Naturwissenschaft und Medizin! Helmont umspannte 
vornehmlich gegenüber Hohenheim eine neue Gedankenreihe und 
wusste zugleich seine Problemstellungen auf feinere Töne abzu- 
stimmen. — Leider können wir hier seine Stellung zu Paracelsus 
nicht weiter klarstellen, da wir den Rahmen unseres Vorwurfs 
überschreiten würden. 

Nun zu den eigentlichen Grundlagen seiner Lehre. 

Die Elemente oder der Himmel haben nicht die Ursachen 
der natürlichen Dinge, denn — titulo creationis supernatura- 
liter inceperint, et hodie constanter quoque maneant eadem, quae 
ab initio fuerunt 1 ). Also ihr Anfang ist übernatürlicher Natur 
und das Werk eines Schöpfers. Van Helmont will also nur jene 
Dinge in Beziehung zu Ursache und Anfang bringen, die einem 
Wechsel, einer Abwechselung oder einem wechselseitigen Ein- 
flüsse unterworfen sind. Denn die Erkenntnis der Wirklichkeit, 
d. h. der Natur, wird nur so erhalten, dass man das Wirkliche 
und Thatsäch liehe in den Kreis seiner Beobachtungen zieht. Die 
Natur aber in ihrer ganzen Anlage ist ein Konkretes und nur 
dem spiritus abstracti („körperliche einfache Geist“) geht das 
Körperlieh-Fixiertsein ab. Die Ursachen und Anfänge der Natur- 
dinge sind also durch den obengenannten natürlichen Wechsel 
bedingt, der sie für die Transformierung ihres Seins disponiert 
Jeder nicht unmittelbar geschaffene, auch einfachste Körper be- 
nötigt der körperlichen Uranfänge. Diese sind aber wiederum 
auch wandelbar und veränderungsfähig. 

Nur in einer wirkenden Ursache muss notwendig Ord- 
nung und Leben gefunden werden, denn die Natur besteht nicht, 
wie es der antiken Denkweise entspricht, aus vlt], sondern sie 
hat einen samenartigen Anfang, ein „sämliches“ Prinzip (prin- 
cipium vitale et seminale) zur notwendigen Voraussetzung 2 ). Es 
ist hier also Gesetz bedingt durch Ordnung und durch sich selbst 
bewussten oder unbewussten Verstand in den Dingen. Ja, das 
Gesetz würde zerfallen — nisi ordo quidam rebus inesset, et 
intercederet, qui propria flecteret, ad communis boni sustentati- 
onem, sive necessitates 3 ). Hieran schliesst v. Helmont auch seine 
herbe Beurteilung 4 ) der vier aristotelischen Prinzipien; er, der 
doch die paracelsische Dreiprinzipien - Lehre verneiut, ist auch 

‘) Ortus med.: Causae, et initia naturalium; pag. 32, § 2. 

-) Ebd. § 3: resque oranis, inanis, vacua est, mortua, ac deses, nisi 
vitali, aut seminali adesse principio, fuerit constituta, aut quandoque con- 
stituatur. 

8 ) Ebd. 

4 ) Ebd. § 3 -4. 


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typisch in seiner weiteren gegnerischen Stellung zu Aristoteles 
und Galenus, überhaupt weise er als experimenteller, bereits in- 
duktiv denkender Chemiker gerade in dieser Hinsicht seine Zeit 
scharfsichtig und unbeeinflusst zu beurteilen: „Ich will bereden 
und entdecken die Irrthümer der Schulen, wie sie nemlich diese 
oder jene Dinge ganz unbedachtsam vor Grund- Wesen der Natur 
ausgeben: Hernach wann ich komme auf den Fall der Natur, 
will ich etliche Mängel und Kranckheiten weisen, die vor mir 
unbekandt gewesen: und dartlnin, dass solche nicht herkommen 
aus der Elementen Vermischung, noch aus deren Streit, oder 
Widerwärtigkeit, oder Unordnung; noch aus denen Beschaffen- 
heiten, die man den Elementen antichtet, und die fürnehmsten 
und eigentlichen zu nennen pflegt: Dannenhero zu erkennen, dass 
die Betrachtung von Leibes - Mischungen so wol bey wolgeord- 
netem als bey übelgeordnetem Zustande, gantz eitel und vergebens 

sey 1 ) Nicht weniger, dass auch die Kranckheiten nicht 

entstehen aus den dreyen Grund-Stücken, oder Wesen- 
heiten, davon die Chemie so viel rühmens macht 2 ) .... Zu 
welchem Ende denn ich nothwendig die gantze Lehre der Alten, 
von der Natur, über einen Hauffen werfen, und die Schul- 
Lehren von natürlichen Dingen gantz neu und anders einrichten 
müssen. Uber welches alles ich endlich auch von der Wurtzel 
des Lebens Meldung thun werde, von welcher noch niemand 
gehandelt hat“ 8 ). 

So glaubt er sich u. a. vor allem auch gegen die aristote- 
lische Form als wirkende Ursache und Endursache der natür- 
lichen Dinge wenden zu müssen, denn die Form ist für v. Helmont 
vielmehr die letzte Wirklichkeit (entelechia) der Zeugung und das 
Wesen und die Vollkommenheit des gezeugten Dinges selbst 4 ). 
Er meint in der Form das Werk zu sehen und wie er sich zu 
der Idee stellt, den Totalinhalt des Seienden in die Form einzu- 
betten, zeigt der schon berührte Gedanke: die Form vielmehr ist 
das Werk (effectus) selbst und nicht die Ursache desselben 5 ). 
Wir sehen hierdurch seine etwas modifizierte Auffassung der 
aristotelischen Form und die Abweichung von dieser antiken Idee 
des Gattungstypus, inneren Ursache des Werdens und Form- 
bestimmtheit. Also der bereits andere Gedanke, der nicht die 
Form unabhängig und als stets seiend, als aktive Kraft des 

l ) Aufg. d. A. K. pag. 4, § 1. 

*) Ebd. § 5. 

3 ) Ebd. § 9. 

4 ) Interessant ist hierfür seine „Begründung“: . . . „weil eine jed- 

wedere Ursache, der Natur so wol, als der Zeit und dem Lauff der Tage 
nach, eher ist als das geursachte oder entstandene Ding . . Eine 
Kritik seiner Stellung zu Aristoteles können wir natürlich hier nicht bringen. 

b ) Ort. med. pag. 33, § 5. 


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Gattungstypus oder als innerhalb der sie nicht schaffenden und 
beherrschenden Materie proklamiert, sondern als Effekt („Werk") 
der im Stoffe ruhenden Kräfte, d. h. als ein inneres und zum 
Wesen der wirkenden Ursache als „sämliches“ Prinzip Gehöriges. 
Man kann also die Handlung oder Thätigkeit des wirkenden 
Wesens (= was dem Gezeugten in realitate das Wesen giebt) 
nicht der Form zuschreiben, sondern dem Archeus. Er ist der 
dämliche Geist" und das aktivierende Moment (Krafttypus), daher 
auch der einfache Lebensgeist oder die substantielle Lebensform 
eines Dinges im Sinne eines innerlichen Bildners und Werk- 
meisters. Dieser stellt auch die innere Ursache der Frucht- 
barkeit der Samen und Geburten vor 1 ). Und darauf fällt 
insbesondere der Accent: 

Ein natürlicher Körper hat zwei innere Ursachen, — 
und dies gilt für die ganze Natur — aprioristisch : 1. die Materie 


*) Aufg. d. Artzn. Knst. p. 32, § 8: „Alles nun, was Aristoteles der 

Form zuschreibet, das ist der zuletzt auf den Schauplatz der Dinge auf- 
tretenden Vollkommenheit; das kommt eigentlich, einrichtender und voll- 
streckender Weise demjenigen Würker zu, welchen wir den sämlichen 
Archeus oder Urtrieb und Meister-Geist nennen.“ Ist nun der Über- 
gang in eine neue Lebensform z. B. erfolgt, so wird er zum konkreten 
Medium des Lebens, er wird der exsecutor und das organum des Letz- 
teren. Dann versteht man auch Worte wie: „. . . Nachdem ich bissanhero 
gewiesen, erstlich, dass die Natur gantz und gar bestehe in einer Materie, 
welche ist der Sam-Geist oder Lebens-Geist (Archeus); und in dem 
Leben, welches ist eine Form eines lebhaften Lichtes . . Äufg. d. A.-K. 
p. 907 § 1. — Die unscheinbarste Partie des Organismus sogar hat einen 
ganz bestimmten Archeus oder dynamischen Kern, das sind die Archei 
insiti. Sie sind vom Grundarcheus , d. i. Archeus influus, abhängig; 
dieser wieder untersteht der empfindenden Seele (anima sensitiva) und dem 
Verstände (mens): .... „Denn in den Arten der Thiere und des Menschen 
durch wandelt er (Archeus) alle Winckel und verborgne Locher seines 
Samens, und fängt an daraus eines Menschen Leib zu machen: Da ver- 
wandelt er die Materie darinnen er ist nach dem Inhalt und der formenden 
Würkung seines Bildes. Denn hier macht und setzt er das Hertz hin; dort 
zeichnet er das Gehirne ab; und weil er das allgemeine Regiment hat, so 
setzet er überall und in jeder Glied einen gewissen Verwalter hin, der 
unbeweglich alldorten wohnen muss, nach dem es nemlich die Theile und 
deren Zweck erfordert. Und derselbe Verwalter bleibt auch Pfleger 
daselbst, und beobachtet innerlich alles fleissig worzu er geordnet ist, biss 
an den Tod. Der ander allgemeine Archeus und Samgeist aber 
schwebet unterdessen hin und her, und ist keinem Gliede insonderheit ge- 
wiedmet, sondern hat die Oberaufsicht über die sonderbaren Regenten und 
Steuer-Leute der Glieder, und ist voller Liecht und feyret niemals . . . 
(Aufg. d. A.-K. p. 41.) 


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(materia) als Substrat der Dinge und als das selbständige Wesen 
des hervorgebrachten Dinges, 2. die wirkende Ursache (causa 
efficiens), d. i. das inwendige und seminale agens. Beide als 
grundlegende Bestandstücke der ganzen Naturwissenschaft ent- 
halten das Notwendige zur Fortpflanzung in sich. Sie sind der 
Sitz des Lebens. Als äussere Ursache aber könnte hier 
eventuell noch die causa excitans beigezählt werden. — Die 
wirkende Ursache (causa efficiens) umspannt aber alle Endursachen: 
sie ist wohl daher auch eine innere, unbeschadet jener wenig 
bedeutenden äusseren. Und nun die weitere Begründung: „Quippe 
quod haec duo, sibi, et aliis, sint abeunde satis, contineantque 
totam rerum compaginem, ordinem, inotum, ortum, notiones 
sigillares, proprietates, ac quidquid denique ad rei constitutionem 
et propagationem requiritur. Continet namque efficiens seminalis 
causa, rerum sibi agendarum typos, figuram, motus, horam, 
respectus, inclinationes, aptitudines, adequationes, proportiones, 
alienationem , defectum, ac quidquid sub dierum sequelam in- 
cidit, tarn in generationis, quam regiminis negotio “ l ). Der 
gesamte Bau und Zusammenhang der erzeugten Dinge als Be- 
wegung, Entstehung, Ordnung, besondere Merkmale, allgemeine 
Eigenschaften ruhen nach dieser Denkweise auf jenen zwei Prin- 
zipien; constitutio und Fortpflanzung werden daher gleichfalls 
von ihrer Wirkungsfähigkeit eingeschlossen. Die wirkende Ur- 
sache ist aber schlechthin als lebendige Samen kraft potentiell 
befähigt zu besitzen bezw. sie besitzt die Bilder der von ihr zu 
zeugenden Dinge, ihre Bewegung, Figur, Zeit, Beziehungen, Neig- 
ungen, Fähigkeiten, Ebcnmass, Verhältnisse, Abneigungen, Fehler. 
Also Alles, was der Vorgang der Erzeugung umfasst und der 
wechselseitigen beherrschenden Einwirkung 2 ) gleichzeitig 
zu kommt. 

Weiter erhellt aus seiner Lehre, dass nun alle Dinge und 
jede Sache überhaupt für sich einen gewissen Saft zu ihrer materia 
und gleichzeitig einen dem inneren Samen gleich wirkenden Zeu- 
gungsursprung benötigen 3 ). 

Die unbelebten Dinge bekommen nur bei Vorhandensein 
des Samens in ganz bestimmter Weise ihre Formen und zwar 
non recipiunt forraas per dispositionem termini agentis factibilem 4 ), 

*) Ort. med. : pag. 34, § 11. 

*) regimen ist der beherrschende Einfluss, der wiederholt (in Bezug 
auf die Himmelskörper) in bestimmten Tagesperioden eintritt. Diesem 
Terminus ist der Helmont’sche Begriff Energia als die Kraft des beherr- 
schenden Geistes (robur animi dominantis) nahe verwandt. 

3 ) Ort. med. pag. 34, § 12. Suceum aliquem genericum desiderant, 
pro materia ac denique seminale, efficiens, dispositivum, dirigens 
principiura internum generationis. 

4 ) Ebd. pag. 35, § 19. 


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sondern sie erhalten ihre destinationum ac digestionum fines sive 
maturitates, also den Endzweck und die Reife ihrer Bestimmung 
und innern Konstitution und Verteilung. Denn wenn z. B. aus 
der causa der Minerale ein neues Mineral, aus den Samen der 
Pflanzen eine neue Pflanze entsteht, so bildet sich hiermit nicht 
etwa ein neues Wesen, welches nicht vielleicht schon potentiell, 
dem Vermögen nach, im Samen gegenwärtig gewesen wäre, sondern 
jedes von beiden erhält nur die Ergänzung oder Ergänzungsmittel 
seiner bestimmten und speziell ausersehenen Reife. Schliesslich 
fassen sich seine 4 Lebensformen im folgenden Schema zusammen: 
die forma essentialis für die Minerale, weiter die forma vitalis 
für die vegetative Welt, als die erste, die eine vollkommenere 
Lebensbethätigung bewahrheitet. Diesen zwei Klassen reihen sich 
nun weiter an: einerseits die Forma substantialis der Tierwelt 
und andererseits die Substantia formalis — der Mensch. 

Ehe wir zum Schlüsse das Charakteristische seiner Fermenten- 
lehre in den Vordergrund zu stellen versuchen, folge vorerst noch 
das Problem von der Lehre der Elementa primogenia. Bildet 
es doch den Inhalt seiner eigentlichen Körperzusammen- 
setzungslehre. Diese Elementa primogenia gründen sich also 
auf Voraussetzungen, die im Wasser und der Luft die zwei 
absoluten und nicht transmutativen Ur-Fermente sehen. Zwei sind 
der ursprünglichen Elemente, wie eben gesagt, Luft und Wasser, 
und zwar darum, weil sich das eine nicht in das andere ver- 
wandelt *). Die Erde hingegen sei gleichsam aus dem Wasser 
entstanden, weil sie zu Wasser gemacht werden kann. Diese An- 
nahme zweier Grundelemente zeigt den scharfen Bruch mit der 
Vergangenheit, insbesondere mit Paracelsus: „Dannenhero will 

ich alsobald lehren und weisen, dass nicht vier Elementen seyn, 
und dass weder die übrigen drey, noch auch zwey davon sich 
zusammen begeben, damit daraus diejenigen Körper entstehen und 
zusammen gesetzt werden, die man vor gemischte hält: Sondern 
dass zu derer Hervorbringung zwo natürliche Ursachen allein 
übrig genug seyn. Denn die Materie ist das selbständige Wesen 
des hervorgebrachten Dinges selbst; die würckende Ursach 
aber ist sein inwendiger und sämlicher Würcker: Und gleich 
wie man in den Thieren nur zweyerley Geschlecht befindet; so 
halt ich auch, dass nur zwey Anfänge aller natürlichen Körper 
seyn, und nicht mehr; gleichwie auch nur zwey grosser Liechter 
sind“ 2 ). Fortfahrend wendet er sich gegen die herrschenden 
chemischen Anschauungsweisen und verkündet sozusagen sein 
wissenschaftliches Programm : „Denn dass die Alchemisten (Ort. 
med. : chymici) das Saltz, den Schwefel und das Quecksilber, 

‘) Ort. med.: Complexionum .atque mistiomirn elemcntalium figmentum 
pag. 104, § 1. 

2 ) Aufg. d. Artzn.-Kst. pag. 34, § 21. 


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oder das Saltz, das fliessende Wesen (liqtior) und den Balsam, 
drey Anfänge der Körper nennen; davon will ich an seinem Orte 
beweisen, dass solche Dinge den Namen und Wurde der Anfänge 
nicht haben können, welche man nicht in allen Sachen finden 
kann; und welche selbst ursprünglich aus dem Element des Wassers 
gezeuget sind, und sich wieder in ein Wasser auflösen und zu 
Wasser werden, (wie ich einsten darthun werde). Denn die 
Natur der Anfänge muss etwas beständiges seyn, wenn sie den 
Namen und die Eigenschaft eines Anfangs oder Ursprungs haben 
und tragen sollen. Und sind demnach (wie gedacht) zweene ur- 
sprüngliche Anfänge der Körper und Dinge so aus Körperlichen 
Ursachen herkommen, und nicht mehr. Nemlich das Element des 
Wassers, oder der Anfang woraus ein Ding, und der Urheb, 
(fermentum) oder der sämliche Anfang, wodurch ein Ding 
entstehet; das ist etwas solches, das die Materie oder den Zeug 
zurichtet, dass in derselben alsobalden ein Samen hervorkommen 
kan. Wenn diese nun den Samen bekommen hat, so wird sie so 
bald zu einem Leben, oder es wird aus ihr die mittele Materie 
desselben Dinges, welche sich erstrecket bis an das Ende oder 
bis in die letzte Materie des Dinges“ 1 ). Wenn nun auch van 
Helmont die Luft nicht immer so hervorhebt wie das Wasser, 
so ist sie für ihn selbstredend auch Element, denn auch sie 
vermag, wie schon erwähnt, nicht verwandelt zu werden. Die 
Helmontsche Elementarlehre 2 ) beruht also im Grunde auf der 
Annahme einer äusseren Stofflichkeit (fluor gencrativus) als Sub- 
stanz alles Stofflichen überhaupt, das elementum aquae nimirum 
initium ex quo und der eines Lebensprinzips eines initium 
seminale per quod als fermentum, d. i. Urheber aller Dinge. 
Und dieser interessante Fermentbegriff sei schliesslich noch mit 
ein paar Strichen festgehalten. 

Selbstredend können wir an diesem Orte nur das Wesent- 
lichste und Allgemeinste streifen, da unsere Darlegungen — wie 
es auch teilweise oben der Fall gewesen ist — nicht beabsichtigen, 
ein erschöpfendes Bild der Helmontschen Naturerklärung zu bieten. 

Die Fermentenlehre, d. h. die Lehre von den „urheblichen 
Wurzeln“, gehört zu den historisch bedeutsamsten Bildungen 
der Helmontschen Naturphilosophie. Und zwar fasst er den Kern 
dieses „fermentum“ (statt fervimentum, von ferveo und zwar eigent- 
lich Gährungsmittel, Sauerteig) als den Ausdruck einer natürlichen 
Lebensäusserung und eines dynamischen und zwar mit bestimmtem 
Lebenstypus versehenen Naturprinzips. Es ist daher nicht un- 
interessant, daran zu erinnern, dass die moderne Naturwissenschaft 


q Aufg. d. Artzn.-Kst. pag. 34, § 22 u. 23. 

2 ) Diese ungemein weitschichtige und beziehungsreiche Lehre konnte 
im Vorgehenden nur mit den typischen Stellen belegt werden, sie er- 
schöpfend zu behandeln verbot unser Vorwurf. 


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z. B. unter „ungeformte Fermente“ (im Gegensatz zu „geformte 
Fermente“ die Mikroorganismen) ei weissartige Substanzen versteht, 
die durch einfache Kontaktwirkung auf andere Substanzen um- 
ändernd und verwandelnd wirken, wobei sie selbst konstant ver- 
• bleiben. Doch dies nur nebenbei. 

Helmont zeigt in den folgenden Denkweisen und Begriffs- 
bildungen abermals seine dogmatische Grundansicht vom Wasser 
als universellem Anfang und materieller Ursache. Bedeutet es doch 
das bereits erwähnte „Woraus“, und ist daher die eine der beiden 
inneren Ursachen. Aus dem causa efficiens-Gedanken nun erwuchs 
eigentlich sein Fermentbegriff L ), den er nun in den erdenklichsten 
Modifikationen seiner Naturlehre einzuverleiben verstand: er be- 
deutet den Urheber oder „sämlichen Anfang“, wodurch ein Ding 
entsteht 2 ). Wie wir nun ersehen, ist es das gährende Prinzip in 
der Materie, um sie für die Samenerzeugung zu disponieren. 
Doch müssen wir unterscheiden: 

Das fermentum in ge ne re als samenzeugendes Gährungs- 
prinzip oder „Urheb“ ist nicht zur Form gehörig, ist auch weder 
etwas Selbständiges noch etwas Zufälliges, weder Substanz noch 
Accidens, sondern vom Anfang der Welt an erschaffen und ver- 
teilt in den Orten eines jeden Gebietes, damit es die Samen 
zubereite und vorbereite, zur Erregung verhelfe und anfache. 
Fermentum in specie dagegen ist immer eine gewisse beständige 
Gabe und Species einer Wurzel, die der Schöpfer in die Natur 
gelegt, damit diese Art von Ferment bis an der Welt Ende 
währen und aus dem Wasser die bestimmten Samen erwecken 
und machen könne. Denn soviel Früchte z. B. aus der Erde zu 
erwarten sind, soviel Urheber, d. i. Fermente („urhebliche Wurzeln“) 
liegen a priori bereit Und das hebt van Helmont noch besonders 
hervor: auch ohne Same einer vorhergehenden Mutterpflanze 
können aus dem Wasser die verschiedentlichsten Fermente ihre 
Lebenssäfte und Früchte herstellen. 

Wenn man also zu dem Schlüsse kommt, dass das Ferment 
die Natur eines echten und widerspruchsfreien „Ursprungs“ (prin- 
cipium) in sich hat, so wird doch die Aufstellung der Frage 

4 ) Jacobu8 Brücker giebt dem Helmontschen Fermentbegriff fol- 
gende Fassung: Est autem fermentum, ens creatum, formale quod neque 
substantia, neque accidens, sed neutrum, per modum iucis, ignis, magnalis 
formarum etc. conditum a mundi principio in locis suae monarchiae, ut 
semina praeparet, excitet et praecedat. — Haec fermen ta dona et radices 
sunt a creatore domino stabilitae in seculorum consummationem propagatione 
sufficientes, atque durabiles, quae ex aqua semina sibi propria excitent 
atque faciant. — (Historia critica phil. — Tom. IV. Pars I, Lipsiae, iinpens. 
haered. Weidemanni et Reichii — MDCCLXVI pag. 715—716. 

*) Ort. med. pag. 35, § 23: et fermentum sive initium seminale per 
quod, id est dispositivum unde mox producitur seinen in materia. 


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zwingend: wo liegt nunmehr der Blickpunkt, von dem aus fer- 
mentum und wirkende Ursache (causa efficiens) urteilsfähig unter- 
schieden werden kann? Die Beweisart ist für Helmont folgende: 
Man betrachtet die causa efficiens als einen unmittelbar 
wirkenden Anfang in dem Dinge selbst — immediatum prin- 
cipium activum in re — das ist als einen Samen, der gleichsam 
als Ursprung (principium) den Zeugungsakt in Thätigkeit setzt 
oder als ein initium, von dem ein Ding sein Wesen und seine 
Bestandteile herleitet. Die kernhafte Grundidee des fermentum 
hingegen entspringt einer ganz anderen Position: Das fermentum 
ist oftmals früher als der Samen und zeuget daher diesen aus 
sich heraus. Daher erläutert sich diese echt Helmontsche Qualität 
als ein ursprünglicher Anfang der Dinge, als ein dynamisches 
Naturprinzip, das als potentielle Kraft in der Erde oder sonstwo 
— wie erwähnt — schlummert. 


III. 

Wenn wir im Vorgehenden die äussere Entwickelung und 
die naturphilosophischen Wandlungen Helmonts kurz zu umreissen 
versuchten, so schliesst unser Vorwurf eigentlich noch einen 
sehr wichtigen Zug in sich, dem wir letztlich gerecht werden 
zu müssen glauben: es ist das unverkennbare Moment des christ- 
lich-humanistischen Einschlags. Denn wenn man überhaupt 
diesem gross angelegten Mann mit einem nachempfindenden Ver- 
ständnis begegnen will und der Erforschung seines inneren 

Lebens näher zu treten versucht, so ist es unleugbar vor Allem 
seine Bildersprache, die uns gefangen nehmen muss, jene aus 
mystischen Innenerlebnissen heraus sich gestaltende Bildersprache, 
die uns erst den Quellgrund blosslegt, in dem die Wurzeln seines 
inneren Seins und seiner inneren Einkehr haften. Und das Bild, 
das er nach aussen kehrt, ist immer der Abglanz des erlebten 
Lebens seiner Vorstellungen. Ist es doch der zur Wirklichkeit 
gewordene innere Vorgang, den er so stimmungsvoll in jene 
individuelle katholische Frömmigkeit und Innerlichkeit ein- 
zubetten verstand. Denn nur so erkennt man seinen erlebten 

religiösen Prozess und das Höherstreben in seiner von neu- 

platonisch -subjektiver Stimmung durchwirkten seelischen Auf- 
geschlossenheit und kann dann erwägen, was es mit dem Empfin- 
dungskern Helmonts war, wie diese seltene Seelenkraft zur 
überempfindsamen Einsicht über das Gottes Verhältnis drängte. 

Und da wird er in dieser sehnsüchtigen Erregsamkeit ganz und 
gar Gefühlsphilosoph. 

Der Beitrag, den wir hier zur Veröffentlichung bringen, ist 
der Ausgabe von Knorr von Rosenroth (Aufgang der Artzney- 


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Johann Baptist van Helmont etc. 


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Kunst; Sultzbach MDCLXXXIII) entnommen 1 ). Das erste Kapitel 
(pag. 530 der genannten Ausgabe) erzählt vorerst einen „Traum 
des Authoris, von den Grotten (d. h. den Katakomben) zu 
Rom und den darin befindlichen Fledermäusen: dadurch er den 
Zustand seiner Zeiten vorbildet“, worauf dies auf „die der- 
malen im Verborgnen steckende und gleichsam begrabene Wahr- 
heit“ bezogen wird. 

„Als ich einmaMs schier die ganze Nacht in grossen A engsten 
zugebracht, gerieth ich darauf in einen Traum 2 ): Und weil eine 
Nacht der andern dieses und jenes kunt thut, so bildete 
ich mir ein, es würde in solchem Traum eine gewisse Erkänntnis 

M „Der fünff und dreyssigste Tractat. Das Grab der Pest.“ pag. 530 
bis 604, bezw. Kapitel I bis pag. 540. Die lateinischen Parallelstellen be- 
ziehen sich auf die lateinische Edition : Tumulus Pestis. Authore Joanne 
Baptista van Helinont, Toparcha in Royenborch, Pellines, etc. Editio altera, 
priori multo emendatior — Amstelodami , apud Ludovicum Elzevirium, 
CIOIOCXLVIII. 4°. 8S p. — ; die uns betreffende Stelle pag. 5 — 13 (Cujus 
generis sit Pestis). Vorn am Widmungsblatt steht: 

PESTIS. 

Lector, titulus quem legis, terror lugubris, foribus affixus, intus mortem, 
mortis genus, et hominum nunciat flagrum. Sta: et inquire, quid hoc? 
Mirare. Quid sibi vult 
TUMULI EPIGRAPHE PESTIS. 

Sub anatome obii, non obii: quamdiu malesuada invidia Morni, et hominum 
ignara cupido, me fovebunt. 

ERGO HEIC 

Non funus, non cadaver, non mors, non sceleton, non luctus, non contagium. 
zETERNO DA GLORIAM 

Quod Pestis jam desiit, sub Anatomes proprio supplicio. 

? ) Darauf bezieht sich in diesem Druck auch der prächtige Titel- 
Kupferstich von Joh. Jacob de Sandrart, dem folgendes Gedicht voran- 
gesetzt ist: 

Es hat die Artzney-Kunst sich aus der Welt verlohren, 
und unter dem Gestein ip eine Grufft versteckt; 
da dicke Finsterniss viel blinde jungen heckt; ' 

Und wider alles Liecht die Nacht sich selbst verschworen.’ 

Galen zwar wolt hinein; doch war er nicht erkohren, 
und fiel gleich fornenan zur Erde ausgestreckt. 

So war auch Avicenn hierzu nicht aufgeweckt. 

Bombast von Hohenheim der schien hierzu gebohren; 

Drang mit der Fackel durch, biss an den Grabes-Stein: 

Doch must er da vor Dampf in kurtzer Zeit ersticken. 

Von Helmont trat ihm nach und wolte klüger seyn; 
begunt’ auch überall viel Wunder zu erblicken. 

Doch weil das Liecht zu kurtz, must er sich anders fassen, 

Und fieng von oben an das Liecht hinein zu lassen. 


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stecken. Dannenhero ich meine Träume dem Urtheil des Lesers 
gerne unterwerffe. Nun kam es mir vor, als war ich in den 
Gruefften unter der Erden, ausser der Stadt Rom (die man die 
Grotten nennet); da sähe ich vielerley Daedalische Irrgänge, und 
Gewölber, die Creutz- Gänge in Plutonis Pallast, darinnen die 
viel Zeiten gewährte Finsternis, und eine dicke, vor langer Ruhe 
schier erstarrete Lufft nicht zuliess, dass man das Liecht einer 
Kertzen, so nur ein wenig ferne, kunte scheinen sehen. Denn 
die Dickigkeit der Lufft, und der Dunst (et enim aeris densitudo, 

Gas 1 ) terrae ) aus der Erde flochten sich so in einander, 

dass die Flamme von einem Wachs-Liecht nur über etliche Schritte 
kaum hervor blickte. Auch die Stimme lautete so tunckel, dass 
sie schier verstummete, und man einen nicht kunte schreyen 
hören, der gleich ziemlich nahe: Also dass der gedämpffte Hall 
nicht so wol eine Stimme, als vielmehr einem Schallen von der 
Stimme ähnlich war. Und war daselbst nichts lebendiges, als 
eine grosse .Menge von Fledermäusen, so oben an dem Gewölbe 
ihre Nester gemacht, uud Schaaren-weise sich daselbst angelegt 
haben. O trauriger Anblick ! welches wol ein Vorbild des ewigen 
Todes seyn kunte, wo die rechte Wohnung der Creaturen der 
Finsternis: Allwo, so man einen von den Einwohnern seiner 

Ungestümigkeit wegen etwan von ungefehr verletzet, einem das 
Liecht ausgelöschet wird, und etwa bald das Leben dazu, wenn 
er sich nicht, nach erloschenen Liechtern plat auf den Boden 
niederleget, und gleichsam anstellet als sey er gestorben. Denn 
diese Nacht-Vögel, die Bürger der Finsternis leiden es nicht, 
dass sie von jemanden angegriffen oder gerirret werden; geschweige 
denn dass sie sich solten von ihrer Stelle treiben lassen. Sie 
halten es vor eine grosse Beleidigung, wenn man das Liecht 
gegen sie hält: weil sie das Liecht weder bey sich haben, 
noch lieben oder vertragen können. Lehrt nun jemand oder 
strafft man etwas, und kömmt solches nicht aus ihren Nestern 
heraus, so schreyen sie umb Rache, und sind darauf mit gesammten 
Hauff en bedacht. Denn wie starck sind sie, dieweil und wenn 
ihrer so viel sind? was unterstehen sie sich nicht in der Welt 
der Dunckelheit und in dem Reich der Finsternis. Ja wie un- 
barmhertzig fahren sie einem mit, weil ihrem Verlangen und dem 
Umbschwärmen der Ihrigen alles zu Gebot stehet! So fängt 
auch unser Athem daselbst so faul an zu riechen, dass man in 
kurtzer Zeit gantz erblasset, wo man sich nur ein wenig alldorten 
aufhält Nun ist dieses zwar gemein in den Ertz- Gruben, und 
Stollen der Bergwerke, dass wo man nicht oben den Berg mehr- 

4 ) Wir wollen nebenbei daran erinnert haben, dass dieser Terminus 
bezw. Gattungsname sich überhaupt erstmalig bei van Helmont vorfindet. 
Wie er zur Chemie der Gase als reifer Denker nahegebracht werden kann, 
haben wir hier nicht klarzustellen. 


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mahls durchschlüget, und frische Lufft aus dem freyen Himmel 
hinein last, die Berg-Leute von dem unsichtbaren Dampf (Gas) 
unfehlbar ersticken : bleiben sie gleich nicht über Nacht darunten, 
so gerathen sie doch in eine Kranckheit, die ihnen ihr Lebenlang 
mit Jammer anhänget. Dannenhero man, umb vor das Leben 
der Berg-Leute Rath zu schaffen, durch gewisse Kunst- Wercke 
frische Lufft einblasen, und die schädliche heraus zu pumpen 
pfleget. Aber in den Grotten zu Rom sucht man nicht nach 
Ertz; darumb ist auch kein Arsenicalischer und gifftiger Dampff 
(Gas) darinnen: Sondern man findet daselbst viel gräber, die man 
vermeinet Christlicher Märtyrer zu seyn, so ihr Leben ruhm- 
würdig dargegeben. 

Da fing ich nun im Traum an zu zweiffeln, ob nicht etwan 
die in der Flucht umbhergehende War heit, die sich nirgends 
will antreffen lassen, alldorten ihr ein Grab erwehlet bey den 
Märtyrern? Und kam mir im Schlaffe diese Frage nicht un- 
gereimt für. Denn Gott der Allerhöchste, hat aus der Erde sowol 
den Artzt, als die Artzney erschaffen. Darumb liess ich mir ein- 
fallen, die Warheit der Artzney- Kunst, und die Wissenschafft 
eines Artztes möchte sich in dem Grunde der Natur vor dem 
unwürdigen und süchtigen Anschauen der sterblichen in einem 
beständigen und tieffen Grabe verborgen, unsere Gemeinschafft 
geflohen, und sich in dergleichen vielfältige Irrgänge und 
Angst-volle Löcher verkrochen haben: Also dass vor das wenige 
Liechtlein, dass wir von Natur in uns befinden, die Warheit mit 
Finsternis verdeckt, und mit so vielen Schwierigkeiten umbringet, 
verbleibe. 

Das Aergste aber, was hierbey vorkommt, ist dieses, dass 
dieses Grab der Warheit, nicht von einem guten Geist; sondern 
von solchen unglückseeligen Nacht-Vögeln bewahret wird: 
Dannenhero dasselbe die Geister der Finsternis gantz unter den 
Füssen haben. Wer auch etwas anheben will, das diesen Wächtern 
nicht anstehet, der muss die gewaltsame Herrschafft derjenigen 
alsobald erfahren, welche unter dem Schein der Andacht und der 
Ruhe dieses Plutons- Reich besitzen, als ob es das Ihrige wäre. 
Und weil sie an das Liecht der Warheit nicht kommen, 
so lassen sie auch andere daselbst nicht hin, es sey denn 
dass sie sich niedrig machen und nieder fallen. Denn ein anderer, 
wer er auch sein mag, wird von diesen gewaltigem Beherrschern 
der Finsternis, als von Feinden der ersten Warheit alsobald um- 
bringet, welche unter dem Schein der Gottseeligkeit die Ver- 
günstigungen ihrer Gräber vor das Ihrige halten; und ausgeben, 
ihnen sey die Herrschafft über die Künste und Wissenschaften, 
und über die Gewalt grosser Herrn anvertrauet. Denn dieselben 
sind weder Vögel noch Mäuse, sondern eine mittele und zwiddrige 
Gattung; die gehen daher wie bei dem Evangelisten Luca am 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. in 


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292 


Strunz, 


Heft 9 u. 10. 


20. cap. v. 46. 47. Penetrant domos atque possessiones viduarum, 
abducunt post se raulierculas oneratas peccatis, etc. Sie schleichen 
in 'die^Häuser und Güter der Wittwen, und führen die Weiblein 
gefangen, die mit Sünden beladen sind, u. s. f. 2. Tim. 3. v. 6. 
Gewisslich diss alles ist die Pestilentz, die im Finstern schleichet, 
und alles was sie anfaugen geschiehet mit dem bösen Geist, der 
in Mittag verderbet. Ps. 90, (91.) 6. Da sähe ich nun kein 
Mittel das Grab der Warheit zu eröffnen als mit langer Weile: 
Denn die Geister die sie hassen, haben uns diss nicht zugelassen, 
schon seit der Zeit des Ariae Montani her.“ — 

Dieses Grab der Wahrheit zu erschlossen galt sein Streben 
und es blieb auch zeitlebens die innere Tendenz seines Werdens: 
„Damit ich solches nun mit guter Gelegenheit und mit Nutz 
meines Nächsten vollbringen möchte, so nahm ich mir für, ich 
wolte mich aus dem gemeinen Hauffen davon machen, und die 
Gewölbe der Natur unter freyem Himmel mit vielen Löchern 
durchhauen. Damit ich aber nicht umbsonst arbeitete, so stellte 
ich gläserne Geschirre unter den freyen Himmel überall hin, 
damit ich auch aus dem stummen Klange vernehmen mochte, 
wenn ich unten auf das Gewölbe der Natur käme. Ich fieng an 
mit Hacken und Hauen, mit Feuer und scharffen Wassern die 
Steine zu zersprengen, und bemühetc mich mit unermüdeter Arbeit 
und vielen Unkosten gantzer viertzig Jahr, dass das Liecht 
vom Himmel hinein dringen möchte, und die Nacht- Vögel, welche 
vorgeben dörffen, sie hätten die Schlüssel der Wissenschaften 
und die Clausen der Warheit unter ihrer Verwahrung, sich fort 
machen, in einen Winkel verkriechen, und aus den Höfen grosser 
Herrn hinweg, und ihre politischen Practiken einstellen; oder zum 
wenigsten, ehrliche Leute, so nach der Warheit suchen, inskünfftig 
unverhindert lassen inüsten. Denn diese gemischte Art von Un- 
geheuren zitschert ohn Aufhören, sie wären vortrefflicher als alle 
Vögel, weil sie ihren Anfang nicht herbekämen aus einem Ey, 
wie die andern Vögel, sondern ihre Jungen länger an ihren Zitzen 
saugen Hessen und auferzögen: Daher sie alles aus dem Neste 
werffen, was sie nicht meinen, dass es ihnen dienstlich genug 
seyn könne. Ja, dabey geben sie vor und rühmen sich, sie könten 
unter allen Vögeln desswegen am schärffsten sehen, weil sie auch 
im Finstern aufs beste sehen können. Ach leider! so wird die 
Welt betrogen durch Finsternis; dabey aber lügen sie dem ge- 
meinen Volcke für, und bereden den Pövel, die Warheit wohne 
unter ihrem Schatten und in ihren Grotten und Holen: Da sie 
indessen doch diejenigen (davon der Apostel redet, 2. Tim. 3. 
v. 7) Semper discentes nunquam ad veritatem perveniunt. Dass 
sie immer lernen, und nie zu der Wissenschafft der 
Liebe kommen: Weil sie das Liecht, so die einige und 

blosse Liebe allein lehret, nicht vertragen können: Dannenhero 


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298 


1901. Johann Baptist van Helmont etc. 

sie lauter Künste und Spinne-Weben der Finsternis stets vor sich 
her weben. 

Und gewisslich, ich habe wol hoch vonnöthen gehabt das 
Eingeweide der Erden aufzureissen, und ihre Hirn-Schale zu durch- 
hauen. Denn es kam mir vor, als ob Galenus in diese Grotten 
hinein gehen wollen, mit einer kleinen Lampe: Der erschrack 

aber gleich im Eingang, fing an zu stolpern, und fiel schier also- 
bald forne an der Schwelle über einen Hauffen ; und vergoss sein 
Gele miteinander. Wie er aber wider zu den seinigen kam, so 
wüste er gleich wol viel Dinges her von den Gräbern zu erzehlen, 
die er doch nicht gesehen, noch erkannt; ja auch nicht geglaubt 
hätte, wenn er es gleich gesehen. Von der Zeit an bezeugen diese 
nun alle mit grosser Vermessenheit bey den Ihrigen, dass sie viel 
davon wissen, da sie doch nicht einmahl von ferne zu der 
Schwelle der Natur gerochen; fiusser was ihnen Galenus vor- 
geschwätzet. 

Der Avicenna nun mit seinem Hauffen, ob er gleich durch 
des Galeni hinein Gucken etwas gewitziget worden; ist doch 
nicht viel tieffer hinein kommen: Sondern als er sich ein wenig 
hinten umbher, und oben umbschauen wollen, ist ihm der Schwindel 
ankommen, dass er mit dem Kuss an einen Stein gestossen, und 
der Länge nach zu Boden gefallen. Als er aber wieder heraus 
kommen hat er sich in seiner fremden Sprach gerühmet, er habe 
viel weiter umb sich und bessere Dinge gesehen, als seine Vor- 
gänger. Als dieses die Nachfolger vernommen, und nicht wüsten, 
welchen sie vor ihren Führer erwehlen solten, hat ein jeder lieber 
vor die Ehre seines Fürsten, dem er geschworen, fechten und 
kämpffen, als selbst in die geheimen Gänge hinein gehen wollen. 

Endlich machte sich Paracelsus daran hinein zu gehen, 

nahm eine grosse Fackel, knüpffte ein Stricklein um die erste 
Gegend an die Wand, dadurch er im 'Rückwege die Schlieche - 
wieder finden, und wieder heraus kommen könte; gehet also hinein 
und unterstehet sich dahin zu gelangen, wohin noch kein sterb- 
licher Mensch seinen Fuss gesetzet. Über diesem grossen Liecht 
fänget der grosse Hauffen der Nacht-Vögel an zu stutzen, und 
meinet nicht anders der Prometheus, (der das Feuer erfunden,) 
sev hinein kommen: Unterstehen sich auch nicht diese Fackel 
auszulöschen: wie sie denn auch nicht können; ob sie es gleich 
heimlich versuchen. Da hat nun dieser Mann überaus viel Grab- 
mahle zu sehen bekommen , und ist lange und frey darinnen 
umbher spatzieret, dass die Gänge gantz voll Rauch worden. Als 
er aber den Sarg der Warheit recht betrachten wolte, entgehen 
ihm die Kräfften, und fället ihm die Fackel aus den Händen; 
also verlischet ihm das Liecht mitten in seinem besten Gange, 
dass er vom Rauch schier hätte ersticken müssen. 

Endlich bin auch ich Armer hinein gerathen mit dem 

19 * 


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294 


Strunz, 


Heft 9 11 . 10. 


kleinsten Liechtlein, einer Laternen; und damit mich nichts hin- 
dern oder die Hände von der Arbeit abhalten möchte; so nahm 
ich den Leit-Strick nicht in die Hand, und hieng die Laterne an 
den Gürtel : Hinten am Rücken aber hatt ich das Band zu Rück- 
wege in einen Hacken fest gemacht, mit dem gieng ich so fort, 
und nach dem dacht ich wieder heraus zu kommen. Weil ich 
nun nur meine eigene Gänge gieng, so sähe ich daselbst viel 
andere Dinge, als der grosse Hauffe unsrer Vorfahren und Gross- 
Eltern dieselben beschrieben. Weil ich aber allein war, so hatt 
ich nicht Kräffte genug zu so wichtigen Dingen: Und ob ich 
mich gleich viel bemühete, so war mir doch die grosse Schaar 
der Fledermäuse stets zuwider, und mtiste endlich, wie die ersten 
ohne Frucht wieder heraus gehen. Ja es gieng mir etwan noch 
wol ärger. Denn weil ich mich so lange darinnen aufgehalten, 
so war mir mein Liecht gantz dunckel worden, und weiten die 
Augen hinfiiro kein ander Liecht mehr vertragen, weil sie nemlich 
der Finsternis schon gar zu sehr gewöhnet. So gar, dass 
wenn ich von meinem hartnäckichten Vorhaben nicht gäntzlich 
abgelassen, mir das himmlische Tages -Liecht gar nichts nütze 
gewesen. 

Diss allein hab ich gelernet, dass nichts wahrhafftiges sey, 
als dieses: Dass wir alle, wenn wir uns allein auf Menschliche 
Kräffte verlassen, in dicker Finsternis wandeln durch un- 
bekannte Wege, sehr beschwerliche Umbschweiffe, und auf lauter 
nächtlichen Fuss-pfaden; weil unser Fleiss nicht anders ist als 
auch etliche wenig andere Untreue vor uns gethan: Davon wir 
doch keinen andern Nutzen oder Frucht zu ge warten haben, als 
dass unser Liecht übel gnug verzehret, die Augen verdunckelt, 
die Wangen von grauen Haaren Schnee -weiss, das Gemüth ver- 
wirret worden, und wir in viel eitle Einbildungen gerathen, und 
das Bild der bevorstehenden Nacht voller Schrecken und Ver- 
zweiflung in uns tragen. In Warheit, nach dem der Ehr-Geitz 
und Gewinn -Sucht in den Schwang kommen, ist die Liebe 
erkaltet, die Barmhertzigkeit erloschen, die Kunst ver- 
gangen, der Geber der Liechter hat seine Gaben entzogen, die 
Anzahl unseres Elendes ist gewachsen, und die Aertzte sind zu 
einem Gespötte des Pövels worden: Die Warheit ist in dem 

Grabe der Wissenschaft verscharret geblieben, und ist an stat 
derselben auf erstanden eine verwirrte Art von Zänckerey, so im 
blossen Schwätzen bestehet, und vor Gelährtheit und Wissenschaft 

gehalten wird Ich fragte einmahl einen Canonicum, warumb 

er nicht seine horas singe: Da sie doch dazu verordnet wären, 
dass sie Sänger des Göttlichen Lobes seyn, und es in diesem 
Fall den Engeln nachthun, nicht aber vornehme Aemter im 
Capitul oder in dem Kirchen Regiment haben sollten? Da gab 
er mir zur Antwort; es würde den vornehmen Dum-Herren eine 


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1901. 


Johann Baptist van Helmont etc. 


295 


grosse Schande seyn, wenn sie selber singen sollten, hätte schon 
ihre Unter-Bedienten und Capläne dazu 1 ). Da will nun. der eine, 
weil er ein grösser Allmosen einnimmt, GOTT dem HErrn sein 
Lob versagen, aus Vorwand solches sey ihm eine Schande: Der 
ander aber hält sichs gleichfalls vor eine Schande die verletzten 
Glieder Christi anzurühren, zu reinigen und zu verbinden. 

Ich aber bin gewiss, dass der HERR in weniger Zeit allen 
beyden den Spruch Vorhalten werde; Nisi fiatis tanquam unus 
ex hisce parvulis, vos lampigeros sine oleo nescio. „Wenn ihr 
nicht werdet wie einer von diesen Kleinsten, so könnt ihr nicht 
in das Himmelreich kommen: Ihr Lampen-Träger ohne Oel, ich 
kenne euch nicht.“ Darumb ermahn ich euch lieben Brüder, leget 
die Gewinn -Sucht auf die Seiten, und ziehet statt deren die 
Liebe an: So werdet ihr befinden, dass ein jedes gutes Werck, 
das euch jetzund verächtlich und geringe vorkommt, nicht nur 
löblich erbar und edel sey, sondern auch den, der es thut, heilige 
und edel mache. War nicht der Hohe Priester unter den Juden 
ein Fürst, aber zugleich ein Fleischhacker und Schlachter des 
Viehes, der viel Rinder, Schafe und Böcke schlachten und opfern 
muste, und offt blutige Hände hatte? Nun 2 ) ist es ja viel ehr- 
licher und anständiger armer Leute Geschwüre verbinden, als je 
vor Zeiten das Opfer schlachten. Denn kein gutes Werck, das 
in der Liebe geschiehet kan jemanden an seinem An- 
sehen etwas benehmen. Und sind demnach die Gewinnsucht 
und der Hochmuth von dem Satan eingeführet worden.“ 


! ) . . . . respondit, Cantare magnis Canonicis indecens fore, se habere 
minores beneficiatos, ac sacellanos .... 

*) At longe decentius est, ulcera pauperum deligare, quam 

fuit olira victimas credere. Nullum enim opus bonum, in charitate, poterit 
unquam reputationi quicquam detrahere. Lucrum ergo et fastus per Satanam 
introducta sunt. 


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Die moralischen Wochenschriften, 
welche in den Jahren 1713 bis 1761 in deutscher Sprache 
erschienen sind 1 ). 


Schon im 16. und 17. Jahrhundert hatten die freien Akade- 
mien der sog. Naturphilosophen die Litteratur, vor allem das Schrift- 
tum der Volkssprachen, planmässig in den Dienst ihrer Anschauungen 
gestellt und vielerlei kleinere und grössere Bücher, die meist aus 
gemeinsamer Arbeit erwachsen waren, der Öffentlichkeit übergeben. 

Um das Jahr 1700 gingen dieselben Gesellschaften zu einer 
neuen Form der Veröffentlichungen über, und zwar zuerst in Eng- 
land: man entschloss sich, eine neue bis dahin nicht gekannte 
Schriftgattung, nämlich periodische Schriften sittlich-reli- 
giösen Inhalts, zu begründen, die nachmals unter dem Namen der 
moralischen Wochenschriften sehr bekannt geworden sind 2 ). 

Die Verdienste, welche sich diese Wochenschriften, die in 
der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine ausserordentliche 
Verbreitung erlangten, um die Ausbreitung der religiös-philoso- 
phischen Anschauungen, wie sie in England von Mil ton und 
Locke, in Holland von Hugo Grotius und in Deutschland von 
Comenius und Leibniz vertreten wurden, erworben haben, ist 
heute noch nicht hinreichend gewürdigt; sicher ist, dass die Wurzeln 
der Weltanschauung, wie sie in der klassischen Dichtung der 
Deutschen seit Klo p stock und Herder zum Ausdruck kommt, 
schon in diesen Wochenschriften klar umgeschrieben ist und dass 
keine geistige Bewegung kräftiger dazu beigetragen hat, auf die 
Wogen des konfessionellen Haders, der alle Länder und alle 
Stände zerklüftete, eine beruhigende und versöhnende Wirkung 
zu üben. 

l ) Hier wieder abgedruckt nach Ernst Milberg, Die moralischen 
Wochenschriften des 18. Jahrhunderts. Ein Beitrag zur deutschen Literatur- 
geschichte. Meissen, o. J. 

-) Näheres bei L. Keller, die deutschen Gesellschaften des 18. Jahrh. 
und die moralischen Wochenschriften Berlin, R. Gaertners Verlag 1900. 


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1901. 


Die moralischen Wochenschriften etc. 


297 


Es steht heute fest, dass hinter jeder der einflussreicheren 
Wochenschriften eine sogenannte Sozietät stand, wie sie damals 
im ganzen Abendlande unter allerlei Verschleierungen vorhanden 
waren. Eben diese Verschleierungen haben den Zweck, dem sie 
dienten, nämlich die Ablenkung der öffentlichen Aufmerksamkeit, 
ausgezeichnet erreicht; der Wunsch, nicht viel von sich reden zu 
machen und im Stillen zu wirken, ist in Erfüllung gegangen. Wenn 
man aber die Stärke einer Sache nach ihren Wirkungen beurteilen 
darf, so muss man doch sagen, dass diese moralischen Wochen- 
schriften für die Lebenskraft der Sozietäten trotz mancher offen- 
baren Verkümmerungen einen deutlichen Beweis liefern. Wie man 
indessen auch über die hinter den Wochenschriften stehenden 
Sozietäten denken mag, so ist gewiss, dass erstere in der Geschichte 
des deutschen Geisteslebens im 18. Jahrhundert Epoche gemacht 
und die Entwicklungen der späteren Zeiten stark beeinflusst haben. 

Die erste uns bekannte moralische Wochenschrift taucht um 
das Jahr 1700 zu London in Kreisen auf, die von Aussenstehen- 
den als „Alchymisten“ bezeichnet zu werden pflegten. Es war 
das ein Name, der schon im 17. Jahrhundert als Sekten- und 
Ketzernamen in der kirchlichen Streitlitteratur üblich war, um die 
Akademien der Naturphilosophen zu bezeichnen und verdächtig 
zu machen, wie denn z. B. die Sozietät zu Nürnberg, deren Sekretär 
seit 1667 Gottfried Wilhelm Leibniz war, von Aussenstehenden 
eine „Alchymisten-Sozietät“ genannt wurde *). 

Der „Alchymist“ Richard Steele (geb. 1675) war der erste, 
der im Jahre 1701 die Bewegung mit der Herausgabe einer kleinen 
periodischen Schrift einleitete, der er den Titel gab: „The Christian 
Hero“ 2 ). (Der christliche Held.) Dieser Zeitschrift folgte im Jahre 
1709 eine andere ähnliche, der „Tatler“ (Plauderer oder Redner), 
deren Herausgeber ihre Namen verschwiegen, die wir aber in Steele 
und Addison kennen. Im Jahre 1711 ward das Erscheinen einge- 
stellt, aber an ihre Stelle trat seit dem 1. März 1711 der Spectator 
(Zuschauer), der besonders durch Addisons Beiträge berühmt ge- 
worden ist und der dann das Vorbild für zahllose andere verwandte 


*) L. Keller, Comenius und die Akademien der Naturphilosophen 
des 17. Jahrhunderts. Berlin, R. Gaertners Verlag 1895. 

2 ) Näheres bei C. Maschmeier, Addisons Beiträge zu den moralischen 
Wochenschriften. Rostocker Diss. 1872. S. 1. 


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298 


Die moralischen Wochenschriften etc. Heft 9 n. 10. 


Zeitschriften in fast allen Ländern Europas sowie in den Vereinigten 
Staaten wurde. 

Auf Deutschland wirkte das englische Vorgehen schön 
seit 1713 ein und zwar war es die freie Reichsstadt Hamburg, 
die in diesen wie in anderen Dingen gleichsam das Thor für das 
Eindringen englischer Bewegungen in das Reich wurde. 

In Deutschland ward diese literarische Bewegung von den- 
selben Kreisen getragen wie in England. Die Wochenschrift „der 
Freimaurer“ (1738) erklärte in ihrem Vorwort geradezu, dass alle 
ihre Vorgängerinnen aus einer und derselben „Schule“ stammen, 
nämlich aus der „ehrwürdigen Gesellschaft“, der der Herausgeber — 
es ist „Johann Joachim Schwabe, Professor der Philosophie an 
der Universität Leipzig“ — selbst angehörte, der „Sozietät der 
Freimäurer“. 

Teils um die Aufmerksamkeit der wissenschaftlichen Kreise 
wiederum auf diese Wochenschriften zu lenken, teils um eine 
Unterlage für eine Feststellung der heutigen Fundorte zu gewinnen, 
drucken wir nachstehend ein altes Verzeichnis der in deutscher 
Sprache herausgekommenen sittlichen Wochenschriften ab, welches 
Beck verfasst und die von Gottsched im Jahre 1761 herausge- 
gebene Zeitschrift „Das Neueste aus der anmutigen Gelehrsam- 
keit“ zuerst veröffentlicht hat. Das Verzeichnis umfasst natürlich 
nur die bis 1761 erschienenen Wochenschriften und auch diese 
vielleicht nicht vollständig; immerhin ist es für eine etwaige biblio- 
graphische Neubearbeitung, die wir ins Auge gefasst haben, wertvoll. 


1713. Der Vernünftler. Hamburg in 4°. 

1718. Die lustige Fama aus der närrischen Welt. Hamburg in 4°; 

22 Abfertigungen. 

1731. Die D iscourse der Maler, 3 Th. Zürich in 8°. 1746 etwas 
vermehrt und verändert in 2 Th., unter dem Titel: „Die 
Maler der Sitten,“ wiedergedruckt. 

1719. Der Spektateur, oder Betrachtungen über die verdorbenen 

Sitten der Welt. 3 Th. Nürnberg in 8°. 

1733. Die Discourse der neuen Gesellschaft in Bern, in welchen 
die Sitten unsrer Zeiten untersuchet und betrachtet werden. 
Bern in 8°. 

1733. Der Leipziger Spektateur, welcher die heutige Welt der 
Gelehrten und Ungelehrten, Klugen und Thorhaften, Vor- 


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1901. 


Die moralischen Wochenschriften etc. 


299 


nehmen und Geringen, Reichen und Annen, Verehelichten 
und Unverehelichten, sowohl männliches als weibliches Ge- 
schlechts, Leben und Thaten, auch wohl Schriften, beleuchtet 
und ihnen die Wahrheit saget. Frankfurt, Hamburg und 
Leipzig in 8°. 

Der Leipziger Diogenes in 4°. 

1724. Der lustige Observateur, welcher die im Schwange ge- 
henden Laster und Thorheiten der Menschen durchstriegelt. 

Der Patriot, Hamburg in 4°. Drei Jahrgänge, die nachmals 
in 3 grossen Bänden in 8°., etliche Male ans Licht gestellt 
worden sind. 

1724. Der Frankfurter Patriot, Frankfurt in 4°. 

Der Leipziger Patriot, Leipzig in 4°. 

Der gute Deutsche, Wahrburg in 4°. 

1725. Der aufrichtige Patriot, Leipzig in 4°. 

Der Dresdener Sokrates, Dresden in 4°, ist vom Grafen von 
Zinzendorf. 

Die vernünftigen Tadlerin neu, 2 Th., Leipzig in gross 8°, 
sind vielmals aufgelegt. 

Der freimüthige Tadler, Leipzig in 8°. 

Die Matronen, Eisleben, erlebte kaum G oder 8 Blätter. 

Der getreue Hofmeister, sorgfältige Vormund und neue 
Mentor, oder einige Discourse über die Sitten der gegen- 
wärtigen Zeit, welche unter dem Namen des Guardians von 
Herrn Addison, Steele und anderen Verfassern des Spekta- 
teurs aus dem Englischen übersetzt. Frankfurt und Leipzig. 

1720. Der wetterauische Patriot, in 8°. 

1727. Der Biedermann, 2 Th., Leipzig in 4°. 

Der Leipziger Sokrates, welcher auf eine satirische Art die 
allgemeinen Vorurtheile und Laster der Menschen jedem 
Wahrheitsliebenden wöchentlich vor Augen leget. Leipzig in 4°. 

Göttliche Wahrheiten, Budissin. 

1728. Die Matrone, Hamburg in 8°. 

Der allgemeine und allezeit verbessernde Patriot, 
Hamburg. 

Der musikalische Patriot, welcher seine gründlichen Betrach- 
tungen über geist- und weltliche Harmonien samt dem, was 
durchgehends davon abhängt, in angenehmer Abwechslung 
mitgetheilt, ans Licht gestellt von Mattheson. Hamburg in 4°. 


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300 


Die moralischen Wochenschriften etc. Heft 9 u. 10. 


1730. Der alte Deutsche, Hamburg in 8°. 

Das moralische Fernglas, Berlin in 4°. 

1731. Der poetische Tadler, betreffend die Laster jeden Standes. 

Dresden in 4°. 

Der vernünftige Träumer, Hamburg. 

Die für sich und ihre Kinder sorgfältigen Mütter, 
Hirschberg. 

1732. Der Bürger, oder zufällige Gedanken über allerhand bürger- 

liche Pflichten und zur Aufnahme des gemeinen Wesens 
gereichende Anstalten in einzelnen wöchentlichen Blättern 
vorgetragen. Göttingen in 4°. 

1733. Der Schm auch ler, Hamburg. 

1735. Der Sammler, Göttingen in gross 8°. 

Die für sich und ihre Söhnesorgfältigen Väter. Hirschberg in 8°. 
Jacobi Ferdinandi Veritophili pinacotheca imaginum 
stultorum, d. i. lebendiger Bildersaal der Thoren und Narren 
beiderlei Geschlechts, worin ein jeder sich herumsehend be- 
trachten und ob er recht getroffen, selbst urteilen kann. Altona. 
1730. Der deutsche Diogenes, Danzig in 4°. 

Der Freidenker, Göttingen in 8°. 

Die mühsame Bern erkerin der menschlichen Handlungen. 
Danzig in 4°. 

1737. Der Menschenfreund, Hamburg in 4. 

Der D resdnisc he Phil osoph, Dresden in 8°. 

Der Zerstreuer, Göttingen in 8°. 

1738. D er vernünftige Christ, Hamburg in 8°. 

Der Freimäurer, Leipzig in gross 8°. 

Der deutsche Lockmann, Halle in 4°. 

1739. Gemeinnützige Briefe oder moralischer, bürgerlicher und 

kritischer Briefwechsel der gemeinnützigen Gesellschaft. 
Göttingen in 8. 

Der Zuschauer, aus dem Englischen übersetzt, 9 Th. Leipzig 
in gross 8°. 

1740. D er Brach mann, Zürich in 8°. 

Der Einsiedler, 2 Th. Königsberg in gross 8°. 

Merkmale der Tugenden und Laster, eine Sitten schrift, in 
welcher verschiedene Pflichten der Menschen abgehandelt 
werdeu. Zerbst in 8°. 

Der fromme Naturkundige in Versen. Danzig in 4°. 


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1901. 


Die moralischen Wochenschriften etc. 


301 


Der geduldige Weltweise bei dem Anblicke jetziger Zeiten, 
wie er durch moralische Sammlungen, lächerliche Begeben- 
heiten, jedesmal bei dem Zuspruche seines Freundes eine 
gewisse Gattung der Thorheit lebhaft dargestellt und auf 
eine moralische, doch lustige Art beurtheilt. Leipzig in 8°. 

Die Braut, Dresden in 4°. 

1741. Gedanken der unsichtbaren Gesellschaft. Halle in 8°. 

Mi nerva, Göttingen in 8°. 

Der Weltbürger, Berlin in 4°. 

Die Zell ischen vernünftigen Tadler, in 8°. 

Der Freidenker, Danzig in 4°. 

Der allgemeine Zuschauer, Zelle in 4°. 

1742. Der deutsche Aesop, bestehend in 324 lehrreichen Fabeln, 

welche in gebundener Schreibart entworfen und als moralische 
Wochenblätter stück weis ausgeliefert worden. Königsberg 
in gross 8°. 

Der Sittenrichter, Frankfurt a. d. O. in 8°. 

Der Bewunderer, Hamburg in 4°. 

Der Pilgrim, 2 Th. Königsberg in gross « 3 °. 

Das Schauspiel menschlicher Handlungen, Königsberg. 

Der bedächtliche Freimäurer, Hamburg in 4°. 

Der Freidenker, oder Versuche von der Unwissenheit, dem 
Aberglauben, der Gleissnerei, Schwärmerei nebst vielen wit- 
zigen und aufgeklärten Stücken, wodurch man den hinter- 
gangnen Theil des menschlichen Geschlechts zu dem Gebrauche 
der gesunden Vernunft und Urtheilskraft zurück zubringen 
sucht. Aus dem Englischen. Berlin. 

1743. Moralische Gedanken der Stillen im Lande, Nürn- 

berg in 4°. 

Der vernünftige Liebhaber in gebundener und ungebun- 
dener Schreibart abgefasst. Hamburg in 8°. 

Der Pilgrim, Liegnitz in 8°. 

Die vernünftigen kurländischen Beurteilungen mensch- 
licher Handlungen. Liebau in 4°. 

D er Herrenhuter, Hamburg in 8°. 

Der Kundschafter, Braunschweig in 4. 

1745. Der F reigeist, Leipzig in gross 8°. 

Der Freund, Kopenhagen in 8°. 

Der Fremdling, Leipzig. 


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302 


Die moralischen Wochenschriften etc. Heft 9 u. 10. 


Die vergnügten Stunden, Leipzig in 8°. 

Die vernünftigen Tadler und Tadle rinnen, Eisenach in 8°. 

Der Zweifler, Berlin in 8°. 

Der Zeitvertreiber, Leipzig in 8°. 

Der Aufseher oder Vormund, aus dem Englischen ins 
Deutsche übersetzt von L. A. Gottschediu, 2 Th., Leipzig 
in gross 8°. 

Der dänische Spektator, als ein Mann, der die Wahrheit 
genau untersucht und sagt; aus dem Dänischen ins Deutsche 
übers. Hamburg in gross 4° 

1746. Der Demokrit, Leipzig in 4°. 

Der freimüthige Erdbürger, Wismar 4°. 

Versuch einiger Gemälde von den Sitten unserer Zeit, vormals 
zu Hannover als ein Wochenblatt ausgetheilt von S. W. 

Der Schutzgeist, Hamburg in 8°. 

Der ehrliche Alte, Königsberg in 8°. 

Der Redliche, Königberg. 

Der Gefällige, Halle in gross 8°. 

Vermischte Beiträge zum Nutzen und Vergnügen, 
Göttingen in 8°. 

Minerva, Hamburg in gross 8°. 

Moralische, satirische, politische und kritische Abhandlungen, 
aus den berühmtesten alten und neueren Schriftstellern ver- 
schiedener Nationen. Hamburg in 4°. 

Der Advokat pro und contra, Schiffbeck in 8°. 

1747. Der Jüngling, Leipzig in gross 8°. 

Der Naturforscher, Leipzig in 8°. 

Die deutsche Zuschauerin, Hannover und Göttingen in 8°. 

Der Menschenfreund, Jena in gross 8°. 

1748. Vergnügte Abendstunden in stillen Betrachtungen über 

die Vorfälle im Reiche der Natur, Künste und Wissen- 
schaften zugebracht, 3 Th., Erfurt in 8°. 

Der Gesellige, 6 Th. Halle in gross 8°. 

Sendschreiben einiger Personen an einander über allerlei 
Materien, Danzig gross 8. 

Der Druide, Berlin in 4°. 

Der deutsche Sokrates, Berlin in 4°. 

D er Hamburger, Hamburg in 8°. 

Der Müssige, Lübeck in 4°, 


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1901. 


Die moralischen Wochenschriften etc. 


303 


1749. Der Eid genoss, Basel in gross 8°. 

Daphne, Königsberg in 4°. 

Der Wahrsager, Berlin in 8°. 

1750. D er neue Eidgenoss, Basel in gross 8°. 

Das Giessener Wochenblatt, Giessen in 4°. 

1751. Der Freimüthige, Breslau. 

Der Hagestolz, Erfurt in 8°. 

Der Hofmeister, 3 Th., Leipzig in gross 8°. 

Der Mensch, 12 Th., Halle in gross 8°. 

Der Redliche, Nürnberg in gross 8°. 

Der Spiegel, Bayreuth in gross 8°. 

Der Leipziger Zuschauer, Leipzig in gross 8°. 

Der moralische Sternseher, Regensburg in 4°. 

Der freundschaftliche Beurtheiler. 

1752. G esellschaft liehe Erklärungen für die Liebhaber der 

Naturlehre, der Haushai tungs Wissenschaft, der Arzneikunst 
und der Sitten, 4 Theile. Hamburg in gross 8°. 
Eisenachische, vermischte Nachrichtungen. 

Geschmack und Sitten, Göttingen in 8°. 

Der Träumer, Jena in 8°, 

Die Freunde, Göttingen in 8°. 

Der Weltweise, Leipzig in gross 8°. 

Der neue franz. Zuschauer, oder Vorstellungen, worinnen 
die Sitten der heutigen Welt nach dem Leben geschildert 
werden, aus dem Französischen ins Deutsche übersetzt, 2 Th. 
Breslau in gross 8°. 

1753. Der Christ, Schwabach in 8°. 

Die Hof meiste rin, Leipzig in gross 8°. 

Die Welt, Erfurt in 8°. 

Der Wilde, Leipzig in 8°. 

Beiträge zum Nutzen und Vergnügen aus der Sitten- 
lehre, den schönen Wissenschaften und der Haushaltungskunst. 
Greifswald in 4°. 

D er Übersetzer, 2 B. Zürich. 

Gesammelte Arbeiten zum Nutzen und Vergnügen, pro- 
saisch und metrisch. Bremen gross 8. 

1754. Der F re und, Ansbach in gross 8°. 

Der Vernünftler, 2 Th., Berlin in 8°. 

Der Denker, Lauban in 8°. 


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304 


Die moralischen Wochenschriften etc. Heft 9 u. 10. 


Der deutsche Patriot in der geselligen Welt. 

Der Freund Gottes, Leipzig in 8°. 

Etwas zum lehrreichen Vergnügen, Erfurt 8°* 

Das Frauenzimmer, Leipzig in gross 8°. 

Eine Wochenschrift, Flensburg in 4°. 

Eine Wochenschrift, Schleswig in 8°. 

Der Schwärmer oder Herumstreifer. Eine Sittenschrift 
aus dem Engl., 4 B. Stralsund und Leipzig, gross 8°. 

1755. Wöchentliche frankfurtische Abhandlungen zur Kr- 

weiterung der noth wendigen , brauchbaren und angenehmen 
Wissenschaften. Frankfurt. 

Der helvetische Patriot, 2 Jahrgänge, Basel. 

Der Staat, Eisleben in 8°. 

Der westfälische Beobachter, Cleve in 8°. 

D er Bienenstock, eine Sittenschrift, der Religion, Vernunft 
und Tugend gewidmet, 3 B. Hamburg und Leipzig in 8°. 

Der Tugendfreund, 4 Th., Berlin in 8°. 

Das Angenehme mit dem Nützlichen, Zürich in 8°. 2 Bände. 

Die Religion, 3 B., Gotha und Erfurt in 8°. 

Schleswigsches Wochenblatt, Schleswig in 8°. 

Der Schauplatz der Welt, Frankfurt in 8°. 

Der Schwätzer, eine Sittenschrift aus dem Englischen des Herrn 
Richard Steele, 2 B., Leipzig. 

1756. Der Mann, Leipzig in gross 8°. 

Niemand, Göttingen in 8°. 

D er physikalische und ökonomische Patriot, Hamburg. 

Vermischte neueste Briefe, worinnen Neuigkeiten aus dem 
nützlichsten sowohl, als allen anmuthigen Wissenschaften 
mitgetheilt werden: dass sie in Gesellschaften zu einer an- 
genehmen Unterhaltung dienen können. Herausgegeben von 
Adolph Uhlich. K. R. O. P. A. Z. S. Frankfurt und Leipzig 8°. 

Der Sammler, Görlitz in 8°. 

Der Untersucher, Langensalza in gross 8°. 

Der Chamäleon, Berlin in gross 8°. 

Allerhand zum Nutzen und Vergnügen aus den an- 
genehmen Wissenschaften, 2 Th., Rostock und Wismar in 8°. 

Die Frau, 3 B., Leipzig in gross 8°. 

Der Wirth und die Wirthin, Braunschweig in 8°. 

Kato, oder Briefe von der Freiheit und dem Glücke eines 


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1901 . 


Die moralischen Wochenschriften etc. 


805 


Volkes unter einer guten Regierung. Nach der 5. engl. 
Ausgabe. Göttingen. 

1757. Argus, Erlangen in 8°. 

Der Offenherzige, Berlin in 8°. 

D as Reich der Natur in Sitten, 9 Th., Halle. 

Einsame Nachtgedanken. Eine Wochenschrift oder moralische 
Betrachtungen über die Welt und weltliche Begebenheiten, 
durch Philipp Ludwig Statius Müller, öffentl. ausserordentl. 
Lehrer der Weltweisheit auf der hochfürstl. Friedrichsuni- 
versität zu Erlangen. Erlangen 8°. 

1758. Der nordische Aufseher, herausgeg. von Johann Andreas 

Kramer, 2 B. Kopenhagen. 

Der forschende Schlesier, Breslau und Leipzig. 

Neue gesellschaftliche Erzählungen für die Liebhaber 
der Naturlehre, der Haushaltungswissenschaft, der Arznei- 
kunst und der Sitten. I^eipzig in 8°. 

1758. D as Reich des Schönen und Nützlichen, Leipzig und 

Erfurt in 8°. 

Vergnügte Nachmittage, Frankfurt und Leipzig. 

Magazin für den Verstand, Geschmack und das Herz, 
Altona in 8°. 

Zum Vergnügen. Ein Wochenblatt für die Toiletten und 
Theetische, mit Kupfern. Hamburg u. Leipzig. 

1759. Der Leipziger Zuschauer, Leipzig in 8°. 

Ergötzungen bei müssigen Stunden, Wittenberg in gross 8°. 
Hannoversche Beiträge zum Nutzen und Vergnügen, Han- 
nover in 4°. 

Der Christ und der Philosoph in seinen Betrachtungen, 
Halle in gross 8°. 

Wochenblatt zum Besten der Kinder, Berlin 8°. 

Verlorene Viertelstunden, ein poetisches Wochenblatt, 
Frankfurt und Leipzig in 8°. 

1760. Breslau isches Wochenblatt, Breslau. 

1761. Der Zeitvertreib von Leipzig, Leipzig in 8°. 

Es ist keine Frage, dass viele dieser Woehenschriften heute 
sehr selten geworden sind; um so mehr würden diejenigen Biblio- 
theken, welche volle Exemplare derselben besitzen, uns im Inter- 
esse der Wissenschaft durch kurze Nachricht zu Dank verpflichten. 

Die Schriftleitung der M.H. 


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Kleinere Mitteilungen. 


Das Antwerpener Augustiner-Kloster bei Beginn der 
Reformation (1513—1523). 

Von 

Otto Clemen in Zwickau. 


Wer heute ausser den andern Sehenswürdigkeiten Antwerpens 
auch die kunstvoll geschnitzte Kanzel in der St. Andrtfkirche be- 
wundert, denkt wohl kaum daran, dass zu der Zeit, als die Predigt 
des Wittenberger Mönchs in den Niederlanden den ersten Wieder- 
hall fand, auf dem Grund und Boden, auf dem sich jetzt diese 
Kirche erhebt, ein Kloster stand, das nur kurze Zeit lang, ein 
Decennium, sich des Daseins erfreute, aber eine überaus reiche 
und bewegte Geschichte gehabt und auch die ersten Blutzeugen 
des evangelischen Glaubens gestellt hat. Es gehörte zum Bettel- 
orden der Augustinereremiten und zwar zu der Observanten partei, 
der sog. deutschen oder sächsischen Kongregation, die von dem 
energischen Andreas Proles gegründet und von Staupitz zu grosser 
Ausdehnung und grossem Einfluss gebracht worden war. Diese 
Kongregation drang auch bald in die Niederlande ein. Zu Anfang 
des 16. Jahrhunderts gab es zwei Klöster, die ihr zugehörten: 
Harlem und Enkhuizen. Während letzteres schon in der Mitte 
des 15. Jahrhunderts entstanden ist und dann nur der sächsischen 
Kongregation unterworfen wurde, wurde das zu Harlem direkt 
vom „Land der Sachsen“ her besiedelt. Es war im Jahre 1493, 
als eine Anzahl sächsischer Augustiner, sieben Priester und zwei 
Laienbrüder, hier eintrafen, von den Geistlichen und den vornehm- 
sten Bürgern der Stadt feierlich empfangen und in ihr Kloster 
geleitet wurden 1 ). Die Verbindung, in der Enkhuizen mit der 
deutschen Kongregation stand, war darum nicht weniger innig. 
Der Prior Johannes von Mecheln wurde im Sommersemester 1507 


*) Kolde, Die deutsche Augustiner - Congregation und Johann von 
Staupitz. Gotha 1879. S. 147 f. 


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1901. 


Das Antwerpener Augustiner-Kloster etc. 


307 


in Wittenberg immatrikuliert 1 ), brachte es hier zum Doktor der 
Theologie 2 ) und begleitete wahrscheinlich unmittelbar nach seiner 
Promotion Luther auf seiner Romreise 3 ). Er nun fasste den Plan, 
in der reichen, blühenden Scheldestadt ein Filialkloster zu gründen. 
Die Mönche, die er 1513 entsandte, fanden bei zwei vermöglichen 
Bürgern, Joost Hoens und Marcus Mussche, freundliche Aufnahme. 
Es wurde ihnen von diesen beiden ein Grundstück in der Ritter- 
strasse zur Verfügung gestellt. Schnell wurde hier eine Kapelle, 
der heiligen Dreieinigkeit zu Ehren, gebaut und eines Morgens 
sehr früh eiugeweiht. Aber man hatte ganz versäumt, sich mit 
den mächtigen Kanonikern der Liebfrauenkirche ins Einvernehmen 
zu setzen, und da diese von der plötzlich aufgeschossenen Grün- 
dung finanzielle Schädigung, Verlust an Kirchenbesuchern, Beicht- 
kindern und Kollektengeldern befürchteten, wandten sie sich be- 
schwerdeführend an ihren Rechtsanwalt, den Dekan von St. Peter 
in Urnen , Adrian Floriszoon, den späteren Papst Hadrian VI. 
Dieser befahl am 20. August desselben Jahres dem Vorsteher der 
Brüder, Joris Stevens, die Kapelle unverzüglich zu schliessen, ab- 
zubrechen und das eingegangene Opfergeld an das Antwerpener 
Kapitel abzuliefern. Da die Brüder keine Miene machten, dem 
Befehl nachzukommen, erneuerte er ihn unter dem 12. September 
in verschärfter Form, unter Androhung der Exkommunikation und 
Citierung des Joris Stevens vor das päpstliche Gericht in Mecheln. 
Jetzt waren die Brüder denn doch etwas eingeschüchtert, und am 
3. Oktober schickt ihr Vorsteher das Opfergeld dem Kapitel und 
zugleich einen Brief, in welchem er sich entschuldigte, er sei von 
seinem Vorgesetzten nicht ermächtigt, nach Mecheln zu gehen. 
Da aber erschien der Enkhuizener Prior selbst in Antwerpen. Er 
brachte kurz entschlossen die Angelegenheit vor den Rat von 
Brabant, strengte einen förmlichen Prozess gegen das Kapitel an 
und erhielt am 23. Februar 1514 die Erlaubnis zum Klosterbau 


*) c Frater Johannes mechelinie alias de Rathein, lector ordinis here- 
mitarum prior enchusen. dioc. Traiect/ Album Academ. Viteberg. ed. 
Foerstemann p. 22. 

2 ) t [Anno 1507 J magister Johannes de Mechlinia consequutus est 
omnes promociones et gradus usque ad licenciam exclusiue.’ JAnno 1511] 
feria 6 ta post natiuitatis marie [12. Sept.J respondit pro licentia religiosus 
pater magister Johannes de Mechlinia prior Enchusensis praesentibus multis 
et egregijs hospitibus religiosis de facultatibus et concorditer est ab facultate 
admissus. Insuper Kalend. XVII. octobris [15. Sept.] vesperiati sunt Reli- 
giosi patres Augustiniani : .. .Magister Johannes (de) Mechlinia prior Enchu- 
sensis, . . . Enchusensis vna cum magistro nostro wenzeslao [Linck] relati sunt 
in senatum Theologicum Sabbatho Francisci [4. Oct.]2 Liber Decanorum 
Facultatis Theologicae Academ. Viteberg. ed. Foerstemann p. 3. 10. 

3 ) Köstlin, Martin Luther 4 I 102. 

Monatshefte der Comenius-Gesellschaft. 1901. on 


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308 


Clemen, 


Heft 9 u. 10. 


auf dem geschenkten Terrain. Damit gaben sich natürlich die 
Domherren nicht zufrieden, und es bedurfte noch langer Verhand- 
lungen, ehe der Bau zu stände kam. Die Kanoniker kamen aber 
allmählich zu der Einsicht, dass sie mit ihrem Protest nichts aus- 
richteten, weil die Stadt obrigkeit ganz auf Seiten der Augustiner 
stand, zeigten mehr und mehr Entgegenkommen, und so wurde 
am 22. Juli ein beide Parteien befriedigender Vertrag abgeschlossen 
und am 12. September von Leo X. bestätigt. An die Spitze des 
Konvents trat Johann von Mecheln; sieben Brüder unterstanden 
ihm; unter den Namen begegnet uns schon der des Johannes van 
Essen, der am 1. Juli 1523 den Flammentod erleiden sollte. Rasch 
blühte das Kloster unter der Gunst der Obrigkeit und Bürger- 
schaft empor 1 ). 

Was wir nach diesen Anfängen wieder von den Antwerpener 
Augustinermönchen hören, zeigt uns, dass sie die Zuneigung der 
Bevölkerung wirklich verdienten : sie scheuten sich nicht, das arme 
Laienvolk gegen die herrschsüchtige und habgierige Hierarchie in 
Schutz zu nehmen. — Von mehreren Seiten war schon vor Luthers 
Auftreten in den Niederlanden der Ablass bekämpft worden. An 
Wessel sei nur eben erinnert 2 ), dann hatte in Doornik ein Franzis- 
kaner, Jan Vitrier (Vitrarius), dagegen geeifert; unter dem 2. Oktober 
1498 verdammte die Sorbonne unter anderen ketzerischen Sätzen, 
die aus seinen Predigten aufgestochen worden waren, die folgenden: 
„On ne doit point donner d'argent aux eglises pour les pardons. Les 
pardons ne sont point donnös pour les bourdeaulx 3 ). Les pardons 
viennent d’Enfer“ 4 ). Ferner macht der Mönch Cornelius van 
Lopsen, der Verfasser der Divisie-Kronijk van Holland, die am 
18. August 1517 in Leiden herauskam, seinem Zorne gegen die 
unverschämte Ausbeutung des Volkes durch die Ablasskrämer 
Luft. Weiter erschien 1516 in De venter ein Büchlein in der 
Volkssprache von dem Vorsteher der Benediktinerabtei Marien- 
thal, in welchem der Verfasser in feinem, eindringlichem Spott 
den Unwert des Ablasses erweist, indem er folgende zwei Anek- 
doten erzählt: Ein Mönch erschien eines Tags nach seinem Tode 
einem seiner Klostergenossen und klagte ihm, dass er ewig ver- 
dammt sei, obgleich er vorsichtigerweise sich einen Ablassbrief 
verschafft hätte; der sei auch vollkommen in Ordnung gewesen, 
nur das Siegel Jesu Christi hätte gefehlt. Einem andern Mönche 
erschien gleichfalls ein Verdammter, der sich wohl mit^ einem 

*) H. Q. Janssen, Jacobus Praepositus Luthers leerling en vriend. 
Nieuwe uitgave. Amsterdam 1866. blz. 1—13 u. Kolde a. a. O. 260 — 262. 

? ) Vgl. neuestens Nicolaus Paulus im Katholik 1900 II 240 ff. u. 
(Innsbrucker) Zeitschrift für katholische Theologie XXIV (1900) 651. 655 f. 

8 ) = bourreaux? 

4 ) Fredericq, Corpus documentorum inquisitionis haereticae pravitatis 
Neerlandicae I (1889) blz. 491. 


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1901. 


Das Antwerpener Augustiner- Kloster etc. 


309 


Ablasszettel versehen hatte, aber von einem deutsch sprechenden 
Teufel, der kein Latein verstand, in die Hölle geworfen worden 
war. — Auch die Antwerpener Augustiner beteiligten sich nun 
an der Bekämpfung dieses Unwesens „und predigten sehr dagegen 
unter so grossem Zulauf, dass ihre Kirche die Menge nicht fasste 
und Emporen gebaut werden mussten“ ! ). 

Leider giebt der spätere Geschichtsschreiber, dem wir diese 
durchaus glaubwürdige Nachricht verdanken 2 ), kein Jahr an; wir 
werden sie aber wohl ins Jahr 1520 zu setzen haben. Prior war 
damals der bekannte Jakob Propst (Jacobus Praepositi 3 ) ). Seine 
Person bürgt uns dafür, dass das Kloster in intimen Beziehungen 
zu Luther und seinen deutschen Freunden stand. Wie so viele 
andere niederländische Augustinereremiten, so hatte Propst in 
Wittenberg studiert; im Winterhalbjahr 1505/6 finden wir ihn ins 
Album eingetragen, 1507 in angaria Penthecostes war er bacca- 
laureus, 1509 magister artium geworden *)• Wahrscheinlich kehrte 
er sehr bald darauf in die Heimat zurück. Als Prior des Ant- 
werpener Klosters erscheint er erstmalig in dem Briefe des Erasmus 
an Luther vom 30. Mai 1519, aus dem wir zugleich ersehen, wes 
Geistes Kind er war. Erasmus schreibt: „Im Augustinerkloster 
zu Antwerpen ist ein Prior, ein echter Christ ohne Falsch, der dich 
glühend liebt, dein Schüler einst, wie er rühmt. Der fast allein 
predigt Christum. Die andern fast alle predigen mir Menschen- 
märlein und ihren Profit“ 5 ). Bedeutungsvoll ist es, dass Albrecht 
Dürer während seiner Anwesenheit in der Scheldestadt vom August 
1520 bis in den Juli 1521 vorzugsweise mit Propst und den anderen 
Insassen des Klosters verkehrte; wie sehr er jenen schätzte, er- 
giebt sich schon daraus, dass er ihn mit der Kohle porträtierte 
und ihm das Bild, zu dem er selbst den Rahmen besorgt hatte, 
als Angebinde hinterliess 6 ). Spätestens Anfang Mai 1521 reiste 
Propst ein zweites Mal nach Wittenberg, wo er am 13. Mai zum 
baccalaureus biblicus promoviert wurde und am 12. Juli sich den 


0 Fredericq, La question des indulgences dans les pays-bas au com- 
raenceraent du XVI 1 - siede. Extrait des Bulletins de TAcad^raie royale de 
Belgique, 3 m ‘‘ s4rie, t. XXXVII, 2" u * partie, no. 1 (janvier); 1899. p. 19—28 
(40 — 49). Ders., Corpus IV (1900) blz. 30. 

2 ) Emmanuel van Meteren, Nederlandsche Historie 1608. 

:< ) Mit Recht macht Fredericq, Corpus IV 81, darauf aufmerksam, 
dass der Name in den lateinischen Dokumenten der Zeit immer in dieser 
Form begegnet. 

4 ) Kalkoff, Zur Lebensgeschichte Albrecht Dürers. Sonderabdruck 
aus dem Repertorium für Kunstwissenschaft, XX. Bd. 6. Heft (1897). S. 10 
Anm. 33. 

ft ) Enders, Luthers Briefwechsel II 68. Fredericq, Corpus IV 11. 

*) Kalkoff S. o ff. 

20 * 


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310 


Clemen, 


Heft 9 u. 10. 


Licentiatengrad erwarb 1 ). Schon Ende August aber kehrte er 
wieder nach Antwerpen zurück und erregte in dem von dem päpst- 
lichen Nuntius eingeschüchterten Antwerpen zu dessen grossem 
Kummer durch seine Predigten in der Volkssprache von neuem 
eine mächtige Gärung 2 ). Anfang Dezember wurde er von dem 
Inquisitor Franz van der Hulst nach Brüssel gelockt und dort, 
nachdem man ihn mit langwierigen Verhören gequält hatte, zum 
Widerruf gezwungen, den er schweren Herzens am 9. Februar 
1522 in der St. Gudulakirche leistete. Es war aber nur eine vor- 
übergehende Schwachheit. Kaum sah er wieder freie Bahn vor 
sich, so machte er den Widerruf durch freimütiges Bekenntnis zu 
Luthers Evangelium wieder gut Abermals wurde er eingekerkert, 
doch glückte es ihm zu entkommen (Anfang Juni). Er eilte uach 
Wittenberg, dem Asyl aller um ihres Glaubens willen Verfolgten 3 ). 
Aber sein ferneres Schicksal interessiert uns hier nicht. Was wurde 
aus den Schäflein, die ihren Hirten verloren hatten? 

Die Gefangennahme ihres Priors und der ihm abgenötigte 
Widerruf hatte gewiss die Brüder tief erschüttert, aber seine 
schnelle Rückkehr zur gerechten Sache und dann sein glückliches 
Entkommen, worin sie eine gnädige Fügung sehen mussten, ent- 
flammte ihren Mut von neuem. Dazu trat jetzt an Propste Stelle 
ein Mann, der in demselben Masse wie jener von lutherischen Ideen 
erfüllt war: Heinrich von Ziitphen, der von Sommer 1508 an drei 
bis vier Jahre lang in Wittenberg studierte, dann nach einem 
Studienaufenthalt in Köln von. 1515 an in Dordrecht Prior ge- 
wesen war, im Sommer 1520 aber zum zweiten Male Wittenberg 
aufgesucht und sich die Würden eines baecalaureus biblicus und 
pro sententiis und licentiatus erworben hatte. Anfang Juni war 
er von dort weggegangen 4 ) und setzte nun die Predigtthätigkeit 
Propste in demselben Geiste, mit demselben feurigen Freimut und 
unter demselben Beifall fort. Freilich auch er fiel der wachsamen 
Inquisition bald zum Opfer. Als die Statthalterin Margarethe auf 
einige Tage nach Antwerpen kam, um mit dem Magistrat über 
Subsidiengelder zu verhandeln, schlichen sich die den lutherischen 
Augustinern feindlichen Mönche der Stadt, Dominikaner insbe- 
sondere, an sie heran und machten sie auf den gefährlichen Ketzer 


*) Vgl. zuletzt O. Clemen, Beiträge zur Reformationsgeschichte aus 
Büchern und Handschriften der Zwickauer Ratsschulbibliothek I (1900j 
S. 33 ff. 

2 ) Aleander an den Vizekanzler Medici. Brüssel 2. Septbr. 1521 bei 
Brieger, Quellen u. Forschungen zur Geschichte der Reformation I: Ale- 
ander u. Luther. Gotha 1884, S. 2(52 f. und Kalkoff a. a. O. S. 10. 

3 ) Clemen a. a. O. S. 37 ff. 

4 ) Friedrich Iken , Heinrich von Zütphen (Schriften des Vereins 
für Reformationsgeschichte Nr. 12). Halle 188(5, S. 3 ff. 


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1901. Das Antwerpcner Augustiner-Kloster etc. 311 

und seinen wachsenden Anhang aufmerksam ! ). Heinrich selbst 
stellte die Sache später so dar, als sei die Statthalterin gleich in 
der Absicht gekommen, ihn zu fangen, dadurch einen Aufstand 
zu erregen und dann eine möglichst grosse Geldsumme als Busse 
zu erpressen; die gottlose Jesabel, von Habsucht verzehrt, habe 
denn auch die Belialssöhne gefunden, die das ihr erwünschte falsche 
Zeugnis wider ihn ablegten. Mit Franz van der Hulst habe sie 
schon alles verabredet gehabt und durch ihn auch schon den 
Kerker in Brüssel bereit halten lassen, der ihn aufnehmen sollte 2 ). 
Am Michaelstage (29. September) fand der Anschlag statt. Unter 
dem Vorwände, er solle einen Kranken besuchen, wurde Heinrich 
in die Münze gelockt 3 ), dort gefesselt und ins Kloster St. Michael 
gebracht. Von dort sollte er während der Nacht nach Brüssel 
abgeführt werden. Aber es kam anders. Wie ein Lauffeuer durch- 
eilte die Kunde von dieser hinterlistigen Gewaltthat die Stadt. 
Eine grosse Menge, Weiber vornehmlich, rotteten sich nach Sonnen- 
untergang zusammen, erbrach die Thore, befreite den Bruder und 
führte ihn in sein Kloster zurück. Hier hielt er sich noch drei 
Tage versteckt, dann aber baten ihn die erschreckten Brüder zu 
fliehen. Auch er wandte sich nach Wittenberg 4 ). 

Nun aber hielt die Statthalterin die Zeit für gekommen, das 
ganze Ketzernest auszuheben. Die erste Massregel, zu der sie 
griff, war der Befehl, dass in Antwerpen nur in den Pfarrkirchen 
gepredigt werden sollte 5 ). Das geschah am 4. Oktober. Am 6. 
wurden die Mönche aus ihrem Kloster mit Gewalt herausgeholt, 
auf Wagen gesetzt und teils nach Vilvoorde, teils nach Hoog- 
straten deportiert, während die Bürgersöhne unter ihnen einstweilen 


‘) Frede ricq, Corpus IV Nr. 109. 

*) Nr. 110. 

a ) Nr. 97. 

‘) Für die Gefangennahme und Befreiung Heinrichs v. Zütphen liegen 
uns folgende Quellen vor: 1) Heinrichs Brief vom 29 Nov. 1522 aus Bremen 
an Propst u. Reyner in Wittenberg: Fredericq Nr. 110 und dazu deinen 
S. 38 Anm. 3; 2) Brief des Ulmer Arztes Wolfgang Richard an Joh. Alex. 
Brassicanus vom 25. Nov. 1522: Fr. Nr. 109; 3) Die excellente cronike van 
Vlaenderen (1531): Fr. Nr. 97; 4) Geldenhauers Collectaneen (ziemlich farb- 
los): Fr. Nr. 99. — Oben sind wir ausser an den besonders gekennzeichneten 
Stellen dem Berichte Heinrichs v. Z. selbst gefolgt. Die Quellen schwanken 
besonders bezüglich der Zahl der aufständischen Frauen. Heinrich selbst 
(Nro. 110) spricht von einigen 1000 Frauen (concurrentibus simul viris), 
Richard (Nr. 109) von mehr als 500 mit Schwertern und Stricken bewaffne- 
ten Frauen. Die excellente cronike (Nr. 97) sagt: so datter sommighe vander 
gheemcnten quamen, geassisteert wol met iij 4 * vrauwen; Geldenhauer (Nr. 99) 
hat nur: per matronas aliquot. 

*’) Fredericq Nr. 97. 


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312 


Clemen, 


Heft 9 u. 10. 


bei den Begharden untergebracht wurden 1 ). Am Abend des Tages 
veranstaltete eine Frau aus Mecheln, Margaretha Boonams, genannt 
s’Gramhans, vor dem Kloster eine Demonstration zu Gunsten der 
gemassregelten Mönche und wurde deshalb am 13. zu einer Wall- 
fahrt nach der fernen Insel Cypern verurteilt 2 ). Und an dem- 
selben Tage machte der Magistrat von Antwerpen bekannt, dass 
niemand sich unterstehen solle, den Klosterbezirk zu betreten, von 
vorn oder von hinten, über die Mauer oder durch den Hof, in 
welcher Absicht immer es sei 3 ). Schon vorher war die Glocke 
herabgenommen und alle bewegliche Habe von dannen geführt 
worden 4 ), und am 10. Oktober hatten die Kanoniker der Lieb- 
frauenkirche das heilige Sakrament aus der Augustinerkirche in die 
Kathedrale bringen müssen 5 ). Am 16. Januar 1523 endlich wurde 
das ganze Kloster dem Erdboden gleichgemacht, nnr die Kirche 
blieb stehen 6 ), wurde aber in eine Pfarrkirche — eben St Andr6 
— umgewandelt, wie Kaiser Karl V. das unterm 10. Januar an- 
geordnet hatte 7 ). 

Was aber wurde aus den bisherigen Insassen? Am 22. Oktober 
1522 kündigte der Rat von Antwerpen die Aukunft der Inquisitoren 
an, die vom Kaiser dazu bestellt worden wären, die in der Stadt 
zurückgebliebenen Augustiner zu verhören, und warnt im voraus 
jedermann, die Kommissare irgendwie zu behelligen 6 ). Am 2. No- 
vember ist van der Hulst in Antwerpen nachweisbar °). Wahr- 
scheinlich haben diese Brüder sich laudabiliter bekehrt. Die andern 
waren, wie wir schon sahen, fortgeschafft worden. Am 7. Oktober 
wurden acht von ihnen auf dem Schlosse Vilvoorde abgeliefert, 
am nächsten Tage wieder acht. Es scheint ihnen da ganz leid- 
lich ergangen zu sein; sie wurden gut verpflegt und hatten zwei 
Diener zu ihrer Verfügung 10 ). Am 30. wurde der Prior — der 
Name dieses kurz regierenden Nachfolgers Heinrichs von Zütphen 
wird nicht genannt — mit sieben Brüdern auf Veranlassung des 
Inquisitors van der Hulst freigelassen — sie wussten sich also 
von dem Verdachte der Ketzerei zu reinigen u ). Die übrigen blieben 


') Nr. 98, 112. Nach Nr. 95 wäre das schon im September geschehen. 
Die Daten in Nr. 103 sind ganz confus. 

*) Nr. 104. 

3 ) Nr. 102. 

4 ) Nr. 98, 112. 

Ä ) Nr. 99, 109 u. 112 (kein Datum). 
fl ) Nr. 121. 

7 ) Nr. 120. 

8 ) Nr. 105. 

”) Nr. 100. 

10 ) Nr. 118, 119. 

,l ) Nr. 119. 


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1901. Das Antwerpener Augustiner-Kloster etc. 813 

in Vilvoorde; noch am 22. April 1523 klagt die Statthalterin in 
einem Briefe an den Kaiser über die Kosten, die ihre Verpflegung 
mache '). Schliesslich widerriefen auch sie, nur drei blieben stand- 
haft *), und zwei von ihnen, Henricus Vos und der oben schon 
genannte Johannes van den Esschen bestiegen am 1. Juli 1523 
auf dem Marktplatz in Brüssel todesmutig den Scheiterhaufen und 
verendeten in den Flammen mit dem Te deum laudamus auf den 
Lippen. Luther aber sang diesen ersten Märtyrern des evange- 
lischen Glaubens zu Ehren ein „neues Lied“: 

Der Sommer ist hart vor der Thür, 

Der Winter ist vergangen, 

Die zarten Blümlein gehn herfür: 

Der das hat angefangen, 

Der wird es wohl vollenden. Amen! 


*) Nr. 131. 
2 ) Nr. 148. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


In dem geistvollen Buche von Houston Stewart Chamberlai n, 
Die Grundlagen des 19. Jahrhunderts, 2. Aufl. München 1900, dessen Ab- 
schnitt III „Der Kampf“ ( Bd. II) wir der besonderen Aufmerksamkeit 
unserer Mitglieder empfehlen, wird u. A. sehr zutreffend bemerkt, dass für 
das Verständnis unserer heutigen religiös-kirchlichen Verhältnisse die Kenntnis 
der Kümpfe im frühen Christentum (bis zur Begründung des heutigen 
römischen Systems im 13. Jahrhundert) durchaus notwendig ist, ja notwendiger 
als die Kenntnis der Reformation und Gegenreformation und dessen, was 
nachher kam, weil diese Zeiten ohne die Einsicht in die frühesten Zustände 
und die Kenntnis des Vorangegangenen ebenfalls unverständlich bleiben. 
Deshalb erweisen diejenigen Historiker gerade auch der Gegenwart die 
grössten Dienste, die, wie Adolf Harnack und seine Freunde und Schüler, 
die Aufhellung der altchristlichen Zeiten sich zur Aufgabe gemacht haben. 

Wir haben schon öfter auf die tiefen Unterschiede verwiesen, welche 
die seit Kaiser Konstantin bestehende römische Weltkirche von den alt- 
christlichen Zeiten trennt. Mit Recht sagt Chamberlain (Grundlagen etc., 
II, 559): „Dieser Augenblick bedeutet den Wendepunkt für die 

Ausbildung der christlichen Religion“. Das Heidentum, dessen 
Entartung ja von allen Seiten zugestanden ist, wurde mit der Aufrichtung 
der Staatskirche und des Glaubenszwangs keineswegs innerlich überwunden, 
vielmehr rettete es sich hinüber in die Weltkirche und schuf eine Dogmatik 
und Symbolik, wie sie seinen Bedürfnissen entsprach. Seit dieser Zeit war 
das alte, reine einfache Christentum der besiegte, zurückgedrängte 
und verfolgte Teil der Weltkirche: es entstand ein tief tragischer Kampf, 
der sicher zum dauernden Untergänge des schwächeren Teils geführt hätte, 
wenn nicht die Tradition der alten Heldenzeit und die mächtigen ge- 
heimen Kam pf es organ isati onen ein festes Band der altchristlichen 
Gemeinden gebildet hätten. 


Das frühest« Christentum, sagt Chamberlain (Grundlagen II, (»10) 
mit Recht, wird charakterisiert durch grösst mögliche Innerlichkeit der 
Religion, Freiheit des individuellen Glaubens und weitestgehende 
Vereinfachung seiner üusserlichen Kundgebung. Im 2. Jahrhundert bezeugt 
Celsus, die Christen wichen von einander ab in ihren Deutungen und 
Theorien, geeint seien sie nur in dem Bekenntnis: „Durch Jesus Christus 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


315 


ist mir die Welt gekreuzigt und ich der Welt“ Renan sagt: ,,Les Chrötiens 
primitifs sont les moins superstitieux des hommes . . . chez eux, pas d’amu- 
lettes, pas d’images saintes, pas d’objet de culte.“ — Wer sieht nicht, dass 
sie auch in diesen wichtigen Punkten die echten Vorläufer des christlichen 
Humanismus aller Jahrhunderte sind? 


Wir haben in unserer Zeitschrift wiederholt auf C. Hiltys (D.M. der 
C.G.) Schriften, insbesondere dessen „Glück“ aufmerksam gemacht, dessen 
erster Teil im Jahre 1891 erschien und seitdem in jedem Jahre eine neue 
Auflage erlebt hat. Interessant ist Hiltys Urteil über Paulus im Unterschied 
von Christus, wie es sich z. B. Glück l \ S. 225, findet; hier heisst es: „Nicht 
Gott zu schauen, sondern das Irdische und Menschliche in richtiger Weise, 
gewissermassen mit den Augen Gottes zu sehen und zu verstehen, ist offen- 
bar unser Lebensziel. Es ist daher auch längst der Zweifel geäussert worden, 
ob es überhaupt eine wissenschaftliche Theologie im Wortsinne geben könne. 
Christus z. B. ist nicht der Ansicht, dass es eine solche gebe 
(vgl Ev. Matth. XI, 27; Ev. Joh. III; Ev. Luc. X, 22), und die theologi- 
schen Spekulationen datieren auch wirklich nicht eigentlich auf ihn zurück, 
sondern auf Paulus, der viel zu viel spezifisch jüdischen Scharfsinn 
und im Judentum bereits ausgebildeten Dogmatismus an eine 
Begründung des Christentums verwandte, bei der es ihm offenbar mit- 
unter um die Überredung seiner etwas stark theologisch veranlagten Volks- 
genossen zu thun war.“ Die gesperrten Worte sind von uns hervorgehoben 
worden. 

Die Idee des Gottesreichs, deren centrale Stellung in der Ver- 
kündigung Christi auch neuerdings Ad. Haniack, Das Wesen des Christen- 
tums, 2. Aufl. S. 34 ff, wieder betont, wird iin Neuen Testament an vielen 
Stellen mit einem Bauwerk (dem Tempel Gottes) verglichen, an dem die 
Menschen als fleissige Bauleute arbeiten; Paulus selbst nennt sich ge- 
legentlich einen Baumeister und Christus den Eckstein, auf welchen der 
ganze „Bau“ gegründet ist. (Weitere Stellen s. M.H. der C.G. 1898 S. 39.) 
War für eine Kultgemeinschaft, die die Idee des Reiches Gottes als Haupt- 
und Grundgedanken anerkannte, der Gedanke nicht von selbst gegeben, 
von diesen Anhaltspunkten aus die Symbolik und die Zeichensprache ihrer 
Kulthandlungen weiter auszubauen und zu entwickeln, selbst wenn ihre 
Mehrheit nicht aus „Werkmaurern“ bestand? 


In der Geschichte des Bildungslebens oder, wie wir lieber sagen, in 
der Geistesgeschichte der Völker sind es durchweg die Personen und 
Persönlichkeiten, welche die Geschichte machen. Man kann dies im Gegen- 
sätze zu jenen modernen Anschauungen, welche alle Geschichte, also auch 
die Bildungsgeschichte, auf die Entwicklung des Wirtschaftslebens 
zurückführen und alles menschliche Geschehen an die Gesetze dieses Lebens 
binden, nicht scharf genug betonen. Aus der obigen Thatsache erklärt sich 
auch die merkwürdige Erscheinung, dass die unter einander kämpfenden 


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316 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 9 u. 10. 


Geistesrichtungen, gleichviel ob sie als Schulen, Kultgenossenschaften 
oder Kirchen in die Erscheinung treten, mit grösster Einseitigkeit die 
Vertreter des eignen Geistes zu Heroen stempeln, gleichzeitig aber die Ver- 
treter ihrer Gegner zu einer Art von Thoren oder Bosewichtern herabzusetzen 
bemüht sind. Jedenfalls muss man stets damit rechnen, daps diejenige 
Richtung, die zur Macht empordringt, das Bild ihrer Gegner und gerade 
das persönliche Bild, grau in grau zu zeichnen liebt. 


Dass die Akademien der Platoniker in der griechisch-römischen Welt 
im Zeitalter des Antoninus Pius und Marc Aurels, d. h. im zweiten Jahrhundert 
nach Christi Geburt, ein wichtiger Faktor des geistig-religiösen Lebens waren, 
lehrt die Geschichte des bekannten Platonikers Lucius Apulejus au6 Madaura 
(Numidien), der um das Jahr 125 n. Ohr. geboren ist. „Unser Plato, sagt 
Apulejus gelegentlich (Florida 15), indem er sich der auch später üblichen 
Redeweise bedient, wenn die „Platoniker“ eins ihrer Mitglieder kennzeichnen 
wollten, „unser Plato weicht in nichts oder nur in wenigen Punkten von 
der Schule (secta) des Pythagoras ab . . . und auch ich habe Reden und 
Schweigen in den Übungen (Arbeiten) der Akademien gelernt.“ Apulejus 
schrieb u. A. „Drei Bücher über die Lehre Platos“ (De dogmate Platonis 
libri III), ferner eine Arbeit „De Deo Socratis“ und „Über die Welt“ (De 
Mundo); auch eine Bearbeitung von Platos Phaedon ist von ihm bekannt. 
Ausserdem aber beschäftigte er sich ganz in der Art der Platoniker — er 
hiess bei den Zeitgenossen Platonicus Madaurensis — mit Mathematik, 
Astronomie, Medizin und Naturwissenschaften. Am bekanntesten 
bis auf unsere Zeit ist er durch seinen satyrischen Roman die Metamor- 
phoseon libri III geworden, der unter dem Namen des „Goldnen Esel“ 
weltberühmt geworden ist; eine Episode des letzteren „Amor und Psyche“ 
hat so hohen poetischen Wert, dass Gottfried Herder sie den zartesten 
und vielseitigsten Roman nennt, der je erdacht worden, und man weiss, 
dass Raphael nach diesem (dem Orient entstammenden) Märchen seinen 
herrlichen Freskencyklus in der Villa Farnesina zu Rom entworfen hat. 
Apulejus erzählt selbst, dass er auf seinen Reisen im Orient sich in ver- 
schiedene Geheimkulte (Mysterien) habe einweiheu lassen 1 ), nud sagt von 
dem Isiskult und seiner Aufnahme in denselben u. A. (Metamorphoseon 
libri III), er dürfe das Verborgene nicht verraten, aber soviel könne er 
sagen: er sei an die Grenzen des Reiches der Toten geführt worden und 
habe gleichsam die Schwelle der Proserpina betreten, dann aber sei er „in 
allen Elementen neugeboren“ zurückgekehrt. Besonders laut ward von 
Apulejus’ zahlreichen Gegnern der Vorwurf der Magie wider ihn erhoben, 
die damals allgemein als Kennzeichen der „Neuplatoniker“ galt und etwa 
in dem Sinne wie späterhin der Name „Alchymisten“ zur Kennzeichnung 
von Mitgliedern von Geheimkulten gebraucht ward. Sein Ruf als „Magiker“ 
erhielt sich lange Zeit; ja, man verglich seine angebliche Kraft, übernatür- 

*) Apulejus, De magia 55: Sacrorum pleraque initia in Graecia par- 
ticipavi. Eoruru quaedam signa et monumenta tradita mihi a sacerdotibus 
sedulo conservo.“ 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


317 


liehe Dinge zu vollbringen, mit derjenigen des Apoll onius von Thyana, 
jenes berühmten neupythagoräischen Philosophen aus dem Zeitalter des 
Augustus, ja sogar mit derjenigen von Jesus von Nazareth. Letzteres 
bezeugt kein Geringerer als Augustinus, welcher schreibt (Ep. 138, 18, 
Vol. II. p. 023 a ed. Gaume, Paris 1838): „Apollon ium et Apulejum ceteros- 
que magicarum artium peritissimos confer re Christo vel etiam prae- 
ferre conantur“ Es wäre sehr der Mühe wert, die Beziehungen des 
Apulejus zu den Akademien einmal näher zu untersuchen; vielfache 
Auskunft über die antiken Geheimkulte giebt Apulejus’ Schrift Apologia seu 
Oratio de Magia. 

Der Ausschnitt aus der Geschichte der italienischen Akademien des 
15. Jahrhunderts, den wir früher (s. M. H. der C.G. 1899 S. 63 ff.) unter 
dem Titel: Die römische Akademie und die altchrisl liehen Katakomben an 
dieser Stelle gegeben haben, giebt ein Bild von den ausserordentlichen 
Wirkungen, welche das Erscheinen der vor der Türkenherrschaft flüchten- 
den Griechen auf das Erstarken der alten Sozietäten ausübte. Ganz 
überraschend sind nun die Vergleichspunkte, die sich ergeben, wenn man 
das Erscheinen der flüchtenden Hugenotten in Deutschland und England 
im 17. Jahrhundert und dessen Wirkungen auf die Akademien und Sozie- 
täten ins Auge fasst. Wie die Griechen in den alten festgeschlossenen 
Organisationen brüderliche Aufnahme suchten und fanden, so die Hugenotten 
in den germanischen Ländern, und wie dort die Bildung und die Philosophie, 
die sie mitbrachten, neues Leben weckte, so hier die Thatkraft und die 
Glaubensfreudigkeit der aus dem Lande ihrer Väter vertriebenen Reformierten. 
Es wäre der Mühe wert, diesen Vergleich einmal bis ins Einzelne zu verfolgen. 

Der älteste Sohn des Burggrafen Friedrich VI. von Nürnberg aus 
dem Hanse der Ilohenzollerii, des nachmaligen Kurfürsten Friedrich I. von 
Brandenburg (+ 1440), war Markgraf Johann (1404—1464), der zu Gunsten 
seines Bruders Friedrich auf die Kurwürde verzichtete. Dieser Markgraf 
Johann führt den Beinamen der Alchymist, ein Beiname, der damals den 
Beigeschmack mangelnder kirchlicher Rechtgläubigkeit besass. Auf Grund 
welcher geschichtlicher Umstände mag Johann einen Namen erhalten haben, 
der ihm selbst und seiner ganzen Familie nicht erwünscht sein konnte? 


Die älteste Tochter des ersten Kurfürsten aus dem Hause Hohen- 
zollern, die Schwester „Johanns des Alchymisten“, Elisabeth (1402 — 1449), 
war in erster Ehe verheiratet mit Ludwig II., Herzog von Liegnitz und 
Brieg (seit 1420). Aus dieser Ehe stammte die Prinzessin Barbara (geb. 1423), 
die später den. Markgrafen von Mantua, Ludwig III. (f 1478) heiratete; sie 
starb 1481. Es ist merkwürdig, dass die hohenzollernsche Prinzessin in 
Italien eine lebhafte Teilnahme für den eben unter schweren Kämpfen 
emporkommenden Humanismus bethätigte, wie sie denn z. B. als Beschützerin 
des bekannten Franciscus Filelfus (geb. 1398) genannt wird. Nähere 
Mitteilungen über ihre Beziehungen zu diesen Kreisen wären erwünscht. 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 9 u. 10. 


Wir haben auf die Geschichte Jean Baptist von llelnioiit« (1577 
bis 1644), des berühmten Naturphilosophen, „Alchy misten“ und „Adepten“ 
(wie ihn die Gegner nannten), schon früher in diesen Heften (M. H. 1895 
S. 150) Bezug genommen und u. A. erwähnt, dass die Stadt Mecheln (die 
hierin aber nur die Vollstreckerin eines mächtigeren Willens war) im Jahre 
1630 den Helmont als „Rosen k re uze r“ vor Gericht stellte, dieselbe Stadt, 
die sieben Jahre früher einen gewissen Adam Haselmaker wegen desselben 
„Verbrechens“ zur Galeerenstrafe verurteilt hatte. Der hochangesehene, aus 
altadeligem Geschlecht stammende und reiche Helmont kam besser davon 
als Haselmaker, der keine Fürsprecher hatte. Der Aufsatz des Herrn 
Dr. phil. Franz 8trunz, den wir oben (S. 274) veröffentlichen, beruht 
auf eingehenden selbständigen Forschungen und bringt vielerlei merkwürdige 
neue Thatsachen und Urteile, besonders über die Grundlagen von Helmonts 
Naturphilosophie. Wertvoll ist der Wiederabdruck des Traums von den 
Katakomben, den Helmont im ersten Kapitel seines berühmtesten Werkes, 
des „Aufgangs der Artzney- Kunst“, veröffentlicht hat: es ist dies eine bei 
seinen Gesinnungsgenossen beliebte Einkleidung, in der er seine religiösen 
Ansichten niedergelegt hat: die Eingeweihten verstanden sehr wohl, was er 
sagen wollte, die übrigen sollten es nicht verstehen Die Wahrheit hat ihr 
Grab erwählt bei den Gräbern der ersten Christen in den Kata- 
komben; dies Grab der Wahrheit wird bewacht von Nachtvögeln. „Und 
weil sie an das Licht der Wahrheit nicht kommen, so lassen sie auch andere 
daselbst nicht hin.“ Und wer es versucht, die Fackel voranzutragen, den 
richten die Mächte der Finsternis zu Grunde. — Wenige Jahre, nachdem 
sein Prozess beendigt war, erkrankte Helmont schwer; sein ärztliches Urteil 
ging dahin, dass ihm ein schleichendes Gift beigebracht worden sei; nach 
einiger Zeit — so erzählt Helmonts Biograph Delff in der Allg. Deutschen 
Biographie XI. 7U4 — lag ein Mann, mit dein Helmont zu thun gehabt 
hatte, im Sterben und bekannte kurz vor seinem Tode, dass er einen Ver- 
giftungs versuch an dem berühmten „Alchymisten“ begangen habe. Helmonts 
beide ältesten Söhne waren kurz vorher im Spital gestorben und zwar — 
so behauptete Helmont — weil sie einer falschen, seinen eigenen Anweisungen 
zuwiderlaufenden Behandlung unterworfen worden waren. Man muss an- 
nehmen, dass in beiden Fällen unzutreffende Berichte mitunterlaufen; aber 
Aufklärung wäre doch erwünscht. 

Samuel Pufendorf (geb. am 8. Jan. 1632) gehörte in Leipzig einer 
studentischen Organisation an , die sich ein Collegium und zwar ein „Col- 
legium anthologicum“ nannte. In diesem Verbände war es (sagt Treitschke, 
Histor. u polit. Aufs. IV, 212), wo die jungen Leute „unter Liedern der 
Freundschaft die Wahrheit suchten“. Wer waren die geistigen Leiter 
dieser „Wahrheitssucher“? In späteren Zeiten finden sich an den deutschen 
Hochschulen Collegia poetiea. die nach dem Muster der holländischen 
„Rednergesellschaften“ organisiert waren, die mit den freien Akademien 
und „Deutschen Sozietäten“ in Verbindung standen; ob das Collegium 
anthologicum zu Leipzig in diese Reihe hineingehört? Frühzeitig gewannen 
die Schriften des Hugo Grotius Einfluss auf Pufendorf. Seit 1657 wurde 


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Nachrichten lind Bemerkungen. 


319 


letzterer in Jena Schüler des geistreichen Naturphilosophen Erhard Weigel, 
desselben Mannes, der später dem jungen Leibniz ein Erwecker ge- 
worden ist. 

In Zeiten schwerer politischer oder religiöser Kämpfe ist es ein viel- 
gebrauchtes Kampfmittel, die Kampfes-Organisutionen dem Auge des Gegners 
möglichst zu entziehen und ihr Vorhandensein zu verschleiern, und es ist 
z. B. ganz bekannt, dass im letzten Jahrhundert der Gesang, das Turnen, 
das Schützenwesen u. s. w. politischen Parteien vielfach als Vorwand ge- 
dient hat, um Vereine zu schaffen, die im gegebenen Fall als politische 
Organisationen auf den Plan traten. Man braucht ja nur an die tschechi- 
schen Sokol-Vereine zu erinnern, die unter dem Gewände der Turnvereine 
der panslavistischen Propaganda dienen. Was in dieser Beziehung heute 
vor Jedermanns Auge liegt, das wird, wenn man auf verwandte Erschein- 
ungen früherer Jahrhunderte hinweist, für „Phantasie“ erklärt. 

Für die sog. Sprach gesellschaften des 17. Jahrhunderts war, wie ich 
früher ausgeführt habe (M. H. der C.G. 1895, S. 15), die Förderung der 
deutschen Sprache, so sehr sic den Grundsätzen der „Sozietäten“ entsprach, 
doch lediglich das Kleid, das die letzten Ziele vor den Augen gefährlicher 
Gegner verhüllte. „Alle neueren Forscher — so habe ich damals bemerkt 
— haben sich verleiten lassen, diese Hülle für das Wesen der Sache 
zu halten.“ Ich verweise heute zum weiteren Belege dieser Thatsache auf 
Folgendes: Wir besitzen den vertraulichen Briefwechsel des Sam. Hartlieb 

in London mit seinem Freunde Joachim Poleman in Amsterdam aus dem 
Jahre 1659 über die Errichtung einer Sozietät — Hartlieb nannte sie An- 
tilia — , welche sich wichtige Aufgaben gestellt hatte. (S. Kvacala, Der Brief- 
wechsel des Comenius, Prag 1898, S. 265 ff.) Poleman giebt der lebhaften 
Besorgnis Ausdruck, dass die Sozietät, wenn sie sich öffentlich zu ihren 
Zielen — es handelt sich u. A. darum, eine neue Ordnung der Jugend- 
erziehung zu schaffen — bekenne, „ausgetrieben“ werden könne; denn „die 
Welt ist sehr böse, giftig und fast teuflisch, dass man solche und dergleichen 
Nachricht nicht genug verbergen kann“. Poleman hält es deshalb für ge- 
raten, dass, wenn man nicht mit Vorwissen und Zustimmung von Regierung 
und Parlament die Sache in die Wege leiten könne (was er offenbar be- 
zweifelt), im Stillen und Geheimen vorzugehen sei, und fügt hinzu, er 
sei im letzteren Falle begierig, zu erfahren, „was für Prätext und Decke 
sie (d. h. die Membra der Sozietät) gebrauchen wollen, ihre hohe Gabe 
der Transmutation zu bedecken und zu manteln.“ Diese Männer fanden 
es also für ihre unzweifelhaft edlen Ziele ganz erlaubt, ja notwendig, die 
letzten Absichten zu verhüllen. Die Sozietät „Antilia“ und ihre Mitglieder 
bezw. die Männer, die Mitglieder werden sollten, standen mit den Sozie- 
täten und Akademien Deutschlands, insbesondere der Sozietät des „Palm- 
baums“ in allernächster Beziehung. 

Ein sehr wesentliches, ja geradezu charakteristisches Merkmal der 
frühesten „Society of Masons“ und ihrer Nachfolger ist die stete Bezug- 


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320 


Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 9 u. 10. 


nähme und Berufung auf Sokrates und Plato; die von der „Society“ unter- 
stützten moralischen Wochenschriften (s. oben S. 296), wie z. B. der „Frei- 
maurer“ (1738) und viele audere liefern, hierfür fast in jedem Hefte Belege. 
Selbst der Ausdruck „Baumeister der Welt“ ist zuerst von Plato und den 
Akademien der Platoniker gebraucht worden. Dasselbe Kennzeichen findet 
sich in allen früheren Sozietäten und Akademien seit dem 15. Jahrhundert 
(s. Keller, Die römische Akademie, Berlin 1899 u. öfter) in gleich starker 
Ausprägung. Dagegen ist in den Handwerker-Organisationen der Werk- 
ln au rer, aus denen die „freien Maurer“ angeblich hervorgegangen sind, 
bis jetzt auch keine Spur einer besonderen Betonung der platonischen 
Philosophie uachgewiesen. Ist das eine für die Beurteilung der Werkmaurer- 
Hypothese gleichgültige Thatsache? Der Sprachgebrauch und die Zeichen- 
sprache (Symbolik) der Steinmetzen lässt sich, wie wir in diesen Heften 
vielfach dargethan haben, in den Akademien und Sozietäten nachweisen; 
ist aber auch der Ideengehalt der Akademien in den Werkmaurer-Organi- 
sationen nachweisbar ? 

Der genaueste Kenner der englischen Werkmaurer-Gilden, Edward 
Cond er, bestätigt in seinem Werke „Records of the hole Crafte and Fellow- 
ship of Masons, London 1894“ das Vorhandensein von „Sozietäten“, 
welche innerhalb der Gilden der Werkmaurer und doch getrennt 
vom Handwerk vorhanden waren. Bei seinen Untersuchungen über den 
Zusammenhang zwischen den Londoner Werkmaurer-Gilden und der „Society 
of Free and Accepted Masons“ (wie Conder die seit 1717 aufkommenden 
Freimaurer nennt) ist er zu dem Ergebnis gekommen, dass schon im 17. Jahr- 
hundert innerhalb der Bau -Innungen Londons zwei Abteilungen (two 
divisions) vorhanden waren, eine von „spekulativem“, die andere von „opera- 
tivem“ Charakter, d. h. dass ein innerer Ring von Mitgliedern vorhanden 
war, der geistige Maurerei trieb; diese innere Organisation war es (fügt 
Conder hinzu), welche auch Accepted Masons oder (wie es in Deutschland 
hiess) „Liebhaber des Handwerks“ aufnahm. 


Die lebhafte Teilnahme, welche für die Philosophie Kants seit etwa 
einem Menschenalter von neuem erwacht ist, hat zur Folge, dass alle 
religiösen, philosophischen und selbst manche politische Richtungen sich mit 
ihm neuerdings auseinandersetzen und zu ihm Stellung nehmen müssen. 
Ausserordentlich kennzeichnend sind in dieser Richtung drei neuere Schriften, 
nämlich Friedrich Paulsen, Kant, der Philosoph des Protestantismus, die 
zuerst in Vaihingers Kantstudien, daun selbständig und zuletzt in Paulsens 
Philosophia militans (Berlin 1901) erschienen ist, ferner 0. Willmann (Prag), 
Geschichte des Idealismus, Bd. III (Braunschweig, Vieweg 1897) und K. 
Vorländer, Kant und der Sozialismus unter Berücksichtigung der neuesten 
theoretischen Bewegung innerhalb des Marxismus. Berlin, Reuther und 
Reichard 1900 (M. 1,20). Sehr richtig bemerkt Paulsen a. a. O. S. 1 , dass 
die Philosophie des restaurierten Katholizismus der Gegenwart (P. nennt 
sie zutreffend den Neuthomismus) seine Kräfte sammelt zum Angriff auf 
Kant; „ihn niederzuringeu erscheint als die grosse Aufgabe der Zeit“. Das 


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1901. 


Nachrichten und Bemerkungen. 


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dreibändige Werk von Willmann, das in seinem dritten Teile Kants System 
als den angeblich tiefsten Punkt der protestantischen Philosophie und als 
völlig haltlosen, widerspruchsvollen Subjektivismus und Skeptizismus zu 
charakterisieren versucht, ist der schlagendste Beweis für die erwähnten 
Bemühungen der römisch-katholischen Wissenschaft. Hand in Hand damit 
geht aber die Bekämpfung Kants durch die höchste Instanz der Kirche 
selbst. Papst Leo XIII., dessen Encyklika vom 4. August 1879 das Studium 
des h. Thomas von neuem belebt hat, warnt in einem Schreiben vom 8. Sep- 
tember 1899 (zunächst den französischen, damit aber doch auch den gesamten 
Klerus) vor der Philosophie Kants, die (ohne Kants Namen zu nennen) 
deutlich charakterisiert wird und zwar genau in dem Sinne, dem Willmann 
in seinem Werke Ausdruck gegeben hat. Diese Kampfstellung der römischen 
Kirche, die in solchen Dingen wohl zu wissen pflegt, was sie thut, enthält 
eine sehr deutliche Aufforderung zur näheren Beschäftigung mit einer Philo- 
sophie, der eine solche Bedeutung beigemessen wird. Wir würden bedauern, 
wenn man, wie es im protestantischen Deutschland leider üblich ist, das 
Vorgehen der kirchlichen Wissenschaft und der kirchlichen Organe in seiner 
Bedeutung unterschätzte; es giebt auch innerhalb der protestantischen Kirche 
Strömungen, auf welche solche Urteile gleichsam abfärben, zumal da hier 
wie dort verwandte Bedürfnisse kirchlicher Herrschaft leicht auf verwandte 
Erwägungen führen. Wer sich näher über die Behandlung (besser gesagt 
Misshandlung Kants) in dem Willmannschen Buche unterrichten will, dem 
empfehlen wir den Aufsatz von Friedr. Paulsen, Das j üngste Ketzer- 
gericht über die moderne Philosophie, der zuerst in der „Deutschen 
Rundschau“ (1898) und dann auch in desselben Verfassers Philosophia 
militans S. 1 ff. erschienen ist. 


Wir haben früher an dieser Stelle (s. u. A. M.H. 1896, S. 249 f„ 
1897 S. 128; 1900 S. 62) wiederholt darauf hingewiesen, dass w r ir die in den 
herrschenden geschichtlichen Handbüchern übliche Periodeiiteihing der 
deutschen Geschichte für falsch und irreleitend halten und an Stelle 
der bisherigen Teilung (soweit eine solche überhaupt durchführbar erscheint) 
folgende Perioden setzen möchten : 

A. Ältere Zeit bis etwa 1300. 

B. Mittlere Zeit 1300 bis 1650. 

C. Neuere Zeit 1650 bis 1850, 

wobei selbstverständlich nur ungefähre Zeitbestimmungen gegeben sein 
sollen, da stets die eine Periode in die andere in manchen Dingen übergreift. 

Erfreulich ist uns nun, zu sehen, dass viele unbefangene, von kirchen- 
geschichtlichen* Ansichten nicht beeinflusste Sachkenner sich mehr und mehr 
diesen Auffassungen anschliessen. Dies ist neuerdings, soweit das Mittel- 
alter in Betracht kommt, auch von Alexander Wernicke geschehen in 
seinem ausgezeichneten Vortrage „Weltwirtschaft und Nationalerziehung“, 
der in der Philologen -Versammlung von 1899 gehalten und in den Neuen 
Jahrbüchern für Pädagogik 1900 abgedruckt und im Verlag von B. G.Teubner 
auch als Sonder-Abdruck erschienen ist. „Hier (d. b. im 13. Jahrhundert), 
sagt Wernicke S. 26, kommt das Germanentum, das bis dahin als Kind 


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Nachrichten und Bemerkungen. 


Heft 9 u. 10. 


unter dem Schutze der Kirche geträumt hatte, allerorten zum Bewusstsein 
seiner selbst, es tritt in sein Jünglingsalter ein.“ Mit Recht beruft 
sich Wernicke auf H. Stewart Chamberlain, Die Grundlagen des 
19. Jahrhunderts, München 1900. Es wäre in der That zu wünschen, dass 
man die Sage von der „mittelalterlichen Finsternis“, die seit 1517 zu partei- 
politischen Zwecken erfunden worden ist, endgültig verabschiedete. Als ob 
nach dem Jahre 1517 keinerlei Finsternis (man denke an Ketzer- und 
Hexen- Verfolgung!) mehr vorhanden gewesen wäre. 


Zur Einführung in die Kantisehe Philosophie empfehlen wir unseren 
Lesern insbesondere Alexander Wcrnickes Schrift Kant und kein Ende? 
Braunschweig, Meyer 1894, sowie die Preisschrift von Kurd Lasswitz, 
Die Lehre Kants allgemeinverständlich dargestellt. Berlin 1883. Wir freuen 
uns, über die erstgenannte Schrift hier das Urteil in Chamberlains Grundlagen 
11,938 wiederholen zu können, indem wir zugleich dessen Darstellung der 
Kantischen Philosophie (a. O. II, 936 ff.) nachdrücklich empfehlen. Wernickes 
Arbeit ist eine Schrift, welche nach Chamberlain wohl das Beste enthält, 
was je zu einem tieferen Verständnis von Kants Denken gesagt wurde, und 
darum unvergänglichen klassischen Wert besitzt. 


„Um sich aus der grenzenlosen Vielfachheit wieder ins Einfache zu 
retten,“ sagt Goethe, „muss man sich immer die Frage vorlegen, wie würde 
sich Plato benommen haben?“ W T ir haben wiederholt die Stellung Kants 
zu Plato und dem Platonismus in diesen Heften erörtert; es wäre eine 
dankbare und wichtige Aufgabe, auch einmal die Beziehungen Goethes zu 
Plato zu prüfen. 


Buchdruckerei von Johannes Brcdt, Münster i. W. 


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Die Comenius-Gesellschaft 

zur Pflege der Wissenschaft und der Volkserziehung 

ist am 10. Oktober 1801 in Berlin gestiftet worden. 

Mitglicdcrzalil 1901: rund 1200 Personen und Körperschaften. 
Gesellschallsschriften : 

1. Die Monatshefte der C.-G. Deutsche Zeitschrift zur Pflege der Wissenschaft 
im Geiste des Comenius. Heran sgegeben von Ludwig Keller. 

Band 1 — 10 (1802—1001) liegen vor. 

2. Comenius-Blätter für Volks erziehung. M itteilungen der Comenius-Gesellschaft. 

Der erste bis neunte Jahrgang (1<803 — 1001) liegen vor. 

3. Vorträge und Aufsätze aus der C.-G. Zwanglose Hefte zur Ergänzung der 
M.-H. der C.-G. 

Der Gesamt umfang der Gesollsehaftsschriften beträgt jährlich etwa 32 Bogen Lex. S°. 

Bedingungen der Mitgliedschall: 

1. Die Stifter (Jahresbeitrag 10 M.; 12 Kr. österr. W.) erhalten die M.-H. der C.-G. 
und die C.-Bl. Durch einmalige Zahlung von 100 M. werden die Stifterrechte 
von Personen auf Lebenszeit erworben. 

2. Die Teilnehmer (Jahresbeitrag (i M.) erhalten nur die Monatshefte; Teilnehmer- 
rechte können an Körperschaften nur ausnahmsweise verliehen werden. 

3. Die Abteilungsmitglieder (Jahresbeitrag 1 M.) erhalten nur die Comenius- 
Blätter für Volkserziehung. 


Anmeldungen 

sind zu richten an die Goschäftstellc der C.-G., Berlin NW., Bremerstr. 71. 


Der Gesamtvorstand der C.-G. 

Vorsitzender : 

Dr. Ludwig Keller, Geheimer .Staatsarchivar und Geheimer Archiv-Rat, in Berlin-Charlottenburg, 

Berliner Str. 22. 

Stellvertreter des Vorsitzenden: 

Heinrich, Prinz zu Schönaich-Carolath, M. d. R., Schioes Arntitz (Kreis Guben). 

Mitglieder : 

Direktor Dr. Begemann, Charlottenburg. Prof. W. Bötticher, Hagen (Westf.) Stadtrat a. D. Herrn. Hey- 
felder, Verlagsbuchhändler, Berlin. Prof. Dr. Hohlfeld, Dresden. M. Jabionski, General-Sekretär, 
Berlin. Israel, Oberschulrat u. D., Dresden -Blascwitz. "W. J. Leendertz, Prediger, Amsterdam. Prof. 
Dr. Nesemann, Lissa (Posen). Seminar-Direktor Di. Heber, Bamberg. Dr. Hein, Prof, an d. Universität 
Jena. Hofrat Prof. Dr. B. Suphan, Weimar. Univ. -Professor Dr. von Thudichum, Tübingen. Prof. 
Dr. Waetzoldt, Gell. Reg. -Rat u. vertragender Rat im Kultusministerium, Berlin. Dr. A. Wernicke, 
Direktor der städt. Oberrealschule u. Prof. d. techn. Hochschule, Braunschweig. Weydmann, Prediger, Crefeld. 
Prof. Dr. Wolfstieg, Bibliothekar des Ahg.-H.. Berlin. Prof. D. Zimmer, Direktor des Ev. Diakonie-Vereins, 

Berlin-Zehlendorf. 

Stellvertretende Mitglieder : 

Lehrer R. Aron, Berlin. J. Q. Bertrand, Rentner, Bcrlin-Südeudc. Pastor Bickerich, Lissa (Posen). 
Dr. Gustav Diercks, Berlin-Steglitz. Prof. H. Fechner, Berlin. Bibliothekar Dr. Fritz, Charlottcnburg. 
■Geh. Regierungs- Rat Gerhardt, Berlin. Prof. G. Hamdorff, Malchin. Oberlehrer Dr. Heubaum, Berlin. 
Univ.-Prof. Dr. Lasson, Berlin-Friedenau. Diakonus K. Mämpel, Eisenach. Univ.-Prof. Dr. Natorp, 
Marburg a./L. Bibliothekar Dr. Nörrenberg, Kiei. Rektor Rissmann, Berlin. Land tags- Abg. v. Schencken- 
d.orff, Görlitz. Archivar Dr. Schuster, Charlottenburg. Slamenfk, Börgerschul-Direktor, Prerau. Univ.- 
Prof. Dr. H. Suchier, Halle a. S. Univ.-Prof. I)r. Uphues, Halle a. S. Oberlehrer W. Wetekamp, 

M.d.A.-H., Breslau. 

Schatzmeister : Bankhaus Molenaar & Co., Berlin C. 2, Burgstrasse. 


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Aufträge und Anfragen i • Aufnahmebedingungen: 

sind zu richten an Di«* gespaltene Xonparcillezeile oder 

R. (»a^rtners Verlag. II. Hey fehler , fll IÜOIcLOI I ■ deren Kaum 20 Pfg. Bei grösseren 
Berlin SW., Schdneliergerstrasse 2<’>. O Auf trügen entspnvhende Ermässigung. 


R. Gaertners Verlag, H. Heyfelder, Berlin SW. 

Soeben erschienen: 


Aus meinem Leben. 

Erinnerungen 

von 

Rudolf Maym. 

: r Aus dem Nachlass herausgegeben. _ 

Mit 2 Bildnissen. 

20 Bogen 8°. 4 Mark, gebunden Mark. 

Mit Professor Rudolf Havni in Halle a. S. ist im 81. Lebensjahre ein 
hervorragender Gelehrter, ein glänzender Schriftsteller und namhafter Politiker 
kürzlich entschlafen. 

I 'Sä/ ■ Es sei nur erinnert hii seinen Einfluss auf die studierende .lugend, an seine Ile- 

I, deutiing als Verfasser der Werke ..Wilhelm von Humboldt**. ..Hegel und seine Zelt 4 *. 
v*> I ..Herder*. ..Die romantlsrlie Schule** sowie an seine Thütlrkelt als Mitglied nnd Historiker 
/Vn ll der ..Deutschen \atioiialversaninilnng** zu Frankfurt u. M. im Jahre IMS. 


Der Plalonismns in Kants Kritik der Urteilskraft. 

Von 

Dr. Heinrich Romundt. 

Vorträge und Aufsätze aus der Comenius-Gesellschaft. IX. Jahrg., 1. und 2. Stück. 

~ Gr. 8°. 1.50 Mark. - 

Deutsche Geschichte. 

Erster Ergänzungsband. 

Zur jüngsten 

deutschen Vergangenheit. 

Von Dr. Karl Lninpreelit, Professor a. d. Universität Leipzig. 

Erster Band. 

Tonkunst — Bildende Kunst — Dichtung — Weltanschauung. 

G Mark, in Halbfranz gebunden s Mark. 

Die Deutsche Geschichte* 

von Karl liiini|)reclit wird die Schicksal«* des deutschen Volkes bis zur Gegenwart hinab, diese mit 
einbegriffen, erzühh-n. Si<* zerfällt in 3 Abteilungen zu je 4 Bänden: 

Abteilung I umfasst die Urzeit und «Ins Mittelalter, 

Abteilung II «lie n«*u<* Zeit tlti. — IS. .lahrliundert ), 

Abteilung III di«* neueste Z«*it- von etwa 17öO ab, 
wälirend 2 Ergänzungsbämle die z«*itgenössisehe Entwickelung «laistellen. 

Erschienen sind bis jetzt G Bände (I., II.. III., IV.', V. 1. und 2. Hälft«), sämtlich bereits in 
zwei Auflag«n. Si»* führ«*n dh* Darstellung bis ins 17. Jahrhundert. 

Der soolwn ei*sehi«*n«*ne erste Ergünznngshand In handelt die geistige nnd künstlerische Seite 
der zeitgenössischen Entwickelung. Di«* wirtschafts- und s« m ■ i a lgeseh ich 1 1 i ehe wie die politische Seite 
wird den Inhalt des in ih-arbeitung genommen«*]! z.w«it«*n Ergänzungsbandes bilden. 

Beide Ergänzungsbände bieten als Ganzes ein«* gedrungene Einführung In das unmittelbare 


geschichtliche Verständnis der Gegenwart und sind vollständig selbständig gehalten. 


Buoh«lruckerei von Johannes Br«*dt, Münster i. W. 


Mit einer Beilage der Buchhandlung des Erzieh uugs Vereins in Neukirchen, Kreis Moers. 

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