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Full text of "Mschrft Psychiat Neurol 1910 27"

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,Monatssehrift 

fur 

Psycbiatrie nod Nenrologie. 

Herausgegeben von 

Th. Ziehen. 


Band XXVII. 

Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 29 Tafelo. 



BERLIN 1910 

VERLAG VON S. KARGER 

KARLSTRASSE 15. 


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Alle Reohto vorbehalten 


Gedruckt bei 1 mb erg A Lefson In Berlin W. 9. 


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Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

Ein kasuistischer Beitrag 

von 

Prof. Dr. BUCHHOLZ, 

Oberorst, Hamburg-Friedrichsberg. 

(Hierzu Taf. I—II.) 

Obgleich die vielumstrittene Lues-Paralvse-Frage ihre Losung 
gefunden haben diirfte, tritt auch jetzt noch oftmals die Frage 
an uns heran, ob neben der den Boden fiir diese Erkrankung des 
Zentralnervensystems vorbereitenden Infektion nicht noch andere 
Ursachen fiir denAusbruch dieses Leidens verantwortlich zu mac hen 
sind. Vor allem gilt dies von den Erkrankungen an Paralyse, 
die sich im Anschluss an Traumen entwickeln. Auf der anderen 
Seite konnen, wie wir wissen, das Nervensystem treffende Traumen 
neben den akut und direkt durch die Traumen bedingten Schadi- 
gungen auch chronische Veranderungen auslosen. Allerdings sind 
unsere Kenntnisse von diesen Vorgangen noch sehr wenig umfang- 
reich; um so mehr wird es unser Bestreben sein miissen, diese 
Erkrankungen in ihren klinischen und anatomischen Eigenschaften 
zu durchforschen. Bei einer Anzahl dieser Erkrankungen, die 
gewisse Ziige mit der Dementia paralytica gemeinsam haben, wird 
es darauf ankommen, sie gegen dieses Leiden abzugrenzen. Dass 
dies, abgesehen vondem wissenschaftlichen Interesse, auch in prak- 
tischerBeziehung, vor allem in Hinblick auf unsere sozialen Gesetze, 
oft von der allergrossten Bedeutung ist, braucht nicht we iter aus- 
gefiihrt zu werden. Klarheit auf diesem schwierig zu bearbeitenden 
Gebiete wird nur durch die Untersuchung einer grosseren Zahl ein- 
schlagiger Falle zu gewinnen sein. Diese werden zudem eine bis 
ins Detail gehende Schilderung erfahren miissen, damit sie nicht 
nur einer kritischen Wurdigung zuganglich sind, sondern auch 
einer weiteren zusamraenfassenden Bearbeitung dieses The mas 
zur Unterlage dienen konnen. Einen Beitrag zu diesen Unter- 
suchungen zu liefern, erschien mir das nachstehende Gutachten 
geeignet. 

Dem Ersuchen der Konigl. Eisenbahndirektion vora 22. \ . 
d. Js. um Erstattung eines Gutachtens iiber die Erkrankung des 
am 12. III. 1909 in der hiesigen Anstalt verstorbenen Arbeiters 
B. beehre ich mich hiermit nachzukommen. Mein Gutachten soil 

Mon&taachrift fiir Psychlatrie and Neurologie. Bd. XXVII. Heft 1. 1 


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55171 , 

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2 Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

sich dariiber aussern, ob der B. an den Folgen des am 22./23. XII. 
1900 beim Eisenbahnbetrieb erlittenen Unfalles verstorben ist. 
bezw. ob dies mit grosser, an Gewissheit grenzender Wahrschein- 
lichkeit angenommen werden kann. 

B. erlitt in der Nacht vom 22./23. XII. 1900 dadurch einen Betriebs- 
unfall, dass er, iiber eine Ladepritsche riickwarts gehend, ca. 2*4 m tief auf 
den Erdboden herabrutschte. Naheres iiber die Art des Sturzes, speziell 
dariiber, ob er mit dem Kopfe aufgeschlagen ist, ist aus den Akten nicht 
ereichtlich. Irgend eine offene Wunde scheint er bei dem Unfalle nicht 
davongetragen zu haben, es ist wenigstens in dem Berichte iiber den Unfall 
nifchts davon gesagt und auch nicht erwahnt, dass er geblutet hatte. Nach 
den Angaben des Lademeisters F. und des Arbeiters K. wurde B. von den 
Mitarbeitern aufgehoben imd in die Ar bei terstu be veibracht. Wie lange er 
bewusstlos gewesen ist, ist nicht angegeben. Nachdem B. sich erholt hatte, 
klagte er iiber Kopfschmerzen, nahm aber die Arbeit wieder auf und erschien 
auch am nachsten Tage wieder zur Arbeit. Seiner eigenen Angabe nach 
ist B. am 25. XII. nach Hamburg abgereist, wo er 14 Tage lang bei seiner 
Mutter krank darniederlag. Er war darauf vom 23. I. 1901 bis zum 31. V. 
1902 bei einer hiesigen Fiima beschaftigt, konnte aber nur leichte Arbeiten 
vefrichten. Seitdem war er arbeitsunfahig. Unter dem 8. VII. 1902 wurde 
ein Antrag auf Bewdlligung einer Rente gestellt, eine Anzeige war seinerzeit 
von dem Unfall nicht gernacht worden. 

Der Bahnarzt Herr Dr. W. ausserte sich in seinem Gutachten vom 
6. VIII. 1902 im wesentlichen in nachstehender Weise: KJagen iiber Kopf¬ 
schmerzen und Sehwindel. Magerer, etwas schwerhoriger Mann. Gang lang- 
sam, breitbeinig, etwas schwankend. Stehen bei geschlossenen Augen nicht 
unsicher. Reflexe etwas gesteigert. Pupillen gut lichtempfindlich. Zunge 
nicht zitternd und gerade liegend. Wirbelsaule und Kopf nicht empfindlich. 
Beschrankung der Ei werbsfahigkeit == 75 pCt. Voraussichtlich dauernd 
tell weise erwerbsunfahig. 

Der Herr Sachverstandige stellte zugleich anheim, von den beiden 
Krankenhausern, in welchen B. sich inzwischen aufgehalten hatte, Ausse- 
rungen iiber die dort gemachten Beobacht ungen einzuziehen. 

Das Hafenkrankenhaus berichtete, dass B. als Arrestant vom 18. bis 
20. VI. 1902 zur Beobaehtiing dort gewesen und entlassen sei, da sich Zeichen 
einer Geistesstorung bei ihm nicht bemerkbar gemaclit batten. Er hatte 
angegeben, dass er infolge eines Unfalles im Jahre 1900 haufig an Kopf¬ 
schmerzen und Sehwindel leide. Naheres sei iiber die Unfallfolgen nicht 
bekannt. 

Von dem Allg. Krankenhause St. Georg konnten Angaben iiber den 
Unfall und dessen event. Folgen nicht gemaeht werden. Der damals iiber 
B. gefiihrten Krankengeschichte inoge lolgendes entnommen werden. Auf- 
nahme 25. II. 1901: B. gab an, dass er nach dem Unfall 2 Stunden bewusst¬ 
los dagelegen habe. Er hatte Riickenschmerzen gehabt, eine bestimmte 
Stelle hatte nicht geschinerzt, der Ko])f hatte nicht geschmerzt. Der Unfall 
sei die Ursache auch seines jetzigen Leidens. Seit 14 Tagen sei er schwindlig, 
matt in den Beinen. Schmerzen in der linken Seite. Reflexe gesteigert, 
leichter Patellar- und Fussklonus. Riicken links unten druckempfindlich. 
Unter dem 5. II. heisst os: Schmerzen in der linken Seite geringer, zeitweise 
vollig geschwunden. Sehwindel besteht noch fort. 14. III.: Sehwindel und 
Brustschmerzen verschwunden; geheilt entlassen. Diagnose: Neurasthenie. 

Es wuide darauf das von Herrn Dr. L. unter dem 11. X. 1902 erstattete 
Gutachten eingezogen. Nach demselben hat B. wahrend seines ersten Auf- 
enthaltes im Hafenkrankenhause (18.—20. VI. 1902) bis auf einen etwas 
langsam ablaufenden Gcdankengang etwas Krankhaftes in seinem Geistes- 
zustande nicht dargeboten. Die erneute Beohachtung vom 7.—12. X. 1902 
ergab im wesi*ntlichen: Magerer Mann, der langsam und zogernd spricht. 
auch langsam denkt, aber sonst klar ist. Breitbeiniger, unsicherer Gang. 
Unfahigkeit zur Ausfuhrimg militarischer Wendungen. Starker Romberg, 


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Buchholz , Zur Beurt-eilung der Psychosen nach Unfall. 


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Pupillen gleichweit, trage reagierend. Herabsetzung der Horfahigkeit, links 
alte Tronunelfelldurchbohrung. Keine Narbe oder sonstige Zeichen von 
Verletzungen am Kopfe. Vasomot-orisches Nachroten. Druckempfindlich- 
keit der Wirbelsaule in der Gegend des 9. Brustwirbels. Heiabsetzung der 
groben Kraft der Beine. Lebhaftc Kniescheibenreflexe. Keine Storungen 
der Sensibilitat. 

,,-Das Ergebnis unserer Untersuchung und Beobachtung lasst sich 
dahin zusammenfassen, dass noch Folgen der am 22./2 3. XII. 1900 er- 
littenen V T erletzung vorhanden sind, in Gestalt einer erheblichen Schwdche 
der Beine, verbunden mit einer Steigerung bestiminter Reflexe und einer 
umschriebenen Schmerzhaftigkeit des Riickens. Durch diese Folgen der er- 
littenen Verletzung wird, da B. imstande ist, Arbeiten im Siizen zu verrichten, 
seine Erwerbsfiihigkeit jetzt um 75 pCt. beeintrachtigt. 44 

1903 wurde eine weitere Begutachtung des B. durch Herrn Dr. L. 
herbeigefuhrt, der sich dahin ausserte, dass sich der Zustand des B. ver- 
sehlechtert hat, insofern als die Schwache der Beine zugenommen, und eine 
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit, sowie ein Schwund der Seh- 
nerven hinzugetreten ist. Es handele sich um ein fortschreitendes Nerven- 
leiden; B. sei vollig erwerbsunfahig. 

Im iibrigen moge aus diesem Gutachten hier angefiihrt werden: Klagen 
liber Kopfschmerzen und ein lastiges Gefiihl, als wolle oben aus dem Kopfe 
etwas herausdriingen, Ruckenschrnerzen, Schwindel. Pupillen mittelweit, 
r. weiter als die 1. Reaktion normal. Zunge zittert nicht, weicht etwas nach 
links ab. Klopfempfindliehkeit des Kopfes. Sprache langsam, unbeholfen, 
zuweilen wie abgebrochen. Romberg. Patellarsehnenreflexe verstarkt, 
Achillessehnenreflexe vorhanden, rechts Fussklonus. Deutlich ausgepragter 
Schwachsinn. 

Es wmrde dem B. eine Vollrente zugesprochen. 

Am 28. XI. 1903 liess sich B. in dem Allg. Krankenhaus Eppendorf 
aufnehmen. ZurAnamnese gab er unter anderem an: Er stamme aus gesunder 
Familie und sei nie ernstlich krank gewesen. Getrunken habo er fiir 10 bis 
20Pfg.Schnaps. 1893 Erkrankung an Tripper. 1882 hatte er einGeschwiir am 
After gehabt; er hatte damals haufiger mit Knechten im Stroh zusammen 
geschlafen, moglichorweise seien ihm dabei von den Knechten die Hosen 
ausgezogen und er geschlechtlich missbraucht. Beim Tragen hatte er liber 
Rlicken- und Kopfschmerzen zu klagen. 

Schadcl auf der linken Seite klopfeinpfindlich und hyperasthetisch 
auf Nadelstiche. Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur, Augenbewegungen 
frei. Pupillen gleichweit, mittelweit, reagieren piompt auf Lichteinfall und 
Konvergenz. Linke Pupille etwas entrundet. Zimge zittert beim Hervor- 
strecken. Armreflexe normal, Patellarsehnenreflexe sehr lebhaft, Achilles- 
sehnenreflexe gesteigert, Fussklonus beiderseits angedeutet. Tremor in den 
Handen und Beinen. Romberg sclies Symptom. Sensibilitat soheinbar 
normal. Sprache sehr verwaschen. Silbenstolpern. Er sprach davon, dass 
seine Frau in Braunschweig Hofopernsangerin sei. 9. XII. 1903 Verlegung 
in die hiesige Anstait. 

Ergebnis der korperlichen Untersuchung: In der Mitte des linken 
Schei tel heir res eine ca. 3 cm lange, nicht mit dem Knochen verwachsene 
Narbe; der Knochen ist daselbst etwas eingedriickt. Die Stelle ist hochgradig 
hyper algetisch. 3 cm ab warts davon eine kleine, auf Druck gleichfalls, aber 
weniger, empfindliche Stelle. Eine weitere Narbe 5 cm iiber dem rechten 
Warzenfortsatz. Der Schiidel ist in totoerheblich druck- und klopfeinpfindlich. 
Starres. ausdrucksloses Gesicht. R. Pupille weiter als 1., beide Pupillen nicht 
garxz kreisrund. Augenbewegungen frei. R. Faciaiisgebiet weniger gut 
innerviert als das I. Zunge weicht nach r. ab. Miissig v'iel Hals- und Nacken-, 
keine Leistendrusenhyj>erplasien. Hypospadie; die Harmohre miindet am 
proximalen Drittel des Penisschaftes. Pupillen-Reaktion ausgiebig auf Licht¬ 
einfall und Akkommodation. Hautreflexe und Cremasterreflexe prompt. 
Pateliarsehnen-Reflexe gesteigert, Achilles-elmen-Reflexe vorhanden, rechts 
lebhnfter als links. Tricepsreflex lebhaft. Deutlicher Romberg. Gang un- 

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Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen. nach Unfall. 


sicher, spastisch und ataktisch. Sensibilitatsstorungen nicht nachweisbar. 
Periphere Arterien zum Teil geschlangelt und rigide. Sprache hasitierend 
und artikulatorisch gestort. Schrift etwas unsicher und^zittrig. 

B. erschien geistig geschwacht und vor allem sehr gehemmt, er war 
ruhig und sauber, aber sehr indifferent. Rechnen schwach, konnte vor allem 
keine eingekleideten Aufgaben losen. Er wusste nicht, wie lange er im Eppen- 
dorfer Krankenhaus gewesen war, noch weswegen seine Frau in r Braun¬ 
schweig zuruckgeblieben war. 

Auch in der Folge war er sehr apathisch, er klagte viel liber" Scheitel- 
kopfschmerzen, die auf Druck zunahmen. AIs er im Januar das Bett ver- 
lassen durfte, war er sehr unsicher auf den Fiissen und klagte viel fiber 
Riickenschmerzen, vor allem bei Druck auf die Weichteile links neben dem 
unteren Abschnitte der Brustwirbelsaule. Er war andauernd indifferenter 
Stimmung, apathisch, unfahig zu irgend einer Beschiiftigung. 

Eine Unteisuchung am 18. VI. 1904 ergab: Befund am Schadel und 
Riicken unverandert. Gang sehr unsicher, langsam, spastisch, gelegentlich 
hochgradig ataktische Bewegungen und Taumeln. Allgenieine Hypalgesie. 
Pupillen-Reaktion prompt auf Licht und Akkommodation. Patellar- und 
Achillessehnen-Reflexe gesteigert. Sprache schleppend und verwaschen, 
aber nicht eigentlich artikulatorisch gestort. Augenluntergrund: Venen links 
starker gefiillt als rechts. Beidereits Arterien vielleicht eine Spur enger als 
in der Norm. Papillen graurotlich, kein Farbenunterschied zwischen rechts 
und links. 

B. hatte ein deutliches Krankheitsgefiihl, seine Apathie war etwas 
zuriickgegangen, er beschaftigte sich ein wenig mit Unterhaltungsspielen 
imd unterhielt sich auch einmal mit den anderen Kranken. Er hielt sich 
fiir arbeitsunfahig, war andauernd ruhig und geordnet. Am 12. IX. 1904 
wurde er entlassen. 

Am 4. I. 1907 wurde B. wiederum der hiesigen Anstalt zugefiihrt. 
Ueber sein Ergehen in derZwischenzeit ist nichts bekannt. Den Polizeiakten 
ist zu entnehmen, dass er sich von seinem Vater ernahren liess und sich bis 
auf die letzte Zeit im allgemeinen ruhig verhalten hat, dann aber erregt 
wurde. 

Status somaticus: Hinfalliger, schlecht genahrter Mann, Facialis- 

f ebiet schlaff innerviert. Beide Pupiilen verzogen, etwas zogernd einsetzende 
ichtreaktion. R. Pupille weiter als die linke. Triceps- und Achillessehnen- 
Reflexe lebliaft, Patellarsehnen-Reflexe sehr gesteigert. Keine Blasen- und 
Mastdarmstorungen. Allgemeine Schmerzunterempfindlichkeit. Gang 
spastisch, breitbeinig, kann kaum allein gehen. Sprache verwaschen, aber 
frei von eigentlichen artikulatorischen Storungen; Testworte werden gut 
nachgesprochen. Schrift unsicher, zittrig. 

Dementer, leidender Gesiclitsausdruck. B. war iiber Ort und Zeit 
orientiert, er wusste, dass er bereits einmal hier gewesen war, konnte sich 
aber der Namen nicht mehr eriimern. ,,Er fiihle sich seit Jahren krank. 
hatte unfahig zur Arbeit zu Hause gesessen, sein Vater hatte ihn schon 
Weilinachten gesund machen sollen, wie dies auf seinem Konfirmations- 
schein geschrieben stande; da dies nicht geschehen sei, hatte er seine Uin- 
gebung ofters mit Schlagen bedioht.* 4 Er w T ar apathisch, sein Gesichtskreis 
sehr eingeschrankt, starke Apathie. B. ist ausserordentlich ermiidbar; so 
ist seine Merkfahigkeit zuerst ganz gut, bald aber kann er nicht mehr aui- 
passen, fasst nicht mehr auf und begimit zu faseln. 

Gegeh Ende Januar 1907 zeigte er voriibergehend eine Gehstorung 
vollkommen funktionellen Charakters (Abasie, Astasie). Auch seine Sprach- 
storung hatte insofem eine funktionelle Farbung, als er voriibergehend 
ganz gut sprach. 

In der Folge keine nennenswerte Aendertmg des Verhaltens. Friihjahr 
1907 fiihrte B. zeitweise unsinnige Selbstgesprache und war hin und wiedcr 
erregt; er schrie dann, zerrLss seine Bettwiische und trommelte mit seinen 
Fiissen gegen das Fussbrett seines Bettes* 

Die Inteliigenzstorung nahm im Laufe der Zeit zu, meist vei stand er 
gar nicht mehr die an ihn gerichteten Fragen; seine Stimmung war dabt»i 


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B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 


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andauernd heiter, voi fiber gehend war er euegt und schrie sinnlos vor sich 
hin. Der Kraftezustand ging langsam zurfick, er wurde allmahlich ganz 
hfilflos und schliesslieh vollkommen unsauber bei seinen Bcdurfnissen. 
Ebenso versehlechterte sich seine Sprache. 

Ini Anfange des Jahres 1909 nahm der Verfall einen schnelleren Fort- 
gang. B. hustete viel, er nahm andauernd ab; es stellte sich ein Blasen- 
katarrh ein, Schluckbeschwerden traten ein, die Nahrungsaufnahme wurde 
ungenugend. In den Beinen bildeten sich Kontrakturen aus, sodass die 
Kniee hoch am Korper emporgezogen wurden; er verblodete vollig, so dass 
es schliesslich nicht mehr moglich war, mit ihm in einen geistigen Konnex 
zu treten. Meist war er ruhig und heiter, vorlibergehend stiess er unartiku- 
lierte Laute aus. 

Marz 1909 begann B. starker zu husten; eine Untersuchung war nicht 
moglich, da B. sofort unsinnig zu schreien begann. Am 12. III. 1909 trat 
-der Tod ein. 

Von dem Ergebnisse der am 13. III. vorgenommenen Sektion moge hier 
angefiihrt werden: 

Hochgradig abgemagerte Leiche. Riickenmarkshaute zart, kaum 
verdickt. Hinterstrange vielleicht ein wenig verfarbt. Schadel von ge- 
wohnlicher Grosse. Diploe geschwunden, Dura blass, keine Pachymenin¬ 
gitis, weiche Haute diffus weisslich verfarbt und verdickt. Gefasse der Basis 
zart. Im Gebiet der linken Zentralwindungen und an der linken oberen 
Sehiafenwindung eystische Einsenkungen. Seitenventrikel nicht erweitert. 
Ependvm glatt. Im IV. Ventrikel eine Spur von Ependymitis. Gehirngewicht 
unzerschriitten 1250. zerschnitten 1220 g. 

Herz von normaler Grosse, in der Aorta Spur von Atheromatose. 
In der Spitze der linken Lunge eine kleine Narbe, im Unterlappen diffuse 
kilsige Herde. Der Oberlappen der rechten Lunge ist mit kasigen Herden 
durchsetzt, die iibrigen Lappen weniger stark erkrankt. 

Frontalschnitte durch das Gehirn zeigen, dass die Rinde des Stirnhims 
nicht wesentlich verschmalert ist, wenngleich die einzelnen Gyri nicht ganz 
so breit sind, wie normal. 

Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung: 

Ruckenmark: Die weichen Haute sind in geringem Grade verdickt. 
Zwischen ihren bindegewebigen Zfigeri finden sich an einzelnen, nicht gerade 
zahlreichen Stellen teils in der Xahe von Gefassen, toils in deren adven- 
titiellen Geweben, teils aber auch ohne einen derartigen Zusaminenhang 
Ansammlungen von Zellen, die zu einem kleinen Teile den Charakter von 
Plasmazellen an sich tragen. Xirgends prasentieren sich Bilder, wie sie bei 
der sogenannten kleinzelligen Infiltration anzutreffen sind. Die Gefasse 
weisen auch sonst nur sehr geringe Veranderungen auf. Nur an sehr wenigen 
Stellen, so in der Arter. spin. ant., ist auf kurze Streeken. eine immer aber nur 
mini male Verdickung der Intima festzustellen. Die Wandungen einzelner 
Gefasse zeigen die Erscheinungen der hyalinen Degeneration, ein Gefass 
war sogar vollkommen hyalin degeneriert, sein Lumen war geschwunden. 
seine Wandungen in gleichmassige, konzentrisch angeordnete hyaline 
Masson umgewandelt. 

Li den IPen/err-Praparaten fallt ohne weiteres eine starke Degeneration 
in dem Gobiete der Vorder-Soitenstrtinge auf. Wahrend die Hinterstrange 
tiefschwarz erscheinen, ist das ganze Gebiet der Yorder-Soft oust range etwas 
hell und in ihm das Areal der Pyramiden-Seitenstrange, ho wie die Kandzone 
von den Hinterwurzeln an bis fiber das Gebiet des Tract, spino-cerebellar. 
ant. hinaus fast lveiss. Dabei spring! die Degeneration in dem Rayon des 
Tract, spino-cerebellar. ant. nach dem Zentrum zu vor, so dass diese Strange 
in ihrer ganzen Ausdehnung erkrankt erscheinen. (Fig. 1 und 2.) 

Van G ieson- Pr a par ate zeigen. dass an dieser so ausgedehnten De¬ 
generation zwei Prozesse beteiligt sind. die an ihren Grenzen allerdings in- 
einander iiberfliessen. Einmal handelt es sich um eine Randgliose, die im 
Gebiet der Hinterstrange sehr gering ist, zentralwarts von den Hinterwurzeln 
sehr machtig wird, um dann waiter nach der vorderen Riickenmarksspalte 


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t> Buchholz, Zur Beurteilung dcr Psychosen nach Unfall. 

zu beinahe vollstandig zu schwinden. Da, wo diese Randgliose einiger- 
massen stark entwickelt ist, findet sich ein dichtes Netz von derben Glia- 
fasern. welchem Kerne nur in geringer Zahl angelagert sind. In diesem 
Netze sind nur noch vereinzelte Nervenfasern aufzufinden. Wie iminer 
in derartigen Fallen, ist die Wucherung der Glia an der Peripherie am 
starksten und dringt von ihr aus in Pyramidenform an den einzelnen Septen 
entlang nach dem Zentrum des Riickenmarks vor. Schwer verstandlich ist es 
dass dieser Prozess irn Gebiet des Tract, spino-cerebellar. ant. so weit zentral- 
warts vorgeschritten ist, so dass man auf den ersten Blick eine primare De¬ 
generation dieses Stranges vor sich zu haben glaubt. Gegen die Annahine 
einer Strangdegeneration spricht aber einmal die Art der Gliawucher ungen, 
dann aber auch der Umstand, dass auch hier die Starke der Gliawucherung 
von der Peripherie nach dem Zentrum an Intensitat abnimmt. Es diirfte 
sich also auch hier nur um eine Randgliose handeln, die, ebenso wie den 
Tract, spino-cerebellar. ant., auch den Tract, spino-cerebellar. poster. — die 
Kleinhirnseitenstrangbahnen — zui Degeneiation gebracht hat. 

Die Erkrankung im Areal der Pyr. S. St. bietet dagegen das Bild 
jenes Degenerationsvorganges, in welchem, wie z. B. bei den absteigenden 
Degenerationen, die Veranderung der Nervenfasern das Primare und die 
Gliawucherung das Sekundare ist. So ist im Gebiet e der Pyr. S. St. die Glia 
allerdings auch gewuchert, sie erscheint jedoeh nicht annahernd so derb 
wie in der Randgliose und enthalt reichiich Kerne. Vielfach trifft man hier 
auf junge, wuchernde Gliazellen. Die Nervenfasern sind hier zum Teil bereits 
vollkommen zugrunde gegangen, zum Teil sind ihre Markscheiden und 
Achsenzylinder gequollen oder lassen sonstige Erscheinungen des Zei falls 
erkennen. (Schlangelung der Achsenzylinder, korniger Zerfall der Aehsen- 
zylinder, Hineinwuchein von Gliazellen in den Raum der Markscheide etc.) 

Die Lichtung in den iibrigen Gebieten der Vorder-Seitenstrange ist, 
wie die van Qwson -Praparate gleichfalls zeigen, darauf zuriickzufuhren, 
dass zerstreut Fasern zugrunde gegangen oder in Entartung begriffen 
sind und sich eine geringe Vermehrung der Glia entwickelt hat. 

Mit am auffallendsten sind in den van 6'ieson-Praparaten die Yer- 
anderungen an den Gefassen. Die Wandimgen beinahe samtlicher Gefasse 
sind in mehr oder minder starkem Grade verdiekt, wodurch die Gefasse 
scharf hervortreten. Infolge dieser Wandverdickung heben sich auch die 
kleineren Gefasse scharf von ihrer Umgebung ab, sodass es den Anschein 
gewinnt, als ob auf den einzelnen R. M.-Querschnitten viel mehr Gefasse 
als in der Norm vorhanden sind. Diese Zunahme der WancLstarke ist dabei 
nicht sowohl durch Wucher ungen der Intima und Adventitia als vielmehr 
durch eine Dickenzunahme der Muscularis bedingt. Diese hebt sich zudeni 
dadurch scharf ab, dass sie den der hyalinen Degeneration eigenen Glanz 
erkennen lasst. Vereinzelt liegen mehrere Gefassquerschnitte, teils als 
Ringe, teils als mehr oder minder langliche Ellipsen, hart nebeneinander 
und sind von einer gemeinsamen verdiehteten Gliahiille umgeben. Es kann 
sich bei diesem Befunde nur darum handeln. dass die Gefasse sich aufge- 
knauelt haben und so mehrfach auf den Querschnitten erscheinen. Dieselbo 
Erscheinung ist im Gehirn, und zwftr viel haufiger und in ausgedehnterer 
Weise zu beobachten, worauf hier gleich hingewiesen werden mag. In der 
Umgebung der im allgemeinen mit Blut stark angefiillten Gefasse sind 
wohl ofters mehr Zellen als in der Norm anzutreffen, nirgends aber bietet 
sich ein der kleinzelligen Infiltration ahnliches Bild dar. 

Dagegen finden sich an nicht zahlreichenStellen zerstreut in der weissen 
und grauen SubstanzAnsammlungen von meist elliptischen oder auch runden 
Kernen, die sich tief dunkelblau far ben. Diese Kerne liegen nicht dicht 
beieinander, sondern sind meist durch schmale Briicken nicht weiter ver- 
anderten Gewebes voneinander getrennt, so dass sie lockere Haufen bilden. 
Entsprechende Kernsammlungen sind im Gehirn und auch im Kleingehirn 
anzutreffen; ich werde spater naher auf dieselben eingehen. (Fig. 3 graue 
Substanz des r. Vorderhorns. Van Gic^on-Pra[>arat.) 

Gehirn: Die weichen Haute bieten im wesentlichen den gleichen Be¬ 
hind wie die Haute des Riickenmarks. Sie zeigen eine gewissc Verdiekung 


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B u c h h o 1 z , Zur Beurt ©iking der Psychosen imcli Unfall. 7 

und sind an den verschiedensten Stellt n von Ansnmmlungen von bald me hr 
runden, bald inehr kubischen oder langlichen Zellen durchsefczt, von welehen 
eine gewisse Zahl bei geeigneter Farbung die Charakteristika der Plasma- 
zellen aufweist. Zu betonen ware bier, dass sich eine miissige Anhaufung 
von Zellen oder gar eine sogenannte kleinzellige Infiltration nirgends findet, 
und dass die pathologisehen Veranderungen iiber dem Stirnhirn erheblich 
schwacher sind als iiber dein hinteren Teile des Hirns und speziell iiber 
den Hiiiterhauptslappen. Ebenso zeigten auch die Gefiisse im wesentlichen 
dassell>e Bild wje die Gefasse der Kiickenmarkshaute. auch hier fand sieh 
eine Zahl mehr oder minder stark hyalin entarteter Arterien. 

JFeiVjrert-Praparat© liessen einen iiber den ganzen Hirnmantel - es 
wurden Stuck© aus dem Stirnhirn, den Zentralwindungen und Hinterhaupts- 
lappen untersueht •— ausgebreiteten geringen Aunfall von markhaltigen 
Nervenfaaem erkennen, der besonders das intra- und supra-radiare Netz 
l>etraf, wahrend die Tangentialfasem relativ gut erhalten waren. Hervor- 
gehoben soi dass auch im Stirnhirn Gyr. rect. I. Frontalwindung, Stirn- 
pol — von einein erheblichen Faserschwunde nichts zu erkennen war. Ebenso 
war ein nennenswerter Ausfall von Fasern im Markweiss nicht zu kon- 
statieren, wenngieich die Markstrahlung in einzelnen Windungen nicht so 
dicht war wie ini normalen Gehirn. Ein zirkumskriptei starker Ausfall 
von Nervenfasern war dagegen im 1. Hinterhauptslappen aufzufinden. Auf 
Schnitten, die den 1. Hinterhauptslap|>en senkrecht durchsetzten, hob sich 
nach aussen und dicht neben dem hier nur noch spaltformigen End© des 
Hinterhorns, ahnlich gebogen wie dieses, ein heller Streif ab, der somit im 
wesentlichen in das Gebiet der Kadiat. occipito-thalamic. imd vieileicht 
auch noch zum Teil in das des Fasc. longitudinal, inferior hineinfiel. 

An dieser Stelle, die auch am geharteten Piaparat auffallend weich 
war, hatte sich, wie dies van 6te*on-Praparate zeigten, ein schwerer Krank- 
heitsprozess abgespielt. Die Nervenfasern waren hier zum grossten Teil zu- 
grunde gegangen, das gauze Gebiet war von grossen. zum Teil rundlichen, 
zum Teil unregehnassig gestaJteten Zellen eingenommen. Diese Zellen 
hatten me 1st einen sehr grossen Kern. Ein Teil von ihnen wies regressive 
Veranderungen auf, ihr Protoplasma hatte sich nicht mehr gut gefarbt, 
erschien nicht gleichmassig, vielfach sogar kriimelig; ihre Kerne waren blass, 
manchmal nicht mehr scharf begrenzt. In der Mehrzahl der Zellen handelte 
es sich sicher uin gewueherte Gliazellen, hatten sie doch auch zum Teil das 
Aussehen der sogenarmten Gitterzellen. Eine Keihe dieser iiberaus zahl- 
reichen Zellen mag wohl auch von einer Proliferation der Zellen der 
adventitiellen Scheiden herriihren. Gerade in dieser zirkumskript erkrank- 
ten Zone waren vielfach Gefasse aufzufinden, deren Scheiden sozusagen 
mit Zellen austapeziert waren; an so manchen Stellen liess sich sogar 
erkennen, dass einzelne der wuchernden Zellen noch mit dem Bindegewebe 
der Gefassscheide in Verbindung standen. An einzelnen Stellen innerhalb 
dieser Partie war eine Struktur des Gewebes iiberhaupt nicht mehr zu er¬ 
kennen, es war das Gewebe hier zerfallen, erweicht. 

Im iibrigen zeigten auch die van Gieson- Praparate, dass der ganze 
Gehimmantel krankhaft affiziert war. Es handelte sich uberall um den 
gleichen Prozess. der aber in den verschioctenen Gegenden eine verscliieden 
starke Intensitiit aufwies. und — es entspricht dies vollkommen dem an 
den IFettferf-Praparaten erhobenen Befunde — im Hinterhauptslappen 
starker entwickelt war, als iiber dein Stirnhirn. 

Ueberall war es zu einer Wucherung des Stiitzgewebes gekommen, die 
sich, wie auch sonst bei ahnlichen Prozessen, besonders in der obersten 
Hindenschicht am stiirksten bemerkbar machte. Hand in Hand mit dieser 
Wucherung der Glia ging eine Vennehrung der Gefiisse. Es liess sich mit 
Leichtigkeit in den Schnitten eine Neubildung von Gefassen in der be- 
kannten Sprossen- und Schlingenbildung nachweisen. Auch sonst waren 
die Gefiisse in ihrer Mehrzahl pathologisch veriindert. Im wesentlichen 
handelte es sich um die gleichen Piozesse wie bei den Gefassen des Riieken- 
inarks, es zeigte jedoch im Gehirn die Muscularis der Gefiisse nicht an- 


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8 Buchliolz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

nahernd so stark die Neigung zu hyalinen Veranderungen. Sehr zahlreich 
war im Gehirn die bei der Beschreibung des Riickenmarks erwahnte Knaue- 
lung der Gefasse. Eine grosse Zahl von Gefassen wies auch insofern Veran¬ 
derungen aul, als ihr ardventitielles Gewebe Wucherungsvorgange erkennen 
liess und von einer bald grosseren, bald kleineien Zahl von Zellen durch- 
setzt war, von welchen eine gewisse Menge die Merkmale der Plasmazellen 
an sich trug. Nicht selten war auch die Umgebung der Gefasse mit Zellen 
durchsetzt. Immer aber erreichten diese Zellwucherungen nieraals einen be- 
sonders hohen Grad. (Fig. 4 Gyr. rectus. Fig. 5, Sehrinde. Van Gieson- 
Farbung). 

Ebenso wie in derRinde, war auch in dem Markweiss eine Wucherung 
dei Glia nicht zu verkennen, es fanden sich hier alle die verschiedenenUeber- 
gange von jungen, noch mehr rundlichen Exemplaren von Gliazellen bis zu 
den Formen der friiher als Spinnenzellen ganz treffend bezeichneten Gebilde. 
Die Gefasse des Markweisses zeigten, wenn auch im schwacheren Masse, 
die den Veranderungen der Rindengefasse entsprechenden Prozesse. 

Liessen bereits die van Gieson -Piaparate erkennen, dass es zu einer 
weitverbreiteten Erkiankung der Nervenzellen gekommen war, so zeigten 
dies noch deutlicher die Nissl- Piaparate. In diesen liess sich nachweisen, 
dass nur eine kleine Zahl von Zellen vollkommen der Norm entsprach, 
wahrend das Gros der Zellen allerlei Veranderungen aufwies, auf die hier 
nicht naher einzugehen sein diirfte — Verwaschung der typisehen Zeichnung. 
Kornelung. Sklerosierung - -. Zu einem vollkommenen Untergange und 
Schwunde von Rindenzellen ist es jedoch sicherlich nur in sehr beschranktem 
Masse gekommen, da von einer Verodung der Rinde von Zellen nichts wahr- 
zunehmen war. Vor allem aber konnte in den Nissl -Praparaten nach- 
gewiesen werden, dass die Anordnimg und Lagerung der Zellen irgend welche 
besonderen Storungen nicht erfaliren hatte. Es wiesen vielmehr die Zellen 
iiberall — ich botne dies besonders fiir das Stirnhirn — die der Norm eigen- 
tiimliche Anordnung in Zellen- re-p.Reihenform auf. (Fig. 6, Gyr. frontalis I. 
Fig. 7, Sehrinde.) 

Wie bereits erwahnt, finden sich auch im Gehirn jene eigenartigen 
Ansammlungen von Keinen reap. Zellen, und zwar sehr viel haufiger im 
Mark weiss als in der Rinde. Ein Teil dieser Zellen war rundlich, mit grossem. 
bald mehr, bald weniger tiefdunkel gefarbtem, manchmal etwas gelapptein 
Kern, so dass sieeineAehnlichkeit mit ausgewanderten weissenBlutkorperchen 
hatten. Bei einer Reihe anderer Zellen handelte sich es um grosse Zellen 
mit reichlichen Protoplasma, allem Anschein nach also um wuehernde 
Gliazellen reap. Abkdmmlinge mesodermalen Gewebes, also der Gefass- 
scheiden, Einzelne, aber immer nur eine beschrankte Zahl dieser Zellen 
eiwiesen sich bei geeigneter Farbung als Plasmazellen. Im allgemeinen 
liess sich eine Beziehung dieser locker aneinander gelagerten Zell-Ansamm- 
lungen zu den Gefassen nicht herausfinden; sie waren nur selten in derNahe 
grosserer Gefasse anzutreffen. Viele waren, wie dies bei ihrer Ausdehnung 
nicht anders zu eiwarten ist, zwar von Kapillaren durchzogen oder lagen 
in der Nahe von Capillaren oder kleineien Gefassen, es liess sich aber auch hier 
ein Zusammenhang zwischen diesen und den Zell-Ansammlungen nicht 
entdecken. « 

Ueber das Ergebnis der Untersuchung des Kleinhirns kaim ich mich 
ganz kurz fassen. Es fanden sich im wesentlichen normal© Verhaltnisse vor, 
aber auch hier waren im Markweiss jene eigenartigen Zellansaminlungen 
zu konstatieren, einmal wurde auch eine derartige Zellanhaufung in der 
obersten Rindenschicht des Kleinhirns aufgefunden. 

Ueber das Ergehen und den Gesundheitszustand des B. vor 
dem Unfalle ist nichts bekannt. Ob er syphilitisch infiziert war, 
wissen wir nicht. Seiner etwas phantastischen Angabe, dass er als 
Junge im Jahre 1882 — geboren 1867 — bei paderastischen Akten 
infiziert worden sein konnte, mochte ich eine Bedeutung nicht bei- 
legen, zumal er. als er diese Angabe machte —1903—. geistig bereits 


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!5 it <• h li o 1 z . Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 9 

geschwacht war, so dass er bei einer etwas energischen Aufnahme 
der Anamnese sehr leicht zu einer derartigen Aeusserung kommen 
konnte. Aus der Kinderlosigkeit seiner Ehe konnen irgendvvelche 
Schliisse nicht hergeleitet werden. da sie ohne weiteres auf die 
Missbildung seines Penis zuriickgefiihrt werden kann. Es bleibt 
daher die Frage offen, ob B. syphilitisch infiziert gewesen ist. Die 
neuerdings bekannt gewordenen Untersuchungsmethoden (Wasser- 
manwsche Reaktion) zum Nachweis einer derartigen Infektion 
konnten bei B. noch nicht herangezogen werden. 

Auch liber den Unfall ist nur wenig bekannt. Wir wissen nur, 
dass B. ca. 2 1 * hinabgestiirzt und bewusstlos gew r esen ist. Wie 
lange die Bewusstlosigkeit angehalten hat, ist unbekannt; seiner 
Angabe nach ware er 2 Stunden bewusstlos gewesen. Jedenfalls 
hat er. da die Bewusstlosigkeit eine geraume Zeit angehalten hat, 
eine Hirnerschiitterung erlitten. Aeussere Verletzungen hat B. bei 
dem Sturze allem Anscheine nach nicht davongetragen. Aufzu- 
klaren war nicht. wo und wann er die Kopfverletzungen erlitten 
hat. deren Folgen in der Gestalt von Narben hier in der Anstalt zu 
konstatieren w'aren. Wenn nicht, was kaum anzunehmen ist, die 
Narben bei der Untersuchung im Hafenkrankenhaus (Gutachten 
vom 11. X. 1902) ubersehen worden sind, miisste B. in der Zeit 
zwischen seiner Aufnahme in das Hafenkrankenhaus und in die 
hiesige Anstalt — 9. XII. 1903 — diese Verletzungen davongetragen 
haben. Als ein ursachliches Moment fur die Erkrankung des B. 
konnen sie nicht in Betracht kommen, da die ersten Axizeichen 
seiner zum Tode fiihrenden Erkrankung bereits vorher konstatiert 
w'aren. 

Die Symptome eines schweren Nervenleidens haben sich bei B. 
schleichend entwickelt, sie setzten alsbald nach dem Unfall ein und 
nahmen langsam, aber stetig an Intensitat und Umfang zu. 

Am Tage nach dem Unfall nahm B. die Arbeit wieder auf, 
arbeitete nur kurze Zeit, ging dann zu seiner Erholung zu seinen 
Kltern, um dann nach mehreren Wochen von neuem mit der Arbeit 
anzufangen: er konnte aber nur leichte Arbeiten verrichten; 
ca. 17 Monate nach dem Unfall wurde er arbeitsunfahig. In dieser 
Zeit war er voriibergehend in dem Hafenkrankenhause und dem 
Allg. Krankenhause St. Georg. In den Krankenhausern hat er be¬ 
reits angegeben, dass er infolge eines Unfalles erkrankt sei, und 
hat u. a. iiber Schmerzen und Schwindel, sowie iiber Schwache in 
den Beinen geklagt. Damals wurde bereits eine Steigerung der 
Reflexe an den Unterextremitaten und ein Patellar- und Fussklonus 
konstatiert; Erscheinungen, welche auf eine Affektion der Seiten- 
strange des Riickenmarks hinw'eisen. Da damals ein Antrag auf 
Rente noch nicht vorlag. erscheint es ausgeschlossen, dass B. 
simuliert oder seine Leiden iibertrieben hatte. 

Von dem mit der Untersuchung des B. beauftragten Herrn 
Dr. W. wurde gleichfalls eine Reihe von Svmptomen festgestellt. 
die auf eine Affektion des Nervensystems hinwiesen. 


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10 B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung <ler Psyehosen nacli Unt'all. 

In dem vonHerrnDr. L. imOktoberl902 erstatteten Gutachten 
wird bereits eine Storung der psychischen Funktionen erwahnt 
und bemerkt, dass bei B. schon im Juni 1902, also vor der Stellung 
des Antrages auf Rente, eine Verlangsamung des Gedankenablaufes 
aufgefallen sei. In dem Gutachten des Herrn Dr. L. ist dann 
bereits eine Reihe ganz ausgesprochener Symptome einer organi- 
schen Erkrankung des Zentralnervensystems angefiihrt: Druck- 
empfindlichkeit der Wirbelsaule, Herabsetzung der Kraft der 
Beine, Unsicherheit des Ganges und bei Ausfiihrung schneller 
und exakter Bewegungen, Steigerung der Patellarsehnenreflexe, 
Rombergsches Symptom, Tragheit der Pupillenreaktion, keine 
S ensibilitdtsstdrungen. 

Eine Zunahme und das Hinzutreten einiger weiterer Krank- 
heitssymptome — Erkrankung der Sehnerven — konnte Herr 
Dr. L. im nachsten Jahre konstatieren. Von dem sonstigen da- 
maligen Befunde mag hier nosh erwahnt werden: Klagen fiber 
Kopfschmerzen, eigenartiges Gefiihl im Kopfe, Schwindel, Klopf- 
empfindlichkeit des Kopfes. 

Der im November 1903 in dem Allg. Krankenhause Eppendorf 
erhobeneBefund deckt sich im wesentlichen mit dem in der hiesigen 
Anstalt gewonnenenUntersuchungsresultate: Hyperalgesie iiber dem 
linken Scheitelbein, Druck- und Klopfempfindlichkeit des ganzen 
Schadels, Gesicht ausdruckslos, Verschiedenheit in der Weite der 
Pupillen, Schwache im rechten Facialisgebiet, Steigerung der 
Patellarsehnenreflexe, Rombergsches Symptom, Sprache gestort. 
Schrift zittrig, Gang unsicher, spastisch, atrophische Prozesse 
an den Sehnerven. RensihilUdtsstdrungen nicht nachiveisbar . 

Diese somatisehen Krankheitserscheinungen haben im Laute 
der Zeit stetig zugenommen. 1907 war B. ein hinfalliger Mann. 
Sein Gesiehtsausdruck war dement, leidend, die Gesichtsmuskulatur 
sehlaff, wenig gut innerviert, die Pupillen verzogen,trage reagierend. 
verschieden weit; sehr starke Steigerung der Patellarsehnenreflexe. 
Breitbeiniger, spastischer Gang, Sprache verwaschen. aber nicht 
eigentlich artikulatoriseh gestort. Schrift unsicher, allgemeine 
Schmerzunterempfindlichkeit. Keine Blasen- und Mastdarm- 
storunqen. 

Gegen Ende des Lebens bildete sich schliesslich noch eine 
starke Kontraktur der Beine aus. 

Voriibergehend traten zu diesen organisch bedingten Storungen 
funktionelle, psychogene Symptome, so jene voriibergehende 
Astasie und Abasie. 

Hand in Hand mit dieser Zunahme der somatisehen Symptome 
nahmen die psychischen Storungen andauernd an Intensitat und 
Umfang zu. Bei seiner ersten Aufnahme in die hiesige Anstalt 
bereits erschien B.. bei welchem, wie erwahnt, bereits vorher 
Anomalien auf geistigem Gebiet zur Beobachtung gekommen 
waren. geistig geschwacht. Vor allem war er in krankhafter Weis e 
indifferent und interesselos; er fasste schwer auf, seine Merk 


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H u c h h o I z . Zur Heurteiluiig dor Psychoseii nach Unfall. 


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fahigkeit war in erheblichera Grade beeintrachtigt. Auffallend war. 
dass B. dabei andauernd ein lebhaftes Krankheitsgefiihl hatte. 
Dieses bestand auch noch nach seiner zweiten Aufnabme in die 
hiesige Anstalt im Jahre 1907 fort, die Apathie batte dagegen sehr 
zugenommen, zudem war er geistig ganz ausserordentlicb erraiidbar. 
Damals machte sich dannauchbereitseineschwereUrteilsunfahigkeit 
bemerkbar. B. faselte bereits vielfach vollkommen sinnloses Zeug. 
Grossenideen ausserte er dabei nie, hochstens konnte seine ge- 
legentliche Angabe, dass seine Frau als Opernsangerin in Braun¬ 
schweig geblieben sei, in diesem Sinne verwertet werden. Ebenso 
fehlten hypochondrische oder Kleinheitsvorstellungen. Das 
psvchische Yerhalten des B. war dabei andauernd durch gewisse 
eigenartige Ziige ausgezeichnet. So erschien er infolge seiner 
Apathie meist geistig viel geschwachter, als er war, so gelang es auch 
in spateren Stadien seiner Erkrankung noch oft, wenn er einmal 
aus seiner Apathie herauszubringen war, ganz zutreffende Ant- 
worten von ihm zu erhalten. Sodann hatte er auch, als sein Leiden 
schon sehr weit vorgesehritten war, immer noch ein ausgesprochenes 
Krankheitsgefiihl und ein erhebliches Verstandnis fur seine Lage. 
Erst in seinen letzten Lebensjahren entwickelte sich bei ihm eine 
vollkommene Verblodung, aber auch in dieser Zeit bot er immer 
noch manches Eigenartige dar; so war sein Gesicht zwar blode, 
batte aber doch nicht ganz die absolute Leere so mancher anderer 
vollverblodeter Kranken, speziell nicht die Charakteristika des 
Aussehens paralvtisch Kranker in den letzten Stadien. 

Dass es sich bei B. um eine schwere organische Erkrankung 
des Zen trainer vensystems handelte, kann nach dem ganzen 
klinischen Bilde nicht bezw r eifelt werden. Es weist hierauf, abgesehen 
von den korperlichen Krankheitssymptomen, auch die Art der 
Verblodung hin. Klar war ohne weiteres auch, dass nur ein sehr 
langsam fortschreitender Prozess diffuser Art in Frage kommen 
konnte, da sich die Krankheitserscheinungen so ausserordentlich 
langsam entwickelten und irgendwelche Herdsymptome nicht zur 
Beobachtung kamen. Es konnte somit bei den diagnostischen 
Erorterungen eine ganze Reihe von Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems ohne weiteres ausser Betracht bleiben. Es konnte 
sich hochstens um einen sich ausserordentlich langsam entw ickeln- 
den Tumor, etwaeinGliom,umeineohneLokalerscheinungeneinher- 
gehende Lues cerebri, um eine eigenartig verlaufende Arterio- 
sklerose, um eine Dementia paralytica oder um eine sonstige, nicht 
naher bekannte organische Erkrankung des Zentralnervensystems 
handeln. Dass ein langsam wachsender Tumor vorliegen konnte, 
war durchaus unwahrscheinlich, da nicht nur alle Herdsymptome 
fehlten, sondern auch keine fiir die Diagnose eines Tumors ver- 
wertbaren Allgemeinsvmptome — Hirndruckerscheinungen, Puls- 
verlangsamung, Stauungspapille, die den Tumorkranken eigenen 
psychischen Symptome — vorhanden waren. Ebenso musste auch 
die Annahme, dass eine Lues cerebri oder eine Arteriosklerose dem 
Leiden zugrunde lage, von der Hand gewiesen werden, da diese 


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B u c h h o 1 z . Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 


Erkrankungen kaum einmal Herdsymptome vermissen lassen und 
auch sonst in ihrem Verlaufe so manches von dem vorliegenden 
Krankheitsbilde Abweichendes darbieten. Es spitzt sich somit 
die Frage dahin zu, ob wir bei B. eine Erkrankung an Dem. pa¬ 
ralytica (Gehirnerweichung) oder eine andere, eventuell durch das 
Trauma ausgeloste, vorlaufig pathologisch-anatomisch noch nicht 
naher definierbare Affektion des Nervensystems vor uns haben. 

Ohne Frage findet sich bei B. eine ganze Reihe von Sym- 
ptomen, die sich mit dem Bilde der Dem. paralytica wohl vereinigen 
lassen; so ist denn auch in dem Allg. Krankenhause Eppendorf 
und auch hier zuerst diese Diagnose gestellt worden. Sieht man. 
aber genauer zu, so trifft man immer wieder auf einzelne Er- 
scheinungen, die zu dem Bilde der Dem. paralytica nicht so recht 
passen. So fallt schon der langsame Verlauf der Krankheit auf; wir 
haben allerdings gerade in den letzten Jahren so manche Erkran¬ 
kungen an Paralyse kennen gelernt, die erst nach einer noch er- 
heblich langeren Krankheitsdauer zum Ende fiihrten, immerhin 
jedoch gehort es zu den Ausnahmen, dass die Kranken ihrem 
Leiden erst 8 Jahre nach dem Beginne der Erkrankung erliegen. 
Meist handelt es sich zudem in diesen so iiberaus langsam ver- 
laufenden Erkrankungen um als aszendierende oder Tabes-Para- 
lysen bezeichnete Formen, bei welchen, nachdera lange die Sym- 
ptome der Hinterstrangerkrankung bestanden haben, erst spat die 
sonstigen korperlichen Krankheitserscheinungen und die Symptome 
auf psychischen Gebiete einsetzen. Um eine derartige Paralyse 
handelte es sich bei B. sicherlich nicht, da bei ihm gerade die Sym¬ 
ptome der Seitenstrangerkrankung von Anfang an das Bild be- 
herrschten. Sodann fallt es auf, dass die Erscheinungen der Seiten- 
strangdegeneration bereits so ausgesprochen waren, als sich auf 
psychischem Gebiete die ersten Aberrationen bemerkbar machten. 
Sehr bemerkenswert war weiterhin, dass Hinterstrangsymptome 
eigentlich iiberhaupt nicht zur Beobachtung gekommen sind. So 
ist immer wieder in der Krankheitsgeschichte betont, dass Sen- 
sibilitats-, sowie Blasen- und Mastdarm-Storungen nicht zu kon- 
statieren waren. Die fiir die Annahme einer Hinterstrangerkran¬ 
kung zu verwertenden Angaben iiber Unsicherheit bei Bewegungen 
und die vereinzelt und wohl nicht ganz treffend als ataktische 
Storungen bezeichneten Erscheinungen lassen sich aber ebenso 
gut auf die Seitenstrangerkrankung zuriickfiihren. Dasselbe gilt 
von dem im allgemeinen durchaus korrekt als Hinterstrangsymptom 
gedeuteten Romberg&chen Symptom, da auch dieses Auftreten 
anders, namlich durch eineErkrankung derKleinhirnseitenstrange— 
Tract, spino-cerebellar. post — erklart werdeii kann. Ebensowenig 
ist — um dies nur zu erwahnen — die gegen Ende des Lebens auf- 
tretende Unsauberkeit in dieser Richtung zu verwerten, da letztere 
auf die vollige Verblodung des Kranken zuriickzufiihren sein diirfte. 

Aehnlich verhalt es sich mit dem zuletzt sich entwickelnden 
Blasenkatarrh, da derartige Storungen bei lange Zeit bettlagerigen, 
hochgradig dekrepiden, auf die Befriedigung ihrer Bedurfnisse 


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Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 13 


nicht mehr achtenden Kranken eich sehr leicht einstellen. Dieses 
Fehlen der Hinterstrangsymptome ist aber einmal deswegen von 
so grosser Bedeutung, weil auf die Seitenstrange des R. M. voll- 
kommen beschrankt bleibende R. M.-Degenerationen bei der 
Dem. paralytica iiberhaupt selten sind, dann aber sich eigentlich 
nur in den Fallen vorfinden, die relativ friih zum Exitus fuhren. 
Bei B. handelte es sich aber gerade urn eine sehr langsam ver- 
laufende Erkrankung, so dass sich dieses Fehlen der Hinterstrang- 
erscheinungen mit der Diagnose Dementia paralytica nicht recht 
vereinen lassen will. 

Dasselbe gilt von dem spaten Einsetzen der psychischen 
Krankheitserscheinungen, worauf schon vorher hingewiesen ist, 
von den lebhaften subjektiven Klagen in der ersten Zeit der Er¬ 
krankung, dem lange anhaltenden Schwindelgefuhl und dem auch 
in den spateren Stadien der Erkrankung noch fortbestehenden 
Krankheitsgefiihl. Im einzelnen, glaube ich, hierauf im Hinblick 
auf die vorstehend gegebenen ausfiihrlichen Schilderungen nicht 
weiter eingehen zu miissen. 

Nicht unerwahnt mochte ich in dieser Beziehung auch die 
noch so lange nachweisbare Hyperalgesie der 1. Schadelhalfte 
lassen. Es muss hierbei freilich bemerkt werden, dass es nicht aus- 
geschlossen ist, dass diese Ueberempfindlichkeit vielleicht mit der 
spater erlittenen Kopfverletzung in Zusammenhang stehen konnte. 

Auffallend ist auch die Form der Sprachstorung; dieselbe ist 
zwar von einzelnen Seiten als artikulatorisch bezeichnet worden, 
an anderen Stellen ist aber eigens betont, dass eine eigentliche 
artikulatorische Sprachstorung nicht vorlag. Ich selbst, der ich 
mich mit B. sehr viel beschaftigt habe, kann nur sagen, dass eine 
Sprachstorung vorhanden war, die aber anders war als die bei 
der Dem. paralytica gewohnlich anzutreffende. Gleiches gilt von 
der in der Krankengeschichte erwahnten Schreibstorung. 

Andererseits fehlt bei B. eine ganze Reihe von Symptomen. 
die wir sonst bei der Dem. paralytica anzutreffen pflegen. So ist 
nichts davon bekannt, dass B. jemals einen jener der Dem. paraly¬ 
tica eigentiimlichen apoplektiformen resp. epileptiformen Anfalle 
erlitten hat. Jedenfalls ist er in der langen Zeit seines hiesigen 
Aufenthalts — rund 3 Jahre — niemals von einer derartigen Attacke 
heimgesucht worden. 

Ebenso haben auch Erregungszustande, wie sie sonst bei einer 
langeren Krankheitsdauer immer einmal zur Beobachtung kommen 
und so oft gerade im Beginne des Leidens sich bemerkbar machen. 
bei B. niemals bestanden. Ich sehe dabei ab von den Zustanden 
bidder Erregung in der allerletzten Krankheitsperiode,, die zwar 
mit ahnlichen Zustanden bei der Dem. paralytica vieles gemeinsam 
hat, aber doch fur dieses Leiden nicht so pathognomonisch ist, wie 
d ie manieartigen Erregungen in den f riiheren Stadien der Erkrankung. 
So fehlte denn auch die der Dem, paralytica eigene krankhafte 
Euphorie in dem Krankheitsbilde des B.; auch sie kam erst zur 


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14 B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

Becbachtung, als er vollig verblcdet war, und lasst sich nicht ver- 
gleichen mit jener Euphorie, die so oft in dem Friihstadium der 
Dem. paralytica anzutreffen und fiir den Kranken und seine Um- 
gebung oft so verliangnisvoll ist. Hand in Hand damit geht wohl 
auch der Mangel an Ueberschatzungsideen. Desgleichen vermissen 
wir auf der anderen Seite bei B. die Verstimmungen und die mit 
ihnen so oft einhergehenden nihilistischen resp. hypochondrischen 
Vorstellungen; es fehlt auch der fiir die Dem. paralytica so 
charakteristische Stimmungswechsel, der die Kranken so haufig, 
wie Kinder, in dem einen Augenblick lachen und in dem nachsten 
weinen lasst. 

Bemerken mochte ich schliesslich noch, dass auch die Art, 
in welcher B. schliesslich verblodete, manches Abweichende von 
dem Bilde der Dem. paralytica darbot. So war ganz ausserordentlich 
lange Zeit seine intellektuelle Leistungsfahigkeit resp. die Beschran- 
kung seiner Leistungsfahigkeit im wesentlichen durch seine schwere 
Indifferenz, seine starke Ermiidbarkeit bedingt, und auch in den 
spateren Stadien seines Leidens konnte er, wenn es ihn aufzu- 
riitteln gelang, noch immer leidlich gut auffassen und urteilen. 
Ich kann freilich hier nicht verhehlen, dass bei der Beurteilung 
dieser Erscheinungen der personliche Eindruck sehr viel ausmacht, 
da es nicht recht moglich ist, alle diese feinen Unterschiede so zu 
beschreiben, dass der Leser sich ein vollkommen klares Bild machen 
kann. Es verhalt sich dies ahnlich wie — um hierauf noch zuriick- 
zukommen — mit der Beurteilung des Gesichtsausdruckes. Auch 
von ihm kann ich nur sagen, dass er etwas anderes war, als wir ihn 
gewohnlich bei paralytisch Kranken sehen; im einzelnen diese feinen 
Nuancen anzufiihren, vermag ich freilich nicht.. 

Alle diese Erwagungen haben mich bereits frtiher zu der An- 
nahme gefiihrt, dass es sich bei B. nicht um eine Dem. paralytica 
handelt, sondern um eine andersartige, chronische, durch den 
Unfall bedingte diffuse Erkrankung des Zentralnervensystems. 
In diesem Sinne ist denn auch die Krankengeschichte des B. von 
einem hiesigen Arzte, Herrn Dr. //ascAe-Kliinder, in einer Arbeit 
,,Uber atypisch verlaufende Psychosen nach Unfall“‘) aufge- 
nommen worden. Es muss dabei freilich zugegeben werden, dass ein 
stringenter Beweis dafiir, dass eine Dem. paralytica nicht vorliegt, 
nicht zu erbringen war, sodass es sich nur um eine Wahrschein- 
lichkeits-Diagnose handeln konnte. 

Leider hat auch die anatomische Untersuchung, wie gleich 
hier erwahnt sein mag, vollige Klarheit nicht schaffen konnen. 

Es liegen hier die Verhaltnisse in vieler Beziehung ahnlich 
wie bei der klinischen Beurteilung des Krankheitsfalles. Eine 
ganze Reihe von Veranderungen gleichen in weitgehendem Masse 
den bei der Dem. paralytica zur Beobachtung kommenden Pro- 
zessen, wahrend eine Anzahl anderer bei diesem Leiden kaum 
einmal oder wenigstens nur hochst selten vorkommen. 

') Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 11. 


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B u c h h o 1 7 . , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 15 

Der Befund am Schadel bietet nichts besonders Bemerkens- 
wertes. Pachymeningitische Prozesse waren nicht vorhanden, ein 
Befund, der nicht fur die Annahme einer Dem. paralytica spricht, 
da in derartig lang verlaufenden Fallen die harten Hirnhaute 
meist auch von krankhaften Prozessen ergriffen sind. Die weichen 
Hirnhaute waren getriibt und hydropisch; sie boten ein Aussehen, 
das gut zu dem Bilde der Dem. paralytica passt; auffallend war 
jedoch, dass die Trubung sich auch tiber die Hinterhauptslappen hin 
erstreckte, die bei der Dem. paralytika fast immer vollkommen 
frei von derartigen Prozessen bleiben. 

Das Gehirngewiclit war reduziert — nor males Hirngewicht 
des Mannes nach Schwalbe 1375 g — aber doch nicht so niedrig, 
wie wir es bei Paralytikern nach so langen Stadien der Erkrankung 
anzutreffen pflegen. Diesem durch die Gewichtsabnahme be- 
kundeten Untergange von Substanz entsprach es, dass die Win- 
dungen eine Verschmalerung und eine Reihe von zirkumskripten 
Einsenkungen zeigten. Sehr auffallend ist es dabei, dass die Win- 
dungen des Stirnhirns von dieser Reduktion durchaus nicht be¬ 
sonders stark betroffen waren. Gerade sie sind es aber, die bei der 
Dem. paralytica im allgemeinen von diesem Schwunde am starksten 
heimgesucht werden. Aehnliches gilt von dem Fehlen der Er- 
weiterung der Seitenventrikel und der Ependym-Granulationen 
in den Seitenventrikeln, sowie der so geringen Entwicklung der 
Ependymitis granularis im 4. Ventrikel, Veranderungen, die bei 
der Paralyse nach so langem Bestehen der Erkrankung kaum ein- 
mal vermisst werden. 

Ebenso stimmen auch die mikroskopisch nachweisbaren 
Veranderungen mit dem gewohnlich bei der Dem. paralytica zu 
erhebenden Befunde nicht recht uberein. Die Verdickung der 
weichen Haute des Gehirns und des Riickenmarks war nicht so 
hochgradig w ie bei dieser Erkrankung, und auch ihre Durchsetzung 
mit Zellen und vor allem die Infiltration um die Gefasse herum 
nicht so stark wie bei der Dem. paralytica. Dass auch hier Plasma- 
zellen nachgewiesen werden, moge an dieser Stelle nur erwahnt 
werden, ich werde auf das Vorkommen dieser Zellen und seine 
Bedeutung sogleich zuriickkommen. Die Gefasse der weichen H aute 
waren zart und liessen endarteriitische Wucherungen kaum einmal 
erkennen; ebenso w f ar es nicht zu starkeren Wucherungen des 
adventitiellen Gew'ebes gekommen. Nicht mit dem iiblichen Befund 
bei der Dem. paralytica stimmt es uberein, dass eine nicht uner- 
hebliche Zahl von Gefassen hyaline Veranderungen aufwies. 

Das eben Ausgefiihrte gilt in gleicher Weise fiir die Gefasse 
des Gehirns und des Riickenmarks. Auch hier fanden sich in den 
Gefassscheiden und in der Umgebung der Gefasse, aber auch frei 
im Gewebe Plasmazellen vor. Das reichliche und diffuse Vor- 
kommen dieserZellenformen ist in gewdssemSinne pathognomonisch 
fiir die Dem. paralytica; es diirften diese Zellen, wie vor allem 
Xi-sd und Alzheimer nachgewiesen haben, nie bei dieser Erkran¬ 
kung vermisst werden. Auf der andern Seite ist aber das Vor- 


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1(5 Buchliolz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

handensein dieser Zellformen, das im wesentlichen ein Ausdruck 
fiir das Bestehen eines chronischen oder subakuten entziindlichen 
Prozesses ist, nicht auf die Dem. paralytica beschrankt, aller- 
dings — ich mochte in dieser Hinsicht nur auf die neuerdings er- 
schienene Arbeit von Behr ») hinweisen — finden sich diese Zellen 
dann nicht so zahlreich und in so diffuser Ausbreitung vor. Be- 
raerken mochte ich dabei aber auch gleich, dass diese Unter- 
suchungen samtlich erst neueren Datums Bind und diese Fragen 
mithin noch einer definitiven Entscheidung harren. Ich glaube 
daher, dass der vorliegende Befund nicht ohne weiteres zu dem 
Schlusse drangt, dass hier eine Dem. paralytica vorliegen miisse. 

Auf die eigenartige, an einzelnen Stellen nachweisbare Auf- 
knauelung der Gefasse glaube ich hier nicht weiter eingehen zu 
miissen, da sie weder nach der einen noch nach der anderen 
Richtung hin verwertbar ist. 

Eine weitere Veranderung aber, die stets bei der Dem. para¬ 
lytica anzutreffen ist, wurde auch bei B, aufgefunden. Es ist dies 
die Neubildung von Gefassen, ein Befund, der, soweit ich sehen 
kann, von mir 2 ) zuerst erhoben und von anderer Seite, vor allem 
von Nissl 3 ) und A Izheimer 3 ), bestatigt ist. Aber auch von ihm gilt im 
wesentlichen das oben Gesagte; es handelt sich um einen Prozess, 
der bei der Dem. paralytica nie vermisst wird, aber auch, 
wenngleich seltener, bei anderen krankhaften Prozessen innerhalb 
des Zentralnervensystems vorkommt. 

Gleichfalls nicht vollkommen stimmen iiberein mit den Be- 
funden bei der Dem. paralytica die bei B. erweisbaren Prozesse 
an dem Stiitzgewebe. Allerdings ist es auch hier ebenso wie bei 
der Dem. paralytica, zu einer Wucherung der Glia gekommen; 
diese Wucherung halt sich aber in relativ becheidenen Grenzen 
und hat auf jeden Fall nicht annahemd eine Starke erreicht, wie sie 
nach einem so langen Bestehen einer Erkrankung an Dem. paraly¬ 
tica zu erwarten ware. 

Die Nervenzellen der Hirnrinde waren grosstenteils krankhaft 
verandert, es war jedoch, was bei der Dem. paralytica nach einem 
so langen Bestehen der Erkrankung eigentlich immer der Fall 
ist, nicht zu einem ausgedehnten, vollkommenen Untergange von 
Zellen gekommen. So fanden sich hier in der Rinde nicht Stellen 
vor, an welchen von Ganglienzellen iiberhaupt nichts mehr zu ent- 
decken war. Hiermit und mit der doch immer beschrankten Wuche- 
rung der Glia und den gegemiber der Paralyse nur massig starken 
Prozessen an den Gefassen hangt es denn auch zusammen, dass die 
Nervenzellen der Rinde im wesentlichen ihre normale Anordnung 
beibehalten habcn. Bei der Dem. paralytica ist nun aber die 


l ) fiber die Bedeut-ung der Plasmazellen fiir die Histopathologie der 
progressive!! Paralyse. Allg. Zeitsclir. fur Psychiatrie. Bd. 66. 

*) Verhandlungen des Xatur-historischen Med. Vereins zu Heidelberg 
N'. F. Bd. 4. 1S8S. 

*) Histologische und histopathologisehe Arbeiten iiber die Gross- 
liirnrimle, berausgegebeix von A iissl. Bd. J. 1904. 


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B u c h li o 1 z , Zur Beurteilung der Psychoaen nach Unfatl. 17 

normaler Weise vorhandene gleichmassige Anordnung der Zellen 
in schwers ter Weise gestdrt.indem dieZellen nicht nur ihre der Norm 
entsprechende Anordnung in Zeilen- und Reihenform verlieren, 
sondern aueh ihre normale, senkrecht zur Rindenoberflache ge- 
richtete Lagerung einbiissen, vielfach schief liegen und manchmal 
sogar wie durcheinandergewirbelt erscheinen. 

Sodann mochte ich einen Punkt noeh besonders hervorheben. 
Im allgemeinen ist bei der Dem. paralytica die Ausbreitung des 
krankhaften Prozesses derartig, dass die pathologischen Ver¬ 
anderungen in den vorderen Partien des Gehirns, speziell im Stirn- 
hirn, am starksten entwickelt sind und nach dem Hinterhauptpol 
zu an Intensitat abnehmen; so sehen wir denn auch gar nicht selten, 
dass die weichen Haute iiber den Hinterhauptslappen und die Rinde 
des Occipitalgebiets von Veranderungen vollkommen frei sind, 
wahrend sich in den vorderen Hirnpartien bereits schwere Prozesse 
etabliert haben. So ist denn auch bei der Dem. paralytica der 
Schwund der Rindenfasern in dem Stirnhirn sehr stark, wahrend 
in den Hinterhauptslappen kaum etwas von einem Untergange 
dieser Fasern zu entdecken ist. Bei B. finden wir nun aber gerade 
ein entgegengesetztes Verhalten: bei ihm sind gerade die vorderen 
Partien des Gehirns von den krankhaften Prozessen weniger in 
Mitleidenschaft gezogen als die Hinterhauptslappen. Schon ein 
Vergleich der beigegebenen Fig. 4 und 6 auf der einen und 5 und 7 
auf der anderen Seite diirfte dies erkennen lassen. 

Schliesslich ware auch von jenen vorstehend geschilderten 
haufenartigen Ansammlungen von Zellen im Riickenraark und 
Gehirn zu sagen, dass sie sich den uns bekannten Befunden bei der 
Dem. paralytica nicht recht einreihen lassen. Wohl kennen wir 
Zellinfiltrationen der Paralyse in der Umgebung der Gefasse, es 
handelt sich dann aber immer um Stellen, in weichen die Gefasse 
selbst, vor allem ihre adventitiellen Scheiden, eine Wucherung 
erkennen lassen, auch ist dann die Ansammlung der Zellen er- 
heblich dichter, als in dem vorliegenden Falle. 

Jenem in dem Hinterhauptslappen gefundenen Herde mochte 
ich bei der Beurteilung eine weniger grosse Bedeutung beilegen, 
da es sich bei ihm um eine relativ frische Veranderung handelt 
und schliesslich ja auch bei der Dem. paralytica einmal ein kleinerer 
Erweichungsherd auftreten kann. 

Recht wesentlich wichen auch die Veranderungen im Riicken- 
mark von dem fur die Dem. paralytica charakteristischen Befunde 
ab. Die Seitenstrangerkrankung allerdings war von derselben Art, 
wie sie bei der Dem. paralytica vorkommt; nicht zu dem Bilde 
der Dem. paralytica passt aber die starke Randgliose, die 
zu den erheblichen Degenerationsvorgangen in den der Ober- 
flache anliegenden Strangen gefiihrt hat. Ahnliches gilt von den 
Gefassen des Riickenmarks. Als hochst auffallend muss aber be- 
zeichnet werden, dass die Hinterstrange des Riickenmarks von 
Veranderungen frei geblieben sind. Es ist bereits bei derBesprechung 
der klinischen Symptome darauf hingewiesen worden, dass bei der 

Monataschrift ffir Paychiatrie and Neurologic. Bd. X XVII Heft 1 . 2 


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18 Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 

Paralyse, wenn sie langer besteht, so gut wie regelmassig sowohl 
die Hinter-, als auch die Seitenstrange, wenn auch in verschiedener 
Starke, krankhaften Prozessen anheimfallen. Es muss daher als 
nicht recht veroinbar mit der Annahme einer Paralyse bezeichnet 
werden, dass die Hinterstrange von Veranderungen frei sind. 

Alle diese Erwagungen lassen meines Erachtens nur den 
Schluss zu, dass es sich bei B. um eine Erkrankung handelt, die 
gegen die Dem. paralytica abgegrenzt werden kann. Es hat diese 
Erkrankung alsbald nach dem Trauma eingesetzt und sich dann 
schleichend weiter entwickelt. Es lasst sich somit eine Kette von 
krankhaften Vorgangen von dem nach dem Trauma anhebenden 
Beginne der Erkrankung bis zu den schwersten Stadien des Leidens 
und dem Tode nachweisen. Es muss daher angenommen werden, 
dass die mit dem Trauma in Zusammenhang stehende Erkrankung 
den Tod des B. herbeigefiihrt hat. 

Wenn ich hier zu diesem Schlusse komme, bin ich mir wohl 
bewusst, dass unsere Erfahfungen auf diesem Gebiete noch recht 
beschrankt sind. Immerhin jedoch liegen bereits einige Befunde 
vor, die dazu ermutigen, eineAbtrennung derartiger, nach Traumen 
auftretenden und langsam zu einer Verblodung fiihrenden Er- 
krankungen gegeniiber der Paralyse zu versuchen. Wenn es auch 
an dieserStelle nicht angebracht erscheint, auf die iiber diese Frage 
erwachsene Literatur einzugehen, so mochte ich doch auf die bereits 
etwas alteren Arbeiten von Koppen 1 ), auf die zusammenfassende 
Abhandlung von Kolpin 1 ), sowie auf die neueren Arbeiten von 
Weber und von Yoshikatoa*) imd Weygcmdi*) hinweisen. 

Wie aber, wenn meine Anschauung unhaltbar ware ? Wiirde 
dann ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tode des 
B. abzulehnen sein ? Ich glaube nicht. Nach dem ganzen klinischen 
Verlaufe und dem anatomischen Befunde kann es sich bei B., 
wenn eine besondersartige, durch dasTrauma ausgelosteErkrankung 
nicht vorliegt, nur um eine Dem. paralytica handeln; irgendwelche 
andere Erkrankungen kommen auf Grund des klinischen und ana¬ 
tomischen Befundes nicht in Frage. 

Gerade die Untersuchungen der letzten Jahre haben mit un- 
anfechtbarer Sicherheit nachgewiesen, dass ein Zusammenhang 
zwischen der Syphilis und der Dem. paralytica besteht, dass 
Individuen, welche an Paralyse erkranken, syphilitisch infiziert 
gewesen sind. Es konnte somit scheinen, als ob die Frage, ob eine 
Paralyse durch ein Trauma bedingt sei, uberfliissig sei. Es ist 
dies meines Erachtens jedoch keineswegs der Fall. Wenn auch die 
Durchseuchung einer Person mit Syphilis die conditio sine qua 
non fur die Entwicklung einer Paralyse ist, so ist damit doch nicht 
gesagt, dass die syphilitische Infektion die einzige und alleinige Ur- 
sache fur die Entstehung dieses verheerenden Leidens ist. Wir 
wissen, dass von der grossen Zahl syphilitisch Infizierter — bei der 

■) Arch. f. Psych. Bd. 22. 

*) Sammlung klinischer Vortrage (Volkmanna Sammlung). No. 4! 

:1 ) Allgem. Zeitsclir. f. Psych. Bd. 6. 

4 ) Ueber Begutachtung irn Falle von Trauma nach Paralyson. Mit- 
/cihingen aus den Hamburgischen Stnafskrankenanstalten. Bd. S. 


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Tafel I—11. 




* Co.. Ber|in. ;; tj^ed by 


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Verlag von S. Karger in Berlin. 

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Buchholz , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 19 

Unmoglichkeit der Zahlung der syphilitisch Infizierten ist ee 
ausgeschlossen, irgend welche Verhaltniszahlen zu berechnen — 
nur ein kleiner Bruchteil paralytisch wird und dass in gewissen 
Gebieten, in welchen die Syphilis sehr haufig ist, die Paralyse nur 
sehr selten auftritt. Es muss daher noch einEtwas geben,das auf dem 
durch die Syphilis vorbereiteten Boden die Paralyse entstehen lasst. 
Es will mir daher, obgleich ich sehr skeptisch inbezug auf den Zu- 
sammenhang zwischen Trauma und Paralyse bin, nicht einleuchten, 
dass in bestimmten Fallen ein schweres Trauma nicht dieses Etwas 
sein soil. Hiiten wird man sich freilich miissen, dass man nicht 
Ursache und Wirkung verwechselt; ich kenne wenigstens eine ganze 
Reihe von Kranken, bei welchen der Unfall durch einen paraly- 
tischen Anfall oder durch die Storungen auf motorischem Gebiete 
undAehnliches hervorgerufen wurde. Dass B. bereits vor dem Unfall 
krank war, ist nicht anzunehmen; es ist wenigstens nichts bekannt, 
was hierauf hinwiese. Bei B. haben sich die ersten Symptome 
des Leidens nicht lange nach dem Unfall bemerkbar gemacht; 
deutliche oder schwerere Krankheitssyptome sind jedoch nicht 
sogleich nach dem Trauma aufgetreten, so dass man nicht aus der 
Starke der Symptome, wie in manchen anderen Fallen, den Schluss 
ziehen kann, dass die Erkrankung schon langer, also vor dem Un¬ 
fall, bestanden haben miisste. Schliesslich scheint mir aber auch 
noch der Umstand sehr fur einen Zusammenhang seines Leidens 
mit dem Unfalle zu sprechen, dass, wenn bei B. iiberhaupt eine 
Paralyse vorliegt, es sich bei ihm um eine sogenannte atypische 
Paralyse handelt. Ich habe vorher alle die Griinde eingehend an- 
gefiihrt, welche mich zu der Annahme fiihrten, dass bei B. iiber- 
haupt keine Paralyse, sondem eine andersartige Erkrankung vor¬ 
liegt; im wesentlichen dieselben sind es, die, bei Ablehnung meiner 
Annahme, darauf hinweisen, dass das Leiden des B. den atypischen 
Formen der Dem. paralytica einzureihen sei. Ich mochte in dieser 
Beziehung hier nur nochmals auf die Verteilung in der Starke 
des krankhaften Prozesses fiber den Hirnmantel hinweisen. Wahrend 
wie bereits mehrfach erwahnt, bei der typischen Dem. paralytica 
die vorderen Partien des Gehirns am starksten und die Hinter- 
hauptslappen am schwachsten erkrankt sind, machen sich gerade 
bei der atypischen Paralyse Abweichungen von dieser Art der Aus- 
breitung der krankhaften Veranderungen geltend. Welche Ursachen 
diese von dem gewohnlichen Typus abweichenden Formen der 
Paralyse auslosen, ist, soweit ich sehen kann, nicht bekannt; es 
miissen hierfiir irgendwelche ursachlichen Momente massgebend 
sein; dass unter ihnen gerade das Trauma eine Rolle spielt, ware 
sehr wohl moglich, aber, wie gesagt, ist hieriiber nichts bekannt. 
Wie dem auch sei — selbst, wenn angenommen wird, dass bei B. 
eine Dem. paralytica vorliegt, wird aus alien den angefiihrten 
Griinden, wenn nicht mit Bestimmtheit, so doch mit einer an Ge- 
wissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden 
miissen, dass seine Erkrankung und somit sein Tod auch Folge 
des Unfalles vom 22./23. XII. 1900 sind, dass dieser Unfall somit 
den Tod des B. verursacht hat. 


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20 


Straussler, Ueber zwei weitere Falle 


(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.) 

Ober zwei weitere Falle von Kombination eerebraler, 
gummoser Lnes mit progressiver Paralyse nebst Beitragen 
zur Frage der „Lues cerebri diffusa“ and der „luetischen 

Encephalitis 4 *. 

Von 

Priv.-Doz. Dr. ERNST STRAUSSLER 

k. and k. Regimen ts&rzt. 

(Hierzu Taf. Ill—V). 

Seit Dezennien nimmt die Diskussion der Beziehungen zwischen 
Lues und Paralyse einen breiten Raum in der psychiatrischen 
Literatur ein; die Wahl der ,,Lues-Paralysefrage“ als Referat- 
thema der diesjahrigen Versammlung des Deutschen Vereins fur 
P8ychiairie beweist, dass der Gegenstand noch nichts an Interesse 
eingebiisst hat. 

Die Beobachtung zweier neuer Falle von progressiver Para¬ 
lyse mit tertiar-luetischen Erscheinungen im Gehim gibt mir 
Gelegenheit, ankniipfend an meine im XIX. Bd. H. 3 dieser Zeit- 
schrift gemachte Veroffentlichung 1 ), einige dort beriihrte Fragen, 
welche fiir die Lehre der progressiven Paralyse einerseits und der 
Lues cerebri anderseits und in zweiter Linie fiir deren gegenseitige 
Beziehungen von wesentlichem Interesse sind, nochmals einer ent- 
sprechenden Wiirdigung zu unterziehen. 

Nach den Errungenschaften der letzten Jahre auf dem Gebiete 
der pathologischen Anatomie und Histologie der progressiven 
Paralyse konnte man sich der Hoffnung hingeben, dass hinsicht- 
lich des pathologisch-anatomischen Begriffes der progressiven 
Paralyse allgemeine Klarheit Platz gegriffen hat und kein Zweifel 
mehr beziighck der Abgrenzung von anderen Krankheitsprozessen 
obwalten kann. Man konnte erwarten, dass das Bild der Paralyse 
auch gegeniiber der Himlues so ausreichend fixiert ist, dass eine 
Konfundierung unmoglich ward. 

Der Begriff der „diffusen Himlues“ miisste durch die aus dem 
Studium der Anatomie der progressiven Paralyse gewonnene 
Erkenntnis, dass ein Unterschied zwischen „syphilitischer“ und 
,,nicht syphilitischer** Paralyse'nicht besteht, als willkurliche Kon- 
struktion erkannt und dementsprechend aus dem Inventar der 


*) Straussler, Zur Lehre von der miliaren disseminierten Form der 
Himlues und ihrer Kombination mit der progressiven Paralyse. 


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von Kombination cerebrnler, gummoser Lues etc. 


21 


Wissenschaft ausgemustert werden. Alzheimer l ) hat schon im Jahre 
1906 die Frage in diesem Sinne behandelt und die Notwendigkeit, 
mit dem Begriffe der ,,diffusen Hirnlues** zu brechen, hervorge- 
hoben. Wir werden uns noch mit der Art der Entstehung dieses 
Begriffes zu beschaftigen baben und hoffen dessen Haltlosigkeit 
ins rechte Licht zu setzen. 

Die ,,diffuse cerebrale Hirnlues“ treibt nocb immer ihr Un- 
wesen in der Literatur und gibt zu Konfundierung der Hirnsyphilis 
mit der Paralyse Anlass. Ein Beispiel dieser Art bildet wieder eine 
im Jahre 1907 erschienene Arbeit von Ladarne *), welche sich mit 
der Differentialdiagnose zwischen Paralyse und der diffusen cere- 
bralen Lues beschaftigt und von unzutreffenden Anschauungen 
hinsichtlich des klinischen Bildes der Paralyse ausgehend den Be- 
griff der diffusen Hirnlues von neuem durch Aufstellung von Merk- 
malen zu stiitzen sucht, die sicher nicht in Gegensatz zu Befunden 
bei der progressiven Paralyse gestellt werden konnen. 

Die Frage der diffusen cerebralen Lues zeigt auch in einer 
besonders augenfalligen Weise, dass die Klinik der Paralyse von 
den Fortschritten der anatomiscben Erkenntnis noch nicht allzu- 
viel gewonnen hat. Das in der gesamten Pathologie geltende 
Prinzip, den anatom ischen Befund zur Grundlage der Bewertung 
der klinischen Krankheitsbilder zu machen, muss doch auch in 
der Psychiatrie dort Anwendung finden, wo uns anatomische 
Befunde zu Gebote stehen. Bei der Paralyse sind wir in der gltick- 
lichen Lage, das anatomische Substrat zu kennen, und es ist not- 
wendig, den klinischen Begriff dem anatomischen Befunde anzu- 
passen. 

Diese Anschauung, welche sich insbesondere aus den Arbeiten 
von Nissi und Alzheimer ergab, kleidete ich in meiner friiheren 
Arbeit in die Worte: ,,.... So ist es schon heute sicher, dass es 
andererseits notwendig wird, eine Anzahl von .unklaren Fallen* 
dem anatomischen Befunde nach als zur Paralyse gehorig an- 
zuerkennen und das klinische Symptomenbild der Paralyse ein- 
zuverleiben.“ Die scharfe Umgrenzung des anatomischen Befundes 
setzt uns in die Lage, Abweichungen vom klinischen Bilde richtig 
zu bewerten und muss uns davor schiitzen, fur derartige Falle 
eine ganz vage, einer anatomischen Grundlage entbehrende Er- 
klarung zu suchen, wie es noch immer mit der ..Lues cerebri 1 * 
geschieht. 

Indes hat sich Fischer in seinem Referate zur Jahresversamm- 
lung des Deutschen Vereins fur Psychiatrie besonders prazise fur 
die Notwendigkeit eingesetzt, den klinischen Begriff der Paralyse 
dem anatomischen Begriffe unterzuordnen; diese Auffassung 


l ) Alzheimer , Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progr. 
Paralyse. Histnl. u. histopath. Arbeiten liber die Hirnrinde, herausgeg. 
von Fr. Nissi. Bd. I. 

*) Ladame . Quelques considerations sur la syphilis cer6brale diffuse. 
L Enc£phale. 2. ann£e. 1907. 


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22 Straussler, Ueber zwei weitere Falle 

setzt ihn in die Lage, unsere klinischen Kenntnisse der Paralyse 
in wertvoller Weise zu bereichern. 

Hinsichtlich der in der Literatur benchteten Falle von ,,dif¬ 
fuser" oder gummoser Himlues mit einem paralys eahnlicken 
Krankheitsbild, welche in ihrem weiteren Verlaufe sich derart 
prasentierten, dass von der Paralyse in der typischen Form gar 
keine Abweichung mehr bestand, sprach ich friiher die Vermutung 
aus, dass es sich in derartigen Beobachtungen nicht selten um eine 
Kombination von spezifisch syphilitischen Prozessen und para- 
lytischer Erkrankung handeln konnte, gerade so wie in meinen 
damals publizierten Fallen. 

Diese Anschauung findet nun eine Stiitze einerseits in den 
beiden neuen Beobachtungen, welche ich hier zu schildern beab- 
sichtige, und anderereeits in den in der Literatur niedergelegten 
Erfahrungen der letzten Jahre hinsichtlich der Kombination von 
gummosen Prozessen mit progressiver Paralyse. 

Wahrend dieses Zusammentreffen in fruherer Zeit als eine 
Seltenheit gegolten hatte, verfiigen wir nun schon iiber eine recht 
stattliche Zahl solcher Beobachtungen. Es liegt auf der Hand, 
dass die haufigere Veroffentlichung derartiger Kombinationen 
nicht etwa darauf beruht, dass diese jetzt haufiger sind als friiher; 
die Erklarung liegt vielmehr darin, dass man sich gegenwartig 
einerseits nicht an der Konstatierung des syphilitischen Prozesses 
zur Erklarung des klinischen Befundes Geniige sein lasst, ohne 
das ganze Zentralnervensystem einer genauen Untersuchung zu 
unterziehen, und dass mananderseits auch imstande ist, mitSicher- 
heit den histologischen Prozess der Paralyse zu erkennen. 

Was die Aehnlichkeit des klinischen Bildes der „diffusen 
Himlues" mit dem der Paralyse betrifft, so deuteten wir weiter 
damals an, dass die Kongruenz der Krankheitsbilder in einer 
grossen Zahl einschlagiger Falle auf sehr einfache Weise dadurch 
erklart sei, dass in den als ,,diffuse Hirnlues" publizierten Fallen 
gar keine „Lues“, sondern Paralyse mit Herderscheinungen vorge- 
legen hatte. 

Unsere Beobachtungen von Kombination von Syphilis des 
Gehims mit progressiver Paralyse erhalten nun auch schon durch 
ihre Zahl ein besonderes Gewicht. 

Wenn wir die Erfahrungen der pathologischen Anatomen 
hinsichtlich des Vorkommens von Gummen im Gehirne in Betracht 
ziehen — Heller 1 ) hat gefunden, dass nur bei 2 pCt. Syphilitischer 
Syphilome im Gehim vorkommen, Rosenberger 1 ) konnte unter 
2500 Sektionen nur viermal gummose Prozesse im Gehirn nach- 
weisen —, so sind unsere Befunde, welche unter etwa 130 genauer 
untersuchten Paralysen viermal eine gummose Erkrankung des 
Gehims aufdeckten, geradezu uberraschend. 


*) Zit. n. Benda . Aneurysms und Syphilis. Verhandlungen d. Deutsch. 
Path. Gesellsch. VII. Tagung Kassel 1903. 


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von Kombintxtion cerebraler, gummoser Lues etc. 


23 


Beriicksichtigen wir noch weiter, dass miliare Gummen von 
der Art, wie wir sie in den friiheren zwei Fallen beschrieben haben 
— die gleiche Form findet sich in einem der nun zu berichtenden 
Falle —, bei der iibliehen Metkode der Untersuchung, welche sich 
auf kleine Scheibchen verschiedener Rindengegenden beschrankt, 
in anderen Fallen unseres Materials iibersehen worden sein konnten, 
so wachst noch die Bedeutung der sich uns bietenden prozentu- 
ellen Verhaltnisse. 

Nur nebenbei sei auf den Wert hingewiesen, welcher diesen 
Befunden gegemiber dem von den Gegnem der Syphilisatiologie 
der Paralyse geitend gemachten Argumente, dass am Sektions- 
tische bei den Paralytikem so selten spezifisch syphilitische Pro- 
zesse angetroffen werden, zukommt. 

Aus der Eigenart unserer Beobachtungen, deren Beschreibung 
nun hier Raum finden soil, wird sich die eingehendere Erorterung 
einiger einschlagiger Fragen ergeben. 

I. F. V., 40jahr. Postbediensteter, wurde der Klinik am 15. III. 1906 
iibergeben, am 16. III. auf Wunsch der Angehorigen entlassen, am 17. III. 
1906 neuerlich eingeliefert. 

Der Anarnnese nach geht der Beginn der Erkrankung auf den Anfang 
des Jahres 1905 zuriick. Laut amtlicher Mitteilung fiel er zuerst durch seine 
Oereiztheit auf, welche zu verschiedenen Differenzen, ja auch Konflikten mit 
seinen Vorgesetzten fiihrte. Auch in seinen Leistungen trat eine ungiinstige 
Veranderung ein, und da er sich iiberdies vom ganzen Personate verfolgt 
glaubte, wurde er versetzt. 

Auf seinein neuen Dienstposten versah er bis zum 15. III. 1906 den 
Dienst. An diesem Tage wurde er von der Polizei wegen seines auffalligen 
Benehmens festgenommen. Auf einem der belebtesten Stadtplatze setzte 
er sich auf den Gehweg und achtete nicht der sich um ihn ansammelnden 
Volksmenge. 

Seiner Frau erschien er erst seit etwa drei Wochen — vom Datum der 
Aufnahme an die Klinik — durch seine unsinnigen Reden auffallig. 

Er sprach von Jesus, betete gegen seine sonstige Gewohnheit sehr viel, 
in den letzten Tagen ununterbrochen, sammelte Knopfe und sagte, es seien 
kleine Tierchen. 

Vor etwa einer Woche, wahrend er mit seiner Frau sprach, stockte er 
plotzlich und vermochte durch 10 Minuten kein Wort hervorbringen. 

Seit drei Wochen isst Pat. viel und muss haufiger als friiher die Urin- 
entleerung besorgen. 

Fur eine luetische Infektion sind aus den Angaben der Frau keine An- 
haltspunkte zu gewinnen. Pat. selbst gibt Schanker und Schmierkur zu. 

Ein 8jahriger Sohn, welcher aus dieser Ehe stammt, leidet an ,,An- 
fallen 44 . 

An der Klinik ergibt die korperliche Untersuchung: Schlaffer Gesichts- 
ausdruck; Pupittendiffcrenz , R > L, erstere lichtstarr , letztere trage auf 
Licht reagierend, an beiden prompte Konvergenz- und Akkommodations- 
reaktion. Facialisdifferenz zu ungunsten der linken Seite, Zunge zeigt 
fibrillare Zuckungen und weicht nach rechts ab. Tremor der Hande, PcUel - 
larreflexe beiderseits<7e«tet^ert, Achillessehnenreflex rechts deutlich schwacher 
als links. 

Sprache stockend , bei Probewortern stolpornd. Sclirift unbeholfen, 
Andeutung von Tremor, hie und da Verwechslung von Buchstaben. 

Am Tage der Aufnahme ist er sehr unruhig, spricht immerfort in ideen- 
fliichtiger Weise, gestikuliert dabei lebhaft, jeden Augenblick briillt er 
,.Halloh“, ,,telephoniert“ an den Statthalter; dann glaubt er wieder beim 


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24 


Stra ussier, Ueber zwei weitero Falle 


Statthalter zu sein, ist kaum fixierbar; singt, schreit und larmt die gauze 
Nacht, erst gegen den Morgen schaft er ein. 

Am nachsten Tage ist er angstlich, weinerlich, weiss nicht, wie er her- 
gekommen ist und bittet, entlassen zu werden, damit er nicht um die Stel- 
lung komme. Ist ziemlich besonnen, im wesentlichen orientiert, glaubt 
ge8tern abends in die Anstalt gekommen zu sein, wahrend er tatsachJich 
um 2 Uhr nachmittags aufgenommen wurde. Abspringender Gedankengang, 
keine Krankheitseinsicht. Rechenaufgaben werden sehr langsam, aber meist 
richtig ausgefiihrt. 

Zu Hause war er nicht zu halten; er warf alles durcheinander, ziindete 
im Zimmer Holz an, steckte die Schuhe, um sie zu putzen, ins Wasser, 
wollte die Mobel zerschneiden, war sehr unruhig. 

Wieder in die Anstalt gebracht, trifft er allein den Weg zur Klinik, 
erkennt seine Warter. Verhalt sich ruhig und schlaft die ganze Nacht. 

In den nachsten Tagen bietet er ein maniaches Znstandsbild, Bewegungs- 
drang, Euphorie, Ideenflucht, und produziert massenhaft Grossenideen: 
Er werde einen Palast in der Mitte Prags hineinbauen. einen Kranken macht 
er zum Minister* den Arzt erhebt er zum Baron, alle werden Barone sein, 
er selbst sei auch Baron; seiner Tochter werde er goldene Mobel kaufen, 
er habe ein Vermogen von ,,Billiarden“, werde alle Pferde kaufen, sie paaren 
und viele Millionen verdienen, fahre nach Frankfurt, kaufe einige Waggons 
Ganse, werde nach Amerika fahren, Walfische fangen u. s. w. 

Will sich auf die Kranken mit geballten Fausten stiirzen, ,,urn sie mit 
einem Schlage gesund zu machen“. 

Die geistige Schwdche bricht deutlich unter der Manie hervor. Die 
Facialisdifferenz ist nun sehr deutlich, und ausserdem wird ein starkes Beben 
der Gesichtsmuskulatur bemerkbar. — Es wird eine Erkrankung an Diabetes 
nachgewiesen. 

Mit kurzen Unterbrechungen, wahrend welcher eine explosiveGereiztheit 
im Vordergrunde steht, halt die manische Heiterkeit etwa 4 Monate an. um 
dann in eine stiUe demente Euphorie iiberzugehen. Er lebt dann sorglos 
gliicklich in den Tag hinein, seine Demenz schreitet unaufhaltsam vor warts, 
die Sprache wird bebend, verwaschen, stolpernd. — Der Zucker verschwindet 
aus dem Harne. 

Am 1. IX. 1907 treten rythmische Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur 
der rechten Seite auf, welche etwa 5 Minuten andauern; der Kranke ist dann 
etwa 10 Minuten nicht imstande zu sprechen. 

Nach einem apoplektiformen Anfalle am 20. II. 1908, welcher keine auf- 
falligen motorischen Storungen hinterliess, erreicht die geistige Verodiing 
einen so hohen Grad, dass er nunmelir stumpf, ohne jede Aeusserung geistiger 
Tiitigkeit darniederliegt. 

Am 8. VII. Anfalle mit tonischer Starre in den Extremitaten beider 
Seiten, links starker, und Deviation conjug^e des Kopfes und der Augen 
nach links, Benommenheit, spiiter Sopor, Fieber. 

Bis zu dem am 13. VII. 1908 erfolgten Tode wacht er aus dem soporosen 
Zustand nicht mehr auf, zeitweise treten leichte Zuckungen in den Fingern 
der linken Hand auf. 

Die Autop»ie ergab, dass eine Schluckpneumonie den Exitus herbeige- 
fiihrt hat. Einzelne linsengrosse, weissliche Verdickungen an der Intiina 
der Aorta abgerechnet, war im allgemeinen Korperbefunde nichts von 
Belang. 

Das Gehim bot bei der makroskopischen Besichtigung das typische 
Bild der progreasiven Paralyse , im Stirnhirn zeigte die Atrophie recht erheb- 
liclie Grade. 

Mikroskopiache Unterauchung : Wir halten es fiir iiberfliissig, auf die 
histologischen Veranderungen, welche die Diagnose der progressiven Paralyse 
begriinden. des Naheren einzugehen. 

Wir haben in der Affektion der Meningen, welche sich teils als chronisch- 
hyjjerplastische, teils als infiltrative Entziindung darstellt, in den Ganglien- 
zellveranderungen und in dem Zellsehwund, in der Degeneration der Mark- 


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von Kornbination cerebraler. gummoser Lues etc 


25 


fasern — aueh dor von Borda 1 ) mid insbesondere von Fischer 1 ) bescliriebene 
fleckweise Ausfall dor Markscheiden findet sich in ausgedehntem Masse —, 
in den Gefassverandcrungen und Infiltrationen, sowie in dor Wucherung 
der Glia Erscheinungen vor uns, welche in nichts von dem gewohnlichen 
Bilde der Paralyse abweichen. 

Der Prozess ist weit fortgeschritten, am starksten im Stirn- und Schlafe- 
lappen und in der motorischen Region ausgepragt, aber auch in den hinteren 
Partien des Gehirns noch sehr deutlich sichtbar. Die Infiltration der Menin- 
gen und Hirnrindengefasse weist in den vorderen Hirnpartien eine grosse, 
aber nicht gerade ungewbhnliche Intensitiit auf, wobei die Zellarten das fur 
die Paralyse eharakteristisehe Geprage tragen. In den Gefasswanden der 
Hirnrinde. zum Toil auch des Market* erscheint viel gelblich-braunes Pig¬ 
ment eingelagert. 

Zu diesen diffusen Yeranderungen treten nun im Bereiche des Stirn- 
und Schlafelappens und der motorischen Region beider Hemispharen 
Jokalisierte. herdweise rerteilte Bildungen besonderer Art hinzu, welche nicht 
zum Bilde der progressive!! Paralyse gehdren und einer naheren Beschroibung 
bedtirfen. 

In alien Lagen der Hirnrinde, von der obersten Zellschicht bis zur Mark- 
grenze verstreut, finden sich in den erwahnten Regionen Infiltrationsherde , 
welche sich im mikroskopischen Bilde scharf aus der Umgebung herausheben. 
Sie haben eine runde oder mehr unregelmiissige Begrenzung, scliwanken in 
ihrer Ausdehnung zwischen 0.05 und 0.2 mm im Durchmesser — in letzterem 
Falle sind sie am gefarbten Praparate schon mit blossom Auge sichtbar —, 
schliessen sich meLst an Gefasse an (Tafel HI — IV) und lassen bei Be- 
trachtung mit schwaclicn Linsen haufig eine dunklere, durch Anhaufung 
stark gefarbter Kerne bedingte dussere Zone erkennen, welche sich gegen 
das bldssere Zentrum abhebt. 

Zur Illustration der Haufigkeit dieser Geschwiilstchen, denn als solche 
wollen wir sie schon hier bezeichnen, sei erwahnt, dass im Stirnhirn im 
Schnitte einer Windung von etwa 1,2 cm Breite und 1,5 cm Tiefe, 5 der- 
artige Bildungen nachgewiesen werden konnten. 

Serienschnitte setzen uns in die Lage, die Geschwiilstchen in ver- 
schiedenen Stadien ilirer Entwicklung zu verfolgen. 

Bei der grossen Mehrzahl derselben ist ein Zusammenhang mil den 
Jdeinen Gefdssen der Hirnrinde nachweisbar, und die verschiedenen Bilder, 
welche sich uns darbieten, lassen uns den Entwicklungsgang der Geschwiilst- 
chen erkennen. 

Wir haben ein vielfach verschlungenes, mit zahlreichen Abzweigungen 
versehenes Gefass vor uns. Die Gefiisswande sind von zahlreichen Infil- 
trationszellen besetzt. welche in ihrer grossen Mehrzahl Plasmazellen dar- 
stellen, und weisen eine lebhafte Wucherung der Gefassvvandzellen, Zellen 
der Intima und Adventitia auf. Das Bild liisst bisher koine wesentliche 
Differenz gegeniiber der paralytischen Yeranderung erkennen. 

Nun nimmt aber an irgend einer Stelle der Gefiisswand die Ansammlung 
der Infiltrations- und Wucherungszellen derart iiberhand, dass eine bucket - 
formiye Auf lay e rung an die Ge fas strand zustande kommt (Tafel III IV. Fig. 1). 
Man karin an einzelnen Priiparaten deutlich beobachten, dass es sich uvn eine 
Einlagerung des mm entstandenen geschirulstformigen Gebildes in die Gefass- 
wand selbst und zwar in deren Adventitia handelt. Gegen das Gefasslumen 
zu bleibt- die Intima als Grenzscheide erhalten, die? Adventitia dagegen ist 
in der Neubildung aufgegangen und stellt in derselben ein weitmaschiges, 
unregelmassiges Netz dar, ein Stiitzgerust. Die Figuren 2, 3 und 4 iliustrieren 
die Entwicklung eines derartigen Geschwulstchens in der Wand einer Ge- 
fassschleife. 


*) Borda , Paralysie goner. progressive, Riv. de la soe. mod. Argent., 
Tome XIII 1906. 

l ) Fischer , O., Ueber den fleckweisen Markfaserschwimd in der Hirn¬ 
rinde bei progressiver Paralyse. Arbeiten aus d. Deutsch. psych. Universitats- 
klinik in Prag. 1908. 


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Stra ussier, Ueber zwei weitere Falk* 


Die Neubildung besteht also aus Infiltrationszellen —- vornehmlich 
Plasmazellen — aus gewucherten Gefasswandzellen, welche mit ihrem 
blasigen, verschieden geformten, moist langgestreekten Kern und blassen 
Protoplasmaleib den Charakter von epitheloiden Zellen erhalten und aus deni 
bindegewebigen Geriiste . Sie hebt sich gegen die umgebende Hirnsubstanz 
noch ziemlich scharf ab, was auch darin zuin Ausdruck kommt, dass im Ge- 
fiige des umgebenden Gewebes Verdrangungserscheinungen in Gestalt von 
zirkularer Anordnung Platz greifen. 

In weiterer Folge wird aber die Gefassscheide durchbroehen, und die 
Zellelemente ergiessen sich sozusagen in die umgebende Hirnsubstanz; zu- 
nachst sieht man vereinzelte Plasmazellen im Hirngewebe: die Zahl der- 
selben nimmt zu, auch die epitheloiden Zellen iiberschreiten den Bereich 
tier Gefasswand, diese verschwindet in dem Zellkonglomerate. Aber auch 
gegen das Gefasslumen zu schwindet die friiher bestandene Abscheidung, 
das Gefass wird von den epitheloiden Zellen durchwuchert, Infiltrations- 
eiemente durchsetzen und uberlagern die ganze Gefassbreite, so dass einer- 
seits das Gefass in der Neubildung vollstandig aufgeht und anderseits die 
Grenzen gegen das Hirngewebe vollstandig verschwimmen. Man kann aber 
oft noch an den Seriensohnitten den zu- und ableitenden Teil des Gefasses 
verfolgen, welches niclits anderes als eine Plasmazelleninfiltration darbietet. 
(Taf. Ill—IV, Figg. 5 und 6.) 

An den nun zur vollen Entwicklung gelangten Geschwiilsten, in welchen 
die Anordnung der verscliiedenen Zellarten meist in der Weise erfolgte, dass 
die Peripherie die Infiltrationszellen und das Zentrum die epitheloiden Zellen 
einnehmen (Taf. Ill—IV, Fig. 6), machen sich regressive Verdnderungen be- 
merkbar. Die Konturen der zentralen, epitheloiden Zellen werden weniger 
scharf, sie verschwimmen ineinander, die Kerne verlieren die Farbbarkeit, so 
dass wir an einzeinen dieser Bildungen eine feingekornte oder mehr homogene, 
blasse Substanz im Zentrum vor uns haben; manchmal finden sich einge- 
lagert ganz kleine, sehr dunkelgefarbte. unregelmassig geformte Kornchen. 
welche als Zerfallsprodukte von Kernen der Infiltrationszellen imponieren. 

In der zentralen Degenerationszone treten haufig Piesenzellen auf. 
grosse Zellen meist mit rimdem. seltener gelapptem homogenem Protoplasma¬ 
leib und sehr zahlreichen, entweder kranzformig an der Peripherie oder in 
zwei Reihen im Durchmesser dor Zeile angeordneten blassen, langgestrockten 
Kernen (Taf. Ill—IV, Figg. 6, 7, 8). Auch in diesen Zellen kommt es mit- 
unter zu regressiven Erscheinungen. 

Dieser Entwicklungsgang bis zur Ausbildung von anscheinend frei im 
Gewebe liegenden Geschwiilstchen, wie z. B. in Fig. 7, bildet jedoch keines- 
wegs die Regel; haufiger sogar bleibt es bei Infiltrationen, welche den Ge- 
fasswanderi angehoren und nicht iiber deren Bereich liinausgehen, in einer 
mehr oder weniger beschrankten Par tie des Gefass verlaufes eine etwas 
grossere Intensitat erreichen und durch die Beimischung von zahlreichen 
epitheloiden Zellen ein besonderes Geprage erhalten. In diesen Zellansamm- 
lungen erscheinen aber auch da ausserordentlich haufig Riesenzellen, die 
also in der Gefasswand selbst ihren Sitz haben. (Taf. Ill—IV, Fig. 4.) 

Es sei besonders hervorgehoben, dass die Infiltrationszellen zum uber- 
wiegenden Teile Plasmazellen darstellen. 

Dem Einflusse, welchen die pathologischen Bildungen auf das um¬ 
gebende Gewebe ausiiben, miissen noch einige Worte gewidmet werden. 

Die Gliazellen der Umgebung erscheinen in lebhafter Proliferation, 
weisen nicht selten zwei Kerne auf, vereinigen sich haufig zu den sogenannten 
,,Gliarasen“. 

Die Ganglienzellen bleiben von dem Prozesse nicht unberiihrt; der 
Degenerationsprozess ist hier starker akzentuiert und fiihrt zu ausge- 
dehnterem Zerfall als er im iibrigen Gehirne dem paralytischen Prozesse 
entspricht. 

Der Markfaserschwund ist in den fraglichen Partien der Rinde als Folge 
der paralytischen Erkrankung so weit vorgeschritten, dass ein etwaiger 
Einfluss der pathologischen Bildungen auf die Markfasern sich der Beur- 


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von Kombination eerebraler gnmmbser Lues etc. 


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teilung entzieht. Dagegen zeigen Fibrillenpriiparate nach Bielscliowsky, duss 
die Achsenzylinder bis an die Infiltrationsherde anscheinend ohne wesent- 
liche Beeintriiclitigung heranreichen. In den Gesehwulstchen selbst gehen 
die Fibrillen. wie noch zu deni friiheren Befunde nachzutragen ist, erst 
dann vollstandig zugrunde, wenn die Xekrotisierung Platz gegriffen hat. 

In den nachstliegenden Gefassen tritt eine besonders starke Infiltration 
in Erscheinung, in den Infiltrationselementen iiber\viegen bei weitein die 
Plasmazellen. 

Ein Zusammenhang der Oesehwiilstchen mit der Infiltration der Meningen. 
welche iibrigens auch im Bereiche dieser Affektion die paralytische Xatur 
vollkommen bewahrt, ist nirgends vorhanden ; hinsichtlich der in den tiefsten 
Kindenschichten gelegenen Bildungen ist ja eine direkte Abhtingigkeit von 
der Affektion der Meningen von vornherein auszuschliessen. Die Gefiisse 
weisen bei ihrer Einstrahlung in die Gehirnsubstanz eine ganz geringftigige 
Infiltrationparalytiseber Xatur anf undwerden erst in derTiefe der Hirnrinde 
Sitz der mit Riesenzellen versehenen Geschwiilstchen (Taf. Ill-- IV, Fig. 8). 

Wirhaben klinisch eine typische Paralyse vor uns; die klini- 
schen Erscheinungen wichen in keiner Hinsicht von dem Bilde 
einer Paralyse ab; weder die psychischen Symptome noch auch der 
somatische Befund barg irgend ein Moment in sich, welches auf 
eine Komplikation hingewiesen hatte, und wir waren sicher, bei der 
mikroskopischen Untersuchung das dem klinischen Befunde cnt- 
sprechende histologische Bild zu sehen. 

Was die erwarteten anatomischen und histologischen \’er- 
anderungen der Paralyse betrifft, wurden unsere Voraussetzungen 
nicht getauscht; alle die charakteristischen Glewebs- und Gefass- 
alterationen, welche der Paralyse zukommen, prasentiertem sich 
in den mikroskopischen Schnitten. 

Eine Ueberraschung bot uns der Befund durch ein Mehr an 
Erscheinungen. 

Ueber das Stimhirn t den Schlafelappen und die motorische 
Region verstreut fanden sich miliare, in verschiedenen Schichten der 
Hirnrinde lokalisierte Herde, welche die Merkmale von Oranulations- 
geschwiilsten tragen. 

Der Befund bietet grosse Aehnlichkeit mit dem histologischen 
Bilde des Falles 1 der friiheren Publikation; die Erwtigungen, 
welche uns damals veranlasst haben, die Affektion als ,,miliare 
disseminierte Gummen“ aufzufassen, haben auch hier Geltung. 
Weder der klinische Verlauf noch der bakteriologische und all- 
gemein anatomische Befund liefem irgend welche Anhaltspunkte 
fur die Annahme einer Tuberkulose. 

Es wurde leider verabsaumt, die Untersuchung auf Spiro- 
chaeten vorzunehmen; mit Riicksicht auf die bisherige Erfolglosig- 
keit der auf den Nachweis von Spirochaeten im Zentralnerven- 
system Erwachsener gerichteten Bemuhungen ist jedoch unsere 
Unterlassung fiir die Diagnosenstellung belanglos. Die Wasser- 
monnsche Reaktion — sie war tibrigens im Blute und in der Zere- 
brospinalfliissigkeit positiv — ist hier mit Riicksicht auf das Vor- 
handensein der Paralyse selbstverstandlich fiir die Diagnose der 
aktiven Syphilis, d. h. des gummosen Prozesses, nicht zu verwerten. 

Mit dem Falle 1 der friiheren Arbeit ergibt sich eine Analogic 
insofem, als hier wie dort der Befund der Gummen din zufdlliger 


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St riiussler, Ueber zwei weitere Falle 


war, die syphilitische Erkrankung sich in den klinischen Erschei- 
nungen in keiner Weise manifestiert hat; in dieser Beziehung ist 
ubrigens auch die damalige 2. Beobachtung diesen Fallen an die 
Seite zu stellen. 

Wei ter lasst sich hier wie dort die Unabhangigkeit der Affek- 
tion von den Meningen nachweisen; dieses schon damals im Gegen- 
satze zu Alzheimer hervorgehobene Moment tritt hier besonders 
augenfallig dort zutage, wo die Gummen in den tiefsten Schichten 
der Hirnrinde knapp an der Markgrenze lokalisiert sind. 

Die Beziehung der Gummen zu den Gefassen, welche in diesem 
wie in jenem Falle zur Beobachtung kommt, gilt ja als die Regel; 
meine Ausfiihrungen zum 2. Falle der frtiheren Veroffentlichung, 
welcher zu beweisen schien, dass eine gummose Erkrankung im 
Centralnervensystem auch primar ohne direkte Beteiligung der 
Gefasse Platz greifen kann, haben bisher in der Literatur kein 
Echo gefunden; auch Nonnc'), welcher zwei Abbildungen der histo- 
logischen Veranderung im Falle 1 reproduziert, hat zu den Schluss- 
folgerungen, zu welchen mich der Fall 2 beziiglich der Entstehungs- 
moglichkeit von Gummen im Gehim gefiihrt hat, nicht Stellung ge- 
nommen. 

Im gegenwartigen Falle bilden also, wie gewohnlich, die Ge¬ 
fasse den Ausgangspunkt der Gummen; in dem Verhaltnis der Ge- 
schwiilstchen zu den Gefassen zeigt sich aber hier eine bemerkens- 
werte Eigentumlichkeit. 

Wahrend in der friiheren Beobachtung die Infiltration rasch 
den Bereich der Gefasswande iiberschreitet, sich in das umgebende 
Gewebe ergiesst, wo es dann zu der fur das Gumma charakte- 
ristischen Gewebsformation kommt, ist die Neubildung hier sehr 
haufig in die Gefasswand selbst eingelagert. Wir haben es also in 
diesem Falle mit gmnmosen Neubildungen der Gefasswandungen 
zu tun, mit einer Arteriitis gummosa, und zwar ist es die Adventitia 
— die Affektion betrifft ausschliesslich kleine Gefasse —, welche 
den Sitz der Geschwiilstchen bildet. Der Umgebung gegeniiber 
verhalten sie sich unter diesen Umstanden insofern als ,,Tumoren“, 
als sie das Gewebe verdrangen. 

Wie in dem mikroskopischen Befunde beschrieben, finden sich 
daneben auch noch gummose Geschwiilstchen, welche die Gehirn- 
substanz infiltrierend durchsetzen und das gleiche Bild wie in der 
friiheren Beobachtung geben. 

Es liegt in der Natur der Sache, dass die Gummen der Gefass¬ 
wand viel reicher an bindegewebigen Elementen sind als die in der 
Gehirnsubstanz eingelagerten. 

Der Reichtum an Riesenzellen scheint mir noch besonderer 
Erwahnung wert. Es liegt mir ferae, mich in Erorterungen iiber 
die Genese der Riesenzellen zu ergehen; es sei nur hervorgehoben, 
dass sie besonders haufig in der Gefasswand selbst ihren Sitz haben, 

') Sonne. Syphilis und Xervensystem. 2. Auflage. Berlin 1909. 


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von Kombination cerebraier, g.immbser Lues et<-. 


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so dass die Annahme ihrer Herkunft von den Gefasswandzellen 
sich aus der direkten Anschauung aufdrangt. 

Mit Riicksicht auf die Bedeutung, welche der Art der Infil¬ 
trationszellen fur die Differentialdiagnose zwischen Syphilis des 
Zentralnervensystems uud der progressiven Paralyse vindiziert 
wurde, ist es notwendig, bei diesem Gegenstande langer zu ver- 
weilen. 

Ich habe mich auf Grund meiner friiheren Befunde fiir die von 
Alzheimer aufgestellten differentialdiagnostischen Regeln hin- 
sichtlich der Infiltrationszellen ausgesprochen; so wie es von Alz¬ 
heimer geschildert wurde, schien dort in dem bedeutenden Uber- 
gewicht der Lymphozyten liber die Plasmazellen eine deutliche 
Differenz gegeniiber der Paralyse gegeben. 

Die gegenwartige Beobachtung ist nun geeignet, uns eines 
besseren zu belehren; wir konnen hier auch in den Gefdssen, in deren 
Wdnden es an umschriebener St&lle zur Entwicklung einer Gummi- 
geschwulst kommt, beobachten, dass tvohl ausgebildete, typische 
Plasmazellen in der Ueberzahl vorhanden sind. Wenn man hier auch 
meist nicht den ,,bei der Paralyse gewohnlichen grossen Formen 
mit hellem Hof um den Kern und den grossen, lappigen Zelleibs- 
fortsatzen“ ( Alzheimer) begegnet, so rettet dieses Moment kaum 
die Zuverlassigkeit des in Rede stehenden differentialdiagnostischen 
Merkmales; es ist ja zu bedenken, dass man oft genug auch bei 
typischen Paralysen vergebens nach solchen Zellen suchen wiirde. 

Das Vorkommen von massenhaften Anhaufungen junger 
Infiltrationszellen, Lymphozyten bei der progressiven Paralyse 
beweist ja, dass das von Alzheimer aufgestellte undauchvonmir ver- 
tretene differentialdiagnostische Merkmal der Verschiedenheit 
der Infiltrationszellen bei Lues und Paralyse keine prinzipielle 
Bedeutung besitzt. In dem Infiltrationsbilde spiegelt sich doch 
vomehmlich die grossere oder geringere Lebhaftigkeit des Ent- 
ziindungsprozesses ab. Wenn wir nun bedenken, dass einerseits 
die Paralyse nicht selten einen recht akuten Verlauf nimmt, ander- 
seits die Gummen resp. der syphilitische Prozess eine chronische 
Entwicklung finden konnen, so werden wir a priori alle moglichen 
Uebergange zwischen Paralyse und Sypilis hinsichtlich des Gesamt- 
bildes der Natur der Infiltrationszellen erwarten mtissen. 

Von unserem gegenwartigen Falle, in welchem die Plasma¬ 
zellen iiberwiegen, erhalten wir nun im grossen und ganzen den 
Eindruck eines mehr chronischen Verlaufes; dafiir spricht einer¬ 
seits das klinische Bild und anderseits der pathologische Befund: 
Aus den grossen Schwankungen im Volumen der Gummen kann 
man schon auf eine langsame Entwicklung schliessen; weiter 
bleiben sie lange im Bereiche der Gefasswande, sie durchlaufen 
eine ganze Anzahl von Entwicklungsstadien, bevor sie die Grenz- 
scheiden der Gefasse durchbrechen und in das umgebende Gewebe 
eindringen. 


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Stra ussier, Ueber zwei woitere FaUo 


II. C. H., 48jahriger Polizeiwachmann, wurde am 8. Marz 1908 der 
Klinik aus dem aUgemeinen Krankenhause (KJinik Hofr. Dr. v . Jaksch) 
zugeflihrt‘)* 

Zur Anamnes© erfahren wir von der Frau des Patienten, welch© ihn seit 
13 Jahren kennt: Aus der Ehe'stammen zwei gesunde Kinder. Vor etwa 
seeks Jahren — bis dahin war er angeblich vollkommen gesund — stellten 
sich „rheumati8che“ Schmerzen in den unteren Gliedinassen ein, welche 
immer wieder rezidivierten; seit zwei Jahren machten sich Schwierigkeiten 
beim Oehen bemerkbar , er trat in auffalliger Weise auf die Fersen auf und warf 
mit den Beinen. 

Im letzten Jahre machten sich auoh auf psychischem Oebiete Storungen 
geltend; sein Gedachtnis verschlechterte sich und sein Charakter zeigte 
eine Veranderung; er legte der Frau gegeniiber eine friiher nie gezeigte Roh- 
heit an den Tag. 

Bis 10. Januar 1908 versah er noch seinen Dienst; um dies© Zeit fing 
er an zu schielen , und einige Tage nachher ,,fiel ihm das link© Augenlid 
herunter“. Vor 14 Tagen etwa trat eine Ldhmung der rechten Korperhdlfte auf. 

Eine Schmierkur mit grauer Salbe brachte gar keine Besserung. 

Vom Pat. selbst wird Lues zugegeben . 

Bei der Einlieferung an die Klinik ist er ruhig, sehr stumpf, apathisch; 
schlaft den grossten Teil des Tages. 

Am 9. III. wird folgender Status praesens erhoben: Ptosis am linken 
Auge ; der linke BuJbus kann nur nach aussen bewegt werden; die Bewegung 
nach alien anderen Richtungen erscheint vollstandig aufgehoben. Linke 
PupiUe bedeutend weiter als die rechte; die erstere vollkommen starr , rechts 
Spur von Lichtreaktion bei gut erhaltener Konvergenz- und Akkommo- 
dationsreaktion. Nystaktische Bewegungen des rechten Bulbus. 

Beim Hinaufziehen der Stirne erfolgt links eine starker© Faltung; man 
erhalt den Eindruck, dass der linke Musculus frontalis wegen der Ptosis 
starker innerviert wird. Im iibrigen Facialis in der Ruhe keine Differenz; 
beim Zahnezeigen erscheint der rechte Mundfacialis paretisch. Keine Sto¬ 
rungen von seiten des Trigeminus. Zunge zittert, wird gerade vorgestreckt. 

Hechter Arm scheint beim Emporheben etwas zuriickzubleiben; manch- 
mal treten in demselben Schiittelbewegungen auf. Hdndedruck rechts sehr 
schwach. 

Rechte Bauchdeckenreflexe nicht auslosbar . Differenz der Cremaster- 
reflexe zu ungunsten der rechten Seite. 

Patellar - und AchiUessehnenreflexe beiderseits fehlend. 

Beim Gehen zeigt sich eine Schwache und Unsicherheit des rechten 
Heines , dasselbe knickt haufig ein; das linke Bein wird etwees stampfend, 
ungeschickt, ataktisch aufgesetzt. Hypotonie. 

Weder am Stamme noch an den Extremitaten grobere Storungen der 
oberflachlichen Sensibilitat. 

Sprache mitunter stockend und bebend, verwaschen. In psychischer 
Hinsicht bietet er ein Bild vollkommener Desorientiertheit. Er weiss nicht, 
wo er sich befindet, gibt als Datum 5. September 1907 an, ist bald Fleisch- 
hauer, bald in einer Mtischinenfabrik beschaftigt, stimmt dann bei, als man 
ihn daran erinnert, dass er Polizeiwachmann sei; befinde sich seit 10 Jahren 
,,hier.“ 

Wahrend eine Aeusserung, die er macht. eine gewisse Krankheitsein- 
sicht enthalt — er meint, er sei ,,gehirnarm“ geworden —, kniipft er gleich 
daran die Bernerkung, ,,dass die Krankheit den Verstand auf den richtieen 
Weg brachte. “ 

Vorgehaltene Gegenstande bezeichnet er richtig, Rechenaufgaben 
machen ihm gross© Schwierigkeiten, und die Losung gelingt nur bei Opera- 
tionen mit kleinen Zahlen. 


l ) Der Fall wurde in der Publikation von Kafka: Ueber die klinische 
Bedeutung der Komplementbindungsreaktion im Liquor cerebrospinalis, 
speziell bei der progressiven Paralyse. Monatssehrift f. Psych, und Neurol’ 
Bd. XXIV. H. 6, als „15. Fall 41 verwertet. 


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von Kombination cerebraler, gummoser Lues etc. 


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Wahrend der weiteren Beobachtung ©rwiesen sich die Lahmungser- 
seheinungen im Bereich© des linken Oculomotorius als stationar ; spater traten 
aber Bewegungsstorungen auch am rechten Auge auf, die Bewegungen des 
Bulbus waren deutlich nach oben und unten eingeschrankt, nach innen 
sohien die Beweglichkeit ebenfalls ©in© Einschriinkung erfahren zu haben. 

In don letzten Tagen des Monates Marz stellten sich Schluckbeschwerden 
ein, welche bis zum Exitus an Intensitat zunahmen. 

Die Spraehe ©rlitt in zwei Richt ungen S tor ungen mit sehr rascher 
Progredienz; einerseits verschlechterte sich die Artikulation in einer toils 
der paralytisclien, toils der bulbaren Sprachstorung ahnlichenArt, anderseits 
bildet© sich ©in© Paraphasie heraus, welch© sich allmahlich auf all© sprach- 
lichen Aeusserungen erstreckte. Das Sprachverstandnis schien bis in di© 
letzte Z©it ziemlich ©rhalten zu sein, wahrend der sprachlich© Ausdruck 
sich zuletzt auf ©in Lallen reduzierte. 

Di© Pare86 der rechten Korperhdlfte blieb iramer bestehen, zeigt© aber in 
der Intensitat Schwankungen. Mitt© Marz traten im Schlafe leichte unregel- 
massig© Zuckungen im Bereiche der rechten Gesichtshalfte, des rechten 
Armes und Beines auf; in der Hand waren dabei athetoseartige Bewegungen 
zu beobachten; die Zuckungen der Hand wiederholten sich in der Folgezeit 
ofters. 

Psychisch war in der ersten Zeit seines Aufenthaltes an der Klinik 
neben der schweren Desorientiertheit, welche sich auch auf die moisten per- 
sonlicheii Verhaltnisse bezog, eine allgemeine Stumpfheit im Vordergrund. 

Weiterhin traten zeitweilig, besonders nachts Erregungszustande auf; 
er war sehr unruhig, drangte fort, spracli alles Mogliche durcheinander. 
Er verkannte die Personen seiner Umgebung, konnte iiber Geschehnisse 
des vorhergehenden Tages keinen Bescheid geben, erging sich bei jeder 
Frage in Konfabulationen; einfache Auftrage wie Handheben, Zungezeigen 
u. s. w. fiihrto er aus. In den letzten Tagen vor dem am 17. IV. 1908 er- 
folgten Exitus reagierte er fast gar nicht auf die an ihn gerichteten Fragen, 
lallte nur manchmal etwas Unverstandliches vor sich hin. Eine Pneumonie 
fiihrte den Exitus herbei. 

Die Sektio-n ergab neben einer diffusen Bronchitis und Bronchopneu- 
monie an bemerkenswerten Befunden: Die Gehimrinde leicht atrophisch, 
am starksten im Bereiche des Stirnhims. Gegeniiber einer massig starken 
N’erdickung und Triibung der Meningen der Konvexitat fattt die Intensitat 
der meningealen Verdnderungen an der Basis, insbesondere um das Chiasma 
opticorum, auf. 

Der linke Oculomotorius erscheint etwas schmdler als der rechte , transpa¬ 
rent grau. 

Die Intima der Aorta und der grosseren Aeete ist mit feinen, streifen- 
formigen Verdickungen besetzt. 

Die Untersuchung des Gehirns nach Formolhartung — das Gehirn war 
in toto zur vorlaufigen Fixierung in Formol eingeiegt worden — ergibt das 
Vorhandensein sehr ausgesprochener EpendymgraniUationen imIV. Ventrikel. 

Die durch den Gehirnstamm gemachten Schnitte decken aber noch eine 
sehr auffaUige Verdnderung auf. 

In Anlehnung an die durch die Medulla oblongata, das Mittel- und 
Zwischenhirn angelegte Schnittserie soli die Topographic des pathologischen 
Prozesses festgelegt werden; hier sei nur an der Hand eines dorsoventralen 
Schnittes durch die Vierhiigelgegend das makroskopische Aussehen der 
Veranderung beschricben. 

Die dorsalen Partien der Haubenregion samt den Vierliiigeln erscheinen 
am Querschnitt stark asymmetrisch infolge einer bedeutenden AnschtoeUung 
der linken Halfte. Im Bereiche dieser Anschwellung — es ist ein etwa heller- 
grosses Areale — ist die Uewebsstruktur voUkommen verwischt; die Rons is ten z 
erscheint nicht wesentlich verandert, wo bei aber beriicksichtigt werden muss, 
dass die Formolhartung geringere Konsistenzveranderungen bereits ver¬ 
wischt liaben durfte. 

Die mikroskopische Untersuchung des Grosshirns ergibt unzweifelhafte 
♦Symjitome einer progressiven Paralyse . Um den Umfang der Arbeit nicht 


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Strauasler, Ueber zwei weitort* Falle 


unnotiger weise zu vergrossern, wollen wir es uns auch hier versagen, die 
Einzelheiten der fiir die Paralyse char ak ter istisc hen Veranderungen des 
Breiten zu erortern. Es sei nur hervorgehoben, dass der Befund in der 
Hirnrinde einem nicht weit vorgeschrittenen Grade der Erkrankung ent- 
spricht. Ira Stimhim und Schlafelappen fallen die Veranderungen der ein- 
zelnen Ganglienzellen und die Storung ihrer Anordnung, der Markfaser- 
schwund, die Gliawucherung und die Gefassalteration am starksten in die 
Augen. 

Den verhaltnismassig geringgradigen Veranderungen der nervosen 
Substanz gegeniiber zeichnet sich die Erkrankung der Meningen — hier 
sei vorlaufig nur von den weichen Hirnhauten der Konvexitat gesprochen — 
durch eine starke Entwicklung einer chronisch-hyperplastischen Entziindung 
au8; die Meningen weisen eine schwartige Verdickung auf, Infiltrations- 
elemente, vornehralich Plasmazellen, sind in verhaltnismassig geringerer 
Zahl vorhanden. 

Verfolgen wir nun an einer Weiqert -Serie durch den Gehimstamm die 
pathologisehe Veranderung, welche sich am raakroskopischen Querschnitte 
durch die Schwellung und Verwischung der Zeichnung in der Haubenregion 
kenntlich gemacht hatte, so haben wir folgende topographische Verhaltnisse: 

In der vorderen Briickengegend, beim Uebergange des Hinterhirns 
ins Mittelhirn, vor dem Beginn der Bindearmkreuzung ist die distale Grenze 
der Affektion; hier raacht sich zuerst eine Asyrametrie der Haube bemerk- 
bar, indem die linke Halfte unregelraassig verbreitert erscheint, so dass der 
Aquaeductus Sylvii exzentrisch nach rechts veriagert ist. (Taf. V, Fig. 9.) 
Etwa 50 Schnitte der 40 fi dicken Serie cerebralwarts erscheint als Ausdruck 
einer tiefgreifenden Gewebsveranderung an den IFci^crfschnitten eine 
diffuse, von einzelnen Markinseln unterbrochene Lichtung, welche rait un- 
regelmassigen, vielfach gezackten Grenzen seitiich von der Mittellinie, im 
linken Brachiura conjunctiv r um beginnt, nach unten und lateral an die 
rnediale resp. an die laterale Schleife reicht und dorsal sich bis in die Faserung 
des hinteren Vierhiigels erstreckt. 

Weiterhin wird die SchweUung starker, und der Faserausfall nimmt 
an Intensitat und Extensitat zu; wir haben bald ein vollkommen blasses, 
der Markfasern beraubtes, imregelmassig begrenztes Gebiet vor uns, welches 
nun nach unten auch in die Briickenfaserung hineinreicht und medialwarts 
mit einem zungenformigen Fortsatz die Mittellinie iiberschreitet. Textfigur 
2 entspricht ungefahr dieser Gegend. 

Indes ist es in der Verfolgung der Schnittserie zur Kreuzung der Binde- 
arme gekommen, das Gebiet der roten Kerne ist erschienen, die Briicken- 
faserung wurde durch die Hirnschenkel abgelost. Der rote Kern der linken 
Seite verschwindet nun vollstandig in dem Herd, der in der Raphe die 
Mittellinie nach der anderen Seite etwas iiberragt; lateral und nach oben 
bildet das Corpus geniculatum die Grenze des Herdes, nach unten reicht 
er bis in den Hirnschenkelfuss, dessen vorderes Drittel er in Mitleidenschaft 
zieht. (In der Gegend von Taf. V, Fig. 11.) 

Eine besondere Aufmerksamkeit erfordert hier das Auftreten von 
kleineren , von dem grosxen Herde durch gesundes Oeivebe gelrennten Herdchen . 
welche in der grauen Substanz links und rechts der Mittellinie lokalisiert. 
da# Gebiet der Oculonwtoriu#kerne in sich fassen. 

Auf der linken Seite ist nun der Oculomotorius zum Teil im Kerne ge- 
#chadigt, in schwerster Weise erschienen aber die vom Kerne abgehenden Fasern 
beiroffen , welche den Herd passieren miissen und hier der Zerstorung anheim- 
fallen; der rechte Oculomotorius leidet im Kemgebiete Schaden durch die hier 
lokalisierten Herde. 

Sobald der 3. Ventrikel die basalen Ganglien der beiden Seiten von ein- 
ander geschieden hat, ist die Affektion auf die linke Seite beschrankt und 
erstreckt sich iiber die unteren Teile des Sehhiigels, die innere Kapsel und die 
medialen unteren Teile des Linsenkerns (Taf. V, Fig. 12, 13). 

In dieser Ausdehnung durchzieht der Herd das ganze Zwischenhirn. 
dringt dann noth mit den aussersten Auslaufern in das Stirnhirn ein, wo er 


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sich in den an das Chiasma opticum angrenzenden Partien etwa 1 cm liber 
der Basis im Markweiss der linken Seite durch Lichtung der Markfasern 
kenntiich macht. (Taf. V, Fig. 14.) 

Wenn wir nun auf Grund von Farbungen nach van Gieson , mit Haema* 
toxylin-Eosin, Methylenblau und Thionin den feineren histologischen Ver¬ 
anderungen dieses Gebietes nachgehen und die distalsten Auslaufer der 
Affektion ais die frischesten zum Ausgangspunkt nehmen, so finden wir, 
dass die hier auftretenden Veranderungen sich im wesentlichen auf eine 
Vermehrung und Veranderung der kleinen Gefasse beschranken. Das ner- 
vose Gewebe erscheint kaum merklich durch eine Zunahme von Gliakernen, 
vielleicht auch eine Vermehrung von faseriger Glia verandert. 

Die Gefasswande, welche hie und da mit einzelnen Plasmazellen be- 
setzt sind, zeigen in schwacher Auspragung Eigentumlichkeiten, welche sich 
spater zu hochgradigen und charakteristischen Veranderungen ausgestalten. 
Die Wandungen der kleinen Gefasse sind verdickt , die Elastica und Adventitia 
aufgefasert. die Intima- und Adventitiazellen stark gewuchert. 

Gehen wir etwa einen Millimeter weiter nach vorne, so hat das Bild 
schon einen entschiedenen Charakter erhalten. 

Die Gefasse bleiben auch jetzt durch ihre auffallenden Veranderungen 
im Mittelpunkte des Interesses. 

Die Infiltrate haben bedeutend zugenommen; die mittleren und kleineren 
Gefasse sind nun eingescheidet durch Plasmazellen; die Untersuchung 
mit starkeren Linsen ergibt, dass die Plasmazellen zum grossen Teile in die 
durch Zerfaserung der Gefasswande entstehenden Maschen eingalagert 
sind. 

Bei den Jcleinsten Gefassen herrscht die Wandverdickung gegenOber der 
Infiltration vor ; durch Zerfaserxmg der Elastica und Vervielfaltigung des 
Endothelbesatzes entsprechend der ins Lumen der Gefasse spiralig sich 
vorschiebenden Elastica nimmt das Lumen bis zur vollstandigen Oblite- 
rierung ab. In einer Zahl der kleinsten Gefasse geht auf diese Weise das Lumen 
verloren, und es bleibt dann oin rundes, mit blassen, langlichen, zwiebel- 
schalenartig angeordneten Kernen versehenes Gebildo zur tick, an welchem 
nur mehr die Art und Anordnung der Kerne, sowie eine durch verschiedene 
Lichtbrechung hervortretende, an die Kerne sich anschliessende Faserung 
die Herkunft erkennen lasst. (Tafel V, Figur 9.) 

Im Grundgewebe ist auch hier noch im wesentlichen die Struktur er¬ 
halten; am W eigertachnitte bemerkt man auch noch ziemlich reichliche. 
wenn auch zum Teil stark gequollene Markfasern. 

Betrachtet man aber ein Praparat, welches einer Kernfarbung unter- 
zogen wurde (mit einer schwacheren Linse), so bietet sich bereits ein Bild 
hochgradiger Veranderung dar; neben der Gefassinfiltration ist liber das 
ganze Gewebe, teils diffus, toils mehr in Gruppen angeordnet, eine sehr 
grosse Zahl von Zellkernen verschiedener Art verstreut. 

Geht man der Natur dieser Kerne und der entsprechenden Zellen nach, 
so findet man: Eine Wucherung der zelligen Elemente der Glia steht stark im 
Vordergrunde; man findet ein- und mehrkernige Monstrezellen mit den 
Charakteren der Gliafaserbildung. Den zu Gliazellen gehorigen grosseren 
und grossen, mehr blassen Kernen treten grosse Mengen kleiner, dunkel 
gefarbter Kerne zur Seite, welche vornehmlich um Gefasse sich anhaufen 
aber den Bereich der Gefasse auch iiberschreiten und im Gewebe freie An- 
haufungen bilden; siestellen Infiltrationselemente dar, und zwar liberwiegend 
Plasmazellen. 

Eine grosse Zahl von Kernen, in ihrem Aussehen zwischen den beiden 
bisher genannten stehend, gehoren zum Teil Gliaelementen an, zum Teil 
Wucherung8zeUen des Gefassbindegewebes. 

Verfolgen wir die weiteren Phasen des Prozesses, so bleiben es immer 
die Gefasse, welche in erster Linie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch 
nehmen; die Obliteration der klfinen Gefasse hat derartige Fortschritte 
gemacht, dass im Bereiche der Affektion in fast sdmtlichen kleinen Gefassen 
das Lumen verlegt ist ; sie sind oft nur mehr durch die den Gefassen zukom- 

Monatsschrift f. Psychiatric a. Neurologic. Bd. XXVIT. Heft 1. 3 


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34 Straussier, Ueber zwei weitere Falle 

menden charakteristischen Konturen zu erkennen, da auch die Reste der 
friiher bestandenen Schichtung schwinden; durch die Ansammlung von 
blassen Bindegewebskemen, den Kernen der Gefasswandzellen, in dem 
nun fast homogenen Gewebsstrang erhalten diese Abkommlinge der Gefasse 
das Ansehen von Riesenzellen. 

Nun gehen a her im nervosen Gewebe allmahlich durchgreifende Ver- 
anderungen vor sich; stellenweise geht die nervose Substanz zugrunde, 
es liegt ein aus Gliafasern gebildetes, maschiges Geriiste vor uns, in dessen 
Liicken gross© Kornehenzellen eingelagert sind 

Infiltration und Wucherung der WandzeUen an den grossen Gefassen y 
Verengerung und schliesslich Obliteration der kleinen Gefasse, Ueberschwem - 
mung des ganzen Gewebes mil Infiltrations - und WucherungszeUen 9 einerseits 
bindegewebiger und anderseits glioser Natur und zuletzt regressive Vorgdnge 
am nervosen Gewebe , Nekrose und erweichungsartige Prozesse bilden die Ele- 
menJte der sich hier abspielenden pathologischen Verdnderungen, 

Die histologischen Bilder, welche dadurch entstehen. wechseln in ver- 
schiedenen Hohen und auch im einzelnen Schnitte je nach dem Grade, zu 
welchem der Prozess gediehen ist. Wir wollen die einzelnen Stadien und die 
dabei erscheinenden Zell- und Gewebselemente festhalten. Die feinere 
histologische Untersuchung erleidet in unseren Praparaten freilich eine Ein- 
busse dadurch, dass von vornherein das ganze Praparat in der Weigert - 
schen Chrombeize eingelegt und die angefertigten Serienschnitte die Dicke 
von 40 /x besitzen. Fur die Kornfarbungen wurden die Praparate wohl 
wieder entchromt, die Dicke der Schnitte erschwert aber immerhin die 
Differenzierung mancher Zellarten in hohem Masse. 

Die ersten im Gewebe und an den Gefassen auftretenden Veranderungen 
wurden bereits geschildert; in den peripheren Partien des von dem Prozesse 
betroffenen Gebietes finden sich in alien Hohen die gleichen, wie aus unserer 
friiheren Beschreibung hervorgeht, als entzundlich zu bezeichnenden Er- 
scheinungen. 

Es kommt dann ein Stadium, in welchem sich dem Auge beim Blicke 
ins Mikroskop dicht an einander stehende Kerne und Zellen darbieten; ab- 
gesehen von den Gefassen verschwindet das urspriingliche Gewebe voll- 
standig unter dieser Zellmasse. 

Es ist ausserordentlich schwierig, in diesem Zellwust die einzelnen 
Zellarten zu differenzieren; vollends unmoglich wird es, die Protoplasma- 
leiber von einander zu scheiden und dem zugehorigen Kerne zuzutoilen. 

Zwischen den Kernen blickt eine zum Teile homogene, zum Teile granu- 
lierte, meist zusammenfliessende, hie und da in einzelne Zellelemente zu 
trennende Protoplasma masse hervor. 

Die Kerne . welche hier zu sehen sind, lassen sich differenzieren als: 
1. Radkerne von Plasmazellen; 2. dunkle, runde, kleine Kerne, Lympho- 
zyten angehorig; 3. runde, grosse, blasse Kerne von glioser Natur; 4. lang- 
gestreckte, blasse, chrornatinarme Kerne von bindegewebigem Charakter. 

Die regressiven Vorgange koinmen in zwei verschiedenen Formen zum 
Ausdruck, und zwar scheint die Struktur des Gewebes dabei von ausschlag- 
gebender Bedeutung zu sein. In der gi’auen Substanz zeigt sich an mancher 
Stelle das Bild derKoagulationsnekrose. Das ganze Gewebe erhalt ein triibes 
Aussehen, ist von eincr fadigen Masse durehzogen, die Kerne leiden an ihrer 
Farbbarkeit und fallen der Zerstbrung anheim; an anderen Orten sieht man 
bereits Zeichen einer fortgeschrittenen Zerstbrung des Gewebes; es ent- 
stehen Gewebsliicken, welche mit einer gerinnselartigen Masse erfiillt von 
dichten Haufen dunkler Kornchen, die als Zerfallsprodukte von Zellkernen 
ini{)onieren, umgeben sind. 

In der weissen Substanz dagegon dominieren beim Eintreten von Zer- 
iallsprozessen Gitterzellen; zunachst troten einzelne typische Gitterzellen 
zwischen den friiher beschriebenen Kernen verschiedener Art auf. Das End- 
resultat einerseits des Zerfalls der nervosen Substanz und anderseits der 
Wucherung der Glia stellt sich dann de#hrt dar, dass die Raume zwischen 
den maehtigen Gliabalken von ey)ithe!artig aneinander gereihten Gitter¬ 
zellen erfiillt sind. 


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Xoch in einem friiheren Stadium des Zerfall sprozesses sieht man an dsn 
Gitterzeilen ein nicht gewohnliches Bild xonC ytophagie; man findet eine grosse 
Zahl dieser Zellen von grossen Dimensioned vollgepfropft mit toils gut er- 
haltenen, toils zerfallenen Kernen; es sind die gleichen Kemfragmeute, 
wie wir sie friiher im Gewebe beschrieben haben. v Taf. V. Fig. 10.) 

Manchmal erhalfcen dies© mit Kernen vollgepfropften Zellen, sofem 
die Kerne noch gut erhalten sind. das Aussehen von Riesenzellen. Selbst- 
verstandlich kann man diesen Gebilden nicht die Bedeutung von Riesen- 
zellen beimessen. 

Nun findet man aber sehr haulier in Gebieten. in welchen bereite ne- 
krotische Veranderungen Platz gegriffen haben, noch Zellforinen, welohe 
den Xaroen von ^Riesenzellen" tatsachlich verdienen, wenn sie auch von dem 
gewohnlichen Aussehen dieser Zellen — in Granulationsgeschwiilsten — 
abweichen. 

Es handelt sieh dabei nni eine Anhaufung von mittelgrossen, runden 
oder haufiger noch langgestreckten, ziemlich chromatinreichen Kernen zu 
einem dichten. anscheinend durch Protoplasma zusammengehaltenen, 
runden oder mehr unregelmassigen. langgestreckten Haufen; das Proto¬ 
plasma ist zwischen den Kernen als homogene Masse sichtbar. Die 
Zellen haben grosse Aehnliehkeit mit Riesenzellen aus Sarkomgeschwulsten. 
(Taf. V, Fig. 11.) 

Einer genaueren Beschreibung bedarf noch das Verhalten der grossertn 
Gefasse im Gebieto der starksten pathologischen Veranderungen. 

Von der Infiltration der Gefasse mit Plasmazellen und der Wucherung 
der Wandzellen war schon friiher die Rede; in einem friihen Stadium des 
Prozesses findet man die Gefasse eingescheidet von einem breiten, dichten 
Infiltrationsringe. Sobald aber die Nekrotisierung im Nervengewebe Platz 
gegriffen hat, sieht man an den Gefassen noch weitere Veranderungen. Es 
sei nur kurz erwahnt, dass an der Intima sich Wuclierungsvorgiinge ab- 
spielen, dass die Elastica sich absplittert und das Endothel proliferiert, 
class die Media einer Homogeneeierung unterliegt. Den starksten Ver¬ 
anderungen ist die Adventitia unterworfen, und mit diesen wollen wir uns 
hier beschaftigen. 

Die Adventitia hat sehr bedeulend an Umfang zugenommen , so dass sie 
einen sehr breiten Kranz um das Gefass bildet; ist diese Zunahme zum Teil 
durch ein Auseinanderweichen der Bindegewebsfasern bedingt, so ist zweifel- 
lo8 auch eine wirkliche Massenzunahme dmch Proliferation vorhanden. 
Die Fasern weichen auseinander und nehmen zwischen sich in die so ent- 
standenen Maschenraume grosse Mengen von Zellen auf; zunachst sind es 
Infiltrationszellcn, und zwar wiederum Plasmazellen. Wenn die Wucherung 
der Adventitia, die Auf split ter ung der Fasern und die Erweiterung des 
adventitiellen Lymphraumes sich nicht gleichmassig auf die Peripherie 
des Gefasses verteilt, so entstehen — am Querschnitte — meniscusartige 
Ansatze auf die Gefasswand. 

Kommt es in der Umgebimg des Gefasses zum Zerfall des Gewebes, 
so ist dann das innerhalb der Adventitia befindliche Zelldepot ein Abbild des 
im Qewebe befindlichen friiher geschilderten Zellmateriales; man sieht hier 
eine dichte Masse teils gut erhaltener, tails in Zerfall begriffener Zellen, 
welche zum Teile von Infiltrationsvorgangen herriihren, zuin Teile der 
Proliferation der Gefasswandzellen ihr Leben verdanken, zum Teile aus dem 
Gewebe zugefuhrtes Material — Gitterzellen samt Inhalt — darstellen. 
Es ist wohl nicht notwendig, besonders hervorzuheben, dass die Gliaela- 
mente, welche im Bilde des pathologisch veranderten Gewebas eine grosse 
Rolle spielen, hier fehlen. 

Im Anschluss© an die Veranderung der Adventitia ergibt sich dann 
haufig ein interessantes Verhalten dieser Gefasse der Umgebung gegeniiber. 
An vielen Orten verliert sich die Grenze der Gefasswand in das umgebende 
Gewebe; manchmal ist diese Erscheinung dadurch bedingt, dass die machtige, 
das Gefass einscheidende Zellmasse unmittelbar in einen das Gefass be- 
gleitenden besonders dichten Wall von Zellen, welche schon dem Gewebe 

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Stra ussier, Ueber zwei weitere Falle 


angehoren, iibergeht; haufig spielt aber ausserdem fur das Verschwimraen 
der Grenze die Eigentiimlichkeit der Auffaserung der Adventitia eine 
wichtige Rolle. Das aufgefaserte Bindegewebe strahlt in die Umgebung 
ein, wahrend anderseits die gewucherte faserige Glia sich derart an die Ge¬ 
fasse anschliesst, das9 eine Scheidung — insbesondere bei den gewohnlichen, 
fur Gliagewebe nicht spezifischen Farbemethoden — gar nicht mehr mog- 
lich ist. 

Wie ans der topographischen Beschreibung der Affektion hervorgeht, 
strahlt sie nach vorne in das Stimhim ein und findet hier ihre ausserste, 
vordere Grenze. 

Der ,,Herd“ nimmt hier auf der hnken Seite ein Areal von etwa 0,5 cm 
im Durchmesser ein, findet seine aussere Begrenzung an der Rindenmark- 
grenze. 

Beim Blick in das Mikroskop fallen wieder zunachst die Gefasse infolge 
der breiten Einscheidung durch Infiltrationszellen in die Augen: Lympho- 
zyten und Plasmazellen halten einander in der Infiltration ungefahr die 
Wage. 

Fasst man nun das ganze betroffene Gebiet ins Auge, so fallt die Reich - 
haltigkeit an Kernen auf; die Verteilung derselben ist keine gleichmassige, 
sondern eine herdweise; es finden sich mehrere Punkte, um welche die 
Kernanhaufung besonders dicht ist, und zu gleicher Zeit macht sich eine 
Andeutung von Schichtung geltend: Ein Zentrum, bestehend aus einer Masse 
von kleinen, sehr dunkelgefarbten Kernen, welche verschiedene Formen 
aufweisen und zum Teile in Zerfall begriffen zu sein scheinen, ist umgeben 
von stark gewucherten Gliazellen — Monstrezellen —, von Stabchenzellen 
und zahlreichen Bindegewebszellen, welche offenbar von den im Umkreise 
vermehrten Gefassen abstammen. 

Die kleinen Kerne des Zentrums sind Plasmazellen und Lymphozyten, 
zum Teile Bindegewebszellen in verschiedenen Stadien des Zerfalls. 

Es eriibrigt uns nur noch, den Befunden an den iibrigen Teilen des 
Gehirnstammes, an den Meningen der Gehimbasis und den basalen Gefassen 
eine kurze Schilderung zu widmen. 

In den von der beschriebenen Affektion verschonten Partien ist fast 
iiberall eine geringe Infiltration der Gefasse mit Plamazellen und Lympo- 
zyten nachweisbar. 

Reeht erhebliche meningitische Erscheinungen finden sich an der menin - 
gealen Bekleidung des Gehirnstammes; die Infiltration erreicht sehr hohe 
Grade an der Strecke der Hirnschenkel, wo der zuvor beschriebene Prozess 
bis an die Basis heranreicht; hier besteht dann auch eine Kontinuitat 
zwischen der meningealen Affektion und der Erkrankung der Hirnsubstanz. 
Wahrend aber in den Meningen der Prozess durch die Art der Infiltration 
— junge Zellen, sehr viel Lymphozyten — den Stempel einer verhaltnis- 
massig frischen und akuten Erkrankung tragt, ist in der benachbarten Ge- 
himsubstanz bereits ein weitgediehener Zerfall nachweisbar. Die Annahme , 
doss die Affektion der nervosen Substanz etwa sekundar durch die meningeale 
Erkrankung bedingt ware , ist daher von der Hand zn weisen. 

Von wesentlichem Interesse erscheint natiirlich das Verhalten der 
basalen Gefasse ; in dieser Hinsicht ist nun hervorzuheben, dass nirgends 
erhebliche Veranderungen vorhanden sind. In der Arteria vertebralis, hie 
und da auch in den Aesten derselben, sind wohl endarteriitische Prozesse 
vom Heubnerschen Typus sichtbar. Nirgends kommt es aber zu einer 
wesentlichen Verengerung, geschweige denn zu einer Verlegung des Lumens 
der fiir die Emahrung des betroffenen Gebietes in Betracht kommenden 
Gefasse. 

Halt sich die Infiltration in der meningealen Bekleidung des Gehirn¬ 
stammes im allgemeinen noch in solchen Grenzen, dass man sie der Paralyse 
zuschieben konnte, so erreicht sie um das Chiasma an den hinteren basalen 
Partien des Stimhims einen Grad, welcher einer besonderen Erklarung be- 
diirftig ist; die Infiltration hat stellenweise die Breite von etwa 1 mm . 


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Neben der Intensitat bildet die Ungleichmassigkeit der Verteilung ein 
auffalliges Moment; es ist eine herdweise Ansammlung der Infiltrations- 
zellen ganz deutlich ausgesprochen (Taf. V, Fig. 12), und zwar sitzen die 
Infiltrationsherde vomehmlich an der Wolbung, am Uebergange von der 
basalen zur inneren Flache der unmittelbar vor dem Chiasma gelegenen 
Stirnhirnteile. 

Was aber diese Infiltration besonders von der Infiltration bei Paralyse 
unterscheidet, das ist einerseits das Auftreien von epitheloiden Zellen innerhalb 
der Infiltrationsmasse und anderseits nekrotisehe Vorgdnge. 

Es sei aueh hier wieder hervorgehoben. dass die Infiltrationszellen 
zum guten Teile aus Plasmazellen bestehen. Im Zentrum der angehauften 
Infiltrationszellen, welch& im gefarbten Praparate als sehr dunkle Flecken 
an der Gehirnbasis erscheinen. zeigen sich da und dort deutliche Lichtungen 
(Taf. V. Fig. 13), und die Untersuchung mit starkeren Linsen ergibt, dass 
hier neben einzelnen Infiltrationszellen vomehmlich Zellen mit grossem, 
langlichem, blassem, blasigern Kern Platz gefunden haben; stellenweise 
erhalt das Gebiet ein triibes Aussehen, und die hier befindlichen Infiltrations¬ 
zellen zeigen ganz ausgesprochene Merkmale von regressiven Vorgangen. 

Die Gehirnsubstanz wird in den an die Affektion der Meningen an- 
grenzenden Partien durch Ueberwandern von Infiltrationszellen und durch 
Infiltrierung der Gefasse in Mitleidenschaft gezogen; die nervosen Ele- 
mente erfahren eine Schadigung, welcher eine entsprechende Gliawucherung 
auf dem Fusse folgt. Diese Veranderungen halten sich aber bloss an die 
Oberflache der Gehirnsubstanz und st-ehen init der friiher beschriebenen 
Affektion des Stirnhirns nicht in Kontinuitat. 

Durch die Entziindung der Meningen in der Umgebung des Chiasma 
werden die Sehnerven in Mitleidenschaft gezogen; die Opticusscheiden weisen 
eine rechl lebhafte Infiltration auf . 

Die an den Schnitten dieser Gegend sichtbaren Carotisstiimpfe tragen 
an ihrer Intima ziemlich erhebliche Wucherungen von Heubnerschem 
Typus. 

Im Riickenmark fand sich eine voUentwickeUe Tabes , welche in ihrer 
typisehen Art zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass gibt. 

Die auf die Diagnosenstellung hinzielenden klinischen Er- 
u agungen bekamen durch die im Vordergrunde stehenden nervosen 
Ausfallserscheinungen eine zum vorigen Falie entgegengesetzte 
Richtung. Schien dort die Diagnose der Paralyse den Krank- 
heitsfall auch nach der anatomischen Richtung hin zu erschopfen, 
so wurde hier bei der Dignose auf die luetische ErJerankuruj 
das Schwergewicht gelegt. 

In ziemlich rascher Folge entwickelten sich etwa zwei Monate 
vor der Aufnahme in die Klinik Augenmuskelstorungen und Lah- 
mungserscheinungen einer Halbseite. 

An der Klinik erwiesen sich die Augenmuskelstorungen im 
wesentlichen bedingt durch eine komplette Ldhmung des Ocvlomo - 
torius der linken Seite; der Abducens war sicher frei, beziiglich des 
Trochlearis konnte kein sicheres Urteil gewonnen werden. Dazu 
kam eine Parese der rechten Korperhalfte mit Ausfall der Haut- 
reflexe, wir hatten also eine Hemiplegia altemans vor uns. Spater 
bildeten sich auch im Bereiche des recliten Oculomotorius in be- 
schrankterem Masse Lahmungserscheinungen aus. Schluckbe- 
schwerden und eine Artikulationsstorung von bulbarem Charakter 
fiigten sich in den Rahmen einer im Bereiche des Gehirnstammes 
zu lokalisierenden Lasion. 


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Strausslor, Ueber zwoi weiter© Fall© 


Das Krankheitsbild kompbzierte sich, als dann eine aphasische 
Sprachstorung, in welcher eine Paraphasie vorherrschte, hinzutrat. 
Da die reinen Bulbarerscheinungen, die bulbare Sprachstorung 
und die Schluckbeschwerden in dem Symptomenkomplex in ihrer 
Intensitat zuriicktraten, die Aphasie aber auf eine Affektion des 
Grosshims hinwies, war man geneigt, die Augenmuskelstorungen 
auf einen basalen meningitischen Prozess luetischen Charakters und 
die Korperlahmung auf eine durch luetische Gefasserkrankung 
bedingte Erweichung in der linken Hemisphare zuriickzufiihren; 
die Annahme der basalen Meningitis fand eine Stiitze in der von 
ophthalmologischer Seite nachgewiesenen Neuritis optica. 

In dem Bestreben, alle Erscheinungen durch die luetische 
Erkrankung zu erklaren und bei dem Fehlen geniigender Anamnese 
kam man dazu, die tabischen Symptome im Sinne einer Pseudo- 
tabes syphilitica aufzufassen. 

Diese nervosen Erscheinungen beherrschten in solchem Masse 
das Krankheitsbild, dass auch die psychischen Symptome auf 
Kosten der Syphilis des Zentralnervensystems resp. der sekundaren 
Veranderungen gesetzt wurden. 

Erst in zweiter Linie wurde progressive Paralyse ins Kalkiil 
gezogen. 

Die Annahme einer Pseudotabes syphilitica biisste zwar sehr 
viel an Wahrscheinlichkeit ein zugunsten einer gewohnlichen Tabes, 
als die Wassermannsche Reaktion der Zerebrospinalfliissigkeit 
sich als positiv erwies. 

Die Diagnose einer syphilitischen Erkrankung wurde nun durch 
die Sektion bestatigt, wenn auch die Art und Lokalisation der 
Storung sich mit unseren Voraussetzungen nur zum Teile deckten. 
Insbesondere zeigten sich die tabischen Erscheinungen als Ausdruck 
einer gewohnlichen Tabes und die Wassermann sche Reaktion 
hatte also den richtigen Weg gewiesen. 

Die histologische Untersuchung deckte aber weiters die progres¬ 
sive Paralyse auf, und so kann man wohl annehmen, dass die 
psychischen Symptome auf Kosten der Paralyse zu setzen waren. 

Wahrend die Wurdigung der Kombination von progressiver 
Paralyse mit den spezifisch-luetischen Erscheinungen fiir spater 
aufgespart sei, wollen wir hier bei der aus dem anatomischen Be- 
funde sich ergebenden Deutung der klinischen Erscheinungen 
und dem anatomischen Befunde selbst kurz verweilen. 

Die Oculomotoriuslahmung der linken Seite erkldrt sich einer- 
seits aus der Affektion der Kernregion und anderseits aus der Er¬ 
krankung der Wurzelfasern; es ist selbstverstandlich nicht moglich, 
den Anted dieser und jener an dem Endeffekt der totalen Lahmung 
festzustellen. Es handelt sich aber jedenfalls nicht um den gewohn¬ 
lichen Entstehungsmodus der Lahmung durch die basale Menin¬ 
gitis. 

Die partiellen Lahmungserscheinungen im rechten Ocvlomotorius 
konnen wir aber auf die Erkrankung des Kernes beziehen, und wir 


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von Korabination cerebraler. guinmoser Lues etc. 


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hatten also hier den von Nonne ') als besonders selten bezeichneten 
Fall—es soli nach Nonne und WUbrand und Saenger kein einschlagiger 
Sektionsbefund vorliegen — einer partiellenOculomotoriuslahmung 
vor uns, welche durch eine isolierte Kemerkrankung bedingt ist. 

Die gekreuzte Ldhmung der Kdrpermuskulatur ist durch die 
Ausdehnung des Herdes in den Hirnschenkelfms resp. in einen Teil 
der inneren Kapsel verursacht; wir konnen von einer Hemiplegia 
alternans superior sprechen. 

Die Neuritis optica bedarf als Folge der basalen, um das 
Chiasma besonders stark ausgesprochenen Meningitis mit sekun- 
darer Affektion der Sehnerven keiner weiteren Erorterung. 

Fiir die Schluckbeschwerden, die bulbare Sprachstorung und 
die Aphasie fand sich kein groberes Herdsubstrat. 

Wenn wir nun auf die anatomischen Veranderungen — ab- 
gesehen von den Symptomen der Paralyse, welche auf ein verhalt- 
nismassig wenig vorgeschrittenes Stadium der Krankheit hin- 
weisen, aber sonst nichts Bemerkenswertes bieten — unser Augen- 
merk richten, so ergibt sich fiir die Erkranhung der Meningen in 
der Gegend des Chiasma sowohl nach deren Sitz als auch nach der 
histologischen Eigentiimlichkeit eine sichere Deutung; konnen wir 
Tuberkulose ausschliessen, was hier tatsachlich der Fall ist — 
eine Sarkomatose kommt hier wohl gar nicht in Betracht —, so 
ist bei Beriicksichtigung des ganzen Bildes die Diagnose einer 
gummosen Meningitis nicht anzuzweifeln. 

Wir miissen besonders hervorheben, dass wir in den aus j ungen 
Plasmazellen bestehenden, in herdweiser Verteilung auftretenden 
Infiltrationen Herde von grossen, bindegewebigen j Zellelementen 
von epitheloidem Charakter auftreten sehen, welche mit den Infil- 
trationszellen gummose Bildungen formieren, in denen auch ne- 
krotische Vorgange Platz greifen. 

Auf diesen Befund sei als unzweifelhaftes Kriterium eines von 
der paralytischen Infiltration grundverschiedenen Prozesses be- 
sonderes Gewicht gelegt. 

Viel schwieriger gestaltet sich unsere Aufgabe, die Affektion 
des Gehirnstammes einer befriedigenden Deutung und Erklarung 
zuzufiihren. 

Wir diirften der Losung am ehesten im Wege der Exklusion 
naher kommen. 

Der makroskopische Befund und der Zerfall der nervosen 
Substanz bietet manche Aehnhchkeiten mit einer ischamischen 
Erweichung. Aber schon die Verteilung des Prozesses lasst uns die 
Annahme einer gewohnlichen ischaemischen Erweichung von der 
-Hand weisen. Der vorliegende Prozess nimmt nicht nur das Ver- 
sorgungsgebiet verschiedener Gefasse desselben Ursprungs ein, 
sondem erstreckt sich auf ein Territorium, welches seine Ernahrung 
aus ganz verschiedenen Blutquellen bezieht: Aus der Art. basilaris 
und der Carotis interna. 


M 1. c. 


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Stra ussier, Ueber zwei weitere Fiille 


Bei der Verfolgung der Serienschnitte erweist sich die Be- 
greuzung der Herde im Querschnitte als ganz unregelmassig, 
von der Gefassversorgung unabhangig; wir wollen nur auf das 
TJebergreifen des Prozesses iiber die Mittellinie hinaus und auf die 
isolierten Herde im Hohlengrau, im Oculomotoriuskem beider 
Seiten hinweisen. 

Dazu kommt noch, dass nirgends, weder in den Gefassstammen 
noch in den grosseren Aesten, der endarteriitische Prozess solche 
Dimensionen annimmt, dass von einer wesentlichen Beeintrachti- 
gung des Lumens die Rede sein konnte. 

ji Stehen also diese Momente von vornherein mit dem Bilde 
einer Erweichung im Widerspruche, so ergibt die genauere histo- 
logisclie Untersuchung eine weitere Handhabe zur Differenzierung 
gegeniiber einer solchen. 

Wir haben entsehieden einen entzundlichen Prozess vor uns, 
der primar, also unabhangig von dem Zerfalle der nervosen Sub- 
stanz, einsetzt. In den Gebieten, wo regressive Prozesse, nekrotische 
und Erweichungsvorgange den Ausgang der Erkrankung bilden, 
haben wir Gelegenheit zu beobachten, dass die Nekrotisierung 
eine Folge der im Entziindungsprozess sich entwickelnden Gefass- 
veranderungen darstellt, dass also die nekrotischen Vorgange 
als sekundar zu betrachten sind. Wenn wir nun zugeben, dass die 
Schwierigkeit, aus dem histologischen Bilde die Genese des Pro¬ 
zesses herauszulesen und ein Urteil iiber Ursache und Wirkung 
abzugeben, der Sicherheit der Entscheidung Eintrag tut, so geben 
uns die isolierten Herde den unzweifelhaften Beweis fiir den pri- 
maren Charakter der Entziindung; hier sehen wir namlich die Ent- 
ziindung als selbstandigen Prozess ohne Koinplikation mit nekro¬ 
tischen Vorgangen; wahrscheinhch riihren diese Herde aus der 
jiingsten Zeit her — beziiglich des Herdes in der Kernregion des 
rechten Oculomotorius spricht auch die klinische Beobachtung 
fiir diese Annahme—, und deshalb kani es nicht zu voller Ent- 
wicklung der Erkrankung und zu den sekundaren Erscheinungen 
der Nekrose. 

Wenn wir nun zu dem Schlusse gelangt sind, dass wir es mit 
einem primaren Entziindungsprozess zu tun haben, in dessen Ver- 
laufe nekrotische Vorgange Platz greifen, so drangt sich in Anbe- 
tracht der an anderen Orten nachgewiesenen syphilitischen Er¬ 
scheinungen sofort die Frage auf: Handelt es sich um einen spezi- 
fisch syphilitischen, einen gummosen Prozess? 

Wir miissen nun gestehen, dass wir es vorziehen, mit einer be- 
stimmten Antwort zuriickzuhalten. 

Wir sehen wohl einen chronisch entzundlichen, nicht eitrigen 
Prozess, welcher in den Gefassen seinen Ursprung nimmt und zu 
nekrotischem Zerfall des Gewebes im infiltrierten Gebiete infolge 
obliterierender Veriinderung der Gefasse fiihrt. Wir sehen auch 
,,Granulationsgewebe“ vor uns undZellelemente, welcheEpitheloid- 
und Riesenzellcharakter tragen. Es kommt jedoch nicht zur Ent- 
wicklungvonwirklichenGranulationsgeschwulsten mitentsprechend 


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von Knmbination cerebraler. gummosor Lues etc. 


41 


deutliclier Auspragung der Schichtenbildung; der den Gummen 
zukommende Geschwulstcharakter tritt bei der beschriebenen 
Affektion iiberhaupt nicht in Erscheinung, wir haben es vielmehr 
mit einem diffusen. infiltrierenden. zuletzt das Nervengewebe 
zerstorenden Prozess zu tun. 

Die Kriterien der gummose n Bildungen sind also hier zu wenig 
deutlichausges prochen .alsdasswir uns fiir berechtigthielten, den Prozess 
in dezidierter Weise als spezifisch syphilitischen zu bezeichnen. Wir 
glauben deni heutigen Stande unserer Kenntnisse der syphilitischen 
Prozesse im Zentralnervensystem Recknung zu tragen, wenn wir 
uns darauf beschranken, von einer Encephalitis bei einem Syphili- 
tiker zu sprechen. 

Wir schliessen uns dem Vorschlage Fischers •) an. ..einstweilen 
den Begriff der syphilitischen Prozesse nur fur das Gumma, die 
Endarteriitis und die gummose Meningitis beizubehalten“, in- 
solange nicht durch positiven Spirochaetenbefund etwa auch fiir 
andere Prozesse die syphilitische Natur erwiesen wird. 

Da mit Riicksiekt auf die Unzuliinglichkeit der pathologischen 
Anatomie in der Frage der Spezifizitat von bei Syphilitikem auf- 
tretenden pathologischen Prozessen bisher vomehmlich aus der 
Statistik und Klinik entlehnte Argumente fiir die Entscheidung, 
ob sypliilitisch oder nicht syphilitisch, massgebend waren, so ist. 
es berechtigt. bei dieser Abgrenzung den Erfordernissen der Klinik 
hinsichtlich der Umschreibung der Krankheitsbegriffe Rechnung 
zu tragen. 

Da stellt uns nun, wie wir sehen w r erden, die Frage der ,,Lues 
cerebri diffusa 44 in ihrem Verhaltnisse zur progressiven Paralyse 
vor die dringende Notwendigkeit. die Spezifizitat syphilitischer 
Prozesse im Zentralnervensystem moglichst enge zu fassen. 

Die Annalime einer ,,syphilitischen Myelitis 44 , d. h. einer 
Myelitis ohne gummose Prozesse, wird schon in deralterenLiteratur 
vielfach vertreten; es sei nebenbei erwahnt, dass ein Vergleich 
unserer Priiparate mit der von Fr. Schtdlze 2 ) gegebenen Beschrei- 
bung und den Abbildmigen in der Abhandlung von A. Pick 3 ) hin¬ 
sichtlich der Gefassveranderungen eine auffalligeUebereinstimmung 
ergibt. 

von Bechterew 4 ), welcher in lebhafter Weise fiir die Be- 
rechtigung, primar in dem Gewebe der Zentralorgane auftretende 
,,spezifische“ Prozesse anzuerkennen, eintritt, halt die ,,syphili¬ 
tischen 44 Encephalitiden fiir noch viel haufiger als die Myelitiden ; 
der von v. Bechterew 5 ) beschriebene Fall tragt aber ebensowenig 
siehere Merkmale der Spezifizitat — im friiher erwahnten Sinne 

') 1. c. 

') Fr. Schultze, Arch. f. Psych.. Bd. Vlll. 

*) A. Pick. Zur Frage der chronischen Myelitis. Wiener klin. Rund¬ 
schau 1902. 

4 ) v. Bechterew. Die Syphilis des Zen trainer vensys terns im Handltuch 
der I'ath. Anat. d. Nervensvst. von Flatau. .Tacobsohn und Minor. 1904. 

■) 1. e. 


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Stra ussier, Ueber zwei weitere Falle 


— wie der viel zitierte alte Fall von Charcot und Oombatdt ’) und der 
von Oppenheim a ) kurz beschriebene. 

Von der Anerkennung dieser Prozesse als , syphilitisch" fiihrt 
nur ein Schritt zu den Anschauungen, welche aie verschieden- 
artigsten Prozesse im Zentralnervensystem der Syphilis zurechnen; 
wir wollen besonders hervorheben, dass auch chronisch-hyperpla- 
stische Entziindungen und einfache, nicht gummose Meningitiden 
als Ausdruck einer syphilitischen Affektion erklart warden. 

Von wesentlichem Interesse fiir uns ist im Hinblick auf die 
Paralyse der Versuch, auch primare degenerative Prozesse der 
Syphilis zuzuzahlen. Erb 3 ) hat in einer sehr interessanten Ab- 
handlung, ausgehend von der Unzulanglichkeit selbst der patho- 
logischen Anatomie, die ,,spezifisch syphilitischen" Produkte wie 
das Gumma in unzweifelhafter Weise zu umschreiben, aus klini- 
schen Erwagungen die Berechtigung abgeleitet, die verschiedenen 
Systemdegenerationen, die primaren Kemdegenerationen, die 
Opticusatrophie u. s. w. dem Gumma gleichzustellen und als 
syphilitisch anzusehen. 

Die Erbsche Beweisfiihrung erleidet durch die neuen Ergebnisse 
der Syphilisforschung eine Einbusse, indem nun durch den, wenn 
auch bisher seltenen Nachweis der Spirochaeten in Gummen, ins- 
besondere aber durch die von Gummen aus gelungene Syphilis- 
ubertragung deren ,,spezifische" Eigenschaft ausser alien Zweifel 
gestellt ist. 

Wir haben bereits erwahnt, dass uns ausserdem die Lues 
cerebri-Paralysefrage eine von der £V6schen Anschauung ab- 
weichende Auffassung diktiert. 

Wenden wir uns nun dieser Frage zu, so stehen wir vor der 
Notwendigkeit, vorerst zu untersuchen, ob die Paralyse als svphili- 
tischer Prozess aufgefasst werden kann. 

Mit demselben Rechte, mit welchem nach Erb die System- 
erkrankung des Hinterstranges, die Tabes, als syphilitisch anzu¬ 
sehen ware, konnte man die der Tabes verwandte progressive 
Paralyse als ,,syphilitisch" bezeichnen. 

Sehen wir jetzt von der alten Bezeichnung der „syphilitischen 
Paralyse" ab, welche ihre Existenz der Gegeniiberstellung zur 
,,essentiellen Paralyse" aus rein anamnestisch-atiologischen Mo- 
menten verdankt, so wurde mit Hulfe von Argumenten, welche 
der pathologischen Anatomie entnommen wurden, wiederholt der 
Versuch gemacht, die ,.syphilitische“ Natur der Paralyse abzu- 
leiten. 


') Charcot u. GotnbauU, Note sur un cas de lesions disseminees des 
centres nerveux observees chez une femme syphilitique. Arch. d. phys. 
norm, et path. 1873. 

*) Oppenheim, Die syphilitischen Krkraukungen des Gehirns. Wien 1903. 
*) Erb, Bemerkungen zur path. Anatomie der Syphilis des zentralen 
Nervensystems. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk. 1902. 22. Bd. 


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von Kombination cerebraler. gummoser Lucs etc. 


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Obersteiner 1 ) setzte im Jahre 1892 die Paralyse in Analogie 
mit den chronisch entziindlichen Prozessen mit Tendenz zu Sklerose, 
welche bei Syphilis in anderenOrganen, z. B. in der Leber, gefunden 
werden und glaubte die Paralyse den „Spatformen“ der Syphilis 
zurechnen zu konnen. DieseAuffassung, welche sich spater HirscM*) 
zu eigen machte, findet den pragnantesten Ausdruck in der von 
Leaser 3 ) fur die von Syphilis abhangigen ,,interstitiellen Ent- 
ziindungen" (Tabes, Paralyse) vorgeschlagenen Bezeichnung der 
,,quartaren SyphiUs“. 

Mit Recht hebt Nonne dem gegenuber hervor, dass bei der 
Tabes eine interstitielle Entziindung nicht dasPrimare ist, und die- 
selbe Einwendung ist auch hinsichtlich der Paralyse gegen Leasers 
Auffassung geltend zu machen. 

Was die Ableitung der ,,syphihtischen“ Natur der paralytischen 
Veranderung von der Analogie mit der als ,,syphihtisch“ ange- 
sehenen Sklerose der Leber und des Hodens betrifft, so leidet die 
Beweisfiihrung vor allem daran, dass die Zurechnung der ,,dif- 
fusen Sklerose" dieser Organe zur Syphilis sich viel weniger auf 
anatomische Merkmale als auf konventionelle Auffassung stiitzt. 
Wir konnen davon absehen, dass der paralytische Prozess histo- 
logisch nicht ohne weiteres den erwahnten Veranderungen in an- 
deren Organen gleichgestellt werden kann; es ergibt sich schon 
aus dem friiher erwahnten Momente, dass selbst bei der Voraus- 
setzung der Identitat der Prozesse aus dem Vergleiche kein Beweis 
fiir die syphilitische Natur der paralytischen Erkrankung ge- 
schopft werden kann. 

Ebensowenig begriindet — aber besonders verhangnisvoll 
fiir die Frage der ,,diffusen Hirnlues" — erscheinen uns die viel- 
fachen Versuche, durch „Uebergange“ im histologischen Bilde 
zwischen spezifisch-luetischen Erscheinungen und der Paralyse 
den anatomischen Nachweis fiir die Identitat der Prozesse zu 
fiihren und damit die Natur der paralytischen Erkrankung als 
,,8yphilitisch“ zu erweisen. 

Hier ist vor allem Raymond 4 ) zu nennen, welcher sich auf 
Anschauungen von Gilbert und Lion beziiglich der auf Syphilis 
beruhenden Erkrankungen des Riickenmarks stutzend zum 
Schlusse kommt, die Lasion der progressiven Paralyse sei in histo- 
logischer Hinsicht syphilitisch, indem sie sich zur gummosen 
Meningoencephalitis so verhalt, wie die ,,Meningomyelite embryon- 
naire“ zur „MeningomyeUte gommeuse". Raymond meint mit 
dieser Gegeniiberstellung, dass ebenso wie im Bereiche des Riicken- 
marks nach Gilbert und Lion von den ,,spezifisch syphilitischen" 

') Obersteiner, Die Beziehungen der Syphilis zur progr. Paralyse. 
Intern, klin. Rundschau, 1892. 

*) Hirschl, Die Aetiologie der progr. Paralyse. Jahrb. f. Psych, u. 
Neurol. 1896. 14. Bd. 

*) Leaser, Berl. klin. Wochenschr. 1904, 1905, 1906. 

4 ) Raymond, Contribution a l’6tude de la syphilis du systeme nerveux. 
Arch, de Neurolog. 1894. Tome XXVII. 


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Strii ussier, Ueber zwei weitere Falle 


Entziindungen, welche ohne gummose Bildungen einhergehen 
und sich durch reichliche Entwicklung von jungen Zellen in den 
Meningen und deren Gefassen auszeichnen, Uebergange zu den 
sklerotischen und gummosen Prozessen fiihren, im Gehim von 
der Infiltration der Pia mater durch junge rundliche Zellen, welche 
sich im Grunde der Furchen zu ,,miliaren Knotchen" anordnen 
(ein Befund bei Paralyse), nur ein Schritt zu wirklichen miliaren 
Gummen fiihre; es gebe auch Kombinationen zwischen den beiden 
Arten der pathologischen Veranderung. 

AufdieBedenken, welchedagegenobwalten, aus,,Uebergangen“ 
histologischer Bilder und auf Grund ausserlicher Aehnlichkeiten 
auf die Wesensidentitiit zweier Prozesse Schliisse zu ziehen, wurde 
schon genugend haufig hingewiesen. Was aber besonders der 
Identifizierung von syphilitischen Meningitiden bezw. Meningo- 
encephalitiden mit der progressiven Paralyse entgegensteht, ist der 
Umstand, dass ja den gegenwartigen Anschauungen nach das 
Wesen des pathologischen Prozesses mit der Charakterisierung 
der meningealen Veranderung nicht erschopft erscheint, die Er- 
krankung des Gehirns und die der Meningen in keinem Abhangig- 
keitsverhaltnisse stehen und auch die Auffassung der progressiven 
Paralyse als „enc6phalite vasculaire diffuse 11 , von welcher Ray¬ 
mond bei seinen Ausfiihrungen ausging, nicht mehr zu Recht be- 
steht. 

Noch in neuerer Zeit suchte Bose 1 ) aus „Uebergangen“ die 
Identitat zwischen syphilitischen und paralytischen Verande- 
rungen der Meningen zu konstruieren. 

Wenn wir nun noch zuletzt die neuesten Ergebnisse der 
Syphilisforschung ins Auge fassen, welche im Referate von Plant 
zur Jahresversammlung des Deutschen Vereins fur Psychiatrie 
zusammengefasst erscheinen, so haben sie uns auch nicht den 
sicheren Beweis fiir die syphilitische Natur der Paralyse gebracht; 
die von Plant im Anschlusse an Neisser hypothetiseh ausgesprochene 
Anschauung, dass die positive Serumreaktion fiir das Vorhanden- 
sein von Spirochaeten spreche, die Paralytiker also Spirochaeten- 
trager sind, ist zu wenig durch Argumente gestiitzt, als dass sie 
die Auffassung des anatomischen Prozesses beeinflussen konnte. 

Wir halten es demnach fiir gerechtfertigt und notwendig an einer 
sirengen anatomischen Scheidung von paralytischen resp. metasyphi- 
litischen und syphilitischen Verdnderungen feslzuhalten. 

Nachdem wir diesen Standpunkt gewonnen haben, konnen 
wir der Frage der ,,Lues cerebii diffusa welche mit der Auffassung 
unserer hier geschilderten Beobachtungen in inniger Beziehung 
steht und uns ebenso bedeutungsvoll fiir die Lelire von der Paralyse 
wie fiir die Lues cerebri erscheint, nahertreten. 

Der Begriff der ,,Lues cerebri diffusa 1 ' hat eine sehr merk- 
wiirdige Entstehungsgeschichte; wir glauben ihr umsomehr unsere 


1 ) Bose , Nature syphilitique des lesions de la paral. gener. Comptes 
rend, de la soc. de Biol. 190(;. Nr. 17. 


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von Kombination cerebraler. giunmoser Lues etc. 


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Aufmerksamkeit schenken zu miissen, als sie geeignet ist, auf die 
ganze Frage ein aufklarendes Licht zu werfen. 

So viel sich aus der diesbeziiglichen grossen, aber an prazisen 
Aufklarungen armen Literatur entnehmen lasst, hat die Bezeich- 
nung in Frankreich ihren Ursprung und stamm t aus der Zeit, in 
welcher die Erforschung der Paralyse unter deni Zeichen der Frage 
nach der syphilitischen Aetiologie stand. Vonder Anschauung aus- 
gehend, dass es Falle von Paralyse syphilitischer und solche arulers- 
artiger Aetiologie gibt, legte man der ereteren Gruppe den Namen 
der „Syphilis c4r6brale diffuse* 4 bei. 

Man suchte auch nach histologischen Unterechieden der 
beiden Formen und fasste bei der „ Syphilis c6r6brale diffuse** 
Veranderungen als „syphilitische“ auf, die wir nach unseren 
heutigen Kenntnissen zu den typischen oder wenigstens selir 
haufigen Befunden bei der Paralyse zahlen. 

Man findet in der franzosischen Literatur bis in die neueste 
Zeit Falle als „Syphilis c6r6brale diffuse** beschrieben, die in allem 
und jedem so sehr mit der typischen Paralyse iibereinstimmen, 
dass man annehmen muss, fiir die betreffenden Autoren habe die 
diffuse cerebrale Lues noch immer die friiher erwahnte Bedeutung. 
Von wichtigeren Arbeiten dieser Art seien die von Mahairn 1 ) und 
Etna, de Pavlekovic-Kapolna 2 ) genannt. J‘ 

Anderseits wirkte die in den ersten Diskussionen liber die 
syphilitische Aetiologie der Paralyse von Fournier geausserte 
Ansicht nach, dass die „wahre“ Paralyse nichts mit Syphilis zu 
tun habe und das durch Syphilis erzeugte, der Paralyse ,,ahnliche“ 
Krankheitsbild dem Wesen nach und auch klinisch von der Paralyse 
zu scheiden sei; er pragte fiir diese Krankheitsfalle den Namen 
der „Pseudoparalyse“. 

Wahrend nun Fournier weiterhin den Inhalt des Begriffes 
der Pseudoparalyse den neugewonnenen Erkenntnissen anpasste 
und die Bezeichnung nur mehr fiir tertiar syphilitische Erkran- 
kungen des Gehims, welche unter dem Bilde einer Paralyse ver- 
laufen, aufsparte, wurde von anderen Autoren vielfach weiter an 
der Meinung festgehalten, dass man die Falle mit sicheren lue- 
tischen Antecedentien oder gar noch floriden syphilitischen Pro- 
zessen von der Paralyse abscheiden miisse. Bei der grossen 
Mannigfaltigkeit der durch die progressive Paralyse produzierten 
klinischen Bilder unterlag man bei Verwendung eines kleinen 
Materiales sehr leicht der Tauschung, dass diese Falle klinisch 
Unterscheidungsmerkmale gegeniiber der Paralyse aufweisen. 

Diese „syphilitische Pseudoparalyse** wurde dann auch mit 
der ,,Syphilis cerebrale diffuse** identifiziert, dem Ursprung der 


x ) Mahaim, D© rimportance des lesions vasculaires dans 1'anatomic 
pathologique d© la paralysie g6n6rale et d’autres psychoses. Bulletin de 
racewl^mi© royal© d© m^decin© de Beige. 1901. Ref. Neurol. Centralbl. 1902. 

*) Pavlekovic-Kapolna , La paralysie g6n6rale peut-ell© etre distingu^e 
anatomiquement do la syphilis c6r6brale diffuse ? These de Doctorat. Lau¬ 
sanne 1903. 


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Sira ussier, Ueber zwei weitere Falle 


letzteren Bezeichnung nach mit Recht, mit Unrecht aber nach den 
tatsachlichen Verhaltnissen. 

Von der „Pseudoparalyse“ mit den von der typischen Paralyse 
angeblich abweichenden klinischen Symptomen kam man dann 
allmahlich dazu, alle Krankheitsbilder, welche nach einer syphi- 
litischen Infeklion auftretend klinisch von dem m Buche“ als 
Paralyse gezeichneten Krankheitsbilde abtoichen, als „Lues cerebri 
diffusa" oder als ,,Pseudoparalyse“ aufzufassen. 

Aus dem Studium der einschlagigen Literatur, in welcher 
die Zurechtfindung dadurch ausserordentlich erschwert ist, dass 
jeder Autor von anderen Voraussetzungen ausgeht, ergaben sich 
mir die geschilderten Zusammenhange in der Entstehungsgeschichte 
des klinischen Begriffes der ,,Lues cerebri diffusa“. 

Es interessieren uns hier nicht Falle von verschieden weit 
verbreiteter gummoser Syphilis des Zentralnervensystems, denen 
vom anatomischen Standpunkte aus falschlicher Weise der Name 
der ,,diffu8en cerebralen Lues“ beigelegt wurde. 

Aus der Entstehungsgeschichte des klinischen Begriffes er- 
klart sich dann ohne weiteres, dass eine grosse Zahl der in der 
Literatur unter der Flagge der ,,diffusen cerebralen Lues“ laufenden 
Falle Paralysen sind, und zwar Paralysen ganz gewohnlicher Art; 
eine weitere grosse Gruppe gehort nach den in den betreffenden 
Publikationen gegebenen Schilderungen unzweifelhaft in das Ge- 
biet der Lissauerschen Paralysen. 

Wie wenig diese Form der Paralyse trotz der ausfiihrlichen 
und griindlichen Erorterung durch Alzheimer bekannt und ge- 
wiirdigt ist, erhellt aus der schon erwahnten, aus dem Jahre 1907 
stammenden Publikation von Ladame. ,,Die Lektvire der zitierten 
Falle macht perplex, denn man findet nichts, was fur eine Paralyse 
in diesen Fallen spricht“, meint dieser Autor hinsichtlich des von 
Storch 1 ) publizierten Lissauerschen Manuskriptes. 

Die in der Literatur noch sehr verbreitete Anschauung, dass 
die progressive Paralyse ohne eigentliche Lahmungserscheinungen 
verlaufe, bildet die Grundlage der Irrtumer, welche Lissauersche 
Paralysen unter eine andere Marke einreihen lasst. 

Lasst man die Arbeiten iiber ,,Lues cerebri diffusa“ Revue 
passieren, so findet man, dass in der klinischen Differentialdiagnose 
gegeniiber der progressiven Paralyse — vom Verlaufe und Aus- 
gang wollen wir vorlaufig absehen — das Hauptgewicht auf das 
Vorhandensein von Herdsymptomen bei der diffusen Lues gelegt 
wird: Augenmuskelstorungen, Aphasie, Hemianopsie, Hemiplegie, 
[Mairet 2 ) Wickel 3 ), Klein*) u. A.] Dass alle diese Herdsym- 

') Storch-Li8$auer, Ueber einige Falle atypischer progr. Paralyse. 
Monataschr. f. Psych, u. Neurol. 1901. Bd. IX. 

’) Mairet ', Alienation mentale syphilitiquc. Paris 1893. 

*) Wickel, Kasuistische Beitrage zur Differentialdiagnose zwischen 
Lues cerebri diffusa und Dementia paralvtica. Arch. f. Psvch. 1898. 
Bd. 30. 

1 ) Klein, Kasuistische Beitrage zur Differentialdiagnose zwischen 


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von Kombination oerebraler, gummoser Lues etc. 


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ptome bei der progressiven Paralyse ohne jede Komplikation mit 
Syphilis des Zentralnervensystems gar nicht selten vorkommen, be- 
statigt uns, abgesehen von der einschlagigen Literatur, auf histo- 
logischer Untersuchung der beztiglichen Falle beruhende Erfahrung. 

Wasspezielldie Lahmungen der Augenmuskel betrifft,—welchen 
wohl im Hinblicke auf deren Bedeutung bei der basalen syphi- 
litischen Meningitis — als differentialdiagnostisches Moment fur die 
diffuse Lues ein besonderes Gewicht zugesprochen wird, so ist 
daran zu erinnern, dass sie bei der Tabes widerspruchslos in die 
Symptomatologie aufgenommen und nicht einer hypothetischen 
Syphilis in die Schuhe geschoben wurden. 

Wenn man sich die historische Entwicklung des Begriffes 
der diffusen Himlues vor Augen halt, kann man sich nicht wundern, 
wenn die pathologische Anatomie an Unsicherheit und Ver- 
schwommenheit dem kUnischen Bilde nichts nachgibt. 

Sieht man von den als ,,diffuse Lues“ bezeichneten Fallen 
der Literatur ab, in welchen gummose Meningitiden mit Heubner - 
scher Gefasserkrankung und sekundarer Erweichung oder gum¬ 
mose Prozesse des Gehims selbst ein mit psychischen Erschei- 
ungen einhergehendes Krankheitsbild hervorriefen, miiht man 
sich vergebens ab, in der alteren Literatur eine adaquate ana- 
tomische Grundlave fiir den Begriff der diffusen Himlues zu finden. 

Die von v. Bechterew gegebene Erklarung fiir den anatomischen 
Begriff der diffusen Himlues stellt so ungefahr den Niederschlag 
der in der alteren Literatur herrschenden Anschauungen fiber die 
anatomische Seite des Begriffes der diffusen Himlues dar. 

v. Bechterew 5 ) geht in seinen Auseinandersetzungen davon aus, 
dass man ,,im Verlaufe der Syphilis“ lokale Leptomeningitis 
chronica nicht spezifischen Charakters mit Uebcrgang in fibroses 
Gewebe findet. ,,Demzufolge erscheinen die Leptomeningen an 
der oder der anderen Stelle, zumeist allerdings in beschrankter 
Ausdehnung, auffallend verdickt und von milchigem Kolorit.“ 
Pradilektionsstelle solcher entztindlicher Prozesse an den Leptome¬ 
ningen sei die konvexe Oberflache der Hemispharen, insbesondere 
im Gebiete der Stirn- und Scheitellappen, doch konnen analoge 
Erscheinungen auch an anderen Orten der Hemispharen be- 
obaehtet warden. 

Nachdem v. Bechterew gegen Virchows Vermutungen, dass 
diese entztindlichen Hyperplasien sich an frfiher bestandene. 
aber durch therapeutische Eingriffe zur Resorption gebrachte 
gummose Prozesse anschliessen, die Einwendung erhoben hatte, 
dass es zweifellos Falle gibt, wo die gleichen Erscheinungen bei Aus- 
schluss einer vorangegangenen spezifischen Therapie zur Be- 
obachtung gelangen und deshalb die fraglichenVorgange als einfach 
entziindliche Verandemngen der Leptomeningen, welche hochst- 

Dementia paralytica und Pseudoparalysis luetica (Fournier). Monatsschr. 
t. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. V. 

M 1. e. p. tilS. 


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Straussler, Ueber zwei weiter© Fall© 


wahrscheinlich durch lokale Reizwirkung syphilitischer Toxine 
auf das Gewebe der Meningen hervorgerufen werden, aufgefasst 
wissen will, fahrt er fort: 

„In gewissen Fallen nimmt der Prozess einen diffusen Charakter 
an, und unter solchen Umstanden erscheinen die weichen Hirn- 
haute durchwegs odematbs, von milchiger Farbe und hochgradig 
verdickt. Unschwer kann man dabei bemerken, dass beides, 
Triibung und Verdickung der Meningen, entsprechend dem Ver- 
laufe der Furchen und Gefasse lebhafter hervortritt. Verwachsung 
der Meningen mit der Hirnsubstanz ist auch hier nicht die Regel. 
vielmehr fehlt eine ausgesprochene derartige Verwachsung nicht 
selten ungeachtet hochgradiger Verdickung und Triibung der 
Meningen. Der Vorgang allgemeiner hyperplastischer Affektion 
der Leptomeningen verlauft in der Regel Hand in Hand mit dif¬ 
fusen degenerativen Veranderungen im Hirngewebe selbst. Klinisch 
jedoch lasst sich dieseForm der diffusen Hirnsyphilis nicht 
immer streng gegeniiber der Dementia paralytica abgrenzen und 
ist, abgesehen von einigen der psychischen Sphare angehorenden 
Besonderheiten, gekennzeichnet durch eine Reihe lokaler oder 
Herdsymptome, wie Augenmuskellahmungen, aphasische Er- 
scheinungen, voriibergehende Facialis- und Extremitatenlah- 
mungen etc. Als weitere differentiell-diagnostische Schwierig- 
keit tritt noch der Umstand hinzu, dass in einzelnen Fallen Him- 
syphilis unmittelbar in Dementia paralytica ubergehen kann.‘* 

Vorher bemerkt v. Bechterew schon, dass solche „entzundlich- 
hyperplastische Leptomeningitiden nicht zu selten** auch bei der 
Dementia paralytica zu beobachten sind. 

Das sind noch die bestimmtesten Erklarungen, welche zu 
dieser Frage aus alterer Zeit existieren. 

Wodurch sich dieser Prozess, der aus einer entziindlich hyper- 
plastischen Leptomeningitis mit diffusen degenerativen Ver¬ 
anderungen im Hirngewebe selbst besteht, von der Paralyse 
unterscheidet, das ist aus den Ausfiihrungen nicht zu entnehmen. 
Denn wie Bechterew selbst zugibt, ist die Leptomeningitis nicht zu 
selten auch bei der Dementia paralytica zu finden. 

Da sich diese Form der ,,diffusen Hirnsyphilis* 4 auch klinis ch 
gegeniiber der Paralyse „nicht immer streng abgrenzen lasst**, 
ausserdem Hirnsyphilis unmittelbar in Dementia paralytica 
,,ubergehen kann,“ wo liegen also dann iiberhaupt die Grenzen 
zwischen dieser eigentiimlichen Syphilis und der Paralyse? 

Es gibt nur zwei Moglichkeiten der Rettung aus diesem 
Wirmisse von unklaren klinischen und pathologisch-anatomischen 
Konstruktionen. 

Entweder man erklart die bei der progressiven Paralyse vor- 
handenen Veranderungen als ,,syphiUtisch“, dann konnte freilich 
die Paralyse selbst als ,,diffuse cerebrale Syphilis** bezeichnet 
werden, oder man halt daran fest, den Begriff des „syphilitischen“ 
in der von uns ausgefiihrten Weise zu umgrenzen. 


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von Kombination cerebraler gummoser Lues etc. 


49 


Dass wir die erstere Auffassung aus anatomischen und kli- 
nischen Gr linden nicht akzeptieren konnen, geht aus unseren 
friiheren Erorterungen hervor. 

Wir konnen also in dieser Hinsicht den AnsichtenLereddw 1 ) 
nicht folgen, halten aber trotzdem dafiir, dass dessen Anschauungen, 
nach welchen die Unterscheidung der diffusen Him-Syphilis, der 
Pseudoparalyse Fourniers und der syphilistischen Demenz Bins- 
wangers „kiinstlich gemacht“ ist und alles Paralyse sei, einen 
beachtenswerten Kern enthalten. 

Wir kommen auf Grund des historischen Ueberblickes und der 
vorliegenden Daten iiber Klinik und pathologische Anatomie 
hinsichtlich der diffusen Hirnlues und der Pseudoparalyse Four 
niers zu Resultaten, welche denen Lereddes sehr nahe kommen. 

An dieser Anschauung andern nichts die auf Grund der neueren 
Untersuchungsmethoden untemommenen Versuche, nachtraglich 
der ,.diffusen Himlues“ einen anatomischen Inhalt zu geben. 
Wenn Dupre und Demux 1 ) die Differentialdiagnose zwischen 
Paralyse und diffuser Hirnlues dadurch gefordert zu haben glauben, 
dass sie angeben, bei der ersteren Erkrankung bestiinden die 
perivaskularen Infiltrate nur aus Plasmazellen, bei der letzteren 
aus Lymphozyten und spar lichen Plasmazellen, so sind sie deshalb 
im Irrtum, weil diese Aufstellung, insbesonaere was die Paralyse 
betrifft, nicht den tatsachlichen Verhaltnissen entspricht. Hin¬ 
sichtlich der fur die Lues von Alzheimer aufgestellten Kriterien 
des Ueberwiegen8 der Lymphozyten, deren Zuverlassigkeit nach 
unseren neueren Befunden iibrigens begriindete Zweifel erwecken 
muss, ist zu bemerken, dass Alzheimer dabei keineswegs die „dif- 
fuse Lues“ der Franzosen im Auge hatte. 

Die Anschauung Ladames aber, dessen irrtiimliche klinische 
Voraussetzungen wir schon gelegentlich der Besprechung der 
Lissauerschen Paralyse beriihrt haben, dass der Unterschied 
zwischen Paralyse und diffuser cerebraler Lues in der Art der 
Gefassalteration liege, indem dort eine Lymphozyten-Invasion in 
die perivaskularen Lymphraume stattfinde, hier eine Infiltration 
der Gefasswande selbst, teils durch Proliferation der fixen Gewebs- 
zellen, der Muskel- und Endothelzellen und teils durch Ueber- 
schwemmung der Gewebe durch Lymphozyten, vorhanden sei, 
kann insofern keine Befriedigung bieten, als alles das, was fur die 
Lues als charakteristisch angegeben wird. sich haufig genug bei der 
Paralyse findet. 

• Was die ..diffuse cerebrale Lues“ noch scheinbar zu stiitzen 
vermochte, ware der Verlauf und dann der Ausgang gewisser zu 
dieser Gruppe gezahlten Falle in Heilung. 


*) Leredde , La nature syphllitique et la curabilite du tabes et de la. 
paralysie generale. Paris 1903. Zit. nach Nonne. Syphilis und Nerven- 
system. 

2 ) Dupre u . Devaux . Paralysie generale et syphilis cerebrale diffuse. 
Soc. de neurol. 11. V. 05. Ref. Arch. d. neur. 1905. Bd. II. S. 53. 

Monataschriit fiir Psychiatric- und Neuroiogie. 3d. XXVII. Heft I. i 


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50 


Str&ussler, Ueber zwei weitere Falle 


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Dieses Moment kann aber heute nicht mehr als ausschlaggebend 
betrachtet werden. 

Abgesehen von Leredde, dem man vielleicht in der Frage kein 
unbefangenes Urteil zuerkennen mochte, weil er von speziellen 
Voraussetzungen hinsichtlich der Paralyse und den , .syphilitischen‘‘, 
mit psychischen Storungen einhergehenden Erkrankungen ausgeht, 
stehen heute namhafte Autoren auf dem Standpunkte, dass die 
Paralyse als heilbar zu betrachten sei. [Tvtzek 1 )' Schaefer 2 )' 
Schiile*)' v. Wagner*)' Nonne 8 .) 

Diese Ansicht drang durch, nachdem sie sich in den Berichten 
iiber Paralysen jahrzehntelanger Dauer und Paralysen mit sehr 
langdauernden Remissionen vorbereitet hatte. [v. Halban*), 
Schaefer 1 ), Doutrebente und L. Marchand 6 ), Alzheimer 9 )]. 

Alzheimer verdanken wir den histologischen Befund einer 
Paralyse von 35jahriger Dauer; der Fall beweist die Moglichkeit 
eines sehr langsamen Verlaufes der Paralyse, und mit der Aner- 
kennung der ,.stationaren“ Paralyse ( Alzheimer, Oaujyp, Fischer) 
verliert die ,,diffuse Lues“ das ihr zugeschriebene Merlcmal des 
chronischen Verlaufes als besonderes Kennzeichen. 

Wenn in der Remission der Paralyse die histologischen Ver- 
anderungen fortbestehen — uns ist nur eine einzige derartige Unter- 
suchung von Alzheimer bekannt — und es sich bei den als ,,ge- 
heilte Paralyse" publizierten Fallen auch nur um eine sehr lang 
andauernde Remission mit Stillstand, aber nicht Heilung des 
anatomischen Prozesses handeln sollte, so ist doch schon eine 
Heilung im klinischen Sinne genugend, um die beziiglich des Aus- 
ganges fiir die Existenz einer „diffusen Hirnlues" gegenuber der 
Paralyse gel tend gemachten Argumente zu Falle zu bringen. 
Denn ein Sektionsbefund einer ,,geheilten“ diffusen cerebralen 
Lues liegt bisher nicht vor. Die auf der Hohe der Erkrankung 
zur Autopsie gelangten Falle aber sind in ihrem histologischen 
Bilde von der Paralyse nicht zu unterscheiden (z. B. bei Wickel 10 )). 

Aus unseren Auseinandersetzungen ergeben sich folgende 
Schlus8folgerungen: 


Tuczek , Beitrage zur path. Anatomie und zur Path, der Dem. 
paral. Berlin 1884. 

2 ) Schaefer , Ein genesener Paralytiker. Allg. Zeitschr. f. Psvch. 
1807. Bd. 53. 

*) Schiile , Diskussion bei der Jahresvers. d. Ver. Deutsch. IiTernirzte 
in Miinchon 1002. Neur. Centralbl. 1902. 

4 ) v . Wagner , Oesterreich. Aerztezeitung 1008. 

*) Nonne, Syphilis und Nervensystein. 2. Aufl. Berlin 1900. 

°) v. Halban . Zur Prognose der progr. Paral. Jahrb. f. Psych, u. 
Neurol. 1902. Bd. 22. 

7 ) Schaefer . Zur Kasuistik der }>rogr. Paralyse. Allg. Zeitschr. f. 
Psych. 1003. Bd. 00. 

8 ) Doutrebente et L. Marchand , Uri cas de paral. gen6r. de longue 
duree. Annal. med. psych. 1003. Bd. 28. 

y ) Alzheimer. Reterat im Ver. bayer. Psych. 1907. (Stationare Para¬ 
lyse.) Centralbl. f. Nervenheilk. 1007. 

10 ) 1 . c. 


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von Korabination cerebr&ler gummoeer Lues etc. 


61 


Die diffuse cerebrate Luea“ besitzi under klinisch noch ana- 
iomisch eine entsprechende Qrundiage. Ala Syphilis dea Oehims sind, 
um endlich eine acharfe Trennung von , syphilitischen' ‘ und para- 
syphilitischen Prozeesen zu ermoglichen und der Verwirrung ein 
Ende zu machen, nur apezifische, gummose Prozesae zu bezeichnen. 

Beziiglich der Meningen konnte die ..spezifische Syphilis" im 
Sinne der von Alzheimer beschriebenen Meningoencephalitis con- 
vexitatis etwas weiter gefasst werden, da hier die anatomische 
Verwechslung und Vermischung mit Paralyse kaum in Betracht 
kommt. Von dem fruher eingenommenen Standpunkte aus ware 
es aber berechtigt, mit Fischer auch die Auffassung Alzheimer a 
zu verwerfen. 

Durch unsere beiden neuen Falle von Kombination der pro- 
gressiven Paralyse mit spezifisch syphilitischen Erscheinungen 
wird uns wieder eine Frage gegenwartig, welche wir schon in der 
friiheren Arbeit beriihrt haben. Es ist die Frage, wie wir uns die 
in der Literatur niedergelegten Falle zu erklaren haben, in welchen 
eine Syphilis des Zentralnervensystems dauernd das klinische 
Bild der Paralyse vortauscht. 

Den grossten Teil der als diffuse cerebrale Syphilis mit dem 
Krankheitsbilde der progressiven Paralyse verzeichneten Falle 
konnen wir auf Grand unserer friiheren Auseinandersetzungen 
von dieser Erorterang ausschliessen; denn diese bieten nicht die 
anatomische Grundlage spezifisch syphilitischer Erscheinungen 
und waxen eben von vornherein als Paralysen anzusehen. 

Die Moglichkeit, dass eine luetische Erkrankung des Zentral¬ 
nervensystems das klinische Bild der progressiven Paralyse er- 
zeugen konne, wollen wir nicht ausschliessen; wir wiesen in der 
friiheren Publikation auf die Meningoencephalitis ( Alzheimer) 
hin imd stellten eine so ausgebreitete Affektion hinsichtlich der 
davon abhangigen klinischen Symptomatologie in Analogie mit 
dem multiplen Karzinom, welches auch eine Paralyse vorzu- 
tauschen verraag. 

Die beiden neuen Falle sind, wie wir in den einleitenden Worten 
dieser Arbeit hervorgehoben haben, schon durch die mit ihrer 
Existenz gegebene hohe Prozentzahl des Zusammentreffens von 
tertiarsyphilitischen Erscheinungen und progressiver Paralyse 
in unserem Materiale bemerkenswert. 

Der zweiten Beobachtung kommt aber noch eine spezielle 
Bedeutung zu. In dem grossen Materiale der Klinik war dieser 
Fall in dem Zeitraume der letzten 8 Jahre der einzige, der klinisch 
das typische Bild einer Syphilis des Zentralnervensystems (Oppen- 
heim) mit psychischen Storungen bot, welche das Bestehen einer 
Paralyse in Erwagung ziehen liessen. Nun erwies die histologische 
Untersuchung das tatsachliche Vorhandensein einer Paralyse 
und machte es sehr wahrscheinlich, dass die psychischen Storungen 
auf die Erkrankung an Paralyse zu beziehen seien. Wir konnen uns 
nicht entschliessen, in diesen Erfahrungen ausschliesslich das 
Walten eines Zufalles zu erblicken. 

4 * 


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.52 Sfcrausaler, Ueber zwei weitere Falla etc. 

Die Literatur lehrt uns, dass solche Kombinationen in den 
letzten Jahren viel haufiger als friiher nachgewiesen werden. 
Wahrend die viel zitierten Falle von Zambaco, Westphal , Ludwig 
Meyer, Binsioanger die Ausbeute von Jahrzehnten aus alterer 
Zeit darstellen, konnten wir in der Literatur der letzten 5 Jahre 
abgesehen von unseren Beobachtungen noch 5 derartige Falle 
ausfindig machen [ Rentsch (2 Falle 1 ), Tissot 2 ), DouJbrebente, 
Marchand und Olivier 3 ), Hubner*)]. 

Wenn wir nun noch bedenken, dass schwere syphilitische 
Veranderungen des Gehims mitunter verhaltnismassig friihzeitig 
einen letalen Ausgang der Erkrankung herbeifuhren, bevor noch 
die paralytische Veranderung Zeit hat, sich zu auffalliger Aus- 
pragung der Symptome zu entwickeln — in unserem zweiten Falle 
traf dies auch zu —, so halten wir die friiher gemachte Annahme 
fiir berechtigt, dass die die Syphilis begleitende Paralyse nicht 
selten iibersehen werden mag. 

Es hiesse sich aber den in der Literatur mitgeteilten Tatsachen 
verschliessen, wollte man leugnen, dass eine Syphilis auch bei 
herdformigem Auftreten doch mitunter in tauschender Weise das 
Bild der Paralyse hervorzubringen vermag. Es liegen einerseits 
klinische Beobachtungen solcher Art von gewiegten Fachleuten 
vor ( Nonne u. A.) und anderseits einzelne anatomische Befunde 
[. Brasch 6 ), Brissaud u. Pechin # ), Ernst Meyer 1 )']. Wir mxissen aber 
hervorheben, dass die Zahl derartiger zweifelloser Falle hinter der 
Zahl der durch histologische Untersuchung nachgewiesenen Kombi- 
nation mit Paralyse, in denen also die psychischen Storungen 
auf diese zuriickzufuhren sind, zuriickbleibt. Wenn dann noch das 
Dogma der Unheilbarkeit der Paralyse einer besseren Erkenntnis 
weicht, so schrumpft die Zahl der den klinischen Begriff der Paralyse 
in empfindlichster Weise beeintrachtigenden Falle, in denen durch 
Syphilis wirklich das Bild der Paralyse erzeugt wird, auf ein Mini¬ 
mum ein. Man diirfte dann zur Ueberzeugung kommen, does die 
spezifische Syphilis des Gehims bei den differentialdiagnostischen 
Erwagungen hinsichtlich der Paralyse keine viel grossere RoUe zu 
spielen hat, als z. B. die Arteriosklerose, Erweichungsherde und 
Tumoren irgend welcher Art. 

Die Ergebnisse der Untersuchung der Cerebrospinalflussig- 
keit hinsichtlich der Wassermann&daen Reaktion bei Paralyse be- 


') Rentsch, Ueber zwei Falle von Dement, paral. mit Hirnsyph. Arch, 
f. Psych. 1904. Bd. 39. 

*) Tissot, Paral. g6n6r. et syph. c6r6br. Ref. Arch. d.Neurol. 1904. I. 

*) Doutrebente, Marchand et Olivier, Paral. g4n6r. tardive. M6ning. 
sclerogom. d. lobule paracentr. droit. Ref. Arch. d. Neurol. 1905. II. 

4 ) Hubner, Neurol. Centralbl. 1906. 

l ) Broach, Ein unter dem Bilde der tabischen Paralyse verlaufender 
Fall von Syphilis des Zentralnervensystems. Neur. Centralbl. 1891. 

*) Brissaud et PS chin. Syph. cerobr. simulant une par. g6n6r. Progres 
rn6dic. 1902. 

7 ) E. Meyer, Klin. anat. Beitrage zur Kenntnis der progr. Paralyse 
u. Lues cerebrospinalis. Arch. f. Psych. 1907. Bd. 43. 


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Monatsschrift fur Psychiatric unci Neurologic Bd. XXVJl. 





S/rd/isrkr. 1 

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Tafel Ill—IV 



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\'erlag von S. J&myiflB I /Ur: xber/in . 

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Straussler . 


Verlag von S. Karger in Berlin. 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung etc. 


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rechtigen zu der Hoffnung, dass die nachsten Jahre eine Losung 
der hier behandelten Fragen bringen werden. 

Nach dem heutigen Stande der diesbeziiglichen Unter- 
suchungen scheint ja die Komplementablenkungsreaktion der 
Spinalfliissigkeit ein wichtiges differentialdiagnostisches Merkmal 
zwischen Paralyse und cerebrospinaler Syphilis darzustellen. 


(Aus der Nervenkranken-Abteilung und dem^ hirnanatomischen Labora- 
torium des hauptstadtischen Siechenhausds ,,Elisabeth" in Budapest.) 

Ueber doppelseitige Erweichung des Gyrus supramarginalis. 

Von 

Prof. Dr. KARL SCHAFFER, 

Oberarst der Abteilung. 

(Hierzu Tafel VI—X.) 

Die funktionelle Bedeutung des Gyrus supramarginalis er- 
seheint noch heute als eine kontroveree Frage, obschon unleugbar 
ist, dass die iiberwiegende Mehrzahl der Forscher in mehrminder aus- 
gesprochener Weise diese Stelle des Grosshirns als eine Statte 
der kortikalen Sensibilitat betrachtet. Seit Nothnagel , der zuerst 
in bestimmter Form den Satz, der Parietallappen sei das Zentrum 
des Muskelsinnes, ausgesprochen hat, bis zu den jiingsten Autoren in 
dieser Frage, erhoben die hervorragendsten Neurologen ihre Stimme 
zugunsten dieses Satzes; ich erwahne nur Redlich, v. Monalcow, 
Oppenheim, Bruns u. A. Hierbei mochte ich mit Betonung hervor- 
heben, dass spefciell amerikanische Neurologen, an der Spitze 
Charles Mills, fur die sensible Bedeutung der postzentralen Gegend 
eine lebhafte wissenschaftliehe Tatigkeit entfalteten und nament- 
lieh fur die getrennte Lokalisation der zerebralen Sensibilitat 
und der zerebralen Motilitat sich erklarten. Bekanntlich steht 
diesem Bestreben die Auffassung Dejerines entgegen, welcher die 
einheitliche Lokalisation im Sinne einer sensitivo-motorisehen 
Zone lehrt. 

In der Frage der Lokalisation der kortikalen Sensibilitat 
scheint mir nachfolgender Fall von Bedeutung zu sein, in welchem 
es sich um eine doppelseitige Erweichung eines Teiles der unteren 
Parietalwindung, des Gyrus supramarginalis, handelt. Den Fall 
veroffentlichte ich, nochin vivo, imRahmen einer kleinenanatomisch- 
klinischen Studie iiber die zerebralen Sensibilitatsstorungen 1 ), 
da er klinisch durch die vollkommene Bilateralitat der sensiblen 


’) Karl Schaffer, Anatomisch-klinische Bcitrage zur Lehrc dor oere- 
bralen Sensibilitatsstorungen. Neurol. Zentralbl. 190.'. 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


Storungen auffiel; Oppenheim erwahnt denselben in seinem Lehr- 
buch der Nervenkrankheiten (1908, S. 807) als Beweis dafiir, 
„dass durch doppelseitige Herde auch einmal eine bilaterale 
Hemianasthesie, d. h. eine Anasthesie des ganzen Korpers bedingt 
werden kann“. Mein Fall kam nach fast 4 jahriger Dauer zur 
Sektion mit dem Befund einer bilateralen und fast symmetrischen 
Erweichung; das Gehirn wurde in Frontalserien zerlegt und 
mit Weigert- Wolters Farbung behandelt. Ziehen wir in Betracht, 
dass nach v. Monakow die Zahl der gut beobachteten Falle von 
Lasion des Gyrus supramarginalis nicht gross ist, speziell aber mit 
Sektionsbefund sehr bescheiden, mit genauer Bestimmung der 
Grenzen des Herdes vermittels Schnittserien noch geringer ist, 
so erscheint die Veroffentlichung meines Falles geniigend ge- 
rechtfertigt. Ohne mich nun in die Lehre der zerebralen, namentlich 
kortikalen Sensibilitat zu sehr vertiefen, gedenke ich in Zusammen- 
hang mit letzterer nur kurz jener Auffassungen, welche beziiglich 
der klinisch-anatomischen Bedeutung des Gyrus supramarginalis 
geaussert wurden. 

Redlich , dem wir eine eingehende Studie iiber zerebrale Sensi¬ 
bilitat verdanken, ist der Meinung, dass die motorische Rinde keines- 
wegs der Sitz des Muskelsinnes sei, halt vielmehr fur ziemlich sicher, 
dass der Muskelsinn sein Zentrum im Parietallappen habe. Den 
Muskelsinn im Scheitellappen naher abzugrenzen, namentlich gegen- 
iiber der Hautsensibilitat, gelang ihm nicht, doch vermutet er, 
dass das untere Scheitellappchen fur die obere, das obere fur die 
untere Extremitat bestimmt sei.' 

Schon im Jahre 1898 trennte Ch. Mills in der Hirnrinde die 
Motilitat von der Sensibilitat und zog die Trennungslinie entlang 
derPostzentralfurche 1 ). Im Jahre 1901veroffentlichtederselbeAutor 
einen Fall, in welchem Astereognose und Ataxie ohne motorische 
Lahmung bestanden; die Sektion wies eine ausgedehnte Erweichung 
nach, welche sich auf die obere Parietalwindung beschrankte. 
Mills ist der Ansicht (1902). dass die Stereognose in der oberen 
Parietalwindung lokalisiert ist und sich iiber die Kante der Hemi- 
sphare indenPraecuneus hinein erstreckt. DieZentren fur die kutane 
Sensibilitat befinden sich in dem Lobus limbicus und in der hinteren 
Halfte der Postzentralwindung, zwischen dem stereognostischen 
und dem motorise hen Zentrum. Das Zentrum des Muskelsinnes be- 
findet sich in der oberen und unteren Parietalwindung, nicht genau 
an jener Stelle, welche fur die reine Stereognose dient. Nach dem 
neuen Schema Mills 1 ) (1902) erstreckt sich das stereognostisehe 
Zentrum entlang der Mantelkante in der oberen Parietalwindung; 
die Lasion dieses Gebiets ruft Astereognose und Hemiataxie, 
Abschwachung der Muskelsensibilitat und der kutanen Sensibilitat 
hervor. Fur die letztere Sensibilitat beansprucht Mills die hintere 
Halfte der Postzentralwindung; vom Kamm dieser frontalwarts 
erstreckt sich das motorische Gebiet. 


1 ) Ch. K. Mill*. A new scheme of the zones and centres of the human 
cerebrum. The Journal of the American Medical Association. 1902. 


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des Gyrus supramarginalis. 


55 


In einer neueren, mit Weisenburg geraeinschaftlich verfassten 
Arbeit 1 ) aussert sich Mills iiber die Gliederung des sensiblen 
kortikalen Feldes eingehend; seine Auffassung gibt er in den 
folgenden Satzen wieder: 1. Die kortikale Zone der Haut- und 
Muskelsensibilitat ist unabhangig von der motorischen Zone; 
erstere uragibt die niotorische Zone und ist eingeteilt in ein Mosaik 
von Zentren, deren jedes anatoraisch und funktionell mit den motori¬ 
schen Zentren in Wechselbeziehung steht. — 2. Jeder Muskel oder 
jede Muskelgruppe, welche ein eigenes Zentrum in der Rinde be- 
sitzt, steht topographisch mit einem Segment der Haut in Wechsel¬ 
beziehung, welches gleichfalls ein umschriebenes Zentrum in der 
Rinde besitzt, das anatomisch und funktionell mit dem motori¬ 
schen Zentrum in Wechselbeziehung steht. — 3. Der stereo- 
gnostische Sinn hat ahnlich wie die kutane und rauskulare Sensi- 
bilitat sowie die Motilitat sein unabhangiges kortikales Feld, 
welches in der namlichen Weise wie das motorische und sensorische 
Feld gegliedert ist. 

Die Beweise zugunsten dieser Gliederung des sensorischen und 
stereognostischen Rindenfeldes sind hauptsachlich klinische Falle 
mit oder ohne Sektionsbefund. Von ihren 4 Fallen gelangte nur einer 
zur Sektion; hier fand sich die Postzentral- und die untere Scheitel- 
windung fast ganz zerstort, ja in ganz kleiner Ausdehnung war auch 
die vordereZentralwindung mitbeschadigt. In alien 4 Fallen bestand 
eine Tendenz zur Lokalisation der sensiblen Storungen auf die 
Ulnar- oder Radialseite der Hand. In 3 Fallen war die sensible 
Abschwachung sowie die Astereognose persistenter und ausgepragter 
in dem mittleren, Ring- und kleinen Finger und an der ulnaren Seite 
der Hand. Im Zeigefinger und Daumen besserten sich die sensiblen 
Storungen zuerst und wurden hier erst zuletzt dauernd. In alien 
Fallen war die taktile und Schmerzempfindung distal starker gestort 
als proximal. Inden ersten3Fallen war die Beriihrungs- und Schmerz¬ 
empfindung an der dorsalen Oberflache der Hand starker gestort 
als an der volaren. Im zweiten Fall hatte der Kranke bei totaler 
Erschlaffung der Hand und des Vorderarms keine Lageempfindung 
sowie keine Kenntnis vonder Extension der Finger, wahrend bei 
Flexion der Finger das Lagegefiihl vorhanden war. Im vierten Fall 
endlich war neben sensorischen und paretischen Anfallen sowie 
Ataxie der oberen Extremitat hochst bemerkensw'ert der Mangel 
von Astereognose, wodurch die Ansicht, die stereognostische Zone 
ware von den Feldern der kutanen und muskularen Sensibilitat 
unabhangig, eine Stutze erhalt. — Mills und Weisenburg fuhren 
schliesslich 5 Falle von Russel und Horsley *) an; im ersten Fall 
fand sich eine Pachymeningitis hinter der Zentralfurche oberhalb 

*) Ch. K. Mills and F. H. Weisenburg, The subdivision of the represen¬ 
tation of cutaneous and muscular sensibility and of stereognosis of the 
cerebral cortex. — The Journal of Nervous and Mental Disease, October 
1906. 

*) Bussel. Colin K.. and V. Horsley. Brain. April 1906. Part I. 
Vol. 29. 


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56 Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 

der Sylviusschen Spalte, welche die untere Halfte der Postzentral- 
windung und den ganzen unteren Parietallappen einnahm; 
im zweiten lag ein Gliom subkortikal an der Grenze des Zentrums 
der oberen und unteren Extremitat; im dritten lag ein kleines 
Myxom in der mittleren Halfte der hinteren Zentralwindung; 
im vierten breitete sich ein kleines Gliom quer iiber die vordere 
Zentralwindung aus; endlich im fiinften fand sich ein kleiner 
Tuberkel von % cm Durchmesser an der Vereinigungsstelle der 
zweiten Frontalwindung mit der vorderen Zentralwindung. Russel 
und Horsley fanden nun in diesen Fallen abwechselnd den radialen 
oder praaxialen und ulnaren oder postaxialen Typus der sensiblen 
Storungen wie die amerikanischen Autoren. 

Spillers Falle 1 ) sind teils nur klinisches Material und konnen 
als Stiitzefiir Mills Auffassunggelten; teils sind sie vonanatomischem 
Befund begleitet und sind somit in pathologischer Hinsicht wert- 
voller. In letzterer Beziehung fand sich im ersten Fall klinisch in 
der linken Hand Astereognose, Fehlen des Lagegefiihls, Ab- 
schwachung fiir Beruhrung, doch nicht fiir Schmerz; autoptisch 
fanden sich tuberkulose Plaques, die auf das rechte Parietal- 
lappchen beschrankt waren. Im anderen Fall war Ataxie, Parese und 
Astereognose des linken oberen Gliedes durch die Erweichung des 
rechten Parietallappens verursacht. — SpiUer, ebenso wie Campbell, 
fiihren als pathologisch-anatomischen Beweis fiir die getrennte 
Lokalisation der Sensibilitat und Motilitat die Untersuchungs- 
ergebnisse von amyotrophischer Lateralsklerose an, woselbst 
Campbell in zwei Fallen hochgradige Nervenzellveranderungen, 
hauptsachlich der Riesenpyramiden, ausschliesslich auf die vordere 
Zentralwindung beschrankt fand; Spiller mit Marchi arbeitend 
fand gleichfalls hochstgradige Degeneration in der vorderen, 
hingegen in der hinteren Zentralwindung nur ganz bedeutungs- 
lose Veranderungen. — In dieser Richtung ware in erster Linie 
der mustergiiltigen patho-histologischen Untersuchungen von M. 
Probst' 1 ) zu gedenken, welche sich auf mit Marchi behandelte Total- 
schnitte einer Hemisphere beziehen. Dieser hochst verdiente Autor 
konnte eine massenhafte Ansammlung von Myelinschollen aus¬ 
schliesslich im Gebiet der vorderen Zentralwindungen sowie indem 
dieselben verbindende Teile des Balkens konstatieren; die hintere 
Zentralwindung war so gut wie frei von Degenerationsprodukten. 

C. v. Monakow behandelt in seiner Gehirnpathologie (2. Aufl.) 
die Symptomatologie des Gyrus supramarginalis eingehend. 
Ergreift der Herd mit Yerschonung der hinteren Zentralwindung 
allein diese Windung, so folgt hierauf eine leichte Hemiplegie 

l ) If*. Spiller, a) Separate sensory centres in the parietal lobe for the 
limbs. Journal of Nervous ancl Mental Disease. Febr. 1906. 

b) Ibidem. January 1899. p. 43. 

c) A report of five eases of tumor of the brain with necropsy. The 
American Journal of the Medical Sciences. Febr. 1904. p. 311. 

\> -W • Probst, Zur Kenntnis der amyotrophischen Lateralsklerose. Aus 
den Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in 
Wien. 1903. 


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ill's Gyrus supramarginalis. 


57 


von kurzerDauer; bei encephalitischen Herden treten auch kon- 
vulsive Erscheinungen im gelahmten Gliede auf, welche aber nur 
al8 Nachbarsymptome zu deuten sind. Als ziemlich gesetzmiissige, 
wenn auch meist nicht stabile Folgeerscheinung einer Lasion des 
G. supramarginalis sowie der hintersten Abschnitte der Postcentral- 
windung erscheint die Storung des Muskelsinnes wie auch der 
Stereognose, wobei taktile. schmerzhafte und thermische Emp- 
findungen normal sein konnen. Hierbei bemerkt v. Monakow, dass 
eine leichte hemiplegische Storung die Muskelsinnstorung gewohn- 
lich zu begleiten scheint, doch stehe sie ausser jedem Verhaltnis 
zu dieser und zu der Astereognose. 

L. Bruns 1 ) ist der Ansicht, dass Storungen des stereognostischen 
Sinnes sehr oft bei Affektionen der Zentralwindungen allein beob- 
achtetwerden, solchedesMuskelgefiihls und die daraus resultierende 
Ataxie vielmehr bei Lasionen des Scheitelhirns. Bruns fasst die 
Beobachtungen dahin zusammen, dass die motorischen Funk- 
tionen in dem zentro-parietalen Gebiete von vorn nach hinten ab- 
nehmen, wahrend die sensorischen in gleicher Richtung zunehmen, 
so dass vielleicht die vordere Zentralwindung rein motoriache, 
die obere Scheitelwindung ziemlich rein sensorische, die hintere 
Zentralwindung gemischte Funktionen hat. 

Oppenheim, wesentlich derselben Ansicht, flihrt in seiner Dia- 
gnostik und Therapie der Geschwiilste des Nervensystems*) zwei 
Falle von Tumoren der zentro-parietalen Gegend an, in welchen 
ausser den motorischen Erscheinungen (motorisch-sensible Reiz- 
erscheinungen von Jacksonschem Charakter) auch erhebliche Sen- 
sibilitatsherabsetzung im selben Arm und Bein zur Beobachtung 
kam, wobei am friihesten und am meisten die Lageempfindung und 
Stereognose, schliesslich aber auch die Beriihrungs- und Schmerz- 
empfindung litt. 

Besonderer Erwahnung wert ist wegen seiner klaren Sympto- 
matologie der Fall von B. Alessandri 3 ), in welchem ein den oberen 
Teil der vorderen Zentralwindung einnehmender harter Knoten von 
5x2% cm Grosse in der kontralateralen oberen Extremitat 
Jackson -Anfalle mit sensibler Aura in den ersten drei Fingern, 
femer andauernde Parese der (rechten) oberenExtremitat, besonders 
ausgesprochen an der Hand und an den drei ersten Fingern, sowie 
Facialisparese verursachte. Beriihrungsempfindlichkeit iiberall gut. 
nur an der Haut des Hypothenars und an einem kleinen Bezirk am 
Handriicken gegen den Aussenrand w r urden leichte Stiche als Be- 
riihrung empfunden. Temperatursinn, Lageempfindung, Stereo¬ 
gnose gut; trotzdem machte sich Ataxie bemerkbar. Dieser Fall be- 
weist, dass der Muskelsinn eine von der kortikalen Motilitat ge- 
trennte Jjokalisation hat. 


*) Geschwiilste des Ncrvensystems. II. Aufl. 1908. 

*) Verlag S. Karger. 1907. 

l ) R. Alesmndri, Solitiirtuberkel der Holandischen Gegend. Krnni- 
ektomie, Exstirpation, Heilung. Monatssehr. f. Psych, u. Neurol. 1900. 


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58 


Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


Ich mochte nicht versaumen, darauf hinzuweisen, dass die 
Ausfallserscheinungen bei Hirngeschwiilsten nicht immer pragnant 
sind. In dieser Beziehung ist eine Beobachtung von S. E. Henschen 1 ) 
hochst bemerkenswert, in welcher ein orangegrosses Gliosarkom, 
welches hauptsachlich den unteren Scheitellappen infiltrierte, weder 
in der Beriihrungsempfindlichkeit noch im Schmerzsinn noch auch 
ira ..Lokalisationssinn 44 eine wahrnehmbare Stoning verursachte. 
— Beziiglich lokalisatorischer Ausfallserscheinungen geben altere 
Erweichungsherde viel scharfere Bilder. 

Im Gegensatz hierzu stellen die Beobachtungen von Starr und 
Jfc.CosA*) aus dem Jahrel894, sowiedie aus letzterZeit stammende 
von Kudlek vermoge ihrer isoliert-reinen Symptomatik formlich 
physiologische Experimente am Menschen dar. 

ImFall von Me. Cosh fand sich im Gebiet des G. supramarginalis 
ein Angiomknotohen, auf desseri Exstirpation eine voriibergehende 
Astereognose entstand. Der sehr gut beobachtete Fall Kudleks 3 ) 
bezog sich auf einen 17 jahrigen Mann, welcher wegen eines Kopf- 
traumas resp. einer daraus resultierenden Jacksonschen Epilepsie 
halber operiert wurde; hierbei wurde das Him zufallig an einer 
Stelle verletzt; die genaue Bestimmung dieses Punktes mit Kochers 
Kyrtometer ergab, dass es sich um den vorderen Teil des G. supra¬ 
marginalis handelte. Nach der Operation fanden sich folgende Er- 
scheinungen vor: eine eben nur angedeutete Facialisparese. Hyp- 
asthesie der linken Hand und des linken Armes; Temperatursinn 
auf dem linken Handriicken etwas herabgesetzt, vollkominene 
Astereognose der linken Hand, fehlender Drucksinn. Auch mangelte 
vollkommen das Gefiihl fur die Stellung der Finger links; ebenda 
Ataxie. Ungefahr naeh3WochenverschwandendieseErscheinungen. 
Kttdlek komrat mit Bezugnahme auf Starr-Mc. Coshs Fall zu dem 
Schluss, dass der G. supramarginalis das Zentrum fiir die 
Stereognose und den Muskelsinn des Unterarms und der Hand 
abgebe. 

Aus den angefiihrten Beobachtungen diirfte wohl zur Evidenz 
hervorgehen. dass das Scheitelhirn die innigsten Beziehungen 
zum Muskelsinn und stereognostischen Sinn aufweist. Besonders 
scharf formulierte seine Auffassung Flechsig, vermoge welcher die 
Scheitelwindungen mit der Sensibilitat nichts zu tun haben; wort- 
lich aussert er sich folgend 4 ): 

..In keinem meiner zahlreichen Falle von Zerstorung des 
Gyrus angularis, supramarginalis, parictalis 1 wurden bei sorg- 

*) S. E. Henschen, Klinische und anatomische Beitrage zur Patliologie 
de6 Oehims. II. Teil. II. Halfte. 1896. Fall 11. 

*) Starr. M. A. and Me. Cosh. Contr. to the local, of the muse, sense. 
Amer. Journ. of med. sciene. 1894. 

*) F. Kudlek, Zur Physiologie des Gyrus surpamarginalis. Deutsche 
med. Wochenschr. 1908. No. 17. 

‘) P. Flechsig. Einige Bemcrkungen iiber die UntersuchungBmethoden 
der Grosshimrinde, insl>esondere des Menschen. Berichte der Koniglich 
sachs. Gosellsch. d. Wissenschaften. 1904. 


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des Gyrus supramarginalis. 


59 

faltigsten Sensibilitatspriifungen Defekte gefunden; lediglich bei 
Mitverletzungen der hinteren Zentralwindung treten sole he hervor. 
und zwar am regelmassigsten als Astereognose der Hand' 1 (l.c. S.220). 
Hingegen ist Flechsig der Ansicht, dass nach Zerstorung der zweiten 
Parietalwindung (Gyrus supramarginalis und angularis) Erschei- 
nungen auftreten, welche sowohl auf mangelhaftes Verstandnis 
von Gesichts- als Gehors- und Tasteindriicken hinweisen, „bezw. 
Erscheinungen, welche sich kaum anders deuten lassen, als dass 
Gedachtnisspuren sowohl von Gesichts- als Tast- und Gehors- 
eindriicken vernichtet sind“. (1. c. S. 235). 

Einen von der Mehrzahl der Autoren ganz abweichenden 
Standpunkt beziiglich der funktionellen Bedeutung des Gyrus 
supramarginalis nimmt Rudolf Balint ein, der in seiner wertvollen 
Arbeit iiber Seelenlahmung des ,,Schauens“ etc. 1 ) fur diese Him- 
windung nur die Funktion der konjugierten Deviation beansprucht. 
Er weist darauf hin, dass bei ein- wie doppelseitigen L&sionen 
des unteren Scheitellappens verschiedene Symptome, wie Aphasie, 
Apraxie, Seelenlahmung, Muskelsinnstorungen und Stereoagnosie, 
Konvulsionen u. s. w. beobachtet wurden. In seinem Falle waren 
hochgradige Erweichungen von symmetrischer Lage vorhanden, 
welche nicht nur die Hirnrinde, sondern auch das weisse Marklager 
in ziemlicher Tiefe einnahmen; die Herde zerstorten links den 
hinteren Teil des unteren Parietallappens, hautpsachlich den Gyrus 
angularis und parietalis posterior ganzlich, im geringeren Grade 
den Lobul. parietalis sup., Gyrus occipitalis superior und temporalis 
secundus; rechts waren dieselben Gebiete zerstort, nur dehnte sich 
der Herd um die Breite der ersten Temporalwindung weiter nach 
vern aus, so dass die Erweichung auch auf den Gyrus supra¬ 
marginalis iibergreift. In der Tiefe nimmt die Erweichung den 
Scheitel-undHinterhauptslappen ein. DerKranke Bdlints bekundete 
eine standig nach der rechten Seite des Raumes gerichtete Auf- 
merksamkeit, also eine Neigung zur konjugierten Deviation nach der 
rechten Seite, was auf ein Uebergewicht der linken Hemisphere 
deuten wiirde. Da nun die Lasion beider Hemispharen fast sym- 
metrisch ist, mit demUnterschiede, dass rechts auch noch der Gyrus 
supramarginalis zerstort war, und da der Gyrus angularis beiderseits 
erweicht war, so nahm Balint als wahrscheinlich an, dass die Neigung 
zur Wendung der Augenmuskeln nach der rechten Seite auf die er- 
haltene Funktion des linken Gyrus supramarginalis zu beziehen 
ware. Er folgert hieraus, dass das kortikale Zentrum der kon¬ 
jugierten Bewegungen der Augenmuskeln nicht im Gyrus angularis, 
sondern im Gyrus supramarginalis liegt. Da im Falle Bdlints 
Muskelsinnstorungen sowie Stereoagnose fehlten, sucht Balint die 
Lokalisation dieser Erscheinungen ausserhalb des Scheitellappens 
in der Storung von Funktionen anderer Gehirnteile. 

Aus obigen Ausfiihrungen, welche nur einen fliichtigen Ueber- 
blick iiber die Pathophysiologie der zerebralen Sensibilitiit resp. 


’) Monatssohr. f. Psych, u. Xeurol. Bd. XXV. H. 1. 


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€0 Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 

des Gyrus supramarginalis geben, erhellt wohl die Notwendig- 
keit. klinisch gut beobachtete Falle von Lasion der genannten 
Windung zu sammeln. Doch ist auch die Anatomie der vor 
liegenden Frage vielleicht ebenso weit davon entfemt, um als 
eindeutig gelost zu erscheinen. Ich mochte hier sofort auf die 
gegensatzlichen Forschungsergebnisse von Monakow und Flechsig 
himveisen; die Differenz gipfelt darin, dass v. Monakow Pro- 
jektionsfasern aus dem Sehhiigel zum Gyrus supramarginalis 
schildert, wahrend Flechsig jedwelche Verbindung zwischen diesen 
Gebilden in entschiedenster Weise in Abrede stellt. Nach 
v. Monakow 1 ) ist der Markkorper des unteren Scheitellappchens 
hauptsachlich aus Assoziationsfasern zusammengesetzt, doch be- 
sitzt sowohl der Gyrus supramarginalis wie angularis einen eigenen 
Stabkranz. Namentlich stehen die hinteren Abschnitte der ventralen 
Kerngruppen (vent, a, b, c) in enger Beziehung zu dem Gyrus 
supramarginalis, vielleicht auch zu der hinteren Halfte der hinteren 
Zentralwindung und der vorderen Halfte des Gyrus angularis. Die 
beziigliche Stabkranzstrahlung dringt aus dem Sehhiigel, lateralwarts 
austretend, in die vorderen */* und in die dorsale Partie des 
Wernickeachen Feldes, zieht sodann zwischen den ausseren Seg- 
menten des Linsenkems, dann nach hinten umbiegend, hart an 
der dorsalen Etage des sagittalen Markes, in welche sie Fasem ab- 
gibt, vorbei, um nun aufwarts in die Rinde des unteren Scheitel¬ 
lappchens einzutreten. Genauer gesagt ist der Stabkranz des 
Gyrus supramarginalis grosstenteils zusammengesetzt aus den ner- 
vosen Auslaufem der oft sehr stattlichen Ganglienzellgruppen in 
den ventralen Sehhiigelkernen. Das Ende dieser Ausliiufer sucht 
v. Monakow in der Rinde des Gyrus supramarginalis. Ein 
direkter Uebergang des Stabkranzes des unteren Scheitellappchens 
in die Schleife Hess sich nicht nachweisen, denn selbst nach jahre- 
langen Herden mit kompletter sekundarer Entartung der hinteren 
Sehhiigelabschnitte bleibt die Schleife markweiss, auch wenn die 
Atrophie ihrer Fasern eine so bedeutende ist, dass das Volumen 
des Querschnittes um die Halfte sinkt. Der motorischen Zone des 
Menschen (Zentralwindungen und Gyrus paracentralis) ist der 
ganze laterale Sehhiigelkern zugeordnet. — Diese Angaben macht 
v. Monakow auf Grund sowohl entwicklungsgeschichtlicher wie ex- 
perimenteller und pathologisch-anatomischer Untersuchungen. 

Genau zu denselben Ergebnissen ist M. Prdbst 2 ) auf Grund 
seiner tierexperimentellen Untersuchungen gelangt. Wenn ich 
Prohsts zahlreiche diesbezvigliche Mitteilungen zusammenfasse, 
so ware hervorzuheben. dass vor allem Sehhiigel-Rindenfasem 

‘) r. Monakow, Zur Anatomic und Pathologie des unteren Scheitel- 
lfippchens. Arch. f. Psych. 1899. XXI. 

a ) M. I'robst. a) Ueber die Bedeutung des Sehhiigels. Wiener Idinische 
Wochenschr. 1902: b) Ueber den Verlauf und Endigung der Rindensehhiigel- 
fasern des Parietallappens. etc. Arch. f. Anat. u. Physiologic. 1901. c) Physio- 
logische, anatomische und pathologisch-anatomische Untersuchungen des 
Sehhiigels. Arch. f. Psych. XXXIII. 


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dee Gyrus supramarginal is. 


61 


und Rinden-Sehhiigelfasem zu unterscheiden sind. Erstart ent- 
springen aus den ventralen und medialen Sehhiigelkernen, passieren 
die aussere Marklamelle und die ventrale Gitterschieht im ventralen 
Teil der inneren Kapsel und gelangen zum Gyrus sigmoideus und 
coronariuB. Letztere erseheinen in folgender Anordnung: Nach 
Abtragung der Rinde des Stirnhirns degenerieren die Fasern zum 
Nucl. ant. a und die vorderen Teile des Nucl. lat. a, lat. b, ventr. 
ant. und vent, a; nacb Abtragung der parietalen Rinde degenerieren 
die Fasern zum Nucl. lat. a und b; nach Verletzung der Occipital- 
rinde degenerieren Fasern zum ausseren Kniehocker, zum Pulvinar, 
zum lateralen Kern und zu beiden Kuppen des vorderen Zwei- 
hiigels; nach Lasion des Temporalhirns entarten Fasern zum Nucl. 
vent, c und zum inneren Kniehocker. 

Flechsig (1. c.) konnte bei Benutzung geeigneter Entwicklungs- 
stufen myelogenetisch feststellen, class die sensiblen Leitungen den 
vorderen Abhang sowie die Konvexitat der vorderen Zentral- 
windungen freilassen, so dass diese Abschnitte ausschliesslich 
von motorise hen Zentren eingenommen werden, ,,wahrend die 
hintere Zentralwindung in ihrem vorderen Abhang und an der 
Konvexitat kompakte Biindel subkortikaler Herkunft (Gelenk- 
empfindungen ?) in sich aufnimmt und ganz iiberwiegend von mo- 
torischen Leitungen bezw. Zentren frei bleibt. Es ergibt sich aber 
auch, dass in alien Hohen am hinteren Abhang der vorderen Zentral¬ 
windung motorische und sensible Leitungen sich mischen, so dass 
sich innerhalb der Zentralfurche — aber auch nur hier — eine senso- 
motorische Zone ausbreitet (1. c., S. 91). 

Flechsig hebt hervor, dass die Verbindungen der Zentral- 
windungen mit dem Sehhiigel zahlreich sind. ,,Beteiligt ist besonders 
der laterale Kern mit Ausnahme der dorsalsten (zonalen) Schichten, 
sowie der Zentralkern und der schalenformige Korper. Die kortiko- 
petalen und kortikofugalen Leitungen lassen sich nur schwer 
auseinanderhalten, desgleichen die Faserzuge der vorderen und 
hinterenZentralwindung“ (l.c., S. 187). Einen Ueberblick in letzterer 
Beziehung gewahrt der allbekannte Fall Hosels, in welchem links 
der Lob. paracentral is, ferner die hintere Zentralwindung in den 
oberen */» ganz, im unteren */, nur wenig zerstort war, wahrend die 
vordere Zentralwindung im wesentlichen nur in ihrer hinteren Halfte 
erweicht war. Stimwindungen sowie die erste imd zweite Parietal- 
windung waren vom primaren Erweichungsherd verschont. Hier 
war die hintere Partie des lateralen Sehhiigelkerns sekundar de- 
generiert, besonders gegen die Basis zu, weniger deutlich im schalen- 
formigen Korper und im Zentralkern, welche aber etwa auf die 
Halfte des Normalumfanges reduziert waren. Einzelne Mark- 
lamellen des Glob, pallidus sind auf Degeneration verdachtig. Ab- 
warts vom Sehhiigel sind entartet die Hauptschleife bis an die Hinter- 
strangskerne, desgleichen der rote Kern mit dem oberen Kleinhirn- 
schenkel und Teile der sensiblen Trigeminuskerne. Die geringfiigige 
Veranderung des vorderen Abschnittes des lateralen Sehhiigel- 
kernes bringt Flechsig mit der Verschonung des unteren '/a der 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


hinteren Zentralwindung in Zusammenhang. Flechsig halt diesen 
Fall fiir beweiskraftig in der Frage, ob die Degeneration von Schleife 
und rotem Kern mit der Zerstorung der hinteren Zentralwindung 
oder des Scheitelhims in Zusammenhang zu bringen ist, und erklart, 
dass allein die hintere Zentralwindung dabei in Frage kommen 
kann. Er betont, dass nur Falle von isolierter Lasion des 
Scheitelhirns ohne Mitbeteiligung der hinteren Zentralwindung 
ma88gebend sein konnen bei Entscheidung der Frage, welche Teile 
der infrakortikalen Segmente dabei sekundar leiden. „Solche 
Falle existieren aber bisher in der Literatur nicht, wohl aber ver- 
fiige ich fiber eine game Reihe von Schnittserien, wo bei ausge- 
dehnten Herden in der zweiten Scheitelwindung (Gyrus supra- 
marginalis und angularis) ohne Beteiligung der hinteren Zentral¬ 
windung auch nicht die leiseste Andeutung einer Degeneration 
in den obengenannten Thalamuskernen bezw. ihren Stabkranz- 
bfindeln zu finden ist. Hierdurch halte ich die Ansicht von Monakow 
ftir endgfiltig widerlegt, dass die Schleife (und dadurch die Hinter- 
strangskerne etc.) durch die ventrolateralen Thalamuskerne 
mit dem Gyrus supramarginalis und angularis in Verbindung 
tritt. Die Schleife steht nur mit der hinteren Zentralwindung 
und Teilen der vorderen in Verbindung; sekundare Degeneration 
und Myelogenese weisen mit gleicher Deutlichkeit iibereinstimmend 
darauf hin.“ (1. c. S. 189.) 

Nach obiger Uebersicht, welche allein darauf Anspruch macht, 
die klinisch-anatomischen Lficken unsrer Kenntnis in den Vorder- 
grund zu rficken, beginne ich mit der Schilderung meines Falles. 
Obschon, wie bereits bemerkt, derselbe im wesentlichen klinisch 
bereits beschrieben wurde (s. Neurolog. Zentralbl. 1905), kann ich es 
bei dieser Gelegenheit, wo ich die auf Schnittserien sich sttitzende 
anatomische Beschreibung meines Falles von doppelseitiger Er¬ 
weichung des Gyrus supramarginalis vorffihren mochte, nicht 
unterlassen, die pragnantesten klinischen Daten zu wiederholen 
und den ferneren Verlauf mitzuteilen. Ich tue dies im Interesse 
der Uebersichtlichkeit und leichteren Beurteilung des Falles. 

Frau Rosa W., zur Zeit der Aufnahme auf meine Nervenabteilung 
des Siechenhauses im Jalire 1904, 45 Jahre alt, war als Kind nie krank ge- 
wesen, und obschon verheiratet, hatte sie nie geboren. Sie lebte iibrigens vorn 
Manne getrennt. Im Herbst des Jahres 1903 erlitt sie den ersten apo- 
plektischen Insult, und zwar in der Nacht; des Morgens beim Erwachen 
nahm sit' Sprachunfnhigkeit und Lahmung der rechten Korperseite wahr, 
welche Erschoinungen in 2 Monaten besser wurden. Bei dieser Gelegenheit 
hemerkte me die Unewpjindlichkeit der Hand. Kin halbes Jahr spiiter. im 
Fruhjalir 1904, ereilte sie der zwrite Insult, eben bei Verzehrung ihres Nacht- 
mahles, wo bei sie das Rewusstsein verlor; erst im Verlauf der Nacht kamsie 
\\ ieder zu sich. Als Folgeerscheinungen bemerkte sie eine kompletteLahmung 
tier linksseitigen Extremitat(*n sowio ausgeprdgte Unempfindlichkeit der 
hnken Hand. Nach ihrer ersten Apoplexie wurde sie bei einer Gelegenheit 
auf der Strasse von der elektiischt'n Tram iiberfahren, worauf die Am¬ 
putation des linkcn b nttTscla'nkels in dessc k n Mittt* notwendig wtu*de. 

Status praem.ns: Die schwach c*ntwickelte und anamische Frau hat 
etwas enge, doch gleichweitt', gut .reagien^nde Pujalleu. Koine Zungen- 
de\ iution. Dc>r Zustand des Facialis ist schwer zu beurteilen, da Pat-ientin 


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des OyriiB supramarginal is. 


63 


die Zahne schon in ihrer Jugend verlor. Auffallige* findet sieh jedooh nicht 
vor. Die Bpraehe zeigt deutliche Spuren einer abgelaufenen Aphasie, deren 
Hauptmerkmale das mehrmalige Suchen nach Wortern, sowie literale 
Verwechselung (z. B. Stiissel statt Schliissel) sind. Auf diese Weise 
ist die Spraehe oft holprig, doch nie unverstandlich, denn beim Fehlen des 
erforderten Wortes kommt die Kraken nach kiirzerem oder langerem Nach- 
sinnen doch darauf, ebenso korrigiert sie die literalen Verwechslungen. Lesen 
geht gut; Schrift ebenso wie feinere Verrichtungen (Handarbeit) vermoge 
der Ataxie der Hande behindert, doch nicht unmoglich. Kauen, Schlucken 
frei. Appetit, Stuhl in Ordnung; kein Kopfschmerz. Schlaf init Unter- 
brechungen. Rigiditat der Carotis und periphereri Arterien; Herzspitze 
ausserhalb der Mamillarlinie; fiber der Aorta systolisches Ger&usch. 
Lungen normal. 

Motilitdt : Stirnrunzeln geht gut, ebenso die Lippenbewegung, doch ist 
dabei eine auffallige Ungeschicklichkeit wahzunehmen. Beide Arme werden 
unbehindert vertikaraufgehoben; Muskelkraft hauptsachlich links vermindert. 
und wahrend die Beweglichkeit der rechten Finger ganz frei ist, sind die 
linken dauernd flektiert, wie denn uberhaupt die ganze linke obere 
Extremitfit eine Tendenz zur Flexionskontraktur bekundet. Dement- 
sprechend ist der Muskeltonus links gesteigert, der linke Triceps-und Patellar- 
reflex entscliieden lebhafter ala die gleichnamigen der rechten Seite. 
Die Motilitat der unteren Extremitaten frei, docli ist hier der Tonus des 
linken Beines ebenfalls erhoht und die Muskelkraft verringert. Sohlenreflex 
rechts schwach plantar, links infolge der Amputation nicht zu untersuchen. 
Individuelle Muskelatrophien fehlt; keine Messungsdifferenzen. 

Senaibilitdt: Sowolil oberfliichliche Beriihruiigen wie auch in die Tiefe 
dringende, die aufgehobene Hautfalte durchbohrende 8 tic he werden an der 
ganzen Haut nicht perzipiert. Doch tritt in diesen Verhaltnissen eine auf- 
fallende Aenderung ein, sobald ieh die Kranke auffordere, sie moge mir die 
vorzunehmendenBeriilirungen angeben. Hierauf, bei angespornter Auftnerk- 
samkeit, reagiert sie oft auf Beriihrungen. immer auf Stiche, doch mit den 
allergrbbsten Lokalisationsfehlern. Stiche in die (Jesichtshaut resp. die 
Lippen werden bald in den Fuss, bald in den Arm projiziert; ein Stigli 
in die pragingivale Schleimhaut wird als Beriihrung des Fusses angegebeu. 
Mit zwei Nadeln auf einmai in die Haut beider Gesichtshalften gestochen. 
gibt Pat. nur einen St ieh im rechten Fuss an. Ieh fordere die Kranke auf 
ilire Zunge herauszustreeken, und appliziere nun einen Stieli in die linke 
Zungenhalfte gegen die Mitte zu, worauf die Ant wort erfolgt . man hatte 
ihre Zunge gestochen; nun stoeho ich den Riieken des rechten Fusses, worauf 
diese Einwirkung in die Zunge lokalisiert wird. Jin allgemeinen hat es den 
Anschein, als ware die Haut des Gesielites, die Schleimhaut des Mundes und 
derZunge etwas empfindlicher,denn hier erhielt ichReaktionen aueh.ohnedie 
Kranke aufmerksam gemaoht zu haben, dass eine Beriihrung erfolgen werde: 
hingegen einpfindet die Haut des Rumpfes und der ]«]xtroiuitut<*n nur danu. 
wean Patientin vorher daran gemahnt wird. Jedoch an alien Stellen 
der Haut erfolgen die Angaben mit den grbbsten Lokalisationsfehlern. 

Thermisehen Eindriicken gegeniiber verhiilt sieh Rat. genau so wie 
mif taktile und sehmerzhafte Reize. Unvorbercitct machte sie bei Bc- 
riihrungen mit Eis und sehr warmem Wasser gar keine Angaben; naehdem 
sie nun avisiertj wmide, maeht sie Angaben mit der genauen Reihenfolge 
von kalt — w r arm, obsehon sie fortwahrend nur mit Kalt beriihrt wurde. Eine 
kleine Auslese der thermisehen Untersuehung nidge eine Yorstellung liber 
die diesbeziigliehen Yerhaltnisse geben. Ieh beriihre die linke Ohrmusehel 
mit Warm, worauf sie Kalt in dem Fuss angibt; die linke Waiurenhaut mit 
Warm und Kalt. wovcm nur Warm empfunden wird; die linke Sehulter 
mit Warm tmd Kalt mit der Angabe von Lau fur Kalt; die laterale Flacho 
des linken Oberarms mit Kalt, worauf Warm als eni])funden angegebeu wird 
mit folgenden Naehempfindungen : kalt. warm, kalt, knit. Bei diesen letzteren 
Yorsuehen erfolgen keine Lokalisationsfehier. Es liisst sieh zusnmmenfassend 
sagen. dass thermiselie Eiudriickc toils mit grossen Lokalitationsfchlern. toils 
pervers, teils mit Naehempfindungen perzipiert wurden. - Genau dasselbe 


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64 


Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


Verhalten lasst sich beziiglich der tiefen Sensibilitat feststellen. Patientin 
hat von den in den distalen Gelenken vorgenommenen passiven Bewegungen 
keine Vorstellung, sie tut ofters den charakteristischen Ausspruch: 
„Ich hab kein Gefiihl.“ Obschon in den proximalen Gelenken (Sehulter, 
Hiifte) dann und wann der Lagewechsel empfunden wird, so liess sich doch 
folgende, auf artikulare Anasthesie hinweisende Erscheinung beobachten. 
Ich hebe bei geschlossenen Augen den Arm (sei es der rechte oder linke) 
vertikal in die Hohe, worauf dieser in dieser Position unverriickt langere 
Zeit verharrt und dann sehr iangsam, allmahlich hinabsinkt; ca. 6 Minuten 
sind notwendig, damit der Arm auf die Bettunterlage zuriiokgelangt. 
Inzwischen hat Pat. gar keine Ahnung von der jeweiligen Lage der Ex- 
tremitat. Von den passiven Lage verander ungen der Zehen mid Finger, des 
Hand- und Kniegelenkes hat die Kranke gar keine Kenntnis. Bemerkenswert 
ist. der Umstand, dass bei vorheriger Anzeige des vorzunehmenden Manovers 
die Kranke hie und da die Stellung der proximaleren Gelenke errat. — Es 
1)08teht ferner eine ausgepragte Unsicherheit bei Prazisionsbewegungen der 
Arme mit geschlossenen Augen; Pat. ist nicht imstande, die Hande inein- 
ander zu legen, mit dem Zeigefinger die Nasenspitze, die Stirn oder das Ohr 
zu treffen; es zeigt sich hierbei die ausgepragteste Ataxie der Hande, 
welche vom angegebenen Ziel immer sehr entfernt zu hegen kommen. — 
Es ist hervorzuheben, dass in den Manipulationen bei geoffneten Augen 
keine apraktische Storung zum Vorschein geiangt. — Sehliesslich hat Pat. 
gar keine Vorstellung von den in ihre Hande gelegten Gegenstanden; 
es ist vollkommene Stereoagnose vorhanden. Keine Gesichtsfeldstorung. 

Verlauf: Die Kranke lag auf meiner Abteilung ca. 3 l / 2 Jahre in voll- 
kommen unverandertem Zustand; die ofters vorgenommenen Nachpriifungen 
ergaben immer mit den obigen Daten iibereinstimmende Resultate. Am 
13. IV. 1908, nachdem ich sie bei der Morgenvisite noch ganz munter sah, 
ereilte sie mittags ein apoplektischer Insult. Es wurde damals folgender 
Status aufgenommen. Das Gesicht ist gerotet, Mund nach rechts verzogen, 
Pulsarhythmisch, Blutdruck (mit Riva-Roccigeme?sen) 170—180. Die Kranke 
befindet sich in Riiekenlage, der Kopf mid die Augen parallel bestiindig nach 
links gedreht, reagiert auf Fragen oder Eindriicke nicht, Pupillen ruiid, eng, 
gleich weit, reagieren auf Licht. Bauchreflex nicht auszulosen, Patellarreflex 
rechts erhoht; rechts Acliillesreflex zu erzielen, jedoch kein Klonus; rechts 
Babinski positiv. Therapie: Eisbeutel auf die Herzgegend, Kopf hoch 
gelagert, Venaesektion (ca. 200 ccm Blut entfernt), Einguss. — Am 15. IV.: 
Bewusstlosigkeit, Apyrexie, Puls kleinwellig, gespannt, auslassend, 96. 
17. IV.: Komplette Bewusstlosigkeit; 18. IV. begmnender Decubitus am 
Sacrum, am rechten Ellbogen und an der rechten Ferse. 21. IV. Reflexe 
rechts (Patellar-, Achilles-, Babinski) fehlen; Knieplianomen links auszulosen. 
24. IV. Kranke schluckt seit Beginn des Insultes nur schwer; seit gestern 
geht die Nahrung nicht hinab. Palor, Facies Hippocratica, Stertor; Radial- 
puls nicht fiihlbar. Vormittags 11 Ulir Exitus. 

Die Sektion inusste sich aus ausseren Griinden auf die Herausnahme 
des Zentralorgans bescliranken. Dabei fiel eine doppelseitige malacische 
Grube des Gehirns auf; dieser Defekt wurde genauer nachHartung in 20 proz. 
Formalin untersuchtmid das Gehirnphotographiert. Dierechte Grosshirnhalfte 
(s. Taf. VI, A) weist eine grubenformige Vertiefung auf, deren vordere Grenze 
genau durcli die Zentralfurche (R), deren unterc Grenze durch den hinteren 
Ast der Sylviavhen Furche gebildet wird; als obere Grenze dient dielnter- 
j)arietalfurche, wahrend von hinten als Abgrenzung eine willkiirlich gezogene 
Linie dienen kann, wekdie vom aufsteigenden Schenkel des hinteren Sylvius - 
schen Astes bis zur Interparietalfmrclie, so ziemlich parallel mit dem vorderen 
Rande der Grube verlauft. Der offenbar malacische Defekt erstreckt sich auf 
die unteren 2 / 3 der hinteren Zentralwindung, wobei von letzterer am Winkel 
der Zentralfurche und des hinteren Astes der &t/Zvfwsschen Furche ein un- 
ansehnlicher Rest von der Erweichung verschont blieb; ferner nimmt die 
Malacie einen Teil des Gyrus supramarginalis ein. Die Grube ist mit diinner 
Hirnhaut ausgekleidet, miter welcher Blutgefasse verlaufen. Keine Kom- 
munikationmitdem Seitenventrikel. — Die linke Grosshirnhalfte (s. Taf. VI, B, 


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A/onatsschrift fur Psychiatric unci Neurologic Bd. XXVJI. 


Tafel VI 




Fig. A 


Fig. Ji 


Fig. C 



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CV 7.^/7; 


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I 


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das Gyrus aupramarginalia. 


65 


-weist eine etwas mehr riickwarts gelegene Grube auf, welche oben von der 
Interparietalfurche, vorn oben von der Postzentralfurche begrenzt wird; 
unten scheint der hinterete Teil der ersten Temporalwindung in die Er- 
weichung einbezogen zu sein; auch istder Winkel zwischen der Post¬ 
zentralfurche und dem hinteren Sylviusschen Aste von der Malacie ver- 
schont, welche demnach genau den Gyrus supramarginalis einnimmt, 
-denn riiokwarts erstreckt eich der Defekt nur bis zura Gyrus angular is, 
ohne diesen anzugreifen. Die Grube erscheint hier weniger tief als rechts, 
ist aber gleiohfalls init weicher und vaskularisierter Hirnhaut iiberzogen. 

Es lasst sich nun zusammenfassend sagen, dass die zwei 
malazischen Gruben nur annahemd gleich liegen; rechts ist der 
Defekt etwas mehr nach vorn geriickt, denn hier ist die Grenze 
die Zentralfurche, links hingegen die Postzentralfurche; rechts 
erscheint allein die vordere, links hingegen auch die hintere Zentral- 
windung verschont; endlich ist rechts der Gyrus supramarginalis 
nur partiell, links hingegen total erweicht. Mit Betonung ware auf 
den Umstand hinzuweisen, dass die oberen Scheitellappchen beider- 
seits vom pathologischen Prozess ganz verschont blieben, wie dies 
Taf. VI C deutlich zeigt. 

Bei der Aufarbeitung des Gehims in Serienschnitten behufs 
genauerer Lokalisation des Defektes musste ich mich fiir Zerlegung 
in frontaler Richtung aus dem Grunde entscheiden, denn ich hoffte 
so einen ausgedehnteren Einblick in die Destruktion sowie in 
die auf diese Weise entstandene sekundare Degeneration zu ge- 
winnen. Die nach der Weigert- TFoZtersschenMethode gef arbtenSchnitte 
zeigen 1. vor allem, dass der doppelseitige Defekt schon hart an den 
lateralen Winkel des auffallend erweiterten Seitenventrikels heran- 
riickt, jedoch die Projektionsstrahlung der motririschen Rinden- 
gebiete nicht beschadigt, wodurch die Intaktheit der Pyramiden- 
bahnen erklart wird. In Fig. 7, 8, 9 Taf. IX—X ist der Projektions- 
zug zum Hirnschenkel sichtbar, und von hier angefangen spinal- 
warts ist in der Briicke (s. Taf. VII—VIII, Figg. 4, 3, 2) sowie im 
verlangerten Mark (s. Taf. VII—VIII, Fig. 1) die mit ganz nor- 
malem Markgehalt versehene Pyramidenbahn zu erblicken. 

2. Eine weitere wichtige Tatsache ist ein distinktes Entartungs- 
gebiet auf der rechten Seite, welches genau dem von Monakow 
heschriebenen Degenerationszuge bei Verletzung des Parietal- 
hims entspricht. Das Degenerationsareal erscheint in starkster 
und ausgedehntester Entwicklung in Fig. 6, Taf. VII—VIII D 
in jener Gegend, wo der riickwartigste Teil des Putamens schon 
in abgeschniirten Segmenten erscheint; es ist da oberhalb des 
WernickeSichen Feldes, auswarts vom postero-lateralenKern des Seh- 
hiigels, zwischen der Lamina medullaris externa und Putamen ein 
schmaies, infolge seiner hohen Markarmut auffallend helles Gebiet 
sichtbar, welches oben in der Hohe des Sehweifkernes durch die 
normal-markreiche Projektionsfasenmg abgegrenzt wird. Dieses 
Gebiet wird in den mehr occipitalwarts liegenden Schnittebenen 
immer kleiner, um schliesslicli in der Ebene des Pulvinars zu ver- 
schwinden. Fig. 5, Taf. VII—VIIID deutet auf die Verringerung des 
Entartungsgebietes hin, gleichzeitig ist hier eine Rarefizierung jener 

Monataschrift fUr Psychiatrie und Neurologie. Bd XXVII. Heft 1. 5 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


Markzfige zu sehen, welche, in den postero-lateralen Sehhiigelkem 
eindringend, diesem normaliter ein parallelgestreiftes Aeussere ver- 
leihen. Der Zentralkem des Sehhiigels (Centre median), Flechsigs 
schalenformiger Korper und speziell die ventralen Kerne (vent, b, c) 
weisen am Markpraparate nichts von einer Degeneration auf. Ebenso 
sind die Corpora geniculata, sowie der rote Kern normal. Die 
analoge Stelle des soeben geschilderten Entartungsgebietes, da die 
beiden Halften der Frontalschnitte leider nicht gaiiz identischen 
Ebenen entsprechen, ist links auf Fig. 7, Taf. IX—X zu sehen, und 
es ist mit Betonung hervorzuheben, dass hier entschieden nichts 
von einer ahnlich distinkten Degeneration wie rechts zu finden ist. 

3. Eine auff allige Erscheinung ist die ansehnliche Verschmalerung 
des Balkens, welcher in den zwischen beiden Erweichungsherden 
liegenden Frontalebenen ungefahr nur 1 / a des normalen Volumens 
darbietet (s. Fig. 4—9). Als typisches Bild hierffir moge Fig. 5 dienen; 
hier ist ausser der bereits erwahnten Verschmalerung des Balkens 
noch in dessen ventralem, hauptsachlich medialstem Teile (bei „D“) 
ein distinkter Faserausfall wahrzunehmen, welcher mit den sym¬ 
metrise h gelegenen, in der lateralen Ecke des Seitenventrikels 
befindlichen Degenerationsstreifen, welche hier vom Schweifkern 
ab dem Ependym entlang den beiden Gyri fornicati zu- 
streben, zusammenhangt. Es diirfte die Annahme gerechtfertigt 
sein, dass die Reduction des Balkens sowie die Entartung 
in und um denselben von den Erweichungsherden in dem Sinne ab- 
hangig ist, dass die beiderseitigen Gyri supramarginalesauf dem Wege 
der ventralen Balkenfaserung unter einander verbundensind. Ziehen 
wir in Betracht, dass das soeben erwahnte Verhalten des Balkens 
ausschliesslich im Bereiche der Hemispharendefekte erscheint 
(angefangen von Fig. 3 bis Fig. 10), so ist die Abhangigkeit der 
Balkenatrophie von den Erweichungsherden ohne weiteres ver- 
standlich. Dort, wo die Herde aufhoren, frontalwarts in der Ebene 
der Corpora mamillaria (Fig. 11), occipital warts in der Ebene des 
Spleniums (Fig. 3), erscheint der Balken auch normal. 

4. Es eriibrigt an der Hand der Schnittserien den makroskopisch 
erhobenen und lokalisierten Erweichungsbefund zu kontrollieren. 
Beziiglich der Oberflachenausdehnung des Herdes kann ich auf 
Grund des Schnittstudiums nichts Neues hinzufiigen; anders ver- 
halt es sich beziiglich der Tiefenlokalisation. In dieser Frage 
sind eben Schnittserien unerlasslich, denn sie konnen einzig und 
allein uns genauen Aufschluss fiber die Ausbreitung des patholo- 
gischen Prozesses geben. Bei diesem Studium diirfte uns vor allem 
die Frage interessieren, wie sich die dem Herde unmittelbar be- 
nachbarte hintere Zentralwindvmg links und die vordere Zentral- 
windung rechts mikroskopisch verhalt ? Denn makroskopisch 
scheint die Erweichung hart an den erwahnten Gebilden zu enden; 
nun sehen wir an den Praparaten folgendes. Das Verhalten der 
linken hinteren Zentralwindung ist besonders deutlich auf Fig. 7,8, 9 
zu verfolgen, wobei es sich herausstellt, dass der rfickwartige, 
occipitale Abhang dieser Windung in dem Erweichungsherd auf- 


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des Gyrus supramarginal is. 


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geht, so dass streng genommen nur der vordere, frontale Abhang 
als normal bezeichnet werden kann, der mit einem kraftigen Win- 
dungsmark als Assoziationszug mit der vorderen Zentralwindung 
zusammenhangt. — Es geht ferner aus den Praparaten hervor 
(s. Fig. 9), dass die Kuppe der hinteren Zentralwindung durch 
einen umschriebenen Erweichungsfleck ohne Destruktion der 
Wipdung teilweise eingenommen wird. — Was nun die rechte vordere 
Zentralwindung anbelangt, so ist besonders an Figg. 7, 8, 9 er- 
sichtlich, dass der hintere, in die Zentralfurche hinabneigende 
Abhang vom Erweichungsprozess angenagt ist, doch nicht der- 
massen,dassein mit der Weigert&chen Farbung nachweisbarer Ausfall 
in der motorischen Projektionsfaserung entstanden ware. Aller- 
dings ist das Windungsmark selbst, verglichen mit jenem der 
kontralateralenSeite,entschiedenheller,alsomarkfaserarmer,welchen 
Umstand ich mit dem Ausfall der Assoziationsfaserung zwischen 
der vorderen und der erweichten hinteren Zentralwindung in Ver- 
bindung bringe. — Verfolgen wir nun die Ausbreitung der Er- 
weichung abwarts gegen die Sylviussche Fissur, so gestalten sich 
die Verhaltnisse rechts und links in nicht ganz iibereinstimmender 
Weise. Wahrend rechts der Grund des Defektes entlang der mo¬ 
torischen Projektionsfaserung zurlnsel hinabzieht und einen grossen 
Teil der letzteren zerstort (s. besonders Figg. 4, 5, 6, 7), jedoch an 
der erstenTemporalwindungHaltmacht.so dass diese amMarkfaser- 
praparat als ganz normal erscheint, wobei auch der unmittelbar am 
Grand des Erweichungsherdes liegende Linsenkern in seiner Mark- 
faserstraktur als unversehrt vor uns tritt: ist links eine in die 
Tiefe greifende Verbreitung des Erweichungsprozesses zu erkennen. 
Schon in den hintersten Abschnitten des Herdes (s. Fig. 1, 2, 3) 
erstreckt sich die Malazie teilweise bis zum Ependym des Hinter- 
homs in einer ganz eigenartigen Form. Wahrend namlich die 
Rindensubstanz in Figg. 1, 2 nur teilweise, hingegen in den mehr 
frontalwarts liegenden Schnittebenen (s. die Figuren von Fig. 3 an- 
gefangen bis Fig. 9) ganz resorbiert ist, so dass ein deutlicher 
Substanzverlust, der aufden Gyrus supramarginalis sich erstreckende 
Erweichungsdefekt, entstanden ist, verandert sich die subkortikale 
Marksubstanz in der Weise, dass sie, ohne an Masse (wie die Rinde) 
einzubussen, in insularer, fleckartiger Weise die Tinktionsfahigkeit 
ihres Markes verliert. Es entsteht auf diese Weise an den Weigert- 
schen Markfarbungspraparaten ein geschecktes Aussehen in der 
retroinsularen Gegend (Figg. 4, 5, 6), ferner im lentikularen Gebiete 
dergestalt, dass die normale Zeichnung des Linsenkerns ver- 
waschen wird (s. besonders Figg. 8, 9, dann bei 10 und 11 etwas deut¬ 
licher, um in Fig. 12 wieder an Deutlichkeit der Konfiguration 
einzubussen). Ganz regellose Aeste dieses mit seiner Hauptmasse 
an der Stelle des Linsenkerns sitzenden Erweichungsherdes dringen in 
die erste und zweite Temporalwindung hinein, indem sie auch hier 
ein recht bizarres, der multiplen Sklerose sehr ahnlich sehen- 
des Aussehen hervorrufen. Hierbei erleidet die linke Insel eine 
betrachtliche Atrophie (s. besonders Figg. 10, 11). 

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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


5. Schliesslich ware noch des Umstandes zu gedenken, dass 
der Linsenkern links in der Ebene der Mamillarkorper eine pralle 
Fiillung der Blutgefasse und auch Extravasate (s. Fig. 11) aufweist. 


Nachdem ich meinen Fall klinisch-anatomisch mitgeteilt babe, 
eriibrigt mir die in klinisch-lokalisatorischer Beziehung sowie in 
Hinsicht auf die sekundare Degeneration sicb ergebenden Sehliisse 
zu ziehen. Ich tue dies mit moglichster Kiirze. 

A. Klinisch bilden die bilateralen Sensibilitatsstorungen ausser 
der linksseitigen Hemiparese die einzigen Krankheitserscheinungen 
seitens des Nervensystems, daher ist die Ableitung derselben 
aus den gefundenen bilateralen postzentralen Hirnherden 
wohl gerechtfertigt. Beide Erweichungsherde, annahernd gleich- 
liegend an der Konvexitat des Grosshims, entwickelten sich im 
Verlauf eines halben Jahrea nacheinander, klinisch je unter 
dem Bilde eines Insultes; der erste Insult rief eine rechts- 
seitige Gefiihllosigkeit mit voriibergehender motorischer Aphasie 
und rechtsseitiger Hemiplegie, der zweite Insult eine links- 
seitige Gefiihllosigkeit und besser ausgepragte Hemiplegie hervor, 
welch letztere sich aber spater wieder betrachtlich verringerte. 
Aus einer Hemianaesthesia dextra wurde durch Hinzukommen 
eines zweiten Insultes eine Hemianaesthesia bilateralis mit alien 
Merkmalen der zerebralen Sensibilitatsstorungen. Es fand sich das 
als Topoanasthesie bekannte Phanomen der gestorten Haut- 
lokalisation in hochstem Masse vor; femer der zerebrale Typus der 
artikularen Sensibilitatsstorung, wonach die passiven Bewegungen 
in den distalsten Gelenken gar nicht. hingegen in den proximalsten 
noch empfunden wurden; endlich nebst Ataxie die Astereognosie. 
Spezifische Sinne intakt. Eine Erscheinung, welche eine Erorterung 
vor allem erheischt, ist, dass diePatientin beifehlenderAufmerksam- 
keit selbst in die Tiefe gehende, schmerzhafte Stiche nicht empfand, 
hingegen bei Ankiindigung der vorzunehmenden Untersuchungen 
selbst Beriihrungen perzipiert hat, allerdings zumeist mit kolossalen 
Lokalisationsfehlern. Somit mangelte eigentlich die Perception 
der kutanen Eindriicke nicht, jedoch deren richtige Aufarbeitung 
und Abschatzung war im hochsten Grade fehlerhaft. Es war also 
keine Anaesthesie sensu strictiori vorhanden, denn in diesem Falle 
hatten unter alien Bedingungen die sensiblen Eindrticke absolut 
reaktionslos bleiben miissen. In letzterer Beziehung mochte ich mir 
nur die fluchtige Anfiihrung eines Falles aus meiner neurologischen 
Abteilung gestatten, welcher die Existenz wirklicher Anasthesie 
und Analgesie auf Grund eines zerebralen Herdes beweist. Ein 
,j0 jahriger Mann erlitt eine Apoplexie, worauf seine rechte Korper- 
halfte motorisch und sensibel gelalimt wurde; absolute motorische 
Aphasie. Samtliche Qualitaten der oberflachlichen wie tiefen 
Sensibilitiit fehlten rechts, also taktile, schmerzhafte, thermischeEin- 
driickeundLageveranderungen wurden absolut nicht wahrgenommen 
auf derrechtenKbrperhalfte; nurdasmittlereunduntereTrigeminus- 


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das Gyrus supramarginalis. 


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gebiet, die rechte Skrotumhalfte, sowie die anstossende Partie 
der medialen Schenkelseite waren fiir Nadelstiche noch empfindlich; 
von thermischen Eindriicken wurde nur mehr Kalt wahrgenommen. 
Gesichtsfeldeinschrankung und andere spezifische Sinnesstorungen 
fehlten. Schleimhaute empfindlich. Anatomisch fand sich eine von 
der Fossa Sylvii ausgehendeErweichung der zentralen weissenMark- 
massen, welche vom Occipitallappen bis zum Frontallappen sich 
erstreckte und somit alle zur Konvexitat der Hemisphare strebende 
Fasera durchbrach. Bereits Dejerine wies darauf hin, dass zur 
komplettenundstabilenHemianaesthesia cerebralis zumeist nur aus- 
gedehnte Zerstorungen des Hemispharenmarkes fuhren; die 
Existenz solcher klinisch-reinen zerebralen Hemianaesthesien be- 
weist der eben angefuhrte Fall. 

Ich greife auf den eigenartigen Charakter der Sensibilitiits- 
storungen zuriick, indem ich nochmals darauf hinweise, dass dieselben 
mehr den Stempel falscher Abschatzung als sensorischen Aus- 
falles an sich tragen. Es handelt sich somit viel weniger um die 
fehlende Funktion eines Sinnesfeldes als vielmehr um die un- 
richtige oder mangelhafte Aufarbeitung sensibler Eindriicke. 
Nicht in der Projektion, sondern in der Assoziation liegt der Fehler, 
wodurch die falsche Lokalisation bedingt wird. Meines Erachtens 
sprechen wir in Fallen von Topoanasthesie nur sehr unprazis von 
einer Anasthesie, denn dieser Name dient fiir die Bezeichnung der 
fehlender Perzeption sensibler Eindriicke. Von einer wirklichen 
zerebralen Hemianasthesie kann z. B. nur in meinem soeben kurz 
angefiihrten Fall die Rede sein. Uebrigens deutet auf den asso- 
ziativen Charakter der zerebralen Sensibilitatsstorungen auch der 
Umstand, dass bei Anspornung der Aufmerksamkeit, eines asso- 
ziativen Faktors, Hautreize oft noch prompt, wenn auch mit den 
grossten Lokalisationsfehlern angegeben werden; es muss daher eine 
Zuleitung der Reize erfolgen, auch werden dieselben bewusst, jedoch 
falsch aufgefangen. Infolge der mangelhaften Assoziationstatigkeit 
ist es moglich, dass sensible Eindriicke ohne die willkiirliche 
Steigerung der Aufmerksamkeit gar nicht apperzipiert werden; mit 
anderen Worten: zur richtigen Auffassung sensorischer Eindriicke 
ist die koordinierte Tatigkeit gewisser assoziativer Bezirke, welche 
mit dem respektiven Sinnesfeld eine engere Verbindung haben 
mussen, erforderlich. 

Ziehen 1 ) hebt hervor, dass jede Empfindungserregung noch eine 
dieselbe iiberdauernde sogenaimteVorstellungserregung hervorrufen 
muss, und dass nur so das Sich-Erinnern und Vorstellen der 
Objekte moglich sei. Nach demselben Autor weisen zahlreiche 
klinische Erfahrungen darauf hin, dass diese Vorstellungserregungen 
nicht in demselben Gebiete statthaben wie die Empfindungs- 
erregungen, sondern in benachbarten Gebieten, daher existiere 
fiir jedes Sinnesgebiet ein benachbartes Vorstellungs- oder Er- 


') Th. Ziehen, Krankheiten des Gehirns. Handbueh der praktischen 
Medizin. 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


innerungsfeld. Ich ware also geneigt anzunehmen, dass der Gyrus 
supramarginalis ein solches Vorstellungsgebiet fiir die oberfldcfUiche 
und tiefe Sensibilitdt darstellt, dessen Lasion die falsche Vorstellung, 
die unrichtige Abschatzung sensibler Eindriicke bedingt. 

Eine solche unrichtige Arbeitsleistung des Gyrus supramar¬ 
ginalis als des der zerebralen Sensibilitat zugewiesenen Asso- 
ziationsgebietes oder Vorstellungsfeldes kann in zweifacher Weise 
erfolgen. Entweder ist die Zuleitung sensibler Eindriicke mangel- 
haft oder das Vorstellungsgebiet ist selbst angegriffen. Oppenheim 
weist in seinem Lehrbuche (s. S. 806, 5. Aufl.) in sehr zutreffender 
Weise darauf hin, dass die Stereoagnose, der Ausfall einer 
eigentlich komplizierten Assoziationsleistung, ebenfalls in 
doppelter Weise zustande kommt, entweder fehlt die tiefe Sen¬ 
sibilitat oder es mangelt die als Stereognose bezeichnete Vor- 
stellungstatigkeit; in letzterem Fall finden wir Stereoagnosie ohne 
Sensibilitatsstorungen. — Das anatomische Substrat meines 
Falles gibt fiir die erste Moglichkeit, defekte Zuleitung sensibler 
Eindriicke, keine Unterlage, denn die sensible Projektion weist 
keine Lasion auf (normale Schleife, normaler ventrolateraler 
Sehhiigelkern, keine grobere Storung in der thalamo-kortikalen 
Projektion). Hingegen scheint die Lasion resp. Zerstorung der 
retrozentralen Gegend, ohne eine klinisch-reine zerebrale Hemi- 
anasthesie hervorzurufen, zur Entstehung assoziativ-sensibler 
Storungen, wie Topoanasthesie und Stereoagnose, zu geniigen. 

Nach alldem wdren zweierlei zerebral-senstble Storungen zu unter- 
scheiden: ein reinsensorischern Ausfall, welcher in einer klinischen 
stabilen Andsthesie sich aussert, und assoziativ-sensible Defekte der 
zerebralen Sensibilitdt, uvfiir als Beispiel die Topoanasthesie und 
Stereoagnose ohne Sensibilitatsdefekte dienen. 

In meinem Falle handelt es sich nicht um die sensorische, 
sondern um die assoziativ-sensible Form der zerebralen Sensi¬ 
bilitatsstorungen, welche durch Lasion eines kortikalen Bezirkes, 
namlich des Gyrus supramarginalis, eventuell aber auch durch 
Zerstorung subkortikal-assoziativer Ziige entstehen kann. 

Der Gyrus supramarginalis als assoziativ-sensibles Zentrum, 
auch Gebiet fiir den Muskelsinn genannt, wird in dieser Eigenschaft 
von einer Anzahl der Forscher anerkannt; ich nannte bereits 
Redlich, v. Monakow, Oppenheim, Bruns, Mills u. A. Mein Fall 
spricht fiir diese Auffassung in entschiedenster Weise. Vor allem 
ist schon das anatomische Substrat zur Bewertung der Ausfalls- 
erscheinungen ausserst giinstig, denn es handelt sich hier um eine 
abgelaufene lokale Erweichung, welche weder Reiz- noch Fernsym- 
ptome, wie dies bei Hirntumoren geschieht, hervorzurufen geeignet 
ist, sodass man das erweichte Gebiet der Hemisphere fast als eine mit 
dem Messer experimentell entfernte Stelle betrachten kann; aber 
auch die Symptomatik meines Falles gewinnt eine ganz exzeptio- 
nelle Eindeutigkeit vermoge der Bilateralitat des Herdes. Denn 
wir sehen eine vollkommene Uebereinstimmung in den Ausfalls- 
erscheinungen rechts wie links: die Storungen des Muskelsinnes 


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dee Gyiftis supramarginalis. 


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sowie der Hautlokalisation sind beiderseits ganz gleich. Zwischen 
beiden Korperhalften gibt es nur eine einzigeDifferenz, und diese be- 
steht in der leichten Storung der Motilitat links (Parese und Hyper- 
tonie), welche ihrezwanglose Erklarung in der Ausbreitungdes rechts- 
seitigenHerdes bis zurZentralfurche und der Annagung dervorderen 
Zentralwindung findet. In meinem Falle war auch keine Storung 
der Augenmuskelbeweglichkeit und keine Sehstorang zu finden. 

Ich befinde mich also beziiglich der Funktion des Gyrus supra- 
marginalis mit der herrschenden Auffassung, welche diese Windung 
als Zentrum fiir den Muskelsinn und die Stereognose betrachtet, 
in (Jbereinstimmung. Ich mochte hierbei darauf hinweisen, dass 
die Mitbeschadigung der rechten hinteren Zentralwindung den 
Charakter der zerebralen Sensibilitatsstorungen auf der linken 
Korperhalfte gegen jene der rechten Seite nicht anderte und als 
Mehr-Erscheinung nur eine Hemiparese mit Hypertonie bewirkte. 
Auf diesen Umstand mochte ich deshalb aufmerksam machen, 
weil im Sinne der Lehre von der Lokalisation der Sensibilitat 
in die vordere Halfte der hinteren Zentralwindung auf der 
linken Korperhalfte ausser den as8oziativ-sensiblenStbrangen(Topo- 
anasthesie, Astereognose) auch noch der sensorischeAusfall im Sinne 
einer echten Hemianasthesie zu erwarten gewesen ware. Es fragt 
sich daher, ob bei kortikalen oder umschriebenen sukbortikalen 
Erweichungen eine solche Hemianasthesie entstehen kann, wie 
wir sie bei ausgedehnten Markzerstorangen kennen. 

Meine Beobachtung bezw. die aus derselben erhaltlichen 
Folgerungen stehen mit dem Fall Bdlints nicht im Einklang. Be- 
kanntlich verlegt dieser Autor die Funktion der Seitwartsbe- 
wegung der Bulbi nicht in den Gyrus angularis—dies istdie iibliche 
Auffassung —, sondern in den Gyrus supramarginalis, aus dem 
Grunde, weil die sonst symmetrische Erweichung seines Falles 
auf der linken Halfte Verschonung des Gyrus supramarginalis 
(Tendenz zur Deviation nach rechts) gegen die rechte Halfte aufwies, 
woseIb8t die Erweichung vom Gyrus angularis aus nach vorn auf 
den G. supramarginalis sich ausbreitete. Er stellt inAbrede, dass 
derMuskelsinn und die Stereognose ihren Sitz in der vorderen Halfte 
des unteren Scheitellappens hatten. Beziiglich der Frage der konju- 
gierten Deviation kann ich auf Grand meines Falles nichts beitra- 
gen, mochte daher nur hinsichtlich der Bedeutung des Scheitel¬ 
lappens als Zentrum des Muskelsinnes den Fall Bdlints einer kurzen 
Vergleichung mit meinem Fall unterziehen. Stelle ich die Photogra- 
phien derHirnoberflache meines Falles den Hemispharenbildern des 
Falles von Bdlini gegeniiber, so ist es auf den ersten Blick klar, dass 
die Erweichungsherde hier entschieden mehr occipitalwarts liegen 
als bei mir, also keineswegs identische Stellen einnehmen. Auf 
der rechten Hemisphare des Falles Bdlints mochte ich auch nur 
einen Teil des Gyrus supramarginalis als angegriffen bezeichnen; 
auf der linken Hemisphare bezieht sich die Lasion ausschliesslich 
auf den Gyrus angularis (soweit Parietalis II in Betracht kommt). 


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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung 


Bei einer solchen Topographie der Erweichung erwarte ich auch 
keine Storungen des Muskelsinnes im Falle Bdlints. 

Am Schluss meiner klinischen Erorterungen angelangt, mochte 
ich nur ganz kurz darauf hinweisen, dass die aphasischen Storungen 
in der Tiefenverbreitung des linken Herdes frontalwarts (Er¬ 
weichung derlnsel, partiefle Lasion des G. temporalis I) ihre zwang- 
lose Erklarung finden. Ob die Kongestion des linken Linsenkerns 
die Grundlage des todlichen Insultes war, mochte ich nicht mit 
Sicherheit entscheiden; jedoch rechtfertigt das Verhalten der 
rechtsseitigen Sehnenreflexe (anfangs Steigerung, 3 Tage vor dem 
Tode Verschwinden) die Annahme einer in die linke Hemisphare 
zu versetzenden Lasion. 

B. Anatomisch weist der geschilderte Fall einige bemerkens- 
werte Momente auf. 

Vor allem ware auf das rechtsseitige retrolentikulare Degene- 
rationsfeld zu verweisen, welches auswarts vom lateralen Sehhiigel- 
kem, dorsal vom W ernickeschen Felde genau jene Stelle einnimmt, 
welche v. Monakow der dem unteren Scheitellappen zugehorigen 
Projektionsfaserung zuweist. Oben wurde bereits erwahnt, dass 
nach diesem Autor ein ziemlich machtiger Faseranteil aus dem 
Gyrus supramarginalis weiter in das Strat. sagittale int. der dorsalen 
Etage (vordere Frontalebenen des Parietallappens), deren Haut- 
bestandteil er bildet, und in die retrolentikulare Partie der inneren 
Kapsel, wo er zwischen den abgeschniirten Fortsatzen des Linsen- 
kems sich einsenkt, von hier in die vordere Partie des Wernicke- 
schen Feldes gelangt, um zum grossen Teil in die ventralen Kern- 
gruppen (vent, a, b, c) einzudringen. Monakow halt dafiir, dass 
diese Bahn thalamo-kortikale Fasern zum Gyrus supramarginalis 
fiihrt. Trotz der iibereinstimmenden Topographie dieses Biindels 
mit dem meinigen weiche ich von der Schilderung v. Monakows 
' in einigen Punkten ab. So gelang es mir an meinen Markfarbungs- 
Praparaten vor allem nicht in den ventralen Sehhiigelkernen, 
sondern nur im posterolateralen Kern einen Faserausfall zu finden. 
Dann aber mochte ich darauf hinweisen, dass die Richtung der 
Entartung entschieden fiir eine kortiko-fugale, also gegen den Seh- 
hiigel zu gerichtete Degeneration des geschilderten Biindels spricht 
und entschieden nicht zugunsten einer kortikopetal verlaufenden 
Entartung, vvie dies v. Monakow annimmt. Auf Grund meiner 
Praparate muss ich also sagen, dass bei der Zerstorung der retro- 
zentralen Gegend der Hemisphare eine absteigende Degeneration 
zum posterolateralen Sehhiigelkern eintritt; ja der Verglcich der 
beiden Hemispharen lasst eine noch engere Bestimmung jener 
Stelle der Hirnkonvexitat zu, welche wir mit diesem Projektions- 
biindel in Zusammenhang bringen konnen. Es ist noch erinnerlich, 
dass auf der rechten Hirnhalfte ausser der partiellen Zerstorung 
des Gyrus supramarginalis noch die unteren */, der hinteren Zentral- 
windung erwcicht waren, wahrend links allein der Gyrus supramargi¬ 
nalis (mit einer partiellen Arrodierung der hinteren Zentral- 


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73 


des Gyrus supramarginaiis. 

« 

windung) zerstort war. Nun sahen wir, dass von der Hirnrinde 
aus zum Sehhiigel nur rechts eine absteigende Degeneration be- 
stand, wahrend links eine solche fehlt. Es diirfte hieraus die zwang- 
lose Folgerung gezogen werden, dass allein die Zentraiwindungen 
zum Sehhiigel Projektionsbiindel schicken; der Gyrus supramarginaiis 
unterhalt mit dem Sehhiigel keine unmittelbare Verbindung. Diese Fest- 
stellung steht mit der eingangs erwahnten Behauptung bezw. dem 
Befund Flechsigs imEinklang, dass namlich bei ausgedehntenHerden 
in der zweiten Scheitelwindung (Gyrus supramarginaiis und 
angularis) ohne Beteiligung der hinteren Zentralwindung auch nicht 
die leiseste Andeutung einer Degeneration in den Sehhiigelkernen 
bezw. ihren Stabkranzbiindeln zu finden ist. —• Bei diesem Punkt 
mochte ich noch hervorheben, dass ich in einem Fall von einseitiger 
Erweichung der beiden Zentraiwindungen sowie des anstossenden 
Gyrus supramarginaiis eine hochgradige Entartung speziell im 
lateralen Sehhugelkern (mit Weigertscher Farbung) sah; auch in 
einem zweiten Fall, wo es sich um die subkortikale Erweichung der 
Projektionsfaserung der Zentraiwindungen in der lateralen Ecke 
des Seitenventrikels handelte, bekam ich dasselbe Bild zu Gesicht. 

Ich schliesse daher, dass die Zerstorung des Gyrus supra¬ 
marginaiis zu keiner absteigenden, im Sehhiigel endenden sekun- 
daren Degeneration ftihrt; dass eine solche nur bei Erweichung der 
hinteren Zentralwindung entsteht und weniger dem ventralen als 
vielmehr dem postero-laberalen Thalamuskern zustrebt. Dem 
Gyrus supramarginaiis muss ich somit eine zum Sehhiigel fiihrende 
Projektion absprechen. 

Ein weiterer beachtenswerter Punkt ist der Umstand, dass die 
Erweichung der hinteren Zentralwindung zu einer absteigenden 
Degeneration in der Pyramidenbahn nicht fiihrt; solche entsteht 
nur bei der Zerstorung der vorderen Zentralwindung und moglicher- 
weise der Wurzelteile der Frontahvindungen. Ebenso ist es be- 
merkenswert, dass in meinem Falle auf die Lasion der hinteren 
Zentralwindung eine Atrophie der Schleifenbahn nicht erfolgte. 
Eine Degeneration war hier ja schon aus dem Grunde nicht zu er- 
warten, da die Schleife mit ihrer ganzen Masse im Sehhiigel endet 
und somit nur indrekt, auf dem Wege der thalamo-kortikalen Fasern 
zur Hirnrinde gelangt. Doch gibt es Falle, in denen die Hirnmantel- 
zerstorung in friiher Jugend erfolgte und als tertiare Degeneration, 
besser gesagt Atrophie eine recht bedeutende Volumsreduktion 
der Schleife entsteht. In meinem Falle betraf die Malazie eine 
ca. 44 jahrige Person und bestand im ganzen nur 3 x /2 Jahre, 1 mter 
Verhaltnisse, welche einer Schleifenatrophie nicht giinstig waren. 

ZumSchluss mochte ich noch derBalkendegeneration gedenken. 
Ich erwahnte oben, dass der Balken im Bereiehe der Erweichungs- 
herde eine recht betrachtliche Verschmalerung erlitt, welche auf 
die Rechnung jener fehlenden Balkenfasern zu setzen ist, welche die 
VerbindungderbeidenErweichungsherdebesorgten. Eslasst sichauf 
Grand der Degenerationsbilder annehmen, dass die Balkenfasern 


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Schaffer, Leber doppelaeitige Erweiclnmg etc. 


der Parietallappen ganz ventral im Balken zu liegen kommen, 
dann lateral den ausseren Winkel des Seitenventrikels unmittelbar 
oberhalb des Ependyras umkreisen und dann, von hieraus recht- 
oder schiefwinkl g abgehend, in das Parietalhirn ausstrahlen. Die 
im verschmalerten Balken noch vorhandenen Markfasem ent- 
sprechen den Zentralwindungen, welehe im Balken dorsal liegen. 
■Im Balken ist somit eine schichtenartige Lagerung der Fasern 
indem Sinne anzunehmen,dass alle denderMantelspalteamnachsten 
liegenden Hemispharenabschnitten (Zentralwindungen) ent- 
sprechenden Kominissuralfasern dorsal, die von der Mantelspalte 
abseits liegenden Bezirke (Parietalhirn) verkniipfenden Fasern 
ventral im Balken liegen. — Es sei hier nur kurz die Behauptung 
Kattwinkels 1 ) erwahnt, laut welcher selbst massenhafte Zerstorungen 
von Himwindungen zu keiner Degeneration im Balken fiihren; 
gibt es eine solche, so ware sie durch Lasionen an Ort und Stelle, 
im Balken, verursacht. Diese. Auffassung, welehe auf dem Pariser 
Kongresse 1900 vorgetragen wurde, provozierte seitens 0. Vogt 
eine entschiedene Zuriickweisung; ich meinerseits bemerke nur, 
dass diese Behauptung Kattwinkels alien anatomischen wie 
physiologischen Erfahrungen zuwiderlauft und speziell durch die 
Untersuchungen von M. Probst in der glanzendsten Weise ent- 
kraftet wird. 

Ich schliesse mit der Bemerkung, dass in meinem Falle, den 
postero-lateralen Sehhiigelkern ausgenommen, kein einziger Punkt 
der infrakortikalen Segmente eine Spur von Degeneration aufwies. 

Die Endergebnisse meiner Arbeit sind: 

1. Der Gyrus supramarginalisistderjenigeHemispharenbezirk, 
welcher fur den Muskelsinn, den Lokalisationssinn der Haut und 
die Stereognose dient. 

2. Der Gyrus supramarginalis entbehrt Projektionsverbin- 
dungen mit dem Sehhiigel im Sinne kortikofugaler Fasern; er 
stellt ein Erinnerungs- oder Vorstellungsfeld der tiefen wie ober- 
flaehlichen zerebralen Sensibilitat dar. 

3. Es diirfte angezeigt sein, zweierlei zerebral-sensible Sto- 
rungen zu unterscheiden: a) den reinsensorischen Ausfall als die 
stabile Anasthesie der Haut und b) die assoziativ-sensiblen 
Defekte der oberflachlichen wie tiefen Sensibilitat, welehe als 
Topoanasthesie und Stereoagnose bekannt sind. 


1 ) M. Katturinkel . L’^tat du corps calleux dans Jes grosses lesions du 
cervean. Comyit. rend, de la Sect. Neurolog. du XIII. Congress Internat. 
■do Medecine (Paris). 1900. P. 297. 


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XVI. internet ionaler medizinischer Kongress in Budapest etc. 75 


XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 
vom 29. August bis 4. September 1909. 

Psyohiatrlsche Sektion. 

Nach amtlichen Sitzungsprotokollen referiert von: 

Dozent Dr. Carl Hudovemig , Budapest. 

1. Sitzung , 30. August vormittaqs. 

Vorsitzende: Moravcsik , Crawer, Tschisch . 

Geschaftsfiihrender Praaid(»nt. Prof. Ernst Emil Moravcsik , Budapest. 
eroffnete die Verhandlungen der Sektion irit einer Ansprache. 

Als erstes Thema der wissenschaftlichen Verhandlungen wurden 
Ref era te erstattet liber 

1. Einheitliche Bezeichnung und Klassifikation der Geisteskrank- 
heiten. 1. G. Ballet und G. MaiUard -Paris griinden ihre Klassifikation der 
Geisteskrankheiten auf die Pathogeneae und pathologische Anatoinie, be- 
tonen jedoch vorher, dass der gegenwiirtige Stand unserer psychiatrischen 
Kenntnisse verschiedenartige Einteilungen zuliisst, und motivieren ihre 
Einteilung dan it, dass dieselbe eine Zusammenfassung der Psychosen ahn- 
licher Natur zuliisst und erst in letzter Reihe ausschliesslich die klinische 
Form als Einteilungsprinzip ins Auge fasst. Vortragende teilen die Geistes¬ 
krankheiten in folgende 3 Gruppen. erworbene. primiire und konstitutionelle 
Psvchosen. A. Die erworbenen Psychosen sind auf eine nachweissbare iiussere 
Ursache zuriickzufiihren und zerfallen in 2 Untergruppen: Organische und 
toxische Psychosen • J. zu den organischen Psychosen gehoren a) intellektuelle 
Storungen, welche auf umschriebene Encephalopathien zuriickfiihrbar sind 
(Aphasie, Agnosie), b) akute Psychosen als Folgen diffuser Encephalopathien 
(Coma, pathologische Schlafsucht), c) chronische Psychosen infolge aus- 
gebreiteter Encephalopathien (Paralyse, arteriosklerotische Deinenz). II. Zu 
den toxischen Psychosen gehoren die folgenden Untergruppen: a) infektiose 
Formen (Delirium ncutum, Fieberdelirien), b) Psyehosen als Folgen einer 
Autointoxikation entweder durch Hyperfunktion von Driisen (Basedow) 
oder durch ungeniigende Drib enfunktion (myxddematdse Idiotic, Bright - 
aches Deliriun ). c) Psychosen als Folgen einer chronischen exogenen Ver- 
giftung (Alkohol. Tabak) oder einer transitorischen Vergiftung (Alkohol- 
rausch, Opiumrauschh B. Die primnren Psyehosen zerfallen in 2 woitero 
Gruppen: I. Dementia praecox mit ihren verschiedenen Formen, II. primitive 
systematische Psychose (progressive systematische Psychose,die verschiedenen 
Formen des Verfolgungsdelirs, chronisches Delirium Magnans). C. Die 
konstitutionellen Psyehosen zerfallen ebenfalls in 2 Untergruppen: I. Psy¬ 
chosen infolge partieller psychischer Agenesie: a) Urteilsstorungen und patho- 
logischer Hochmut, b) Storungen der Kritik, c) Storungen der affektiven 
Sphaere (Cyklothymie, zirkulares Irresein, konstitutionell Aufgeregte und 
Deprimierte. d) Storungen der Emotivitiit, e) pathologische Suggestibilitat 
(Hysterie, Pithiatismus), f) Storungen der Instinkte und des Widens (Ge- 
sehlechtsperversionen, Kleptomanie, Mythomanen, Irnpulsionen etc.). II. Die 
zweite Hauptgrup]>o der konstitutionellen Psychosen wird gebildet durch 
die Psyehosen in folgen einer globalen psychischen Agenesie , wohin samtliche 
Formen der angeborenen Idiotic gehoren. 

2. Alp zweiter Referent bespricht P . Keraval , Paris, einige allgemeine 
Gesichtspunkte fur die Einteilung der Geisteskrankheiten und betont, dass 
der gegenwartige Stand der psychiatrischen Kenntnisse keine solche einheit¬ 
liche Einteilung zuliisst wie in anderen Naturwissensehaften, denn die 
Psychopathologie umfasst verschiedenartige Manifestutionen, welche noch 
nicht als Einteilungsprinzipien verwertbar sind. Aus diesem Grunde schlagt 


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76 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 

K. folgende Einteilung vor: l. Entwicldungshemmungen: Idiotie, Imbezillitat, 
Kretinismus, moralischer Schwachsinn. 2. Psychoneurosen: Neurasthenic, 
Hysterie, Epileptic. 3. Toxische Psychoscn: a) durch Gift© (Alkohol, Blei etc.) 

b) durch Infektion (Typhus, Rabies, Puerperalfieber, akutes Delirium), c) 
durch Autointoxikation. 4. Organische Psychosen: progr. Paralyse, senile 
Demenz. 5. FunktioneUe Psychosen: Manie, Melancholic, Dementia praecox, 
d61ire systematise, psychische Degeneration. 

3. Als dritter Korreferent bespricht das Thema Bresler , Lublinitz, 
Einheitliche Bezeichnung und Einteilung der Psychosen. Vortragender halt 
den atiologischen Gesichtspunkt fiir denjenigen, von welchem aus Ver- 
standigung iiber cine einheitliche Bezeichnung und Einteilung der Psychosen 
moglich ist. Schon jetzt besteht solche Einheitlichkeit da, wo die Ursachen 
feststehen oder als hochst wahrscheinlich erkannt sind. Daruin muss nach 
dem gleichen Ziel auch bei den ubrigen Psychosen gestrebt werden. Der 
atiologische Gesichtspunkt ist auch der praktisch wichtigste unter alien 
fiir die Klassifikation der Psychosen herangezogenen (Symptomatologie, 
pathologische Anatomie, Verlaufsart, Prognose). Es wird dies im einzelnen 
naher begriindet. Vortragender schlagt folgende Einteilung vor: I. endogene 
Psychosen: a) konstitutionelle Depression, b) Paranoia, c) Epilepsie, 
d)Hysterie, e)psychopathischeMinderwertigkeiten. 1 .Zwangstriebe, 2.Zwangs- 
vorstellungen, 3. moralisches Irresein, 4. andere endogene psychopathische 
Minderwertigkeiten. II. Toxische Psychosen: a) Infektionsdelirien, b) Amentia, 

c) alkoholische Geistessto^ungen, d) progressive Paralyse, e) Dementia 
praecox, f) Dementia senilis, g) thyreogene Geistesstorung, h) andere 
toxische Psychosen (auch solche rait Krampfen), pella^rose. III. Sekundare 
psychotische Zustande: a) bei Entziindungen des Gehirns und 6einer Haute, 
b) bei Arteriosklerose, c) bei Neubildungen, d) bei Verletzungen, e) andere 
sekundare psychotische Zustande. 

Gemeinsame Diskussion des Referates iiber die Klassifikation und 
Einteilung der Geisteskrankheiten. 

Van Detenter , Amsterdam, macht darauf aufmerksam, class die vor- 
getragene Klassifikationen der Psychosen wissenschaftlichen Anforderungen 
nicht entsprechen, da sie uns nicht in den Stand setzen, die vorhandenen 
Angaben zu vergleichen und statistisch zu verwerten. Er weist auf das in 
Holland eingefiihrte Zahlkartensystem hin, dank welchem die Inspektoren 
der Irrenanstalten die zu einem Vergloich notigen Angaben iiber die einzelnen 
Kranken erhalten. Da die Nomenklatur zu Verwirrungen Anlass geben 
kann, sind die Aerzte gehalten, die Stolle des Handbuches zu bezeichnen, 
wo das betreffende Krankheitsbild beschrieben wird; es ware aber eine inter¬ 
national© Regelung der Nomenklatur erwiinscht. 

Heboid , Wuhlgarten, wendet sich gegen die Bernerkung Bresler der 
den Epiieptikeranstalten jede Berechtigung abgesprochen hat, und hebt 
hervor, dass in diesen Anstalten nicht epileptische Anfalle, sondem Epilepsie- 
kranke behandelt werden. Eine Unterbringimg der Epilepsie in einem System 
der Psychosen halt er noch fiir verfriiht. 

Sommer , Giessen, findet, dass Bresler mit dem eigentlich chronolo- 
gischen Begriff der sekundaren Psychosen ,,andere sekundare psychische 
Zustande 44 zusammengebracht hat, die eigentlich alle Geistesstorungen 
umfassen. (Auch in den anderen Einteilungen findet er diese Gruppe.) Eine 
zweite Gruppe „toxische Psychosen 44 greife praktisch in die eben erwahnte 
ein. Vor allem sei aber der Begriff der Idiotie aufzulassen, da sie in eine 
organische, toxische und endogene, funktionelle Gruppe zerfallt. Er emp- 
fiehlt die Einsetzung einer Kommission zur Beratimg iiber den klassifika- 
torisch noch nicht geldfirten Teil der Psychosen. 

Salgo , Budapest, hebt die Unmoglichkeit einer Einteilung der Psy¬ 
chosen hervor, da es sich um Krankheitszustande handelt, deren Wesen 
uns noch grosstenteils unbekannt ist; so miissten nach Breslers Erklarung 
alle Psychosen sekundarer Natur sein. Dann scheint ihm die Einreihung 
der senilen Geistesstorungen in die toxische Gruppe nicht gerechtfertigt- 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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Friedldnder, Hohe Mark i. T., schliesst sich dem Antrage Det'enters 
auf Einsetzung einer intemationalen Kommission an, da eine einheitliche 
Nomenklatur schon im Interesse der Literaturbenutzung notig sei. 

Cramer , Gottingen, hebt als Gewinn der Referate die scharfe Ab- 
grenzung der Gruppen der toxischen und organischen Psychosen heraua. 
Minderwertigkeiten mochte er nur dann zu dem Grenzzustand der Geistes- 
krankheiten rechnen. wenn psychische Symptome da sind. 

Bresler (Sch luss wort) weist auf Krdpelin und Vilcz hin, welche bei 
Dementia senilis die Neuritis erwahnten. ,,Toxische Psychosen* 4 und sekun- 
dare psychische Zustande habe er absichtlich nicht ais oxogen zusammen- 
gefasst, da die in den Driisen entstandenen Gifte fiir das Nervensysterr auch 
endogen sein konnten. Auf dem Programm des geplanten intemtionslen 
Instituts zur Erforschung der Ursachen der Geisteskrankheiten stehe die 
atiologische Klassifikation der Geisteskranklieiten. — 

MaiUard (Schlusswort), betont, dass er zwischen die zwei Gruppen 
,,endogene und exogenePsychosen**, die die meistenRedner anerkannt haben, 
die dritte Gruppe als ein. noch in der Zugehorigkeit der einzelnen Krank- 
heitsbilder unentscliiedene eingeschoben babe. Die toxischen und organischen 
Psychosen habe er geschieden, um nicht ganz different© Krankheitsbilder 
zusammenzubringen. Wenn er. wie es in der Diskussion verlangt wurde, 
die Idiotie zu den organischen Krankheiten rechnen wurde, so miisste er 
schliesslich alle Psychosen als organisch bedingte auffassen, was ihm allerdings 
wahrscheinlich ist. Die kongenitale Idiotie hat er als specielles Krankheits- 
bild abgetremit, weil bei ilir andere Bedingungen vorliegen. 

Keraval (Schlusswort^ weist darauf hin, dass die von ihm gegebene 
Einteilung das Resultat eines 12 jahrigen Studiums sei. Die Einteilung 
in organische und funktionelle Psychosen halt er praktisch fiir rotig, wenn 
sie auch nur pro visor isch is;,. 

Nach Schluss der Diskussion stellen van Deventer , Amsterdam, und 
Friedldnder , Hohe Mark, folgenden Antrag: „Es moge eine internationale 
Kommission gewahlt warden, die zunachst aus praktischen Griinden eine 
einheitliche Nomenklatur und eine Klassifikation der Psychosen vorbereiten 
soll.“ Der Antrag wird einstimmig angenomnien. 

Wagner v. Jauregq, Wien, bespricht seine Versuche iiber Behandlung 
der progressiven Paralyse mit Tuberkulininjektionen. Gegeniiber der allge- 
meinen Ansicht, dass die pr. P. unheilbar ist, sind des bfteren Remissionen 
von auffallend langer Dauer beobachtot worden, so dass unwillkiirlich die 
Frage auftauchte, ob diese spontan auftrotenden giinstigen Wandlungen 
des Krankheitsprozesses nicht auch dureh irgendwelche arztliche Ein- 
griffe hervorgerufen werden konnen. Trotz des angenommenen atiologi- 
sehen Zusammenhanges wird eine antiluetische Behandlung der pr. P. 
von vielen Autoren ( Krafft-Ebing, Obersteiner 9 Ziehen , Krdpelin , Raymond) 
entsehieden perhorresziert; nach seinen eigenen Erfahrungen schliesst sich 
aber an die antiluetische Behandlung docli oft eine Besserung an, welche wegen 
ilirer Haufigkeit nicht als ein Spiel des Zufalles bezeichnet werden kann. 
Namentlich gi 11 dies von den dementenForinen und von dem beginnenden Stadi¬ 
um, wenn gleichzeitig Hg und Jod angewendet werden: diese Kur muss in ge- 
wissen Inter val Ion wiederho It werden; diese Kiu* hat Vortragender mit kleinen 
(iaben von Schilddrusenpriiparaton unterstiitzt. 1 )och hatVortragender mit der 
antiluetischen Behandlung nio dauernde und zufriedenstellende Besserungen 
erzielt, hingegen findet man diesbeziigliche Angaben, dass die angeblich ge- 
heilten Falle von pr. P. nach fieberhaften, infektibsen, eitrigen Prozessen 
geheilt wurden. Diese Erfahrung hat Sponholz mit Vaccination. L . Meyer 
mit A uthenriethsclu'r ttalbe therapeutisch zu verwerten versucht. Vor- 
tv a gender iiat zu diesem Behufe schon 1891 das Tuberkulin angewendet. 
Fi ber das giinstige Resultat haben Vilcz und Dohrschansky berichtet. 
nachdem sie liingere und weitergehendere Remissionenbeobachtet haben, und 
auch war die Lebensdauer der so behandelten Paraly tiker eine liingere. Spiitere 
Versuche wurden an ganz beginnenden Fallen vorgenommen. Von der 
anfanglichen Dosis (— 0,01 bis 0,1) wurde spater bis auf 0,5 Tuberkulin ge- 
stiegen. wobei die Resultate durchnus zufriedenstellende waren; die letztere 


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XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 


Dosis wurde 7—12 mal appliziert, jede Injektion in ca. zweitagigen Inter- 
vallen. Die Steigerung der Dosis war vora Grade der fieberhaften Reaktion 
abhangig, Temperaturen iiber 39 0 wurden tunlichst vermieden. Mitunter 
wurde die Tuberkuiinkur mit der antiluetischen in der Weise koinbiniert, 
dass die letztere derTukerkulinkur vorausging. Wahrend der Kur konnte eine 
Steigerung des Korpergewichts und des korperlichen Wohlbefindens be- 
merkt werden. Spatere Versuche miissen klarlegen, ob dies© Reihenfolge 
die richtige ist, und ob die Tuberkulindosis nieht erhoht werden muss. 
Die beobachteten Remissionen waren sehr weitgehende, und betrugen 
bis zu 8 Jahren. Im Falle einer Verschlimmerung wurde die Kur mit gutem 
Resultate wiederholt. Es konnten noch Staphylokokken- und Strepto- 
kokkentoxine versucht werden; Vortragender hat das Tuberkulin bloss 
wegen der leichten Zuganglichkeit gewahlt und weil iiber dasselbe bereits 
Erfahrungen vorlagen. Schliesslieh erwahnt Vortragender noch die Versuche 
Fischers , Prag, mit Nuklein und betont die Wichtigkeit der Reinigung des 
Darmkanales, nachdem es bekannt ist, dass die paralytisehen Anfaile durch 
intestinal© Autointoxikation verursacht werden. Vortragender hofft, dass 
seine Methode vielleicht geeignet sein wird. die pr. P. mit mehr Aussicht 
therapeutisch zu beeinflussen. 


Diskussion. 

J.Donath , Budapest, verweist auf seinen in der neurologischen Sektion 
dieses Kongresses gehaltenen (und dort referierten) Vortrag „uber Be- 
handlung der progressiven Paralyse mit Nukleinsaure“. 

Friedldnder , Hohe Mark i. T., erinnert an seine 1897 in Dresden 
berichteten Versuche mit abgetoteten Kulturen von Bacter. coli und typhi. 
Er hat mit der Einwirkung des Fiebers auf Psychosen iiberraschende Er- 
folge erzielt. 

Lechner , Kolozsv&r, glaubt nicht an die Moglichkeit einer Heilung 
der progressiven Paralyse. Es ist wahrscheinlich, dass die sogenannten 
geheilten Paralysen keine waren, und weist auf seine noch nicht beendeten 
Versuche hin, die sich auf Behandlung mit Serum von Eseln und Pferden 
beziehen, die mit Blutserum von Paralytikem vorbehandelt wurden. Es 
stellten sich nach dieser Behandlung 4 bis 5 Jahre dauernde Remissionen ein. 

Snell , Liineburg, glaubt ebenfalls nicht an die Moglichkeit einer 
Heilung der progressiven Paralyse. Es ist wahrscheinlich, dass die sog. 
geheilten Paralysen keine waren und auf Verwechslung mit Arteriosklerose, 
alkoholistischem Irresein und Dementia praecox beruhen. Er erinnert aber 
an die Versuche, langdauemde Remissionen durch Erzeugung von Eite- 
rungen hervorzurufen, was Ludwig Meyer durch Einreibung mit Tartarus 
stibiatus-Salbe gelang. Aber diese grassliche Narben erzeugende Behandlung 
wurde wieder verlassen, undRedner hofft, dass es gelingen wird, auf erfolg- 
reichere Weise Remissionen zu erzielen. 

Wagner v.Jauregg (Schlusswort) betont, dass er seine eigenen Versuche 
auf die Ludwig Meyers zuriickgefiihrt habe, und halt eine weitere Fortsetzung 
der Meyer&chen Versuche fiir iiberaus wertvoll. 

Salgo , Budapest, Die Paranoia. Trotz der unleugbaren Fortschritte 
der Psychitarie und auch trotz der vorlaufig noch iiberschatzten neuesten 
Untersuchungsmethoden, namentlichder sogenannten experimentell-psycho- 
logischen Untersuchvuigsmethoden, haftet die Diagnose der Paranoia gerade 
so wie ehedem im Wesen an den Krankheitssymptomen. Es ist ja zu- 
zugeben, dass mancher Symptomenkomplex, der friiher der Paranoia zu- 
gezahlt wurde, mit Recht eine andere diagnostische Bedeutung erfahren 
mus8te, aber auch diese diagnostischen Rektifizierimgen gingen von der zu- 
treffenden Bewertung der Krankheitssymptome aus. Eine vorurteilsloee Beob- 
achtung der einschlagigcn Krankheitsfalle wird unmoglich, wenn wirdieaus- 
schlaggebende Bedeutung der Halluzinationen im Bild der Paranoia ver- 
kennen. Und es wird sich gewiss kein Widerspruch erheben, wenn wir sagen, 
dass ohne nachweisbare Halluzination die Diagnose ,,Paranoia“ nicht gestellt 
werden kann. Neben der Sinnestauschung steht der Bewusstseinszustand 
der Paranoiker als gleichwichtiges Symptom, der, soweit wir darunter die 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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unbehinderte Perzeption, die Gesamtheit der Erinnerungen und die liicken- 
lose formale Assoziation verstehen, dem Normalen am nachsten steht. — 
Als drittes Kardinalsymptom der Paranoia darf die systematische Ver- 
kniipfung der Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen zu einem logisch 
zusammenhangenen Komplex gelten. Ich stimme vollstandig mit Krdpelin 
darin iiberein, dass zur sicheren Feststellung der Diagnose ,,Paranoia“ die 
typische Verlaufsweise unerlasslich ist. Der Verlauf der Paranoia ist immer 
und in alien Fallen chronisch. Die Entwickking fallt in die 20er Jahre und ist 
eine ganz allmahliche. Das vollentwickelte Krankheitsbild besteht unver- 
andert Jahrzehnte hindurch, schliesst unter gewissen Umstanden eine, wenn 
auch minderwertige, so doch geordnete Tatigkeit nicht aus und gibt beziiglich 
der Heilung eine absolute ungiinstige Prognose. Die Ursachen, die zur Ent- 
wicklung der Paranoia fiihren, sind vorderhand nicht vollstandig klar. Die 
hereditare Belastung spielt wohl unzweifelhaft eine Rolle, doch nicht von 
der ausschlaggebenden Bedeutung, wie dies gern angenommen wird. Viel 
wichtiger scheint ihm die individuelle Veranlagung ohne hereditare Dis¬ 
position zu sein, eine Veranlagung, die sich als „psychopathische Person- 
lichkeit“ im Sinne Bimbaums aussert und in abnormen Charaktereigen- 
schaften zutage tritt. (Autoreferat.) 

DisJcussion. 

Snell, Liineburg, mochte nur die Falle als Paranoia bezeichnet sehen, 
bei denen kein erheblicher Verfall der geistigen Krafte eintritt. Die zur 
Demenz fiihrenden Falle sollten der paranoiden Form der Dementia praecox 
zugerechnet werden. 

Anton . Halle, betont, dass trotz der Untersuchungen Westphals iiber 
die nicht immer sekundare Paranoia doch der klinische und pathologische 
Begriff der sekundaren Psychosen aufrecht zu erhalten sei. Die Symptome 
entstehen nicht nur durch Erkrankung und Ausfalien von Gehirnteilen, 
sondern auch durch veranderte atypische Funktion der gesund gebliebenen 
Teile. Oft ergibt die Vorgeschichte der Paranoia ein langes Prodromal - 
stadium. 

Van Deventer, Amsterdam, halt die Diagnose und Prognose der 
Paranoia auoh in den Fallen von Simulation und Dissimulation nioht fur 
schwierig. Das Hauptmerkmal sei krankhafter Eigensinn, das Hegen vou 
Gedanken, die mit den allgemein gangbaren Ansichten in Widerspruoh 
stehen. Auch vor ihrer nachsten Umgebung wissen solche Kranke ihre Ge- 
danken zu verheimlichen. Das Auftreten von Halluzinationen halt er fur 
prognostisch nach seinen Erfahrungen nicht fiir sehr ungiinstig; manche 
gewohnen sich daran, von ihren Halluzinationen abzusehen. 

Salgo (Schlusswort) erwidert Herrn Anton , dass er die Bezeichnung 
primar und sekundar als nicht entsprechend abgelehnt habe und anstatt 
sekundar die Bezeichnung Terminalstadium empfehlen wiirde. 

Vortrag von Prof. Catsaras, Athen, liber die Rolle des toxischen und 
infektidsen Elementes in der Genese der geistigen Krankheiten, an welchen 
Prof. Anton, Halle, einige Bemerkungen iiber die nervosen und psychischen 
Storungen im Puerperium ankniipft. 

3. Sitzung, 31. August, vormittags. 

Vorsitzende: Wagner v. Jauregg, Roubinovitch. 

Auf der Tagesordnung stehen Referate und Vortrage iiber Arterio- 
sklerose und nervdse und psychische StSrungen. 

C. Cramer, Gottingen, Die nervdsen und psychischen Stdrungen bei 
Arteriosklerose. 

Den ausgesproohen psychischen Storungen bei Arteriosklerose gehen 
meist nervose Stdrungen und solche, welche auf eine Nervenerkrankung 
hinweisen, voraus. Sie werden nicht selten ubersehen. 

Die nervosen Erscheinungen bestehen in dem Gros der Falle haupt- 
sachlich in der Trias: Kopfschmerz, Schwindel und Gedachtnisschwache. 

Dazu kommen die Symptome, welche leicht angedeutet auf eine 
Nervenerkrankung hinweisen: leichte, fliichtige Paresen, zeitweise auftreten- 


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80 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 

des Mitflattem der Geei chtsmuskulatiu*, Verlangsamung oder Erschwerung 
der Sprache, trage Reaktion und Different der Pupillen, Parasthesien in 
den Extremitaten und vieles andere. 

Die psychischen Storungen sind meist depressiver Art, doch kommen 
auch gelegentlich heitere Erregungszustande und paranoide Symptomen- 
komplexe vor. 

Die Prognose ist um so giinstiger, je friiher die Behandlung beginnt. 
Auch bei psychischen Storungen* kommen weitgehende Besserungen, ja 
ein Zuriicktreten aller Erscheinungen vor, wenn nur entsprechend golebt 
wird. 

Auch kann das Zustandsbild voriibergehend Schwankungen zeigen. 

In schweren Fallen werden die klinischen Symptome durch die Art 
und Lokalisation des Gewebsprozesses bestimmt. Ungiinstig ist die Prognose 
meist dann, wenn raehrfache apoplektoide Zufalle die Krankheit kom- 
plizieren oder wenn ein dissolutes Leben (Exzesse in baccho et venere, nebet 
Vielesserei) weiter fortgesetzt wird. (Autoreferat.) 

v . Tschisch , Jurjew-Dorpat: Die im Verlaufe der Arteriosklerose 
auftretenden nervosen und psychischen Erscheinungen. Auf dem Boden der 
Arteriosklerose entwickelt sich — am haufigsten im Alter von 50—55 Jahren 
— die „Neurasthenia arteriosclerotica‘\ Diese Neurasthenie ist durch 
folgende Symptome charakterisiert: Am haufigsten werden die Kranken 
durch Herzsymptome gequalt, diese Zustnnde werden von Angstgefiihlen 
begleitot und rufen eine depriroierte Stimmung hervor. Fast immer klagen 
die Kranken iiber schlechten Schlaf. Die Kranken klagen iiber ein Gefiihl 
der Schwere und Dumpfheit im Kopfe, das sich bei jegiicher Beschaftigung 
und abends verstarkt. Den Kranken ist jede Beschaftigung zu schwer, und 
sie ermiiden leicht, ihre Arbeitsfahigkeit sinkt. In der psychischen Sphare 
werden beobachtet: Apathie, Verstimmung und erhohte Reizbarkeit. Wenn 
es nioht gelingt, die Entwicklung der arteriosklerotischen Neurasthenie auf- 
zuhalten, so geht sie langsam und allmalilich in arteriosklerotische Demenz 
iiber. Das Gedachtnis und besonders die Fahigkeit der willkiirlichen Er- 
innerung nehmen ab, alle psychischen Prozesse gehen langsamer und lang- 
samer vor sich, es entwickelt sich psychische Stumpfheit, die Urteile des 
Kranken werden elementar und schabloncnhaft. die Phantasie schwindet 
volls tandig. Die Kranken selbst empfinden ihren Zustand, sie entziehen 
sich jegiicher Beschaftigung; ihr Wille wird schwacher. Vorgeschrittene 
Falle von arteriosklerotischer Demenz kommen selten zur Beobachtung, 
da diese Krankheit nur selir selten sich entwickelt und die Kranken gewohn- 
lich in irgend einer anderen Krankheit zugrunde gehen, z. B. Krankheiten 
des Herzens, der Nieren usw. In seltenen Fallon geht die arterioklerotische 
Neurasthenie nicht unmittelbar in arteriosklerotische Demenz iiber: sie 
werden durch melaneholische oder manische Zustande miteinander ver- 
bunden, letztere sind zufallige Episoden im gesamten Krankheitsverlauf. 

(Autoreferat.) 

Oldh , Budapest, Die im Verlaufe der Arteriosklerose auftretenden 
nervdsen und psychischen Stdrungen. I. Aus der physikalisch konstatier- 
baren Arteriosklerose folgt nicht die Wahrscheuilichkeit der Erkrankung 
der feineren Hirnarterien. II. Auch die Sklerose der Hirnarterien geht nicht 
immer mit den oben i^rwalmten Symptomen Hand in Hand, wie iiberhaupt 
die gewohnliche Arteriosklerose des vorgeriickten Alters zu der ge- 
schilderten spezilischen i^rkrankung nicht zu disponieren scheint. III. Es 
gibt eine nosologisch noch nicht ins Heine gebrachte Involutionspsychose, 
welche mit Arteriosklerose grdsseren oder geringeren Grades der feineren 
(iehirnarterien einlierueht, ohne von derselben bedingt zu sein, und 
Anspruch auf eine klinische Sonderstellung liat. IV. Die Benennung 
,.arteriosklerotische I’sychose** ist fur diese Form koine gliicklich gewahlte, 
erstens weil diese Ps\cliose bei Arteriosklerotikern im gew'dluilichen Sinne 
liur selten vorkommt, des weiteren, weil dieselben anatomischen Ver- 
ihiderungen auch bei anderen Psychosen zu finden sind und schliesslich, 
weil eine anatomische Beneimung den iibrigen, nicht anatomischen Be- 


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vom 29. August bis 4. Septemlier 1909. 


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zeichnungen nicht gut einzureihen ist, di© Einheitlichkeit stort und der 
klinisch-psychiatrischen Auffassung nicht entspricht. 

(Autoreferat.) 


Diskussion. 


Van Deventer , Amsterdam, hS.lt auch den Namen Psychosis arterio- 
sclerotica nicht fur gut und zu Missverstandnissen Anlass gebend. Es konnen 
im Gehirn arteriosklerotische Veranderungen da sein, ohne dass psycliische 
Abweichungen vorkommen. Das von Oldh beschriebene Bild entspricht 
von den nosologisch noch nicht ins Heine gebrachten Involutionspsychosen 
am ehesten der sogen. arteriosklerotischen Psychos©. Dagegen entwickeln 
sich die von v. Tschisch beschriebenen Krankheitsbilder nach seinen Er- 
fahrungen auf neurasthenischern Boden. Die Dementia senilis bietet oft ein 
klinisches Bild, das dem der Psychosis arteriosclerotica ganz gleich ist. 

Weygandt, Hamburg, weist darauf hin, dews nach seiner Erfahrung 
einige F&lle von Pseudo tumor cerebri durch Arteriosklerose zu erklaren 
bind. 

Cramer (Schlusswort) betont, dass in den Keferaten nicht von arterio¬ 
sklerotischen Psychosen gesprochen worden ist, sondern nur von psychischen 
Storungen bei Arteriosklerose. Die Schadlichkeit, die die Arteriosklerose 
besitzt, wirkt so wie andere Schadlichkeiten auf das Gehirn. Kompliziert 
wird die Nebenwirkung noch durch Herdsymptome. Kemissionen kommen 
vor, doch niemals vollstandige peilung. Er bespricht noch die prognostische 
Bedeutung der Frage. 

Friedldnder , Hohe Mark b. Frankfurt a. M.: Hysterie und modeme 
Psychoanalyse. Referent gibt einen gedrangten Abriss der sogenannten 
Freud&chen Lehre. Dieselbe hat ihre Grundlage in den gemeinschaftlich mit 
Breuer im Jahre 1895 veroffentlichten Studien iiber Hysteric. Die Wege, 
die beide Autoren fanden, ihre neuartige psychologische Betrachtungs weise, 
die Aufstellung der Begriffe „emgeklemmter Affekt, Abreaktion, kathartische 
Methode“ sind als wissenschaftlich in hohein Masse anzuerkeimen, und es 
sollte niemand leugnen, dass dies© erste Arbeit sehr befruchtend gewirkt 
hat. Von ihren theoretischen Ansichten ausgehend, entwickeiten die beiden 
Verfasser ihre besonderen Ideen beziiglich dor einzuschlagenden Behandlung. 
Dieselbe musste — kurz gesagt — ©ine psychologische sein, in der Hypnose 
ware der eingekleinnit© Affekt zu loscm, das psycliische Trauma, welches zur 
hysterischen Erkrankung gefuhrt hat und in dab Unterbewusstsein gesunken 
war, musste wieder geweekt werden. 

Das, was die beiden Autoren in ihrem Buche als psychisches Trauma 
bezeichneten, stellte sich aber in den spateren Arbeiten als die alles, d. h. 
alle Neurosen beherrschende Sexualitat dar. Freuds Erfahrungen gipfeln 
in der Erkenntnis: „Keine Neurose ohne gestortes Geschlechtsleben. 44 Aus 
diesen theoretischen Ueberlegungen entsprang die Therapie. Freud und seine 
Nachfolger dringen mit ihren Analysen in das Geschlechtsleben oder in die 
Vorstellungen von demselben ein, es gelangte alles, aber auch alles, Pervert i- 
tiiten inbegriffeiu zur ,,Analyse“. 

Referent gibt eine Uebersiclit iiber die Anhanger und Gegner Freuds 
und zeigt beziiglich der ersteren, auf welche geradezu gefahrlichen Abwege 
sich manche von ihnen begeben, unbekiimmert uir jede Kritik, un- 
bekiimmert um den Schaden, den sie den Kranken irr besonderen und 
unserer Wissenschaft in allgemeinen zufiigen konnen. 

Referent lehnt nach objektivster Wiirdigung und nachdem er jahrelang 
sorgfaltig nachgepriift hat, die Anwendung jener ^psychologischen* 4 Therapie 
ab, die in oft kritikloser Weise bei jeder Neurose nach sexueller Aetiologie 
forschen imd — besonders weibliche Kranke — der Tortur einer zuweilen 
monatelangen psychoanalytischen— also irr Sinne dieserAutoren sexuellen — 
Kur unterwerfen will. 

Dass jede Hysteiie heilbar sei, behaupten wohl auch die Sexual- 
Analytiker nicht. Referent aber behauptet, dass er beispielsweise einen 
Fall von Hysterie zur Heilung brachte, der viele Jahre behandeXt f dann fur 
unheilhar gehalten und ohne sexueUe A nalyse soweit gebracht wurde, dass dieser, 

Monatwchrift fttr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 1. 6 


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XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 


wenn er der einzige ware, geniigte, urn gegen jene Therapie zu zeugen. Dass 
er der einzige nicht ist, davon konnten sich besonders die jiingeren Jiinger 
Freuds liber zeugen. wenn sie sich der Mlihe unterziehen woilen, auch Anders- 
denkende — zu lesen. 

Referent fasst sein Referat in folgende Satze zusammen: 

1. Eine kausale, auf alle Falle von Hysteric anwendbare Therapie 
besitzen wir nicht. 

2. Die kathartische (Abreaktions-)Methode von Breuer-Freud ist 
theoretisch fiir die Psychologie der Hysterie sehr fruchtbar gewesen; prak- 
tisch hat sie fiir gewisse traumatische Falle Geltung und Wert. 

3. Die psychoanalytische Methode ist sicherlich nicht dasMittel, um 
Hysterien giinstig zu beeinflussen. Das detaillierte Eingehen auf sexuelle 
Erlebnisse und Perversitaten sollte prinzipiell vermieden werden. 

4. Die psychische Behandlung, wie sie jeder erfalirene Psychotherapeut 

anwendet, erreicht, ohne schaden zu konnen, das gleiche wie die sexuelle 
Psychoanalyse; unterstiitzt kann oder muss sie werden durch die erprobten 
allgemeinen therapeutischen Massnahmen. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Cramer , Sommer , Morion . Petnel u. A. Schliesslich wird ein Antrag 
Weygandls angenommen, die Frage der Psychoanalyse auf die Tagesordnung 
des Kongresses im Jaher 1910 zu setzen. 

4. Sitzung, 31. August , vormittags. 

Vorsitzender: Greidenherg. 

M. Hegyi, M. Sziget : Dementia pr&SCOX. Gelegentlich eineeVortrages, 
den Vortragender auf dem Kongress der Irrenarzte im Jahre 1906 in Buda¬ 
pest hielt, habe er, gestiitzt auf statistische Daten, hervorgehoben, dass 
von 1150 Geisteskranken, welche in der Klinik zu Klausenburg (Vorstand 
Lechner) in der Zeit von 1902 bis 1906, also innerhalb 4 Jahren, behandeit 
wurden, 105 Kranke an der durch Krdpelin erkannten und in das System ein- 
gefiigten Dementia praecox litten. Dreiviertel dieser Kranken zeigten in 
fast gleichmassiger Verteilung das pragnante Bild der Dementia praecox 
hebephrenica, katatonica und paranoides. Dagegen liessen sich 16,4 pCt. der 
Gesamterkrankungen in keine der erwahnten Formen einfiigen, weil der 
hebephrenische, katatonische und paranoide Zug bei diesen entweder ganz- 
lich fehlte oder bloss eine derart geringe und untergeordnete Rolle im Ver- 
laufe des Krankheitsprozesses spielte, dass diese Falle in eine andere Klasse 
eingereiht werden mussten. Diesen Fallen war neben den gemeinsamen 
Symptomen der Dementia praecox, namlich dem Auftreten im jugendlichen 
Alter unter rasch eintretender Geistesschwache als dauerndes Symptom 
der stuporose Charakter eigen, und diese Grupe wurde von ihm auf Grund 
der gemachten Wahrnehmungen als Dementia praecox stuporosa bezeichnet. 
Seither hat Vortragender in der Szigeier Irrenanstalt 61 Falle von 
Dementia praecox festgestellt und behandeit, bei deren 30 pCt. vollige Un- 
tatigkeit,Teilnahmslosigkei t,Unmut ,Hernmung der willklirlichen Bewegungen 
und des instinktiven Lebens, kurz ein vollig stuporoser Zustand hervortrat, so 
dass er bei diesen keine andere Diagnose als Dementia praecox stuporosa fest- 
stellen konnte. Obwohl in der Krapelinachen Klassifizienmg die Dementia 

E racox stuporosa nicht vorhanden ist, muss Vortragender deren Existenz- 
erechtigung auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen dennoch betonen, 
und er halt fiir gerechtfertigt, den bisherigen drei Formen diese als vierte 
anzuschliessen. Seine Annalnne stiitzt sich auf folgende Momente: 

1. Bei der Dementia praecox hebephrenica krankhafte Veranderung 
des Gemutszustandes und die daraus hervorgehenden impulsiven Re- 
aktionen. 

2. Bei der Dementia praecox katatonica das mit der Stoning des all¬ 
gemeinen Befindens zusammenhangende irregulare Auftreten des Muskel- 
tonus. 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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3. Bei der Denentia praecox paranoides Halluzinationen, falsehe 
Impressionen und andere krankhafte Wahrnehmungen. 

4. Bei der Dementia pracox stuporosa tritt Stumpfsinn gegeniiber 

den Sinnesreizungen und der damit verbundene Reaktionsrr angel in den 
Vordergrund. (Autoreferat.) 

Epxtein . Nagyszeben „ Be it rage zur Rassenpsychiatrie." Das Kranken- 
materiai der Staats-Heilanstalt fiir Geisteskranke in Nagyszeben eignet sich 
vorziiglich zu vergleichenden rassen-psychiatrischen Studien, da es sich zu 
mehr als zwei Drittel aus drei ziemlich rein erhaltenen Rassen zusammensetzt. 
Es sind dies die in den siebenbiirgischen Teilen Ungarns wohnhaften Sz6kler 
(magyarische Basse), Sachsen (germanische Basse) imd Ruraanen (wahr- 
scheinlich siidslawische Basse mit romanischem Einschlag). Diese drei Volks- 
gruppen imterscheiden sich voneinander ebenso in ihrer ausseren Erscheinung 
wie in ihren geistigen Anlagen, Charaktereigenschaften, Sitten, Gebrauchen 
und ihrem Kulturgrade. Es drangte sich daher von selbst die Frage auf, 
ob diese verschiedenen Rasseneigentiimlichkeiten sich nicht irgend wie auch 
in der Haufigkeit, der Art, dem Verlauf und anderen Beziehungen der gei¬ 
stigen Erkrankungen geltend machen. Vortragender roachte nun diese Frage 
zum Gegenstand von Untersuchungen, deren vorldufiges Ergebnis sich 
folgenderroassen darstellt. 

Das grosste Kontingent zu dero Krankenmaterial liefern die Rumanen 
(35,42 pCt. der Gesamtkranken und 51,37 pCt. der Untersuchten), welchen 
die Sz6kler (16,88 pCt. reap. 24,47 pCt.) und die Sachsen (16,67 pCt. resp. 
24,16 pCt.) folgen. Auf den Bevolkerungsquotienten bezogen, standen die 
Sachsen abei weit voran, wahrend die Sz^kler in zweiter und die Rumanen 
in dritter Reihe komrren. Alter und Stand weisen nichts Besonderes auf. 
Der Beschaftigung nach rekrutieren sich die Rumanen hauptsachlich aus 
der Klasse der Ackerbauer und Tagelohner; bei den Sz&dern finden wir 
neben diesen auch Gewerbetreibende in grosserer Zahl, und unter den Sachsen 
sind auch die intelJektuellen Berufe und der Handelsstand starker vertreten. 
Psychiatrisch bemerkenswerte Einzelheiten sind den Erblichkeitsverhalt- 
nissen zu entnehmen. Beriicksiehtigt roan, wie spaa lich im allgen einen 
die hierauf beziiglichen Angaben zu fliessen pflegen, so fallt die durch 
Geistes- und Nervenkrankheiten der Aszendenz bedingte stark© und oft 
konvergierende erbliche Belastung der Saohsen auf. Allerdings ist der Pro- 
zentsatz an erblicher Belastung bei den Rumanen derselbe und bei den 
Sz6klern nur um ein Drittel geringer, aber mit dem sehr wesentlichen Unter- 
schiede, dass diese Belastung bei den Rumanen iiberwiegend, bei den Sz^klem 
oft durch Alkoholismus der Eltern bestimmt ist; wie auch Trunksuoht der 
Patienten selbst unter den atiologischen Momenten bei den Rumanen in 
17,6pCt., bei den S^klern in 16pCt., bei den Sachsen nur in llpCt. aufgefiihrt 
ist. Diese atiologische Sachlage findet in den Krankhehsformen ihren 
Widerschein. Die Dementia praecox-Gruppe (samt den Endzustanden) 
ist bei den Sachsen n it 53 pCt., bei den Rumanen mit 41 pCt., bei den 
Sz£klern mit 35 pCt. vertreten; Paranoia fand sich in 7,5 pCt. resp. 1,7 pCt. 
und 3,75pCt. Hmgegen liefer te die Paralyse beiden Szeklern 17,5 pCt., bei den 
Rumanen 11,1 pCt., bei den Sachsen 7,5 pCt. und in derselben Reihenfolge 
Epilepsie: 8,7 pCt., 8,2 pCt. und 6 pCt.; Idiotie: 5 pCt., 9 pCt. und 3,75 pCt. 
Die endogenen Psychosen ergeben bei den Sachsen 86,25 pCt., bei den 
Szeklern 68,75 pCt., bei den Rumanen 68,23 pCt. Mit den atiologischen 
Verhaltnissen und sonstigen Rasseneigentiimlichkeiten mag auch die Ver- 
schiedenheit der kriminellen Veranlagung zusammenhangen; die Kriminalitat 
namlich betrug im Untersuchungsmaterial bei den Sachsen 0 pCt., bei den 
Szeklern 5 pCt., bei den Rumanen 10 pCt. Weitere Untersuchungen sind 
im Gange. (Autoreferat.) 

5 . Sitzung , 1 . September , vormittags. 

Vorsitzender: Snell , Heboid . 

Auf der Tagesordnung dieser Sitzung stehen Referate und Vortrage 
iiber Imbezillitit, ihre kllnischen und anatomischen Formen. 

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84 VXI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 

W. WeygancU , Hamburg: Die ImbezHlitat vom klinischen und foren- 
sischen Standpunkt. Das Ideal, Klassifizierung im Bereiche psychischer 
Anomalien, die psychologische Differenzierung roit entsprechender Ver- 
wertung der etwaigen somatischen Eigentiimliehkeiten und Verlaufseigenart, 
sowie unter spaterer Bestiitigung durch einen entsprechenden Obduktions- 
befund, ist in der Psychiatrie nur an wenigen Stellen veikorpert. Doch 
auch im Bereiche des am wenigsten beachteten Zweiges der Psychiatrie, 
der Erforschung des jugendlichen Schwachsinns, riickt ihm die Wissen- 
schaft insofern unausgesetzt naher, als es immer mehr gelingt, aus der Full© 
der mannigfaohen Erscheinungen eine Reihe von Gruppen abzugliedern, 
die in sich geschlossene klinische Einheiten. vielfach von bestimmter psy¬ 
chischer Eigenart. von Verlaufsverwandtschaft und auch somatischen 
Eigentiimliehkeiten sowie besonderem Obduktionsbefund darstellen. Fol- 
gende Gruppen lassen sich heute mehr oder weniger abgrenzen: Ainaurotische 
farriliare Idiotie. Thyreogener Schwachsinn. Mongoloider Schwachsinn, 
Encephalitischer Schwachsinn, in seinen mannigfachen schweren Formen 
(Porencephalie, atrophische Sklerose etc.). Hydrocephalischer Schwachsinn. 
Meningitischer Schwachsinn. Tuberose Sklerose. Epileptogener Schwach¬ 
sinn. Dementia infantilis. Dementia praecox. Ferner die Gruppe der embryo- 
nalen Hirnentwicklungshemmungen. Immerhin bleibt eine Fiille klinisch 
noch nicht speziellzu differenzierender Fiille iibrig.die vor allern bei Storungen 
leichteren Grades sich intra vitarn naher klassifizieren lassen. Beachtenswert 
sind hysterisclie, neurasthenische und manisch-depressive Konstitutionen* 
Bei der praktisehen Beurteilung, insonderheit der gerichtlichen Betrach- 
tung und der administ rati veil Versorgung, kommt es an I. auf die Eigen¬ 
art, insofern einige Gruppen mehr. andere wieder weniger antisozial und 
beeinflussbar sind; II. vor allem auf den Grad der Storung. Wiihiendz. B. 
dieEpilepsie an sich ein kriminell hochst bedeutsames Leiden ist, sind gerad© 
die schwersten Fall© lediglich asozial. Im ganzen sind die schweren Fall© 
weniger wichtig fur uns, wahrend die leichteren, nicht speziell zu charakte- 
risierenden Falle praktisch viel bedeutsamer sind; vor allem auch die 
psycho-neurotischen Fiille. Urn so eher diirfen wir einen Fall als praktisch 
erheblich gestort amiehmen und die richtigen Konsequenzen hinsichtlich 
der Zurechnungsfahigkeit und Anstaltsbediirftigkeit daraus ziehen, j© 
deutlicher er durch klinische, besonders auch soinutische Eigentiimliehkeiten 
in eine bestimmte Gruppe gerechnet werden kann. Dringend ist neben der 
Intelligenzstorung, deren Erforschung ja den leichteren Teil unserer Auf- 
gabe bildet, auch das sonstige psvchische Wrhalten, vor allem im Bereich 
der Gefiihls- und Wilienssphare. zu beriicksichtigen. Hinsichtlich der Be- 
urteilung des Schwachsinnsgrades ist zu beach ten das inteltektuelle Niveau 
des Milieus. Ferner ist auch stets das Intelligenzniveau der psychiatrisch 
nicht verdachtigen Rechtbrecher in Betracht zu ziehen. Zur Beantwortung 
der Frage nach der Zurechnungsfahigkeit ist am praktischsten immer noch 
der Versuch einer Parallelisierung des Falles mit einer bestimmten Stufe 
des normalen Kindesalters, selbstverstiindlich unter Beriicksichtigung 
etwaigcr Anomalien ausserhalb der irtellektuellen Sphare. Die Frage der 
zweckmassigsten Versorgung eines kriminellen Schwachsinnigen ist nur zu 
losen unter Heranziehung des Gesichtspunktes der Therapie und der sozialen 
Versorgung. (Autoreferat.) 

Sommer, Giessen: Die Imbezillitat vom klinischen und forensischen Stand* 
punkt. Referent hat die Darstellung der weiteren Beziehungen ubernommen, 
die zwischen den klinisch beobaehteten ldiotiefallen und 1. den Insassen der 
Hiilfsschulen, 2.dcn Zwangserziehungszdglingen, sowie 3.dem jugendliclienVer- 
brechertuin vor handen sind. AusseinenUntersuchungengeht u.a. folgendesher- 
vor: Die drei Gebiete der in den Anstalten behandelten Jdiotiefalle, der Hiiifs- 
schulinsassen und der Zwangserziehungszoglinge greifen medizinisch und 
psychologisch vielfach ineinander iiber. II. Es ist daher ein einheitliches. 
Schema els Grundlage der Untersu(*hung aller dieser Falle zu fordern. Die 
Sender bed iirfnisse fur die einzelnen Gruppen lassen sich durch Erganzungs- 
blatter leicht beriicksichtigen. III. Es lassen sich bei den angeborenen 
Schwachsinnigen in den Idiotenanstalten, in den Hiilfsschulen, ferner 


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vorn 29. August bis 4. September 1909. 


85 


auch bei Zwangserziehungszoglingen liber den Inhalt eines Untersuehungs- 
schemas hinaus eine ganze Reihe von psycho logischen und psychophysischen 
Untersuchungsmethoden mit Erfolg anwenden, um einen genaueren Ein- 
blick in die feinere Struktur des geistigen Zustandes zu gewinnen. IV. Dies© 
bessere Differenzierung ist sowolil medizinisch als psychologisch und auch 
padagogisch von Bedeutung und fiihrt zu einem besseren Zusammenarbeiten 
der medizinischen und padagogischen Tatigkeit im allgemeinen und im 
Hinblick auf die besondercn Anforderungen des einzelnen Falles. V. Bei 
der Untersuchung des jugendlichen Verbrechertums, abgesehen von der 
Gruppe der deutlich Imbezillen, die einen Teil der Zwangserziehungszog- 
linge ausmachen, versagen die gebrauchlichen Methoden der Untersuchung 
vielfach und lassen bei eventueller Normalitat im Befund u. a. besonders 
hysterische und epileptoide Ziige, ferner angeborene moralische Defekte 
hervortreten. VI. Das Vorhandensein der zur Erkenntnis der Strafbarkeit 
der Handlung erforderlichen Einsicht ist ein schlechtes Kriterium bei 
den jugendliohen Verbrechern. VII. Bei geistig scheinbar normalen Fallen 
von jugendlichem Verbrechertum fiihrt ofter die Untersuchung einer- 
seits des Milieus, andererseits des angeborenen Charakters im Zu- 
sammenhang mit dem Studium der Familienlage zur Erkenntnis der 
ausseren oder inneren Quelle dor Kriminalitat. VIII. Es ist sehr wahr- 
scheinlich. dass auf dem VVege der Analyse der exogenen und endogenen 
Momente auch das jugendliche Verbrechertum immer mehr als eine krank- 
hafte Erscheinung bei dem einzelnen Menschen und im sozialen Organismus 
sich herausstellen wird. (Autoreferat.) 

J. Fischer , Budapest, Die Imbezillit&t vom klinischen und forensischen 

Standpunkt. Referent wahlte zum Gegenstande seines Referats jene Gruppe 
der Imbezillitat, welche unter dem Namen ,,Moral insanity“ geschildert 
wird. Er gibt verschiedene Ansichten wieder, und befasst sich etwas aus- 
fiihrlicher mit der Bleulerschen Anschauung. Alsdann bespricht er aus- 
fuhrlich die bestiindigen Symptom© der moralischen Imbezillitat : Absolute 
Uneinsichtigkeit und Unbeeinflussbarkeit, stark© verbrecherische Triebe, 
welche wir bis in die Kindheit verfolgen konnen, Unstetheit und Ruhelosig- 
keit, welche das ganze Leben hindurch dauerl, Mangel an Tiitigkeitstrieb 
und Geselligkeitstrieb, Selbstiiberschatzung. erhbhte, iiberentwickelte, 
iippig wuchernde Phantasietiitigkeit, Eitelkeit, Egoisinus, Zynismus,absoluten 
Mangel der ethischen Begriffe und Empfindungen, jedes Rechts- und Sitt- 
lichkeitsbewusstseins und eine grosseAnzahl der korperlichen Degenerations- 
zeichen; auch erbliche Belastung spielt eine gewisse Bolle. Auf Grund lang- 
jahrigerBeobachtunggelangte er zuder Ueberzeugung,dass der bei dieser Kate- 
gorie zumVorschein kommende ethischeDefekt und die daraus entspringenden 
verbrecherischen Handlungen die Folgt einer ab ovo invalidenGehirntatigkeit 
sind. In alien Fallen, die er. vom 10. bis 20. Lebensjahre angefangen, 
bis zum reifen Mannesalter Gelegenheit hatte zu beobachten, fand er, da^s 
die ethischen Ausfallerscheinungen, wodurch die betreffenden Personen 
zu unniitzen Mitgliedern der (ietellschaft wurden, keine progressive Tendenz 
aufweisen. Er beschaftigt sich weiter mit jenen Krankheitsformen, welche 
ahnhche Symptome zeigen und dadurch mit der moralischen Imbezillitat 
verwechselt werdenkonnten, undliebtdie differential-diagnostischen Momente 
hervor. Weiterhin bespriclit er die Prognose und weist darauf hin, was mit 
den mit dieser Krankheit Behafteten geschehen soil. Auch die forensische 
Beurteilung w r ii*d mit ein paar Worten beriicksichtigt. Er stimrnt mit Songard 
iiberein. dass dies© Ivrankheitsform ganz besondere, immer gleichartige und 
entschiedene charakteristische Ziige in sich vereinigt, w r elche schon von 
der friihesten Jugend bestehen und nichts Progressives in ihrem Verlaufe 
zeigen. Schon in Anbetracht dieser Eigenschaften kann diese Krankheit 
als eine spezietle oder selbstiindige gelten. (Autoreferat.) 

J. Roubinomtsch , Paris. Versuch einer padagogischen Psychiatric der 
SChwer erziehbaren Kinder. Vortragender stellt versuchsweise fiinf klinisch- 
padagogische Typen dieser Kinder auf: 1. geistig nicht zuriickgebliebene 
Hypoathenische; 2. geistig zuriickgebliebene Hyposthenische; 3. geistig Hypo- 


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86 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 

sthemsche mit normaler Intelligenz; 4. ebensolche mit lakunarer Intelligenz; 
5. ein gemischster Typus, bei welchem R. abwechselnd Erscheinungen von 
peychischer Aufregung und Depression beobachten konnte. 

Ley, Brussel, bespricht die Rolle der Psychosen bei der Erziehung 
normaler und abnormer Kinder. 

Diskvssion. 

Friedldnder, Hohe Mark, kann den Begriff der „Moral Insanity “ nicht 
anerkennen, denn eine Scheidung von Intelligenz und Moral fiihit zu einem 
nicht unbedenklichen wissenschaftlichen D uabemus. Fischer hat eine mangel- 
haft fundierte Gehirnanlage air Basis der moralischen Idiotie ange- 
nommen. Er glaubt, daes diese pathologische Gehirnanlage vor der Intelli¬ 
genz nicht Halt roachcn wiirde. 

Anton, Halle, erkliirt sich fur die Beibehaltung der infantilen, als 
klinisch und atiologisch gesonderter Formen; ihre Pathogenese wurde in 
den letzten Jahren mehr geklart. Unter den Peyehosen mit krimineller Ab- 
artung ist die Katatonie, besonders ihre forme. fru r tes, wichtig; hierbei 
vereinigt sich haufig eine negativi. ti. che Willensrichtung mit abnormer Sug- 
gestibilitat, dazu gesellen sich zeitweise impulsive Handlungen und zwangs- 
artig stereotypes Wiederholen einzelner Handlungen. 

I*echner, Koloszv&r, ist der Ueberzeugung, da s alle Arten und Grade 
von Idiotie, Imbezillitat und Debilitat t tets angeboren oder mindestens in 
den ersten Lebeni jahren erworben sind. 

Heboid Wuhlgarten, betont. dass bei der Imbezillitat anatomipch nur 
selten Entziindungespuren gefunden werden, und hebt hervor, date die ge- 
fundenen Veranderungen gewohnlich in denselben Gehirnpartien vorhanden 
sind. Die Verschiedenheit der Befunde, welche :*ich in vielgestaltiger Weise 
doch stets nur in einzelnen Gehirnteilen vorfinden, ist er geneigt, auf die 
Gefassschadigungen zuriickzufiihren. 

Weygandt (Schlusswort): Infantilismus laat fich atiologisch weiter 
differenzieren, hinsichtlich der Tuberkulose, Malaria und anderen Rrank- 
heiten. Bedeut am ist die Fettstellung Sommer. 0 , dass sich durch das psycho- 
logische Experiment der Padagogen bestimmte prognof tische Fingerzeige 
iiber die ihnen anvertrauten Kinder ermitteln lassen. Die Psychologic lehrt 
auch, dass manche schiidlichen Suggestionen padagogisch zu vermeiden sind, 
so hincichtlich der Teufelsfurcht und dergl. (Schultraume). Man muss 
nicht nur besonders fragen: wie kt diet er oder jener kriminelle Schwachf innige 
zu begutachten, sondern auch: wie ware jeder Schwachsinnige zu begut- 
achten, wenn er dies oder jene* begangen hatte ? Vielmehr ist noch der 
Geisteszustand bestr after Verbrecher zu beach ten. Bei der Aufstellung 
eines psychischen Normalstatu: ist auf die Milieugruppen dringend Riick- 
sicht zu nehmen. Wir brauchen einen Kanon fur Soldaten, fur Landleute, 
fiir Handwerker, fiir die Jeunesse dorb usw. 

Sommer (Schlusswort) betont, daes der Ausdruck ,,Moral insanity' 4 
ein diagnostisches Moment enthalt. Dies erklare die Diskongruenz der 
einzelnen Anschauungen. Er unterscheidet verschiedene Arten von mora- 
lischem Schwachsinn: eigentliche Defekte an moralischen Momenten, 
suggerierte Komplexe, Steigerung der motorischen Erregbarkeit, zwangs- 
massiges Handeln, Ausschaltung von moralischen Momenten durch trieb- 
artige Handlungen bei bettehenden ethischen Gefiihlen und manche andere 
Gruppen. Er glaubt, dass ein Fortschritt nur durch genaue Analyse und 
Vergleichung moglich sein wird. 

Fischer (Schlusswort) gibt Herrn Sommer recht, das^ wir nur durch 
analytische Untersuchung des Gemiites weiterkommen konnen, ebenso 
wie bei den intellektuellen Fahigkeiten. Er habe das Gliick, seit einigen 
Monaten ein kleines Material zu besitzen, an dem er diese Forschungen 
machen wolle, und werde dann seine Erfahrungen mitteilen. 

(Schluss im nachsten Heft.) 


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40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte etc. 


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40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte in Heilbronn 

und Weinsberg. 

6. und 7. November 1909. 

Bericht von Dr. Lilienstein- Bad Nauheim und Kairo. 


I. Sitzung in Heilbronn , 6. November. 

Im Namen der Geschaftsfiihrung eroffnet Kemmler-W einsberg die 
Sitzung. Oaupp und Kreuser werden zu Vorsitzenden gewahlt. 

Hoche • Die Mel&ncholiefrage. Der Vortragende skizziert kurz den 
Entwicklungsgang, den die Lehre von der Melancholic genommen hat, und 
geht naher ein auf die letzte Phase dieses Prozesses. Krapelin hat neuerdin^s 
die Selbstandigkeit einer Melancholic auch fur die Involutionsmelancholie 
fallen lassen und sieht in ihr nur noch ein Zustandsbild des monisch- 
depressiven Irreseins. Die diesen letzten Schritt vorbereitenden Er- 
wagungen (Talbitzer, Drey fuss u. A.) werden gestreift. Der Vortragende 
ist fur seine Person nicht der Ansicht, dass mit dem Begriff des manisch- 
depressiven Irreseins in der neuesten Ausdehnung (auch wenn man ihm noch 
nicht einmal die Spechts chen Dimensionen gibt) fiir klinische Zwecke etwas 
anzufangen ist. Er erblickt in der ganzen Frage nur einen Teil einer viel 
weiter gehenden und tiefer greifenden Frage, namlich der nach der Existenz 
abgrenzbarer reiner klinischer Typen iiberhaupt. Wenn man die durch einen 
anatomischen Befund (sei es nachgewiesener oder in Zukunft zu erwartender 
Art) zusammengehaltenen Krankheitsbilder abzieht, bleibt das grosse 
Gebiet der funktionellen Psychosen als der eigentliche Kampfplatz der 
Meinungen und Zweifel in der klinischen Formenlehre. Die angestrengten 
und immer wieder als fruchtlos erkannten Bemuhungen um Aufstellung 
typischer Bilder sind vielleicht darum zur grundsatzlichen Aussichtslosigkeit 
verurteilt, weil die Fragestellung falsch war. Der Vortragende skizziert 
in Umris8en eine andere Moglichkeit, namlich die, zwischen der zu kleinen 
Einheit der Elementar- Symptome und der zu grossen Einheit der jetzigen 
klinischen Krankheitsbilder eine mittlere Einheit zu finden, bestimmte, 
immer wiederkehrende Symptomverkuppelungen, Syndrome, die schon 
im normalen Seelenleben parat liegen und in den Krankheitsbildem immer 
wiederkehren. Ein Teil solcher Syndrome („melancholisch“, „hypo- 
chondrisch“, ,,paranoisch“ etc) ist in adjektivischer Form wohl bekannt. 
Einen andern Teil werden wir finden bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit. 
Die Melancholiefrage wird von diesem Gesichtspunkte aus gegenstandslos; 
8ie verschwindet hinter dem allgemeineren nach der Existenz klinisch ab¬ 
grenzbarer Krankheitsbilder bei funktionellen Psychosen iiberhaupt. 

(Autoreferat.) 


Diskussion. 


Kreuser : Die Scheidung in endogene und exogene Krankheitszustande 
hat sich nicht so scharf durchfiihren lassen. Man ist doch immer wieder 
darauf angewiesen, die Krankheiten nach Symptomen, Zustandsbildem etc. 
zu gruppieren. 

Thomsen: Die scharfe Scheidung zwischen Dementia praecox und 
manisch-depressiven Syndromen beziiglich der Belastung beziehe sich 
wohl nur auf die Aszendenz. Wenigstens hat Thomsen beide Erkrankungen 
schon bei Geschwistem beobachtet. 

Oaupp: Bei den Katamnesen wurden von den Anhangem Kraepelins 
die Diagnosen nur dann umgestossen, wenn sich tatsachlich ein anderes 
Krankheitsbild entwickelt. Die Klassifizierung fordert die Erkenntnis, 
wenn naturgemass die derzeitige Einteilung auch noch sehr der Kritik bedarf. 
Das Gehim ist ein viel starker differenziertes Organ als z. B. die Lunge, die 


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88 40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte 

Nieren u. 8. w., so dass Funktionsstorungen bei ersterem naturgemass viel 
schwieriger zu beurteilen seien. 

Pferadorff: Die Abgrenzung des manisch-depressiven Irreseins kann 
nicht so scharf durchgefiihrt werden. 

Hoche (Schlusswort) konstatiert den Fortschritt in den allgemeinen 
Anschauungen, der in dieser Diskussion gegeniiber der Diskussion naoh 
seinem Vortrag in Munchen 1905 zu bemerken sei. Damals habe man ihn 
wegen gleicher Anschauungen heftig angegriffen. 

Das Paratliegen der Symptome bei den einzelnen Individuen beziehe 
sich auf spezifische Reaktionen der einzelnen Personlichkeiten, nicht auf 
einzelne Vorstell ungen. 

Oaupp: Nachkommen von manischen Depressiven erkranken nicht 
an Dementia praecox, diejenigen von Kranken mit Dementia praecox nicht 
an manisch-depressivem Irresein. 

Lilienstcin -Bad Nauheim und Kairo: Psychiatrisches von einer Welt- 
reise (unter Demonstration von Photographien). Die Reise wurde in Genua 
angetreten und fiihrte nach Aegypten durch den Suezkanal, fiber Ceylon 
nach Australien, Penang, Singapore, Hongkong und Kanton, Shanghai, 
Japan, Honolulu, Baltimore und New-York. 

Aegypten wird als Winterstation auch fur gewisse Formen nervoser 
und rheumatischer Erkrankungen (Ischias, Neuritis, Depressionszustande) 
gekennzeichnet, wahrend es bisher seiner Lufttrockenheit wegen vorzugs- 
weise fur Nieren- und Lungenkranke als angezeigt gait. 

Das eigentliche Volksleben des Orients zeigte sich speziell auch in der 
Frequenz der einzelnen Geisteskrankheiten. Alkoholismus z. B. bestand nur 
bei 1 J 2 pCt. der mohammedanischen Geisteskranken. (In europaischen 
StSdten durchschnittlich 20—30 pCt.) Dagegen bildete Haschisch imd 
Opium in ca. 9 pCt. und in Aegypten die Pellagra (in 12 pCt.) bei der armen 
Bevolkerung eine haufige Krankheitsursaehe. 

Die Opiumvergiftung gleicht in alien ihren Stadien, vom einfachen 
Rausch bis zum chronischen Missbrauch und der Kachexie, vollkommen 
dem Alkoholismus. Das gilt auch von den psychischen, intellektuellen und 
ethischen, Veranderungen. 

Fiir den Psychologen und Psychiater von speziellem Interesse sind die 
Formen der religiosen Suggestivbehandlung, die Vortragender auf seiner 
Weltreise bei den Mohammedanem, bei Buddhisten in chinesischen und 
japanischen Tempeln und endlich bei christlichen Gesundbetem be- 
obachtet hat. 

In Konstantinopel wird von den „tanzenden Derwischen“ die Heilung 
von Kinderkrankheiten durch „Fussauflegen“ betrieben. In chinesischen 
Tempeln zieht der Kranke aus einem geweihten Wiirfelbecher nicht nur 
seine Diagnose, sondem zugleich das fiir ihn passende Medikament. In 
japanischen Tempeln reiben die Kranken an einem Gotzen die Stelle, an 
der sie zu leiden glauben. Mit den Gesundbetem (Christian science) haben 
sich in neuester Zeit merkwdirdigerweise selbst amerikanische Aerzte liiert. 

In den australischen Anstalten fand Vortragender trotz des kolonialen 
Charakters der meisten Stadte recht moderne Einrichtimgen. Die Irren- 
anstalten sind im Pavillonsystem erbaut. Die Kranken werden zweckmassig, 
unter guter arztlicher Aufsicht gepflegt und beschaftigt. 

In China ist die Krankenpflege in keiner Weise entwickelt. Sie liegt 
in den Handen von Priestern und Kurpfuschern. Die Geisteskranken werden 
in der Farnilic behalten, bei Erregungszustanden in inhumaner Weise ein- 
fach festgebunden. Die wenigen von Englandern, Franzosen und Ameri- 
kanern, neuestens auch von Deutschen eingerichteten Hospitaler, von 
Missionsgesellschuften gegriindet, wirken zum mindesten vorlaufig ausser- 
ordentlich segensreich. 

Einen hohen Stand der Kultur und damit auch der Kranken- und 
Irrenpflege hat Japan in den letzten 50 Jahren erreicht. 

Fiir die interessantesten Nervenkliniken der Welt halt Vortragender 
das Hopital Bicetre in Paris und das Hospital for Paralysed and Epileptics in 


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in Hoilbronn und YVeinsberg. 


89 


London. In der Organisation der offentlichen Irrenfiirsorge sei Deutschland 
am weitesten gediehen. 

Thomsen- Bonn: Zur praktischen Bedeutung der Serodiagnostlk. Der 

praktische diagnostische Wert der neuen Methoden der Lumbalpunktion 
und der Serodiagnostik, besonders aber der Kombination beider Methoden 
fiir die praktische Psychiatric ist erheblich. Vortragender erbrtert allgemein 
und an der Hand eigener Beobachtungen. dass das Vorhandensein resp. 
Fehlen der 4 Reaktionen (Pleozytose, Ei weiss vermehrung, Wassermann- 
Reaktion im Blut und im Liquor cerebrospinal is) sowohl ini ganzen wie im 
einzelnen, resp. ihre gegenseitige Gruppierung selir wiehtige differential- 
diagnostische Schliisse mit Bezug auf die gegenseitige Abgrenzung von Para¬ 
lyse, Himlues, nicht luetische organisehe Erkrankungen und funktionelle 
Neurosen und Psychosen ermogliche. Obwohl noeh viel gearbeitet werden 
muss und gelegentlich das Ergebnis die Diagnose zu erschweren und ver- 
wirren vermag, halt Vortragender das bisherige Resultat doch schon fiir ge- 
niigend sicher und wiehtig, um auf Grand desselben zu wiinsehen, dass sich 
jeder Irrenarzt mit der Ausfiihrung der Lumbalpunktion und der Unter- 
suchung des Punktates vertraut mache und sich fur die serologischen Unter- 
suchungen der Mitwirkung eines Fachmannes versichere. Selbst verst andlich 
ist niemals ausserdem die klinische Beobachtung und die neurologische 
korperliche Untersuchung zu vemachlassigen. 

Diskussion. 

Kreuser wirft die Frage auf, ob man an einem Untersuchungs- 
gefangenen auch ohne dessen Einwilligung die Lumbalpunktion machen 
diirfe. Zweifellos sei die W assermannscYie Reaktion fiir die Therapie von 
Bedeutung, andererseits sei die Behandlung der Paralyse mit Hg auch bei 
positivem Ausfall der Reaktion nicht angezeigt. 

Hoche : Unter keinen Umstanden diirfe die Punktion bei einem Kranken 
gegen dessen Willen vorgenomraen werden. Auch gestatte erst die wieder- 
holte Untersuchung ein Urteil. 

Afann-Mannheim berichtet iiber einen Fall von Diplegia spastica, 
in dem die Lumbalpunktion zur Sicherung der Diagnose beigetragen hat. 
Es handelte sich um einen 7 jahrigen Knaben, der vom Lehrer geziichtigt 
worden war. Man hatte die Erkrankung auf diese Ziichtigung zuriickgefiihrt. 

Thomsen (Schlusswort): Obwohl es sich bei der Lumbalpunktion 
um keinen grossen Eingriff handele, diirfe man sie doch nie ohne das Ein- 
verstandnis des Patienten vomehmen. Auch sollte die Reaktion immer 
nur in Verbindung mit anderen Untersuchungsmethoden zur Diagnose 
Verwendung finden. 

Stilling- Strassburg: Zur Kenntnis der Einwirkung des Kobragiftes 
auf die roten Blutkdrperchen von Geisteskranken. Der Vortragende bespricht 
kurz die Grundlagen der von Much und Holzmann angegebenen Kobragift- 
Reaktion im Blut von Geisteskranken. Sodann berichtet er iiber eigene 
Nachprlifungen der Reaktion, die er nach der von Hirschl und Potzl (Wien, 
klin. Wochenschr. 27. 1909) angegebenen Modifikation angestellt hat. 

Untersucht w urden 50 Patienten aus der Bezirks-Irrenanstalt Stephansfeld, 
samtlich Falle von Dementia praecox, wovon nur 22 positive Reaktion er- 
gaben. Vortragender kommt zu dem Schluss, dass die Reaktion, wenigstens 
fiir die Diagnose der Dementia praecox, klinisch nicht verwertbar sei. 

(Autoreferat.) 

Pfer8dorff- Strassburg : Zur Pathologie der Sprache. In seinem Referat 
iiber die funktionellen Storungen der Sprache (Miinchen 1906) spricht Heil- 
bronner die Vermutung aus, dass es gelingen diirfte, die sprachlichen 
Assoziationen in motorische und sensorische einzuteilen. Zu den bis jetzt be- 
schriebenen und in dieser Frage zu verwertenden Fallen (cf. Gaitpps Centralbl. 
1908, 2. Marzheft 1906, N. 222 und No. 226) erwahnt Vortragender 8 Falle 
von manisch-depressivem Irresein, bei denen anfallsweise, ohne Beschleuni- 
gung der Wortfolge, ein eigenartiger Rededrang auftrat. Die hierbei produ- 


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40. Yersammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte 


zierten sprachlichen Aeusserungen zeigen folgende Merkmale: Korrekter 
Satzbau und sinnlos© Wahl der Worte. Von den Worten sind die Sub- 
stantiva durch Wortstammassoziation verkniipft. Klangassoziationen 
fehlen. Dies© sprachlichen Aeusserungen bieten Aehnlichkeiten mit den von 
Kraepelin (Lehrbuch I, 1909, § 423) beschriebenen Produkten. Kraepelin 
fiihrt die Storung auf ein ,,Versagen der regulierenden Tatigkeit der Wort- 
klangbilder“ zuriick, wie dies z. B. auch ira Traume stattfindet. Dies© 
Erklarung lasst sich auch auf die vom Vortragenden geschilderten Fall© an- 
wenden, sie findet aber ausserdem eine Bastatigung in derTatsache, dass nnr 
Wortstammassoziationen vorkommen, die Klangbilder demnach versagen. 
Aus dem Umstand, dass nur die Substantiva assoziative Verkniipfung 
zeigen, ist femer zu schliessen, dass die Substantiva einem anderen 
Mechanismus unterliegen, wie die ubrigen Satzbestandteile. Dass dem so ist, 
beweist Vortragender an der Hand einer Anzahl von Fallen von Dementia 
praecox. Es handelt sich um wiederholte Anfalle der Psychose. Die einzelnen 
Formen zeigen neben anderen Verschiedenheiten spezifische Storungen der 
Sprache, insbesondere die Bildung von Substantivreihen oder von Satzen 
ohne Substantiv oder mit sinnloser Wortwahl. Zum Schluss erwahnt Vor¬ 
tragender 2 seit 15 Jaliren beobachtete Falle von Katatonie, welche eine 
der oben beschriebenen sehr nahestehende Sprachstorung anfallsweise 
darboten (scil. ohne Wahnideen), sich aber durch andere Merkmale als 
sicher katatonisch erwiesen. (Der Vortrag wird im Qauppschen Centralblatt 
in extenso erscheinen.) 

II. Sitzung , Weinsberg , 7. November 1909 . 

Mit Riicksicht auf den intemationalen psychiatrischen Kongress in 
Berlin vom 2. —7. X. 1910 wird beschlossen, die Jahresversammlung der 
siidwestdeutschen Irrenarzte im nachsten Jahr ausfallen zu lassen. 1911 
findet die Versammlung wieder in Karlsruhe statt. Neumann und Fischer 
werden wieder zu Geschaftsflihrem gewahlt. 

Als Referattliema wird „Der Begriff des Degenerativen“ auf die Tages- 
ordnung gesetzt und Bumke und Schott zu Referenten emannt. 

Qaupp : Ueber paranoische Veranlagung. Qaupp geht von den Wand- 
lungen aus, die der Paranoiabegriff in den letzten Jahren durchgemacht 
hat ( Kraepelin , Neisser y Friedmann , Wernicke , Ziehen) und sieht mit 
Kraepelin in dem Querulantenw'ahn den Typus der Verriicktheit; nur dass 
der Beziehungswahn nicht generalisiert, sondem spezialisiert sei. Bei den 
Paranoischen lassen sich drei Gruppen, die rechthaberischen, empfindsamen 
und angstlichen (hypochondrischen) unterscheiden. Vortragender geht 
dann naher auf drei Fall© seiner Beobachtung ein, die nach der Struktur 
der Personlichkeit und nach der Erkrankungsart Eigentiimlichkeiten auf- 
wiesen. In ahnlicher Weise wie Janet bringt Qaupp die Paranoia mit den 
Zwangsvorstellungen in Beziehung: Die Kranken mit Zw T angsvorstellungen 
verlegen ihre Krankheit nach innen, die Paranoischen nach aussen. Indessen 
will Qaupp die Grenze zwischen Paranoia und den Zwangsvorstellungen 
keineswegs verwischen. 

Die Kranken, die Qaupp beobachtete, waren Manner in mittlerem 
Alter (25—40 Jahren), bei denen nach vorheriger volliger Gesundheit im 
Anschluss an irgend ein Ereignis allmahlich B eeintrach tigungsideen auf- 
traten. 

Die Verfolgungen wurden auf eigenes Verschulden zunickgefuhrt. 
In einem Fall wurde ein Madchen, mit dem der Patient nach Hause gehen 
wollte, sistiert. Seit diesem fiir den Patienten aufregenden Erlebnis fiihlt 
er sich iiberall von der Polizei beobachtet, jeder Polizist weiss von der An- 
gelegenheit etc. Die Verfolgungen erstrecken sich auf eine ganz bestimmte 
Kategorie von Menschen. 

Die Art der Erkrankung hangt von der Personlichkeit ab, die von 
ihr betroffen wird, z. B. neigt die Paranoia, die den Skrupulosen stets 
an sich selbst Kritik iibenden, befallt, viel weniger zur Progression, als wenn 


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in Heilbronn und Weinsberg. 


91 


ein rechthaberischer, misstrauischer Mensch (Querulant) an ihr erkrankt. 
So kann die Paranoia zwar nicht als exogen, doch auch nicht als in der 
Personlichkeit angeboren angesehen werden, zumal aie ihren Ausgang viel- 
fach von ausseren Erlebnissen nimmt. 

jLo^Mcr-Frankfurt weist auf die heilbaren Formen hin, die er zu den 
Zwangsneurosen rechnet. 

Thomsen : Auch die akute Paranoia lasst erkennen, dass die Verriickt- 
heit auch bei mangelnder Disposition entstehen kann. 

Kemmler hat gleichfalls Heilungen und Besserungen der Paranoia 
beobachtet, besonders bei solchen Fallen, die im Anschluss an affektvolle 
Erlebnisse erkrankten. Haufig konne man versteckte Wahnideen entdecken. 
Bei vielen Querulanten handele es sich um manisch-depressives Irresein. 

Daiber-W einsberg berichtet iiber 9 Fall© von epileptischen Psychosen 
aus der Heilanstalt Weinsberg, die in der Hauptsache als Aequivalente ab- 
liefen, unter katatonischen, stuporos-depressiven, zirkularen, paranoiden 
und halluzinatorischen Zustandsbildern. Nur ein Fall, paranoide Perioden 
auf Grund von nachtlichen epileptischen Halluzinationen, konnte ausfiihr- 
licher berichtet werden. Epileptische Krampfanfalle sind in 4, in den anderen 
Fallen nur epileptoide Erscheinungen bekannt. In 3 Fallen wird Trauma 
atiologisch genannt. Die Diagnose Epilepsie wurde gestellt auf Grund des 
epileptischen Charakters der Symptomkomplexe, meist erst nach jahre- 
langer Anstaltsbehandlung und wiederholten Rezidiven (ausser einem ersten 
Anfall). Bewusstseinsveranderung war von nur einseitiger Bewusstseins- 
beschrankung bis zu den schw ersten Bewusstseinsstorungen immer zu konsta- 
tieren. Beginn, Aufhellung, Wechsel der Zustande ging meist rasch von 
statten. Die spezifische Reizbarkeit war nebenher in alien Zustanden vor- 
handen, hysterieahnliches Benehmen und andere bemerkenswerte Er¬ 
scheinungen in Erregungszustanden sind einigemale besonders hervorzu- 
heben. Neben Ideenfluclit ist doch meistens die Ideenarmut bei dem Sprach- 
drang auffallend, dieReit^rationen, einRhythmus desTonfalles, das Haften- 
bleiben, das in den schriftlichen Erzeugnissen oft noch deutlicher zutage tritt. 
Femer ist bei alien Fallen die lange Dauer der Perioden, von mehreren 
Monaten bis liber ein Jahr, sehr erwahnensw'ert. Fiinf Kranke sind seit 
Jahren in der Anstalt, zwei weitere waren schon wiederholt aufgenommen. 
Fine Aehnlichkeit der Zustande bestand immer, wiederholt sind sie ganz 
genau gleich den friiheren. Fast bei alien ist eine eigenartige leichte Demenz 
vorhanden; eine Stumpfheit und allgemeine Indolenz bei stark ego- 
zentrischer Gefiihlsrichtung, ein habituell argwohnisches oder lauemdes 
Wesen, dagegen ist die intellektuelle Schadigung weniger auffallend. Es 
ist aber bei diesen chronisch sich hinziehenden Fallen, die friiher nach Ent- 
weichungen oder zu frlihen Beurlaubungen — und unter Alkoholeinfluss — 
wiederholt ihre Rlickfalle erlitten hatten, durch konsequent lang aus- 
gedehnte Anstaltsbehandlung eine ganz weeentliche Besserung erreicht 
worden. Eine lange Anstaltsbehandlung ist das wichtigste in der Therapie 
der psychisch-epileptischen Erkrankungen. 

Diskussion . 

Lilienstein-lS auheim vermisst in der freilich etwas gedrangten Dar- 
stellung der Falle den Nachweis zweier als spezifisch epileptisch angesehenen 
psychischen Symptoms: der retrogrciden Amnesie und die Impulsivitat der 
Handlungen. Lilienstein fragt, ob Brom bezw. Bromopium angewandt 
worden sei und einen Einfluss auf die Zustftnde gehabt habe. Auch die 
Diagnose et juvantibus konne bei solchen chronischen Fallen in Frage 
kommen. 

Datber: Die erwahnten Symptoms w urden in der Tat bei einzelnen 
Fallen beobachtet. Brom sei nicht zur Anwendung gekommen. 

Schott-Vf einsberg; Katamnestische Erhebungen iiber begutachtete 
Untersuchungsgefangene. Aus der Zusammenstellung des Vortragenden 
ergeben sich folgende Leitsatze: 


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Buchanzeigen. 


1. In der iiberwiegenden Mehrzahl der Falle handelt es sich um vor- 
bestrafte, vielfach erblich belastet© und von Hause aus entartete Individuen. 

2. Heine Psychosen sind bei dem vom Vortragenden beobachteten 
Material sehr selten. 

3. Die in der Haft zutage getretenen Storungen entspringen der 
minderwertigen Veranlagung dieser Individuen und haben meist mit der 
Frage der Zurechnungsfahigkeit zur Zeit der Tat nichts zu tun. 

4. Diese Storungen haben sich in der Mehrzahl der Falle nach der 
Aufnahme in die Irrenanstalt rasch wieder ausgeglichen. 

5. Ein gewisser Schwachsinn, epileptische und hysterische Ziige treten 
bei den 32 Begutachteten haufig in Erscheinung, sie sind wohl als Erschei- 
nungen der allgemeinen Entartung aufzufassen. 

6. Psychopathische Individuen eignen sich zum grossten Teil fiir den 
Strafvollzug und sind recht wohl einer Disziplinierung zuganglich, wobei 
irrenarztliche Ueberwachung notig ist. 

7. Es ist bei der psychiatrischen Beurteilung und Begutachtung 
vorbestrafter, entarteter Individuen die Anwendung des § 51 d. Str.-G. mit 
grosser Vorsicht und Zuruckhaltung auszuiiben; insbesondere gilt dies fiir 
die erste derartige Begutachtung. 

8. Den Psychiatem ist dringend anzuraten, die Psychologie des Ver- 
brechers genau zu studieren und sich im Verkehr mit Strafanstaltsarzten liber 
diese Individuen moglichst zu unterrichten. 

9. Fiir Strafanstaltsarzte ist eine gute psychiatrische Ausbildung 
unerlasslich. 

10. Durch die Erfullung von 8 und 9 wird sich ein grosser Teil der be- 
stehenden Erschwemisse und Unzutraglichkeiten beseitigen bezw. mildem 
lassen. 

11. Die Irrenanstalt muss sich nach Moglichkeit hiiten, zur Detentions- 
statte psychopathischer Individuen zu werden. sie schadet dadurch ihrem 
Charakter als Krankenhaus und verletzt durch friihzeitige Entlassung dieser 
Individuen das RechtsempfindendesVolkes und gefahrdet die Rechtssicher- 
heit des Staates. 

12. Die katamnest ischen Erhebungen beibegutachtetenUntersuchungs- 
gefangenen sollten allgemein durchgefUhrt werden, um auf breiter Grund- 
lage fussend I^eitsatze aufstellen zu konnen. 

13. Die Frage der Strafvollzugfahigkeit verdient eine eingehende 
Bearbeitung, welche nur durch Zusammenwirken von Irren- und Straf¬ 
anstaltsarzten erspriesslich gestaltet werden kann. 

14. Die Einweisung in eine Irrenanstalt oder Klinik nach § 81 Str.-P.-O. 
wird auch bei guter psychiatrischer Ausbildung der Gerichtsarzte bei den 
hier in Frage stehenden Individuen in Zukunft sich nicht umgehen lassen, 
da zur Beobachtung der ganze Apparat derartiger Spezialinstitute er- 
forderlich ist. 

In der Diskussion (Kolb, Oaupp , Steiger , Stengel , Kreuser) wird den 
Thesen im allgemeinen zugestimmt. Vergl. hierzu den Bericht liber die 
neurolog.-psych. Sektion der Vers, deutscher Naturf. und Aerzte in Koln 
1908. (Ref.). 


Buehanzeigen. 


Anton Bosch, Die Selbstrndrder. Mit besonderer Berucksichtigung der 
militarischen Selbstmorder und ihrer Obduktionsbefimde. Lieipzig und 
Wien 1909. Franz Deuticke. 

Dem statistischen imd psychiatrischen Material liber den Selbstraord 
hat Bosch eine Arbeit in der dritten, noch am wenigsten bear bei te ten Rich- 
tung, der anatomischen, beigefiigt. Er berichtet iiber die pathologisch- 


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Buchanzeigen. 


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anatomischen Befunde bei 327 militarischen Selbstmordern, deren Studium 
ihm als Prosektor des Militarleichenhofes in Wien zur Verfiigung stand. 
Er kommt zu dem Schluss, dass sie infolge ihrer physischen und psyehisehen 
Verhaltnisse eine besondere Klasse fiir sich bilden. Neben den genauer 
charakterisierten Befunden am Zirkulations-, Respirations-, VerdauungB- 
und Urogenital- etc. System werden die Befunde am Zentralnervensystem 
selbstverstandlich einer besonderen Wiirdigung unterzogen. 

Mit den Sektionsbefunden halt Bosch seine Beobachtungen aber 
durchaus nicht fiir erschopft, wenn diese aueh selbstverstandlich den 
breitesten Raum einnohmen, sondem er zieht sowohl statistische als psy- 
ehiatrische und forensische, wirtschaftliche wie kirchliche Gesichtspunkte 
heran. 

Unter den korperlichen Erkrankungen, welche zum Suicid fiihren 
konnen. hat er eine besondere Gruppe zusammengestellt und fiir diese 
das neue Wort der lustraubenden Erkrankungen gepragt, die auf den 
Gemiitszustand der genussfrohen jugendlichen Individuen ganz besonders 
stark einwirken sollon. Die Einteilung in lukullische, aphrodisische und 
bacchantische Geniisse deutet bereits auf die Art der Erkrankung hin. 

Als Haupttypen der militarischen Selbstmorder untersclieidet er 

1. die Dissimulanten. 2. die Pseudoaggravanten, 3. die Aegrotanten, 4. die 
nur physiologische Veranderungen oder Zustande Aufweisenden, wie die 
Pubeszenten. die Spatpubeszenten, die prasenilen und senilen Marantiker 
und die im Status digestionis Befindlichen und 5. die anscheinend ganz 
Gesunden. 

Beziiglich der Gutachten iiber den Geisteszustand eines Selbstmorders 
will Bosch als ausreiehend nur ein solches gelten lassen, welche« auf den 
ganzen Komplex der Erscheinungen aufgebaut ist, die sich bei der Unter- 
suchung des Falles vom psychologischen, psychiatrischen, phvsiologischen, 
klinischen und anatomise hen Standpimkt aus ergeben. 

Stelzner- Berlin. 

C. Bruck, Die Serodiaqnose der Syphilis . Berlin 1909. 166 S. Jul. Springer. 

Der Verf., Dermatolog und Syphilidolog, gibt eine vortreffliche 
Uebersicht iiber die Technik und iiber die diagnostische Bedeutung der 
Kompiementbindungsreaktion bei Syphilis. Besonders interessant ist die 
Besprechung der Modifikationen der Technik. An der dermatologischen 
Klinik in Breslau gestaltet sich das Verfahren jetzt folgendermassen: 

1. Vorversuch: Fallende Mengen des hamolytischen Kaninchen- 
ambozeptors werden an 0,05 ccm des an diesem Tag zur Verwendung 
kommenden frisch entnommenen Meerschweinchenserums austitriert. 

2. Inaktiver Versuch: 0,05 Meerschweinchenserum -f- 0,2 inakt. 
Patientenserum -f- Extrakt. Nach 1 Stunde Zufiigen von &—4 Hammel- 
blutambozeptoreinheiten und 1 ccm 5 proz. Hammelblut. (Gesamtvolumen 
5 ccm.) 

Kontrollen: a) 0,05 Meerschweinchenserum + Hammelblutambozeptor 
-j— Blut; 

b) 0,05 Meerschweinchenserum + 0,4 Patientenserum 

-f- Hammelblutambozeptor-)- Blut; 
e) 0,05 Meerschweinchenserum + 0,2 Patientenserum 

-j- Hammelblutambozeptor + Blut; 
d) 0,05 Meerschweichenserum -f- Extrakt -f- Hammelblut¬ 
ambozeptor -f Blut. 

Ausserdem Kontrollversuch mit sicher luetischem und sicher nicht- 
luetischem Serum. 

3. Aktiver Versuch: 

0.2 aktives Patientenserum + 2 U der beim inaktiven Versuch ge- 
wahlten Extraktdosis; 

0,2 aktives Patientenserum -f- 1 A derselben Dosis. 

Nach 1 Stunde Zusatz von 9—12 Hammelblutambozeptoreinheiten 
und 1 ccm 2,5 proz. Hammelblut (Gesamtvolumen 4 ccm). Kontrolle: 
0,2 aktives Patientenserum -f- Hammelblutambozeptor -f- Blut. 


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Personalien. 


Ausserdem wieder Kontrollversuch mit einem sicher luetischen und 
einem sicher nichtluetischen Serum. 

Das Extrakt ist alkoholisches aus hereditar-luetischen Lebem und 
wird vorher an mindesfcens 40 Lues- und Nichtluesseren gepriift und die 
brauchbare Dosis festgestellt. 

Der Verwertbarkeit der Syphilisreaktion fur Leichenseram bringt 
Verf. grosstes Misstrauen entgegen. 

Von Krankheiten, die klinisch mit Syphilis verwechselt werden konnen , 
zeigen nur Framboesie und Lepra ebenfalls positive Resultate. Allerdings 
diirfen schwache Hemmungen nicht als positive Reaktion gedeutet werden. 
und wahrend schwerer fieberhafter Allgemeinerkrankungen oder kurz vor 
dem Exitus sind die Ergebnisse nicht als „vollig beweiaend 44 anzusehen. 

Bei der kurzen Besprechung der Verwendbarkeit der Reaktion bei 
anderen medizinischen Disziplinen kommt die Psvchiatrie und Neuro- 
pathologie sehr zu kurz. 

Der Anfang behandelt die Porges-M etersche Ausflockungsmethode, 
die Femet-Schereschewskysche Prazipitationsmethode und die Klausnersche 
Fallungsmethode. Brack bezweifelt durchaus, dass diese Methoden die 
Komplementbindungsmethode ersetzen konnen. Z. 

Havelock Ellis, Das Geschlechtsgefuhl . Deutsche Ausg. von H. Kurella. 

2. Aufl. 390 S. Wurzburg 1909. C. Kabitzsch. 

Die vorliegende zweite Auflage ist von Kurella roifc Ermachtigung dee 
Autors um eigene Zusatze hier und da bereichert worden. Obwohi das 
Werk nicht als strong wissenschaftlich bezeichnet werden kann, bringt es 
doch zahlreiche Anregungen und vor allem zahlreiche interessante Tatsachen, 
die mit grossem Fleiss zusammengestellt, wenn auch nicht immer strong 
kritisch gesichtet sind. Die neuerdings fast zur Mode gewordene einseitige 
Theorie vom „Tumeszenz“- und , f Detumeszenz“trieb spielt leider bei der 
Analyse einc zu grosse Rolle. Z. 

Pierre-Kahn, La cyclothymic. Paris 1909. 252 S. G. Steinheil. 

Diese Monographie, welche die leichteren Falle des zirkularen Irre- 
seins behandelt, verdient auch in Deutschland alle Beachtung. Durch 
ihre strenge Wissenschaftlichkeit und Vermeidung aller Uebertreibungen 
sticht sie sehr angenehm von vielen neueren Publikationen iiber das ,,manisch- 
depressive 46 Irresein ab. Die „Constitution cyclothymique 44 , welche nach 
Verf. der Cyklothymie zugrunde liegt, deckt sich fast ganz mit der vom 
Ref. beschriebenen cyklothymischen psychopathischen Konstitution. Sehr 
bemerkenswert sind besonders auch die Ausfiihrungen iiber depressive 
und hyperthymische Zustande, die im Verlauf mancher Stoffwechsel- 
krankheiten, z. B. Diabetes, Gicht etc., vorkommen. In der Tat konnen 
in dieser Beziehung eraste differentialdiagnostische Schwierigkeiten vor¬ 
kommen. Die Prognose dieser Zustande ist viel giinstiger. Z. 


Personalien. 


Der Priv.-Doz. Dr. Otfrid Foerster in Breslau hat den Titel Professor 
erhalten. 

Den Privatdozenten Dr. Alzheimer und Dr. KaUtvinkel in Miinchen 
wurden fiir die Dauer ihrer Wirksamkeit als Privatdozent im bayrischen 
Hochschuldienst der Titel und Rang eines a. o. Professors verliehen. 

Dr. G. Roatenda in Turin hat sich als Priv.-Doz. fiir Neurologie 
habilitiert. 


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Einige Bemerkungen und Erganzungen zu L. Edlngers Schrift: 

Der Anteil der Funktion an der Entstehung 
von Nervenkrankheiten. 

Von 

Professor M. BERNHARDT 

In Berlin. 

Ausgangs des Jahres 1890 habe ich (Neurol. Centralbl. 1890. 
S. 710) in der Berliner Gesellschaft fiir Psychiatrie und Nerven¬ 
krankheiten eine damals 28 jahrige Frau vorgestellt, welche die aus- 
gesprochensten Zeichen einer Tabes darbot. Das atiologische 
Moment, glaubte ich, erregte das Hauptinteresse dieses Falles. 
DieKranke hatte namlich, sonst von alien Symptomen einerNerven- 
affektion, speziell von Zeichen derHysterie, frei, Jahre lang, jeden- 
falls innerhalb der letzten 5 Jahre und auch nach ihrer Verheiratung 
bis zum Marz 1890 hin anhultend mit der Ndhmaschine gearbeitet 
und das Doppelpedal derselben von des Morgens friih bis 12 Uhr 
nachts, im Sommer sogar von 3 Uhr friih ab, getreten. Die Pat. 
war, soweit Anamnese und eine eingehende Untersuchung nach- 
weisen konnten, nicht syphilitisch, wurde auch kaum 8 Monate 
spater von einem gesunden Knaben entbunden. Ich erwahnte in 
meinem damaligen Vortrag auch der Falle von Guelliot, der 1882 
2 Beobachtungen mitteilte, aus denen hervorging, dass 2 Frauen 
im Alter von 28 und 34 Jahren durch anhaltendes Maschinennahen 
schwer an tabischen Symptomen erkrankt waren. Von diesen 
hatte z. B. die eine wahrend 4 Jahren von 6 Uhr morgens bis 
Mitternacht das Pedal der Maschine getreten und sich kaum fiir 
die Mahlzeiten eine Stunde Ruhe gegonnt. 

In der meiner Krankenvorstellung sich anschliessenden 
Diskussion (Sitzung vom 10. XI. 1890; Arch. f. Psych, etc. Bd. 23, 
S. 304) teilte zunachst Moeli eine hierhergehorige ahnliche Be- 
obachtung bei einer Maschinennaherin mit. Auch Rnnak glaubt 
an den Einfluss von Ueberanstrengung in bezug auf die Aetiologie. 
Demgegenuber wollte Oppenheim die Ueberanstrengung als Aetio¬ 
logie der Tabes nicht anerkennen, da er in einem Falle von Tabes 
bei einer Naherin spater das anfangs geleugnete Moment friiherer 
svphilitischer Infektion bestimmt nacliweisen konnte. Ich werde 
weiterhin auf diesen Einwurf Oppenhehm noch einzugehen haben. 
In bezug auf die Bedeutung eines Traumas fiir die Entstehung der 

Monafcschrift fiir Psychiatrie und Neurolofrie. Bd. XXVII. Heft 2. 7 


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Bernhardt, Der Anted der Funktion 


Tabes, auf welches ich bei der Besprechung des vorgestellten 
Falles im Hinblick auf eine Mitteilung von J. Hoffmann hingewiesen 
hatte (Arch. f. Psych, etc., Bd. 19, S. 438) bin ich, wie spatere Mit- 
teilungen von mir klarstellen, der Meinung geworden, dass ein 
Trauma wobl das Auftreten tabischer Erscheinungen begiinstigen 
resp. sie erst deutlicher hervortreten lassen konne, dass es aber 
a Is solches keineswegs zu den direkten Ursachen einer Tabes ge- 
rechnet werden diirfe (man vergl. meine Mitteilungen. Monatsschr. 
f. Unfallheilk. etc. 1895. No. 7). 

Die Kranken ChieUiots waren nervos pradisponierte Individuen; 
in der Schilderung ihres Leidens fehlen wichtige Symptome, des- 
gleichen sichere Angaben fiber etwaige sypkilitische Infektion. 
In einer Arbeit ,,Ueber Tubes beim u'eiblichen Geschlecht“ hat Kron 
noch einige andere Autoren angeffibrt (vergl. dort. Deutsche 
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XII. 1898. S. 303), welche gerade 
bei Maschinenarbeiterinnen tabische Erkrankung festgestellt 
hatten. Er selbst konnte ein grosses Material verwerten, um fiber 
die vorliegende Frage weitere Aufklarung zu bringen. Wohl fand 
auch er eine Reihe von Tabesfalien bei Maschmennaherinnen, 
welche sicher oder wahrscheinlich Syphilis gehabt hatten, resp. 
nach dieser Richtung verdachtig waren. Indessen kommterzudem 
Schluss, dass die Tabes unter den Schneiderinnen sehr viel haufiger 
sein mtisste, wenn der Nahmaschine eine direkte Einwirkung auf 
die Entstehung dieses Leidens zugeschrieben werden konnte. 
Er zieht daher aus seinen Untersuchungen den verallgemeinernden 
Schluss, dass der Nahmaschinenarbeit an sich fiberhaupt der Platz 
unter den Tabesursachen streitig zu machen sei. ,,Um so enger,“ 
meint er, ,,ziehen sich die Kreise um dasjenige Moment zusammen, 
das den meisten Fallen seinen Stempel aufdrtickt, die Syphilis 14 . 

Nun war, wenigstens in meiner oben erwahnten Beobachtung, 
von Syphilis bei der Kranken nichts nachzuweisen. Bei der Be¬ 
sprechung des Falles meiner tabeskranken Maschinennaherin 
sagte ich (1890): ,,Auffallig ist es immerhin, dass trotz der grossen 
Verbreitung der Nahmaschinen und der grossen Anzahl von 
Individuen, die sich durch anhaltende Beschaftigung mit derselben 
ihren Lebensunterhalt verdienen, so relativ wenig in der eben ge- 
schilderten Weise erkranken; wenigstens sind mir selbst andere 
Falle, die in ahnlicher Art, wie der hier vorgestellte, unzweideutig 
sind, nicht vorgekommen. Wir haben soeben die Ansicht Krons 
erwahnt, die er aus einer Untersuchung zahlreicher, nicht tabes- 
kranker Maschmennaherinnen gewonnen hat, dass die Tabes 
unter Schneiderinnen sehr viel haufiger sein mfisse, wenn der 
Nahmaschine eine direkte Einwirkung auf die Entstehung dieses 
Leidens zugeschrieben werden konnte, eine Ansicht also, die mich 
ebenfalls zu den schon im Jahre 1890 von mir geausserten Bedenken 
geffihrt hatte. 

Auch ich habe, wie Kron , eine grosse Anzahl tabischer Frauen 
beobachtet und behandelt, die zwar syphilitisch infiziert waren, 
niemals aber die Nahmaschine in irgend anstrengender Weise ge- 


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an der Entatehunf? von Nervenkrankheiten. 


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braucht hatten. Immerhin hat doch Kron eine Reihe von Fallen 
zusammengestellt, wo tabische Frauen mit sicherer syphilitischer 
Infektion oder wahrscheinlicher und verdachtiger luetischer An- 
steckung Jahre lang die Pedale der Nahmaschine getreten hatten. 
Etwas anders diirfte die Auffassung dieser Verhaltnisse sich ge- 
stalten, wenn wir ihnen heute mit den Ansiehten Edingers ,,Ueber 
den Anteil der Funlction an der Entstehung von Nervenkrankheiten “ 
naher treten. Wenn nach ihm kein geniigender Ersatz fur die nor- 
malen Funkbionen stattfindet, wie dies meist durch bestimmte 
Gifte, Blei oder das syphilitische Gift, herbeigefiihrt wird, so konnen 
verschiedene Erkrankungen des Nervensystems entstehen, Poly- 
neuritiden etc. und besonders auch Tabes und Taboparalyse, wie 
es Edinger durch eine grosse Reihe von Beispielen wahrscheinlich 
gemacht hat. Freilich gibt er zu, dass seine Theorie, speziell bei 
der Tabes, auf einer Hypothese aufgebaut ist und dass tatsachliche 
Nachweise noch weiter erbracht werden miissen. Aber auch er 
weist auf die schon friiher und neuerdings von Hirt und Leyden 
mitgeteilten Falle von Tabes bei Naherinnen hin. Ueberblickt man 
die Frage der Tabes bei Maschinennaherinnen von dem Edingerschen 
Standpunkt, so kommb man auch in Beriicksichtigung der von 
Kron festgestellten Tatsachen zu der Schlussfolgerung, dass bei 
pradisponierten Menschen, und zwar bei durch Lues weniger 
widerstandsfahig gewordenen Frauen, anstrengende Arbeit mit der 
Nahmaschine eher zum Auftreten tabischer Erkrankung fiihrt, als 
wenn eine syphilitische Infektion nicht vorausgegangen ist. 

Werden, wie Edinger es ausdriickt, abnorm hohe Anforde- 
rungen an die normalen Bahnen und den normalen Ersatz gestellt, 
so kommt es leicht, wie das ja aus zahlreichen Literaturangaben 
hervorgeht, zu den sogenannten Arbeitsatrophien und Arbeits- 
neuritiden, von denen aber gegeniiber den zahlreichen Beispielen 
derartiger Erkrankung an den oberen Extremitaten an den unteren 
verhaltnismassig nur wenige Angaben in der Literatur vorliegen. 
So sagt z. B. Remak, dass im Bereiche der unteren Extremitaten 
infolge angestrengten Nahmaschinentretens unter den Er- 
scheinungen der Ischias entstandene amyotrophische Ischiadicus- 
lahmung, besonders im Peroneusgebiete, von Charcot beobachtet 
sei, eine im Vergleich zu den an den Armen und Handen festge¬ 
stellten Arbeitsatrophien gewiss vereinzelte Beobachtung. Bei der 
Seltenheit professioneller Paresen im Gebiete der unteren 
Extremitaten darf ich wohl auch an den von mir in meinem Buche 
,,Die Erkrankungen der peripherischen Nerven“ mitgeteilten Fall 
von Muthmann erinnem, der von diesem Autor aus der Bonner 
Klinik mitgeteilt worden ist. Es handelte sich da um einen 
28 jahrigen Kranken, welcher Jahre lang die Drechslerbank 
tretend gearbeitet hatte. Er stand dabei meist auf dem linken Bein, 
wahrend er mit dem rechten die Kurbel in Bewegung setzte. All- 
mahlich trat eine Schwache in der Bewegungsfahigkeit der Fiisse 
und Zehen ein, besonders links; eine genaue Untersuchung erwies 
eine doppelseitige, auf Ueberanstrengung zuriickzufuhrende Neu- 

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98 Bernhardt, Der Anted der Funktion 

ritis der Nn. peronei mit schwererer Erkrankung der linken Seite 
unter Mitbeteiligung des N, tibialis, ohne dass jedoch funktionell 
ein Ausfall in letzterem zu konstatieren gewesen ware. Nicht die 
Beschaftigung an der Drechslerbank, sondem das Stehen auf einem 
Bein ist nach Verfasser in diesem Falle an erster Stelle als Ursache 
der Erkrankung anzunehmen. Jedenfalls unterliegt es keinem 
Zweifel, dass an den unteren Extremitaten sehr viel haufiger als 
Lahmungs- und atrophische Zustande schmerz- und krampfhafte 
Affektionen vorkommen, wie ich dies bei der Beschreibung der 
Beschaftigungskrampfe an den unteren Extremitaten infolge Ueber- 
anstrengung gewisser Muskelgruppen in meinem eben erwahnten 
Buche (Teil 2, S. 151) des naheren auseinandergesetzt habe. 

In neuester Zeit haben auch Leyden und Goldscheider die 
Ueberanstrengung als einen atiologisch wichtigen Faktor fur 
das Entstehen der Tabes in gewissem Sinne anerkannt. Zwar, ob 
Ueberanstrengung fur sich allein Tabes hervorbringen kann, 
ist nach diesen Autoren zweifelhaft; aber sicherlich gehort sie zu 
den begiinstigenden Momenten. Hierfiir sprechen gewisse Beob- 
achtungen von der Art, dass sich Tabes an besonders anstrengende, 
haufig wiederholte Bewegungen, z. B. bei Maschinennaherinnen, 
angeschlossen hat, bezw. dass die Ataxie namentlich in den Armen 
sich entwickelte bei einem Kranken, welcher die oberen Extremi¬ 
taten besonders angestrengt zu bewegen genotigt war. Immerhin, 
so schliessen sie (Die Erkrankungen des Riickenmarks und der 
Medulla oblongata, Wien 1904, Teil V, S. 409), kommt das Moment 
der Ueberanstrengung wohl mehr fiir die Localisation, als fur die 
Entstehung des Prozesses in Betracht. 

Dass die genannten Autoren im Gegensatz wohl zu den meisten 
anderen der Syphilis resp. der Metasyphilis fiir die Entstehung 
einer tabischen Erkrankung nur einen geringen oder keinen Wert 
beilegen, glaube ich als bekannt voraussetzen zu diirfen. 

Falle von sogenannter Tabes cervicalis,' d. h. tabischer Er¬ 
krankung, bei der die Krankheitssymptome nur oder doch vor- 
wiegend an den oberen Extremitaten ausgepragt und an den unteren 
unbedeutend waren oder fast ganz fehlten, finden sich in der Lite- 
ratur zerstreut. Es ist mir leider nicht gelungen, alle die uber solche 
Vorkommnisse berichteten Falle im Original einzusehen, so dass 
ich nicht imstande bin, zu sagen, ob z. B. im Falle von Weir 
Mitchell (Philadelphia Med. News, r^f. im Centralbl. f. d. med. 
Wissenschaften. 1889. S. 10) der Patient friiher an Syphilis ge- 
litten; angeblich war er ohne irgend welche Belastung. Ebenso- 
wenig kann ich liber den Dejerine schen Fall (Archives de Physio- 
logie norm, et patholog. 1888. p. 331) hinsichtlich einer luetischen 
Vergangenheit etwas aussagen, und auch im Falle von Martins 
(Deutsche med. Woclienschr. 1888. No. 9) wird iiber Syphilis 
des Kranken nichts berichtet. 

Dass derartige Falle von auf die oberen Extremitaten be- 
schrankter tabischer Ataxie bei verhaltnismassigem Intaktsein 
der^unterenjoffenbar selten sind, geht aus der Sparlichkeit der 


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an der Entstehung von Nervenkrankheiten. 


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Mitteilungen der Autoren hervor. So fand z. B. Dejerine unter 
166 Tabes fallen nur den einen oben erwahnten, bei dem das Leiden in 
den oberen Extremitaten begann und auf diese beschrankt blieb. 

Anders liegen die Dinge in dem von Remak schon im Jahre 
1880 (Berl. klin. Wochenschr., No. 22) mitgeteilten Fall von lokaler 
Oberextremitaten-Ataxie mit gleichzeitiger Ephidrosis unilateralis. 
Hier hatten sich tabische Erscheinungen an den Beinen erst spat 
bei dem vor 12 Jahren syphilitisch infizierten 38 jahrigen Mann 
eingefunden, wahrend sich schon vorher im Laufe von 5 Jahren 
eine Anasthesie, besonders des rechten Vorderarmes, allmahlich 
entwickelt hatte, wobei Hand und Finger erheblich beteiligt waren. 
Auch bei dem von mir im Jahre 1888 in der Zeitschrift f. klin. 
Med., Bd. 14, H. 3, veroffentlichten Fall war der Erkrankung 
Syphilis vorausgegangen. Der Kranke war als Steinmetz und 
Bildhauer auf Bauten den Unbilden der Witterung Jahre lang 
ausgesetzt und hatte vorwiegend mit Meissel und Hammer zu 
arbeiten. Die Untersuchung ergab bei hochgradiger Ataxie der 
oberen Extremitaten an den unteren fair viele Jahre nur ein Ver- 
schwundensein der Patellarreflexe; der Kranke war ein leiden- 
schaftlicher Tanzer und konnte ohne Beschwerden dieser seiner 
Leidenschaft frohnen. 

Leider geht aus den mir teilweise ja nur in Referaten zu- 
ganglichen Literaturangaben iiber die oben kurz erwahnten Falle 
cervikaler Ataxie die Beschaftigung der Pat. nicht mit geniigender 
Klarheit hervor, so dass ich, abgesehen von dem zuletzt von mir 
mitgeteilten, von mir selbst beobachteten Fall nichts dariiber 
aussagen kann, ob die betreffenden Individuen ihre oberen 
Extremitaten vorwiegend angestrengt haben; ja, es fehlt auch, 
wie wir sahen, in einigen Beobachtungen der Nachweis einer 
friiheren syphilitischen Infektion, oder diese wird von den berichten- 
den Autoren geradezu geleugnet. 

Es mag daher nicht iiberfliissig erscheinen, wenn ich einen 
neuerdings von mir beobachteten Fall von Tabes mit hauptsachlich 
an den oberen Extremitaten ausgebildeten Symptomen hier kurz 
mitteile. 

Der zur Zeit meiner ersten Untersuchung 42 Jahre alte Gartner R. S. 
hatte sich vor mehr als 18 Jahren eine syphilitische Infektion zugezogen. 
Ein vor seiner Ehe geborenes Kind war gesund; nach der Verheiratung 
wurde ihm kein Kind mehr geboren; die Frau hatte nie fehlgeboren. Schon 
wenige Jahre nach der mit einer Schmierkur behandelten Syphilis fing S. 
an, an lebhaften Schmerzen in verschiedenen Korperteilen zu leiden, hatte 
verschiedene Male Ohnmachtsanfalle, litt an Darmkatarrh, begann aber 
erst im Jahre 1904. etwa 16 Jahre nach der syphilitischen Infektion, iiber 
schlechteres Gehen zu klagen, hatte Blasenbeschwerden, bei denen er- 
schwertes Entleeren des Harns mit unfreiwilligen Abgnngcn desselben 
abwechselten. Seit etwa drei Jahren ist die Libido so wie die Potentia 
coeundi ganz geschwunden. Pat. geht im Finstern unsicher, schwankt beim 
Waschen des Gesichtes, kann nicht mehr rennen. Patellar- und Achilles- 
sehnenreflexe fehlen. Leichte Beriihnmgen werden an den Fiissen nicht ge- 
fUhlt, wohl aber starkerer Druck. Schmerzempfindung deutlich verlang- 
samt. Bei Augenbchluss vorgenommene Lageveranderungen der Zehen 
werden manchmal gefiihlt, manchmal gar nicht empfunden. 


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Bernhardt, Der Anteil der Funktion 


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Die linke Pupille ist grosser als die reohte; beide sind lichtetarr, reagieren 
aber auf Konvergenz and Akkommodation. 

Besonders waren die Verhaltnisse an den oberen ExtremitcUen bemerkena- 
wert: Pat. fiihlt an den Handen leichte Beriihrungen gar nicht, Nadelstiche 
deutlich verspatet. Sohliesst er die Augen, so kann er ihm in die Hand ge- 
legte Gegenstande nieht erkennen. E* besteht eine ganz bedeutende Ataxie- 
in den Bewegungen der Arrae und Hande: er kann seine Kleider ohne Zu- 
hiilfenahme der Augen nicht knopfen, sein Portemonnaie nicht aus der Tasche 
ziehen, nicht schreiben etc. Ais er etwa 2 Jahre vor der von mir vor- 
genommenen Untersuchung eininal einen schief stehenden Baum gerade- 
richten wollte, entstand unter Krachen eine Verbildung dee rechten Ellbogen- 
gelenks, wobei eine Schmerzempf indung nicht auitrat. Das verbildete Gelenk 
kann auch jetzt noch schraerzloa bewegt werden, wobei Knarren und 
Krachen deutlich gefiihlt und gehort wird. 

Dass trotz der ausgezeichneben Darsbellung des geistreichen 
Autors Edinger auch in der Frage von dem Anteil der Funktion 
an der Entstehung einer Tabes und trotz meiner sehr bescheidenen 
Mehrung des diese Annabme bestatigenden Materials noch viele 
dunkle Punkte zuriickbleiben, wer wollte es leugnen ? Hat doch 
Edinger selbst auf einige mit seiner Auffassung nicht vereinbare 
Tatsachen hingewiesen und offen erklart, dass die Zeit, einzelne 
Fragen widerspruchslos zu beantworten, noch nicht gekommen. 
,,Einige Symptome, sagt er, sind noch nicht so (d. h. durch die“ 
„Funktion) erklarbar. Hier stehen in erster Linie der Schmerz“ 
,,und die Krisen. Von dem Wesen dieser Reizerscheinungen, 44 
,,vom Wesen des Schmerzes iiberhaupt wissen wir physiologisch“ 
„noch so iiberaus wenig, dass sie fiir das Folgende ausser Betracht“ 
,,bleiben miissen. Erst wenn uns hier einmal bessere Kennbnis 44 
,,geworden, diirfen wir fragen, ob der Schmerz und die Krisen 41 
„aus der Funktionstheorie heraus erklarbar sind. Und an 44 
,,anderer Stelle hebt er hervor: Ein Symptom bei der Opticus- 44 
„atrophie wiirde, das ist von Uhthoff und Bing hervorgehoben 44 
,,worden, mit der Funktionshypothese schlecht stimmen. Offen- 44 
,,bar liegen die meistbenutzben Opticusfasern im Zentrum des 44 
,,Gesichtsfeldes. Zentrales Skotom kommt aber seltener vor als 44 
„andere Formen des Sehnervenschwundes, in nur 2 pCt. aller 44 
,,Falle, meint Uhthoff. Wo es vorhanden, schliesst sich spater 44 
„immer allgemeine Atrophie an. Hoffenblich klaren weitere Unter- 44 
,,suchungen diesen Widerspruch auf. 44 


Im Jahre 1874 hatte ich in der Januarsitzung der Berliner 
Gesellschafb fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiben iiber einige 
Falle von Lahmungen des N. radialis gesprochen. In der diesem 
Vortrage sich anschliessenden Diskussion bemerkte der versborbene 
Moritz Meyer folgendes: Was die Bleiliihmungen anlange, so sei, 
nachdem die Untersuchungen tiber die Quantibat des abgelagerben 
Bleies so verschiedene Resulbate ergeben haben, doch darauf zuriick- 
zukommen, dass die angesbrengtesten Muskeln diejenigen sind, 
die zuersb und am meisben gelahmt werden. Er erinnert sich eines 


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an dur Entistehuiig von Nervenkrankheiten. 


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Falles, in welchem ein Mensch, der einen weniger entwickelten 
Fuss hatte, gerade in diesem Beine die Lahmungserscheinungen 
zeigte, wahrend die anderen Exbremitaten weniger beteiligt waren. 

An diesen Ausspruch des verstorbenen Neurologen erinnert 
auch Edinger in seinem Werke, wo er iiber afmorme Lokalisalionen 
der Bleilakmungen diskutiert. Wenn ich auch, wie ich mich alsbald 
aufs neue zu zeigen bemiihen werde, die sehon einmal von mir 
angefochtenen Beobachtungen von Mbbitts (Centralbl. f. Nervenheil- 
kunde etc., 1886, No. 1) iiber die Lokalisation der Lahmungen bei 
Feilenhauern nicht in ihrem ganzen Umfang billigen kann, so 
mochte ich doch gegen folgende Aufstellung Edingers gegeniiber 
Mobius zu dessen Gunsten Stellung nehmen. Edinger sagt 1. c.: 
,,Als Mobius zuerst bei Feilenhauern eine Lokalisation der Blei-“ 
,,lahmung fand, die in den dort besonders angestrengten Daumen-“ 
„muskeln begann, kam ihm wohl der Gedanke, dass hier die“ 
„Funktion vielleicht schadige; aber, ihn diskutierend, kommt“ 
,,er zu dem Schluss, es liege kein Grund vor, wenn iiberall das" 
,,Blei toxisch wirke, gerade hier eine funktionelle Schadigung“ 
,,anzunehmen. Remak, fahrt Edinger fort, mochte hier doch an“ 
,,Mitwirkung durch die Anstrengung denken, steht aber doch,“ 
,,wie alle anderen Autoren, auf dem Standpunkte, dass im wesent-“ 
„lichen eine Giftwirkung, die gerade an bestimmte Nerven sich“ 
„besonders leicht lokalisiert, im Spiele sei.“ 

Das ist nicht ganz richtig. In Beriicksichtigung der von Remak 
bei einer seiner Beobachtungen ausgesprochenen Ansicht, sagt 
Mobius: Fasst man die Feilenhauerlahmung als Bleilahmung auf, 
so ist an einem sehr eklatanten Beispiel dargetan, dass die Lokali¬ 
sation der toxischen Lahmung in bestimmten Muskelgruppen durch 
die Funktion der letzteren bedingt werden kann. Und ferner: Es 
drangt sich die Erwagung auf, ob etwa der gewohnliche Typus der 
Bleilahmung sich dadurch erklaren lasse, dass im Durchschnitt 
die Strecker der Finger und der Hand die am meisten angestrengten 
Muskeln sind, ob es als allgcmeines Prinzip gelten konne, dass bei 
Bleildhmungen oder bei Lahmungen infolge chronischer Vergiftung 
uberhaupt die am meisten angestrengten Muskeln zuerst erkranken. 

Und endlich. am Ende seines lehrreichen Aufsatzes, sagt Mobius : 
Aber auch dann, wenn angenommen wird, dass noch Umstande, 
die uns bis jetzt entgehen, zu berucksichtigen sind, diirfte die 
Hypothese, dass in der Hauptsache die Lokalisation toxischer 
Ldhmungen von der Funktion der Muskeln abhangt, bis auf weiteres 
nicht zu widerlegen sein. 

Wie man sieht, ist in diesen Worten schon 1886 von Mobius 
die Bedeutung der Funktion fur die Lokalisation von Muskel- 
lahmungen bei Intoxikationen voll beriicksichtigt worden. 

Am Ende desselben Jahres, in dem die Arbeit von Mobius 
erschien, habe ich mich nun bemuht (Arch. f. Psych, etc., Bd. XIX, 
S. 527), nachzuweisen, dass gerade bei Feilenhauern die von 
Mobius und Remak hervorgehobene Erkrankung der linksseitigen 
Daumenmuskeln nicht nur nicht in alien Fallen, sondem sogar 


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Bernhardt, Der Anteil der Funktion 


nur in der Minderzahl der bis dahin bekannten voll zu Recht be- 
steht. Ich schloss damals meinen Vortrag mit den Worten: Soviel 
scheint aus dem Mitgeteilten hervorzugehen, dass die von Mobius 
angeregte Frage zurzeit noch nicht spruchreif ist; es wird noch 
weiterer Beobachtungen bediirfen, ehe es gestattet ist, ein end- 
giiltiges Urteil abzugeben (es gait dies fiir die Feilenhauer- 
lahmungen). 

Nun hat neuerdings Teleky in der Deutscben Zeitschrift fiir 
Nervenheilkunde, Bd. 37, S. 234, eine Arbeit: „Zur Kasuistik der 
Bleilahmungen“ veroffentlicht, die bei grosser Reichhaltigkeit es 
sich zur Aufgabe gemacht hat, die Edingerschen Anschauungen 
an einer grossen Anzahl von Bleigelahmten zu illustrieren resp. 
zu erharten. Was nun die Feilenhauerldhmungen betrifft, so sagt 
er 1. c., S. 263: „M6bius hat damals auch die Behauptung auf-“ 
,,gestellt, dass bei Feilenhauem vorwiegend oder ausschliesslich“ 
„die Muskeln des hnken Daumens erkranken. Gegen diesen Satz“ 
,,haben sich Bernhardt und sein Schuler Leichtentritt (Inaug.-“ 

,.Dissert., Berlin 1887) gewendet, aber auch die von ihnen publi-“ 
„zierten Falle von Bleilahmung zeigten mit Ausnahme eines“ 
„einzigen Falles eine auffallende Mitbeteiligung der Muskulatur“ 
,,des hnken Daumens. Mobius selbst hat spater das vonviegend“ 
,,oder ,ausschliesslich‘ als zu stark bezeichnet.“ 

So leid es mir tut, meine nunmehr fast 24 Jahre zuriickliegenden 
Beobachtungen an dieser Stelle noch einmal, wenigstens kurz, zu 
reproduzieren, so muss ich dies doch tun, da mir scheint, dass 
Teleky meine Arbeit aus dem Jahre 1886 nicht mit der notigen 
Aufmerksamkeit studiert hat. Neben einer Kritik der Falle von 
Mobius und Remak habe ich, um es kurz zu machen, damals 
folgendes mitgeteilt: 

Era tens drei Falle bei schon jalirelang mit Feilenhauen beschaftigten 
Mannern, die nirgends an den linksseitigen Daumenmuskeln Zeichen von 
Lahmung oder Atrophie darboten. Weiter sah ich zwei jahrelang als Feilen- 
hauer beschaftigte Gesellen, deren Handmuskeln gesund und sehr brdftig 
waren. Ein dritter Geselle war zurzeit nach friiherer Bleikrankheit ganz ge- 
8und und zeigte die linksseitigen Daumenballenmuskeln und den M. inter- 
osseus primus eher hypertrophisch. Ein Lehrling in der Werkstatt, wo die 
eben genannten Gesellen arbeiteten, war gesund. Femer besuchte ich eine 
Werkstatt der Feilenhauer-Aktien-Gesellschaft in Berlin mit mehr als 
50 Arbeitern; keiner der Anwesenden, von denen viele schon jahrelang 
bei m Gewerk waren, hatte zurzeit Lahmung der Extensoren oder der Daumen- 
ballenmuskeln. Diese waren moi; tens links (nebst dem linken M. interosseus) 
krdjtig entwickelt. Von vier Gesellen, welche Bleikoliken durchgemacht 
hatten. hatte nur einer iiber Schwache der linken Daumenmuskeln zu klagen 
gehabt; er arboitete aber zurzeit, ohne von Lahmung oder Atrophie speziell 
links am Daumen etwas aufzuweisen. Bei einem vierten Arbeiter hatte eine 
Lahmung des reehten M. deltoideus bestanden. Er war zurzeit wieder wohl; 
von Lahmung oder Atrophie war zurzeit nichts aufzufinden. speziell nicht 
an der linken Hand und dem linken Daumen. Fast alle Arbeiter, {and ich, 
zeigten links hypertrophischeThenarmuskeln undgut ausgebildeteMir. inter- 
rossei. Weiter berichtete ich iiber einen Feilenhauer, der tatsiichlich (aber 
neben einer rechteseitigen Streckerlahmung) links nur den linken Daumen 
affiziert hatte. Nach weiterer Arbeit von 9 Jahren in einer Feilenhauer- 
werkstatt konnte an seinen Handen. speziell auch links, nichts Krankhaftes 
melir nachgewiesen werden. 


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an der Entstehung von Xervenkrankheiten. 


103 


Bai einera fiinften Pat. bestand rechts Lahmung der Strecker, Pareee 
der Beuger der reehten Finger, des Abd. pollicie. longus und Lahmung der 
rechten Thenarmuskeln und des ersten 3/. interosseus. Links war vorhanden: 
Parese des Ext. digit, commun., wenigstens der Abechnitte fiir den dritten 
und vierten Finger, und Parese aucli der Daumenstrecker. Thenarmuskeln 
intakt. In einem sechsten Falle endlich fand ich links Lahmung des Ext. 
pollicis brevis und Abductor pollicis brevis , die iibrigen Strecker der Hand 
imd Finger frei. Rechts waren die Fingerstrecker affiziert, die eigentlichen 
Handstrecker frei: der Abd. pollicis longus und der Extensor pollicis longus 
und brevis sind paretisch, desgleichen die eigentlichen Daumenballenmuskeln. 

Ich schloss: Aus dem bisher Mitgeteilten gelit also hervor, dass zu- 
nachst in den durch Mobius selbst bekannt gegebenen Fallen nur der erst© 
in bezug auf das, was er beweisen soil, ganz einwandsfrei war. Aus ineinen 
eigenen Beobachtungen ergibt sich, dass die urgierte Erkrankung (Atrophi© 
und Lahmung der linken Daumenballenmuskulatur und des ersten M. inter- 
osseus) bei Feilenhauem in der Tat sich findet, und zwar konnte ich dies 
in dem zu vollkommener Heilung gekommenen Fall 4 anamnestisch nach- 
weisen und dartun, dass im fiinften und sechsten Fall die Daumenballen- 
affektion in der haufiger bei Bleikranken, die nicht Feilenhauer waen, 
sich findender Weise auch rechts , und zwar im fiinften Falls sogar nur dart 
vorhanden war . Dass aber bei Feilenhauern vorwiegend oder gar aus- 
schliesslich, wie Mobius meint, die Muskeln des linken Daumens erkranken, 
geht aus dem von mir Angefiihrten nicht oder doch wenigstens keines- 
wegs sicher hervor. 

Ausser den genannten, von mir und (in seiner Dissertation) von Leichten- 
tritt besehriebenen Erkrankungen von Feilenhauern habe ich, was von anderen 
und auch wohl von Teleky iibersehen worden ist, im Jahre 1900 (Berl. klin. 
Wochenschr., No. 2) noch uber weitere drei Falle von Lahmungen bei Feilen¬ 
hauern bericlitet. 

Ich erlaube mir hier, die Schlusssatze aus dieser meiner Arbeit zu 
wiederholen: Von den drei kranken Feilenhauem hatte der erste. obgleich 
20 Jahre Feilenhauer, wohl haufig an Bleikoliken, nie aber an Lahmungs- 
zustanden gelitten. Der zweite zeigte rechts neben der Lahmung der Hand- 
und Fingerstrecker eine Beteiligung der Zwischenknochen- und Daumen- 
ballenmuskeln und links fast nur Schweiehe und Lalunung der Mm. inter- 
ossei und des M. abd. pollick. Der dritte Feilenhauer zeigte iechts eine 
Schwache des Mm. interossei und der Thenarmuskeln und links nur eine 
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit der eher hypertrophisch zu 
nennenden DaumenbaUenmuskeln. 

Neben anderen Bemerkungen sagte ich alsdann zum Schluss: Dass 
bei den mit den linken Fingern. spezieU dem Daiunen und Zeigefinger, tag- 
aus, tagein den Meissel haltenden Feilenhauern das Moment ubermassiger 
einseitiger Anstrengung neben der Bleivergiftung eine nicht geringe Kolle 
spielt, ist um so eher anzunehmen. a Is eine zwar nicht identische 9 aber doch 
dhnliche degenerative Atrophie der kleinen Handmuskeln bei Helen Menschen 
von Remak, Mobius . mir selbst u . A . gesehen worden ist, bei Menschen. welche 
eben durch ihren Beruf gezwungen waren, diese Muskeln im Uebermass 
anzustrengen, ohhe dass sie je mit Blei in Beriihrung gckommen waren. 

Weitergeht aus meinen und den Beobachtungen anderer hervor, 
dass auch bei Feilenhauem, welche den Hammer, mit dem sie die 
Feilen bearbeiten, mit der rechten Hand fiihren, sich fast regelmassig 
eine ausgepragte Beteiligung der Strecker der rechten Hand und 
Finger vorfindet, derselben Hand, welche auch bei den den Pinsel 
fiihrenden Malern angestrengt wird. Diese rechte Hand wird sogar 
noch in demselben Grade mehr belastet und angestrengt, als ein 
schwerer Hammer bedeutendere Kraft zu seiner Erhebung und 
Hantierung erfordert, als der um so vieles leichtere Pinsel des 
Malers. 


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Bernhardt, Der Anteil der Funktion 


Ich schliesse diese meine Besprechung der Feilenhauerlah- 
mungen mit den Worten, die mein einstiger Schuler, Herr 
Dr. Leichtentritt, am Ende seiner Arbeit ausgesprochen hat. 

In einem Referat uber den von Prof. Bernhardt gehaltenen 
Vortrag gibt Mobius (Schmidts Jahrbficher 1887, S. 250) selbst zu. 
dass sein Ausspruch: Bei den Feilenhauem erkranken vorwiegend 
oder ausschliesslich die Muskeln des linken Daumens, etwas zu 
stark gewesen sei. Auch bestatigt er die Behauptung Bernhardts . 
dass nur sein (Mobiv^) erster Fall ganz einwandsfrei ist; ftigt aber 
auch hinzu: seine eigenen tibrigen Falle und die Bernhardts zeigten 
doch mindestens, dass der linke Daumenballen bei Feilenhauem 
auffallend oft erkranke. Auch Bernhardt ist, ffigt Leichtentritt hin¬ 
zu, wie seine eigenen und die von mir in dieser Arbeit mitgeteilten 
Beobachtungen zeigen, wohl geneigt, der schon frfiher gemachten 
Angabe, dass bei Bleilahmungen die zumeist angestrengten Muskeln 
besonders leicht erkranken, zuzustimmen. Aber gerade ftir die 
Daumenballenmuskeln der Feilenhauer scheint eben, wie Bernhardt 
gezeigt hat, diese an sich ganz plausible Annahme trotz der dankens- 
werten Anregung von Mobius noch nicht durch die Tatsachen 
sicher festgestellt. 

Ich muss hier wiederholen, dass es mir nicht angenehm war. 
diese Dinge wieder vorzubringen. Ich habe es nur getan, um 
einem unparteiischen Leser es zu ermoglichen, den Wert des 
Telekyachen Ausspruches zu bemessen, der behauptet, dass die 
von mir (und von meinem Schfiler Leichtentritt) publizierten Falle 
mit Ausnahme eines einzigen eine auffollende Mitbeteiligung der 
Muskulatur des linken Daumens zeigen. Gerade das Gegenteil 
war und ist der Fall. 

Und wie steht es mit dem von Teleky neuerdings in seiner Arbeit 
beigebrachten Fallen von Feilenhauerlahmungen ? Beweiskraftig 
ist vielleicht nur der dritte Fall, aber auch dieser ist durch die 
gleichzeitige Beteiligung der Daumenballenmuskeln rechts kein 
reiner. Im ersten Falle Telekys gab der 38 Jahre alte Feilenhauer 
an, er sei vor einem Jahre an Bleilahmung erkrankt. Teleky sah 
ihn damals fltichtig mit einer Atrophie der Daumenballen- 
muskulatur und der Muskulatur des linken Interossealraumes 
sowie Extensorenparese; es seien die Muskeln an beiden Daumen 
weg gewesen. Heule kann nicht mit Sicherheit eine Atrophie 
konstatiert werden. Arbeitet wieder als Feilenhauer. 

Der zweite Fall Telekys betraf einen 28 Jahre alten Mann. 
Seit 10 Jahren alljahrlich 1—2 mal Bleikolik. Vor einem Jahre 
begann die Lahmung am linken Daumen. Das Interphalangeal- 
gelenk gab nach; nach einem Monat sank die rechte Hand in Beuge- 
stellung. Die Lahmungserscheinungen dauerten ca. 5 Monate. 
Heute besteht nur eine geringe Schimche der Extensoren. 

Der dritte Fall Telekys betraf einen 26 jahrigen Mann, der 
1899 mehrfach Bleikolik durchgemacht hatte; vom Jahre 1900 
an sollen die Magenbeschwerden nachgelassen, sich aber Schwache 


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ail der Entstehung von Nervenkrankheiten. 


105 


und Abmagerung in den Handen bemerkbar gemacht haben. 
Er bot folgende3 Bild: 

Rechte Hand: Hand- und Fingerstreckung unmoglich. 
Opposition und Abduktion des Daumens erhalten, Adductor poll, 
brevis und Inteross. primus atrophisch. Fingerstrecker reagieren 
sehr wenig auf faradischen, etwas besser auf galvanischen Strom, 
rechts schlechter als links. Nur der Abd. poll, longus reagiert 
etwas prompter. 

Links Hand: Starke Parese der Finger-, massige der Hand- 
strecker. Endphalangen der Finger gebeugt. Lange Streck- 
muskeln sowie Muskulatur samtlicher Zwischenknochenraume 
atrophisch. Daumenballen abgeflacht, Opposition des Daumens 
nicht, Abduktion nur wenig moglich. Faradische Erregbarkeit 
der Handstrecker und des Abd. poll, longus herabgesetzt: galva- 
nischer Strom lost trage Zuckung aus. 

Ich iiberlasse es dem Leser, zu entscheiden, ob diese drei von 
Teleky mitgeteilten Falle von Feilenhauerlahmung in dem von dem 
Autor urgierten Sinne so beweiskraftig sind, dass er sie meinen 
Beobachtungen gegeniiberzustellen versuchen konnte. 

Der in der Pathologie der Bleilahmungen so erfahrene E. Remak 
sagt in seinem Werke iiber Neuritis und Polyneuritis (Wien 1900, 
Holder): ,,Vorausgegangene professionelle Inanspruchnahme der 44 
,,Handmuskeln kann ihre vorzugsweise Erkrankung veranlasst“ 
,,haben. Diese Annahme drangte sich E. Remak 1879 und Mobius''' 
,,1886 auf, alsersterer ineinem, letzterer in drei Fallen atrophische“ 
,,Lahmung nur von Handmuskeln des Daumens (Opponens, Flexor 44 
,,brevis, Adductor, Interosseus primus) hier ohne Extensorenlah- 44 
,,mung an der linken Hand von Feilenhauem fanden, die bei der 44 
,,Arbeit andauemd den Meissel zwischen Daumen und Zeige- 44 
,,finger zu halten haben. Freilich vermochten Bernhardt, Leichten -“ 
,,tritt diese besondere Feilenhauerlokalisation nicht zu bestatigen. 44 
,,Immerhin habe ich auch in anderen Fallen, in welchen friih- 44 
,,zeitig die Handmuskeln erkrankten, den Eindruck gehabt, 44 
,,als wenn professionelle Ueberanstrengung dabei mitspiele. 44 
,,Schwere Entartungsreaktion des linken Daumenballens eines 44 
,,Schriftgiessers beobachtete East ohne Lahmung desselben. 44 

Wenn ich demnach auch heute noch die besondere Lokalisation 
der Bleilahmung bei Feilenhauem nicht als erwiesen anerkennen 
kann, so muss ich doch andererseits betonen, dass ich, wie Moritz 
Meyer, E. Remak, Mobius, Edinger auf dem Standpunkt stehe, 
dass professionelle Ueberanstrengung bei toxischen Lahmungen 
und speziell bei Bleiparalysen einen sehr grossen Einfluss auf die 
Lokalisation des krankhaften Prozesses in den einzelnen Muskel- 
gebieten gewinnen kann. Schon Mobius betonte, dass im Durch- 
schnitt die Strecker der Finger und der Hand die am meisten an- 
gestrengten Muskeln sind, wie dies Edinger und Teleky nachzu- 
weisen sich angelegen sein liessen. Ganz besonders muss ich hier 
die Untersuchungen Telekys hervorheben, der, wahrscheinlich 
einer Anregung von Mobius nachgebend, es sich zur Aufgabe ge- 


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106 


Bernhardt, Der Anted der Funktion 


stellt hat, die Kraft der einzelnen Muskeln speziell fiir den mensch- 
lichen Vorderarm zu bestimmen. Ich hebe die auch von Telelcy 
in der Einleitung zu seiner Arbeit zitierten Worte Mobius' noch 
einmal hervor, die dieser ausgezeichnete, fiir die Wissenschaft 
leider zu friih dahingegangene Forscher in der oben zitierten Arbeit 
ausgesprochen hat. Mobius sagte: ,,Eine sichere Beantwortung“ 
,,der Frage, ob bei Bleilahmungen oder bei Lahmungen infolge“ 
„chronischer Vergiftung iiberhaupt die am meisten angestrengten“ 
,,Muskeln zuerst erkranken, wiirde nur moglich sein, wenn wir“ 
,,wiissten, welcbe Muskeln im gewohnlichen Leben, d. h. bei der“ 
„Mehrzahl der Hantierungen, am meisten angestrengt werden." 
„Die Anstrengung eines Muskels ist offenbar ausgedruckt durch“ 
,,das Verhaltnis der Leistung zur Kraft; wenn auch ein Mass'* 
,,der Leistung schwer zu finden sein diirfte, so wiirde sich doch“ 
,,vielleicht eine Schatzung derselben fiir eine Reihe von Tatigkeiten" 
,,durchfiihren lassen. Zunachst aber miisste die Kraft der einzelnen" 
,,Muskeln bestimmt werden. Diese Aufgabe ist, soviel mir (Mobius)" 
,,bekannt, fiir die Muskeln des menscblichen Vorderarmes noph" 
,,nicbt durchgefiihrt." Diese Arbeit hat Telelcy in verdienstlicher 
Weise untemommen und mit grossem Fleisse ausgefiihrt. 


So sehr ich, wie gesagt, von der Mobius-Edingerschen Idee der 
Erkrankung einzelner iiberangestrengter Muskeln bei vergifteten, 
speziell bleivergifteten Individuen eingenommen bin, so kann ich 
doch gerade im Interesse der Sache und in der Hoffnung auf weitere 
Aufklarung gerade wie bei der Feilenhauerlahmung einige Punkte 
nicht mit Stillschweigen iibergehen, die anscheinend dieser be- 
stechenden Theorie nicht entsprechen resp. ihr durchaus zuwider- 
laufen. Ich habe im Jahre 1900 (Berl. klin. Wochenschr. No. 2) 
zwei bei Malern beobachtete Falle von Bleilahmung veroffentlicht, 
die sich dadurch auszeichneten, dass im ersten Falle die Muskeln 
der linken Hand iiberhaupt frei waren und rechts ebenfalls die 
radialisinnervierten Muskeln durchaus normale Verhaltnisse zeigten 
(auch elektrisch). Dagegen bestand rechts Lahmung und Atrophie 
des ersten Zwischenknochenmuskels und der Daumenballen- 
muskeln. Die Muskeln zeigten fast ausnahmslos Entartungs- 
reaktion. Trotz genauen und wiederholten Nachfragens konnte eine 
besondere Ueberanstrengung der erkrankten Muskulatur nicht er- 
wiesen werden: Pat. hatte den Malerpinsel nicht mehr und nicht 
anders gehandhabt wie alle seine Kollegen. Und in einem zweiten 
Falle, ebenfalls einen Maler betreffend, waren bei vollkommener 
Unversehrtheit aller Muskeln der rechten oberen Extremitat nur 
die rechtsseitigen Mm. interossei von Lahmung, Atrophie und Ent- 
artungsreaktion betroffen, wahrend die dem rechten Radialis- 
gebiet angehorigen Muskeln in ihrer Tatigkeit sowohl wie in ihrer 
elektrischen Erregbarkeit intakt waren. 

Ich fiihre bier noch den von E. Remak beschriebenen Fall 7 
aus seiner Arbeit vom Jahre 1879 an von einem Klempner, der mit 


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an der Entstehung von Nervenkrankheiten. 


107 


einer aus Blei und Zinn bestehenden Lotmasse gearbeitet und als 
erstes Zeichen einer Bleilahmung eine leichte Abmagerung des 
rechten Daumenballens und ersten Zwischenknochenraumes, eine 
motorische Schwache der Beuger der drei ersten Finger und eine 
nicht ganz 1 cm betragende Abmagerung des rechten Vorderarmes 
im Vergleich zur linken Seite darbot. 

Ein weiterer ganz exzeptioneller Fall ist der 1902 von 
G. Roster (Munch, med. Wochenschr., No. 16) beschriebene. 

Er betraf einen 27 jahrigen Schriftfletzer, welcher wiederholt 
an Bleikolik und seit 12 Jahren an Arthralgie gelitten hatte, 
ausserdem Zittern und Arteriosklerose darbot. Als einziges Symptom 
der .Bfetlahmung bestand eine Paralyse und Atrophie der Mm. inter- 
ossei und lumbricales beider Fiisse, besonders des rechten. An der 
Muskulatur des Oberschenkels, an den Armen und Handen bestand 
keine Stoning; ihre Muskeln waren fur normale Stromstarken 
prompt erregbar. Statt des sonst bei den Bleilahmungen der 
Beinnerven (an sich schon ein aussergewohnliches Vorkommnis) 
meist zu beobachtenden Peronealtypus ist in diesem Falle der 
Prozess in den isoliert erkrankten Mm. interossei und abducentes 
hallucis beider Fiisse lokalisiert. 

Ueber die Bleilahmung bei Kindern sind von verschiedenen 
Autoren, u. a. auch von mir (Salkowski- Festschrift, Berlin, 
A. Hirschwald, 1904) Beobachtungen mitgeteilt, und von fast alien 
ist die friihe Beteiligung der bei Erwachsenen im Durchschnitt 
recht selten befallenen unterenExtremitaten an der Paralyse hervor- 
gehoben worden. Den nicht allzu reichlichen Angaben aus der 
Literatur, die ich selbst beigebracht habe und den neuerdings dureh 
Teleky vermehrten, hierhergehorigen Nachweisungen mochte ich 
zunachst noch eine neue Mitteilung A. J. Turners anfiigen, die 
dieser Autor im Brit. med. Journ. 1909, 10. April, veroffentlicht hat. 
Er berichtet iiber bei Kindern vorkommende Bleivergiftungen aus 
Brisbane in Australien: 

„Die Ursache ist in der Farbe der meist aus Holz gebauten Wohn-" 
,,hauser zu suchen; sie sind mit Bleiweiss angestrichen. Mit demselben" 
,.Material sind auch die Gelander der Veranden, auf denen die Kinder" 
.spielen, gefarbt. Die blaue Zahnfleischlinie imd das Vorkommen von“ 
,,Blei im Urin findet man schon in einem Stadium, wo noch keine aus-" 
..gesprochenen Krankheitssymptome vorhanden. Leibschmerzen und" 
„Stuhlverstopfungen finden sich wie bei den Vergiftungen Erwachsener." 

Charakteristisch ist, dass die Kadialislaiimung kaum bei Kindern unter 
12 Jahren vorkommt, dass hingegen die Lahmung des Tibialis ant. und des 
langen Zehenstreckers die ersten Lahmungssymptome bilden. Auch die 
Peronei sind ergriffen; die Paralyse der Strecker der Hand und der 
Mm. interossei fehlt ebenfalls nicht. Muskelschmerzen sind htiufig. Bei 
fruher Entfernung der Kinder von der Quelle der Vergiftung tritt (lenesung 
ein; iibrigens erholen sich die Handmuskeln erst in langerer Zeit. als die 
der Beine. Gefahrlieh sind die seltenercn Lahmungen des Zwerchfells und 
des Herzens. Anamie, voriibergehende Albuminuric, eel tenor interstitielle 
Nephritis kommen vor. Eklamptische Anfii'le nehmen oft einen lebens- 
gefahrlichen Charakter an. Sehr oft findet man Neuritis optica mit eventuellem 
Ausgang in vollkommene Erblindung. 1st neben der Neuritis noch Abdueens- 
lahmung vorhanden. so ist der Ausgang; weniger fatal, als wenn der 


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108 Bernhardt, Der Anteil der Funktion 

Oculomotoriuf ergriffen ist; dann tritt fast ausnahmslos partielle Erblindung 
ein. Interesaant ist die Tatsache, dass Turner bei Kindern mit Opticus- 
neuritis niemals Gliederlahmungen beobachtet hat. Beide Formen der 
Erkrankung kommen oft in einer Fa mi lie vor. Die prophylaktische Therapie 
beeteht nach Turner in dem Ersatz des gefahrlichen Bleianstrichs durch den 
mit ZinkweisB. 

Die Meinung der Autoren (Remak, Bernhardt, Teleky), dass 
die Pradilektion der Bleilahmung bei Kindern fiir die unteren 
Extremitaten auf die starkere Aktivitat der unteren vor den 
oberen Gbedmassen bei den nicht arbeitenden Kindern zu beziehen 
sei, tvird auch durch diese Tumersche Beobachtung gewdssermassen 
bestatigt, insofem nach diesem Autor eine Radialislahmung kaum 
bei Kindern unter 12 Jahren vorkommt. Es ist doch aber auch 
andererseits nicht zu verkennen, dass in fast alien Mitteilungen 
fiber Bleilahmungen bei Kindern zwar das bei Erwachseneo so 
seltene Ergriffensein der unteren Extremitaten hervorgehoben, 
dass aber doch die Beteiligung der oberen Extremitaten auch bei 
Kindern weit unter 12 Jahren kaum in einem Falle vermisst wird. 

Nimmt man dazu noch die Mitteilung von Turner iiber die 
Beteiligung auch von Himnerven (Opticus, Augenmuskelnerven) 
der Nieren etc., so drangt sich doch unwillkiirlich die Vermutung 
auf, dass gerade der kindliche Organismus befahigter erscheint, 
den Giftstoff eher, schneller und intensiver aufzimehmen, als dies 
bei Erwachsenen der Fall ist. Auch die Kinder, die wie Anker und 
Oppenheim es wahrscheinlich zu machen versuchen, an angeborener 
Bleilahmung leiden, zeigten Beteiligung des Radialisgebietes. In 
meiner oben zitierten Arbeit (tfal&oa’sK-Festschrift) sagte ich 
dariiber, was ich hiermit wiederhole: Ich wiirde mich der Meinung 
Remaka (oben von mir angegeben) unbedingt anschliessen, lage 
nicht in den sogenannten angeborenen Bleilahmungen, die sofort 
nach der Geburt an den unteren Extremitaten gesehen worden 
sein sollen, ein schwenviegendes Argument gegen diese Annahme 
vor. Aber die Tatsache des Angeborenseins einer Bleilahmung ist 
bis heute noch nicht mit der uninschensiverten Sicherheit festgestettt. 

Anhangsweise mochte ich hier noch kurz auf meine Arbeit 
aus dem Jahre 1891 (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk.) ,,Ueber 
die ohne emeute Intoxikation rezidivierenden Koliken und Lah- 
mungen bei Bleikranken“ hinweisen, die im wesentlichen mit den 
Auslassungen Edingers (1. c., S. 33) ubereinstimmt. 


Zum Schluss will ich noch kurz eine Beobachtung iiber eine 
durch bestimmte berufliche Ueberanstrengung bestimmter Muskel- 
gruppen resp. Nervengebiete entstandeneLahmung mitteilen. Ueber 
derartige ,,Beschdltigungsldhmungen u liegt schon eine grosse An- 
zahl von Beobaehtungen vor (man vergl. die Arbeiten, besonders 
von E. Remak und von mir selbst). Nur eine Art von Beschaftigungs- 
lahmung, die sogenannte Kellnerldhmung (Waiter‘s Paralysis) hat 
bisher nur wenige kasuistische Mitteilungen aufzuweisen. Wahrend 
es in dem von mir in der Festschrift fiir Leyden (Berlin 1902) be- 
schriebenen Fall die radialisinnervierten Extensoren der linken 


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an der Entstehung von Nervenkrankheiten. 


109 


Hand waren, die durch die Beschaftigung des Kellners paretisch 
geworden waren und ahnlich auch die Strecker und Supinatoren 
der linken Hand im Runge schen Fall bei einem Kellner gelitten 
hatten, konnte ich neuerdings einen 41 jahrigen Kellner beobachten, 
bei dem durch seine Beschaftigung eine lahmungsartige Schwache 
der ulnarinnervierten Muskeln seiner linken Hand eingetreten war. 
Er hatte in einem sehr frequentierten Restaurant taglich viele 
mit Speisen gefiillte Teller mit seiner linken Hand zu halten und 
zu prasentieren und sehr haufig 5—6 Glaser Bier mit derselben Hand 
herbeizubringen. 

Das erste Spatium interosseum war an der linken Hand ein- 
gesunken; der vierte Finger stand vom fiinften, der dritte vom 
vierten ab; das Spreizen und Aneinanderbringen der Finger kam 
nur miihsam zustande. Der vierte und fiinfte Finger standen in 
Krallenstellung. Der linke Kleinfingerballen war diinn, im deut- 
lichen Gegensatz zum rechten. Die Adduktion des linken Daumens 
an den Zeigefinger kam nur schwach und wirkungslos zustande: 
der dynamometrische Druck der linken Hand war gegen rechts 
ungemein schwach (10 gegen 75). Gegenstande, die zwischen dem 
linken Daumen und Zeigefinger festgehalten werden soil ten, konnten 
mit der grijssten Leichtigkeit, wieder im Gegensatz zu rechts, 
entfernt werden. Die elektrische Untersuchung wies das Bestehen 
einer sogenannten partiellen Entartungsreaktion in dem paretischen 
Nerv-Muskelgebiet nach. 

Auch hier also war die, wie es scheint, bisher noch nicht 
beschriebene Art der Kellnerlahmung (Ulnarisgebiet) an der linken 
Hand, derjenigen, mit der die Kellner besonders oft und angestrengt 
zu agieren haben, ausgepragt. 

Es ist dies der einzige Fall dieser Art, den ich bis jetzt bei 
einer ungemein grossen Anzahl von Kellnem, die ich jahraus 
jahrein zu beobachten und zu behandeln habe, beobachten konnte. 
Unser Pat. war nie syphilitisch gewesen und hatte auch, seiner 
Angabe nach, nur in sehr massiger Weise Bier getrunken. Ob 
nicht doch eine gewisse Predisposition durch den Alkoholgenuss 
auch bei ihm vorauszusetzen war, will ich dahingestellt sein lassen. 
Jedenfalls habe ich einen derartigen Fall, ich kann wohl sagen, 
unter Hunderten von Kellnem noch nicht beobachtet. Dass nicht 
mehr Kellner an Lahmungen ihres Radial- oder Ulnargebietes 
erkranken, mag wohl daher kommen, dass nicht alle in so intensiver 
Weise bei der Aufwartung der Gaste iiberanstrengt werden; 
es mag dies wohl eine Ausnahme sein, resp. sich bei anderen, in ahn- 
licher Beschaftigung stehenden Individuen, die robust und kraftig 
genug sind, um die beschriebenen Anstrengungen leichter zu er- 
tragen oder zu uberwinden, sich als eine uberanstrengende Schadi- 
gung nicht geltend machen. Ich betone zum Schluss, dass die von 
den Kellnerlahmungen betroffenen Individuen, soviet ich weiss 
samtlich Rechtshander waren und ihre Lahmungen nur auf die 
Ueberanstrengung ihrer linken oberen Extremitat zuriiekfuhrten. 


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no 


Sano , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


(Aus dem anatomischen Laboratoriurn der psychiatrisehen und Nerve n- 

klinik der Charity.) 

Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra, 
des Corpus Luysii und der Zona incerta. 


Von 

Dr. TORATA SANO. 

(Hierzu Tafel XI—XU.) 

Ueber die Substantia nigra Soemmerringi und das Corpus 
Luysii liegen Beschreibungen hervorragender Forscher vor. Trotz- 
dem sind noeh viele Punkte unaufgeklart geblieben, auch sind 
viele Saugetiereordnungen mit Bezug auf diese beiden Kerne noch 
nicht untersucht worden. Daher habe ich auf Anregung und mit 
liebenswurdigster Unterstutzung vom Herrn Geheimrat Ziehen 
versucht, im Folgenden eine vergleichend anatomische Beschreibung 
dieser Kerne zu geben, und zwar habe ich mich in dieser ersten 
Abhandlung ganz auf die Untersuehung von Pal-Serien beschrankt. 

Bevor ich an die Beschreibung dieser Gebiete herangehe, sei iiber 
das Historische und die heutige Auffassung der beiden Gebiete berichtet 1 )- 
Es ist dies um so notwendiger. als die in Frage kommenden Bezeichnungen 
durchaus nicht stets in dem gleichen Sinne verwendet worden sind. Ich 
habe dabei zugleich auch einige Nachbargebiete beriicksichtigt, w r ie z. B. 
die Zona incerta, die ventralen Thalamuskeme und das Pedamentum 
laterale, welche zu dem Corpus Luysii und der Substantia nigra in engster 
Beziehung stehen. 

1. Substantia nigra. 

Die crate Beschreibung stammt von Vicq (TAzyr *). Die Bezeichnung 
Substantia nigra Soemmerringi ist daher eigentlich, wie iibrigens bereits 
von anderer Seite hervorgehobon worden ist, unrichtig. Vicq (TAzyr 
bezeichnet die Substantia nigra als locus niger crurum cerebri und bildet 
sie auf Tafel XXII seines grossen Werkes ab. Eine niihere Beschreibung 
wird nicht gegeben, doch ist seine Arbeit auch insofern interessant, als er 
bereits die Langsbiindel der Substantia nigra zu kennen scheint. Das Werk 
Vicq cTAzyrs stammt aus dem Jahre 1786. Erst 5 Jahre spater erwahnt 
Soemmerring die Substantia nigra kurz unter dem ihr von Vicq (TAzyr ge- 
gebenen Namen 3 ). 

Gall gibt in seinem Hauptwerk keine eingehende Beschreibung, bildet 
aber auf Tafel XII die Substantia nigra ziemlich naturgetreu ab und be¬ 
zeichnet sie als „Substance noiratre du cerveau 44 4 ). 

*) Die Abhandlungen von Jacobsohn und Bauer waren bei Abschluss 
moiner Arbeit (Weihnachten 1908) noch nicht erschienen. 

2 ) Vicq TAzyr , Traite d'anatomie et de physiologic, Tome premier, 
1786—1790, Tafel XXII. 

3 ) Soemmerring , Hirnlehre und Nervenlehrc. Frankfurt a. M. 1791. 
S. 37, § 45. 

*) GaU et Spurzheim , Anatomie et physiologic du systeme nerveux 
en general et du cerveau en particulier, avec des observations sur la possi¬ 
bility de reconnoitre plusieurs dispositions intellectuelles et morales de 
riiomme et des animaux, par la configuration de leurs tetes. Paris 1810. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona ineerta. Ill 


Die erste eingehendere Beschreibung der Substantia nigra verdanken 
wir Burdock , der sie folgendermassen schildert: ,,Die schwarzgraue Schicht 
(Stratum nigrum) besteht aus einer Modifikation der grauen Substanz 
und ist besonders nach hinten und innen sehwarz oder vielmehr violett, 
nach vorae und aussen mehr braun. Sie ist nach vorne gewolbt, nach hinten 
ausgehohlt und zeigt sich daher auf dem wagerechten Durchschnitte als ein 
Halbkreis, der sich hinter beiden Himschenkeln erstreekt. Sie fangt iiber 
der Briicke an, wo die Himschenkel zu divergieren beginnen, und bildet 
den an diesen anliegenden vordern Teil der Haubo. Ihre aussem Rander 
liegen namlich in der Kerbe oder der Einschniirung zwischen Schenkehi 
und Haube; ihre vordere Wolbung liegt hinter dem hintem Blatte des 
inneren Hiilsenstrangs, und ihre hintre Hohlung umfasst die vordre Flache 
der Haube; nach innen aber zieht sie sich ununterbrochen durch die Mittel- 
linie heriiber und bildet den Boden des Einschnitts, welcher an der vordern 
Flache zwischen beiden Grosshimschenkeln bleibt. Sie enthalt Blatter, 
welche ebenso gestellt sind als die der Himschenkel, und scheint zum 
vordern Teil des Olivenkernstranges zu gehoren; wenn man sie von oben 
nach unten abschalt, kommt man mit der Faserung in die Oliven" 1 ). 

Viel spater erwahnt Luys die Substantia nigra nur kurz unter dem 
Namen locus niger de Soemmerring. Es ist mir sehr wahrscheinlich, dass 
die jetzt iibliche Bezeichnimg ,,Substantia nigra Soemmerringi“ auf diese 
Stelle im Luy *schen Werk zuriickgeht 2 ), da dieses sehr verbreitet gewesen 
ist. Er erwahnt dabei, dass die Zellen der Substantia nigra sehr oft polygonal 
und mit mehreren Fortsatzen versehen sind und starker farbbar und pig- 
mentiert sind. 

Meynert betrachtet die Soemmerringsche Substanz als drittes Ursprungs- 
ganglion des Himschenkelfusses, und zwar ist sie nach seiner Auffassung 
nur an der Bildung des mittleren und inneren Areals des Grosshirnschenkel- 
fusses beteiligt. 3 ) Von der zentralen Seite soli in ihr ein diinner Stabkranz- 
facher endigen. Peripheriewarts entspringen aus ihr Biindel, welche die 
inner© und mittlere Region des Himschenkelquerschnittes mit einem Netz 
durchflechten. Dies Netz enthalt z. T. vorgeschobene pigmentierte Zellen 
der Substantia nigra, z. T. Zellen eines sehr kleinen Kaubers 4 ). 

Im Jahre 1874 beschreibt Meynert 6 ) eine feinbiindelige, den ganzen 
Strahlenbogen der inneren Kapsel umfassende Schicht, welche nach dem 
Himschenkel konvergiert und in das vorderste Stratum der Haube auslauft. 
Dieser Stabkranzfacher soli sich hier mit dem flachenhaften, rinnenformigen 
Ganglion der schwarzen Substanz Soemmerrings verbinden, und aus dem 
Ganglion sollen seine Biindel sich dann nach abwarts fortsetzen. Die Biindel 
aus der Soemmerringschen Substanz scheinen sich mit den Schleifenbiindeln 
zu verweben. Wahrscheinlich enden die Biindel des vordersten Stratums 
der Haube in den Zellmassen, die innerhalb der oberen Briickenhalfte der 
Schleifenschicht allerorts eingestreut sind. Das vorderste Haubenstratum 
wird von Meynert auch als „Pedunculus substantiae nigrae“ bezeichnet 5 ). 

Auch in seiner Psychiatric 4 ) spricht Meynert von einem Stratum 
intermedium, das den Langsbiindeln der Substantia nigra der neueren 
Autoren entspricht. Er nimmt an, dass das Stratum intermedium seine 

1 ) Karl Friedrich Burdock, VomBaue und Leben des Gehirns. Leipzig 
1822. Bd. 2. S. 101. § 164. 

*) J. Luys, Recherches sur le system© nerveux cerebrospinal, sa 
structtire, ses fonctions et ses maladies. Paris, J. B. Bailliere et fils, 1865. 
S. 152. 

3 ) Strickers Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig 1872. 
Bd. 2. S. 730. 

4 ) Meynert verweist hier auf eine Stelle seiner Arbeit in Strickers 
Handbuch, S. 754, Z. 13 v. o. Ich finde an dieser Stelle keinen Hinweis 
auf den Pedunculus substantiae nigrae. 

4 ) Skizze des menschlichen Himstammes etc. Arch. f. Psychiatric. 
1874. Bd. 4. S. 390. 

•) Meynert, Psychiatrie. Wien 1884, S. 97 mit Fig. 40 und 41 u. S. 124. 

Monateachrlit flir Psychiatrie ana Neurolo?ie. 3d. XXVII. Heft 2. 8 


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112 


S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


Fasem aus dem Linsenkem bezieht und in die Vorderstrange des Riicken- 
marks gelangt. Flechsig 1 * * ) vermutet 1876, dass der Pedunculus substantiae 
nigrae Meynerta mit den Stillingschen Langsbiindeln vom Fuss zur Haube 
identisch sei. 

In seiner grossen Veroffentlichung iiber die Haubenregion des Menschen 
und der Saugetiere gibt Forel *) auch eine ausfiihrliche Darstellung der 
Substantia nigra. Ich fiihre hier nur folgende Stelle wortlich an s ): „Diese 
Formation orstreckt sich nach oben bis nahezu zur Gegend des Corpus 
mamiilare, tritt aber dabei in immer nahere Beziehungen zurn Himschenkel- 
fuss. Die zuerst breiter gewordene. vorhin erwahnte Schieht unbestimmter 
grauer Substanz, in der die Pigmentzellen liegen, und welche auch viele 
kleinere, stets pigmentlose Nervenzellen enthalt, bekommt namlich eine 
immer grossere Anzahl Fasern, wird wieder allmahlich kleiner, erhalt dorsal 
eine scharfo Grenze und wird zugleich immer mehr dem am meisten medial 
gelegenen dorsalen Teil des Himschenkels einverleibt. Bei alien Saugetieren 
ist die Substantia nigra, beziehlingsweise sind deren aquivalente Schichten 
an derselben Stelle, nur nach oben zu weniger scharf begrenzt, vorhanden. 
Aber beim Menschen allein enthalt sie Pigmentzellen, schon beim Affen 
(Macacus, Hapale) nicht mehr.“ Den von Meynert so benannten Pedunculus 
substantiae nigrae konnte Forel nie sehen, ebensowenig beim Menschen 
als bei Tieren. Die von Meynert angegebonen Verbindungen des Pedunculus 
substantiae nigrae halt Forel fur nicht bewiesen. lm allgemeinen ist er 
geneigt, die Substantia nigra nicht mit den grossen Himganglien, sondem 
mit der Substantia ferruginea in Parallele zu setzen. 

Henle gibt an, dass die Substantia nigra in sagittaler Richtung sich 
v<^m vorderen Rand der Briicke bis iiber den hinteren Rand der Corpora 
candicantia erstreckt und im Frontalschnitt eine maximale Hohe von 2 bis 
3 mm hat; ihre dunkel pigmentierten Zellen sollen von sehr verschiedener 
Form und etwas geringerer Grosse als die Zellen des Locus coeruleus sein 4 ). 

Schwalbe 5 6 ) identifiziert den Pedunculus substantiae nigrae Meynerta 
mit den Biindeln vom Fuss zur Haube, die Meynert ebenfalls beschrieben 
hatte imd die im Gebiet der Briicke medullarwarta vom Fuss zur Haube 
iibertreten sollen. 

Wernicke*) nimmt an, dass die Substantia nigra zahlreiche Langsfasern 
in den Fuss entsendet und ihm so ein streifiges Aussehen verleiht. Die 
zahlreichen Faserquerschnitte im Gebiet der Substantia nigra leitet Wernicke 
von Zuziigen aus dem Linsenkern ab. Die letzteren betrachtet er als die 
zentrale Faserung der Substantia nigra und die dem Fuss zuzielienden 
Langsfasern als ihre indirekte Fortsetzung. Am oberen Rand der Substantia 
nigra beschreibt er einen schwach markweissen Saum, ,,eine Art von Mark- 
kapsel der Substantia nigra“. Er akzoptiert weiterhin die Meynerta che 
Aiiffassung der Substantia nigra als Ursprungsganglion von Fasem des 
Himschenkelfusses. Er stiitzt sich dabei namentlich auf die Tatsache, dass 
medullarwarta parallel mit der Abnahme der Substantia nigra der Umfang 
des Himschenkelfusses zunimmt. 

Aus Kahlers 7 ) Darstellung hebe ich nur hervor, dass derselbe ausdriick- 
lich betont, dass das Markfeld des Grosshimschenkels oral warts an Umfang 
veriiert, wahrend die Substantia nigra wachst. 


l ) Die Leitlmgsbahnen im Gehim und Riickenmark etc. Leipzig 1876. 
S. 337. 

*) Arch. f. Psychiatrie. 1877. Bd. 7 u. Gesamm. himanatom. Ab- 
handlungen. Miinchen 1907. S. 45. 

’) L. c. S. 109. 

4 ) J. Henle, Handbuch der Nervenlehre des Menschen. 1879. 2. Aufl. 
S. 279. 

5 ) Schwalbe , Lehrbuch der Neurologic. 1881. S. 621, 629, 643. 

6 ) Lehrbuch der Gehirakrankheiten. 1881. Bd. 1. S. 99 u. 104. 

7 ) In Toldta Lehrb. d. Gewebelehre. Stuttgart 1884. S. 249. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 113 

Mingazzini hat seine mikroekopische Untersuchung der Substantia 
nigra auf den Menschen beschrankt. Er gelangt zur Unterscheidung zweier 
Schichten, einer dorsalen und einer ventralen. Die erstere enthalt Pyramiden- 
zellen, die letztere atypische Zellen. Die Achsenzylinderfortsatze der 
Pyramidenzellen sollen haubenwarts aufsteigen. Die Achsenzylinder der 
atypischen ventralen Zellen sollen of ter lateral als ventral gegen den Fuss 
hinziehen und nur ausnahmsweise zur Haube. Zellen des 11. Golgischen 
Typus sollen nicht vorkommen 1 ). 

Durch Studien an Pal- und Golgipraparaten gelangt Amaldi zu der 
Anschauung, dass die Substantia nigra lm weiteren Sinne die Gegend, die 
sich vom Pes pedunculi um den Lemniscus medialis herumzieht und durch 
die Formatio reticularis bis zum Locus coeruleus erstreckt, umfasst und 
sich einerseits bis iiber den oralen Rand der Corpora mamillaria 
und andererseits bis in das Briickengebiet erstreckt. Auch behauptet er, 
dass die Substantia nigra mit dem Kern der lateralen Schleife zusammen- 
hangt, und rechnet zu ihr auch die dorsal von der medialen Schleife gelegene 
graue Masse. Da nun diese wieder durch pigmenthaltige Zellen der Formatio 
reticularis mit der Substantia ferruginea zusammenhangt, glaubt er eine 
,, topographische Einheit zwischen der Substantia nigra und der Substantia 
ferruginea" nachgewiesen zu haben. Dabei hebt er (ibrigens selbst Ver- 
schiedenheiten der Pigmentation zwischen beiden Gebilden hervor*). 

Nach Mirto *) gehoren die Zellen der Substantia nigra zu den Zellen 
des 1. Typus von Golgi. Ihre Axonen treten in die Haube ein, um hier wahr- 
scheinlich in zentripetale Fasem iiberzugehen. Mirto betrachtet die Sub¬ 
stantia nigra als ein abgesprengtes Stuck des Globus pallidus. Der 
Pedunculus substantiae nigrae ist also nicht mit dem Stratum intermedium 
identisch, sondem besteht aus den oben erwahnten, in der Substantia nigra 
entspringenden, in der Haube zentralwarts verlaufenden Fasem. Das Stratum 
intermedivun soli sich aus Fasem des hinteren Schenkels der inneren Kapsel 
zusammensetzen und weiterhin mit den anderen Fasem des Pes pedunculi in 
die Briicke gelangen. Ausserdem beschreibt Mirto Fasem, welche aus dem 
„medialen und ausseren" Abschnitt des Fusses durch die Substantia nigra 
in die Haube iibertreten sollen, um hier vielleicht in der Schleife spinalw&rts 
zu ziehen. Er scheint sie zu den Pyramidenfasem zu rechnen. Endlich 
sollen dieselben Fasem des Fusses auch kurze Kollateralen zur Substantia 
nigra abgeben. 

Nach Bechterew 4 ) steht die Substantia nigra vorzugsweise mit den 
„hinteren lateralen Stimwindungen imd den unmittelbar iiber der Fossa 
Sylvii befindlichen Rindengebieten" in Zusammenhang, vielleicht auch 
mit dem Nucleus cuneatus, und zwar durch einen Faserzug, der teils im 
lateralen Teil der Substantia nigra selbst, teils im Stratum intermedium 
Meynerts liegt. Ausserdem soil sie Fasem zur Haube und anscheinend auch 
zum Himschenkel spinal warts abgeben. Fraglos erscheinen ihm auch Be- 
ziehungen zur Schleife. 

Auf die pathologisch-anatomischen Befunde von Jelgersma , Werdnig , 
v. Monakow, Witkowshi u. A. kann hier nur hingewiesen werden. 


J ) Mingazzini , Sur la fine structure de la substantia nigra Soemmer- 
ringi. Archives italiennes de biologie, 1889, Bd. 12, S. 93—98 u. Mem. della 
R. Acc. dei Lincei Roma 1888, sowie neuerdings Monatsschr. f. Psychiatrie 
u. Neurol. Bd. 15. S. 345. 

*) P. Amaldi , Contributo all* anatomia fina della regione peduncolare 
et particolarmente del locus niger del Soemmerring. Riv. sper. di freniatria. 
1892. Vol. 18. S. 49. 

3 ) D. Mirto , Sulla fina anatomia della regione peduncolare e subtalamica 
nell* uomo — Nota preliminare. Rivista di Patologia mental© e nervosa. 
1896. S. 57. 

4 ) Bechterew , Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark. Leipzig 
1899, nam. S. 308 u. 511. 

8 * 


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S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatom ie 


Kolliker 1 ) beschreibt ais „Fasciculi longitudinales intermedii 44 die 
st&rkeren Langsbiindel in den lateralen Teilen aer Substantia nigra. Seine 
Bemerkung: ,,diesel ben scheinen mit dem lateralen Teile des Lemniscus 
medialis sich zu entwickeln 44 , ist nicht ganz eindeutig. 

Dejerine l ) gibt iiber die Substantia nigra nur ganz kurz an, dass ihre 
Fasem vorzugsweise aus dem oberen Teil der Rolandoachen Region stammen 
und das Stratum intermedium bilden. Er behauptet, dass diese Fasern nur 
zum Teil in der Substantia nigra endigen, zum Teil aber die Substantia nigra 
durohziehen und d&nn in die Haube eintreten. Hier sollen sie sich wahrend 
einer Strecke ihres Verlaufs der medialen Schleife anschliessen. Sie sind 
mit der Fussschleife Flechsigs (Schlesingers lateralen pontinen Biindeln), 
Dejerine# „pes lemniscus profond 44 identisch und sollen nach Dejtrine spater 
zur Pyramidenbahn wieder zuriickkehren. 

Ramon y Cajal 8 ) unterscheidet an Nisslpraparaten in der Substantia 
nigra zwei Zonen, eine untere zellarme und eine obere schmalere zellreiche. 
Am medialen Pol der letzteren hebt sich nochmals eine dichte Gruppe etwas 
grosserer Zellen ab. Die aus den Zellen beider Zonen entspringenden Fasern 
gelangen in gewelltem Verlauf dorsomedialwarts in die Haube 4 ). Bei der 
Maus konnte Ramon y Cajal sie bis zur hinteren Kommissur verfolgen. 

2. Corpus Luysii. 

Die ersie Beschreibung des Corpus Luysii findet sich in dem Haupt- 
werk von Luys . Ich fiihre seine Beschreibung wortlich an: „Ces fibres 
eff£rentes (namlich eine Gruppeder„fibres efterentesdes olives sup6rieiires“ 5 ), 
loin de se constituer en plexus reticules comme les prec&lentes, arrivent 
toutes, dans des directions vari6es, k la rencontre les unes des autres, s’ana- 
stomosent r^ciproquement, et constituent bientot, par leur agglomeration et 
leur intrication intime, un nouvel amas de substance grise special, dispose 
sous forme de bandelette semi-lunaire, qui devient a son tour un foyer de 
dissemination d’une nouvelle generation d'elements nerveux. — Cette 
bandelette accessoire de 1’ olive superieure form6e ainsi par le groupement 
d’une portion de ses fibres efferentes, se presente sous 1’aspect d’un amas 
de substance grisatre, dispose sous forme lineaire, renfle dans sa portion 
mediane, et attenue a chacune de ses extremites: elle r6pond en arriere et 
en dedans, k l’irradiation des fibrilles venues de 1’olive superieure correspon- 
dante et en dehors, k la concavite des fibres spinales ascendantes, disposees 
(ainsi que nous l’avons indiqu6 dej a, au moment ou elles plongent dans la 
substance grise du corps strie) sous l’aspect de trois cones emboit4s; sa 
situation est telle, par rapport a 1’ensemble des fibres spinales ascendantes, 
qu’elle coupe leur direction suivant un plan transversal, et que sa portion 
renfiee, qui est un foyer d’irradiations d’un nombre inf ini de fibrilles jau- 
natres, regarde directement celles des fibres spinales qui forment 1’arcade la 
plus interne, et qui se trouvent 6talees, a ce moment de leur parcours, suivant 
une ligne courbe continue. — La composition 616mentaire du tissu de la 
bandelette accessoire presente de grandes analogies avec celle des olives 
sup^rieures. II est dense et coherent, et d’une coloration blanc jaunatre en 
g£n£ral. Les fibrilles nerveuses, ainsi que les cellules, sont toutes tree- 
difficiles a isoler. Ces dernidres, dont le volume et l’aspect rappellent assez 
bien les caract^res propres dee cellules des corps olivaires, sont aussi quelque- 
fois tres-fortement pigment4es. Leurs prolongements, qui sont en g^n^ral 


x ) Kdlliker , Handb. d. Gewebelehre. 1893. S. 225 u. Fig. 460. 

*) Dejerine , J., Anatomie dee centres nerveux. Paris 1901. Bd. 2. 
S. 81 u. 51. 

•) Ramon y Cajal , Textura del sistema nervioso del hombre y de los 
vertebrados. 1904. S. 561. Fig. 493, 508 u. 509. 

4 ) Irrtiimlich identifiziert Ramon y Cajal diese Fasern mit dem 
Pedunculus substantiae nigrae. S. 225. Fig. 460. 

*) Als „01ive superieure 44 bezeichnet Luys den roten Kern. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 115 


tres-courts, constituent, avec ceux des cellules du voisinage, un lacis la 
plupart du temps inextricable“ etc. 1 * 5 

Meynert erwahnt in der Abhandlung vom Gehim der Saugetiere das 
Corpus Luysii nicht. Er scheint dieses vielmehr, wie auch Ford angibt, 
zur Substantia nigra zu rechnen 3 ). 

Die erste genaue Beschreibung stammt von Ford 9 der auch die jetzt 
iibliche Bezeichnung Corpus Luysii eingefuhrt hat 3 ). Der Luys sche Korper 
ist nach Ford eine aimahernd linsenformige Masse, welche etwa in der 
Querebene des Meynertschen Biindels mit einem klcinen spindelformigen, 
dicht dorsal auf dem Himschenkelfuss imd auf dem oberen Teil der Sub¬ 
stantia nigra aufliegenden Querschnitt anfangt, der dann nach oben zu, 
seine Lage beibehaltend, rasch in alien Dimensionen wachst, eine ausge- 
zeichnete Spindelform mit etwas mehr konvexer dorsaler Flache zeigt und 
schliesslich den ganzen Pes pedunculi dorsal und etwas medial scharf ab- 
grenzt. Seinen grossten Umfang erreicht er in der Querebene dicht unter- 
halb des Corpus mamillare. Nach oben zu wird der Querschnitt dann wieder 
kleiner, bleibt aber stets spindelformig, bis er genau so wie imten in den 
oberen Querebenen des Corpus mamillare verschwindet. Die grosste Dicke 
betragt 3—4 mm, die grosste Breite 10—13 mm, die grosste Lange 7,5 mm. 
Er enthalt ein dichteres Kapillarnetz als jeder andere Hirnteil. Hierauf 
und auf das hellbraunliche Pigment seiner Ganglienzellen ist seine hell- 
braunliche Farbe zuriickzufuhren. Er zeigt im grossen und ganzen zwei 
Flachen, eine dorsale und eine ventrale, durch den vorspringenden stumpfen 
Winkel gebrochene, feraer einen zirkularen Rand. Die dorsale mehr konvexe 
Flache ist gegen die Zona incerta, die ventrale, mehr abgeflachte gegen den 
Pes pedunculi und die innere Kapsel je von einer iiberall deutlichen, diinnen, 
reinen Markkapsel begrenzt, deren Faserverlauf meist nicht zu entratseln 
ist. Der zirkulare Rand ist oben und unten durch das Zusanmientreffen 
beider Kapseln ziemlich abgeschlossen und zugescharft. Medial klaffen 
beide Kapseln weit auseinander, so dass zahlreiche Fasern medialwarts 
austreten. Ford kennt auch bereits, wie Luys , die aus der ventralen Mark¬ 
kapsel und dem Luysschen Korper sich in den Fuss und den imtersten Teil 
der Capsula interna einsenkenden Faserbiindelchen. Bei Hapale soil der 
Luyseche Korper fast kugelig sein und den Zellen das Pigment fehlen. Bei 
Hund, Kaninchen und alien andem von Ford imtersuchten Tieren gibt es 
nach Ford keinen begrenzten Luysachen Korper, sondem an seiner Stelle 
nur eine ziemlich flache, undeutlich begrenzte Zellanhaiifung ohne auffallen- 
den Gefassreiehtum 4 ), 

Stilling beschrieb das Corpus Luysii unter dem Namen „Nucleus 
amygdaliformis“ folgendermassen. Ein ziemlich betrachtlicher Teil der 
Opticusfasern soil aus einem grossen, im Fuss des Grosshimschenkels ge- 
legenen Kern entspringen, auf welchen man bei der Zerlegung erst dann 
trifft, wenn von der Substantia nigra auf dem Schnitte nichts mehr zu 
sehen ist. Der Kern zeigt auf Horizontal- wie Vertikalschnitten eine mandel- 
formige Gestalt. Die in ilui eintretenden Faserziige des Tractus opticus 
miissen, um zu ihm zu gelangen, mit ihrer urspriinglichen Richtung einen 
Bogen bilden. Die ganze Lage des Kerns, seine Grosse etc. spricht nach 


l ) J. Luya 9 Recherches sur le systdme nerveux c4r5bro-spinal, sa 
structure, ses fonctions et ses maladies. Paris 1865. S. 143 ff. Vergl. auch 
Iconographie. 1873. 

*) Strickers Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig 1872. 
Bd. 2. S. 729. 

# ) Die Bezeichnung „olive c4r6brale“ findet sich noch bei einzelnen 
franzosischen Autoren, z. B. Debierre, La moelle epinidre et l'enc^phale. 
Paris 1893. S. 292. 

4 ) August Fordy Untersuchungen liber die Haubenregion imd ihre 
oberen Verkniipfungen im Gehime dee Menschen und einiger Saugetiere, 
mit Beitragen zu den Methoden der Gehimuntersuchungen. Archiv fur 
Psychiatric. 1877. Bd. 7. S. 470—473 (Ges. himanat. Abh. S. 116 ff.). 


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S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


StiUing dafiir, dass man in ihm ein reflektorisohe Erregungen vermittelndes 
Ganglion zu suchen hat 1 ). 4 

Henle 1 ) bezeichnet das Corpus Luysii als Corpus subthalamicum. 
Es soil sowohl auf Frontal- wie auf Sagittaischnitten elliptische Form haben, 
die grosste Hdhe wird auf 3—4 mm, der Flachendurchmesser auf etwa 10 mm 
angegeben. Schwalbe 3 ) wiederholt nur die Forelschen Angaben. 

Meynert 4 ) hat spater das Corpus Luysii als „Discus lentiformis 14 be¬ 
zeichnet. Er spricht auch von Biindeln, welche aus dem Luysschen Korper 
durch die Haube bis in den hinteren Vierhiigelarm ziehen. 

Kolliker & ) gibt den gross ten Querdurchmesser auf 9—10 mm, die grosste 
Dicke auf 3,5 mm fur das gehartete Gehim an. Besonders wertvoll ist seine 
Schilderung des Corpus Luysii eines menschlichen Embryo von 6 Monaten 
und eines fast ausgetragenen Embryo. Er glaubt mit Stilling , dass die vom 
Corpus Luysii aus den Fuss durchsetzenden Faserbiindel (Fasciculi perf orantes) 
vom Tractus opticus entspringen. Speziell ist ihm auch eine Beziehung 
zur Meynerts chen Kommissur unzweifelhaft. Im Gegensatz zu Ford schreibt 
er auch dem Kaninchen, der Katze, Maus und Ratte ein gut entwickeltes 
Corpus Luysii zu. 

Eine spezielle Beschreibung des Luya schen Korpers des Maulwurfs 
verdanken wir Oanser ®). Ich werde auf dieselbe spater zuriickkommen 
imd hebe hier nur hervor, dass der Corpus Luysii auch bei dem Maulwurf 
nach Oanser sehr reich an Gefassen ist. 

Bechterew 7 ) glaubt bei 33—35 cm langen Foten bestimmt die Endigung 
zentraler Schleifenbahnen im Corpus Luysii und Globus pallidus nachweisen 
zu konnen. 

Auf die experimentelle Untersuchung von MonaJcow und Mahaim •) 
kann hier nur kurz hingewiesen werden, ebenso auf die Untersuchungen 
von Darkschewitsch und Pribytkow 9 ). 

Mirto 10 ) gibt in der obengenannten Arbeit auch eine kurze Beschreibung 
des Corpus Luysii. Seine Zellen sollen zum ersten Go/gtschen Typus gehoren. 
Die Axonen wenden sich teils zum Linaenkem, teils zum dorsalen Teil der 
Substantia nigra und zum ventralen Teil des roten Kerns. Die Kapsel des 
Corpus Luysii besteht zum Teil aus diesen im Corpus Luysii entspringenden 
Fasem, zum Teil aus Fasem der Linsenkemschlinge. 

Dejerine bildet das Corpus Luysii des Menschen wiederholt ab und 
gibt eine etwas ausfiihrlichere Beschreibung. Er gibt abweichend von Ford 
die Lange auf 10—f3 mm, die Breite auf 6—7 mm, die Dicke auf 3—4 mm 
an. Die grosste Starke soli es auf Schnitten erreichen, welche die Corpora 
mamillaria in ihrer Mitte schneiden. Besonders interessant sind seine topo- 
graphischen Angaben iiber die Lage des Corpus Luysii auf Horizontal- 
schnitten. Als Zona incerta fasst er das schmale graue Feld auf, welches 
die Fordsohon Felder H 1 und H* trennt und eine ,,Dependenz“ der Gitter- 
zone des Thalamus darstellen soil. Sie tremit, heisst es an einer anderen 
Stelle, das Corpus Luysii von dem ventralen Teil des ausseren Sehhiigelkems. 
Das Feld H 2 bezeichnet er als „faisceau lenticulaire“, das Feld H l als ,,faisceau 


*) J. Staling , Ueber eine neue Ursprungsstelle der Sehnerven. Central- 
blatt f. d. med. Wissensch. 1878. S. 385—386. Vgl. auch Untersuchungen 
iiber den Bau der opt. Centralorgane. 1882. Teil 1 u. Arch. f. Psychiatrie. 
1881. Bd. 11. S. 274. 

2 ) Handb. d. Nervenlehre. 1879. S. 298. 

3 ) Schwalbe , Lehrbuch der Neurologic. 1881. S. 647. 

4 ) Meynert , Psychiatrie. Wien 1884. S. 50 u. 79. 

5 ) Handb. d. Gewebelehre. 1893. 6. Aufl. S. 458. 

6 ) Morph. Jahrb. 1882. Bd. 7. 

7 ) Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark. Leipzig 1899. S. 241. 

8 ) Arch. f. Psychiatrie. 1893. Bd. 25. S. 352 u. 354. 

*) Neurol. Centralbl. 1891. S. 425. Dieselben behaupten ausgiebige 
Beziehungen zur Meynerts chen Kommissur. 

10 ) L. c. S. 58. 


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des Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 117 


thalaraique“. Als Kapsel des Corpus Luysii bezeichnet er nur seinen dorsalen 
Markiiberzug, der aus dem Feld H* stammen soil. In letzteres soli auch 
das vordere Ende des Corpus Luysii eingeschlossen sein (enclav6). Von 
Verbindungen des Corpus Luysii zkhlt Dejerine folgende als sicher auf: 

1. einzelne Fasern zu Feld H*; 

2. ein reiches System von ^radiations strioluysiennes 14 ; 

3. sparliche Rindenfasem aus dem hinteren Schenkel der inneren 
Kapsel; 

4. zahlreiche Fasern zur Decussatio subthalamioa posterior von Oanser. 

Die Existenz der StiUingschen Fasern wird von Dejerine bestritten 1 ). 

Ramon y Cajal beschreibt u. a. auch accessorische Luyssche Korper, 
welche bei Katze imd Hund dadurch entstehen, dass einzelne Zellgruppen 
durch starkere Faserbiindel abgespaltet werden. Dieser Autor gibt ausser- 
dem eine exakte Beschreibung der Struktur des Ltiyrochen Korpers. Er be- 
zieht sich dabei allenthalben auch auf das Corpus Luysii niederer Siiuger*). 

3. Zona incerta. 

Die urspriingliche Beschreibung von Forel 9 ) lautet wie folgt: Die Regio 
subthalamica besteht im grossen und ganzen aus 3 Feldem: dem Luysschen 
Korper, einer mittleren Schicht, die lateral in die Gitterschicht des Thalamus 
ubergeht und die Forel als Zona incerta bezeichnet, und dem in die Lamina 
medullaris externa sich fortsetzenden Feld H. Die mittlere Schicht. d. h. also 
die Zona incerta enthalt verhaltnismassig mehr graue Substanz als die beiden 
anderen und liegt undeutlich abgegrenzt zwischen beiden. Sie zeigt iiberall 
sparliche, unscheinbare zellig Elements und oine ungemein feme und weit zer- 
kluftete Faserung, welche.inden Querschnitten betrachtet, von derventralen 
und medialen Seite her, dorsal- und lateralwarts, parallel der Langsachse der 
Zona incerta im Querschnitt, zu verlaufon scheint. Ueber das Wohin und das 
Woher dieser Fasern kann F. fast gar nichts sagen. Dass manche Fasern aus 
dem Bindearm, aus dem roten Kern, aus dem Luysschen Korper darunter 
sein konnen, scheint ihm klar; unterscheidbar seien sie aber nicht. Hochstens 
konne man in den untersten Teilen der Zona incerta Faserziige wahmehmen, 
die von der lateralen Flache des roten Kerns zur Gitterscliicht oder zum 
Stabkranz zu verlaufen scheinen und sich eng an das grosse Biindel aus 
dem roten Kern ansfchliessen. Vielleicht stammen solche Faserziige aus 
der Schleifenschicht. Unten wird die Zona incerta zuerst zwischen der 
Substantia nigra und dem grossen Biindel aus dem roten Kern sichtbar. 
An dieser Stelle ist sie zwar von der Substantia nigra schon ziemlich scharf 
abgegrenzt; dagegen wird sie von Fasern des grossen Biindels aus dem roten 
Kern (der Schleifenschicht ?) und des unteren Endes vom Stabkranz viel- 
fach durchsetzt. Oft scheinen die Biindelchen des grossen Biindels aus dem 
roten Kern (der Schleifenschicht ?) durch den ventralen Teil des Thalamus, 
die Zona incerta und die Gitterschicht hindurch in den Stabkranz zu ge- 
langen. Weiter oben setzt sich die Zona incerta, reiner werdend, zwischen 
Lwysschem Korper und Lamina medullaris externa fort, lateral in die Gitter¬ 
schicht des Thalamus iibergehend, wird dann durch das Markbiindel H 2 
in zwei Abteilungen geteilt, deren dorsale allein mit der Gitterschicht in 
Verbindimg bleibt und welche beide spater wieder zusammenfliessen, um 
bald darauf zu verschwinden, indem an ihre Stelle die Substantia innominata 
tritt. Medialwarts geht allenthalben die Zona incerta unabgrenzbar in das 
zentrale Hohlengrau des III. Ventrikels iiber, von welchem sie nur strecken- 
weise durch das Vicq d’Azyrsch© Biindel und durch die Radix anterior des 
Fornix getrennt wird. 


Dejerine , J., Anatomic des centres nerveux. Paris 1901. Bd. 2. 

S. 394 u. 397. 

f ) Ramon y Cajal , Textura del sistema nervioso del hombre y de los 
vertebrados. 1904. S. 713 ff. 

3 ) Arch. f. Psychiatric. Bd. 7. S. 477. 


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S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


Da nach Ford bei anderen Saugetieren sowohl da a Feld H als der 
Zruy^sche Korper sehr undeutlich sind, so ist nach Ford „die unbestimrate 
graue Substanz zwischen Lamina medullaris externa und Pes pedunculi 
wohl hauptsachlich als der Zona incerta entsprechend zu betrachten 44 . 

In der Folgezeit ist der Begriff der Zona incerta. wie ihn Ford auf- 
gestellt hatte, nicht immer mit der wiinschenswerten Scharfe festgehalten 
worden. Ich verweise z. B. auf die Figg. 641, 649 und 664 des Kollikerachen 
Handbuchs. Insbesondere hat man haufig im Widerspruch mit der ur- 
sprvinglichen Darstellung Fords den streckenweise von dem Feld H 1 2 * ab- 
gespaltoten ventralen Streifen der Zona incerta nicht zu ihr gerechnet und 
die Zona incerta einfach als die Gegend zwischen dem Feld H 1 und dem 
Feld H a definiert. Hierlier gehort z. B. die oben bereits erwahnte Darstellung 
Dejerines 1 ). Auch Marburg gibt eine Darstellung, welche cin solches Miss- 
yerstandnis nicht ausschliesst 2 ). Ebenso ist die mediate Grenze nicht immer 
in derselben Weise gezogen worden (vgl. unten S. 40). 

Mirto 8 ) fasst die Zona incerta und das Forelsche Feld als eine einzige 
Region imter dem Namen Substantia reticularis subthalamica 44 zusammen. 
Sie soil aus Zellen des 1. Oolgi schen Typus bestehen, aus welchen Fasern des 
Grundbiindels des Vorderseitenstrangs entspringen. Ausserdem soli sie 
von Fasem durchzogen werden, die zum Toil dem Bindearm angehoren. 

Die sorgtaltigste neuere Darstellung der Zona incerta verdanken wir 
j Ramon y Cajal 4 * * * ). Nach seiner Beschroibung reiclit sie spinalwarts bis zum 
Beginn der Substantia nigra. Frontalwarts hat sie keine scharfe Grenze, 
sie scheint vielmehr mit dem von Ramon y Cajal beschriebenen Nucleus 
capsulae internae zu verschmelzen. Sie enthalt zahlreiche teils zerstreute, 
tells zu Gruppen zusammengeordnete Ganglienzellen von dreieckiger oder 
spindelformiger Gestalt. Da diese graue Substanz nun dadurch scharf 
charakterisiert wird, dass in ihr ,,absteigende Teilaste der grossen sensiblen 
Bahn“ endigen. so spricht Ramon y Cajal von einem ^Nucleus zonae 
incertae 44 (vgl. Fig. 613 u. 614). 

Auf die Litoratur liber manche andere Nachbargebilde werde ich 
erst bei der Einzeldarstellung naher eingehen, so kommen namentlich noch 
in Betracht das Pedamentmn lateralo (Ziehen), die Substantia reticulata 
medialis et lateralis pedis (Ziehen), der Nucleus tractus peduncularis 
transversi (Beehterew ), der eben bereits erwahnte Nucleus .capsulae internae 
(Ramon y Cajal) und der Nucleus intrapeduncularis. 

Eigene Untersuchungen. 

Als Material standen mir in erster Linie Pal-Serien von Mensch, 
Macacus rhasus, Lemur catta, Kafcze, chinesischem Schwein, 
Vespertilio murinus und Igel zur Verfugung. Andere Serien wurden 
zum \>rgleich gelegentlich herangezogen. 

1. Mensch. 

In dieser wie in alien folgenden Beschreibungen beginne ich 
mit dem caudalsten Schnitte, in welchem die Substantia nigra 
zum ersten Male auftritt und verfolge die Serie in oraler Richtung. 

1 ) L. c. S. 397. 

2 ) O. Marbnrg, Miki\>skopisch-to^x)grftphischer Atlas des menschlichen 
Zentralnervensvstems. 1904. 1. Aufl. 2. Aufl. 1910. S. 71. 

a ) L. c. 'S. o9. 

4 ) L. c. S. 719. 

a ) Th . Ziehen, D*\s Zentralnervensystem der Monotremen und 
Marsapiitlier. ./rruiische Denkschriften. Bd. 6. Jena 1908. Gustav Fischer, 

S. 709; dossl. Bd. 6. S. 710 u. Bd. 6. II. Teil. S. 810. 

*) Rechterew, Die Leitungsbahnen im Gehim und Huckenmark. 

Leipzig 1899. S. 7»3o. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 119 


Bei der Besprechung der menschlichen Serie beschranke ich mich 
im wesentlichen auf Hervorhebung einiger, wie mir scheint, noch 
nicht geniigend beachteter Einzelheiten. 

Das erste Auftreten der Substantia nigra fallt in meiner Serie 
auf Schnitt 305, welcher etwa das siebente Zehntel der Briicke 
schneidet. Die Substantia nigra bildet hier ein nur eben erkenn- 
bares Feld, ventral von der lateralstenPartie des Lemniscus medialis, 
und ist von Briickengrau nur sehr schwer zu trennen. 

Auf Schnitt 323 ( vgl. Fig. 1), welcher ventral das achte Zehntel 
der Briicke schneidet, ist die Substantia nigra schmal und lang; 
ihre Dicke betragt 3,7 mm. Sie ist von der Substantia perforata 
posterior noch durch das Briickengrau getrennt und zwar durch 
den medialen Zapfen desselben. Die Substantia reticulata medialis 
pedis ist an der ventralen Seite des medialsten Teils der Substantia 
nigra zu sehen, aber noch kaum mit Sicherheit von dem Briicken¬ 
grau zu trennen. 

Der ventrale Rand der Substantia nigra lauft in ein kom- 
pliziertes Maschenwerk aus, welches sich allenthalben in das 
Areal des Fusses hineinstreckt. Unter diesen Auslaufem der Sub¬ 
stantia nigra fallt einer durch seine grosse Breite und Konstanz 
auf; da er allenthalben im lateralen Teil der Substantia nigra 
wiederkehrt, bezeichne ich ihn als Processus lateralis substantiae 
nigrae. Er enthalt, wie der Hauptteil der Substantia nigra, dunkel- 
pigmentierte Ganglienzellen. 

Die dorsale Grenze der Substantia nigra wird dadurch etwas 
verwischt, dass hier besonders zahlreich zerstreute Fasern, dorso¬ 
lateral aufsteigend, die Masse der Substantia nigra durchbrechen. 

An das dorsolateralste Ende der Substantia nigra schliesst 
sich ein kleines, sehr charakteristisches Feld an, welches keine 
oder fast keine pigmentierte Ganglienzellen enthalt und daher 
-wohl nicht zur Substantia nigra gerechnet werden darf. Es hangt 
eng mit dem randstandigen Grau der Haube des Mittelhims 
zusammen. Ich bezeichne dieses Feld, um nichts zu prajudizieren, 
mit dem Buchstaben M. 

Schon bei oberflachlicher Betrachtung unterscheidet man 
ziemlich deutlich zwei Schichten der Substantia nigra, eine 
dorsale mehr kompakte und eine ventrale mehr retikulierte 
Schicht. Da diese beiden Schichten in der ganzen Sauge- 
tierreihe wiederkehren werden, will ich sie als Zona compacta 
substantiae nigrae und Zona reticulata substantiae nigrae unter- 
scheiden. Die Zona reticulata enthalt zahlreiche grossere und 
kleinere Biindelquerschnitte. Unter den Querschnittsbiindeln 
der Zona reticulata sind diejenigen besonders bemerkenswert, 
die im lateralsten Teil der Substantia nigra gelegen sind und sich 
im Querschnitt teils rundlich, teils halbmondformig darstellen. 
Von dem Fuss sind sie durch ein Maschenwerk grauer Substanz 
getrennt. Es kann keinem Zweifel imterliegen, dass diese Biindel, 
die spater untrennbar mit dem Fuss verschmelzen, als Fasciculi 


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pontini laterales Schlesingers 1 2 * ) (Pes lemniscus profond) aufzufassen 
sind. Sie sind sonach auch identisch mit der sogenannten Fuss- 
schleife von Flechsig*). Auch scheinen sie mit den Fasciculi longi- 
tudinales intermedii von Kolliker *) im wesentlichen sich zu decken, 
wenn sie auch auf der Kollikerschen Abbildung sich nicht so isoliert 
aus der Substantia nigra abheben. Auf Figur 1 habe ich diese 
Biindel mit Fpl bezeichnet. 

Dorsal von den lateralen pontinen Biindeln und in einem ge- 
wissen Abstand von ihnen findet sich eine Biindelgruppe, die auf 
der Figur mit Fpl' bezeichnet ist und durch ihre schrage Schnitt- 
richtung sich von den fast rein quergeschnittenen lateralen pontinen 
Biindeln ziemlich deuthch unterscheidet. Sie stammt ebenso wie 
die lateralen pontinen Biindel aus der medialen Schleife und wird 
wie diese schliesshch dem Fuss einverleibt, lasst sich aber bis zu 
ihrem Verschwinden im Fuss ganz deutlich von den lateralen pon¬ 
tinen Biindeln unterscheiden (s. unten). 

Als Stratum intermedium peduneuli der Autoren wird nach der 
iiblichen Nomenclatur die Schicht quer oder leicht schief getroffener 
Fasem bezeichnet, welche sich in der Zona reticulata substantiae 
nigrae unmittelbar dem Fuss anlagert. Es diirfte unzweckmassig 
sein, die Fasciculi pontini laterales zu diesem Stratum intermedium 
zu rechnen, obwohl sie sich allerdings lateral an dasselbe unmittel¬ 
bar anschliessen und sogar in individuell variierendem Mass in 
dasselbe hineinragen 4 ). Sie unterscheiden sich von ihm vor allem 
durch ihre ausgepragte biindelweise Anordnung. Auf dem in Rede 
stehenden Schnitte bildet das Stratum intermedium noch keine 
ganz geschlossene Formation, doch sieht man bereits allenthalben 
quer- und schraggetroffene Fasem im basalsten Teil der 
Substantia nirga, die, wie die weitere Verfolgung der Serie ergibt, 
zum Stratum intermedium zu rechnen sind. 

Die Zona compacta substantiae nigrae zeigt im Allgemeinen 
sehr viele Fasem verschiedener Richtungen. Zwei komplizierte 
Fasergebiete differenzieren sich deutlich von den iibrigen Teilen 
der Zona compacta dadurch, dass sie dichtere Fasergeflechte 
enthalten. Ich will, um nichts zu prajudizieren, vorlaufig das 
laterale grossere als D 1 und das mediale kleinere als D m bezeichnen. 
Beide Gebiete bestehen aus vielfach gewundenen, unregelmassig 
verlaufenden Fasem, welche in D m im ganzen mehr transversale, 
hingegen in D 1 sehr verschiedene Richtungen einschlagen. Ein 
Teil der Fasem des Geflechtes D 1 zieht in ventrolateraler Richtung 
zwischen der lateralsten Partie der Substantia nigra und dem 
Feld M zum Fuss. Ein anderer Teil der Fasern dieses Geflechtes 
sowie ein Teil der Fasern des Geflechtes D m zieht in das graue 


1 ) Arbeiten a. d. Obersteinerschen Institut. 1896. Heft 4. S. 76 ff. 

2 ) Neurol. Centralbl. 1886, S. 545. 

*) Kolliker, A., Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Leipzig 
1896. 6. Auflago. Bd. 1. S. 225 u. Fig. 460. 

4 ) Das auf Fig. 1 abgebildete Gehirn zeigt die Fasciculi pontini lateralis 
auffallig weit medialwarts verschoben. 


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Maschenwerk der Zona reticulata im Bereich der Fasciculi pontini 
laterales. Medialwarts lost sich das Geflecht D m mehr und mehr 
auf und nimmt dabei rasch an Faserreichtum ab; seine letzten 
Reste lassen sich bis iiber die Mitte der Substantia nigra hinaus 
medialwarts verfolgen. Noch weiter medialwarts sieht man im 
dorsalen Abschnitt der Substantia nigra fast nur transversal ver- 
laufende Fasern, die an einzelnen Stellen etwas kompaktere Biindel 
bilden; von den Fasern der medialen Schleife unterscheiden sie 
sich durch ihr feineres Kaliber. Die dorsaleren hangen mit der 
ventralen Bindearmkreuzung, zum Teil auch mit der von Ziehen ') 
sogenannten Hatscheks chen Kreuzung zusammen; die ventraleren 
enden wohl wenigstens zum Teil in der Substantia perforata 
posterior. Ueber das weitere Schicksal dieser Fasern, die ich in 
ihrer Gesamtheit als Faserzug B bezeichnon will, werde ich bei 
Besprechung der folgenden Schnitte Naheres mitteilen. Auf Fig. 1 
sind sie nur undeutlich zu erkennen. 

Am medialen Ende der Substantia nigra sieht man einige 
starkere Biindelquerschnitte, die den Briickenfasem unmittelbar 
anliegen. Ich bezeichne diese Biindel als Fasciculi pontini mediales 
(Fpm). Zentrahvarts gesellen sie sich dem Fuss bei. Spinalwarts 
scheinen dieselben grosstenteils oder samtlich in die mediale Schleife 
iiberzutreten. Sie konnen also wohl zum ,,Schleifenbiindel zum 
Fuss“ (Pes lemniscus superficiel) gerechnet werden. 

Der Vollstandigkeit halber sei noch erwahnt, dass die dunklen 
Biindelquerschnitte, welche man oberhalb der Substantia nigra, 
etwa ihrer Mitte entsprechend, an der ventralen Grenze des roten 
Kerns sieht, den Wurzelbiindeln des Oculomotorius angehoren. 

Der Sehnitt 332 (vergl. Fig. 2) schneidet ventral noch das 
vordere achte Zehntel der Briicke. 

Die Substantia nigra ist grosser geworden. Ihre Dicke betragt 
4,6 mm. Sie hangt einerseits mit der Substantia perforata posterior 
und andererseits mit dem Grau der sehr schwach entwickelten 
Substantia reticulata medialis pedis zusammen. 

Die Zona compacta substantiae nigrae nimmt jetzt den grossten 
Teil der Substantia nigra ein. In der Zona reticulata zeigen sich die 
Fasciculi pontini laterales etwa ebenso stark wie frtiher, aber 
vielleicht etwas lockerer angeordnet. Die Biindelgruppe Fpl' 
behalt noch ihre friihere Lage. 

Das Stratum intermedium ist etwas starker geworden. 

In der Zona compacta hat sich das Geflecht D 1 noch weiter 
ausgebreitet; es erstreckt sich noch immer bis in das graue Maschen¬ 
werk im Bereich der Fasciculi pontini laterales und mit einzelnen 
Auslaufem bis in das laterale Fussareal. Das Geflecht D m gibt 
ventralwarts fast keine Fasern mehr ab. Beide Geflechte haben 
sich mit ihrer Hauptmasse zu einem ziemlich zusammenhangenden 


*) Ziehen , Th Das Zentralnervensystem der Monotremen uud 
Marsupialier. 4. Teil. S. 911. 


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S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


Feld quer oder schrag getroffener Fasem formiert, indem nur noch 
relativ wenige transversale Fasem anzutreffen sind. 

Der Faserzug B ist faserarmer geworden. Ein Teil seiner 
Fasem lasst sich noch immer deutlich bis in die Gegend der Sub¬ 
stantia perforata posterior medialwarts verfolgen. Auch der 
Zusammenhang mit den letzten Resten der ventralen Bindearm- 
kreuzung bezw. Hatschekschen Kreuzung (y Bkr) ist noch immer 
deutbch. Lateralwarts zieben die Fasern zwischen den Geflechten 
D 1 und D m und der medialen Schleife zur Haube hinauf. 

Dorsal vom Geflecht D 1 siebt man eine Gruppe schrag oder 
fast quergeschnittener Fasem. Ueber das Schicksal dieser Gmppe, 
die ich als Q bezeichne, sowie auch der den lateralen Pol des Him- 
schenkels umkreisenden Fasem (c Pf) wird spater naher gesprochen 
werden. 

Der Schnitt 346 (vergl. Fig. 3) schneidet ventral das vordere . 
neunte Zehntel der Briicke. 

Die Dicke der Substantia nigra betragt hier 5,7 mm. 

Das Geflecht D 1 ist noch erheblich starker geworden und steht 
in noch engerer Beziehung als friiher zu der grauen Substanz im 
Bereich der Fasciculi pontini laterales. Es ist hier offenbar mit dem 
Fasciculus subthalamicopeduncularis von Marburg l ) identisch. 
Die Marburgsche Bezeichnung scheint mir unzweckmassig, weil 
sie viel zu allgemein ist*). Das Geflecht D m beschrankt sich jetzt 
auf eine ziemlich komplizierte Biindelmasse, die auf der Figur 
entsprechend bezeichnet ist. 

Ventral vom roten Kern findet sich eine halbmondformige 
Lage dicht gedrangter transversal verlaufender Fasern (Hm Sch), 
in welche die Quersclinitte der Oculomotoriuswurzeln (Ocw) ein- 
gebettet sind. Lateralwarts lassen sich diese Fasern mit denjenigen 
der medialen Schleife in das laterale Haubengebiet verfolgen, 
medialwarts gehen sie zum Teil in die Hatschek sche Kreuzung uber. 
Auch ein Zusammenhang mit D 1 ist nicht ausgeschlossen. Ich 
will dieses Feld als die halbmondformige Schicht bezeichnen. Mit 
dem Faserzug B hat sie nichts zu tun. Der Faserzug B hat sich 
vielmehr in dieser Ebene schon fast vollstandig erschopft. 

Ventral von dieser Schicht ist eine zellarme Schicht (zaSch) 
zu sehen, die durch die letzten Fasem des Faserzuges B von der 
zellreichen Hauptmasse der Substantia nigra getrennt wird. 
Uebrigens bemerke ich, dass medialwarts die zellarme Schicht 
verschwindet und nur die zellreiche Schicht vorhanden ist. 

Ein graues Feld A in der lateralsten Partie der Substantia 
nigra und zwar unmittelbar lateral vom Processus lateralis sub¬ 
stantiae nigrae, unterscheidet sich deutlich von der Umgebung 

*) Mikroskopisch-topographischer Atlas des menschlichen Zentral- 
nervensystems. 2. Aufl. S. 65 u. Fig. 37 ff. 

*) Marburg meint allerdings z. T. im Anschluss an DoUlcen (Neurol. 
Zentralbl. 1899, S.50) mit der Bezeichnung „subthalamico“ speziell das Corpus 
Luysiis. subthalamicum. Hiervon enthSlt aber das Wort nichts. Ausserdem 
sind die Befunde Doll kens durchaus noch nicht als erwiesen zu betrachten. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 123 

dadurch, dass es faserarmer ist und daher weit heller aussieht. 
Auf den folgenden Schnitten kommen noch mehrere ahnliche 
Felder hinzu, denen alien gemeinsam ist, dass sie sich lamellenartig 
in das Fussareal hineinschieben. Ich will, um nichts zu prajudi- 
zieren, diese grauen Lamellen samtlich als A-Felder bezeichnen. 
Meines Erachtens lassen sich diese Felder nicht scharf von der 
Substantia reticulata lateralis pedis Ziehens trennen. Von diesen 
A-Feldem, bezw. der Substantia reticulata lateralis pedis muss 
ein hakenformiges graues Feld (HF) scharf getrennt werden, 
welches mit dem Feld M zusammenhangt und den Fuss an seinem 
lateralen Ende vollstandig umgreift, so dass es sich zwischen das 
Corpus geniculatum laterale und den Fuss einschiebt. Ich will 
dieses Feld kurz als „Hakenfeld“ bezeichnen. In diesem Feld 
tritt ein Faserzug R auf, welcher teils aus dem Feld M, teils viel- 
leicht aus dem Geflecht D l zu entspringen scheint und innerhalb 
des hakenformigen Feldes, langs getroffen, bis nah an die Basis 
verfolgt werden kann. Auch ein Zuzug aus den Fibrae efferentes 
tecti ist nicht ausgeschlossen. Ein Zusammenhang mit den in Fig. 2 
abgebildeten, den lateralen Fusspol umkreisenden Fasern c Pf ist 
sehr wahrscheinlich. Spinalwarts ist R sehr schwach entwickelt, 
hingegen entwickelt R sich cerebralwarts immer machtiger, schiebt 
sich wie auf diesem Schnitt zwischen die Substantia nigra und 
das Feld M bezw. H F, scheint aber doch zu letzterem zu gehoren. 
Das mit Gp bezeichnete Feld entspricht topographisch dem Gang¬ 
lion interpedunculare der iibrigen Sauger. Man sieht viele grossten- 
teils quergetroffene feine Nervenfasem. Nur die basalsten gelangen 
in die Querfaserung der Briicke, die iibrigen scheinen sich zu einem 
grossen Teil in den Faserzug B zu begeben. 

Wie man durch Verfolgung der Serie sich iiberzeugen kann, 
ist die Biindelgruppe Fpl' ventraler geriickt. Ein betrachtlicher 
Teil derselben findet sich im Feld A, wahrend ein anderer Teil 
noch in dem Fuss bleibt. Beide Teile sind auf Obtrager 354 dem 
Fuss einverleibt. 

Der Schnitt 366 (vergl. Fig. 4) schneidet dorsal den spinalsten 
Teil des Ganglion habenulae, ventral die ersten Austrittsbiindel 
des Oculomotorius. 

Die Substantia nigra ist hier 5,1 mm dick. 

Die halbmondformige Schicht ist etwas breiter geworden und 
enthalt auch hier fast keine Zellen. Die ventral von ihr gelegene 
zellarme Schicht ist verschwunden, so dass die zellreiche Schicht 
der Substantia nigra direkt an die halbmondformige Schicht an- 
grenzt. Die noch nicht ausgetretenen Oculomotoriuswurzeln sind 
jetzt grosstenteils aus der halbmondformigen Schicht in die Sub¬ 
stantia nigra getreten und noch immer quergetroffen 1 ). 

Der Processus lateralis substantiae nigrae ist etwas grosser. 
Die Zona reticulata und das Stratum intermedium*) ist noch immer 

J ) Z. T. hangt dies mit der etwas schiefen Schnittrichtung zusammen. 

*) DieBezeichnung jEdinger# „Tractus striopeduncuIaris“greift unserem 
tatsachlichen Wissen weit vor. 


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124 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 

sehr diirftig. Lateral warts hangen beide untrennbar mit dem 
Processus lateralis substantiae nigrae zusammen, wie denn iiber- 
haupt eine strenge Trennung dieser Gebilde kaum moglich ist. 
Die Fasciculi pontini laterales befinden sich noch innerhalb des 
Processus lateralis. 

Die A-Felder haben an Zahl und Ausdehnung zugenommen. 
Ihre lamellenartige Konfiguration ist immer sehr deutlich. Es muss 
aber beachtet werden, dass solche Lamellen auch dadurch vor- 
getauscht werden konnen, dass schrdg getroffene Faserzuge schicht- 
iceise die Fussfasern durchbrechen 1 ). Die Substantia reticulata 
medialis pedis ist sehr gut entwickelt. Sie steht mit der noch sehr 
diirftigen Zona reticulata substantiae nigrae im engen Zusammen- 
hang. 

Das Hakenfeld hangt mit den A-Feldem stellenweise zusammen 
an der UmbiegungssteUe ist es sehr verbreitert. Innerhalb des 
hakenformigen Feldes und innerhalb des M-Feldes findet sich keine 
einzige dunkel pigmentierte Ganglienzelle. 

Aeusserst kompliziert gestalten sich hier die Fasemgebiete R, 
Q und D 1 . Speziell begegnet uns jetzt statt des ziemlich einheitlichen 
R-Gebiets der Fig. 3 ein sehr komplexes System von Faserschichten, 
R, R', R", deren Zusammenhang mit dem R-Feld der Fig. 3 
keineswegs sicher ist. Jedenfalls treten sie alle in dem Feld M und 
dem mit diesem zusammenhangenden Hakenfeld auf. Die Q-Biindel 
heben sich stets durch ihre dunkelschwarze Farbung ab. Sie er 
scheinen kurz schrag getroffen und durchsetzen schichtweise das 
Gebiet zwischen D 1 und der lateralen Spitze des roten Kerns. 
Das Feld D 1 erscheint jetzt sehr machtig. Es besteht grosstenteils 
aus quergeschnittenen Fasem. Ventral von ihm erscheint ein 
Geflecht, das ich mit D 1 ' bezeichnet habe. 

Das Feld H von For el ist hier deutlich zu erkennen. 

Der Schnitt 386 (vergl. Fig. 5) schneidet ventral noch immer 
die Austrittsbundel des Oculomotorius. 

Die Substantia nigra ist etwas schmaler geworden; ihre Dicke 
betragt nur noch 4,6 mm. Die Zona compacta nimmt noch immer 
bei weitem ihren grossten Teil ein. 

Die Fasciculi pontini laterales und der Processus lateralis 
substantiae nigrae sind jetzt mit einander fast ganz verschmolzen. 
Das Feld D m ist noch sehr gut zu erkennen. Der Processus lateralis 
springt nicht mehr so scharf vor. Das Feld D 1 hat seine Fasern 
zum Teil in das Gebiet des Processus lateralis abgegeben, zum 
Teil ist es noch an der friiheren Stelle (bei D 1 ) zu erkennen. Das 
Stratum intermedium ist jetzt sehr stark entwickelt, aber nicht 
scharf abgegrenzt. Da seine Btindel sich nur schwach farben, heben 
sie sich auf der Figur nur undeutlich ab. 

Auf diesem wie auf den vorhergehenden Schnitten ist der 
Verteilungsmodus der pigmentierten Zellen sehr charakteristisch. 


*) Oft vollzieht sich auch der Durchbruch innerhalb eines grauen 
A-Felds. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 125 


Dieselben finden sich namlich ganz vorzugsweise im dorsalen 
Abschnitt, also namentlich in der Zona compacta substantiae 
nigrae, wahrend sie in dem ventralen Teil, also vor allem in der 
Zona reticulata substantiae nigrae, nur sehr vereinzelt vorkommen. 
Auch scheint mir interessant, dass namentlich die Pigmentzellen 
des dorsalen Abschnittes haufig gruppenweise zusammengeordnet 
sind; so kann man beispielsweise oft 4 grossere Gruppen unter- 
scheiden (Schnitt 384). Endlich erwiihne ich noch, dass der lateralste 
Abschnitt der Substantia nigra auch im dorsalen Teil in der Regel 
nur sparliche Pigmentzellen enthalt, und dass vereinzelte Pigment¬ 
zellen sich auch in dem medialwarts angrenzenden Gebiet der 
Substantia perforata posterior finden. 

Von der Substantia reticulata medialis pedis ist fast nichts 
iibrig geblieben. Sie stellt sich nur als ein schwaches Anhangsel 
der Zona reticulata substantiae nigrae dar. 

Das Corpus Luysii ist eben als ein spindelformiger Korper 
zu erkennen, der ganz in weisse Substanz eingebettet ist, seine 
Dicke betragt hier 1,1 mm. Seine dorsale Markkapsel steht mit den 
oben beschriebenen R-Schichten des Feldes M in einem schwer zu 
entwirrenden Zusammenhang. 

Die Zona incerta Forels ist ebenfalls bereits als eine schmale 
langgestreckte graue Masse dorsal vom Corpus Luysii zu sehen. 
Sie steht in engen Beziehungen zu dem friiher beschriebenen haken- 
formigen Feld. Dies letztere zerfallt auf dem Schnitt 369, auf 
welchem das Corpus Luysii noch nicht wahrzunehmen ist, in zwei 
Teile, einen vertikalen, ventrolateral von der lateralsten Partie 
des Fusses liegenden und einen transversalen, der sich fast rein quer 
als schmaler Streifen bis etwa in die Mitte der Haube erstreckt. 
Dieser letztere Abschnitt stellt geradezu den Vorlaufer der Zona 
incerta Forels dar. Etwas weiter cerebralwarts hangt sie ventro¬ 
lateral mit den A-Feldem zusammen (Schnitt 372), wahrend sie 
medial auf oraleren Schnitten in die Gegend der Q-Biindel und 
dann in die halbmondformige Schicht vibergeht. 

Der vertikale Abschnitt des Hakenfelds, also der eigenthche 
Haken, verlagert sich cerebralwarts allmahlich in den Tractus 
opticus. 

Die halbmondformige Schicht Hm Sch erstreckt sich nach wie 
vor einerseits bis zum Feld D 1 und anderseits bis zum Gebiet der 
Q-Biindel. Sie unterscheidet sich von der Hauptmasse der Zona 
incerta fortgesetzt durch den grosseren Fasemreichtum. In der 
Literatur ist unzweckmassigerweise die Halbmondschicht hier oft zu 
der Zona incerta gerechnet worden (vgl. histor. Einleitung S. 118). 

Die sehr reduzierte Bundelgruppe Q liegt erheblich dorsal von 
der Substantia nigra und erscheint schrag geschnitten. Sie trat 
zuerst auf dem Schnitt 317 an der dorsalen Seite der Substantia 
nigra quergeschnitten auf und rtickt dann immer mehr medial. 
Sie scheint schliesslich cerebralwarts auf dem Schnitt 431 in das 
Feld H 2 iiberzugehen. 


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126 S a n o , Beitrag zur vergleieheuden Anatomie 

Der Schnitt 440 (vergl. Fig. 6) schneidet ventral das Corpus 
mamillare im Bereich des Ursprungs des Fasciculus princeps. 

Die Substantia nigra ist sehr viel kleiner und erscheint im ganzen 
ventralwarts und namentlicli medialwarts gedrangt; ihre Dicke 
betragt 2,0 mm. Es ist schwer, die Zona compacta und Zona 
reticulata noch zu unterscheiden; auch kann man keine Faser- 
geflechte, kein Stratum intermedium, keine Fasciculi pontini 
laterales usw. mehr erkennen. 

Im Gebiet oberhalb der Substantia nigra unterscheidet man 
nach unserer Auffassung am zweckmassigsten 4 Markfelder: 
1. das Feld H 1 von Ford, welches in dieser Arbeit nicht beriick- 
sichtigt werden kann; 2. das Feld H 2 von Ford; 3. die dorsale 
Markkapsel des Corpus Luysii; 4. das Feld ventral vom Corpus Luysii, 
d. h. im wesentlichen die ventrale Markkapsel des Corpus Luysii. 

Zwischen dem medialen Teile des Feldes H 2 und der dorsalen 
Markkapsel des Corpus Luysii findet sich ein kleines Feld, welches 
die noch schmale Hauptmasse der Zona incerta Fords mit dem Rest 
der Halbmondschicht verbindet und z. T. zu dieser letzteren zu 
rechnen ist. Ich bezeichne es als Zona transitoria. 

Vom Feld H 2 zieht ein Faserzug H 2; lateralwarts und teilt 
die Zona incerta unvollkommen in zwei Teile. Dieser Fortsatz ist 
auf dem Schnitt 420 zum erstenmal scharfer ausgepragt. Wahrend 
die iibrige Fasermasse des Feldes H 2 immer mehr] mit die dorsale 
Markkapsel des Corpus Luysii verschmilzt und die Zona transitoria 
von der Hauptmasse der Zona incerta trennt (wie auf Schnitt 440), 
behalt dieser Fortsatz seine Lage in des Mitte der Zona incerta bei. 
Erst weiter cerebralwarts schmiegt er sich dem in der dorsalen 
Markkapsel ziehenden Hauptteile des Feldes H 2 fast ganz an, so 
dass dann eine scharfe Trennung der Hauptmasse der Zona incerta 
von der Zona transitoria zu Stande kommt. Einzelne Fasern 
ziehen iibrigens auch aus dem Feld H 2 in dorsolateraler Richtung 
gegen das Feld H 1 . 

Das hakenformige Feld und die A-Felder, die auf dem vorigen 
Schnitte fast miteinander verschmolzen sind, verschwinden schon 
auf dem Schnitt 409, der unmittelbar spinal vom Corpus mammillare 
gelegt ist. Statt dessen sieht man die machtigen Fibrae perforantes. 

Das Ganglion ectomamillare von Marburg 1 ) vermochte ich 
nicht mit Sicherheit nachzuweisen. 

Der Schnitt 457 (vergl. Fig. 7) schneidet ventral den aus- 
tretenden Fasciculus mamillaris princeps. 

Die Substantia nigra ist als isolierter Korper nicht mehr zu 
erkennen, sie ist viel mehr ganz mit der in den medialen Fussab- 
schnitt eingestreuten grauen Substanz verschmolzen (bei Sn ?). 

Das Corpus Luysii ist schon etwas kleiner geworden, seine 
Dicke betragt 3,5 mm. Im Fuss sieht man ausser zahlreichen 
Fibrae perforantes noch immer zahlreiche Lamellen grauer Sub¬ 
stanz (A-Felder). 

') Arb. a. d. Obers/einerschen Institut. Bd. 10. S. 66 (namentlich Fig. 5). 


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Mensch. Schnitt 323 rig. 2. Mertsck . Schnitt 332 



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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inoerta. 127 


Die Hauptmasse der Zona incerta Fords ist breiter geworden, 
die Zona transitoria ist langer geworden; sie wird noch immer 
von der Hauptmasse der Zona incerta durch H 2 volikommen ge- 
trennt. Allerdings ist jetzt die Hauptmasse der Zona incerta viel 
faserreicher geworden, so dass das Aussehen der Hauptmasse der 
Zona incerta und der Zona transitoria sich nicht mehr so wesentlich 
unterscheidet. 

Das Feld H 1 erreicht hier etwa sein Maximum. 

Das Feld H 2 verschmilzt einerseits mit der dorsalen Mark- 
kapsel des Corpus Luysii in ihrem lateralen Abschnitt und scheint 
ebenso wie diese dorsale Markkapsel Bogenfasern in das Fussfeld 
abzugeben; andererseits entsendet sie wohl auch einzelne Fasern 
in dorsolateraler Richtung in die Zona incerta. Auch der Faserzug 
H 2 ' ist noch zu erkennen. 

Das basale Langsbiindel 1 ) (basales Vorderhirnbiindel, Radiatio 
striothalamica), das sich auf dem Schnitt 420 zum ersten Male, 
aber sehr undeutlich zeigt, ist auf diesem Schnitt deutlich zu sehen. 
Dabei muss betont werden, dass die Fasern dieses Biindels, dessen 
V T erlauf und Abgrenzung bekanntlich sehr unsicher sind, nur mit 
Schwierigkeit von den in die Markkapsel des Corpus Luysii iiber- 
gehenden Fasern zu trennen sind. 

Auf den folgenden Schnitten ist das Corpus Luysii rasch im 
Verschwinden begriffen; seine Dicke betragt z. B. auf Schnitt 4(50 
nur noch 1,7 mm, die ventrale Markkapsel ist auf diesem Schnitt 
noch zu sehen. 

Die dorsale Markkapsel wird mehr und mehr fast ausschliess- 
lich vom Feld H 2 , das mit der dorsalen Markkapsel fast ganz ver- 
schmolzen ist, gebildet. Die Zona transitoria ist bedeutend kleiner 
geworden. 

Die Hauptmasse der Zona incerta Forels ist ebenfalls viel 
schmaler und geht fliessend in die Gitterschicht des Sehhiigels iiber. 

Der Fortsatz x des Feldes H 2 , wie ihn Ford, Kolliker 2 ) u. A. 
beschrieben haben, wird erst auf Schnitt 465 deutlich. 

Das basale Langsbiindel ist hier sehr machtig geworden. 

Auf Schnitten, welche ventral den spinalsten Teil des Tuber 
einereum schneiden, ist das Corpus Luysii bereits total ver- 
schwunden. Das Feld H 2 ist noch sehr machtig und gibt noch 
Fibrae perforantes ab. Sein Fortsatz x ist noch viel ansehnlicher 
geworden. Die Zona incerta ist noch schmaler geworden und geht 
diffus in das Grau des III. Ventrikels uber. Die Zona transitoria 
ist ganz verschwunden. 

(Fortsetzung folgt.) 


*) Kolliker, Handbuch der (Jewebelehre. S. 510. Fig. 641. 

*) Kolliker, Handbuch der Gewebelehre. 1806. S. 455, 5IS. 5‘JO. 
Fig. 590, 591, 646, 647, 648. 


Houatsftciirift ftir Psychiatrie uud Neurologic. Bd. AXVII. Heft y 


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128 Nonne-Holzinaun, Ueber Wassermann-Reaktion 


(Aus dem allgemeSnen Krankenhaus Harnburg-Eppendorf.) 

Ueber Wassermann-Reaktlon im Liquor spinalis bei Tabes 
dorsalis sowie tiber quantitative Auswertung von St&rke- 
graden der W.-Reaktion bei syphilogenen Krankheiten 
des Zentral-Nervensystems. 

Von 

Dr. M. NONNE und Dr. W. HOLZMANN 

Obermrst Aaaisteniuit. 

In einem Vortrage vor der Jahresversammlung der ,,American 
Medical Association 4 * in Atlantic City (17. VI. 1909) hat Nonne, 
fiber den praktischen Wert der Komplement-Ablenkungs-Reaktion 
ffir die Neurologic referierend, zum ersten Male ausgesprochen, 
da88 das typische Verhalten dieser Reaktion bei der Tabes dorsalis 
das sei, dass sie im Blutserum positiv und im Liquor spinalis 
negativ sei. 

Auf der dritten Jahresversammlung der ,,GesellschaftDeutscher 
Nervenarzte 44 in Wien am 18. IX. 1909 hat Nonne dann wieder 
an der Hand von rund 400 Fallen organischer Nervenkrankheiten — 
darunter 104 Falle von Tabes dorsalis — dasselbe ausgesprochen. 
Bei der Durcharbeitung der neuen Beobachtungsreihe hatte sich 
ergeben, dass bei einigen Fallen eine schwache Reaktion heraus- 
gebracht werden konnte. Wir waren in einer gemeinsamen Arbeit, 
die schon vor dem Wiener Vortrage Nonnes fertiggestellt war, 
zu der Ueberzeugung gekommen, dass die die Reaktion gebenden — 
uns ja noch unbekannten — Korper im Liquor der Tabiker zwar 
vorhanden sein konnen, dass sie aber in so geringer Menge da sind, 
dass sie sich dem Nachweis durch die original von Wassermann 
angegebene Methode im allgemeinen entziehen. Dieser Tatsache 
des so haufigen Fehlens der W.-Reaktion im Liquor der Tabiker 
stand die von alien Sei ten gefundene und heute von keiner Seite 
angezweifelte Tatsache gegenfiber, dass die W.-Reaktion im Liquor 
der Paralytiker in 90—100 pCt. — in diesen engen Grenzen 
schwanken die Angaben der verschiedenen Autoren — positiv ist. 
Es war damit ein wichtiges Symptom gefunden ffir die Differential- 
diagnose zwischen Tabes und Paralyse. Andererseits musste man 
es aufgeben, in der negativen W.-Reaktion des Liquor bei der 
Lues spinalis und cerebrospinalis einen praktisch ffir die Diagnose 
zu verwertenden Unterschied gegenUber der Tabes dorsalis zu 
sehen. Im Gegenteil sah man jetzt, dass die „vier Reaktionen 44 
(Lymphozytose, Phase I, W.-Reaktion im Blut und im Liquor 
spinalis) bei diesen zwei Krankheiten dasselbe Verhalten zeigten. 

Gelegentlich des Referats fiber „Die Diagnose der Syphilis 
bei Erkrankung desZentralnervensystems 44 in Heidelberg (2. Jahres¬ 
versammlung der „Gesellschaft Deutscher Nervenarzte 44 ) am 
1. X. 1908 hatte Nonne nach den bis dahin vorliegenden Erfahrungen 


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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


129 


noch geglaubt, dass die W.-Reaktion im Liquor spinalis der Tabiker 
zwar nicht so oft wie bei der Paralyse, aber doch nicht nur als 
Ausnahme vorkame. 

Die spateren Erfahrungen zwangen zur Revision der friiheren, 
dera Heidelberger Vortrag zugrunde liegenden Eigenfalle von Tabes 
mit positiver W.-Reaktion im Liquor spinalis, und da ergab sich, 
dass, bei allerdings sehr scharfer Kritik, nur ein Fall blieb, in dem 
man sagen konnte, dass jeder Anhalt ffir die Annahme einer be- 
ginnenden Paralyse fehlte; ein wirklicli klassischer Vollfall von 
Tabes fand sich iiberhaupt nicht unter diesen 9 Fallen mit positiver 
Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis; 4 mal war eine reflek- 
torische Pupillenstarre nur einseitig, in 4 Fallen waren die Sehnen- 
reflexe an den unteren Extremitaten vorhanden, in 3 Fallen sogar 
lebhaft; in 1 Fall lag eine Kombination tabischer Symptome 
mit einer Poliomyelitis ant. chron. vor, und in 2 Fallen handelte 
es sich nur um Fehlen der Sehnenreflexe der unteren Extremitaten 
bei syphilitischer Anamnese. 

Wenn wir die Literatur fiberblicken, die sich mit dem hier in 
Rede stehenden Punkte befasst, so zeigt sich folgendes: 

Wohl finden sich verstreut zahlreiche Angaben fiber das 
Vorkommen der Wassermann-Reaktion bei Tabes, doch ist zu- 
weilen nicht angegeben, ob der Liquor oder das Serum oder ob 
beide Fliissigkeiten untersucht sind ( Glaser und Wolfsohn). 

Meistens ist nur das Serum gepriift worden. Von anderen 
Autoren (Arning, Eichelberg, Marie und Levaditi, Schulze, William - 
son) ist nicht streng unterschieden worden zwischen Tabes und 
Tabo -Paralyse. Systematische Untersuchungen fiber das Vor¬ 
kommen der komplementablenkenden Stoffe bei Tabes sind an 
einem grosseren Material verhaltnismassig selten ausgeffihrt 
worden. 

Darfiber herrscht im grossen und ganzen Uebereinstimmung 
unter den Autoren, dass dieReaktion i mSerum der Tabiker seltener 
vorkommt als im Serum der Paralytiker. Die erzielten Resultate 
schwanken bei den einzelnen Untersuchem zwischen 55 und 
95 pCt. positiver Reaktion. 

So fanden: 


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130 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 

Durchschnittlich wurden demnach in etwa 70 pCt. aller Falle 
komplementablenkende Stoffe im Blutserum der Tabiker gefunden. 

Dem gegeniiber sind viel weniger Resultate iiber das Vor- 
kommen der Wassermann-Beaktion bei der Untersuohung des 
Liquors der Tabiker veroffentlicht worden. 

Wir finden dariiber: 


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Hier sobwanken also die erzielten Resultate zwischen 22 und 
80 pCt. positiver Reaktion (gegeniiber 90—100 pCt. im Liquor 
der Paralytiker). 

Ueber das Vorkommen der Wassermann-Neisser-Bruckachen 
Reaktion bei Tabes sagen ferner, ohne Belegzahlen zu geben: 

Fauser: „Bei den metaluetischen Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems ergiebt die serologische Untersuchung sowohl des 
Blutes wie der Spinalfliissigkeit fast nur positive Reaktion.** 

Knoblauch: „Bei der Untersuchung des Liquors der Tabiker 
und der Paralytiker erfolgt fast konstant positiver Ausfall der 
Wassermann-Reaktion. * * 

R. Muller: „Bei der Paralyse ist die Wassermann-Reaktion 
beinahe ausnahmslos positiv, bei der Tabes manchmal negativ.** 
Frenkel-Heiden: ,,Die Untersuchung des Serums der Tabiker 
ergibb haufiger negative als positive Reaktion.“ 

Weygandt: „Bei der Untersuchung einer beschrankten An- 
zahl von Spinalfliissigkeiten bei Tabes dorsalis liess sich eine 
irgendwie spezifische Reaktion nicht erkennen.** 

Reinhart: „Bei den Fallen, bei denen Lumbalfliissigkeit zu- 
gleich untersucht werden konnte, stimmten die positiven wie 
negativen Resultate bei Blutserum und bei der Lumbalfliissigkeit 
iiberein. Nur bei einem Tabiker war das Blutserum positiv, die 
Lumbalfliissigkeit dagegen negativ. Die beginnenden Tabiker 
zeigen wesentlich hohere Resultate als die alten, stabilen Falle.“ 
Richard Bauer und Georg Meier: „Unter den 4 negativen 
Seren stammten 3 von 3 sehr schweren Fallen.“ 

Mott, F .W.: ,,Eine positive Wassermann-Reaktion mit der 
Cerebrospinalfliissigkeit ist fur Paralyse charakteristisch.** Unter 
100 Cerebrospinalfliissigkeiten fand M. die Reaktion nur bei den 
Paralysen positiv, und zwar bei 89pCt. von samtlichen untersuchten 
Paralysef alien. 

Plaid, F.: ,,Die Wassertnannsche Reaktion des Blutserums 
fallt bei Lues cerebri, Paralyse und Tabes fast stets positiv aus. 
Die Wassermannsche Reaktion der Spinalfliissigkeit ist bei Paralyse 


') Anmerkung: Schulte unterecheidet in der betreffenden Arbeit nicht 
streng, ob Tabes oder oi> Tabo- Para lyse vorlii gt. 


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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


131 


fast immer positiv, wahrend sie bei Lues cerebri fast nie und dann 
nur sehr schwach auftritt.“ 

Es besteht demnach in Hinsicht auf den Gehalt des Liquors 
der Tabiker an komplementablenkenden Stoffen noch eine be- 
trachtliche Differenz der Ansichten. 

Die Angaben der meisten Autoren lassen sich schlecht mit 
den von uns erzielten Resultaten vereinen. 

Bei der Wichtigkeit der vorliegenden Frage halten wir es 
deshalb fiir unsere Pflicht, unser Material vorzulegen. 

Wenn wir strengste Kritik an die Diagnose Tabes dorsalis 
legen, so bleiben 93 Falle iibrig, die wir von Mitte Oktober 1908 
bis zum 1. XI. 1909 untersucht haben. Samtliche Falle waren 
entweder auf Nonnes Abteilung im Eppendorfer Krankenhause 
oder entstammten der Privatpraxis von Nonne. Alle Falle waren 
lange beobachtet und mit alien Kautelen wiederholt untersucht 
worden. Die Anamnese auf Syphilis wurde in der von Nonne 
seit langen Jahren geiibten Weise angestellt, dass alle Familien- 
angehorigen der Kranken, die man erreichen konnte, ebenfalls 
auf Residuen von Lues und auf organisch-somatische Hirn-Riicken- 
marks-Symptome untersucht wurden. Wieviel sich bei einer 
solchen systematischen Durchfiihrung erreichen lasst, ergibt sich 
aus der Dissertation von E. Suntheim, die ein Material von Nonne 
bearbeitet, das sich auf 152 Falle von Tabes bezieht, und die 
zeigen konnte, dass man in 9,9 pCt. der Falle ,,Familiengruppen“ 
nachweisen kann. 


Von 


Wir sondem unsere Falle in sechs Gruppen: 

1. inzipiente Falle; 

2. Iang8am progrediente Falle mit erstem Beginn von Ataxie; 

3. zur Zeit statioruire, , t imperfekte“ Falle, ohne Ataxie; 

4. ,,normal^ progrediente Vollfalle; 

5. ungewohnlich schnell (,,alcute“) progrediente Vollfalle; 

6. ganz alte, abgelaufene, hochstgradige Falle. 

der Kategorie I haben wir in unserer Statistik 14 Falle 

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Unter diesen 93 Fallen befinden sich (in Gruppe IV) zwei 
Falle, bei denen das gegenwartige Zustandsbild doch vielleicht 
einen ganz leisen Verdacht, dass sich eine Paralyse entwickeln will, 
aufkommen lasst. 

Die Ergebnisse der Wassermann-Reaktion im Blut und im 
Liquor spinalis konnen verschieden sein; entweder: 

1. ist die Reaktion positiv in beiden Fliissigkeiten, 
oder 2. negativ in beiden Fliissigkeiten, 
oder 3. positiv nur im Blutserum allein, 
oder 4. positiv nur im Liquor spinalis allein. 

Wir stellen die Ergebnisse unserer Untersuchungen in folgender 
Tabelle zusammen: 


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132 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 



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Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 



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4 4 +| Totale Pup.-Starre, Pat.- u. Ach.-Refl. 0, Sensib.- 

Jahren , Jahre | Storungen, gastrische Krisen 



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Gruppe IV. 


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19 Schu. I 1 * 2 + llefl. Pup.-Starre, Sehnen-Refl. O, lane. u. 

Jahreni Mon. Giirtelschmerzen, Sensib.-Stor., Blasenlahmung, 

Ataxie, Hypotonie 



140 Nomie-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 




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Frgebnisse der Gruppe IV: 

Phase I — in 39 Fallon - 98 pCt. 

Lymphozytose -j- „ 38 „ = 95 „ 

Hint 4- „ 31 .. ^ 76 .. 




142 


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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


143 


Als Gesamtresultat ergibt sick: 

Phase I (Globulinvermehrung) positiv in 84 (von 90) Fallen = 93 pCt. 

Lymphocytose „ „ 82 ( „ 91) „ = 90 „ 

Wassermann- j im Blutserum „ 62 ( „ 93) ,, == 67 „ 

Reaktion ) im Liquor spinalis „ „ 8 ( „ 93) „ = 9 „ 

Interessant ist, dass die ohne Riicksicht auf den Ausfall der 
4 Reaktionen, nur nach dem klinischen Bild vorgenommene Gruppen- 
einteilung sich in den erzielten Untersuchungsresultaten wider- 
spiegelt. 

Phase I (Globulinvermehrung) und Lymphozytose gehen im 
wesentlichen miteinander parallel und kommen am konstantesten 
vor. (Phase I noch etwas haufiger als Lymphozytose.) 

Der Ausfall der Wassermann-Reaktion im Blutserum unter- 
liegt dagegen betrdchtlichen Schwankungen : 

Gruppe I: inzipiente Falle in 70 pCt. positiv 

,, II; langsam progrediente Falle mit 

erstem Beginn von Ataxie „ 47 „ „ 

„ III: zur Zeitstationdre, imperfekte Falle 

ohne Ataxie „ 47 „ „ 

,, IV: ,,normal progrediente VoUfcille „ 76 ,, ,, 

„ V: ungewohnlich schndl („akute il ) pro¬ 
grediente VollfaUe „ 86 „ „ 

Wenn es gestattet ist, aus der fur diesen Zweck ja allerdings 
nur kleinen Zahl von Fallen Schliisse zu ziehen, so ware es der, 
dass die Verschiedenheit der Resultate der Autoren sich erklaren 
lasst aus der Verschiedenheit des klinischen Verlaufs der von ihnen 
untersuchten Falle. 

Die durchschnittliche Prozentzahl der im Serum positiven 
Reaktionen bei der Gesamtheit unserer Falle (67 pCt.) stimmt 
jedenfalls, besonders im Hinblick darauf, dass wir besonders strong 
paralyseverdachtige Falle ausmerzten, gut mit den in der Literatur 
gefundenen Zahlen (durchschnittlich etwa 70 pCt.) iiberein. 

Um so mehr muss es daher auffallen, dass wir bei der Unter- 
suchung der Lumbalfliissigkeit der Tabiker auf ihren Gehalt an 
komplementablenkenden Stoffen andere Resultate erhalten haben, 
als die Mehrzahl der ubrigen Autoren. Eine positive Wasser- 
mann-Reaktion im Liquor derTabiker fanden wir recht selten. Unter 
Fallen reagierte der Liquor nur 8 mal positiv. In alien 8 Fallen 
war gleichzeitig das Serum entweder gleich stark oder starker 
positiv. 

Von 2 zu diesen 8 gehorenden Fallen (No. 32 und No. 36 der 
Gruppe IV) kann man ausserdem immerhin noch sagen, dass sie 
nicht gam unverdachtig auf eine beginnende Paralyse sind; und 
der Liquor dieser zwei Falle gibt auch nur dann eine positive 
Reaktion, wenn die zur Untersuchung verwandte Extraktmenge 
so gross genommen ist, dass das doppelte Quantum allein, ohne 

Afonatsschrift ftlr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVCI. Heft 2. 10 


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144 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 


Serumzusatz, eine vollstandige Losung des hamolytischen Systems 
bereits hindert. 

Ueber die angewandte Technik (Originalmethode Wassermann) 
haben wir uns des naheren a. a. 0. ausgelassen, wir betonen hier 
nor nochmals, dass alle Kontrollen vorschriftsmassig von uns 
angewendet worden sind 1 ). 

Bemerkenswert ist, dass sich in keinem der hier angefuhrten 
Falle die Kombination: Wassermann-Reaktion im Blut negativ, 
im Liquor spinalis positiv ergeben hat 2 ). 

Ein derartiges Resultat hat Nonne friiher einmal bei multipier 
Sklerose bekommen, doch haben wir bei den in seither fast 
100 weiteren Fallen von multipler Sklerose vorgenommenen Unter- 
suchungen nie tvieder einen positiv reagierenden Liquor gesehen, 
wohl aber wurden in diesem weiteren Beobachtungsmaterial von 
multipler Sklerose ivieder dreimal hemmende Substanzen im Blut- 
serum gejunden. Dasselbe fanden neuerdings auch Saar in der 
Klinik von Kraus in Berlin (Serologische Untersuchung durch 
Citron) sowie femer Saathoff in der Klinik von Friedrich 
Mailer in Miinchen. 

Vor kurzem hat Zeissler in Muchs Laboratorium eine Methode 
ausgearbeitet, nach der die Hemmungskorper der Wassermannschen 
Reaktion quantitativ bestimmt werden konnen. Die Methode 
beruht auf einer genauen Bestimmung der Komplementmenge, die 
ein Scrum resp. eine Spinalfliissigkeit unter bestimmten Be- 
dingungen zu binden vermag. Zeissler titriert zu diesem Zw-ecke 
vor der Anstellung der Reaktion die im Meerschweinchenserum 
enthaltene Komplementmenge jedesmal genau aus. Da durch das 
bisher iibliche Inaktivieren das Komplement des Menschenserums 
nicht ganz beseitigt wird, halt Zeissler die Sera zwei Stunden lang 
bei 58* und iiberzeugt sich durch einen Kontrollversuch da von, 
dass das Menschenserum keinen die Reaktion beeinflussenden 
Komplementrest mehr enthalt. Dann werden in verschiedenen 
Rohrchen fallende Dosen des Menschenserums und des Extrakts 
mit steigenden Dosen des Komplements zusammengebracht. 
Ausserdem werden die zur Vermeidung von Fehlerquellen notigen 
Kontrollen angesetzt. Zeissler bekommt auf diese Weise 5 Starke- 
grade der Reaktion. Diese Methode hat den grossen Vorzug, dass 
bei ihr nicht mit dem leicht zu Fehlem und Irrtiimem fiihrenden 
Begriff der ,,partiellen Hemmung“ operiert w r ird. 

’) Anmerkung: Die IFoMermann-Reaktionen wurden im JlfucAschen 
Laboratorium des Eppendorfer Krankenhauses toils von Holzmann, teils 
von Zeissler ausgefuhrt. 

2 ) Anmerkung : Schiitze hat in einem Fall von Tabes dorsaliB bei wieder- 
holter Untersuchung die Reaktion im Liquor positiv und im Blut negativ 
gefunden. Plaut hat 3 mal unter 147 Fallen die Reaktion im Spinalpunktat 
starker als im Blut gesehen. Marie, Levadili und Jamanouchi sagen aller- 
dings, in ihren Fallen sei die \\ .-Reaktion bei Paralyse im Spinalpunktat 
in 93 pCt. und im Serum nur in 56 pCt. vorgekommen, dem steht jedoch 
entgegen, dass alle iibrigen Untersucher bei Paralyse einen weit hoheren 
Prozentsatz der positiven Serumreaktionen angeben. 


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iin Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


145 


Diese Methode wurde uns erst bekannt, ale der grosste Teii 
unserer Beobachtungen bereits abgeschiossen war. Wir batten 
aber noch Gelegenheit, bei einer Reihe von Fallen die quantitative 
Auswertung anzuwenden. Dabei ergaben sich interessante Tat- 
sachen, die durchaus geeignet sind, unsere Feststellungen zu stiitzen. 

In der folgenden Tabelle sind nur die positiv reagierenden 
Falle aufgefiihrt, da nur der Starkegrad der Reaktion, nicht die 
Haufigkeit ihres Vorkonunens bei den verschiedenen Krankheiten 
iiberhaupt illustriert werden soil. 


a. Blutserum. 


Starke 

V IV 

; 

III 


I 

1 Zahl der 
Falle 

Paralyse 

1 

17 = 50 % 5 — 15 °/o 

7 = 20 ®/o 

2 — 6 % 

2 = 6% 

33 

Tabes 

o 

o''' 

I'- 

II 

o 

o 

II 

o 

4 — 24 % 

3=17 % 

9 = 50 % 

17 positiv 
5 negativ 

Lues cerebri 
Lues hereditaria 

2 = 30 °/« 2 - 30 V. 

3—40 Vo 

0 = ov. 

0= 0% 

r* 

4 

mit Beteiligung d. 

Nervensystems 
Lues ohne Be¬ 

2 = 66 % 1 = 34»/, 

i 

o= ov. 

o — ov. 

1 

1 

0 = ov. 

3 

1 

teiligung des 
Nervensystems 

4 — 10 Vo! 0 -- 16 °/o 

1 

7 = 20 V. 

| 5 = 14 Vo 

1 

i 

17 - 40 V. 

1 39 

1 


Demnach weisen nach Zeissler einen sehr grossen Gehalt 
an Hemmungskorpern die Paralyse und die Lues hereditaria mit 
Beteiligung des Nervensystems auf, dann folgt die Lues cerebro- 
spinalis, wohingegen auch das Blut-Serum der Tabiker nur in ver- 
haltnismassig wenigen Fallen stark reagiert: 50 pCt. der positiv 
reagierendenTabesfalle haben in ihrem Serum nursovielHemmungs- 
korper, um mit der austitrierten Extrakt-Test-Dosis eine eben 
losende Komplementeinheit zu binden (Starke I). Sie stehen hart 
an der Grenze der noch als positiv zu bezeichnenden Sera 1 ). 

Derartig geringe Mengen von Hemmungskorpern haben nur 
2 (=6 pCt.) von 33 positiv reagierenden Paralytiker-Seren, 
wahrend 17 (= 50 pCt.) den nach Zeissler hochsten Starkegrad der 
Reaktion aufweisen 2 ). 

') Anmerkung: Bei der quantitativen Hemmungskorperbeetimmung 
Zeissler8 entspricht die Starke I der unteren Grenze der nooh als potitiv 
zu rechnenden Wassermann-Reaktion. Nach Zeissler ist dies so zu verstehen, 
dass ein Serum, das nach der quantitativen Methode Starke I an Hemmungs¬ 
korpern besitzt, je nach seinem eigenen Komplementgehalt und dem Kom- 
plementgehalt des zu dem jeweiligen Versuch benutzten Meerschweinchen- 
sennns nach der urspriinglichen Wassermann-Methode positiv oder negativ 
reagieren wird. 

2 ) Anmerkung: Die Menge des Hemmungskorpers ist nach Zeissler 
nicht direkt aus dem Starkegrad abzulesen. sondern das Verhaltnis ist 
derart, dass 

10 * 


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146 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 


Aehnliches, nor nock soharfer ausgepragt, zeigt sich, wenn 
naoh Zeisslers Methode die Liquora quantitativ ausgewertet werden. 

In den folgenden Tabellen sind auch die negativ reagierenden 
F&lle aufgefiihrt und in den Prozentzahlen enthalten: 


Dementia 
paralyt. 
Tabes dorsalis 
Lues 

cerebrospinalis 

Kontroll- 

untersuchungen 


b. Liquor spinalis. 

V IV III II I 


0 


3=13% 


5=22% 2=9% 7=30% 

1=6 % 


5=22% 

2 = 12 % 


1=4% 
13=81-%») 


3 


4 


Also: Wahrend bei der Paralyse die hemmenden Korper in zum 
Teil sehr grossen Mengen im Liquor spinalis vorhanden sind und 
wahrend nur einer von 23 Fallen keine komplementbindenden 
Stoffe im Liquor nachweisen lasst, ergaben von 15 untersuchten 
Tabes-Liquora nur 2 den geringsten, eben noch giiltigen Hemmungs- 
grad und nur ein Fall den Starkegrad II. 13 Liquora liessen bei 
genauester Auswertung; wenn 0,2 ccm des Liquor zur Anstellung 
der Eeaktion verwandt wurden, keine Spur von hemmenden 
Substanzen erkennen. 

Wir haben auch in 3 Fallen von Lues cerebrospinalis den Liquor 
spinalis quantitativ auswerten konnen. Die Frage lag ja nahe, ob 
auch in den Fallen von echter Syphilis des Nervensysfcems die 
Hemmungskorper nur in sehr geringer Menge vorhanden seien, 
oder ob sie wirklich fehlten. Es zeigte sich, dass die letztere An- 
nahme fur die ersten beiden Falle zutrifft. Es handelt sich im ersten 
Fall um eine Arteriitis basalis luica mit einer Blutung in die Briicke. 
Die Sektion bestatigte die klinische Diagnose. Der zweite Fall 
betrifft eine Frau, die, vor 18 Jahren von ihrem Ehcmann infiziert, 
seit 12 Jahren die Erscheinungen einer Meningo-Myelitis luica 
darbietet. Beide Liquora liessen nicht eine Spur komplement- 
ablenkender Stoffe nachweisen. Im 3. Fall handelte es sich um 
eine durch die Sektion erwiesene Meningo-Encephalitis gummosa. 
Die mikroskopische Untersuchung durch Herm Privatdozent 


Starke 

ii 

»= etwa die 2 

» 

HI 

= .... 4 

»* 

IV 

= „ „ 10 

*t 

V 

= „ 20 



und mehr 


fache Menge an Hemmungskorpern 
bezeichnet als die Starke I. 


l ) Anmerkung: Bei der Verwendung grosserer Liquormengen (0,3 und 
0,4 ccm) zur Anstellung der Reaktion gelingt es gelegentlich bei Tabes 
und Paralyse auch dann noch Hemmungskorper nachzuweisen, wenn die 
iibliche Menge (0,2 ccm) der Lumbalfliissigkeit negativ reagiert. Eine der- 
artige Reaktion wurde in der I. Tabelle mit % bezeichnet. 


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ini Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


147 


Dr. Panfce-Heidelberg zeigte, dass eine Komplikation mit Paralyse 
nicht vorlag. Hier ergab die Untersuchung des Liquor nur den in 
der vorigen Anmerkung gekennzeichneten Starkegrad %, d. h. 
also eine so schwache Reaktion, dass sie bei der Untersuchung 
nach der JFoaaermann-Originalmethode (0,2 des Liquor) nicht 
zum Ausdruck gekommen ware. 

Von Zeissler wurden uns noch folgende 2 Diagramme zur 
Yerfiigung gestellt. Diese Diagramme zeigen den durchschnittlichen 
Hemmungskorpergehalt einmal des Serums, dann des Liquor bei 
den luischen und metaluischen Erkrankungen. Die Werte wurden 
auf folgende Weise gewommen. Es wurde die Summe der in x 
Fallen enthaltenen komplementablenkenden Stoffe durch die An- 
zahl der Falle (x) dividiert. Nach dieser Berechnung wurden i. B. 
bei der Paralyse durchschnittlich 10,7 komplementeinheiten- 
ablenkende Stoffe in 0,2 des Serums gefunden. Die fur die 
iibrigen angefiihrten Krankheiten giiltigen Zahlen sind aus den Dia- 
grammen ersichtlich. Dae auf diese Weise gewonnene Diagramm 
des Serums ist ein neuer Beleg fur bereits bekannte Verhaltnisse; 
das heisst, es entsprechen die so gewonnenen Zahlen im wesentlichen 
den in der Literatur angegebenen Prozentzahlen der bei den ein- 
zelnen Krankheiten positiven Falle. — Das Diagramm des Liquor 
dagegen, das unter genau denselben Verhaltnissen gewonnen ist 
wie das des Serums, zeigt in anschaulicher Weise die von uns be- 
hauptete und in der Literatur bisher noch nicht ausgesprochene, 
neu gefundene Tatsache, dass, im Durchschnitt genommen, der 
Hemmungskorpergehalt des Liquor bei Paralyse ganz betrachtlich, das 
heisst, um etvca das 13fache, den durchschnittlich im Liquor bei Tabes 
rorhandenen iibersteigt. Dass sich die Lues cerebrospinalis ganz 
ahnlich gegeniiber der Paralyse verhalt, ist eine bereits bekannte 
Tatsache. 



Nehmen wir nun die einzelnen wenigen Falle, bei denen die 
W.-Reaktion bei Tabes dorsalis im Liquor spinalis positiv war, 
durch, so ergibt sich: 

1. Oruppe I. No. 9. H. ist ein Fall von seit langen Jahren 
stationarer, imperfekter Tabes mit gastrischen Krisen und ist mit 
schwerstem Morphinismus kompliziert. 


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148 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 

2. Gruppe III. No. 2. Fr. ist gleichfalls ein imperfekter Tabiker 
und leidet auffallenderweise ebenfalls, wenn auch in leichterem 
Grade, an gastrischen Krisen. 

3. Gruppe IV. No. 31. Ov.bietetnichtsBesonderes;eshandelt 
sich umeinen mittelweit vorgeschrittenen Tabiker, derbei genauester 
Untersuchung und Beobachtung keine Anzeichen etwa beginnender 
Dementia paralytica erkennen lasst. 

4. Gruppe IV. No. 32. Mi. Hier war wie bei 

5. GruppeIV. No. 36. Hu. die Reaktion nur schwach positiv, 
zudem war das hamolytische System bei der Kontrolle — doppelte 
Extraktmenge ohne Serum — nicht vollstandig gelost. Beide-Falle 
liessen den Verdacht einer beginnenden Paralyse nicht gam von 
der Hand weisen. 

6. Gruppe V. No. 4. Si. ist ein vorgeschrittener Tabiker, 
dessen psychisohe Qualitaten vollstandig intakt sind. Bei der 
Anstellung dieser Reaktion hemmte auch die doppelte Extrakt¬ 
menge ohne Serum-Zusatz die Hamolyse nicht. 

7. Gruppe III. No. 15. So. ist ein Fall von vorgeschrittener 
Tabes mit beiderseitiger totaler Opticusatrophie. Die Kontrollen 
waren in Ordnung. 

8. Gruppe IV. No. 41 . Mo. ist ein vorgeschrittener Fall mit 
beiderseitiger beginnender Opticusatrophie und tabischen Gelenk- 
veranderungen sowie Spontanfrakturen. Ein psychischer Defekt 
ist nicht nachweisbar. Hier gab sowohl das Serum wie der Liquor — 
nach der Zeisslerschem Methode ausgewertet — auffallend hohe 
Starkegrade: Serum IV, Liquor II. Eine Erklarung dafiir ver- 
mogen wir einstweilen nicht zu geben. 

Bemerkenswert ist, dass sich unter diesen 8, im Liquor positiv 
reagierenden Fallen 2 Tabiker mit gastrischen Krisen 1 ) und 2 mit 
Opticusatrophien finden. 

Es hat sich somit bestatigb, dass bei alien verschiedenen 
Formen und in alien verschiedenen Stadien der Tabes, wenn es sich 
nur um Tabes und nicht um eine Kombination mit Paralyse handelt, 
die W.-Reaktion im Liquor in den weitaus meisten Fallen fehlt. 
Wenn man die Original-Methode Wassermanns anwendet und die 
noch immer zu Recht bestehende (vergl. Sachs-AUmann im Kolle- 
Wassermannschen Handbuch) Kontrolle beachtet, dass sowohl 
die doppelte Menge des zur Anstellung der Reaktion verwandten 
Serums oder Liquors, wie die doppelte Menge des Extrakts nicht 
selbst hemmen darf, so muss eine positive Wassermann-Reaktion 

') Amnerkurur: Wir machten die Beobachtung (der Fall steht in 
Zaiaalera Publikation bereits angefiihrt), dass in einem Fall das nach der 
Zaiaalerachen Methode ausgewertete Serum die Starke II. nach einer Woche, 
wahrend der die Kranke eine 2 Tage wahrende heftige gastrische Krise 
durchgemacht hatte, die Starke IV aufwies. Im Gegensatz dazu zeigte 
eine Anzahl anderer Falle von Tabes ohne gastrische Krisen noch nach 
S—4 wochentlicher, auch spezifischer Behandlung, denselben Starkegrad der 
Reaktion wie bei der Aufnahme. 


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iin Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc. 


149 


des Liquor spinalis stets den Verdacht einer schon vorhandenen 
oder im Entstehen begriffenen Paralyse erwecken. 

Die von Jacobsthal ktirzlich mitgeteilte Tatsache, dass bei 
emem Fall von Tabes incipiens anfangs das Serum keine Hemmung, 
die Lumbalfliissigkeit totale Hemmung der Hamolyse, 8 Tage 
spater, neu entnommenes Blut schtoach positive, die frische Lumbal- 
fliissigkeit stark positive Reaktion ergeben habe, vermogen wir 
vorlaufig schwer zu deuten. Wir haben einerseits, wie unsere 
Tabellen zeigen, iiberhaupt ausserst selten eine stark positive 
W.-Reaktion im Liquor der Tabiker gefunden — nur ein einziges 
Mai unter 93 Fallen —, und andererseits haben wir niemals den 
Liquor positiv und das Serum negativ reagieren sehen. Doch ist 
in der Literatur, wie bereits oben erwahnt, gelegentlich ein der- 
artiges Verhalten der Korperfliissigkeiten beobachtet worden. 

Jedenfalls muss es abgelehnt werden, wenn Jacobsthal sagt, 
dass die positive Reaktion im Liquor spinalis einen Schluss auf 
die ,,Lokalisation des syphilitischen Herdes im Nervensystem“ 
gestattet. Schon der Fail Jacobsthals selbst ist dazu nicht geeignet, 
denn es handelt sich um einen Fall von Tabes dorsalis, also nioht 
um einen Fall mit einem , .syphilitischen Herd“; zweitens aber sind 
dariiber die Akten heute geschlossen (Plaut, Stertz, Nonne u. A.), 
dass gerade bei den Fallen, bei denen wir es mit lokalisierten eoht- 
syphUitischen, d. h, gummosen und spezifisch arteriitisohen 
Prozessen zu tun haben, die W.-Reaktion im Liquor spinalis fast 
immer fehlt; darin sollen wir uns nicht wieder beirren lassen. 

Wir glauben, dass unsere Ausfiihrungen geeignet sind, dar- 
zutun, dass bei Tabes dorsalis simplex in alien Stadien und in alien 
Formen die Wassermann-Reaktion, nach der Originalmethode an- 
gestellt, typischer Weise im Liquor fehlt, und dass diese Tatsache 
uns eine differential-diagnostische Hiilfe gegeniiber den Fallen von 
inzipienter Paralyse mit Hinterstrang-Symptomen sowie gegeniiber 
den Fallen von systematischer Tabes mit beginnender Paralyse, 
und zwar nur gegeniiber diesen Fallen, liefert. 

Es lag nicht in unserer Absicht, hier auf andere Krankheiten 
organischer und funktioneller Natur einzugehen, umsoweniger, 
als dariiber in der letzten Zeit im wesentlichen eine Ueberein- 
stimmung der Untersucher erzielt worden ist. 

Hamburg, im November 1909. 

Literatur- Verzeichnis. 

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Deutech. med. Wochenschr. 1909. No. 13. 

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18. IX. 1909. Ref. Deutsche med. Wochenschr. 1909. No. 41. 

4. K. Donath, Der heutige Stand der Serodiagnostik bei Syphilis. Verein 

d. Aerate in Halle a. S. M. M. W. No. 18. 


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150 


Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion 


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Berlin. Ref. Neurolog. Zentralblatt. 1909. No. 2. 

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mann-Neisser-Brucksche Reaktion und derenKontrolle durch Sektions- 
reeultate. Med. Klinik. 1909. No. 46. 

12. Jacob sthal, E., Ueber positive Wassermannsche Reaktion der Lumbal- 

fliissigkeit bei negativer dee Blutes. Hamburger Aerzte-Korrespondenz. 
1909. No. 45. 

13. Jesionek und Meirowsky, Munch, med. Woohensohr. 1909. No. 45. 

14. Jons, Paralysis generalis progressiva. Lancet. 24. VII. 1909. 

15. Kafka, Victor, Ueber die klinische Bedeutung der Komplementbindungs- 

reaktion im Liquor cerebroapinalis, speziell bei der progreesiven 
Paralyse. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXTV. H. 6. 

16. Katin, Die Diagnose der initialen Tabes. Berl. klin. Woohensohr. 1909. 

No. 25. 

17. Klein, Wert der Wassermannschen Reaktion fur die Psychiatric. 

Tijdschr. voor Geneesk. 1909. No. 22. 

18. Knoblauch, A., Die differentials Diagnose der Himlues. 34. Wander- 

versammlung der siidwestdeutschen N eurologen und Irrenarzte am 
22. u. 23. V. in Biwlen-Baden. Ref. Berl. khn. Woohensohr. 1909. 
No. 33. 

19. Ledermann, Ueber die Bedeutung der Wassermannschen Serumreaktion 

fur die Diagnose und Behandlung der Syphilis. Med. Klinik. 1909. 
No. 12. 

20. Derselbe, Psychiatr. Verein zu Berlin. Ref. Neurol. Centralbl. 1909. 

No. 2. 

21. Lesser, Fritz , Weitere Ergebnisse der Serodiagnostik der Syphilis. 

Deutsche med. Woohensohr. 1909. No. 9. 

22. Derselbe, Tabes und Paralyse imLichte der neuen Syphilisforsohung. 

Berl. klin. Wochenschr. 1908. No. 39. 

23. Marie , A., und Levaditi, C., Les antioorps syphilitiques dans le liquids 

c^phalo-rachidien des paralytiques g6n6raux et des tab&iquee. Annales 
de ITnstitut Pasteur. 1907. Bd. XXI. No. 2. 

24. Dieselben und Jamanouchi, Compt. rend, de la Soc. de Biol. 1908. XIV. 

No. 4. 

26. Marineeco, G. } Sur le diagnostic de la paralysis g£n6rale et du tabds 
par les nouvelles m^thodes. Compt. rend, de la Soc. de Biol. 1909. F. 66. 

26. Meyer, Zur Untersuchung der Cerebrospinalflussigkeit. Verein fur 

wissenschaftliche Heilkunde zu Konigsberg i. Pr. Ref. Berl. klin. 
Wochenschrift. No. 12. 

27. J. Morgenroth und G. Stertz, Ueber den Nachweis syphilitischer Anti- 

korper im Liquor cerebroapinalis von Paralytikem nach dem Wasser- 
mann-Plautschen Verfahren der Komplementablenkung. Virchows 
Archiv. 1907. Bd. 188. 

28. Mott, F. W., Pathology of syphilis of the nervous system in the light of 


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im Liquor spiuulis bei Tabes dorsalis etc. 


151 


modern research. Archives of Neur. and Psych. IV. 1909. Ref. 
Neurolog. Centralblatt. 1909. No. 23. 

29. Mutter, R ., Ueber den technischen Ausbau der Wassermannschen 

Reaktion nebst klinischen Betrachtungen iiber deren Wert und Wesen. 
Wiener klin. Wochenschr. 1909. No. 40. 

30. Nonne , M., Syphilis und Nervensystem. II. Auflage. Berlin 1909. 

S. Karger. 

31. Derselbe, Verhandlungen der Gesellschaft Deutscher Nervenarzte. 

Heidelberg. Oktober 1908. 

32. Derselbe, Die Diagnose der Syphilis bei Erkrankungen des zentralen 

Nervensysterns, mit besonderer Reriicksichtigung a) der zytologiachen 
und chemischen Ergebnisse der diagnostischen Lumbalpunktion, 
b) der serodiagnostisehen Untersuchungen am Blut und an der Lumbal- 
fliissigkeit. speziell bei Tabes und Paralyse. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilkunde. 1909. Bd. 36. 

33. Derselbe, Clinical diagnosis of the syphilogenous diseases of the central 

nervous system. The .Journal of the American medical association. 
1909. Vol. VIII. p. 289—296. 

34. Derselbe und W. Holztnann , Weitere Erfahrungen liber den Wert 

der neueren zytologisehen, chemischen und biologischen Unter- 
8uchungsmethoden fiir die Differentialdiagnose der syphilogenen 
Erkrankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an 295 neueren 
Fallen von organischen Erkrankungen des Hirna und des Riicken- 
marks. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 1909. Bd. 37. 

35. Derselbe, Weitere Erfahrungen iiber die ,,4 Reaktionen 44 (Lymphozytose, 

Globulin-Vermehrung [Phase I], Wassermann-Reaktion im Blut und 
im Liquor spinalis) fiir die Differentialdiagnose der syphilogenen 
Erkrankungen des Zentralnervensystems. Deutsche Zeitschr. f. 
Nervenheilkunde. Januar 1910. 

36. PeritZyQ., Lues, Tabes und Paralyse in ihren atiologischen und thera- 

peutischen Beziehungen zum Lecithin. Berl. klin. Wochenschr. 1908. 
No. 2. 

37. Derselbe, Das Verhaltnis von Lues, Tabes und Paralyse zum Lezithin. 

Zeitschr. f. experim. Pathologie u. Therapie. 1909. Bd. 5. 

38. Plant, F ., Ueber den gegenwartigen Stand des serologischen Lues- 

nachweises bei den syphilidogenen Erkrankungen des Zentralnerven- 
syBtems. M. M. W. 1907. No. 30. 

39. Derselbe, Die Wassermaimsche Serodiagnostik der Syphilis in ihrer 

Anwendung auf die Psychiatrie. Jena 1909. Gustav Fischer. 

40. Derselbe, Die luetischen Geistesstorungen. Centralbl. f. Nervenheilk. 

u. Psych. 1909. No. 18. 

41. Reinhart, Erfahrungen mit der Waasermann-Neisser-Bruckschen Syphilis- 

Reaktion. Munch, ined. Wochenschr. 1909. No. 41. 

41a.jSoar, Ein Fall von akut- verlaufener inselformiger Sklerose der Medulla 
oblongata. Charite-Annalen. 33. Jahrgang. 

42. Saathoff, Plant u. Baisch, Ueber die klinische Bedeutung der Wasser¬ 

mannschen Reaktion in der inneren Medizin, der Psychiatrie und der 
Frauenheilkunde. Aerztlicher Verein zu Miinchen. Berl. klin. Wochen- 
schrift. 1909. No. 32. 

43. Sachs , U. und K. Attmann, Komplementbindung. Handbuch der pat ho- 

genen Mikroorganismen. Kolle und Wassermann: Zweiter Erganzungs- 
band. 1909. Gustav Fischer. 

44. Schiitze, A ., Tabes und Lues. Zeitschr. f. klin. Medizin. Bd. 65. H. 5 u. 6. 

45. Smith, J. Hindersen und D . P. Candler, Wafsermanneche Reaktion 

bei progressiver Paralyse. Brit. med. Journ. 24. VII. 1909. 

46. Sonnenburg , Weitere Erfahrungen iiber Serodiagnostik der Syphilis. 

Med. Gesellschaft z. Magdeburg. 29. IV. 1909. M. M. W. 1909. No. 33. 

47. Stertz , Serodiagnostik in der Psychiatrie und Neurologie. Allgemeine 

Zeitschr. f. Psychiatrie u. psychisch-gerichtliche Medizin. 1908. 
Bd. 65. Heft 4. 


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152 S z e r s i . Zur Technik der chemischen und cytologischen 


48. Suntheim, Erich, Ueber konjugale Tabes und Paralyse. Inaug.-Diss. 

Leipzig. 1909. Bruno Georgi. 

49. Wassermann, A. f und F. Plaut % Ueber das Vorhandensein syphilitischer 

Antistoffe in der Cerebrospinaifliissigkeit von Paralytikem. Deutsche 
med. Wochenschr. 1906. No. 44. 

50. Weil, E., und H. Braun, Ueber Antikorperbefunde bei Lues, Tabe$ und 

Paralyse. Berl. klin. Wochenschr. 1909. No. 49 u. 52. 

51. WeygandX, Syphilitische Antistoffe in der Cerebrospinalflussigkeit bei 

Tabes dorsalis. Physikalisch-medizinische Gesellschaft Wurzburg. 
31. I. 1907. Deutsche med. Wochenschr. 1907. No. 30. 

52. Williamson, G . S. t The cerebro-spinal fluid in general paralysis and the 

nervous lues. Lancet. 1909. 4467. 

53. Zaloziecki , A., Zur klinischen Bewertung der serodiagnostischen Lues- 

reaktion nach Wassermann in der Psychiatrie. nebst Bemerkungen 
zu denUntersuchungsmethoden des Liquor cerebrospinalis. Monatsschr. 
f. Psychiatrie u. Neurologie. 1909. Bd. 26. 

54. Zeissler ,«/., Quantitative Hemmungskorperbestimmung bei der Wasser- 

mannschen Reaktion. Berliner klin. Wochenschr. 1909. No. 44. 


(Aus dem pathologischen Institut der Universitat Genf 
[Direktor: Prof. Askanazy.]) 

Zur Technik der ehemischen 
und cytologischen Untersuchung der Lumbalflussigkeit. 

Von 

STEPHAN SZECSI 

in Genf. 

Im folgenden will ich zwei Modifikationen der fruheren Unter- 
suchungsmethoden besprechen, die ich als zweekniassig empfehlen 
kann. 

Die erste Modifikation betrifftdie bekannteEiweissbestimmungs- 
methode von Nonne und A pelt (1). Ich wall nur ganz kurz die 
Originalmethode schildern. Sie besteht darin, dass 2 ccm Lumbal- 
fliissigkeit mit derselben Menge einer S5 proz. Ammoniaksulfat- 
losung gemischt wcrden, und nacli 3Minuten wird das Resultat 
der Fallung als Opaleszenz bezw. Triibung festgestellt. Die Methode 
gibt sehr gute Resultate, besitzt jedoch den Nachteil, dass sie auf 
einer subjektiven Schatzung beruht. Ich habe auf diese Tatsache 
schon in einer fruheren Publikation (2) hingewiesen vmd schon da- 
mal8 bemerkfc, dass eine Modifikation der Methode wiinschenswert 
ware, die diesen Nachteil beseitigen konnte. Dies bezweckt. 
folgende Modifikation: 

Ich habe den nebenstehenden kleinenApparat konstruiert. Das 
Zentrifugierrohrchen wird bis Marke L mit Lumbalflussigkeit, bis 
Marke A mit einer So proz. gesattigten Ammoniaksulfatlosunggefullt. 


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Untereuchung der Lumbalfliissigkeit. 


153 


Das Rohrchen wird sodann ungefahr 30 Minuten lang zentrifugiert. 
Man bekommt dadurch einen Niederschlag, dessen Menge an der 
angebrachten Skala einfach abgelesen wird. Die Skala entspricht 
derjenigen von Nonne-Apelt, nur habe ich als starksten 
Grad der Reaktion starke Triibung hinzugefiigt. Dem- 
nach bezeichnet: 

I spurweise Opaleszenz, 

II schwache Opaleszenz, 

III Opaleszenz, 

IV Triibung, 

V starke Triibung. 

Ich verwende die Bezeichnung ,,starke Triibung“ fiir 
einzelne Falle, fur die die Bezeichnung von Nonne-Apelt : 
Triibung nicht ausreicht. ’ 

Ich habe mit Hiilfe dieser Methode neuerdings 
folgende Resultate erhalten: 


Krankheit 

Dementia paralytica . 

Lues perebrospinalis . 

Sclerosis multiplex 
Dementia alcoholistica 

Hemiplegie. 

Littlesche Krankheit . 

Tabes. 

Gesunde. 

Die Methode ermoglicht auch eine quantitative Bestimmung 
der Eiweissmenge. Das diinne Rohrchen bis Marke V fasst namlich 
genau 0,025 ccm, ein Grad der Skala entspricht demnach 0,005 ccm. 
Die Menge der Lumbalfliissigkeit ist ja sehr verschieden. Aus den 
Angaben Vierordts (3) entnehme ich als Durchschnittszahl fiir die 
normale Menge der Lumbalfliissigkeit 218 ccm. Es entspricht 
demnach 1 Grad, also 0,005 Niederschlag in 2 ccm Liquor (das 
Rohrchen enthalt bis Marke L 2 ccm) einem Niederschlag von 
0,545 ccm in der ganzen Menge der Lumbalfliissigkeit. Selbst- 
verstandlich kann diese quantitative Bestimmung nur relative 
Resultate geben; das Hauptgevvicht meiner Methode lege ich auf 
die Bestimmung der Eiweissmenge durch Ablesen auf der Skala. 
Den Vorteil meiner Methode gegeniiber derjenigen von Nonne- 
Apelt sehe ich darin, dass dasResultat auchobjektiv zu beurteilenist. 

Die Rohrchen werden nach meinen Angaben von der Firma 
Ernst Leitz, Berlin NW., Luisenstrasse, hergestellt. 




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154 


Szecsi. Zur Technik der cheinischen etc. 


Die zueite Modifikation betrifft die Methode von Fuchs- 
Posenthal (4) zur Zahlung der Zellen in der Lumbalflussigkeit. 
Xach dieser Methode werden die Zellen in einer der Thoma- 
Ze/ssschen ahnlichen Zahlkammer gezahlt. Sie ist in der Tat 
ini allgemeinen recht zweckmassig, doch in den Fallen, wo die 
Anzahl der Zellen recht gering war, war sie nicht anzuwenden. 
Xach den Angaben der Autoren wird zur Zahlung der Melangeur 
mit dem unzentrifugierten Liquor gefiillt. Ich habe die Methode 
folgendermassen modifiziert und in mehreren Fallen mit gutem 
Erfolg angewandt: 

Ich zentrifugiere 2 ccm Liquor c. sp. mit einer sehr langsamen 
Zcntrifuge ungefahr 3—4 Minuten lang in einem Zentrifugier- 
Rohrchen, wie es auf Fig. 2 abgebildet ist. Mit einer 
Kapillar-Pipette, die stets neu hergestellt werden muss, 
entnehme ich den Inhalt des diinnen Rohrchens, gebe 
denselben in eine Uhrschale und fiille damit den Melan¬ 
geur. Zur Farbung kann die Fvrhs-Rosenthalsahe Ori- 
ginallosung oder Pappenheims Methylgriin-Pyroninlosung 
mit etwas Eisessigzugabe (3 Tropfen auf 10 ccm) an¬ 
gewandt werden. 

Diese Modifikation beeinflusst jedenfalls die Resul- 
tate, die man mit der Originalmethode bekommt, die 
Zahlen werden selbstverstandlich grosser. Da aber auch 
die Originalmethode keine absoluten Zahlen ergibt, halte 
ich dies fur keinen Xachteil, um so weniger, als durch 
Fig- 2. diese kleine Modifikation die sonst so wertvolle Methode 
auch in denjenigen Fallen anwendbar wird, in welchen die 
Zahl der Zellen nur ganz gering ist. 

Fur die Ueberlassung eines Teiles der von mir untersuchten 
Kranken sage ich Herm Prof. Weber, Direktor der psychiatrischen 
Klinik, meinen besten Dank. 

Literatur - Verzeichnis. 

1. Xonne und A pelt. Archiv fur Psychiatrie. 1908. Bd. 43. H. 2. S. 433. 

2. Szec&i, Monatsschrift fur Psychiatrie und Neurologie. 1909. Bd. 26. H.4. 

S. 3n2. 

3. Vierordt . Anatomische etc. Daten und Tabellen. Jena 1906. Gustav 

Fischer. S. 49. 

4. Fuchs-Rosenthal, Wiener med. Presse. 1904. No. 44—47. 



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XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest etc. 155 


/ 

XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 
vom 29. August bis 4. September 1909. 

Psyehiatrische Sektlon. 

Xach amt lichen Sitzungsprotokollen referiert von 
Dozent Dr. Carl Uudovemig in Budapest. 

(Schluss.) 

6 . Silzung, 1 . September nachmittags. 

Vorsitzende: Maillard , Tamburini. 

P. Banschburg . Budapest: Ueber die M&gliehkeit der Feststellung 
des geistigen Kanons des Normalmensohen. Zur Feststellung deseen, was 
abnorm ist, miissten wir eigentlich ein genaues Bild des Normaimenschen 
haben. Wir wisfen heute schon ziemlich sicher, dass ee keinen Normal- 
typus, sondernNormaltypen gibt. Auch iiber die qualitative und quantitative 
Leistungsfahigkeit der verschiedenen intellektuellen Geistestat*gkeiten 
sind wir besonders, was das Kindee- und jugendliche Alter betrifft, in der 
Feetstell ling des Durchschnittes bedeutend vorgeechritten. Vortragender 
stellt eine Liste derjenigen Arbeiten auf, die eich rnit der Losung dieser Auf- 
gabe befasst haben weist aber auf die Notwendigkeit hin, die Ergebnisse 
derselben vom Standpunkte der aufgeworfenen Frage einheitlich zu ordnen. 
Hierfiir, sowie fiir die Vorbereitung und Durchfiihrung der Kanons auf dem 
Gebiete der Triebs- und Gefuhlswelt.derenKenntnisbishereinevielzugeringe 
ist, wlinschtVortragenderdie Entsendungeiner Kommission,die ihreResultate 
einem nachsten Kongress vorzufiihren hatte. Vortragender bestirnrnt die 
Bedingungen, die bei der Feststellung von Kanons einer jeden Art einzu- 
halten waren, und teilt sodann die Rasultate eigner Untersuchungen be- 
ziiglich der unteren Grenzen der Normalitat und ihrer Abgrenzbarkeit von 
den leichtesten Fallen der Abnormitat mit. Absolute Begabungslosigkeit 
sowie hochgradige Beschranktheit z. B. konnen sich wohl nach ihrer quan- 
titativen Seite mit den leichtesten Fallen intellektueller pathologischer 
Schwachbefahigung beriihren, doch lassen sich gewisse untere Grenzen 
ziehen, jenseits welcher wii den Norrralen, wenn auch schwachster Sorte, 
me verirrt finden, wogegen es sich bei einfachen Geistestatigkeiten viel 
h&ufiger findet, dasa ein, wenn auch geringer Prozentsatz der pathologisch 
Schwachen in die untersten Werte der Normalen himibersteigt. Durch Unter¬ 
suchungen der untersten, leistungsfahigsten oder z. B. in ihrer Trieb- und 
Gefiihlswelt anscheinend undifferenziertesten oder unempfindliehsten 
Schichten werden sich die untersten Grenzen, bezw. Zonen der Normal it at 
des Geisteslebens feststellen lassen. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Van Deventer , Amsterdam, wiin*cht eine internationale Einigung 
betreffs der Bearbeitung eines Kanons. Die Psychologic des Schulkindes 
ware genau zu studieren; auch ein Kanon der Gefuhlssphare, die von weitaus 
grosserem Einfluss auf das Sein und Werden des Menschen ist als die Vor- 
stellungssphare, fehlt noch ganzlich. 

Sommer , Giessen, erklart seine vdllige Zustimmung zu den Unter¬ 
suchungen an Normalen, Nervosen und Geisteskranken, sofern sie mit dm 
gleichen Reizen durchgefuhrt werden. Der Ausdruck „Kanon" sollte aber 
vermieden werden, da auch innerhalb der Normalen betrachtliche Schwan- 
kungen vorkommen. Zu Zwecken der Gesamtbearbeitung schliigt Sommer 
Amchluss an das Institut fiir angewandte Psychologic vor. 


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156 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 

Ranschburg (Schlusswort) erwidert, dass er die Bezeichnung „Kanon“ 
von Mobiue ubemorumen habe, aber jeden besseren Ausdruck akzeptiere; 
er selbst schlage den Terminus ,,Normalwerte“ vor. 

Jean Lepine, Lyon: Ueber Verwirrtheitszustande be! Tuberkulose. 
Vortragender behauptet, bei einer gewissen Anzahl von geistig Ver- 
wirrten latente Tuberkulose durch die cherrischen UntersuohungBmethoden 
nachgewiesen zu haben, und zwar handelte es sich nicht nur um todlich oder 
chronisch verlaufene Falle, sondem es wurden bei einzelnen vollstandige 
Dauerheilungen durch Injektion einer Substanz erzielt, die die Phago- 
zytose stark veranderte, besonders Natriumnucleinat, welches Vortragender 
seit 1907 verwendet, und iiber dessen erste Erfolge bei Geisteskranken er 
damals in der Soci^te de Biologie in Paris referierte, Es ist moglich, dass es 
sich hier um nicht- follikulare Tuberkulose handelt, die einer mehr oder minder 
langsam verlaufenden tuberkulosen Septizamie entspricht. 

Diskussion . 

Colin , Paris, fragt, ob die Beobachtungen des Vortragenden sich auf 
die Dementia praecox oder auf Verwirrtheitszustande beziehen. Dieser 
Unterschied ist wichtig, da Dementia praecox niemals heilt, wahrend Ver¬ 
wirrtheitszustande heilen konnen. 

Marie , Villejuif, glaubt nach seinen Untersuchungen, dass das Vor- 
kommen positiver Wassermannachev Reaktion bei tuberkulosen Psychosen 
nicht auf ein nur zufalliges Nebeneinander von Tuberkulose und Geistes- 
storung, sondem auf einen engen Zusammenhang zwischen beiden hindeutet. 

Li pine (Schlusswort) erwidert, dass es sich in seinen Fallen, da sie 
geheilt sind, nur um geistige Verwirrtheitszustande gehandelt hat; derHei- 
lungsprozess ist in wenigen Tagen bis mehreren Monaten abgeschlossen. 

Pactet , Villejuif, spricht iiber die Geisteskrankheiten im Heere und in 
militarischen Strafanstalten. DieFrage der Geisteskrankheiten in den Armeen 
ist seit einiger Zeit Gegenstand des Studiums in den verschiedenen Lan- 
dern. In Frankreich kann die Zahl der Geisteskranken auf 0,5 pCt. des 
ganzen Bestandes des aus den Stadten rekrutierten Heeres geschatzt werden; 
in den afrikanischen Bataillonen. den Strafkompagnien imd den auswartigen 
Regimentern ist sie etwas hoher. 

Vortragender bespricht die besonderen Gefahren des Militardienstes 
fiir psychopathisch veranlagte Personen und macht bestimmte praktisclie 
Vorschlage. 

7. Sitzung , 2. September . 

Vorsitzende: Sommer , WeygancU . 

van Deventer , Amsterdam: Die Pflege der Irren in eigener Wohnung. 
Ziel der modemen Psychiatrie ist, den Geisteskranken fiir das soziale Leben 
zuriiokzugewinnen. In dieser Beziehung gebiihrt ein hervorragender Platz der 
Familienpflege. Fast in alien zivilisierten Staaten besteht aber eine gewaltige 
Liicke: In der Anstalt geniesst der Kranke die hingebungsvollste Pflege 
und Behandlung, ist aber verlassen und ohne Leitung, sobald er in sein 
Heim zuriickkehrt. Andererseits aber bleiben viele Kranke, welchen eine 
Leitung eine grosse Wohltat ware, ohne Stiitze im eigenen Heim und 
fallen schliesslich der Gemeinde zur Last. Hier eroffnet sich eine Frage 
von grosser sozialer, okonomischer und medizinischer Wichtigkeit. Es ist 
demnach Pflicht, diese Liicke auszufiillen. Gegen die homofamiliale Irren- 
pflege wurden nicht unbegriindete Einwiirfe erhoben; dieselbe ist wohl 
die einfachste und natiirlichste, gleichzeitig aber die schwierigste. Greistes- 
kranke, welclie geheilt oder gebessert entlassen werden. bediirfen auch weiter 
einer Stiitze und Leitung. Es fragt sich zunachst, ob der Kranke in der eigenen 
Familie g^pflegt werden kann; dies hangt ab vom Kranken selbst, aber auch 
von der Familie. Die Familie soil Verstandnis fiir die Pflege des Kranken 
besitzen, der Kranke wieder soil eine seiner Lage angemessene Beschaftigung 
finden konnen. Vor der endgiiltigen Unterbringung soil eine solche probe- 
weise erfolgen. Was den Kranken speziell betrifft, so muss nicht so sehr die 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


157 


klinische Form der psychischen Erkrankung als seine Individualist ins 
Auge gefasst werden. Eine staatliche Ueberwaehung solcher Kranken ist 
unerlasslich und sollte Kommunalpsychiatern anvertraut werden. welche 
durch diplomierte Pfleger unterstiitzt sein miissen. Die Tiitigkeit der Wohl- 
fahrtsanstalten darf sich nicht in einer momentanen Unterstutzung ent- 
lassener Geisteskranker erschopfen, sondern sollte sich auch auf die Kranken 
in homofamilialer Pflege erstreeken, vmd namentlich dahin gerichtet sein, 
dass die Vorurteile gegeniiber entlassenen Geisteskranken beseitigt werden. 
Im weiteren Verlaufe seines Vortrages bespricht Deventer eingehend die 
Pflege der Geisteskranken in eigener Wohnung vmd die diesbeziiglich von 
ihm gesammelten Erfahrungen. 

Diskusston. 

Fischer , Pozsony, vermisst Angaben des Vortragenden iiber die 
heterofamiliale Irrenpflege in Ungam, welche in den letzten Jahren begriindet 
wurde, aber bereits sehr gute Resultate ergeben hat. 

Weygandt , Hamburg, empfiehlt eine nach den Bedurfnissen variierte 
Familienpflege nach Muster des in Irrenanstalten gevibten Modus, u. z. 1. fur 
Kranke, welche einer besonderen Pflege bedurfen, empfiehlt sich die An- 
legimg von Pflegedorfern. 2. Leichtere Kranke sollten bei nicht ganz un- 
bemittelten, humanen Leuten untergebracht werden. die am meisten geiibte 
Form der Familienpflege. 3. Unterbringung inFamilien bei Aufrechterhaltung 
von arztlicher Beobachtung. 4. Gelegenheit fiir entlassene Kranke, sich in 
der Anstalt ambulant vorzustellen. Weygandt ist der Ansicht, dass letztere 
Massregel geeignet ware, die Vorurteile des Publikums zu zerstreuen. 

Tamburini , Rom: Dementia primitiva. Vortragender bemerkt, dass 
er trotz grosser Fortschritte, die in Bezug auf Benennung, selbstandige Exi- 
stenz als klinische Einheit, Symptomatologie, Ausdehnung, psychologischen 
Mechanismus, Pathogenese und Prognose dieser Affektion schon gemacht 
wurden. und trotz der von Krapelin angestellten wichtigen Forschungen 
eine Revision der herrschenden Meinungen iiber diese Kranklieit fiir notig 
halt. Schon der Name Dementia praecox ist unrich tig, weil es notorisch Falle 
gibt, bei denen weder der eine noch der andere Teil dieser Benennung, andere, 
bei denen ent weder das Wort Dementia oder das Wort praecox nicht zutref fend 
ist. Von der Meinung ausgehend, dass es sich bei dieser Krankheit vor allem 
um eine Dissoziation der psychischen Eleinente handelt, hat Brugia die 
Bezeichnung Parademenz, Bleuler den Ausdruck Schizophrenic zum Ersatz 
vorgeschlagen. Vortragender hingegen meint, dass der von Sommer und der 
itaHenischen Psychiaterschule langst gebrauchte Terminus Dementia 
primitiva der geeignetste sei. Fraglos ist das Kriterium der Dissoziation 
das wichtigste. fundamentale Merlanal der Psychose, doch kann es diffe- 
rentiald iagnost is eh nicht verwertet werden, da es auch anderen Forrnen der 
Demenz, wie der paralytischen, alkoholistischen und senilen Demenz eigen 
ist. Die Existenz der Dementia praecox als selbstandiger Krankheitsform 
ist viel angegriffen worden, so von Bianchi , Regis , MorseUi , Potzl , Ossipoff , 
SchoU , Muggia u. A., die zum Teil die katatonische und die paranoide Form 
abgetreimt wissen wollen. Sogar Krapelin selbst hat ausgesprochen, dass 
es notwendig geworden ist, von den unter seinen Sammelbegriff gebrachten 
verschiedenartigen Forrnen die Falle mit chroni?ohen Halluzinationen, 
die mit persistenter Wortverdrehung und die tardiven katatonischen ab- 
zutrennen. Vortragender schliigt vor, auch die heilbaren Forrnen abzu- 
sondern (1,8 bis 13 pCt.), die zweifellos anderen Krankheitsformen angelioren. 
Vortragender bespricht nun im einzelnen die verschiedenen Uiiterarten dieser 
Affektion nach ihren feineren Merkmalen und gruppiert sie. Er warnt vor 
dem Zusammenwerfen aller dieser Forrnen unter einem gezwungenen Namen 
und macht tlinteilungsvorschlage. Was die Pathogenese und die Prognose 
anlangt, so seien imsere Beobachtungen noch zu wenig geordnet, als dass vvir 
mehr als blosse Hypothesen aufstellen konnten, und die Kriterien noch zu 
gering an Zahl und zu unsicher, urn von den ersten Stadien bis zum endgiil- 
tigen Verlauf eine vollkommene Prognose zu ermoglichen, doch meint Vor¬ 
tragender, dass die wissensehaftliche J^rforschung dieses viclgestaltigen 


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158 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 


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Symptomenkomplexes und seine eenaue nosographische Abgrenzung eine 
der wichtigsten Aufgaben der psychiatrischen Forschung darstellt. 

(Autoreferat.) 


Diskus&ion. 


Weygandt, Hamburg, glaubt, dass die Kemitnis der Dementia praecox 
im Entwicklungs$tadium sei. Das wichtig&te, haufigste und schwerste 
Symptom ist die Demenz des Affekts und Widens, aber nicht die des 
Intellektea. Er hat zwei 60 jahrige Patienten beobachtet, die sich bis- 
jetzt in diesem Zustand befunden haben, ohne wesentliche Intelli- 
genzdefekte zu zeigen. Er wlirde die Bezeichnung Paraderoenz der 
Bleiders : Schizophrenie vorziehen. Auch der von ihro gepragte Terminus: 
Dementia apperceptiva eracheint ihm zweckmassiger. Die Benennung 
Dementia primitiva konnte wieder zu Irrtumern Veranlassung geben. 

Sommer . Giessen, gibfc der Meinung Ausdruck, dass der Ausdruck 
Dementia pracox durch Dementia primitiva (primarer Schwachsinn) zu 
ersetzen sei, da die Pracocitas nur ein charakteristischee Merkraal einer 
speziellen Form der Demenz ist. 

Tamburini (Schlusswort) ist der Ansicht, dass von dem Sammel- 
begriff der Dementia pracox die Gruppe der Dementia primitiva ab- 
zutrennen sei. 


Heboid , Wuhlgarten: Ueber Epileptiker-Anstalten. Vortragender gibt 
in seinem Vortrage das Ergebnis einer 16jahrigen Erfahrung, die er atir der 
Besehaftigung an der Berliner stadtischenAnstalt fiir Epileptische Wuhlgarten 
gewonnen hat. Er fiihrt die Griinde an, die zur Griindung solcher Arista!ten 
fiihrten und die diesel ben bind, die vordem schon in den Irrenanstalten dazu 
fiihrten, die Epileptiker auf gesonderten Abteilungen zu halten. wozu a Is 
wesentlicher Grund noch kommt, dass in solcher Anstalt alle Epileptiker 
ohne Ausnahme untergebracht werden konnen, auch solche, die nicht geistes- 
krank sind. Von den drei Arten der Epileptikeranstalten: 1. Unterbringung 
aller Epileptiker ohne Ausnahme (Beispiel: Wuhlgarten), 2. Unterbringung 
von nur nichtgeisteskrauken Epileptikern (Beispiel: Craig colony in Nord- 
Amerika), 3. Epileptikeranstalt mit Zumischung von anderen Geistes- 
kranken (Beispiel: Prov.-Anstalt Uchtspringe) halt er, sich den An- 
schauungen Alts anschliessend, die letzte Art fiir die im allgemeinen am 
meisten zu empfehlende, da sonst den Epileptikern so wie so schon andere 
Geisteskranke untermischt werden, die Aerzte eine bessere Ausbildung 
und grossere Befriedigung in ihrem Sonderberufe finden und das Pflege- 
personal besser angelernt werden kann. Er erachtet je nach Umstanden eine 
Unterbringung von \' 5 — 1 / 3 Geisteskranken in einer Epileptikeranstalt fiir 
das gegebene Verhaltnis und weist auch darauf hin, dass in Verbindung 
mit der Epiloptiker-Anstalt ganz gut eine Nervenheilstatte zu bringen ist. 
Die Anstalt fiir Krampfkranke gleicht einer Irrenanstalt, hat aber mehr 
Abteilungen fiir freiere Behandlung und verlangt besondere Vorsorge fiir 
Besehaftigung der Kranken, insbesondere mit Landarbeiten und Garten- 
pflege. Der Vortrag schliesst mit einem kurzen Abriss des allgemeinen 
Bauprogramms und erliiutert eine solche Anlage an dem Plan der Anstalt 
Wuhlgarten. 

P . Roubinoviteh , Paris: Ueber die therapeutische Anwendung des 
Liquor cerebrospinalis in der Psychiatric und speiiell bei der Behandlung 
der Angstzustande. Vortragender berichtet iiber neun Falle von melan- 
cholischer Depression mit lebhafter Angst, die zum Teil auch von hypochon- 
drischen Vorstellungen und Selbstmordgedanken begleitet war, und in denen 
die Thera})ie in einer Lumbalpuiiktion bestand, die eine Entleerung von 
15 bis 25 com Liquor cerebrospinalis ergab und sofort von einer subkutanen 
Injektion der ganzen entzogenen Fliissigkeitsmenge in die Glutealgegend 
desselben Kranken gefolgt war. Durch diese dojipelte Einwirkimg wurde 
auf den Puls, die arterielle Spannung und die Temperatur der Kranken 
stets in jedem Falle ein guns tiger Einfluss ausgeiibt. Vortragender gibt eine 
Uebersieht der therapeutisclien Resultate der 9 Falle und konstatiert, 
dass 6 mit Erfolg behandelt wurden. Die Bessernng tritt zwischen dc‘in 


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159 


uad dem 30. Tage nach der Injektion in Erscheinung, doch ist manchmal 
eine zweite oder dritte injektion notwendig, um die psychischen Alterafcionen 
zum Verschwinden zu bringen. Um sich zu versichern, dass der Liquor 
cerebrospinalis thermogene Eigenschaften besitzt, hat Vortragender fiinf 
Idioten je 10 ccm sterilisierten. von Pferden gewoimenen Liquor cerebro¬ 
spinal is injiziert und bei alien bedeutende Temperatursteigerungen hervor- 
gerufen. Gleichzeitig wurden 5 anderen Idioten je 10 ccm physio logisches 
Serum eingespritzt, ohne die goringste Temperaturstci gerung zu erzielen. 
Alle Hyperthermien, sowohl die durch Liquor men&chlichen, wie die durch 
Liquor tierischen Ursprungs hervorgerufenen, kiangen lytisch ab, und alle 
waren von Veranderungen des Pubes imd der arteriellen Spannung be- 
gleitet. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Anton , Halle: In etwa 30 Fallen, in welchen er nach dem Veifahren 
des Bal kens tidies von Bramann die Ventrikel punktierte, hat A. bei Ab- 
wesenheit von Komplikationen keine Temperatursteigerung beobachtet. 
Es bildet diese Operation gewissermassen auch einen Versuch zu der hypo- 
dermatischen Applikation des Liquors. 

, * • 8. Sitzung , 2. September , naehmittaga . 

Vorsitzende: Bresler . Friedldnder y dann Moravc&ik. 

P. Ronby-Algier: 1. Die Wunder von Lourdes bei den Hysterischen. Vortr. 
zahlt alle Formen von Hysteric auf, die bisher in Lourdes ,,geheilt“ 
wurden. und weist auf die grosse Erregung hin, den Shock , der die 
angeblichen Heilungen bewirkt. Vortragender behandelt ausfiihrlich ver- 
schiedene heilbare Affektionen, speziell die Coxalgien, die Magengeschwiire, 
einzelne Augen- und Ohrenkrankheiten und endlich die Liihmungen, die 
das grosste Kontingent der ,,Wunder“ liefern, und analysiert einzelne Falle, 
die sehr viel besprochen wurden und den Ruf von Lourdes als Heilstatte 
begriindeten. Am Schlusse seiner Ausfiilirungen beschaftigt sichVortragender 
mit den 95 pCt. ungeheilten Besuchern von Lourdes und konstatiert, dfitss 
dieses Verhaltnis dem der hysterischen zu den ubrigen Erkrankungen 
entspricht. 

2. Die Wunder von Lourdes bei den^Nichthysterisehen. Vortragender 
spricht liber die angeblich dort vollzogenen Lupusheilungen, darunter den 
von Zola in seinem Roman beschriebenen Fall und stellt feat, dass es sich 
bei alien diesen ,,Heilungen“ nicht um eigentlichen Lupus, sondern um 
ahnliche, auch sonst abheilende Affektionen handelte. Auch bei der Be- 
sprecliung der durch Eintauchen in die heilige Quelle geheilten Frakturen 
stellt er an Hand der einzelnen Falle fest, dass die angeblichen Wunder nur 
Irrefiihrungen der Fromnien durch fromme Aerzto oder Schriftsteller 
darstellen,ebenso die angeblichen Heilungen vonTaubstummheit, undkommt 
zu dem Schlusse, dass trotz sorgfiiltiger Priifung der einzelnen viel besproche- 
nen Falle auch nicht eine einzige Behauptung derW T underwirkung der Quelle 
von Lourdes verifiziert werden konnte. (Autoreferat.) 

C. Hudaremig, Budapest: Zur Unterscheidung funktionell und or- 
ganisch bedingter Druckempfindlichkeit. Im Gegensatz zu dem Mannkopf - 
schen Symptome, welches in einer Vermehrung der Pulsschlage l>ei Druck 
auf funktionell einpfindliche oder schmerzhafte Punkte (traumatische 
Xeurose, Hysterie, Neurasthenic) besteht, konnte Hudovemig in 91,5 pCt. 
organisch bedingter Druckempfindlichkeit (Operations-, Verletzungsnarben, 
entzundlicho Prozesse usw.) eine mitunter ganz bedeutende Verlangsamung 
der Herztatigkeit (um 10—20, durchschnittlich 15 Schlage in der Minute) 
nach wen en, welche in der zweiten oder dritten Minute zun^eist schwindet 
und der urspriinglichen Pulszahl Platz macht. Von einer Verandenmg 
des Blutdruckes ist diese Erscheinung nicht begleitet. Organische Ver¬ 
anderungen ohne Druckempfindlichkeit zeigen wahrend eines auf dieselben 
ausgeiibten Druckes nicht die Verlangsamung des Pulses. Somit kaim diese* 

Monat«schrift ftir Psychiatrie und Xeurologie. Bd. XXVII. Heft 2. U 


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160 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 


Erscheinung zur Unterscheidung, ob eine Druckempfindlichkeit funktio- 
neller Natur oder organisch bedingt ist, in den meisten Fallen verwertet 
werden. (Au toreferat.) 


XL Sektion (Neurologie). 

2. Sitzung am 30. August , vormittags .] 

Vorsitzende: Jendrassik , Sicard^ Head. 

Geschaftsfiihrender President, Prof. Jendrassik-Budsipest, eroffnet 
die Sitzungen der Sektion mit einer beifallig aufgenommenen Ansprache. 
in welcher er auf die gewaltigen Fortschritte der Neurologie und ihrer Zweige 
hinweist und den Wunsch ausspricht, dass die Untersuchungen und For- 
Bchungen nicht auf allzu kleine Gebiete beschrankt werden. Die Isolierung 
der neurologischen Sektion halt er eigentlich fur unrichtig, eine Vereinigung 
derselben mit der Sektion fur interne Medizin ware hochst wiinschens wert, 
doch ware dieselbe in drei Gruppen einzuteilen: infektiose Krankheiten, 
Emahrungs krankheiten, und Erkrankungen des Nervensystems; den Ver- 
handlungen der letztenGruppe sollten auch die Psychiater beigezogen werden, 
doch denselben fiir die Fragen der Irrengesetzgebung eine Spezialsektion 
ziu* Verfiigung stehen. 

H. Oppenheim - Berlin: Diagnose und Behandlung der Geschwiilste 
innerhalb des Wirbelkanals. 

Der Referent behandelt das Thema auf Grund der neuesten, in den 
letzten 2—3 Jahren gesammelten Erfahrungen, da aus friiherer Zeit bereits 
gute Zusammenstellungen vorliegen. I. lnwieweit ist durch die neuen Be- 
obachtungen die Diagnose und Differentialdiagnose gefordert ivorden ? 1 . Die 

Differentialdiagnose zwischen dem meningealen und dem Wirbeltumor. 
Sie hat kaum an Sicherheit gewonnen. 2. Die Differentialdiagnose zwischen 
der intra- und extramedullaren Neubildung. Es gibt wertvolle, aber keine 
zuverlassigen Merkmale. Das wertvollste ist die Konstanz der oberen 
Polsymptome. Aber die Liquoransammlung oberhalb der Geschwulst 
und die sie zuweilen begleitende Meningitis serosa circumscripta kann ein 
Aufsteigen und ein Fluktuieren der oberen Niveausymptome bedingen. 
Es gibt auch andere Ursachen fur ein Aufriicken der obersten Segment- 
symptome beim Tumor der Ruckenmarkshaute. Ref. schildert einen Fall, 
welcher lehrt, dass die Feststellung, ob eine Geschwulst von den Meningen 
oder vom Riickenmark ausgeht, selbst bei der Operation unmoglich sein 
kann, einen anderen, in welchem der bei der Laminektomie intramedullar, 
bei der Autopsie zunachst extradural erscheinende Tumor doch innerhalb 
der Dura sass. Die differentialdiagnostischen Kriterien zur Unterscheidung 
der meningealen Geschwulst von der Gliosis sind keine durchaus zuverlassigen. 
3. Von anderweitigen extramedullaren Erkrankungen, die das Bild des 
Tumors vortauschen konnen, ist die Meningitis spinalis serosa die wichtigste. 
Ursachen, Wesen und Merkmale derselben. Unzuverlassigkeit der Horsley - 
schen Unterscheidungskriterien. Aufgaben der Chirurgie bei der Feststellung 
eines serosen und fibrosen Meningealprozesses. 4. Die iibrigen primaren 
Riickenmarkskrankheiten—^Myelitis, multiple Sklerose, kombinierte Strang- 
erkrankung etc. — spielen in differentialdiagnostischer Hinsicht keine 
wesentliche Rolle. 5. Die Existenz eines „Pseudotumor medullae spinalis“ 
ist nicht bewiesen. 6. Beziiglich der Segmentdiagnose haben die neuen Er¬ 
fahrungen zwar manchen Fortschritt gebracht, aber uns auch mit neuen 
Irrtumsmoglichkeiten bekannt gemacht. Bedeutung der Liquorsperrung 
und sekundaren Meningitis serosa und fibrosa fiir die Segmentdiagnose. 
Eine Geschwulst, die das Riickenmark komprimiert, kann Segmentsymptome 
hervorbringen, die auf die Gegend unterhalb seines unteren Poles zu be- 
ziehen sind. Bedeutung der Hyperreflexie als oberstes Niveausymptom 
fiir die Hohendiagnose. II. Trotz aller der erorterten Schunerigkeiten sind 
die therapeutischen Resultate uberaiLs befriedigende und die Fortschritte in 
dieser Hinsicht unverkennbar . Bilanz der eigenen Beobachtungen (25 operierte 
FdUe mit 13 Heilungen). Indikationen. (Autoreferat.) 


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Disktission . 

C. Mvskens-Amsterdam erwShnt, class er schon 1900 iiber einen 
operierten Cervikal-Tumor berichten konnte. Er hat niemals von der 
Rontgen-Photographie irgend einen Nutzen gesehen. Auch die Perkussion 
der Wirbelsaule gibt selten Vorteile. 

£o#i< 7 er-Hamburg verfiigt auch iiber vier operativ behandelte Riicken- 
markstumoren mit 50 pCt. Heilungen. Beziiglich des Pseudotumor spinalis 
hebt er hervor, dass diese Bezeichnung keine Diagnose sein soil, sondem nur 
aussagt, dass es sich um ein dem Tumor spinalis gleiches Rrankheitsbild 
handelt, dass sich erst durch weitere Beobachtung vom Tumor spinalis 
unterscheidet. Auch er h&lt, wie Oppenheim , eine Differentialdiagnose 
zwischen Tumor und multi pier Sklerose bei geniigend langer Beobachtung 
stets fur moglich. 

Oppenheim (Schlusswort) halt es fur besser, die irrefiihrende Bezeich¬ 
nung Pseudotumor iiberhaupt fallen zu lassen. 

L. v . Franlcl-Hochwart- Wien: Die Diagnostik der Hypophysentumoren 
ohne Akromegalie. 

F . - H. berichtet iiber die Diagnose der Hypophysistumoren ohne 
Akromegalie auf Grund von 156 in der Literatur niedergelegten Nekropsien 
sowie auf Grund einer Reihe eigener Falle. Ausser Allgemeintumor- 
symptomen fallen besonders psychische Storungen (Schlafsucht) auf; 
daneben hemianopische (bitemporale) Defekte, Atrophia nervorum opti- 
corum oder Neuritis optica, Augenmuskellahmungen, Polyurie, Polydipsie, 
Temperaturanomalien. Radiologisch ist Vergrosserung der Sella turcica 
nachweisbar. Die Individuen sind oft klein, bisweilen zwerghaft. Es kommt 
nicht selten zu Impotenz, eventuell zu Amenorrhoe. Bei jungen Individuen 
verbindet sich das Riickbleiben der Genitalentwicklung mit Ueberfettung; 
es kommt dann zum Bilde der Degeneratio adiposo-genitalis (Typus Frohlich). 
Die Tumoren sind der verschiedensten Art, gehen meistens vom Hypo- 
physenapparat aus, komprimieren das Chiasma sowie auch andere Himteile. 
Die Dauer der Krankheit betragt einige Monate bis 30 Jahre. Differential- 
diagnostisch kommen andere Basalprozesse, namentlich Lues in Betracht. 
Aehnliche Bilder machen noch die Geschwiilste der Zirbeldnise sowie ge- 
wisse Formen der konstitutionellen Fettleibigkeit, ferner manche Formen 
des Diabetes insipidus des Kindesalters. (Autoreferat.) 

Disktission. 

Harvey Cushing hat iiber 100 Experiment© ausgefiihrt; to tale Ent- 
femung der Hypophyse ist todlich innerhalb 2—5 Tagen. Noch wichtiger 
sind die Resultate der partiellen Entfemung des Vorderlappens; er konnte 
auf diese Weise den Typus Frohlich hervorrufen, dieser ist demnach hyper- 
hypophysar. Eine erfolgreiche Operation bei Akromegalie ohne Tumor ergab, 
dass die Akromegalie (wahrschemlich auch Riesenwuchs) hyperhypophysar 
ist. Er hofft von dieser Scheidung noch viele Resultate fur die Zukunft, so 
wie sie sich fiir die Schilddriise schon ergeben haben. 

Higier- Warschau macht auf einen von ihm beobachteten benignen 
Typus von Hypophysistumoren aufmerksam; es bestand dabei zuerst 
zentrales Skotom, dann bitemporale Hemianopsie, Impotenz und Polyurie; 
keine Akromegaliesymptome, keine Anzeichen von basaler luetischer Me¬ 
ningitis, keine Stauungspapille. Nach 4 Jahren langsam spontane Besserung, 
wahrend eine antiluetische Kur versagt hatte. 

Fr67i/ic/i-Wienhebthervor,dass trotz der einwandfreien experimentellen 
Befunde Cushings , bei denen liauptsachlich der glandulare Teil des Organs 
beteiligt ist, doch auch der nervose Teil des Organs nach seinen und 
v . Frankl-Hochivarts Untersuchungen intensive Wirkung ausiibt, indem ge- 
wisse Beckenorgane in erregendem Sinne dadurch beeinflusst werden. 

Biro- Warschau hebt hervor, dass er selbst schon 1897 bei einem 
15 jahrigen Knaben Haarlosigkeit der Regio pubica und des Korpers iiber- 
haupt und weibliche Beschaffenheit des Bee kens beschrieben habe. Auch er 
glaubt, dass die Hypophysis wie die Thymus und die Schilddriise einen 
gewissen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung habe. 

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162 XVI. internationaler medizinischor Kongress in Budapest 


v. Eiselsberg-W ien hat 5 Falle von Hypophysistumoren operiert. 
Die Erfolge waren: einmal Exitus durch Meningitis, einmal keine wesent- 
liche Besserung, dreimal entschiedene Besserung seit 2 r 4 , 1 1 / 4 , Jahren. 
Auffallend ist dabei, dass immer unradikal bei sicher histologisch-malignen 
Tumoren operiert wurde. 

Henschen -Stockholm gibt ein pathognostisch sehr feines Symptom an. 
wenn die Geschwulst noch klein ist. Die in der Mitte des Chiasma sich kreu- 
zenden Makularfasern liegen so, dass die Fasern der unteren (ventralen) 
Retinahalfte ventral liegen. Diese ventralen Fasern werden zuerst gedriickt 
bezw. aus der Funktion gebracht. Dadurch entsteht makulare Hemianopsie 
nach oben, die ein- oder beiderseitig sein kann und durch Lasionen der ven¬ 
tralen Halite des Chiasmas oder durch bilaterale minimale Lasionen des 
Sehzentrums, z. B. durch Schussverletzung im Occipitallappen entsteht. 
Sie ist daher ein feines Symptom fur beginnende Hypophysistumoren. 

E . Letn-Florenz verweist auf einen von ilim im Jahre 1908 in der 
Iconogr. d. 1. Salpet. publizierten Fall von Infantilismus mit einem grossen 
Tumor der Hypophysis. Er wirft die Frage auf, ob dieser Infantilismus 
nicht als ein pluriglandulares Symptom zu betrachten ist, das durch den 
geanderten Einfluss der Hypophysis auf die anderen Driisen mit innerer 
Sekretion, speziell die Geschlechtsdriisen, hervorgerufen werde. 

Oppenheim -Berlin betont die relative Gutartigkeit dieser Geschwulst 
und rat daher zu reserviertem Verhalten in der Operationsfrage, insbesondere 
da die Adipositas auch nur Fernsymptom sei. 

v. Frankl-Hochvxirt (Schlusswort) erwidert Henschen , dass seine Falle 
zu vorgeriickt waren, um das von H. angegebene, sehr wertvolle Symptom 
zu beobachten. Gegeniiber Levi weist er darauf hin, dass sich diese Frage 
nur durch Nekropsie entscheiden lassen wird. Oppenheim erwidert er, dass 
er auf die Verfettung als Fernsymptom hingewiesen habe, und prazisiert seine 
Ansicht dahin, dass die Operation nur indiziert sei, wenn Erblindung droht, 
das Thyreoidin versagt, oder wenn unertragiiche Kopfschmerzen vorliegen. 

2 . Sitzung am 30. August, nachmittags . 

Vorsitzende: Roth , Frankl-Hochwart. 

L. Minor-Moskau: Die Symptomatologie der traumatischen Affektionen 
des Halssympathicus. 

Auf Grund einer grossen Keihe eigener Beobachtungen, welche M. 
anheimgekehrtenVerwundeten aus dem russisch-japanischenKriege machte, 
und analoger Falle aus der Literatur, kommt M. zu folgonden Schliissen: 

Ungeachtet der Vielfaltigkeit der Kopf- und Halstraumen, bei welchen 
der Sympathicus in Mitleidcnschaft gezogen wird. kann man eine ziemlieh be- 
schr&nkte und dabei sehr bestandige Gruppierung von Symptomen be¬ 
obachten, welche in drei charakteristische Symptomenkomplexe zerfallt: 

I. Einen Typus glosso-vago-sympathicus, bei welchem neben den be- 
kannten Sympathicus-Symptomen noch eine Hemiatrophia linguae und 
Stimmbandlahmung auf derselben Seite hinzutritt. 

II. Typus vago-sympathicus, w r o neben Sympathicus-Symptomen 
noch eine Stimmbandlahmung auf derselben Seite besteht und 

III. Typus sympathicus purus sen physiologicus , wo nur die bokannten 
Sympathicus- Syinptome bestehen. 

An die drei vom Verfasser aufgestellten Typen reihen sich noch die 
multiple Himnervenldhmung (Zunge, Gaumensegel und Stimmband auf 
der einen Seite, ohne Sympathicus) und die bekannte Klumpkesche Lahmung 
(Brachialgebiet und Sympathicus). Bei dem Feststellen der Sympathicus- 
beteiligung leisten grosse Hiilfe die pharmakodiagnostischen Proben mit 
Aspirin (Schweiss), Adrenalin und Kokain (Augen-Sympathicus). Die 
Kokainprobe ist bei Trauinen des Halssympathicus so zuverlassig, dass es 
erwiinscht erscheint, dasselbe Mittel auch bei anderen Krankheiten mit 
Verdacht auf Symj)athicuslasion anzuwenden. 

M. machte mit Kokain Proben bei Tubes, Syringomyelie, Hamato- 
myelie, Paralysis progressiva, verdachtiger Neurasthenic, Lues cerebrospi- 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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nalis, Amelie, angeborener Verengung der Lidspalte, Poliomyelitis der oberen 
Extremitat, Migraneetc., und gelangte in einigen Fallen zu sehr interessanten 
positiven Result a ten. Die Untersuchung ist in dieser Richtung noch nicht 
abgeschlossen, und die definitiven Resultate werden nachstens in extenso 
veroffentlicht werden. (Autoreferat.) 

Kollarits- Budapest: Ueber das Zittern. 

Graphische Untersuchungen mit sehr empfindlichen Instrumenten 
zeigen, dass fast an jedem gesunden Mensehen bei gestreckter Extremitat ein 
Zittern oder ein rhythmisches Schwingen festzustellen ist. Die Schwingungen 
eines langen und schweren Extremitatabschnittes sind langsamer als die 
eines kiirzeren und leichteren. Beim gesunden Mensehen haben alle 
Extremitatsabschnitte, die Finger, die Hand, dor Unterarm, der Oberarm, 
der Oberschenkel, der Unterschenkel, der Fuss eine eigene in weiten Grenzen 
varierende Schwingungszalil in der Sekunde. Bei Kranken ist ein Abweichen 
von diesen Zahlen zumeist in den Fingern, an der Hand und am Unterarm 
bemerkbar. Die Zahl wird in diesen Fallen niedriger, d. h. die Schwingung 
langsamer. Der Grund dieses Verhaltens ist hauptsiichlich darin zu suchen, 
dews die einzelne Schwingung extensiver ist und deshalb mehr Zeit in 
Anspruch nimmt. Die Zitterbewegungen geschehen moistens in der Richtung 
der Beugung und Streckung, wenn aber die Bewegung in dieser Richtung 
durch Anbringen eines Gewichts unmoglich wird, wechselt sie ihre Richtung. 
DerRhythmu8 des Zittems ist gewohnlich regelmassig, am unregelmassigsten 
ist das hysterische Zittern. Die Buchstaben sind bei dem hysterischen Zittern 
trotz der verunreinigenden Seitenbewegungen oft vollkommen erkennbar, 
die Kranken sind imstande.einen langen Brief zu schreiben; man kann sagen, 
dass die zittemdc Hand die Feder doch sicher fiilirt. Die willkurlichen Be- 
wegungen sind langsamer als das Zittern, sie sind in verschiedenen Richtungen 
verschieden schnell. Ein angebrachtes Gewicht verlangsamt das Zittern 
und kann es auch dann zum Vorscheine bringen, wenn es sonst nicht be¬ 
merkbar ist. 

Das leichte Zittern der gestreckten Extremitat beim gesunden 
Mensehen ist die Folge einer physiologischen Koordinationsunvollkommen- 
heit. Es kann physiologisches Intentionszittern genannt werden. Beim 
Kranken steigert sich das Symptom und wird zum Koordinationsfehler. 
Bei dem Ruhezittern besteht eine Storung der Innervation, welche den 
Muskeltonus bedingt. Die Impulse des Zitterns gohon von der Hirnrinde aus. 
Herde, welche in einern anderen Teile des Geliirns liegen, konnen das physio- 
logische Zittern derart verandem, dass es pathologisch wird. Das Zittern, 
welches Freusberg an Tieren beobachtete, deren Ruckenmark durch- 
schnitten war, ist refloktorischen Ursprungs und kann mit dem Klonus ver- 
ghehen werden. Das Zittern ist die Folge einer wechselnden Innervation 
der Antagonisten und Agonisten, obgleich eine geringe Unregelmassigkeit 
auch bei der Bewegung von Muskeln, welche koine Antagonisten haben, be¬ 
merkbar ist. Die Zahl der Schwingungen in der Sekunde hangt haupt- 
sachlich von ihrer Amplitade ab und steht mit dor Zahl der zentralen 
Impulse nicht in Zusammenhang. So kann der hypertonische Zustand des 
Muskels allein das normale Intentionszittern zur pathologische Hohe er- 
heben. Dieses Symptom ist demgemass bei Hemiplegio sehr oft vorhanden. 
Die Gesetze des Zitterns stehen mit den Gesetzen des Pendels nicht im 
Einklange. «(Autoreferat.) 

Dejerine-Voris und Po^-Mans: Ein Fall von intermlttierendem Hinken 
spinalen Ursprungs. 

Das intermitt ierende Hinken (Typue Dejerine) ist ein noch neues, wenig 
studiertes Syndrom, das aber schon klar definiert und gut von dem intormit- 
tierenden Hinken periphcrischer Genese — Typus Charcot — unterschieden 
ist. Die Vortr. berichten liber eine sehr vollstandige Beobachtung einer der- 
artigen Affektion. Es handelt sich urn einen Mann von 60 Jahren, der immer 
ausgezeichnet gehen konnte, bis sich vor 15 Jahren, im Anschluss an einen 
infektiosen Schnupfen, eine gewisse Schwache im linken Bein zeigte, die 
seither starker wurde. Wenn er einige Minuten gegangen war, fiihlte er sein 


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164 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 


Bein schwacher werden, als wenn es aus Blei ware, dann unter ihm nach- 
geben, er ist gezwungen, einige Zeit einzuhalten und sich auf das rechte Bein 
zuBtiitzen; wenn er dann von neuem zugehen beginnt,ist seinGang nicht mehr 
normal und zeigt einen gewissen Grad von Hinken. Bei der Untersuchung 
konstatierten die Vortr. eine Steigerung des Patellar- und Achillesreflexes, 
die nach dem Gehen noch anwachst, keinen Fussklonus, kein Babinskisches 
Zeichen; bei der Palpation der Arterien der unteren Extremitaten konstatiert 
man eine Differenz der Intensitat der Pulsschlage links und rechts. Oft 
wiederholte lokale thermometrische Messungen haben gezeigt, dass immer 
die Temperatur des linken Fusses ungefahr l / 2 Grad hoher ist als die des 
rechten, eine Differenz, die nach dem Gehen e6en geringer wird. Trotzdem 
syphilitische Symptome auch nicht andeutungsweise vorhanden waren, 
wurde eine Quecksilberbehandlung eingeleitet; sie ergab gar kein Resultat. 
Dieeer Fall unterscheidet sich deutlich von dem intermittierenden Hinken, 
Typus Charcot , bei welchem Abschwachung der Pulsschlage der Arterien 
der unteren Extremitaten da ist, weiter die Reflexe wahrend des Gehens 
und in der Ruhe in gleicher Weise normal sind und vasomotorische Be- 
schwerden auftreten, welche Cyanose und Gefiihl der Kalte erzeugen. 
Vom atiologischen Gesichtspunkt erscheint der Einfluss der Grippe sicher: 
in Bezug auf die Entwicklung muss das Benigne der Affektion hervor- 
gehoben werden, insofern sie nicht in spastische Lahmung enden zu 
miissen scheint, die sonst das gewohnliche Ende der Affektion darstellt. 

(Autoreferat.) 


Diskussion . 


v. Frankl-Hochwart- Wien erwahnt die Falle zweier nervengesunder 
Personen, die Symptome bo ten, welche an intermittierendes Riickenmark- 
stottem erinnem, Ein 30 jahriger Mann hatte nach einer anstrengenden 
Gebirgstour das Gefiihl abwarta vom Nabel fiir einige Stunden verloren. 
Ein 40 jahriger Mann litt wahrend einer langen Bergwanderung an charak- 
teri8tischem Hamtraufeln, das sich bald wieder verlor. 

Itotfi-Moskau meint, es konnte sich das geschilderte Symptom auch bei 
der Forme fruste spinale der Sclerose en plaques finden. 

Mattauschek-Wien: Auf nervoser Grundlage entstehende Enuresis. 
Diese vom klinischen und militararztlichen Standpunkte so wichtige 
Blasenstorung kommt bei Erwachsenen viel haufiger vor, als angenommen 
wird. Die Schwierigkeit der objektiven Feststellung dieser als rein funktionell 
angesehenen Storung, die Moglichkeit von Simulation und die relative 
Haufigkeit beim Militar veranlasste M. zu genauer klinischer Untersuchiuig 
einer grosserenAnzahl von Fallen. Bei mehr als80pCt. seiner Falle fehlte zwar 
eine nachweisbare organische Erkrankung, aber Entwicklungshemmungen 
(Syndaktylie, Reflexanomalien, Stbrungen der Warmeempfindung an den 
Zehen und Rontgenbefunde am Kreuzbein) waren dennoch naeliweisbar, 
welche in ihrer Gesamtheit bewiesen, dass die echte Enuresis bei sonst ge- 
sunden, geistig intakten Individuen auf einer wahrscheinlich angeborenen 
Hypoplasie des untersten Riickenmarksanteiles beruht. 


3. Sitzung am 31. August , vormittags . 

Vorsitzende: Mingazzini , Henschen. 

Howcn-Helsingfors: Die Rolle der Bakterien in der Pathologie des 
Zentralnervensystems. 

Vortragender bezieht sich hauptsachlich auf experimentelle und 
pathologische Untersuchungen im pathologischen Institut von Helsingfors. 
Er weist auf die Wichtigkeit der Lymphwege, sowohl der lymphatischen 
Hohlraume der peripheren Nerven als auch der perivaskularen Raume der 
Nervenzentren fiir das Eindringen der Bakterien und ihrer Toxine in dieses 
System hin, weiter auf die Lokalisation und die Entwicklung der Bakterien. 
besonders im Mesodermgewebe, den Blutgefassen. Die Wirkung der patho- 
genen Bakterien, einschliesslich der anaeroben Bakterien ohne Lokalaktion. 
nur mit Femwirkung, und die Wichtigkeit der verschiedenen toxischen Pro- 
dukte werden kurz besprochen. In den zahlreichen Fallen, die noch nicht 


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ganz geklart sind, muss man eine Verbindung einer infektioeen toxischen 
Aktion mit einer mechanischen, z. B. dem Verschluss eines Blutgefassee, 
vermuten. Bei den Verbindimgen der Thrombosen der zerebralen Sinus 
und der Venen der Pia mater mit den meningo-encephalitischen Prozessen 
von infektiosem toxischem Ursprung in ihrer Umgebung glaubtVortragender, 
dass zumindest in den meisten Fallen die letzteren Prozesse das Primare. 
die Thrombosen das Sekundare sind. Vortr. verlangt eine genauere Klassi- 
fikation und Terminologie dieser pathologischen Prozesse des Nervensystems. 
Insbesondere gilt das fur denBegriff der Entziindung und hier wieder speziell 
fiir die encephalitischen und myelitischen Prozesse. Dazu ist es aber vor 
allem notig, die Natur und den Ursprung der Zellen zu studieren, die sich 
bei den verschiedenen pathologischen Prozessen finden, speziell der Zellen 
von relativ grossen Dimensioned Vortr. hat exakte Untersuchungen dieser 
Zellen bei den verschiedenen Krankheitsprozessen wie auch bei experimen- 
tellen Untersuchungen an Tieren angestellt und kam dabei zur Ueberzeugung, 
dass wahrscheinlich die Majoritat der grossen Zellen, namentlich der Zellen, 
die deutlich grosser sind als Leukozyten, darunter besonders die epitheloiden 
Zellen, die besonders bei den Encephalitiden sehr reichlich vorhanden sind, 
koine Abkommlinge der Neurogliazellen oder der fixen Mesodermzellen 
oder der Plasmazellen sind, sondem hauptsachlich Polyblasten oder Ab¬ 
kommlinge von solchen, also in letzter Linie den Lymphozyten entstammen. 
Er mochte daher die Termini Encephalitis und Myelitis auf jene patholo¬ 
gischen Prozesse einschranken, wo von Anfang an als integrierender Faktor 
des Prozesses und nicht nur sekundar exsudative und emigrative Prozesse 
im Spiele sind. Auch betont der Vortr. die nach ihrem Ursprung verschie- 
dene Wichtigkeit der zellularen Formen, nicht nur fiir die pathologischen 
Prozesse, sondem auch fiir die Phagocytose. Er erwartet von einer genaueren 
Klarung dieser Fragen bedeutende Fortschritte fiir eine aktivere Behandlung 
zumindest dieser pathologischen Prozesse des zentralen Nervensystems. 

(Autoreferat.) 

Dercum-Philadelphia: Interpretation der Aphasie. 

Vortr. sucht zuerst ein Symptom, das alien Aphasien gemeinsam ist, 
zu prazisieren. Er findet bei der motorischen und sensorischen Aphasie 
die Herabsetzung des Sprachverstandnisses, und zwar sowohl der ge- 
sprochenen als auch der geschriebenen Sprache. Thomas und Roux haben 
durch ihre Methode der syllabaren Analyse gezeigt, dass die Gehorinter- 
pretation der gesprochenen Sprache bei motorisch Aphasischen herabgesetzt 
ist; bei diesen Versuchen wird die erste Silbe immer erkannt, aber die letzten 
der eingeschobenen Silben niemals. Er legt die Unhaltbarkeit der Theorie 
von Gehors- und Gesichtswortbildem dar imd entwickelt seine eigene 
Ansicht dahin, dass wir in der Schallerkennung eine Assoziation akustischer 
Qualitaten haben, wie in der Stereognose eine Assoziation taktiler Qualitaten. 
Die Kenntnis bestimmter Schalleindriicke ist nicht direkt mit den Natur- 
gegenstanden assoziert, sondern mit dem Inbegriff dieser Naturobjekte. 
Einfache Schallerkennung nennt er Acugnosis, Spracherkennung Logognosis. 
Analog dem Ausdruck Stereoagnose ware der Verlust der zwei genannten 
Funktionen Acuagnosis und Logoagnosis zu nennen. Im Einzelfall variieren 
die Defekte in verschiedenen Fallen sowohl nach dem Grade der Symptome 
als auch nach der Art der mangelnden Assoziation. Wiederbelebung 
(re-enforcement) ist ein teilweises, plotzliches Wiederfinden der Sprache fur 
gewisse Wendungen imter dem Stimulans von ungewohnlicher Erregung. 
Die Behinderung wird plotzlich durch eine machtige wiederbelebende Welle 
uberwunden. Eine ahnliche Erklarung muss fiir die ,,singenden Aphasiker 44 
angewendet werden. Er fiihrt dafiir Beispiele an, von denen besonders ein 
Fall bemerkenswert ist, bei dem sensorische Aphasie bestand mit dem Haupt- 
symptom der Amusie; hier wurden ganze Satze unter dem Einflusse des 
Re-enforcement gebildet, das taktile Re-enforcement versagte, wenn es 
visual 1 nicht gelang, und weiter war die Unfahigkeit auffallend, seriale 
Auftrage auszufiihren. Der Verlust der Tatigkeit, richtig zu assozieren, 
muss hier struktuell oder funktionell die Verbindungen der Wernicke schen 
Region betreffen, und die Region des taktilen Wiedererkennens oder der 


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166 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 


Stereognose muss andererseite gestort sein. Das lasst sich am besten durch 
die Diaschisis-Theorie Monakows erklaren. Vortr. hat das Re-enforcement 
auch in Bezug auf expressive und gesprochene Sprache beobachtet. Die 
Alexie sucht er aus dem leichten Verlust der spater erworbenen Fahigkeit, 
geschriebene Sprache zu verstehen, zu erklaren. 

Disku88ion . 

Mingazzini-'Rom bespricht die JBedeutung des Linsenkemes bei der 
motorischen Aphasie; es sei notig, zwischen vorderer und hinterer Partie 
desselben zu unterscheiden, in der vorderen enden die motorio-phasischen 
Biindel, in der hinteren diejenigen, welche die Verboarthrie vermitteln. Bei 
Verletzung des vorderen Teiles resultiert motorische Aphasie, bei Verletzung 
dee hinteren Anarthrie verschiedenen Grades. 

Dercum (Schlusswort) sieht ein grosses Verdienst Maries darin, dass 
er zu neuem und exaktem Studium der Aphasie angeregt hat; die Frage der 
Lokalisation ist noch nieht ganz geklart. 

Outzmann- Berlin: Die Beh&ndlung der Aphasie. 

Die Frage der Aphasiebehandlung ist bisher noch weniger diskutiert 
worden, besitzt aber ein eminent praktisches Interesse. Die Stellung der 
Prognose hangt in erster Reihe vom Zustande des Pat. ab. Auch friihes 
Beginnen der Uebung ist strenge zu vermeiden, wenigstens ein halbes 
Jahr muss nach Abklingen der sturmischen Erscheimmgen abgewartet 
werden; vorzeitige Uebung kann eine neue Blutung hervorrufen. Vortr. 
iibt erst dann, wenn sich nach 1—2 Jahren keine spontane Besserung der 
Sprache einstellt. (Jute Erfolge lassen sich nur dann erzielen, wenn der Pat. 
keine tieferen intellektuellen Storungen zeigt. Erregbarkeit, Depressionen etc 
sind keine wesentlichen Hindemisse der Therapie. Die Prognose hangt immer 
ab von der Art der Sprachstorung. Am schwersten zu behandeln ist die sen- 
sorische Aphasie mit gesteigertem Rededrang; solche Patienten miissen sich 
vorerst an die Einhaltung der normalen Hemmungen (Schweigen) gewohnen. 
Unvollstandige Heilung lasst sich erzielen bei schweren kortikalen motori¬ 
schen Aphasien. Von grosser Bedeutung ist es, dass die Kranken wenigstens 
den richtigen Gebrauch einiger Worte lernen, um sich notdiirftig aus- 
zudriicken. Eine giinstigere Prognose stellt Vortragender den dysarthrischen 
Storungen, welche er in syllabare und litterale Dysarthrien trennen mochte, 
so dass er von aphasischen Stottem und aphasischem Stammeln spricht. 
Von grossem Einfluss ist das Alter des Pat. Bei Kindern gleichen sich 
manche Storungen spontan aus. aber auch bei alteren Leuten lassen sich 
gute Erfolge erzielen. Bei sehr schweren Aphasien lasst sich auch mit 
systematischer Gebardensprache manches erreichen. Zum Studium der- 
selben pflegt Vortr. ein besonderes Bilderbuch zusammenzustellen. 

Stem- Wien betont, dass die friiher geiibten Vor- und Nachspreche- 
Uebungen vieles zu wiinschon iibrig lassen. es miissen also versehiedene 
Faktoren zu Hiilfe genommen werden, wie sie Vortr. beschrieben hat. St. 
findet, dass durch das Ueben sinnloser Silben das Gedachtnis sehr gestarkt 
wird. Die Technik der Uebungstherapie und der richtige Umgang mit 
aphasischen Kranken sind neben den sprechtherapeutischen Massnadimen 
von besonderer Wichtigkeit bei der Behandlung. 

Adamkiewicz-Wien : Ueber die Gedaehtniseigensch&ft und den Gedacht- 
nisstoff des Gehirnes. 

Nachdem Vortr. schon seit Jahren auf die Tatsache hingewiesen hat, 
dass das Gedachtnis in keinem direkten Verhaltnis zur Intelligenz steht, 
legt er jetzt ausfiilirlich dar, dass das Gedachtnis iiberhaupt keine sogenannte 
psychische, sondern eine physische Eigenscliaft der Geliirnsubstanz sei, 
die zur Psyche nur sofern in Beziehung steht, als sie die Grundlage, das 
Fundament darstellt, auf das alle Fahiykeiten der Seele sich griinden. 

//i^ier-Warschau: Zur Klassifikation der endogenen Hirnlahmungen 
(Diplegiae cerebrales). 

Es lasst sich nicht ohne W'eiteres die friihinfantile Form der cerebralen 
Diplegie (I'ay-Sachs) mit der spat infant ilen und juvenilen (Freund. Higier , 
Vogt) identifizieren aus folgenden Griinden: 1. nur bei der juvenilen Form 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


167 


wird einVorkommen in mehreren Generationen und Seitenlinien beobachtet; 
2. nur bei der friihinfantilen ist Rassendisposition pathognostisch; 3. die 
juvenile Form ist ausserst selten, die infantile ist in manchen Gegenden 
(Polen, Littauen, baltische Provinzen) haufiger als die heredo-familiare 
spastische Paralyse oder erbliche Dystrophie; 4. die interessante Muskel- 
degeneration ist ausschliesslieh bei der infantilen Form vorhanden; 5. Ueber- 
gange zwischen beiden Formen werden in einer Familie nie beobachtet; 6. das 
klinische Bild ist bei der infantilen Form stereotyp. bei der juvenilen mannig- 
faltig; 7. histopathologisch ist die infantile Form der Ausdruck einer ubi- 
quitaren endo- und exozellularen Degeneration des Nervensysterns, wogegen 
bei manchen Fallen (Spielmeyer) der juvenilen Form die Degeneration 
eklektisch ist und iiberwiegend endozellular bleibt, bei anderen Fallen 
( Merzbacher , Pelizaeus) die Zellen intakt gefunden werden und nur eine an- 
geborene Aplasie der extrakortikalen Aclisenzylinder und Markscheiden vor- 
Uegt. Vorderhand zwingt somit w T eder der klinische Verlauf noch der 
pathologisch anatomische Befund die friihinfantile und spatinfantile zerebrale 
Diplegie oder familiare amaurotische Idiotie als eine einheitliche Krankheits- 
varietat aufzufassen. Sehr nahe histologische Verwandschaft und klinische 
Familienahnlichkeit lassen sich aber nicht ableugnen. 

(Autoreferat.) 


Diskussion. 


Schonfeld -Riga mochte, ohne der pathologisch-anatomisch begriindeten 
Vereinheitlichung dieser endogenen Cerebropathien zunahetreten zu wollen, 
nur darauf hinweisen, dass die angefiihrte familiare amaurotische Idiotie 
klinisch sich doch ganz pragnant von den genannten mehr chronisch ver- 
laufenden Erkrankungen abhebt. Bei den typisch Familiar-Amaurotischen 
handelt es sich um einen sehnell fortschreitenden, allgemeinen korperlichen 
und geistigen Auflosungsprozess, der in kurzer Zeit unabanderlich zum Tode 
fiihrt, w r ahrend es bei der anderen Form doch moistens zu stabilenKrankheits- 
zustanden kommt. Was die auffallige Bevorzugung der jiidischen Rasse 
anlangt, so miisste erst die Zukunft lehren, ob nicht die vorzugsweise jiidische 
K lien tel der Berichterstatter diesen Prozentsatz beeinflusst. Auch von ihm 
sind vielleicht aus diesem Grunde in den letzten Jahren gerade 5 jiidische 
Kinder mit sogenannter familiarer amaurotischer Idiotie beobachtet worden, 
doch glaubt er. dass, wenn erst die nicht jiidischen Kollegen an diese seltene 
Diagnose in alien Fallen von sogenannter Ernahrungskachexie oder ahnlichen 
Erkrankungen denken wiirden, der charakteristische ophthalmoskopische 
Befund auch bei Kindern anderer Abstammung zu finden sein diirfte. 

R. Bing-B asel bringt einige Bemerkungen iiber das anatomische 
Substrat der heredo-familiaren Nervenkrankheiten. Ausser der Tay - 
^ac/wschen Form ist auch die „Aplasia axialis extracorticalis Li y die den 
zerebralen familiaren Diplegien vom Typus Pelizaeus-Merzbacher zugrunde 
liegt. eine Liision sui generis. Die exzessive Bindegew r el>sw r ucherung, 
welche die ,,N6vrite progressive de Tenfance* 4 (Dejerine-Sottas) von der ge- 
wdhnlichen neuralen Muskelatrophie so auffallig unterseheidet, zeugt von 
der oft unterschatzten pathogenetischen Dignitiit auch der interstitiellen 
Gewebe; eine relative Spezifizitat- darf auch die eigenartige Faserwirbel- 
-bildung der Neuroglia bei Friedrcich-RuckerumiTken beanspruchen. Solche 
pathologisch-anatomische Besonderheiten einzelner Formen zeigen uns, 
dass die ganze Reihe der Erscheinungen weder durch die Aufbrauchs- noch 
(lurch die ,,prainature 8eneszenz“-T1 leorie ganz gedeckt werden kann. 

Sachs-Xew - York (Schlussw T ort): Die Pclizaeussche Form ist nicht 
mit der Tay-Sachssch erl Form zu vereinigen. Die spastische Diplegie ist 
auch meistens verschieden davon. Uauptgewinn des Studiums ist, dass diese 
Kassenerkrankung in ihrer hereditaren Form eine zellulare Erkrankung ist. 


4. Sitzung vom 31. August , nachmittags. 

Vorsitzende: Peirin , Muskens. 

Roussy-P&ris und Rossi- Milano: Harnblasen- und DefSkationsbe- 
schwerden infolge experimenteller Lasionen des Conus terminalis oder der 
Cauda equina. 


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168 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 

Vortragende haben bei 11 Tieren (Hiuide, Katzen) Experimente ge- 
macht, um zu entscheiden, ob die Theorie Midlers richtig sei, naeh welcher 
Miktion und Defakation nur von sympathischen Ganglien abhangig sind. 
Bei einem Teile der Tiere wurde nach Abtragung des Conus terminalis 
die Cauda equina durchtrennt; bei diesen Tieren traten dauemde Harn- 
und Defakationsbeschwerden sofort naeh der Operation auf und bestehen 
fort: tropfenweiser Harnabgang, Unfahigkeit den Ham im Strahl zu ent- 
leeren, Blase leicht kompressibel, unvollstandige Entleerung der Faces, 
kein Analreflex. Bei der zweiten Gruppe der Tiere wurde das Lumbalmark 
ganz durchschnitten: periodische strahlenweise Hamentleerung, spater 
schwer kompressible Blase, Analreflex ist vorhanden. Die Resultate sprechen 
somit ganzlich gegen die Auffassung Midlers . 

Frankl-Hochwart- Wien sieht durch die Experimente endgiiltig ent- 
schieden, dass seine Ansicht vom Vorhandensein zweier subzerebraler 
Blasensteuerungen richtig sei, und erinnert auchdaran, dass ihmder klinische 
Beweis gelungen ist: bei einem Knaben init Harntraufeln und Trabekelblase 
zeigte sich mikroskopisch nur Veranderung der 3. und 4. Sakralwurzel. 

Mingazzini- Rom: Ueber die zentralen und peripheren Verbindungen 
des Hypoglossuskernes beim Menschen. 

(Erscheint in dieser Zeitschrift.) 

A. Marina- Triest: Das Ganglion ciliare ist das peripbere Zentrum 

ffir die Liehtreaktion der Pupillen. 

Die vom Vortragenden angefuhrten Experimente erlauben diesen 
Schluss. Pathologisch-anatomische Befunde bestatigen, dass dem Ganglion 
ciliare und den Ciliarnerven eine grosse Bedeutung in der Pathogenese der 
pathologischen Pupillenreaktion (Tabes, Paralyse) zukommt. Es ist mog- 
Jich, dass die Konvergenzreaktion „primo loco“ durch die Dehnung der 
kurzen Ciliarnerven zustande kommt, eine Hypothese, welche mit dem Re¬ 
sultate seiner Experimente liber die Transplantation von Augenmuskeln 
bei Affen in Einklang steht. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Akkommo- 
dationsreaktion der Pupille eine bis jetzt noch nicht ganz geklarte komplexe 
Ursache hat. Zum Schlusse betont Vortr. noch einmal nachdriicklich, 
dass seine Meinung nicht richtig wiedergegeben wurde, wenn gesagt wurde, 
dass er das Ganglion ciliare fiir das einzige Zentrum der Liehtreaktion halte; 
er habe oft wiederholt, dass dasselbe nur das periphere Zentrum sei, womit 
aber das Vorhandensein anderer Zentren durchaus nicht ausgeschlossen ist. 

DisJcussion. Minor . 

5c/uz//er-Budapest: Ueber doppelseitige Erweichung des Gyrus supra- 
marginalis. 

(Erscheint in dieser Monatsschrift.) 

5. Sitzung vom 1. September. 

Vorsitzende: Oppenheim,. Dercum. 

H. Head-London: Ueber sensorische Impulse im Gehirn und Riicken- 

mark. 

Trotzdem wir annehmen, dass dor Mensch sich aus niederen Tieren 
entwickelt hat, glauben wir doch, wenn wir vom Gefiihl und sensorischen 
Prozessen reden, dass der Mensch mit sensorischen Endorganen begabt sei, 
deren jedes einer sensorischen Qualitat der menschlichen Erfahrung ent- 
spricht. Man nimmt an, dass die Impulse, die in jedem peripheren Endorgan 
entstehen, unverandert zum Gehirn passieren und dort die eigentiimliche 
und unbekannte V’eranderung setzen, die eine sj^ezifische Sensation hervor- 
ruft. Weiter wird angenommen, dass der Ort des Reizes und das Gefiihl 
der Stellung des gereizten Korperteiles auf eine psychische Grupp>ierung 
primitiverer Sensationen zuriickzufiihren ist. Aber genaueres Studiiun 
der Falle von Schadigung der peripiheren Nerven, der grosseren Nerven- 
starame, der hinteren Wurzeln oder des Riickenmarkes beweist, dass das 
nicht der Fall ist. Die Sensation ist das Resultat von afferenten Impulsen, 
die eine Wiedergrupjpierung und Transformation erfahren haben, bevor sie 
das Gehirn erreichen. Es variiert daher die Art des Verlustes der Sensation 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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deutlich entsprechend der Lage der Lasion. Vortr. fiihrt das an mehreren 
Beispielen durch und kommt zu folgenden Schliissen: 1. Zwischen dem ersten 
und zweitem Niveau des Nervensysterns unterliegen die sensorisehen Impulse 
neuerlicher Gruppierung. 2. Dieser Uebergang von dem ersten zum zweiten 
Niveau findet mit wechselnder Raschheit statt, entsprechend der Natur 
der Impulse. So kreuzen die Bahnen, die dem Schmerz, der Warme- und 
Kalteempfindung zugrunde liegen, innerhalb der Ausdehnung von 4—6 Seg- 
menten, wahrend die Bahnen fur Beriihrung einen doppelten und viel 
langeren Weg zuriicklegen. Die mit dem Gefiihl fiir die passive Stellung 
und Bewegung iind die mit der Unterscheidung von Zirkeispitzen betrauten 
Fasem im Riickenmark in den hinteren Saulen bleiben ungekreuzt, bis sie 
die Hinterstrangskerne erreichen, wo sie neuerdings gruppiert werden und 
auf die andere Seite ziehen. 3. Eine ausserhalb des Riiokenmarkes gelegene 
Lasion kann zwei Formen von sensorisehen Storungen hervorrufen. Die* auf 
Affektion der hinteren Wurzeln zuriickzufiihrende Storung ist in der Ebene 
der Lasion gelegen und entspricht dem peripheren Typus, wahrend die durch 
Lasion der langen sekundaren Ziige bedingte auf der anderen Seite des 
Korpers liegt und Verlust der Empfindungen herbeifiihrt, die auf Interferenz 
mit Impulsen zuriickzufiihren ist, bevor diese eine neuerliche Gruppierung 
erfahren haben. 4. Andererseits, wenn sowohl der lokale als der entfernte 
Verlust der Sensibilitat sekundarer Gruppierung entspricht, so liegt die 
Lasion ganz im Riickenmark. (Autoreferat.) 

Petrfa - Upsala: Ueber die sensorisehen Bahnen im Riickenmark. 

Vortr. hat die Falle von Stichverletzungen des Riiokenmarkes zu- 
sammengestellt. Er behauptet, dass nur die klinischen Beobachtungen 
dieser Axt sich zu diesem Zweck brauchen lassen, weil hier die Lasion des 
Ruckenmarkes infolge der Art ihrer Ursache eine regelmassige werden muss, 
da nur zusammenhangende Teile des Querschnittes durchschnitten werden 
konnen. Unter 74 Fallen von Stichverletzungen haben 72 eine gekreuzte 
Anasthesie gezeigt. Die Falle lassen sich in drei Gruppen einteilen: 

1.31. Falle, wo sich die Anasthesien nur auf Schmerz- und Temperatur- 
sinn bezogen und die Lahmung immer nur eine einseitige war; 2. 17 Falle, 
wo die Anksthesie sich auch auf den Tastsinn bezog, so dass samtliche Haut- 
sinne betroffen waren, die Lahmung aber auch nur eine einseitige war; 
3. 24 Falle. wo die Anasthesie sich auf die samtlichen Hautsinne bezog, 
die Lahmung aber anfanglich eine doppelseitige war. Folglich ist koin Fall 
vorgekommen, wo die Lahmung eine doppelseitige war, der Tastsinn aber 
unberiihrt blieb. Es geht daraus hervor, dass der Schmerz- und Temperatur- 
sinn konstant gestort waren, was mit ihrer Verlegung in die lateralsten Teile 
des Ruckenmarkes, d. h. in den peripheren Teil des Seitenstranges, vollig 
ubereinstimmt. Wenn der Tastsinn nur im gleichseitigen Hinterstrang ver- 
iiefe, wiirde in alien Fallen, wo eine gekreuzte Storung des Tastsinnes 
vorliegt, auch eine ungekreuzte auftreten miissen. Nun kam eine ungekreuzte 
Storung des Tastsinnes nur in 4 Fallen vor, eine gekreuzte Storung des 
Tastsinnes aber in noch 34 anderen Fallen. Folglich kann der Tastsinn 
nicht ausschliesslich im ungekreuzton Hinterstrang verlaufen. Wenn aber 
andererseits der Tastsinn nur im gekreuzten Hinterstrang verliefe, so wiirde 
eine doppelseitige Storung des Tastsinnes wenigstens in all den Fallen auf¬ 
treten, wo die Lahmung im Anfang eine doppelseitige ist. Unter den 
24 Fallen mit doppelseitiger Lahmung haben aber nur zwei eine doppel¬ 
seitige Storung des Tastsinnes gezeigt; folglich kann der Tastsinn auch 
nicht ausschliesslich in den gekreuzten Hinterstrang verlegt werden. Der 
Tastsinn kann ferner auch nicht ausschliesslich in den gekreuzten Seiten- 
strang zusammen mit dem Schmerz- und Temperatursinn verlegt werden, 
weil die gekreuzte Anasthesie sich in 31 Fallen nur auf Schmerz- und 
Temperaturempfindung bezogen hat. Auch gibt es einige Falle mit Aut- 
opsie, die beweisen, dass die Zerstorung des ganzen Seitenstranges keine 
Storung des Tastsinnes zur Folge hat. Vortr. ist folglich zu der von ihm 
schon vor 7 Jahren dargelegten Auffass:mg gekoramen, dass der Tastsinn 
iiber 2 Bahnen verfiigen muss: eine Bahn im gekreuzten Hinterstrang 
und eine zweite Bahn im gekreuzten Seitenstrang. Mit dieser Auffassung 


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170 XVI. internaticmaler medizinischer Kongress in Budapest 

lassen sich alle Erfahrungen bei Fallen von Stichverletzung erklaren. Was 
den Muskelsinn betrifft, so ist dieser Sinn unter den Fallen in Gruppe 1 ent- 
weder ungestort oder nur auf der Seite der Lahmung gestort gewesen. In 
den Fallen der Gruppe 3 scheint der Muskelsinn immer doppelseitig gestort 
gewesen zu sein. Dies stimmt zwar mit der allgemeinen Auffassung, dass 
der Muskelsinn in den gleichseitigen Hinterstrang zu verlegen ist, seheint 
aber waiter dafiir zu spreehen, dass eine Storung des Muskelsinnes an den 
unteren Extremitaten nur auftritt, wenn neben dem Hinterstrang auch die 
Kleinhimseitenstrangbahnen in ihrer Funktion gestort sind. 

H. Benedict- Budapest: Ueber die zerebrale Lokalisation der sensiblen 
Metameren. 

Bei einer Anzahl von Hemiplegien oder Hemiparesen von brachio- 
fazialem Typus findet man in den hemianasthetischen Gebieten metamere 
Grenzen wieder. Am haufigsten findet sich die Halsbrustgrenze und die sich 
aus ihr entwickelnde Richtungslinie der oberen Extremitaten als Grenze aus- 
gepragt. Eine andere haufige Grenze ist die Linie, die das 2. und 3. Tri- 
geminusgebiet voneinander scheidet. In seiner ersten Veroffentlichung hatte 
Vortragender der Ansicht Raum gegeben, dass es sich vielleicht um das 
scharfere Hervortreten auch normal vorhandener Sensibilitatsdifferenzen 
handle, wie sie von Muskens und in etwas abweichender Form von Balint 
beschrieben wurden. Weitere Untersuchungen haben ihn aber dazu gefiihrt, 
fur diese wichtigen Abgrenzungen gewisser Metamerengruppen eine zentrale 
Representation in den sensiblen Neuronen hoherer Ordnung und im 
Kortex anzunehmen; es lasst sich namlich bei Untersuchung der Irradiations- 
vorgange funktionell bedingter Hauthyperalgesien, die aus den Maximal- 
flecken der Headschen Zonen entstehen, nachweisen, dass die Richtungslinie 
der oberen Extremitaten fur die Psyche einen ahnlichen Orientierungswert 
und Symmetriewert besitzt wie die Medianlinie des Korpers. Das Gleiche 
gilt fiir andere Grenzlinien metamerer Gruppen. Die Entstehung der von 
den sogenannten Amputationslinien begrenzten, als zentral bezeichneten 
Sensibiiitatsstorungen wird auch durch das Symmetriegesetz beherrscht. 
Eine andere als eine psycho-physische Erklarung lasst sich fur diese und 
das CaUigaris sche Liniensystem vorlaufig nicht geben. 

(Autoreferat.) 

J. J. Musket- Amsterdam: Neuere Ergebnisse der segmentalen Sen- 
sibilitatsuntersuchungen. 

Die eigentiimliche Lokalisierung der Schmerzgefiihlsstorungen in 
den post-axiaien Segmenten war besonders in drei Gruppen von organischen 
Erkrankungen gefunden worden: 1. Ausfall von irreparablem Charakter 
bei Hinterstrangsklerose als Folge von Metasyphilis; 2. Ausfall von stark 
fluktuierendem Charakter bei Epileptikem nach Bdlint ; 3. Ausfall chronischen, 
aber reparablen Charakters in einer Gruppe von Fallen, die friiher zur 
Alkoholneuritis gerechnet wurden. Mit fast mathematischer Genauigkeit 
gelingt die Feststellung des hochsten Punktes bei Ruckenmarkskompression, 
was ihre klinische Wichtigkeit erweist. Auch die kortikale Projektion der 
Korperoberflache gelingt nach segmentalen Prinzipien. Vortragender 
hat asvmmetrische segmentale Gefiihlsfelder bei Fallen von organischer 
cerebraler Erkrankung, bei Hemiplegie und Dementia paralytica beobachtet. 
Goldstein hat dasselbe bei einem Fall kapsularer Erkrankung gesehen. 
Auch fiir das hauptsachlicheBefallensein der ulnaren Seite der oberen Extre¬ 
mitaten inangelt es noch an einer befriedigenden Erklarung. Auch die 
Dissoziation der verschiedenen Qualitaten der kortikalen Hautempfindung 
wurde nach Meinung des Vortr. noch zu wenig beachtet. Bei normalen 
Individuen hat Vortr. mit Leichtigkeit die Situation der Richtungs- 
linien auf den Extremitaten festgestellt, was auch von Bdlint nach- 
gewiesen wurde; er meint, dass die Ueberempfindlichkeit dieser Linien die 
Folge der 5- bis 6 faclien Segmentiimervation dieser Streifen ist. Die post- 
axialen Bezirke sind auch bei gesunden Personen oft hyperalgetisch. 
Bez.der praepileptischenGefiihlsstorungen sindvor allem die Maes-Clauschen 
I ntersuchungen zu nennem. Auffallend sind dabei die ausserordentlich 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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schnellen Schwankungen des Sensibilitatsstatus. Siohergestellt sind die 
folgenden Tatsachen: 1. Weit haufiger, als im allgemeinen angenoinmen 
wird, findet man iiber gewissen Hautbezirken bei genuinen Epileptikern 
Herabsetzimg des Schmerzsinnes; 2. die Grenzen dieser Hautbezirke sind 
nicht konstant und wechseln mit dem Auftreten von motorischen epilep- 
tischen Erscheinungen; 3. die Grenzen dieser Hauptbezirke sind segmentaler 
Natur; 4. die Gefiihlsstorungen sind vollstandig unabhangig vom jeweiligen 
Geisteszustand des Kranken. Es sind grosse individuelle Unterschiede 
vorhanden; im frischen Fall wird oft jede Schmerzgefuhlsstorung vermisst, 
anderseits wird manchmal habituelle, komplette und totale Analgesie ge- 
funden. Gerade diese letzteren Falle zeigen oft ganz normale Empfindung 
oder Hyperalgesie nach, seltener schon vor den Entladungen. Dagegen 
treten bisweilen die segmentalen Gefiihlsstorungen vor den Anfallen in die 
Erscheinung. Bei der Differentialdiagnose zwischen hysterischer und orga- 
nischer Hemplegie, sowie zwischen Hysteria und Epilepsie ist die Kenntnis 
der Details der Gefiihlsstorungen von besonderer Wichtigkeit. Im Anschluss 
daran berichtet Vortr. iiber eine operierte subkortikale Cyste des Parietal- 
hirnes mit charakteristischer Aenderung der Sensibilitatsstorung nach der 
Operation. 

H. Fo6r^iW-Helsingfors: Ueber die Anordnung der sensiblen Leitungs- 
wege im Rtickenm&rk. 

Vortr. geht von der jetzt herrschenden Auffassimg der sensiblen 
Leitungswege aus; dieser zufolge werden die Beriihrungs- und Druck- 
empfindungen auf zwei verschiedenen Wegen ausgelost, und zwar sowohl 
durch die Hinterstrange wie durch gekreuzte zusammen mit den Tem- 
peratur- und Schmerzbahnen verlaufende Wege. In einer in den Mit- 
teilungen aus dem Pathologischen Institut Helsingfors 1907 erschienenen 
Arbeit suchte der Vortr. den Zweck und die Bedeutung der beiden Leitungs¬ 
wege festzustellen. Gestiitzt auf einige eigene Beobachtungen sowie auf 
kasuistische Mitteilungen aus der Literatur gelangt Vortr. zur folgenden 
Auffassung: 1. die beiden Leitungswege wirken gleichzeitig und zusammen; 
2. die Hinterstrange losen jede Art von Druckempfindung von der leisesten 
Beriihrung bis zur starksten Druckempfindung aus, aber den so entstandenen 
Empfindimgen fehlt der Gefiihlston vollig; 3. dieser wird erst durch die 
Leitung in den kontralateralen Bahnen hinzugefiigt, die also nicht nur den 
Schmerz, sondem auch alle diejenigen Stufen der Gefiihlsbetonung, die ihm 
vorangehen, hervorrufen. Durch diese Auffassung der zentripetalen Leitungs¬ 
wege im Ruckenmark kommen wir dem Verstandnisse mancher Erschei- 
nungen, vor allem aber der Hyperasthesie naher. Hyperaathesie nennen 
wir einen Zustand, in dem die Gefiihlsbetonung der Empfindungen abnorm 
stark ausfallt, und die pathologisch-physiologische Grundlage derselben 
liegt in einer Steigerung der Leitungsprozesse in denjenigen Bahnen, die 
auch normalerweise den Gefiihlston hervorrufen, also der Leitungsprozesse 
in den kontralateralen Empfindungsbahnen, ,,den Gefiihlsbahnen“, wie 
Vortr. sie nennen mochte. (Autoreferat.) 

Diskussion. 

Giese - St. Petersburg berichtet ankniipfend an die Ausfiihrungen 
Heads in Kiirze iiber einen ganz eigenartigen Fall, der in anschaulicher 
Weise die grosse diagnostische Bedeutung der Headschen Zonen demon- 
striert. Es handelt sich um einen 22 jahrigen Mann, den G. vor etwa zwei 
Jahren beobachtet hatte. Bei der Aufnahme gab Patient an, seit ungefahr 
4 Wochen an einem ziemlich starken Brennen an der Innenflache des linken 
Oberschenkels zu leiden. Bei der Untersuchung konnte G . unter anderem 
eine hyperalgetische Zone, entsprechend der oberen Halfte der Innenflache 
des linken Oberschenkels, und femer das Fehlen des linken Testikels im 
Skrotum konstatieren. Er nahm nun auf Grund der herrschenden Lehre 
an, dass die hyperalgetische Zone durch eine Lasion des linken Testikels 
bedingt sei. Der weitere Verlauf des Falles hat diese Voraussetzung voll- 
kommen bestatigt. Eine Woche nach der Aufnahme ins Spital verspiirte 
Patient plotzlich einen recht heftigen Schmerz in der linken Inguinalgegend. 


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172 XVI. internationnler medizinischer Kongress in Budapest 

und es erwies sich, dass dieser Schmerz durch eine Einklemmung des im 
Zeszensus begriffenen Testikels im Leistenkanal hervorgerufen war. Nach 
Deiteren 5 Tagen war der link© Testikel ins Skrotum gelangt; zu gleicher 
weit verschwand die Headsche Zone. 

6. Sitzung 1. Sept., nachmittags. 

Vorsitzender: Homkn. 

A. Sicard- Paris: Behandlung der Gesiehtsneuralgie mit lokalen In¬ 
jektionen. 

Vortr. unterscheidet eine essentielle und eine sekundare Form der 
Gesiehtsneuralgie. Die essentielle fiihrt Vortr. mit Brissaud auf die Enge 
der drei Locher an der Basis des Hemikraniums und zwar gewohnlich des 
rechten zuriick, die sekundare kann auf eine periphere oder allgemeine 
Ursaehe zuruckzufiihren sein. Die Neuralgia facialis essentialis zeigt sehr 
selten ein Ergriffensein aller drei Aeste. Die Paroxysmen sind aber immer 
sehr heftig, oft ist lokales Muskelzucken und Starke Hyperamie der Haut mit 
Tranentraufeln und Speichelhypersekretion vorhanden; sie ist leicht von 
der unilateralen frontalen Migrane zu unterscheiden. Vortr. gibt dann eine 
Jcurze historische Uebersicht der Injektionstherapie, die zuerst 1902 von 
Pitres und Verger angewendet und speziell von Schlosser ausgebildet wurde. 
Zur Injektion werden von ihm feine Platinnadeln gebraucht, die Haut wird 
mit einer 1 prozentigen Losung von Stovain anasthesiert. 80 prozentiger 
Alkohol mit oder ohne Zusatz von Stovain, aber immer ohne Zusatz von 
Chloroform, ist die Injektionsfliissigkeit. Ausserdem hat Vortr. auch mit 
gutem Erfolg folgende Fliissigkeit angewendet: 50 ccm 80 prozentiger 
Alkohol, 1 g Menthol, 50 eg Novocain. Zu Zwecken der therapeutischen 
Klassifikation werden die Trigeminusneuralgien in eine periphere, mittlere 
und tiefe Gruppe eingeteilt und die Operationstechnik der drei Gruppen 
getrennt beschrieben. Die Zufalle bei den Injektionen sind gering, manch- 
mal entstehen grosser© Hamatome. Um mit Sicherheit einen Beweis dafiir 
zu haben, dass die Operation gelungen ist, genvigt es, die persistierende 
Anasthesie in dem Haut- oder Schleimhautgebiet des injizierten Nerven- 
zweiges zu konstatieren. In Fallen von Myoclonic ist es angezeigt, in 
gleicher Weise die peripheren Zweige des motorischen Facialis zu alkoholi- 
sieren. Vortr. hat die Injektion in 168 Fallen ausgefiihrt und hat bei den 
chirurgisch nicht vorher behandelten Fallen stets giinstige Resultate erzielt. 
Vortr. hat in einem Fall auch mit giinstigem Erfolg eine direkte Alkoholi- 
sation des Ganglion Oasseri durch das Foramen ovale versucht. Dieses 
Verfahren, das den schmerzenden Nerv durch eine den Nerven zerstorende 
Substanz trifft, ist sehr zweckentsprechend zur Bekampfung der Trigeminus- 
neuralgie. (Autoreferat.) 

J. Flesch- Wien: Die Behandlung des Tic douloureux mit peiipherer 
Alkoholinfiltration. 

Vor 10 Monaten hat sich Vortr., durch Schloessers , Kiliana und 
Alexanders Mitteilungen angeregt, der Behandlung von Trigeminusneuralgien 
mittels endoneuraler Alkoholiidiltration zugewendet; liber temporare Er- 
folge hat Vortr. schon vor langer Zeit berichtet. Vortr. halt sie fur die beste 
von den nicht radikalen Methoden. Die tiefen Schloesserschen Injektionen 
scheinen ihm keine Vorteile gegeniiber den von ihm angewendeten peripheren 
zu bieten, da auch durch diese 6- bis 8monatliche Heilungen zu erzielen sind. 
Vortr. fasst seine Erfahrungen in folgende Satze zusammen: 1. Leicht© 
Neuralgien von schleichendem Charakter mit konstanten oder intermittieren- 
den Schmerzen bilden die Doman» der internen oder physikalischen Therapie. 
2. Echter Tic douloureux soli so rasch als mbglich der peripheren Alkohol¬ 
infiltration unterzogen werden. 3. Die Mindestmenge ist 2 g 80 prozentiger 
Alkohol. 4. Vortr. verwendet eine Mischung von 2 g 80 prozentigen Alkohols 
und 0,01 g Stovain in zugeschmolzenen Phiolen unter dem Namen Anti- 
neuralgininjektion „Hell“. 6. Man sei bernuht, den Austrittskanal selbst 
zu treffen, doch ist dies keine conditio sine qua non. 6. Die Injektion ge- 
sehehe moglichst subperiostal zur Vermeidung der Diffusion in die moto- 


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vom 29. August his 4. September 1909. 


173 


rischen Nachbamerven. 7. Die Injektion kann am zweitnachsten Tag© 
mangels prompten Effekts wiederholt werden. 8. Die Schmerzanf&ffe 
irradiieren nicht selten in benachbarte gesunde Aeste imd sistieren dem- 
gemass nach Behandlung des ersterkrankten Astes. 9. Vorher peripher 
operierte Rezidivfalle erweisen sich gegen Alkoholinfiltration voliig refraktar. 
10. Friihzeitige Rezidive nach Alkoholinf iltration lassen sich durch einmalige 
Wiederholung der Injektion leicht und rasch wieder beseitigen. 11. Hyste- 
rische Neuralgien bleiben refraktar. Vortr. verfiigt liber 50 Beobachtungen; 
zwei betrafen vorher resezierte Rezidivfalle. zwei Falle hysterischer Natur 
waren refraktar, die iibrigen 26 sind mehrere Monate rezidivfrei, zwei davon 
schon 9 Monate. Darunter waren auch drei Occipitalneuralgien und eine Neu¬ 
ralgic des N. cutaneus femoris lateralis. Dies© Method© kann demnaeh gegen 
Neuralgien samtlicher von aussen zuganglicher, rein sensibler Nerven an- 
gewendet werden. Exzentrische Neuralgien, wie tabische Krisen sind 
refraktar. Gemischte Nerven reagieren mit Lahmung des motorischen 
Anteiles. (Autoreferat.) 

Diskussion : 

Donath- Budapest verfiigt nicht liber so grosses Material wie die beiden 
Vortragenden, hat aber nie unangenehme ErfaJirungen gemacht; er will aller- 
dings nicht gieich Sicard behaupten, dass die Gasserektomie furderhin iiber- 
fliissig sei, aber vor diesem schweren Eingriff seien jedenfalls die Alkohol- 
injektionen zu versuchen. 

Fuchs- Wien betont gegeniiber Sicard , dass man in der Wiener chirur- 
gischen Ivlinik mit den Alkoholinjektionen keine guten Erfolge erzielt hat. 
Die peripheren Alkoholinjektionen mogen gute Resuitate ergeben, wenn es 
sich um periphere Erkrankung eines Trigeminusastes handelt; aber ihren 
Erfolg vermag er sich nicht zu erklaren, wenn die Erkrankung mehr zentral, 
im Ganglion oder noch zentraler gelegen ist. F . bespricht die ausgezeichneten 
Erfolge, welche er mit der kombinierten Behandlung von Aconitin 
(Moussettesche Pillen) und Laxantien erzielt hat. Jedenfalls will F. trachten, 
sich die exakte Method© Sicards anzueignen, fordert S. aber auf, auch seine 
Behandlungsweise nachzupriifen. 

Sicard (Schlusswort) bemerkt gegeniiber Fuchs , dass wir die Patho- 
genese der Neuralgie eigentlich nicht kennen; er habe nur uber klinische 
Resuitate berichten woilen. 

Sicard und Eoix-Paris: I. Normals Topographic des Ganglion Gasseri 
helm Menschen; klinische Schlussfolgerungen. Beim Kaninchen haben die 
Vortr. nur zwei Nervenzellenkerne im Ganglion gefunden; ahnlich ver- 
halt es sich bei dem Hunde und Menschen, eine Dreiteilung ist Aiasnahme. 
Die Injektion von Farbpartikeln in den Schadelliquor der menschlichen 
Leiche oder beim iiberlebenden Hunde hat das Bestehen von Blindsacken 
ergeben, welche die afferent© Wurzel bis zu den nuklearen Zentren begleiten. 
Desgleichen bestehen echte pseudo-lymphatische Scheiden um den Opticus 
und Oculomotorius, welche sich am Eintritt in den Sinus cavernosus be- 
finden. Diese anatomischen Tatsachen erklaren die Reaktion des Ganglion 
Gasseri bei Basilarmeningitiden, bei Tabes, und namentlich die haufige 
Beteiligimg des oberen Astes in Verbindung mit Paresen des Oculomotorius. 

II. Alkoholisation des Nervus maxillaris superior beim Kaninchen, 
mit konsekutiven nuklearen Reaktionen. 

Die Alkoholisation des genannten Nerven im Niveau des Infraorbital- 
kanales verursacht in der dritten Woche eine Reaktion in der entsprechenden 
Ganglionpartie (Chromolyse mit exzentrischer Kemlagerung). Diese Re¬ 
aktion bleibt auf den gemiscliten Kemteil des Ganglions, welcher dem 
N. maxillaris superior und ophthalmicus zugehort, beschrankt, und er- 
streckt sich nicht auf den benachbarten Kemteil des N. maxillaris inferior. 

III. Gesichtsneuralgie, Entfernung des G. Gasseri, histologische Unter- 
suehung. 

Nach gelungener Gasserektomie verstarb der Kranke an einer bereits 
langer bestehenden Angina pectoris. Bei der Untersuchung war die Dura 
oberhalb des entfemten Ganglions vollkommen geschlossen, vom Ganglion 


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174 XVI. internationalor medizinischer Kongress in Budapest 


blieben bloss einige wenige Xervenzellen iibrig; vollstandige Degeneration 
im Niveau der afferenten Stiimpfe und der afferenten mesocephalischen 
Wurzel. Dieser seltene anatomisehe Untersuchungsbefund gewahrt einen 
Einblick in den Heilungsprozess nach einer Gasserektomie. 

Kouindjy-I > a,ris : Die Methode der Reedukation in der Salpetriere. 

Sie bezweckt eine methodische und zweckmassige Anwendung von 
Uebungen, die den einzelnen Krankheitsformen angepasst sind. Ausser 
diesen Uebungen wird Massage und Extension angewendet. Vortr. berichtet 
iiber 396 Beobachtungen der verschiedensten, nach dieser Methode durch- 
weg mit gutem Erfolg behandelten Krankheiten; so wurden bei ataktischen 
Tabikern aller drei Grade Besserungen in 89 bezw. 92 und 98 pCt. erzielt. Die 
multiple Sklerose und die Fried reicJi&che Krankheit geben die schlechtesten 
Resultate. Bei der Paralysis agitans nehrnen alle Symptome mit Ausnahme 
des Zittems ab. Auch Aphasie wurde selbst in den Fallen gebessert, in denen 
der Patient iiber die mimisehen Ausdrucksmittel nicht mehr verfiigte. 
Vortr. hebt hervor, dass es bei der Behandlung aller hier in Betracht kom- 
menden Krankheiten vor allem auf die Wahl der richtigen Uebungen an- 
komme. 

Teachner- New-York: Die erfolgreiche Behandlung veralteter und 
lortschreitender Lahmungen durch Reedukation. 

Vortr. spricht zuerst iiber die Degeneration der gelahmten Muskeln. 
Ab und zu folgt auf diese eine Periode der spontanen Genesung. Haufiger 
aber werden schwere Falle durch Massage, Elektrizitat und orthopadische 
Apparate erfolglos behandelt; dagegen hat Vortr. durch Reedukation zahl- 
reiche Falle erfolgreich behandelt. Orthopadische Apparate gegen Rekur- 
vation sind zu meiden. Der Zweck jeder Uebung muss ein einleuchtender 
sein. Jeder Patient muss individuell behandelt werden. Der grosste Gewinn 
wird durch die Widerstandsiibungen erzielt. 

Herzog- Budapest: Zur Theorie der Ataxie. 

Die Untersuchung von Bewegungskurven zeigt, dass bei Bewegungs- 
storung infolge Lahmung der Sensibilitat die Bewegungen ungleichmassig 
werden. Steile Abschnitte der Kurve werden von horizontalen Absehnitten 
unterbrochen. Bei der tabischen Ataxie treten ausserdem kurze Bewegungen 
in der entgegengesetzten Richtung auf, die auf dem Verlust des Gleich- 
gewichtes zwischen Agonisten und Antagonisten beruhen. Diese Erscheinung 
unterscheidet die tabische Ataxie von den Bewegungsstorungen sensiblen 
Ursprungs. Die Ataxie ist mit diesen nicht identisch, sie kann durch Storung 
der Sensibilitat allein nicht erklart werden. 

Diskuasion: 

Schweiger-W ien weist auf zwei von ihm beobachtete tabische Patienten 
hin, die seit 1H Jahren schwere Sensibilitatsstorungen an den oberen 
Extremitaten zeigen. In dem einen Fall war eine breite anasthetische Zone 
am Vorderarme, in dem anderen Verlust der Beriihrungsempfindung an 
den Fingern vorhanden, trotzdem keine Ataxie. Er behielt die Falle wegen 
ihrer bei Tabes ungewohnlich hochgradigen Abmagerung in Beobachtung. 
Vor einigen Wochen musstc einer der beiden Falle das Bett durch 14 Tage 
hiiten, im Anschluss daran trat eine hochgradige Ataxie der oberen Extre¬ 
mitaten (starkes Zittem beim Schreiben) auf. Es scheint also dadurch 
die friiher jedenfalls latente Koordinations3torung manifest geworden 
zu sein. ^ 

7 . Sitzung . 2 . September , vormittogs. 

Vorsitzender: Minor . 

Obersteiner-Wien erstattet ein Referat iiber die Funktion der Nerven- 

zelle. 

Die Leistungen der Nervenzelle sind noch nicht klar abzugrenzen. 
Vortr. hofft wichtige Aufschiiisse von der Mikrochemie. Vielleicht spielen 
gewisse Prozesse an den Artikulationsstellen zwischen den Neuronen eine 
wichtige Rolle. Vortr. wendet sich zunachst zu der physiologischen Be- 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


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deutung der einzelnen Zelle: der Zellkem hat infolge Ueberwiegens der 
acidophilen Substanz nicht die Fahigkeit einer Teiliuig. wie dies des Vortr. 
Schiiler Orzechowsky nachgewiesen hat; er passt sich den verscliiedenen 
Funktionen an, die vor allem in seiner Beziehung zur inneren Trophik, zur 
Emahrung und zur Aufrechterhaltung des biochemischen Gleichgewichts 
bestehen, ohne dass damit seine Leistungen ersehopft waren. Im Kern- 
korperchen diirfte eine sekretorische Tatigkeit anzunehmen sein. Ini eigent- 
lichen, protoplasmatischen Zellkorper sind zu unterscheiden: 1. die basophilen 
Nissi-Schollen; 2. die Fibrillen und 3. die interfibrillare Substanz. Die 
Nissl-Schollen, die ebenso wie die Fibrillen praformiert sind, fehlen manohen 
Zellen (so den Kleinhirnkbmern). Urspriinglich warden sie als Apparate 
zur Aufspeicherung von Nahrungsmitteln angesehen; jetzt wissen wir, dass 
ihre Leistung nicht mit der Aufspeicherimg von chemisehen KraftqueUen 
ersehopft ist, dass a her ein Kiickschluss auf die Funktion der Nervenzelle 
nach Grosse, Menge, Gestalt und Anordnung der Schollen moglich ist. 
Die morphologischen Bestandteile der Nervenzelle, denen die eigentlichen 
spezifischen Leitungsvorgange anvertraut sind, sind vor allem die Primitiv- 
fibrillen, die uns jetzt mit Hiilfe der neuen Farbungen von Apathy , Cajal , 
Bielschowsky und Donaggio sehr genau bekannt sind. Vortr. besprieht kurz 
die von der seinen abweichepde Ansicht Schaffers und prazisiort seine An- 
sicht dahin, dass gerade die wechselseitige innige Beziehung zwischen den 
einzelnen Fibrillen verschiedener Herkunft im Bereiche des Zellkorpers 
ein wichtiges Postulat fiir die meisten spezifischen Fimktionen der Nerven¬ 
zelle bildet. Auch der Perifibrillarsubstanz misst er eine gewisse Bedeutung 
bei, wendet sich aber gegen die Auffassung, in den Fibrillen bloss Stiitz- 
organe zu sehen. Die Dendriten dienen zweifellos der spezifischen Funktion 
der Zelle, aber ihre Bedeutung im einzelnen kann selbst fiir einzelne Den¬ 
driten derselben Zelle verschieden sein, wie bei den Mitralzellen des Bulbus 
olfactorius; nur bei manchen Zellen, wie den Purkinjeschen, zeigen samtliche 
Dendriten ganz gleiches Verbalten. Dass die Dendriten auch nebenbei 
Nutritionsorgane sind, scheint Vortr. noch nicht ganz sicher erwiesen. 
Das Gesetz der dynamischen Polarisation (Cajal) gilt im allgemeinen mit 
Beriicksichtigung gewisser Ausnahmen. Vortr. erbrtert die Frage der 
Collateralen der Axone, auch in Bezug auf die Fortsatze der Spinalganglien- 
zellen, von denen er mit Lugaro glaubt, dass alle ilire Fibrillen die Zellen 
passieren. Das Vorhandensein von apolaren, d. h. anaxonon Nervenzellen 
bezweifelt er. Beziiglich des dunklen Pigmentes ist noch keine vollige Klar- 
stellung gelimgen, trotz der von CaUigaris und der von J. Bauer im Institut 
des Vortr. ausgefiihrten Untersuchungen. Das hellgelbe Pigment dagegen, 
iiber das Vortr. selbst Untersuchungen veroffentlicht hat, ist als Abfalls- 
produkt des Stoffwechsels sichergestellt. Als weitere Strukturelemente 
in den Nervenzellen erwahnt Vortr. die Holmgrens chen Kanale, die Heldachen 
Neurosomen und viele andere. — Vortr. wendet sich dann zur Besprechung 
der Nervenzelle als Ganzem: Das Wesen des inneren Stoffwechselvorganges 
in der ruhenden und tatigen Nervenzelle ist dlurch die miihevollen Unter¬ 
suchungen Verworns iind seiner Schiiler geklart. Die Bildung von Kohlen- 
saure und Milchsaure, die Vortr. mit dem Schlafbediirfnis in Zusammenhang 
gebracht hat, ist wahrscheinlich; genauere Untersuchungen iiber Glykogen 
in den Rindenzellen wurden von Casamajor untor seiner Leitung ausgefiihrt. 
Das Sauerstoffbedurfnis der tatigen Ganglienzelle ist ein sehr grosses. Eine 
Aufsaugung von Nahrstoffen aus den Gefassen und Zuleitung durch die 
Dendriten erscheint Vortr. hochst unwahrscheinlicli, dagegen halt er die 
vielfach umstrittenen perizellularen Kaurne fiir vorhanden und durch die 
unzweifelhaften und immor vorhandenen Schrumpfungserscheinungen 
bewiesen. Die von Nissl ausgesprochene extrazellulare Entstc»hung von 
Nervenfasern halt er nicht fiir geniigend fundiert. Die alte An>sicht von der 
Unermiidbarkeit der Nervenfaser scheint nach don Untersuchungen Verworns 
nicht melir gereclitfertigt. Vortr. wendet sich dann zur wichtigen Frage 
der vaskularen und der von Olcada in seinem Institut einwandfrei nach- 
gewiesenen zellularen Trophik der Nervenfasern; er erwahnt die ver- 
schiedenen dariiber aufgestellten Theorien (Lenhosstk, Strumpell), doeh ist 

Monatoachrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXVII. Heft 2. 12 


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176 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest 

die Frage noch nicht endgliltig geklart. Vortr. spricht sich femer entschieden 
gegen die Moglichkeit der von manchen supponierten Reservezellen aus. 
Beziiglich des Banes des nervosen Grau Nissls (der retikulierten, granulierten, 
spongiosen Zwischensubstanz) schliesst sich V T ortr. nach seinen eigenen 
Praparaten dor Ansicht von Retzius , Lenhossek und Cajal an, dass dieses 
ein Geflecht von feinsten Nervenfaserchen oder Fibrillen ohne nachweisbare 
Anastomosen darstellt. Alle von einer blossen Leitung verschiedene Nerven- 
tatigkeit ist nach seiner Ansicht auf die Nervenzellen, den Nervenfilz und 
wohl auch auf die Zwischensubstanz verteilt. Der Versuch, die Spinal- 
ganglionzellen, bei denen (Iran fehlt, zur genauen Aufklarung dieser Frage 
zu verwenden, ist misslungen; Vortr. verweist kurz auf die Moglichkeit. 
andere periphere Ganglion in dieser Beziehung in geeigneter VVei.se heran- 
zuziehen. Die vo nBethe a usgesprochene Ansicht, die Ganglienzclle hatte nur 
eine untergoordnete Kollo, scheint ihrn a is don versehiedensten Griinden 
unrichtig. Die beobachtete Verzogerung der Keizleitung diirfte nicht durch 
das Passieren der Nervenzelle bedingt sein, sondern an der Reriihrungsstelle 
zwischen Xeuronen (Synapsis von Sherrington) gelegen sein. Als wichtige 
Funktionen der Nervenzelle sind dagegen Heinmung und Bahnung (Exner) 
und die Fiihigkeit der Ladung und Entladung anzusprechen. Das Zuriick- 
behaiten von Eindriicken in der Nervenzelle ist ja die Grundlage des Ge- 
dachtnisses, das von tiering als allgemeine Funktion der Materie bezeichnet 
wurde. Inwieweit Nervenzellen auf manche kiinstliche Reize wie olektrische 
und mechanische antworten, ist noch nicht ganz entschieden, ebensowenig 
wie auf die durch innere Sekretion herbeigefiihrten. Jedenfalls sind Nerven¬ 
zellen befahigt. wie schon einzellige Pflanzen (Steinaeh). die verschiedensten 
Impulse aufzunehmen und zu sumrnieren (die Dendriten vergrossern ihre 
rezeptorische Oberflache). Die kerntragenden Zellen bilden eine Art von 
Zentralstellen, in denen Austausch von Reizen und gegenseitige Beein- 
flussung stattfindet. Den verschiedenen Nervenzellarten kommt auch eine 
ausgesprochone funktionelle Fngleichw ? ertigkeit zu; Vortr. sieht in den 
rein morphologischen Verschiedenheiten i hr erf Baues und dern verschiedenen 
Widerstand gegen Noxen den stringenten Be we is fur diese Tatsache. Auch 
die gegenseitige Lagerung und die Orientierung der Nervenzellen scheint 
nicht ohne Bedeutung zu sein. Ein instruktives Beispiel dieser Art bildet 
die Kleinhirnrinde. Da bei Wirbeltieren fast nie nur eine isolierte Nerven¬ 
zelle zur Tatigkeit kommt, diirfte es sich urn Aktionsspharen handeln, 
deren Grosso der lntensitat der Erregung parallel ist, iimcrhalb welchen 
Bezirkes die Leutung vorn Zentrum zur Peripherie abnimint, und die in- 
einander ubergreifen konnen, so dass as zu einer funktionellen Interferenz 
kommt. An direkte Anastomosen zwischen don Nervenzellen glaubt Vortr. 
nicht; dagegen komino fiir das Zusammonwirken mehrerer Zellgruppen 
der grauon Substanz das feinste Fibrillengeflocht und die fundamental 
Zwischensubstanz in Betraeht. Es scheint iiberhaupt bei den Nerven¬ 
zellen der hoheren Wirbeltiere eine Arbeitsteilung im weitesten Masse 
durchgefiihrt. Dio motorischen \\ 7 urzelzellen scheinen die Fahigkeit zu 
besitzen, ihnen zugefiihrte Erregungen in einem Rhythmus von bestiinmter 
Frequenz wieder abzugeben; doch bleibt diese Auffassung nicht unwider- 
sprochen. Die Bedeutung tunes Teiles der kleinen Schaltzellen sieht \ r ortr. 
in ihrer Funktion als Stromverteiler oder Stromordner, was am meisten in 
der Kleinliirnrinde, welcher Vortr. selbst neue Untersuchungen gewudmet hat, 
ausgepriigt ist. Die bisher in ihrer Bedeutung ganz unverstandlichen Komer 
der Kbrnerschicht sind nach ihm solcho Schaltzellen, von denen die ihnen 
von der Peripherie iibermittelten Erregungen an die querges tell ten Reihen 
der Purkinjes chen Zellen w'eitergegeben werden, w T as bei der innigen Be¬ 
ziehung des Kleinhirns zu den (lleichgewdchtsorganen besonders zu beriick- 
sichtigen ist. Zu einer Vorstollung der psychischen Vorgange in den Nerven¬ 
zellen sind wir noch nit ht gelangt. Der Vnterschied in der funktionellen 
Bedeutung verschiedener Nervenzellen ist nicht nur ein qualitativer, sondern 
auch ein quantitativer. Individuelle Versehiedenheiten in der ,,Anlage“ 
der Nervenzellen scheinen ihm von grosser Bedeutung zu sein. Durch Uebung 
konnen wir die Zellen leistungsfahiger, durch Erschopfung unfahiger machen. 


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vora 29. August bis 4. September 1909. 


177 


Mit Bezug auf die jetzt ziemlich bedeutungslosen vitalen Vorgange an den 
Nervenzellen sagt Vortr., dass die amoboide Bewegungsmoglichkeit der 
Dendriten mit Schiefferdecker zuriickzuweisen sei, dagegen scheint eine 
amoboide A Bewegungsf ahigkeit der kleinen Appendices piriformes moglich 
zu sein, was auch durch ihre rein protoplasmatische Natur verstandlich ist. 
Vitale Vorgange an den Nervenzellen aussern sich auch durch Veranderungen 
unter wechselndem osmotischem Druck, weiter durch Veranderungen 
an den Fibrillen und den Nissl-Schollen wahrend der Tatigkeit uiul bei der 
Ermiidung; Hyperaktivitat verbindet sich mit Verfeinerung und an- 
scheinender Vermehrung der Fibrillen. Dos Verhalten der Neurobionen 
Cajals wahrend der Tatigkeit halt er noch fur hypotlietisch. — Zum genauen 
Aufschluss viber die Funktion der Nervenzellen scheint ihm die schon vielfac 
erfolgreiche Heranziehimg pathologischer Verhaltnisse und insbesondere 
der bisher noch w r enig begangene VVeg der chemisch-physiologischon und 
pathologischen Prozesse in den Nervenzellen besonders aussichtsreich imd 
wichtig. Bisher konnen wir nur mit mehr oder weniger fruchtbaren Hypo- 
thesen in Bezug auf die tatsachliche Funktion der Nervenzelle arbeiten. 

(Autoreferat.) 

Diskusaion : Donaggio , Schaffer . 

W. Roth- Moskau: Pseudo bulbar paralyse. 

Bei den bilateralen Erweichungen, die in den Grosshirnhemispharen 
ihren Sitz haben, kann der pseudobulbare Symptomenkomplex vollstandig 
ausgepragt oder in einer Forme fruste auftreten. In der Nosographie sollte 
dasKapitel derPseudobulbarparalyse durch das der bilateralen Erweichungen 
ersetzt werden, und man muss in erster Linie jene Falle studieren, wo die 
Herde symmetrisch sind oder die Funktion symmetrischer Systeme storen. 
Unter diesen stets vemachlassigten Symptomen sind vor allem die faciaien 
Diplegien zu erwahnen, die alle Gesichtsmuskeln befallen, die Ophthal- 
moplegien die motorischen Apraxien der Himnerven und verschiedene 
andere agnostische Symptome, Aphasie und Demenz der Pseudobulbar- 
paralytischen, die oft unbemerkt bleiben. In 3 Fallen mit Autopsie hat 
Y T ortr. Ophthalmoplegie von supranuklearem Charakter beobachtet, wenn 
die Kranken ein in Bewegung befindliches Objekt beobachten. Diese letztere 
Paralyse ist oft nicht ausgesprochen. Bei einem vierten Ivranken war die 
Voretellung, die Augen nach links oder nach rechts zu wenden (wenn man 
ihn darum bat), von Bew’egungen nicht gefolgt, wohl aber gelangen sie, 
wenn sich der Kranke ein Objekt vorstellte, gegen welches er den Kopf zu 
wenden hatte (Paralysis ideoinotorica). Vortr. fiihrt zum Beleg fur seine 
Ansichten noch mehrere einzelne Falle an. 

E. Levi und G . Franchini- Florenz: Beitrag zur Kenntnis des Gigantismus 
mit Untersuchung des Stoffwechsels bei dieser Krankheit. 

Es handelt sich um einen 66 jahrigen Riesen, 199 cm lang, 135 kg 
schwer, dessen Vater Tabiker war; die abnorme Grosse entwickelte sich schon 
seit seiner friihesten Kindheit. Erhateine ausgesprochenepoetischeBegabung, 
der Inhalt der Verse ist aber, wie sein ganzes Denken, infantil. Seine Gemiits- 
art war depressiv, ziu* Melancholie neigend, jede Muskelanstrengung ist 
schmerzhaft, seit seiner friihesten Kindheit war er impotent. Akromegale 
Symptome, die sich langsam entwickelt hatten, sind besonders iin Gesicht 
erkennbar. Die unteren Extremitaten sind von einer unproportionierten 
Lange, die Haut dunkel gefarbt und dick, die Briiste sind stark entwickelt 
und zeigen weiblichenTypus; in den letzten Jahren hat sich starke Adipositas 
entwickelt; visceraler Gigantismus ist nicht vorhanden. Von sei ten des 
Nervensystems ist der Befund interessant, insofem die Sehnenreflexe ganz 
fehlen; das Argyll-Robertsonache Symptom ist rechts vorhanden, weiter 
angeborene Kleinheit der Papillen, die weiss und atrophisch sind. Visus 
stark reduziert; im rechten Auge hat Pat. zwei sehr seltene Symptome von 
Entwicklungshemmung: Paranyxis der Pupillarmernbran von Wagendorf 
und Ectropium uveae. Ataxie iind Sensibilitatsstbrimgen sind nicht vor¬ 
handen. Die Was8ermannsche Reaktion ist positiv; die Vortr. nehmen daher 
an, dass die beschriebenen Symptomenkomplexe auf hereditare Syphilis 
zuruckzufiihren sind. Radiologisch ist die Sella turcica normal, aber es sind 

12 * 


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178 XVI. internationaler medizmischer Kongress in Budapest 


verschiedene Veranderungen des Skelettes zu konstatieren: diffuse Atrophien 
besonders an Handen und Fiissen, beginnende Verkalkung der Achillessehne; 
die epiphysaren Knorpel sind ganz aufgelost. Die Stoffwechseluntersuchung 
wurde 5 Tag© durchgef iihrt und ergab folgende Resultate: Der Ham zeigte 
eine Verminderung besonders an Hams toff im Urin, wogegen die Amido- 
sauren und der mit Chi orhydrophosphor-Wolf ramlosung fallbare Stickstoff 
vermehrt waren. Die Veranderung in dem Verhaltnis der Schwefelkorper 
weist auf eine Verminderung in den oxydativen Prozessen des Korpers hin. 
Indikan und Phenol, die stark vermehrt sind, sind ein Beweis fiir starke 
Faulnis der Eiweissstoffe im Darm; die Ursache scheint in den Lebens- 
bedingimgen zu liegen; die urspriingliche Vermehrung der Hamausscheidung 
war bald wieder normal. Im Stuhl findet man einen etwas grosseren Verlust 
an Stickstoff und Fettstoffen, aber gute Absorption von Kalk und Phos- 
phaten. Die neutralen Fette sind vermehrt, wahrend die Fettsauren und 
Fettseifen vermindert sind; wahrscheinlich liegt die Ursache hierfiir im 
Pankreas. Totalbilanz: Ansatz von 9,92 g N, 0,14g CaO. SpezifischesGewicht 
und Alkaleszenz desBluts erhoht, Asche vermehrt, Wassergehalt undTrocken- 
riickstande normal; in Phosphaten und Stickstoff keine wesentliche Aende- 
rung, leichte Lipamie, auch Vermehrung der Ca-Salze. Wiederholte chromo¬ 
photo metrische Untersuchungen haben ein nahezu normales Resultat er- 
geben; ausserdem eichte Eosinophilie und leichte Vermehrung der basophilen 
Zellen. Zusammenfassend sagen die Vortr., dass bei diesem Fall von Gigan- 
tismus, wahrscheinlich heredo-syphilitischen Ursprungs, der sich durch 
Vorkommen einiger sehr seltener Entwicklungshemmungen (die bis ins 
intrauterine Leben zuriickgehen) des okularen Apparates und durch einige 
akromegalische Stigmata auszeichnet, sowohl die Resultate der klinischen 
Untersuchung und der radiologischen Priifung des Skelettes als auch die 
Resultate der Stoffwechseluntersuchung und die Untersuchung desBlutes mit 
analogen Beobaehtungen in Fallen von Akromegalie iibereinstimmen; sie 
fiihren ihn zur Stiitze der Theorie an, dews Akromegalie und Gigantismus 
nur ein imd dieselbe Krankheitsform seien. (Autoreferat.) 

Panichi- Genua: Ueber die verschiedenen Arten des Zitterns. Vortr. 
beschreibt und erortert die Zitterkurve der multiplen Sklerose, Paralysis 
agitans und Dementia paralytica. 

8. Sitzung. 2 . September, nachmittags. 

Vorsitzender: Higier. 

Hugo Stem-Wien: Die Pathogenese des Stotterns. 

W&hrend de norma der Sprechimpuls ein rich tiger und der ihm fol¬ 
gende Bewegungskomplex ein koordinierter ist, gerat beim Stotterer da- 
durch, dass die Einzelimpulse teils auf falschen Bahnen zu den unrichtigen 
Muskcln geleitet werden, teils in Bezug auf Intensitat und Sukzession der 
ausgclosten Musk bewegungen wesentlich von den normalen Vorgangen 
abweichen, die Tatigkeit des Muskelapparates in Unordnung, die Koordi- 
nation ist gestort, die Sprachproduktion eine fehlerhafte. Das Stottem, 
welches im Laufe der Sprachentwicklung entsteht, beruht im wesentlichen 
auf durch haufige Wiederholungen in typischer Weise immer wieder auf - 
tretenden Kntgleisungen der Sprache. Die Vorstellungen der falschen Sprach - 
bewegungen werden als Erinnerungsbilder deponiert und durch assoziative 
Vorgange im gegebenen Moment© wieder ausgelost, und hier ist der Beginn 
des f ur den Stotterer so verderblichen Circulus vitiosus , so dass in vielen Fallen 
sehliesslich die grosse Angst vor dem Sprechen, die Lalophobie das ganze 
Krankheitsbild beherrscht. Gerade die auf psychophysiologischen Er - 
wagungen basierende Auffassung der Pathogenese des Stotterns gibt unfl die 
Richtungslinien fiir unser therapeutisches Handeln: Durch eine Byste- 
matische beumsst-physiologische Uebungstherapie (Outzmann) gelingt es uns, 
auch schwere Falle von Stottem dauernd zu heilen. (Autoreferat.) 

Petren-U psala: Welche verschiedenen For men von akuter Poliomyelitis 
sind anzunehmen? 

Die Epidemien der letzten Jahre haben sicher dargetan, dass die 


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vom 29. August bis 4. September 1909. 


179 


Poliomyelitis der Kinder und der Erwachsenen vollig dieselbe Krankheit ist. 
Eine Analogie zwischen Poliomyelitis und Polioencephalitis ist bekanntlich 
oftmals angenommen worden; zum Beweis hierf tir hat man bei Poliomyelitis 
gefundene anatomische Veranderungen im Gehim angefiihrt. Diese Ver¬ 
anderungen sind aber nur sehr geringfiigige, unbedeutende Infiltrationen 
rings uid die Gefasse herum. Wenn man sich an die gewaltigen, tiefgreifonden 
anatomischen Veranderungen bei den Fallen von spastisehor infantiler 
Hemiplegie erinnert, ist der Unterschied ein enormer, was eben gegen die 
Analogie beider Krankheiten sprechen diirfte. Als oinen weiteren Grund 
fiir die Analogie hat man das Vorkommen der beiden Krankheiten entweder 
bei demselben Patienten oder gleichzeitig bei mehreren Kindern derselben 
Familie angefiihrt. Diese Falle sind aber so sparlich, dass sie, obgleich sie 
nicht als ein Zufall l>ezeichnet werden konnen, doch als eine unregelmassige 
Lokalisation einer der beiden Krankheiten aufgefasst werden miissen. 
Bei den grossen Epidemien in Schweden und Norwegen kam unter je 
1000 Fallen von Poliomyelitis nicht ein Fail von spastischer Hemiplegie 
vor. Bet ref fs der Different ialdiagnose zwischen Poliomyelitis und Poly¬ 
neuritis hat man sich auf den Ausgang der Krankheit stiitzen wollen. In 
Fallen von Heilung wurde Polyneuritis angenommen. Dies ist nicht richtig, 
denn bei den Epidemien von Poliomyelitis sieht man vide Falle, die vollig 
geheilt werden. Das klinische Bild beider Krankheiten weist aucli viele 
wichtige Unterschiede auf. Bei der Poliomyelitis sind die Symptome einer 
heftigen allgemeinen Infektion vorhanden, wahrend sie bei der Polyneuritis 
fehlen. Die Verteilung der Lahrnung ist auch bei der Polyneuritis eine 
ganz andere. (Autoreferat.) 

Frau Kra 7 ‘ett’*£a-Sarajewo: Die Tetanie der osteomalacischen Frauen. 

Die Osteomalacie ist in gewissen Bezirken von Bosnien endemisch. 
In Serajewo wurden wahrend 10 Jahren 150 Falle konstatiert, von denen 
116 puerperalen Ursprungs waren. Die Tetanie ist jedenfalls in Bosnien 
haufig. Von 70 Fallen, die auch in einer lOjahrigen Periode in Serajewo 
beobachtet w’urden, waren 48 puerperalen Ursprungs und verb unden mit 
puerperaler Osteomalacie. Die Osteomalacie befallt wie die Tetanie die* 
eingeborene muselmannische Bevolkerung weiblichen Geschlechts in ihrer 
armsten Klasse. In diesem Milieu sind die hygienischen Verhaltnisse durch- 
aus ungiinstig; die Hauser sind an den Abhiingen der Berge gebaut, liegen 
in schlechten Luftverhaltnissen, sind dunked und feucht, die Nahrung ist 
ungeniigend; dies alles sind pradisponierende Ursachen. Die friihen Heiraten 
(manchmal im Alter von 12 Jahren), die gehauften Geburten (12 bis 16), 
das langausgedehnte Stillen (haufig 2 1 2 J&hre) bilden die ontscheidenden 
Ursachen der beiden Affektionen. Nach ihrem Verlauf und ihrer Intcnsitat 
bietet die Oesteomalacie des ersten Grades 33 Falle : 64, weniger haufig 
die des zweiten Grades 13 : 14 und des dritten Grades 2:8; niemals tritt 
sie in der Phase der Kachoxie auf. Gewohnliche Falle der tetanischen 
Kontrakturen gehen mit dern ersten Auftreten oder mit den Rezidiven der 
osteomalacischen Schmerzen zusammen. Die enge Beziehung der beiden 
Affektionen mit der Mutterschaft war in alien untersuchten Fallen unleugbar. 
Die Auftreten der Osteomalacie und der Tetanie, nach den Monaten und den 
Jahreszeiten betrachtet, bietet einen bemerkenswerten Parallelismus. 
Das meisten Falle fallen in die Monate Marz und April, die wenigsten in die 
Monate Juli und September; die Monate Juni und August sind ganz ver- 
schont. Langausgedehnte und vie If ache Beobachtungen be we i sen, dass es 
sich in diesen Fallen nicht um zufalliges Zusammentreffen der zwei Affek¬ 
tionen handelt, sondern dass sie unter denselben hygienischen Bedingungen 
entstehen konnen, durch dieselben determinierenden Ursachen hervor- 
gerufen werden. (Autoreferat.) 

Diskusaion : 

Letn-Florenz vermisst im Vortrage jede Angabe iiber die bakt(‘rio- 
logische Pathogenese, welche gerade durch die U liters uch ungen tier 
italienischen Schule definitiv geklart ist, und schildet fremde und eigene Be- 
funde iiber don Diplococcus osteomalacitM\ welchen er sowohl im Knoehen- 
mark als auch in Gehim und Uucktmmark hat nachweison konnen. 


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180 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest 


Zanietowski- Krakau schildert kurz seine Erfolge bei Tetanie mit 
Kondensatorenentladungen; dieselbe ergab klare Reaktionen selbst dort, 
wo Erb, Chvostek und Trousseau negativ waren; dasselbe^war’auch^der Fall 
beim ersten Grade von Osteomalacie. 

Renyi- Bacs-Topolya: Behandlung der rheumatischen Facialisparalyse 
mit Stauungshyperamle. 

Die rheumatische Facialisparalyse ist ein ziemlich oft vorkommendes 
Leiden und reprasentiert fast drei Viertel samtlicher Facialisparalysen. 
Ihre Aetiologie ist aber noch immer nicht klar. Vortr. stellte Versuche an, 
das Leiden mit Bierscher iStauungshyperamie zu behandeln. Er verwendete 
hierzu eine 3 cm breite Gummibinde. welche er, angespannt urn den Hals 
des Patienten geschlungen, durchschnittlich 16 bis 20 Stunden lang (taglich) 
wirken liess. (Unter die (Gummibinde kommen einige Touren einer breiten 
Mullbinde.) Der Erfolg dieses Verfahrens war bei den drei Patienten, die 
deunit behandelt wurden, iiberraschend. Ein Patient heilte in 4 Tagen, 
nach 2 tagiger Applikation; durchschnittlich dauerte die Behandlung 
13Tage, und samtliche Kranken gelangten zur vollstandigen Restitutio ad 
integrum. Ein anderer Fall, bei dem die Facialisparalyse durch eitrige 
Mastoiditis bedingt war, trotzte jeder Behandlung mit diesem Verfahren. 
Da bei einem Patienten starker Rachenkatarrh,l>ei einem anderen chronische 
Laryngitis vorhanden war, glaubt Vortr., dass dieUrsache der rheumatische 
Facialisparalyse eine vora Nasenrachenraum durch die Tuba Eustachii ein- 
gewanderte bakterielle Infektion ist, welche die Knochenhaut des Canalis 
Falloppii zur entziindlichen Schwellung bringt und somit einen Druck auf 
denNervus facialis hervorruft; jedenfalls hat die Biersche Stauungshyper&mie 
bisher nur in jenen Fallen reap. Krankheitsarten erfolgreich gewirkt, wo 
Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokokken und andere, akute Eiterung 
bewirkende Bakterien im Spiele waren. 

v. Sarbo: Klinische Beitrage zur Fr&ge, auf welchem anatomischen 
Wege der Achillessehnenreflex zustande komrat, sowle ein Beitrag zur 
klinischen Wertung dieses Reflexes. 

Den Ausgangspunkt zum Studium dieser Frage bildete ein Fall von 
isolierter Caudaverletzung. Es handelte sich um einen 46 j&hrigen Mann, 
der vor 20-—22 Jahren auf das Gesass fiel und danach Parasthesien bekam. 
welche sich auf die Gegend des Steissbeinos bezogen und im Gefiihl des 
Sickerns bestanden und auch zurzeit noch bestehen. Eine Parasthesie tritt 
bei jeder Erektion und Defiikation auf. Dieselbe hindert ihn am Koitus. 
Objektiv ist ausser einer Hyperasthesie um die linke aussere Knochelgegend 
und links fehlendem Achillesreflex absolut nichts nachweisbar. 

Dieser Fall bewies, dass zwischen dem Fehlen des linken Achilles- 
reflexes und der Hyperast hesie der linken aussoren Knochelgegend einKausal- 
zusammenhang bestehen muss. Dieses Gebiet wdrd laut den Angaben 
L. R . Mullers vom 2. Sakralsegment innerviert, und zwar vom N. cut. surae 
lat., welcher aus de^i N. sural is stammt. Letzterer Nerv entsteht durch 
Anastomose der Aeste des N. tibialis und peroneus. Beim Zustande- 
kommen des Achillessehnenreflexes wirkt als motorischer Nerv der den 
Gastroknemius und den Soleus innervierende N. tibialis. A priori rniissen 
wir daran denken, dass auch der sensible Impuls bei diesem Reflexe vom 
N. tibialis weitergeleitet wird, w'ir rniissen also postulieren, dass der tibiale 
Anteil des N. suralis derjenige ist, welclier beim Zustandekommen dieses 
Reflexes eine Rolle spielt. Diese Annahme kann Vortr. durch klinische Beobach- 
tungen beweisen. Erstons verfiigt er iiber Falle von isolierter Peroneus- 
lahmung, aus welchen deutlich hervorgeht, dass dieser Nerv mit dem 
Achillesreflex nichts zu tun hat, da bei totaler Lahmung dieses Nerven 
imd der mit ihrn in Zusaminenhang stehenden Muskeln der Achillessehnen¬ 
reflex auslbsbar bleibt. In einem Fall von totaler Peroneuslahmung war die 
Haut oberhalb des iiusseran Knochels hypasthetisch, aus diesem Befund 
folgern wir, dtuss es der tibiale Anted des N. suralis ist. welcher die Haut 
unterhalb des iiusseren Knochels innerviert. Somit ist das Befallensein 
dieser Hautpartio als Zeiehen des B(*teiligtseins des X. tibialis aufzufassen. 


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vom 29. August his 4. September 1909. 


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Weiter berichtet Vortr. iiber einen 37 jfihrigen Tabiker, welcher neben 
herabgesetzter Beriihrungsempfindlichkeit am linken Vnterschenkel links 
fehlenden AchilleRsehnrnreflex aufwies. Die Patellarreflexe und der rechte 
Achillessehnenreflex waren noch erhalten. Patient erlitt naeh einein Jahre 
eine linksseitige Hemiplegic; der linke Pateilarreflex wurde spastisch und 
der verlorene Achillessehnenreflex kehrte winder, zeigte sogar eine lebhafte 
Steigerung gegeniiber der anderen Seite. Es ist das der erste Fall von 
Tabes, in welchem eine Wiederkohr des fehlenden Achillessebnenr©flexes l>e- 
obachtet werden konnte. (Autoreferat.) 

v . Csiky- Budapest: Demonstration von mikroskopischen Befunden 
bei Myasthenie. 

Bei einem zur Autopsie gelangten typischen Fall© von Myasthenie 
fand er bei der mikroskopischen Untersuchung Veranderungen in siimtlichen 
Muskeln. Neben normalen Muskelfasern waren auffallend hfiufig ver- 
diinnt© Fasern zu sehen; aueli bei diesen war die Querstreifung sehr deutlich. 
Dem Perimysium int. entlang waren sehr starke Zellanhaufungen nach- 
weisbar, die sich besonders uin kleine kapillare (Jefiisse gruppierten, um von 
da dem Bindegewebe entlang zwischen die Fasern einzudringen. Die Zellen 
sind von der Gross© einos Lymphozyten, haben einen schmalen Protoplasma- 
saum und einen ehromatinreichen Kern. An manchen Stellen sieht man 
statt der Zellen starke Bindegewebsfasern, die die einzelnen Muskelfasern 
umgeben. Besonders dies© Fasern sind stark verdunnt. Ausser oinigen, 
an Stelle zugrunde gegangener Fasern auftretender Fettzellen war die ver- 
schiedene Farbbarkeit cinzelner Fasern auffallend. Vortr. meint, dass 
diese Bef unde sekundarer Natur sind. und dass Atrophien und degenerative 
Veranderungen der Muskulatur wohl vorkormnen konnen, aber nur als 
pathologisch-anatomisches Hesultat der Einwirkung einer uns noch ganziich 
unbekannten Noxe aufgefasst werden nnissen. (Autoreferat.) 

Diskussion : 

Fuchs -Wien erinnert an die Aehnliehkeit der demonstrierten Praparate 
mit Dystrophiebildern und macht auf die Haufigkeit der Kombination 
von Myasthenie mit Dystrophie aufmerksam. 

Bing -Basel hat Ratten elektrodiagnostisch gepriift, welche experi- 
mentell Hyperparathyrcoidose batten; bei keiner fanden sich myasthenische 
Zeichen. 

9 . Sitzung . 5. September , vormittags . 

Vorsitzender: Mingazzini. 

Julius Dona/A-Budapest: Die Behandlung der progress!ven Paralyse 
mittelst Nuclein-Injektionen. 

Vortragender hat im Jahre 1903 iiber die giinstigen Resultate von 
Salzinfusionen bei progressiver Paralyse berichtet, welche auch von anderer 
Seite bestatigt wurden. Er ging dabei von der Annahme aus, dass bei der 
progressiven Paralyse giftige Stoffwecliselprodukte gebildet werden. welche 
meehaniseh herausgesehwemmt werden sollen. Bei diesor neuen Behand- 
lungsmethode wird eine griindliehere Beseitigung dersolben dureh Oxydation 
angestrebt. Dazu client das Natrium nueleinicum , welches mit der gleiohen 
Menge Chlornatrium zu je 2 [>Ct. in aufgekochtcm und abgekuhltem \Vas.ser 
gelbst wird, eventuell damit auch aufgokocht werden kann. Es soli kcin 
grbsseror Vorrafc dieser Losung bereitet werden, als fur 1—2 Tage ausreicht, 
da nach Oeffnen des (iefasses am 3. Tage Zersetzung eintritt. Es werden 
unter aseptischen Kautelen in einer Sitzung unter die Haut der Brust-, 
Hypochondrium- oder Riickengegend 50—100 ccin, also 1—2 gr Natrium 
nueleinicum injiziert. Die Temperatur kann auf 40,5° C. durehschnittlioh 
38,5!), die Leukozytenzahl auf 01 000 (durchschnittlich 23 000), steigen. 
Die Temperatur kehrt nach 2—5 Tagen zur Norm zuriick. Die Jnjektionen, 
von denen durchschnittlich 8 geniigen, erfolgen in 5—7 tagigen Intervallen 
abwechselnd auf der einen unci der anderen Seite. Kommt es mitunter zur 
Abszedierung, so hat dies keine ungunstige Bedeutung, weil es sich um einen 
urspriinglich sterilen Eiter handelt, und wurde ja so etwas friiher in solchen 


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182 XVI. intemationaler medizinischer Koiigress in Budapest 

Fallen direkt anpestrebt. Indiziert ist die Nucleinsaure-Behandlung vor 
allem in den Imtialstadien der Paralyse, insbesonders wenn auch schon 
Quecksilberbehandlungen in geniigendem Masse vorangegangen sind oder 
diesel be iiberhaupt nicht angezeigt ist. Es hat sich aber diese Behandlung 
auch oft genug in Fallen unzweifelhaft luetischen Ursprungs bewahrt, die mit 
Quecksilber gar nicht oder sehr mangelhaft behandelt warden. Vor der 
v. Wagner- Pt/czschen Tuberkulinbehandlang hat sie den Vorzug, ein un- 
gefahrliches Praparat zu verwenden. Wichtig ist, dass diese Behandlung 
auch vom praktischen Arzte in der Behausung des Kranken, beziehungs- 
weise, dass dieselbe im offenen Sanatorium vorgenommen werden kann. 

Von 21 Fallen progressiver Paralyse , die Vortr. mit Nucleinsaure- 
Injektionen behandelt hat, wurden 10 wesendich gebessert , worunter die 
Wiedererlangung der Arbeits - und Em'erbsfdhigkeit zu verstehen ist (darunter 
befinden sich bereits 2 jdhrige Beobachtungen). In 5 weiteren Fallen wurde 
eine Besserung erzielt , sowohl in subjcktiver als in objektiver Beziehung f so dass 
die Kranken einer Krankenbehandlung nicht mehr bedurften . iedoch ihre 
frilhere Leistungsfdhigkeit nicht erlangt batten . Es hat also zusammen in 
70 pCt, der Fade Besserung stattgefunden . Die iibrigen 6 Falle blieben un- 
geheilt. 

tfo/ctt-Budapest: Die gymnastische Behandlung der lokomotorisehen 
Ataxie bei bllnden Kranken. 

Vortr. hat Versuche gemacht, die Uebungstherapie auch bei blinden 
Ataktischen durchzufiihren und dabei so giinstige Resultate erzielt, dass 
er eine konsequente Durchfuhrung dieser Mass re gel empfiehlt. Der Verlust 
des optischen Sinnes scheint sich als Forderungsmittel der raschen Er- 
lemung selbst komplizierter Bewegungen zu erweisen. 

Diskusaion: 

Flesch-Wien betont den Befund Benedikts , wonach Tabesfalle mit 
fnihzeitiger Optiousatrophie beztiglich ataktischer Zustande die beste 
Prognose geben; selbst bei schwer ataktischen Tabikern ergibt sich eine 
Besserung der Ataxie nach Eintritt der Blindheit. 

BaZinf-Budapest: Ueber Meningitis serosa im Anschluss an drei von 
ihm beobachtete und zur Obduktion gelangte Falle. Seine Schlussfolgerungen 
sind die folgenden: In der Aetiologie der Meningitis serosa spielt die Tuber- 
kulose eine grosse Kolle, wie dies ja auch bei den Entziindungen anderer 
seroser Haute der Fall ist. Die C^erebrospinaiflvissigkeit ist selbst bei den 
infektiosen Formen gewohnlich steril. Die cytologische Untersuchung des 
Liquors ergibt beine charakteristischen Resultate. (Autoreferat.) 

Diskusaion: 

Homen-Helsingfors findet es gowagt, die Falle mit Ausnahme des einen 
nachweisbar tuberkulosen fur tuberkulos anzusehen, wenn keine spezifischen 
Tuberkel-Veranderungen nachweisbar sind. Es konnen ja auch andere 
pathogene Bakterien eine Rolle spielen, welche, wie er nachgewiesen, sehr 
rasch wieder aus den Nervenzentren verschwinden. 

Muskens- Amsterdam hat 7 Falle von seroser Meningitis beobachtet; 
zwei kamen zur Autopsie. Hydrocephalus mit Ependymverdickung kommt 
dabei nicht vor. Die als Pseudotumoren bezeichneten Falle sind fiir die 
Praxis sehr wichtig. Die lokale Form bietet dem operativen Eingriff die 
schonsten Chancen. Dio Lumbalpunktion erscheint gefahrlicher als die 
ptdliative Trepanation; in einem Falle fand er einen lokalen meningitischen 
Herd; die Falle heilten rasch aus. obwohl Status opilepticus und drohender 
Exitus von mehreron Beobachtern festgestellt war. — Nach einigen Be- 
merkungen Sternbergs antwortet Balint (Sehlusswort): Auf die Frage Homens , 
dass im ersten Falle kein priinarer Herd vorhanden war, im zweiten ein 
inaktiver tuberkuloser Herd. Vortr. hat avif (irund des mikroskopischen 
Bildes nooh Analogic dt^r tuberkulosen Entziindungen anderer seroser 
Haute auf den tuberkulosen Charakter geschlessen. 


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voni 29. August bis 4. September 1909. 


183 


Zanietowsky-Krakau: Meine Kondensatormetbode im Lichte von 
50 eigenen Arbeiten und in demjenigen der modernen Neuropathologie. 

Zu den wichtigsten Momenten des Fortschrittes auf dem Gebiet© der 
Elektro- und Hydroelektrotherapie gehoren bekanntlich die Entdeekung 
der strfthlenden Korper und die klinische Verwertung der strahlenden 
Energie, die bahnbrechenden Lehren von der Jononwanderung und der 
Ionentherapie, die neue Auffassung des elektrolytischen Widerstands- 
begriffes, zuletzt die Einfiihrung von neuen Elektrizitatsmodalitaten in 
die alltagliche Diagnostik und Therapie. Auf Grund zahlreicher eigencr 
Versuche, welche mit dem Kondensatormultostat vom Vortr. in erdschluss- 
freien Multostaten und anderen Apparaten durehgefuhrt wurden. kommt 
Vortr. zu nachstehenden Schlussfolgerungen: Die therapeutist*he Affinitat 
verschiedener Strahlungsarten ist sehr auffallig; sie f indot ihre Erklarung 
in der neuen Elektronenlehre und der elektromagnetischen Lichttheorie. 
In dieser Reihe steht die Anwendung des Radiums und der lonenstrahlen 
oben an, dann folgen die dunklen Warmestrahlen und die sichtbaren Licht- 
strahlen, zuletzt stehen die elektromagnetischen Wellen und alle Bewegungs- 
arbeiten der elektrisch geladenen, positiven und negativen Ionen in engem 
Verhaltnisse zu den oben genannten Heilfaktoren. Diese verschiedenen 
Strahlungen iiben eine verschieden elektive Wirkung auf die Zelle aus, 
weil sie durch charakteristische Eigenschaften ihrer qualitativen Zusammen- 
setzung gekennzeichnet sind. Trotzdem aber lasst sich nicht leugnen, dass alle 
Strahlungen gemeinsamen Gesetzen unterliegen. Auch auf dem Gebiet© der 
Elektrotherapie, im alten und modernen Sinne, lasst sich die Mannigfaltig- 
keit der Wirkungen einer einheitlichen elektrischen Energie nur auf spezi- 
fische, physiologische Eigenschaften einzelner Organe zuruckfuhren, sowie 
auf die physikalischen spezifischen Eigenschaften der Elektrizitatsarten 
selbst. Die neuen Anwendungsarten sind nach der Ansicht des Vortr. 
quantitative Abarten einer und derselben Energie, welche aus einer ein¬ 
heitlichen qualitativen stammen und nur durch verschiedene Modalitaten 
der Spannung, Intensitat und des zeitlichen Kraftverlaufes gekennzeichnet 
sind. Vortr. weist auf die wichtigen Fortschritte, wie Verwertung der 
Ionenlehre, den Ausbau der Erregungsgesetze, stune eigene kondensatorische 
Methode und speziell auf die Einfiihrung von genauen Masseinheiten 
in die tagliche Praxis hin. In der Ionenlehre besitzen wir ein reelles Ver- 
bindungsglied zwischen der Elektrotherapie und der Balneotherapie, und 
es kann auch die Wirkungsweise der hydro- und balneotherapeutisehen 
Prozeduren nur dann rich tig gedeutet werden, wenn alle bisherigen Er- 
fahrungen der Praxis mit den Ergebnissen der Ionenlehre in Zusammenhang 
gebracht werden. (Autoreferat.) 

Ales8andrini- Rom: Die Patbogenese der Anencephalie. 

Vortr. legt die Resultate seiner mikroskopischen und makroskopischen 
Beobachtungen an verschiedenen Organen von drei Anencephalen dar, die 
speziell in Bezug auf die Pathogeneso \mtersucht wurden. Die wichtigste 
Tatsache war die Atrophie der Nebennierenkapseln, eine Atrophie, die bei 
der mikroskopischen Priifung alle Element© inbegriff, die die Nebennieren¬ 
kapseln zusammensetzen. \ T ortr. bekampft mit verschiedenen Argumenten 
die allgemein in Bezug auf die Beziehungen zwisch(‘n Anencephalie und 
Aplasie der Nebennierenkapsel angenommene Hypothese, die eine Aplaaic 
„ex non usir* sekundar zu einer hypothetischen forinativen Funktion der 
Nervensubstanz supponiert, welche die Nebennierenkapsel wahrend der 
Entwicklung haben soli. Fiir Vortr. hat sich ergeben, class die Anencephalie 
immer in Beziehung zu einer primaren Aplasie der Nebennierenkapsel 
stehen muss. Zugunsten dieser Hypothese sprechen wiederholt vorgenominene 
mikroskopische ITntersuchungen der Gross- und Kleinhirnhemispharen 
und des Ruckenmarkes in solchen Fallen, die Veranderungen ergaben, 
die im allgemeinen den sp>eziell von Tizzoni am Nervengewebe von Tieren 
gefundenen entsprechen, denen die Nebennierenkapsel entfernt worden 
war. In diesen Fallen waren die Gross- und Kleinhirnhemispharen von 
einer Masse substituiert, die von vielfaohen Ektasien und venosen Hohl- 
raumen durchsetzt war. Dagegonwar im distalen Toil des Gehirns eine Art 


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184 XVI. internationaler inedizinischer Kongress in Budapest etc. 

Neuroglia zu konstatieren, imd erst entsprechend der Medulla oblongata 
zeigten sich Nervenfasern, die sich nach abwarts vermehrten, speziell in 
einem Fall, bei dem das Riickenmark abwarts von der cervikalen An- 
schwellung normal genannt werden konnte ;es fehlten nur die deszendierenden 
Fasern und speziell die Pyramidenbahnen. In alien Fallen waren entlang 
dem ganzen Verlauf des Gehirns und des Riickenmarkes bis nach abwarts 
zahlreiehe Hamorrhagien zu finden. Auffallend war der Reichtum des 
Riickenmarks an Venen, noch mehr hervorzuheben ist der Gefass- 
reichtum der Meningen. Die Nervenwurzeln begannen entsprechend der 
Ebene der Oblongata. Die Hirnnerven waren normal, und es ist daher an- 
zunehmen, dass die Anencephalie nicht als ein Kranklieitsprozess der ersten 
Epoche der Entwicklung anzusehen ist, sondern als eine Alteration, die sich 
in einem bereits differenzierten Nervengewebe entwickeit. 

Nagelschmidt- Berlin: Ueber Hochfrequenztherapie. 

Vortr. berichtet fiber sein von ihm Transthermie benanntes Vcrfahren, 
mittels wenig gedampfter Strome bezw. Wellen in beliebigen Tiefen des 
Organismus mehr oder weniger intensive Warmegrade zu erzeugen. Das 
Verfahren beruht auf einer Modifikation der Hochfrequenzstrome, von 
denen es sich wesentlich und in gradueller Weise unterscheidet. Die elek- 
trischen Oscillationen verlaufen im Gegensatz zu den Arsonvalstromen 
fast ohne Pausen mit gleicher Amplitude und mit sehr viel geringerer Span- 
nung. Hierdurch werden gewisse neue Wirkungen ermoglicht, iiber die 
Vortr. ausfiihrlich berichtet. Die ungedampften elektrischen Wellen haben 
die Neigung, von einer Elektrode zur anderen quer durch den Organismus 
hindurchzugehen und erzeugen hierbei auf dem ganzen Leitungswege und 
auf diesen begrenzt Temperatursteigerungen. Vortr. demonstriert dieses 
an einem Stuck rohen Fleisches, welches in wenigen Sekunden oder Minuten, 
je nach Grosse der Elektroden und der Intensitat der Strome, auf der 
Strombahn vollkommen durchgebraten wird. Es zeigt sich hierbei eine 
gleichmassige Tiefenwirkung. Verschiedene Substrate nehmen verschieden 
intensive Erwarmung an, so erwarmt sich destilliertes Wasser nur wenig, 
physiologische Kochsalzlosung starker, noch viel starker 1,5 prozentige, 
noch mehr Serum und am starksten Blutkorperehenbrei. Von den tierischen 
Geweben ist die Haut, sonst der schlechteste Warmeleiter, am leichtesten 
zu durchwarmen. Hierauf folgen in abnehmender Reihenfolge Knochen, 
Muskeln, Fett, Nerven. Die Dosierung erfolgt bei Anwendung geringer 
Erwarmung und ohne lokale Anasthesie durch das Gefiihl des Patienten, 
bezw. des mit dem Finger kontrollierenden Arztes, bei Anwendung von 
Lokalanasthesie oder Narkose durch Messung des Stromes und der Elek- 
trodenflache, bezw. in die Tiefe eingestochene kleine Thermometer. Es 
gelingt, Tumoren — besonders leicht erwarmbar sind maligne — innerhalb 
der Gewebe so gut wie lokalisiert zu koagulieren bis in die Auslaufer hinein. 
die anatomisch bei der Operation kaum erkennbar waren. wobei die andere 
Elektrode als indifferente Elektrode physiologisch unwirksam bleibt. Bei 
gewiinschter Tiefenwirkung kann die Erwarmung der Haut durch Anwendung 
gckiihlter Elektroden vermieden werden. Auch gekreuzte Elektrodenpaare 
gestatten am Schnittpunkte in der Tiefe Summation relativ geringer 
Oberflachenwirkungen. Die Fulguration wird durch das Verfahren voll¬ 
kommen entbehrlich gemacht und weit iibertroffen. Wichtig ist, dass bei 
der Zerstorung von Tumoren mittels Transthermie keine Blutbahnen er- 
offnet werden. Die Methode ist im iibrigen iiberall da indiziert, w t o die 
Warme als Heilfaktor in Frage kommt. Bisher waren wir imstande. Warme 
nur wenige Millimeter in die Tiefe der Gewebe hineinzubringen, indem 
wir heisse Korper oder Medien auf die Haut applizierten. Die Transthermie 
bietet hier ein vollkommenes Novum dar, insofem wir in beliebiger Tiefe 
jetzt Erwarmung erzielen konnen. Selbst Gehim und Riickenmark sind der 
Erwarmung ohne Verletzung der ausseren Haut zuganglich. Die Methode 
hat sich bisher bewahrt bei Tumoren, bei Neuralgien. Rheumatismen. 
besonders Lumbago, Gelenkaffektionen verschiedener Art, Ischias. Gicht 
und besonders Asthma. 


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Buchanzeigen. 


18f> 


E Jendra&sik- Budapest: Ueber den Neur&stheniebegriff. 

Die Neurasthenie ist ein einheitlicher Prozess, dessen Symptome 
zwar in den einzelnen Fallen sehr verschieden sein konnen, docn gibt es 
bei der Neurasthenie keine gesonderten Symptomgruppen, die man als 
beeondere Krankheiten betrachten konnte. Die Symptome gehen vielmehr 
in den mannigfaltigsten Kombinationen ineinander fiber. Die Grundlago 
der Neurasthenie ist eine hereditar entstandene grossere Reizbarkeit der 
Nervenelemente gewisser Hirnteile; eigentlich besteht dabei keine Schwache. 
im Gegenteil leistet das neurasthenische Nervensystem mehr als dasjenige 
Gesunder. Die erhohte Reizbarkeit ruft eine Rastlosigkeit, ja eine Be- 
fahigung zu ausgiebiger Tatigkeit hervor. Die Neurasthenie kann von dem 
Northalen nicht abgegrenzt werden; die leichtesten Falle fiihren zum reiz- 
baren Nervensystem hiniiber; die in ihren Konsequenzen schwerste Form 
der Neurasthenie hingegen ist die Paranoia. (Autoreferat.) 


Buchanzeigen. 


S. Freud, Sammlung Jcleiner Schriften zur Neuroaenlehre. Wien 1909. 
Franz Deuticke. 

Die erste Abhandlung ,.Bruchstticke einer Hysterie-Analyse 44 ist ja 
langere Zeit bekannt und wird durch das Betonen des sexuellen Faktors hin- 
reichend charakterisiert. Es ist bedauerlich, dass die allgerneinen Gesichts- 
punkte des Autors, die eine Vertiefung der psychologischen Betrachtung 
und Erkenntnis bedeuten konnten, bei der Ueberwfcrtigkeit des Sexual- 
komplexes nicht zur Geltung komraen. Es ware wiinschenswert, dass Be- 
griffe wie ,,Verschiebung“, ,A r erdrangung“, .,Wunscherfiillung“ bei der 
Beurteilung und Auffassimg von Psychosen mehr Einfluss gewannen. Die 
Beziehungen zwischen Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse sollen 
nach dem Verf. darin bestehen. dass sowohl bei der Neurose wie beim Ver- 
brechen die Aufgabe gestellt wird, etwas Verborgenes im Seelenleben auf- 
zudecken. Bei dem Versuch, gleiche Vorgange in den ,,Zvvangshandlungen 
und Religionsiibungen 44 zu finden, iiberraschen die weitgehenden, aber will- 
kiirlichen Analogien. Es ist immerhin schon viel, wenn der Verf. einraumt. 
dass die Triebregungen, die bei den Religionsubungen unterdriickt werden. 
nicht ausschliesslich sexueller Natur sind. Freuds Aeusserungen iiber den 
brennenden Ehrgeiz einstiger Enuretiker diirften die in der Abhandlung 
„Charakter und Analerotik“ entwickelten Anschauungen geniigend illu- 
strieren. Neben derartigen phantastischen Gedankengangen finden sich 
viele geistreiche Bemerkungen, die besonders die Beziehungen zwischen 
Sexualitat und Hysterie angehen. Das wird auch der zugestehen miissen. 
der die nur sexuelle Erklarung der Phanomene ablehnt. A . Kutzinski. 

A. Jarotzky, Der Idealismus als lebenserhaltendes Prinzip, Betrachtungen 
eines Arztes. Wiesbaden 1908. J. F. Bergmann. 

Der Verfasser ist der Ansicht, dass die Entwicklung der modemen 
Medizin eine grosse Liicke aufweist, dadurch, dass sich im Geiste des Arztes 
der Unterschied zwischen Menschen und Tier verwischt- hat. Der modeme 
Arzt iibersieht das Dasein der ethischen Seite der menschlichen Psyche und 
ignoriert die Fahigkeit des Menschen, sich fur das Edle zu begeistem und sich 
in seinen Handlungen von hbheren Motiven leiten zu lassen. Und doch 
braucht der Mensch. der schon im Kampf mit roher physischer Kraft der 
Begeisterung und des idealistischen Aufschwunges bedarf, uni als Sieger 
aus ihm her\ r orzugehen, im Kampf gegen die Krankheit einen nooh 
grosseren idealistischen Aufsc^hmmg. Es soil daher der Arzt neben dem 
Korper auch die Seele seines Patienten behandeln, er soli die idealistischen 
Seiten des physischen Lebens seiner Kranken in seine Interessensphiire 
ziehen, bei ihnen eine ,,sittliche Wiedergeburt 44 herbeifiihren. 

Eine solche vom Verfasser als Aretotherapie l>ezeichnete Massnahme 
vermag nach seiner Annahme Ausserordent-liches zu leisten nicht nur bei 
chronischen, sondern auch bei akuten Krankheiten. 


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186 


Tagcsgeschieht lie lies. 


Die Abhandhuig ist interessant zu iesen, wemi man auch den viel zu 
w eitgehenden, durch manchmal nicht stichhaltige Beispiele erlauterten 
Schlussfolgemngen des Verfassers nieht beistimmen kann. 

Tintemann- Gottingen. 

A. Pilcz, Lehrhuch der speziellen Psychiatrie fur Studierende und Aerzie. 
2. ver)>eseerte Auflage. Wien, Franz Deuticke. 

Das in zweiter Auflage vorliegende Buch ist ausgezeichnet durch 
cine knappe, ausserordentlich prazise Darstellung und enthalt trotz des ver- 
haltnismassig geringon Umfanges in sehr ubersichtlicher Anordnung nicht 
nur alles, was der Student und praktischo Arzt von den psychisehen Er- 
krankungen wisson muss, sondern verrnag auch dem Psychiater in vielen 
Fallen wertvollo Hiilfe und Anhaltspunkte zu einer schnelien Orientierung 
liber die einzelnon Erkrankungsformen zu geben. Ueber die Berechtigung 
der Auffassung einzelner Erkrankungsformen, so der Dementia praecox 
und der angeborenen Neurasthenic. soli hier in eine Diskussion nicht ein- 
getreten werden. Auf jeden Fall kann das Buch, das ini Anhang eine Zu- 
sammenstellung der fiir die Psychiatrie wichtigen zivil- und strafgesetz- 
lichen Bestimmungen enthalt, vor allem auch dem Studenten empfohlen 
werden. Tintemann- Gottingen. 

F. Plaut, W assermannsche Serodiagnostik der Syphilis in ihrer Anwendung 
auf die Psychiatrie . Jena 1910. Gustav Fischer. 

Die bereits friiher vom Verf. initgeteilten Erfahrungen werden hier er- 
weitert und vertieft. Die gegebenen Befunde. die nicht irn einzelnen erortert 
werden konnen, zeigen den Fleiss und die Gewissenha-ftigkeit des Autors. 
Inunerhui w r ird einzelnes zu bestimmt behauptet, z. B. die Paralyse sei unter 
alien luetischen Affektionen die einzige, in der auch das negative Ergebnis der 
Beaktionklinisch verwertbar sei. Besonders bemerkenswert sind die Erorter- 
imgen liber die Differeritialdiagno.se zwisehen Paralyse und Lues auf Grund 
der Serodiagnostik, die aber naturgemiiss zu keinem Hesultat gefiihrt haben. 
Auch die Berichte liber den Einfluss der Syphilis auf den angeborenen 
Schwachsinn und die psychopathischen Konstitutionen eroffnen weite Aus- 
blicke. Sowohl fiir den Forscher wie fiir den Praktiker wird das Bucli 
unentbehrlich sein. A. Kutzinski . 

H. Schloss, Leitfaden zum Vnterricht fiir das Pflegepersonal an offentlichen 
Irrenanstalten. 4. Auflage. Wien 1909. Franz Deuticke. 

Das Erscheinen der vierten Auflage des Leitfadens kann schon als ein 
Beweis daflir angesehen werden, dass der Leitfaden den an ein solches Buch 
zu stellenden Anforderungen entspricht. Kurz und allgenieinverstandlich 
sind die fiir den Irrenpfleger in Betracht kommenden Punkte in einer Reihe 
von Einzelparagraphen dargestellt. Eine Anzahl von guten Abbildungen 
erliiutert, wo es notig ist, den Text. Tintemann- Gottingen. 


Tagesgeschichtliches. 

Vom 3. bis 7. Oktober 1910 tagt zu Berlin im’Hause'der Abgcordneten 
der von dem deutschen Verein fiir Psychiatrie vorbereitete IV. Internationale 
Kongress der Fursorge fiir Geisteskranke. Mit dem Kongress w T ird eine 
Ausstellung der Fiirsorge fiir Gamuts-, Geistes- und Nervenkranke ver- 
bundcn sein. Anmeldungen von Vortragen werden an Prof. Boedeker- 
Schlachtensee-Berlin, Anmeldungen betr. die Ausstellung an Prof. Alt - 
Gehtspringe (Altmark) erbeten. 

Privatdozent Dr. Schuster in Berlin hat den Professortitel erhalien. 

Privatdozent Dr. Karpins in Wien hat den Titel eines a. o. Professors 
erhalten. 

Dr. O. Kdipin . Privatdozent fiir Psychiatric und Neurologic in Bonn, 
hut boi einem Eisenbahnungluckein tragisches Endo gefunden. Seine beiden 
Wissensehuften verdanken ihm zahlreiche vortreffliehe Arbeiten. 


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Ueber die kortikalen und bulbaren Verbindungen des 

Hypoglossus. 

Experimentell-anatoraische Untereuchung 
von 

G. MINGAZZINI und O. POLIMANTI, 

ord. Prof, der Nonropat hologte Privatdozent der Physiologic 

an der Kttnigl. UniversitAt zu Rom. 

(Hierzu Taf. XIII—XVI.) 

Die Verbindungen des Nervus hypoglossus mit seinem Ur- 
sprungskem wie mit der Himrinde sind nichts weniger als bekannt. 
Beim Menschen sind die Schwierigkeiten ihrer Feststellung sehr 
gross, denn Verletzungen, die sich auf das Rindenzentrum dieses 
Nerven oder auf den Abschnitt des Himstammes, in welchem seine 
Bahn verlauft, beschranken, kommen nur sehr selten zustande; 
dazu kommen die innigen Nachbarschaftsbeziehungen, die zu den 
Bahnen des Facialis bestehen. Aus diesem Grunde haben wir uns 
entschlossen, experimentell die Losung dieser Fragen zu versuchen. 
Zu diesem Zweck haben wir bei zwei Affen (Cercocebus fulig. und 
Cercopithecus patas) und bei zwei Katzen, einer jungen und einer 
erwachsenen, das Ausreissen des zentralen Hypoglossusstumpfes 
der einen Seite hinter der Ansa, bei einem anderen Affen (Innus 
caudatus) vor der Ansa ausgefuhrt. Bei einem anderen (Cero- 
pithecus griseoviridis) nahmen wir zuerst die Exstirpation des 
Hypoglossus der einen Seite (links) und spater die Exstirpation des 
entsprechenden Rindenzentrums der entgegengesetzten (rechten) 
Seite vor, um so den Hypoglossuskern auf der Seite des exstirpierten 
Nerven sowohl von dem peripherischen Nerven wie vom Hirn- 
zentrum vollstandig loszutrennen. 

Nachdem wir die Tiere ein Jahr und langer nach der Operation 
am Leben erhalten und sie von Zeit zu Zeit untersucht batten, 
toteten wir dieselben unter Chloroformnarkose und untersuchten 
die in Betracht kommende Gegend des Himstamms nach der 
Po&chen und van Giesonschen Methode. 

Von dem Gehirn des Cercopitheus griseoviridis, bei welchem 
wir die Exstirpation des kortikalen Zungenzentrums der einen Seite 
und die Exstirpation des kontralateralen Hypoglossus ausgefuhrt 
hatten, legten wir eine liickenlose Schnittserie von der Spitze des 

Monatasehrift fttr Paychiatrie and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 13 


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188 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 


Stimlappens bis zum Lendenmark an. In einigen Fallen haben wir 
auch die histologische Untersuchung der Zunge vorgenommen. 

Im Hinblick auf spatere Erwagungen haben wir es fur zweck- 
massig gehalten, intra vitam auch die Untersuchung des Gaumen- 
segels und der Stimmbander vorzunehmen, wobei wir von Dr. 
De Carli, Privatdozent der Ohrenheilkunde, freundlichst unter- 
stiitzt wurden, dem wir hier unsem warmsten Dank ausdrucken. 

Versuch 1. Ceroopithecus griaeoviridis. Exstirpation dee N. hypo- 
gloesua lints und Abtragung seines Rindenzentrums rechts. 

10. VI. 1906. Unter Aetherchloroformnarkose wird der link© Hypo- 

f loesuB hinter der Ansa exstdrpierfc. Sofort nach der Oper ition weicht die 
lunge nach rechts ab. 

11. VI. 1906. Das Tier frisst mit der groesten Schwierigkeit, ee streckt 
die Zunge nicht vor. 

20. VI. 1906. Das Tier frisst mit weniger Schwierigkeit. kaut jedoch 
stets auf der rechten Seite und schiebt die Nahrung aid dies© Seite. 

Bisweilen streckt ee, auf die Schmeicheleien dee Waiters, die Zunge 
vor, dieeelbe ist sowohl im lnnem der Mundhohle, wie auseerhalb derselben 
leicht nach rechte verschoben. 

16. VIII. 1906. Das Tier wird chloroformiert, urn den Zuetand der 
Zunge untersuchen zu konnen. Keine Stoning der Bewegungen des 
Gaumensegels Die linke Halfte der Zunge hat bedeutend an Volumen 
abgenommen und ist schlaifer als die rechto. 


Faradische Erregbarkeit: 

linke Zungenhalfte, M. Z.143 

rechte Zungenhalfte, M. Z.160 


Galvanisohe Erregbarkeit der hnken Zungenhalfte herabgesetzt: stark© 
Strdme loeen nur schwache Kontraktionen aus, sowohl bei Kathoden- 
wie bei Anodenreizung. 

8. T. 1907. Unter Ghloroformnarkoee wird rechts die Rindensubstanz 
unmittelbar vor dem untersten End© dee Sulcus frontalis lateralis bis zum 
Mark abgetragen. Leicht© Pares© der linksseitigen Extremetaten. 

20. III. 1907. Untersuchung des Tieree unter leichter Chloroform- 
narkose: Bewegungen des Gaumensegels normal und symmetrisch; die Zunge 
weist eine deutliche Atrophie der llnken Halfte auf, beeonders in der vor- 
deren Halfte, so wie eine ausgepragte Neigung, sich nach rechts zu ver- 
schieben. Die Pares© der linksseitigen Extremitaten ist verschwunden. 


Faradische Erregbarkeit: 

rechte Zungenhalfte, M. Z.130 

linke Zungenhiilfte, M. Z.138 


Galvanisohe Erregbarkeit: rechte Zungenhalfte KSZ fast = AnSZ. 
beiderseits trage Zuckung. 

Linke Zungenhalfte KSZ < AnSZ. 

16. IV. 1907. Unter Chloroformnarkose laryngoskopische Unter¬ 
suchung: Motilitat der Stimmbander normal; auch das Gaumensegel ist 
normal beweglich (Dr. De Carli). Der vordere Abschnitt der linken Zungen¬ 
halfte ist stark atrophisch. 

16. V. 1907. Das Tier wild mittels Chloroformnarkose getotet. 

Fig. 1 und 2. Bei Besichtigung des Hirns (Figg. 1 u. 2) bemerkt man 
entsprecnend der Trepanationsoffmuig einen Substanzverlust im Bereich 
dee G. frontalis latercuis. Der abgetragene Teil der Himrinde umfasst fast 
das ganze motorische Zentnun der Zunge, wie es von Beevor und Horsleg 
festgestellt worden ist: Wir sagen „fast das ganze*denn nach diesen Autoren 
erstreckt ee sich noch ein wenig hinter den S. Rolandi Dass trotzdem die 
ganze kortikale Projektionsfaserung dee in Rede stehenden Zentrums zerstort 
war, be weist ein unmittelbar hinter der Exstirpation gelegter Frontal- 
schnitt (siehe unten). 


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und bulbaron Verbindungen dea Hypoglossus. 


189 


FrontalachniUaerien dea Oehims und dea Ruckenmarks . 

Im Riickenmark nichts Beeonderes. Im Niveau der distalen Absehnitte 
dee Hypoglossuskemes aieht man auf beiden Seiten die erhaltenen Zellen 
deeselben; die Fasem der rechten Pyramide sind in der dorsomedialen Halfte 
etwas rarefiziert. Einige Schnitte weiter, d. h. sobald sich die Area nuclei 
hypoglossi (Fig. 4) vollstandig ausgebildet hat, findet man dieselbe links 
um l /i verkleinert; das endonukleare Fasergeflecht ist links etwas firmer 
als rechts, der Unterschied ist jedoch nicht sehr merklich; das perinukleare 
Fasergeflecht ist beiderseits gut erhalten. ebenso die Fibrae afferentes. 
Die laterals ten Wurzelfasem sind links fast alle verschwunden. Im linken 
Hypoglossuskem ist eine ansehnliche Zahl von Nervenzellen verschwunden, 
beaonders von den an der dorsolateralen Peripherie liegenden; die wenigen 
im Zentrum noch erhaltenen Zellen erscheinen fast alle geschrumpft und 
blase. In der Raphe ist nichts Abnormes wahrzunehmen, die Fibrae commis- 
surales sind gut erhalten. Etwas verkleinert scheint das rechte Pyramiden- 
feld, und seine dorsomedialen Biindel sind anscheinend rarefiziert, das 
Gliagewebe ist in seinem Bereich etwas verdickt. 

Im Niveau der mittleren (Fig. 5) und proximalen Absehnitte dee 
Hypoglossuskems sind links viele Nervenzellen dee Hypogloesuskerns, und 
swar besonders die an der Peripherie liegenden, verschwunden. Besser er¬ 
halten sind die Zellen im Zentrum und im ventralen Pole. Samtliche Langs- 
fasem der Raphe, die auf der linken Seite derselben verlaufen, sind ver¬ 
schwunden, wahrend die entsprechenden Fasem der rechten Seite gut er¬ 
halten sind. Von den Wurzelfasem dee Hypoglossus bleibt kaum Vs mtakt. 
Die Fasem des perinuklearen Geflechts, die Fibrae commissurales und die 
Fibrae afferentes des Hypoglossuskems sind beiderseits gut erhalten. Das 
endonukleare Fasergeflecht ist links erheblicher rarefiziert als in den 
Praparaten der anderen operierten Tiere. Die rechte Pyramide zeigt wieder 
das oben beschriebene Verhalten. 

Im Bereich der Briicke erscheinen die medialen Pyramidenfasem 
(der Briicke) rechts (Fig. 3b) etwas diinn und stark rarefiziert; auf dieeer 
Seite sind auch einige Nervenzellen und einige Fasem der Area para- 
medialis '} verkleinert und verschwimden. Je mehr man proximal warts 
vorschreitet, um so mehr sammeln sich die rarefizierten oder degenorierten 
Fasem vorzugsweise im medialen Abschnitt, bis im proximalsten Gebiet der 
Briicke rechts auaachlieaslich die Fasem der medialen Biindel des Pyramiden- 
areals rarefiziert und degeneriert erscheinen. Das Biindel von der Schleife 
zum Fuss ist auf dieser Seite vollstandig verschwunden. 

Im Niveau des distalen Drittels des Thalamus bemerkt man rechts 
fast vollst&ndigen Schwund der Fasem und der Zellen des Nucleus medialis 
thalami, Schwund vieler Fasem, welche in den oberen Teil des Nucleus 
lateralis thal. eintreten, und Rarefikation der Fasem des Stratum inter¬ 
medium. Im medialen Fiinftel des Pes podunc. dextri ist eine ziemlioh 
grosse Menge der Fasem verschwunden; nur einige der mehr medialen 
Fasem sind erhalten. Das mediale Drittel des Corpus Luysii dieser Seite 
enthalt eine geringe Anzahl von Nervenzellen, viele Nervenfasem sind ver¬ 
schwunden, daher zeigt dieser Teil schon fiir das blosse Auge eine weiss- 
lichere Farbe. 

Proximalwarts (Fig. 3) beschrankt sich rechts das Degenerationsfeld 
im Areal der Pyramidenbahn immer scharfer auf das zweite Sechstel des 
Fusses. Die in der Substantia nigra verlaufenden Nervenfasem und nicht 
wenige der Nervenzellen der Substantia nigra sind entweder geschrumpft 
oder verschwunden. Die Area nuclei medialis thalami erscheint rechts 
etwas verkleinert, viele Nervenzellen sind vollstandig verschwunden, und 
die Fasem sind auf wenige 'vereinzelte reduziert. Die zum N. lateralis th. 


l ) Einer von uns (Mingozzini) hat den Namen ,,Area paramedialis* 4 
vorgeschlagen fiir den Nervenzellen- und Fasemkomplex, der medialwarts 
vom Fascic. medianus pontis, lateralwarts von dem medialsten Pyraraiden- 
biindel begrenzt wird. (Dies© Zeitschr., Bd. XXV.) 

13* 


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190 Mingazzini-Polimanti,- Ueber die kortikalen 


ziehende Degeneration hat mehr und mehr abgenommen. Auf derselben 
Seite sind auch fast samtliche Fasem dee ventraien Drittels der inneren 
Kapeel (im hinteren Schenkel) verschwunden. 

Im Bereiche des Knies der inneren Kapsel und dee hinteren Teilee 
dee vorderen Schenkels derselben beschrankt sich rechts die Degeneration 
auf die laterals Halfte der zwei ventraien Funftel derselben. Der Nucleus 
medialis und lateralis thalami sind in diesem Niveau normal. 

Im Uebergangsgebiet (Fig. 2 b) des Genu corporis callosi bemerkte man 
rechts eine Zerstorung des entsprechenden Teilee (vorderen Endes) der 
inneren Kapsel f wie auch des Putamen und des Nucleus caudatus und 
weiterhin eine Degeneration des dem G. frontalis lateralis entsprechenden 
Markgebiets bis zur Exstirpationsstelle. 

Zusammenfassend kann man sagen: Infolge der Exstirpation des rechten 
kortikalen Zungenzentrums imd der benachbarten subkortikalen Gebiete 
ist auf derselben Seite im Niveau des vorderen Schenkels und des Knies der 
inneren Kapsel eine Degeneration der lateralen Halfte der beiden ventraien 
Funftel derselben eingetreten; im Niveau des hinteren Schenkels der Kapsel 
findet sich Degeneration ihres ventraien Drittels, eines Teils des Nucleus 
medialis und der dorsalen Halfte des Nucleus lateralis thalami; im Pee 
pedunculi sind distal die Fasem der dorsalen Halfte des medialen Sechstels 
und proximal die Fasem des fiinften Sechstels, von aussen nach innen 
gerechnet, degeneriert; in der Briicke wurde Degeneration des Biindels von 
der Schleife zum Fuss, einiger Zellen der Area paramedialis und der medio- 
medialen Biindel der Pyramidenbahn und in der Oblongata der dorso- 
medialen Biindel der Pyramide gefunden. Auf der entgogengesetzten Seite 
(links), auf welcher der Nervus hypoglossus herausgerissen worden war. 
fand sich Rarefiziemng dee endokulearen Geflechtes des Hypoglossus- 
kerns, Schwimd vieler Ganglienzellen (besonders der peripherischen) und 
Degeneration der iibrigen, ausserdem Schwund der lateralen Wurzelfasem 
des Nerven selbst. 

Auf einem Frontalschnitt im vorderen Bereich der Zunge erscheint die 
linke Zungenhalfte nur sehr wenig kleiner als die rechte. Die Volum- 
abnahme kommt ausschliesslich auf Rechnimg des ventraien Teils. Bei 
starker Vergrosserung bemerkt man, dass nur der lateralen Halfte ent- 
sprechend die Muskelfasern etwas verdiinnt sind; nur an einigen wenigen 
Stellen weisen dieselben deutliche Degenerationserscheinungen auf; in ein- 
zelnen Fasem hat das Sarkoplasma eine blaue, gleichmassige Farbung 
(Wachsdegeneration) angenommen. 

Versuch 2. Cercocebus fuliginosus. Durchtrennung und Dehnung 
des zentralen Sturnpfes des Nervus hypoglossus sin. hinter der Ansa. 

27. VII. 1906. Unter Narkose wird die Exstirpation des Stammes des 
N. hypoglossus sin. hinter der Ansa ausgefiihrt und sodann der zentrale 
Stumpf des Nervus ausgerissen. Sofort nach der Operation weicht die Zunge 
nach rechts ab. 

18. VIII. 1906. Das Tier verschluckt feste und fliissige Nahrung gut. 
Die Zunge ist bestandig nach rechts verschoben; die linke Halfte erscheint 
etwas atrophisch. 

2. IX. 1906. Das Tier wird zwecks der elektrodiagnostischen Unter- 


suchung der Zunge chloroformiert. 

Faradische Erregbarkeit: 

linke Zungenhalfte, M. Z.12,3 

rechte Zungenhalfte, M. Z.12,7 


Galvanische Erregbarkeit beiderseits KSZ > An SZ. 

Es beeteht somit eine Herabsetzimg der faradischpn Erregbarkeit 
der linken Zungenhalfte. 

1. XII. 1906. Tod an Marasmus. 

UnUrsuchung der Serienschnitte der Oblongata . Auf den distalen 
Schnitten durch die Oblongata bemerkt man einen deutlichen Schwund 
der Zellen des linken Hypoglossuskemes; etwas rarefiziert sind auch Hie 
endonuklearen Verzweigungen der Wurzelfasem. Das perinukleare Faser- 


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und bulbaren Verbindungen dee Hypogloasue. 


191 


geflecht, welches ubrigens bei dieeem Tier wenig entwickelt schien, iet 
beiderseite gut erhalten. Dae endonukleare Geflecht iet links etwae rarefiziert. 
Fast samtliehe Nervenzellen dee Hypogloesuskemee mit Auenahme einiger 
Zellen am ventr&len Pol eind gut erhalten. 

Proximalwarts wild der Schwund der Nervenzellen im linken Hypo- 
gloesuskem innen ausgepragter (vergl. Fig. 8f; m fehlen haupteachlich die 
peripherischen Zellen; auch die noch erhaltenen ZeUen erscheinen fast aUe 
leicnt atrophisch; die Wurzelfasern dee XII. aind geschwunden und zwar 
vorzugsweise die lateralen. Die perinuklearen und endonuklearen Faeem 
verhaften sich, wie oben erwahnt. Die Fibrae afferentee nuclei hypogl. 
aind in der ganzen Hohe dee Kernes gut erhalten; gleiches gilt von den 
Fibrae commieeuralee. • ; 

Versuch 3. Exstirpation dee N. hypogl. sin. hinter der Ansa. 

Cercopithecus patae. 

22. VI. 1906. Unter Narkose wird hinter der Ansa der linke Hypo- 
gloeaus exstirpiert. Sofort nach der Operation sieht man die Zunge nach 
rechte abweicnen. 

25. VI. 1906. Das Tier kaut mit der rechten Halfte des Kiefers. Die 
Zunge ist nach rechte verschoben. 

2. IX. 1906. Dae Tier wird behufs elektrodiagnoetischer Untersuchung 
der Muekulatur der Zunge chloroformiert. 

Faradische Erregbarkeit: 

linke Zungenhalfte, M. Z.11,5 

rechte Zungenhalfte, M. Z. 15,0 

Galvanische Erregbarkeit: linke Zungenhalfte AnSZ bei •/• MA. 
KSZ < AnSZ. Rechte Zungenh&lfte KSZ y 2 MA. KSZ > AnSZ. 

Es besteht folglich eine Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit 
und partieUe EAR der linken Zungenhalfte. 

Die linke Zungenhalfte ist stark atrophisch. Keine Storung der Be- 
wegungen und keine Atrophie des Gaumensegels. 

14. VI. 1907. Unter Chloroformnarkose wird laryngoskopisch unter- 
sucht (Dr. De Carli ): Die Motilitat der Stimmbander ist normal, ebenso 
diejenige der Gaumensegel. 

16. V. 1907. Das Tier wird durch Chloroform getotet. 

Untersuchung der Schnittserie durch die Oblongata. Im Niveau des 
distalen Drittels des Nucleus hypoglossi (Fig. 6) ist links (auf der Seite 
der Operation) das perinukleare Fasergeflecht beiderseits gut erhalten, das 
endonukleare ist nach dem dorsolateralen Rande zu rarefiziert; die am 
moisten lateral warts liegenden Wurzelfasern dee N. hypogl. und viele 
Ganglienzellen des linken Hypoglossuskemes sind verschwunden, nament- 
lich die lateralsten und auch viele von den zentralen; besser erhalten 
sind die medialen Zellen. 

Im Niveau des mittleren Teiles des Hypoglossuskemes (Fig. 7) sind 
links die Zellen des Hauptkemes zum grossen Teil verschwunden, und zwar 
beeonders die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; die lateralsten 
Wurzelfasern sind links rarefiziert; das endonukleare Geflecht ist besonders 
in seinem lateralen Teil links etwas weniger dicht. Gut erhalten sind beider¬ 
seits die perinuklearen Fasem und die Fibrae afferentes, und zwar sowohl 
diejenigen, die iiber die Kuppe oder innerhalb der Spitze der Formatio 
reticularis alba ziehen, wie auch die durch den ventralen Pol dee 
Nucleus XII hindurchziehenden Fasem. 

Im Niveau des proximalen Teils des Hypoglossuskemes treten links 
die erwahnten Veranderungen immer deutlicher hervor, sodass es in dieeem 
Niveau nicht mehr moglich ist, einen sicheren Unterschied zwischen dem 
rechten und linken Hypoglossuskern festzustellen. 

Auf einem Frontalschnitte durch den vorderen Abschnitt der Zunge 
erecheint die ganze linke Halfte und zwar hauptsachlich ihr lateroventraler 
Teil, erheblich verkleinert. Auf dieser Seite sind, auch der lateralen Halfte 
entsprechend, zahlreiche Muskelbiindel verschwunden, wahrend die homo- 
logon Fasem rechts gut erhalten aind. 


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192 


Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 


Versuch 4. Exstirpaiion des N. hypogL sin. vor der Ansa. 

Inuus caudatus, Weibchen, 3 Jahre alt. 

16. VI. 1906. Der linke Hypogloasus wird vor der Ansa durchschnitten 
und ein grosseres Stuck exzidiert; doch gelingt es nicht, den zentralen Stumpf 
zu dehnen. Gleich nach der Operation sieht man die Zunge nach rechte ab- 
weichen. 

20. VT. 1906. Keine halbseitige Differenz bei den Fress- und Schluck- 
bewegungen. 

16. VIII. 1906. Das Tier wird chloroformiert. Bewegungen des 
Gaumensegels normal, die linke Zungenhalfte erscheint leicht atrophisch" 


Faradische Erregbarkeit: 

rechte Zungenhalfte, M. Z.15 

linke Zungenhalfte, M. Z.13 


Es besteht also eine Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit der 
linken (atrophischen) Zungenhalfte. 

20. III. 1907. Unter Chloroformnarkos© wird feetgestellt, dass die 
Zunge, sowohl vorgestreckt wie in der Mundhohle, immer leicht nach rechte 
verechoben ist, allerdings in wenig ausgepragter Weise. Die Bewegungen 
des Gaumensegels sind normal, die Gaumenbogen stehen symmetrisch. 

1. IV. 1907. Dae Tier verendet in einer Chloroformnarkos©. 

Untersuchung der Schnittserie. — Auf Schnitten im Niveau des 
distalen Teiles des Hypoglossuskemee gelingt ee nicht, irgend einen Unter- 
schied, weder im Volumen, noch in der Anzahl oder in der Struktur der 
Nervenzellen des Hypoglossuskemee festzustellen. Die feinen Fasem des 
endonuklearen Geflechts des linken Hypoglossuskemee sind rarefiziert, be- 
Bonders in der Nahe der lateralen Peripherie des Kernes. 

Auf Schnitten, die bald nach der Oeffnung des Zentralkanales 
(Fig. 9) gefiihrt sind, sind links die lateralsten Wurzelfasern des N. hypo¬ 
glossus verschwunden. Dieser Schwund steht in grellem Gegensatz zu 
aer Erhaltung der beiden medialen Drittel der Wurzelfasem. Die Fasem 
des Kemgeflechts sind gut erhalten. Mehrere Ganglienzellen des linken 
Hypoglossuskemes sind verschwunden, hauptsachlich solche an der dorso- 
lateralen Peripherie, das zarte endonukleare Geflecht ist ebendaselbst 
etwas rarefiziert. Die Fibrae afferentes des Hypoglossuskemes sind 
a&mtlich beiderseite gut erhalten; dasgleiche gilt von den Fibrae commis- 
surales. 

Auf alien nachfolgenden Schnitten bis zum proximalen End© des 
Hypoglossuskeras linden sich dies© Veranderungen in gleicher Weise. Rechte 
keinerlei Veranderung, 

Auf einem Schnitt durch den vordersten Teil der Zunge findet 
man links die Muskelbiindel zum grossten Teil erhalten, nur der lateralen 
Halfte entsprechend zeigen einige Muskelfasem einen granulosen Zerfall 
oder eine beginnende Wachdegeneration mit Vermehrung der Sar- 
kolemmakeme. 

Versuch 5. Exstirpaiion des N. hypoglossus sin. hinter der Ansa. 
2 jdhrige Katze . 

22. VII. 1906. Hinter der Ansa wird der Hypoglossus ausgerissen, 
Sofort nach der Operation sieht man die Zunge nach rechts abweichen. 

23. VII. 1906. Eine Atrophie der linken Zungenhalfte beginnt bereits 
aufzutreten. Die Zunge weicht nach rechte ab. 

12.1. 1907. Die linke Zungenhalfte weicht nach rechte ab und ist sehr 
atrophisch, besonders in ihrer vorderen Halfte. 

9. IV. 1907. Unter Chloroformnarkos© wird die laryngoskopische Unter¬ 
suchung vorgenommen: Motilitat der Stimmbander und der Gaumensegel 
normal; kein Anzeichen von Atrophie des Gaumensegels. 

23. IV. 1907. Das Tier wird mittels Chloroform getotet. 

Untersuchung der Serienschnitte der Oblongata . Auf Schnitten im Niveau 
des distalen Drittels des Hypoglossuskeras (Fig. 10) bemerkt man links 
einen Schwund von ungefahr der Halfte der Ganglienzellen des Hypoglossus¬ 
kemes, und zwar besonders der an der dorsolateralen Peripherie gelegenen. 


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und buibaren Verbindungen des Hypoglossus. 193 

Die Nervenzellen, welche das Zentrum und den ventralen Pol des Kerns 
bilden, sind teilweise erhalten, dooh sind aueh diese kleiner als gewohnlich. 
Das endonukleare Geflecht ist links stark rarefiziert, ebenso die Wurzelfasem 
des Hypoglossus. Das perinukleare Fasergeflecht ist beiderseits gut erhalten. 

Im Niveau des mittleren Abschnitts des Hypoglossuskerns (Fig. 11) 
zeigen die Zellen des Hypoglossuskernes ungefahr noch dieselben Verande- 
rungen. Am besten erhalten sind die im Zentrum gelegenen Zellen, alle 
anderen, besonders die dorsolateralen. sind entweder vollstandig verschwun- 
den oder haben stark an Volumen abgenommen und farben sich mit Karmin 
auffallig blass. Die Wurzelfasern des Hypoglossus sind links rarefiziert; 
etwas sparlich, doch nicht in einem bedeutenden Grade, sind auch die endo- 
nuklearen Fasem. Die Fasem, welche bogenformig, mit der Konvexitat 
nach unten, das Kemgebiet und das dorsale Gebiet der Formatio reticularis 
alba (Fibrae afferentes) durchziehen. sind auf beiden Seiten gut erhalten, 
desgleichen die Fibrae commissurales. 

Im proximalen Drittel des Kerns ergeben sich dieselben Verhaltnisse. 

Versueh 6. Katze, ungefahr 1 Monat alt. 

Au8reis8ung des Nervus hypoglossus sin . hinter der Ansa. 

15. VI. 1906. Der Hypoglossus wird hinter der Ansa ausgerissen. 
Gleich danach weicht die Zunge nach rechts ab. 

31. XII. 1906. Derselbe Befund. 

1. VIII. 1907. Das Tier wird getotet. Man findet die linke Zungen- 
h&lfte im vorderen Teile atrophisch. 

Untersuchung der SerienschniUe der Oblongata. — Im Niveau des distalen 
Drittels des Hypoglossuskernes wird links ein fast vollstandiger Schwund 
der Nervenzellen des Kernes festgestellt; das endonukleare Geflecht ist 
z. T. verschwunden; gut erhalten hingegen sind die perinuklearen Fasem 
und die Fibrae afferentes. Die lateraJsten Wurzelfasem sind links rarefiziert. 

In den mittleren und proximalen Abschnitten des Kernes (Fig. 12) 
sind links nur die zentralen Nervenzellen erhalten, und auch diese sind zum 
Teil geschrumpft imd erscheinen mit Anilinfarben auffallig blass gefarbt; 
nur wenige sind vollstandig intakt. 

Ein Schnitt durch den vorderen Zungenteil (Fig. 13) zeigt bei schwaoher 
Vergrosserung folgendes: 

Die ganze lmke Zungenhalfte ist bedeutend kleiner als die rechte, 
die Papillen sind beiderseits gut entwickelt. Links sind die transveralen 
und die vertikalen Muskelfasem in der medialen Halfte gut erhalten, in 
der lateralen dagegen sind sie zum grossen Teile verschwunden, und zwar 
namentlich die langs- und ventral-verlaufenden. Rechts sind alle Fasem vollig 
normal. Bei starkerer Vergrosserung findet man hier und da in den 
Muskelfasem des lateralen Teiles der linken Zungenhalfte Veranderungen 
verechiedenen Grades und verschiedener Bedeutung. Einige Fasem haben 
nur an Volumen verloren, sind aber reich an Sarkolemmakemen, andere 
haben jegliche Struktur verloren, und ihr Sarkoplasma besteht aus einer 
homogenen Masse von weissem, fast wachsahnlichem Aussehen, andere 
wiederum scheinen eine im Zerfall begriffene koraige Masse zu enthalten. 

Schlus8folgerungen . 

Nachdem wir die tatsachlichen Beobachtungen beschrieben 
haben, gehen wir zur Erorterung der Frage nach den zentralen Ver- 
bindungen und dem cerebralen Verlauf des Hypoglossus (resp. 
der Hypoglossusbahn) fiber. 

Wir beginnen mit dem Hypoglossuskem. Was seine Nerven¬ 
zellen betrifft, so ist hervorzuheben, dass bei Atrophien des 
Hypoglossuskernes peripheren Ursprungs viele, aber nicht alle 
Nervenzellen des Kernes der Degeneration anheimfallen; ein Teil 
bleibt intakt, und zwar selbst jahrelang. Diese Tatsache, welche 


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194 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 


einer von uns ( Mingctzzini ) schon vor ungefahr 20 Jahren bei Tieren 
(Kaninchen) festgestellt hat, an denen die einseitige Exstirpation 
des Nervus hypoglossus ausgefiihrt worden war, wurde spater 
von anderen Forschern bei Tieren und beim Menschen bestatigt. 
Da Fano stellte- mit Hhlfe der Farbemethoden von Donaggio 
und Ramon y Cajal bei dem Kaninchen nach Ausreissung des zen- 
tralen Stumpfes des Nerven in den Ursprungszellen Prozesse 
fest, die zu einer zunehmenden Atrophie und nachfolgendem 
Schwund der Zellen des gleichseitigen Kerns fiihren. Er fand je- 
doch, dass die kleineren inneren Zellen des Kerns eine besonders 
geringe Resistenzfahigkeit zeigen und ungefahr nach 20 Tagen 
verschwunden sind, wahrend die verhaltnismassig grosseren Zellen 
des vorderen und lateralen (ventrolateralen) Teiles des Kerns 1 anger 
Widerstand leisten und, wenn auch verandert, doch bis fiinf Mo- 
nate nach der Operation erhalten bleiben konnen. In den Fallen 
vonHemiatrophie der Zunge infolge periphererVerletzung(Schnitt), 
die Biancone und einer von uns (Mingazzini) beim Menschen 
studiert haben, bemerkten wir ferner, dass die Atrophie der 
Zellen des Hypoglossuskemes auf der Seite der Hemiatrophie 
in den distalen Abschnitten des Kernes ziemlich deutlich ist, im 
Niveau des mittleren Drittels noch zunimmt und im proximalen 
Drittel abnimmt. Ebenso sahen wir, dass die Veranderungen der 
Nervenzellen in der medialen und der lateralen Gruppe des Kerns 
ausgepragter waren. Auch Westphal bemerkte in einem Falle von 
Hemiatrophie der Zunge zentralen Ursprungs, dasB die Atrophie 
des Hypoglossuskemes sich auf das distale Drittel des Kerns be- 
schrankte, und dass die Veranderungen proximalwarts mehr und 
mehr abnahmen, bis im Niveau des mittleren Drittels Zellen und 
Fasem normal waren. Geronzi hingegen konstatierte in seinem, 
dem W’esJpAafechen ahnlichen Falle von Hemiatrophia linguae 
zentralen Ursprungs, dass die Atrophie der Ganglienzellen die 
ganze Lange des Hypoglossuskemes einnahm und vom distalen 
zum proximalen Ende allmahlich zunahm; ausserdem bemerkte 
er, dass die Veranderungen in den lateralen und zentralen Zellen 
ausgepragter waren. 

Will man sich dieses verschiedentliche Verhalten der Nerven¬ 
zellen des Hypoglossuskemes erklaren, so ist wohl begreiflich, 
dass bei Zungenatrophien zentralen Urspmngs (Fall Koch-Marie, 
Westphal, Geronzi) die Veranderungen im Kem gleichmassig oder 
auch sprungweise vorhanden sind. Hingegen ist in den Fallen 
peripherischer Hypoglossuslasion ( Biancone, Mingazzini) der Be¬ 
hind so auffallig, dass wir zu der Annahme gedrangt wurden, dass 
der Kem an seinem distalen und proximalen Ende auch Beziehungen 
zu anderen Nerven, nicht nur zu den Wurzelfasem dee Hypoglossus, 
eingeht und dass die Zellen des Hypoglossuskemes nicht alle die 
gleiche physiologische Bedeutung haben. 

Mit diesen Schlussfolgerungen stimmen unsere jetzigen Be- 
funde vollstandig uberein. In der Tat waren bei dem operierten 
Cercocebus fuliginosus fast samtliche periphere Zellen des Hypo- 


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und bulbaren Verbindungen dea Hypoglossus. 


195 


glossuskernes schwer verandert, und die Veranderungen waren 
um so ausgepragter, je weiter man distalwarts vorechritt. Bei 
dem Cercopithecus patas waren distalwarts nur die lateralen Zellen 
des Kernes verschwunden, wahrend proximalwarts die Ver- 
anderung mehr und mehr ganz besonders die dorso-lateralen und 
zum Teil auch die zentralen Zellen betraf; erst im proximalen 
Drittel trat dies wiederum weniger deutlich hervor. Bei dem 
1 nuu.s caudatus waren nur proximalwarts die dorsolateralen 
Zellgruppen des Hypoglossuskernes auf der Exstirpationsseite ver¬ 
schwunden ; distalwarts war kein Unterschied zwischen den beiden 
Seiten nachzuweisen. Im Hypoglossuskem (Exstirpationsseite) 
der erwachsenen Katze waren distalwarts samtliche Zellgruppen 
des Hypoglossuskernes, mit Ausnahme der im Zentrum und am 
ventralen Pole gelegenen, verschwunden; diese Veranderungen 
traten im medialen und proximalen Teile deutlicher hervor. Bei 
der jungen Katze (Beobachtung 6) waren distalwarts samtliche 
Zellen des Hypoglossuskernes auf der Seite der Exstirpation ver¬ 
schwunden oder stark geschrumpft, proximalwarts waren nur 
die peripherischen verschwunden, die zentralen waren erhalten 
und nur leicht verandert. Bei dem Cercopithecus griseoviridis 
(kombinierte Exstirpation des Hypoglossus links und des Rinden- 
zentrums des Hypoglossus rechts) waren von den Ganglienzellen 
des Hypoglossuskernes auf der linken Seite die peripheren und vor 
allem die dorsolateralen verschwunden, die zentralen hatten, frei- 
lich nicht alle, einen Riickbildungsprozess erfahren. Niemals fanden 
wir eine Veranderung der Zellen des rechten Hypoglossuskernes. 

Diese Befunde zwingen uns, von neuem zu erwagen, welches 
die Ursachen sein konnen, weshalb einige Gruppen der Nerven- 
zellen des Hypoglussuskernes dem atrophischen oder Degenerations- 
prozess mehr Widerstand leisten. Wie aus der kurz vorher ge- 
gebenen Zusammenstellung hervorgeht, sind es die zentralen und 
zum Teil die medialen Zahlen, die nach Exstirpation des Hypo¬ 
glossus beim Affen und bei der Katze am meisten Widerstand 
leisten wahrend die peripherischen und besonders die dorso¬ 
lateralen am raschesten dem Untergang verfallen. Was die iibrigen 
betrifft, so kann man keine Regel in der chronologischen Reihen- 
folge des Schwundes feststellen, doch findet man immer eine 
Gruppe, die widersteht und zuletzt oder vielleicht nie abstirbt. 

Auch besteht nicht nur ein Unterschied zwischen den ver- 
schiedenen Gruppen der Nervenzellen, sondern auch in der Langs- 
ausdehnung des Kernes verhalten sich die Kernzellen ceteris 
paribus nicht gleichmassig. Die Veranderungen waren namlich 
im Bereich des mittleren und proximalen Abschnittes besonders 
schwer, so bei der erwachsenen Katze, bei Cercopith. griseoviridis, 
bei Cercocebus fuliginosus und bei Inuus; bei Cercopith. patas 
hingegen fanden sich die Veranderungen maximalen Grades nur im 
mittleren Abschnitt, in den Endabschnitten hingegen nur minimale 
Veranderungen, bei der Katze endlich war es hauptsachlich das 
distale Segment, w-elches die schw'ersten Zerstorungen aufwies. 


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196 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 


Hieraus kann man schlie3sen, dass es die peripherisohen (reap, 
die dorso-lateralen) Zellen sind, welche ausschliessliche Verbin- 
dungen mit den Wurzelfasern des N. hypoglossus eingehen, und 
zwar speziell die Zellen des mittleren und des proximalenAbschnitts; 
die Zellen des distalen Abschnitts hingegen (und bisweilen auch 
des proximalen) sind es, die mit den Hvpoglossusfasern .weniger 
enge Beziehungen haben. 

Erwagen wir nun die Ursachen dieses verschiedenen Ver- 
haltens der verschiedenen Gruppen der Ganglienzellen des Hypo- 
glossuskernes! 

Wenn dieserKem aus einer grauen, in antero-posteriorer Rich- 
tung sich weit erstreckenden Saule bestande, so dass der proxi- 
male Teil z. B. in einer bedeutenden Entfernung von den Wurzel¬ 
fasern lage, konnte man denken, dass das verschiedenartige Ver- 
halten der Zellgruppen darauf beruhe, dass die retrograde Degene¬ 
ration keine Zeit gehabt hat, alleUrsprungszellen zu erreichen. Doch 
ist dies nicht der Fall, denn es handelt sich um einen relativ sehr 
kurzen Kern, dessen Zellen alle etwa gleicbweit von demWurzelaus- 
tritt entfemt sind. Noch viel weniger kann die Verschiedenheit der 
Widerstandsfahigkeit der verschiedenen Zellgruppen von dem von 
der Operation bis zumTode des Tieres verlauf enen Zeitraum abhangen, 
denn bei demCercoc.fuliginosus und bei demCercop. pataswaren die 
Nervenzellen des Hypoglossuskemes fast in identischen Zonen und 
ungefahr in gleichem Grade befallen, obwohl der erstere viel kiirzere 
Zeit nach der Operation am Leben geblieben war als der letztere 
und die Resektion des N. hypoglossus bei beiden hinter der Ansa 
hypoglossi ausgefiihrt worden war. Wir miissen daher die Folgerung 
ziehen, dass die Nervenzellen, die nach der Ausreissung des 
Hypoglossus am langsten erhalten bleiben, engere Verbindungen 
entweder mit den Ganglienzellen der entgegengesetzten Seite oder 
mit dem Rindenzentrum besitzen, oder dass eine teilweise 
Kreuzung der Wurzelfasern besteht. 

Einige Griinde konnten beim ersten Blick zugunsten der ersten 
Annahme zu sprechen scheinen, d. h. dass die widerstandsfahigen 
Nervenzellen engere Verbindungen mit denen des gleichnamigen 
kontralateralen Kernes besitzen, so dass dieser funktionelle fort- 
dauemde Zusammenhang sie vor einer eventuellen Atrophie schiitzt. 
Hier ist daran zu erinnem.dass nach Koch und Marie die sogenannten 
Fibrae commissurales des Hypoglossuskemes an dem Netze der 
Fibrae propriae des Kernes beteiligt sein sollen. Van Gehuchten 
und Cajal betrachten sie als Protoplasmafortsatze einiger Zellen 
des Hypoglossuskemes. Poirier und Bechterew fassen sie als 
Achsenzylinder besonderer Assoziationszellen (Schaltzellen von 
Monakow) auf. Man wiirde somit begreifen, warum diese hypo- 
thetischen Zellen die Resektion lange uberleben, und warum in dem 
Falle von Hemiatrophie der Zunge beim Menschen, welcher von 
Biancone und einem von uns (Mingazzini) studiert wurde, Ver- 
anderungen im Kem und in den Wurzelfasern des Hypoglossus 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus. 


197 


nicht nur auf der verletzten Seite, sondem auch auf der gegen- 
fiberliegenden sich fanden. Freilich konnte Biancone, der in seinem 
Falle von Hemiatrophia linguae nicht nur Veranderungen des 
Hypoglossu8kemes auf der Seite der Verletzung des Nerven, 
sondem in geringem Masse auch auf der entgegengesetzten Seite 
fand,keineVeranderungenindenFibrae commissurales wahmehmen. 
Uebrigens zog schon Biancone in Betracht, dass die Fibrae commissu¬ 
rales, welche aus den Zellen des normalen Hypoglossuskemes 
entspringen sollen, leicht den Schwund der aus den zerstorten 
Zellen hervorgehenden Fibrae commissurales verdecken konnen, 
besonders da es nicht moglich ist, im Gebiete der Fibrae commis¬ 
surales einen Vergleich zwischen den beiden Seiten anzustellen. 
Da in unseren Versuchsfallen die Fibrae commissurales samtlicher 
operierter Tiere sich stets gut erhalten fanden, konnen wir kein 
beweisendes Argument hinzufiigen. Doch selbst wenn wir einen 
Schwund der Fibrae commissurales und nicht der Zellen ange- 
troffen hatten, ware noch kein Grund vorhanden, die oben er- 
wahnte Annahme anzufechten, denn wir miissten an das denken, 
was in dieser Hinsicht Monakow 1 ) sagt: ,,Selbst wenn man 
von alien Seiten die zu einem grauen Haufen ziehenden mark- 
haltigen Fasero unterbricht, so dass dieses Stuck graue Substanz. 
samtlicher Verbindungen mit der Nachbarschaft, abgesehen etwa 
einer kleinen die Blutzufuhr vermittelnden Briicke grauer Substanz, 
vollig beraubt ist, so finden sich ausnahmslos neben vielen in alien 
Abstufungen sekundar degenerierten resp. atrophischen und ander- 
weitig strukturell geschadigten stets noch eine stattliche Anzahl von 
Nervenzellen, an denen man nennenswerte mikroskopische Ver¬ 
anderungen nicht erkennen kann.“ 

Gehen wir nun zur zweiten Annahme fiber, namlich, dass die 
grossere Widerstandsfahigkeit einzelner Zellgruppen des Hypo¬ 
glossuskemes nach Resektion des betreffenden Nerven davon 
abhangen konnte, dass speziell diese Gruppen engere und unmittel- 
barere Verbindungen mit dem entsprechenden Rindenzentrum 
haben. Diese Vermutung scheint uns wahrscheinlich, wenn wir die 
Resultate einiger unsererOperationen beobachten. In der Tat sehen 
wir, wenn wir die Sektionsbefunde der Oblongata der j ungen Katze 
mit den bei der erwachsenen Katze erhoberien vergleichen, dass 
trotz der volligen Uebereinstimmung der Operation bei der jungen 
Katze die auf der linken Seite degenerierten Zellen des Hypoglossus¬ 
kemes weit zahlreicher wuren als diejenigen der erwachsenen Katze 
besonders in der distalen Halfte des Kernes. Einen anderen Beweis 
liefert uns die Untersuchung des Cercopithecus griseoviridis, bei 
welchem das Rindenzentrum des Hypoglossus rechts abgetragen 
mid der N. hypoglossus links herausgeschnitten war. Der Zweck 
dieser kombinierten Operation, die, so viel uns bekannt ist, bisher 
noch niemand vor uns ausgeffihrt hat, war, so weit moglich, den 
linken Hypoglossuskem sowohl von den zentralen kontralateralen 

l ) Vergl. die Literatur. Monakow loe. eit. S. 402. 


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198 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 

Verbindungen wie von demperipherischenNervenstamm zu isolieren. 
Mit anderen Worten: die Nervenzellen des linken Hypoglossuskemes 
waren hier einer doppelten Wirkung ausgesetzt, namlich dem Ein¬ 
fluss der Abtragung des homolateralen N. hypoglossus und dem 
Einfluss des Schwundes der letzten Verzweigungen der kortiko- 
bulbaren, von der entgegengesetzten Seite kommenden Fasem des 
ersten Neurons. Nun waren die Zellen des linken Hypoglossuskemes 
verschwunden oder auf dem Wege zu verschwinden, und zwar in 
grosserer Zahl (vergl. Fig. 5 mit Fig. 0 — 12 ) als bei den anderen 
Affen und bei der erwachsenen Katze, und auch das Areal des linken 
Kernes hatte an Volum bedeutend mehr eingebiisst als bei diesen. 
Dies erklart sich leicht, wenn man annimmt, dass die gegeniiber 
dem Einfluss der Nervenresektionwiderstandsfahigeren Zellen gerade 
diejenigen sind, welche eine engere Verbindung mit dem gekreuzten 
kortikalen Zentrum haben. Daher muss man mit der Entfemung 
des letzteren den Schwund der entsprechenden Zellen erzielen. 

Endlich bleibt noch die dritte Annahme, namlich, dass die 
Wurzelfasern eines Hypoglossus nicht samtlich aus den Nervenzellen 
des gleichseitigen Kernes, sondem zum Teil auch aus denen des ge¬ 
kreuzten Kernes entspringen; im letzteren Falle wiirde das Intakt- 
bleiben einiger Zellen von der teilweisen Kreuzung der Wurzel- 
fasem abhangen konnen. Mit Be/.ug auf diese Frage ist hervorzu- 
heben, dass eine teilweise Kreuzung der Wurzelfasern des Hypo¬ 
glossus von alien Autoren geleugnet wird. Einem von uns ( Min - 
gazzini) gelang es zuerst, mittelsder experimentellen Degenerations- 
methode nachzuweisen, dass die Wurzelfasern des Hypoglossus 
sich ganz und gar nicht kreuzen. Diese Forschungen wurden spater 
von Geronzi, Djelojf und nochmals von Mingazzini bestatigt. 
Selbst vanQehuchten, derein eifriger Verteidiger der Kreuzung war, 
hat dieselbe neuerdings aufgegeben. Ebenso stimmen die experi¬ 
mentellen Studien Schaffers und Staderinis darin iiberein, dass sie 
den Kemzellen und Wurzelfasern des Hypoglossus auf der der 
Exstirpation des Nerven entgegengesetzten Seite jede Veranderung 
absprechen. Unsere jetzigen Beobachtungen bestatigen noch ein- 
mal den schon feststehenden Satz, dass die Wurzelfasern des Hypo¬ 
glossus sich nicht kreuzen, denn wenn eine teilweise Kreuzung be- 
stiinde, konnte man sich nicht erklaren, warum rechts (auf 
der Seite, wo der N. hypoglossus intakt war) nicht eine einzige 
Nervenzelle des Hypoglossuskemes in verandertem Zustande 
gefunden wurde. Man konnte nur die Frage aufwerfen, warum von 
den Wurzelfasern des Hypoglossus links (auf der Operationsseite) 
vorzugsweise die lateralen untergegangen sind. Doch dies beweist 
nichts anderes, als dass alle Fasern mit Vorliebe Verbindungen mit 
einer bestimmten Zellgruppe eingehen. Die wahrscheinlichste also 
der oben erwahnten drei Annahmen, also diejenige, welche mit 
den experimentellen Tatsachen am besten in Uebereinstimmung 
steht, ist die zweite. wonach eine der Zellgruppen des Hypoglossus¬ 
kemes, namlich die zentrale, mit den Endverzweigungen der 
kortikobulbaren Fasern in unmittelbarerer Verbindung steht. Dabei 


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und bulb&ren Verbindungen dee Hypoglossus. 


199 


steht jedoch nichts im Wege zugleich im Sinne der ersten Hypothese 
anzunehmen, dass auch einige dieser Zellen dem homologen Kerne 
der entgegengesetzten Seite Dendriten (als Fibrae commissu rales) 
zusenden. 

Es bleibt indes noch zu erwagen, dass auch bei dem Cero- 
pithecus griseoviridis eine kleine Zellgruppe des Hypoglossuskernes 
doch noch erhalten geblieben ist; man konnte sich daher fragen, 
ob etwa im Hypoglossuskerne eine dritteKlasse von Zellen existiert, 
die Verbindungen mit anderen Gebilden hat. Hier darf man nicht 
vergessen, dass einer von uns ( Mingazzini ) schon friiher als sehr 
wahrscheinlich erwiesen hat, dass einTeil der Fibrae suprareticulares 
aus den Zellen des Funiculus gracilis und cuneatus entspringt, 
und sich um die Zellen des Hypoglossuskernes herum verzweigt. 
Hierzu kommt noch folgende Erwagung. In den Fallen von Zungen- 
hemiatrophie beim Menschen hat man oft Paresen des Gaumen- 
segels auf der Seite der Hemiatrophie beobachtet, ohne allerdings 
entscheiden zu konnen, ob diese von einer peripherischen oder einer 
zentralen Ursache abhangen (Bruce, Koch, Marie, Biancone, Geronzi, 
Mingazzini). Aus der Priifung der Krankengeschichten geht jedoch 
hervor, dass die Mitbeteiligung des Gaumensegels bei peripherischen 
Verletzungen des Hypoglossus erst spat auftritt. Die meisten Au- 
toren erklaren dies aus der Langsamkeit, mit welcher der retrograde 
Degenerationsprozess sich in denjenigen Fasem entwickelt, welche 
aus Zellen des Hypoglossuskernes entspringen und zum Gaumen- 
segel ziehen. Tooth und Turner nahmen an, dass sie im Accessorius 
dorthin gelangen; Clarke, Bruce, Biancone und Mingazzini hin- 
gegen behaupteten, dass sie im Vagus verlaufen und speziell 
in jenen Fibrae suprareticulares enthalten sind, die aus dem 
ausseren Teile des Hypoglossuskems entspringen und im Bogen 
sich der Richtung des Wurzelstammes des Vagus und des Glosso- 
pharyngeus anschliessen. Dies wird von Staderini bestatigt, der 
nach einseitiger Exstirpation fand, dass der Wurzelstamm des 
Vagus sich in seinem Anfangsteile in zwei Biindel teilt, von denen 
das eine sich zum Vaguskem und das andere zum Hypoglossuskern 
wendet. Nun hat er feststellen konnen, dass das zweite Biindel 
auf derjenigen Seite intakt blieb, auf welcher der Kern des Hypo¬ 
glossus intakt war, und auf der entgegengesetzten Seite. wo der 
Kern infolge der Resektion des Nerven atrophiert war, vollstandig 
fehlte. Aus all dem kann man somit schliessen, dass am wahrschein- 
lichsten aus dem Kerne des Hypoglossus Fasem hervorgehen, die in 
Fibrae suprareticulares und dann in den Vagusstamm iibergehen. 

Nach dem bisher Gesagten begreift man leicht, wie infolge einer 
peripherenVerletzung (Ausreissung) des Hypoglossus ein atrophisch- 
degenerativer Prozess nicht nur in den Zellen des Hypoglossuskernes, 
deren Fasem im Nervenstamme verlaufen, sondern auch in den- 
jenigenZellen auftreten kann, deren Fasem auf einem anderen Wege 
sich zum Gaumensegel wenden. Und dies ist sehr wahrscheinlich, 
1. weil der atrophisch-degenerative Prozess des Kernes in der 
Gesamtheit desselben Emahrungsstorungen hervorrufen muss, 


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200 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 

denen sich auch die wenigen Zellen nicht entziehen konnen, die 
dazu bestimmt sind, dem Gaumen Fasem zuzusenden und die 
von denselben Blutgefassen versorgt werden; 2. weil sichere 
klinische und pathologisch-anatomische Tatsachen die Moglichkeit 
der Ausbreitung eines Degenerationsprozesses auf benachbarte 
Nervenabschnitte beweisen, wenn mit den letzteren ein funk- 
tionelles Zusammenarbeiten besteht, wie z. B. fiir Gaumensegel und 
Zunge. Nun haben wir bei unseren Tieren nie eine Storung im 
Bereich des Vagus und des Glossopharyngeus beobachtet (Stimm- 
bander, Gaumensegel intakt), imd dementsprechend erweisen sich 
auch die F. suprareticulares intakt. Wenn auch ein solcher Be- 
fund nicht absolut die Annahme der von Biancone, Staderini und 
einem von uns ( Mingazzini ) behaupteten Funktion der F. supra¬ 
reticulares beweist, so widerspricht er ihr doch wenigstens auch nicht. 

Alles dies lasst folglich die Annahme zu, dass fast alle Zellen 
des Hypoglossuskemes Wurzelfasem abgeben, und dass man be- 
ziiglich dieser Zellen drei Kategorien unterscheiden kann, und zwar: 
eine besonders die Peripherie einnehmende Kategorie, die aus- 
sehliesslich mit den lateralen Wurzelfasem des Hypoglossus in 
Verbindung steht; eine zweite, die ebenfalls Wurzelfasem und 
zwar die medialsten zum Hypoglossus schickt, aber in engerem 
Zusammenhange mit den letzten Verzweigungen der Projektions- 
fasem des entsprechenden contralateralen Rindenzentmms und mit 
den Endverzweigungen sensibler Bahnen steht, und eine dritte, die 
wahrscheinlich Gaumenlarynxfasem entsendet. 

Die Schlussfolgerungen, zu denen wir beziiglich der Wider¬ 
standsfahigkeit der verschiedenen Zellengmppen bei dem Affen 
und bei der Katze gelangt sind, scheinen in einem gewissen Gegen- 
satz zu den Versuchen Da Fanos zu stehen, der bei dem Kaninchen 
umgekehrt die zentralen Zellen lange vor den peripherischen 
degenerieren sah. Dabei ist jedoch zu erwagen, dass nach den 
Beobachtungen Kosaka- Yagitas die Veranderungen der Nerven- 
zellen des Hypoglossuskems dem Grade derVerletzung ihrer Achsen- 
zylinder und der der Widerstandsfahigkeit des Neurons parallel 
gehenden Innervation proportional sind. Der Meinung dieser 
beiden japanischen Verfasser nach ist nun die Widerstandsfahigkeit 
fiir samtliche Neurone ein und desselben Kernes nicht die gleiche 
und schwankt sehr ie nach der Tierspezies. Wir fiigen noch hinzu, 
dass die Beziehungen des Hypoglossuskemes, wie im allgemeinen 
irgend welcher Gruppierung homofunktioneller Zellen, auch bei 
verwandten Spezies sehr verschieden sein konnen. Man denke z. B. 
an die wichtige Bedeutung des Hypoglossus beim Menschen be- 
ziiglich der Sprachfunktion, man erinnere sich des verschieden- 
artigen Grades der Motilitat, den die Zunge beim Ochsen und 
beim Affen besitzt, um z. B. verstehen zu konnen, dass zwischen 
unseren Beobachtungen und denen Da Fanos kein Widersprucb 
bestehen muss. Auch ist es gewiss gestattet hervorzuheben, dass 
nach Djeloff und Kosaka- Yagita der Ramus descendens bei den 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglosaus. 


201 


Affen vorwiegend aus dem Cornu anterius entspringt, wahrend 
der entsprechende Zweig bei den Vogeln (Ramus laryngeus) aus 
dem Kerne des Hypoglossus hervorgeht. 

Mit dieser Frage steht eine andere in engem Zusammenhang, 
namlich ob in den verschiedenen Zellgruppen des Hypoglossus- 
kernes besondere, die Innervation bestimmter Zungenmuskein 
beherrschende Zentren vertreten sind. Namentlich mochten wir 
auch darauf hinweisen, dass die soeben bereits erwahnte Ansicht 
von Djeloff und Kosaka- Yagita, derzufolge der Ramus descendens 
hypoglossi bei dem Affen nur aus dem Cornu anterius, resp. aus 
dem entsprechenden Reste des Hypoglossuskemes entspringt, 
durch unsere Versuchsergebnisse insofem gestiitzt wird, als bei 
dem Inuus, bei dem die Resektion des Hypoglossus vor der Ansa 
ausgefiihrt worden war, samtliche Zellen in dem distalen Teile 
des Hypoglossuskemes gut erhalten waren. 

Hier miissen wir auf die klinischen und pathologisch- 
anatomischen Untersuchungen einiger Forscher hinweisen. Bei 
der Untersuchung der Oblongata eines von Zungenkrebs befallenen 
Mannes, bei welchem die Affektion gewisse Muskeln der Zunge voll- 
standig zerstort, andere hingegen mehr oder wenig verschont hatte, 
kamen Parhon und Goldstein zu dem Schlusse, dass die ausseren 
(lateralen) Zellen der Kemsaule des Hypoglossus die Muskeln des 
oberen und ausseren Zungengebietes (Mm. pharyngoglossus, 
amygdaloglossus, palatoglossus) innervieren. Diese Muskeln waren 
namlich in dem in Rede stehenden Falle besser erhalten, und die 
laterale Gruppe derNervenzellen des Hypoglossuskemes erwiessich 
als am w'enigsten verandert. DiesErgebnis wurde durch einen zweiten 
von Herm und Frau Parhon beschriebenen Fall in sehr bemerkens- 
werter Weise bestatigt und erganzt. Sie hatten Gelegenheit, die 
Schnittserie der Oblongata eines Mannes, welcher an einem Car¬ 
cinoma linguae gelitten hatte, zu untersuchen. Das Karzinom 
nahm in diesem Falle die obere aussere Gegend des Organs, der 
Basis zu, ein, d. h. gerade jene Gegend, die im vorher erwahnten 
Falle intakt geblieben war; in diesem zweiten Falle war nun 
gerade die aussere (laterale) Zellengruppe des Hypoglossuskemes 
am starksten verandert. Zu nicht ganz hiermit ubereinstimmenden 
Resultaten gelangt Hudovernig. Er behauptet auf Grund der 
Untersuchung; der Oblongata in einem Fall von partieller 
karzinomatoser Zerstorung der Zunge, dass die mittleren zwei 
Drittel der lateralen Zellgmppe des Hypoglossuskemes die Muskeln 
der unteren und ausseren Teile der Zunge innervieren. 

Uns scheint es, dass solche Schlussfolgerungen noch etwas 
verfriiht sind. Es ist nicht nur sonderbar, dass eine Zerstorung nicht 
identischer Muskelgruppen der Zunge (obere und aussere im Fall 
Parhon-Goldstein, untere aussere im Falle Hudovernigs) Ver- 
anderungen einer und derselben Zellengruppe, namlich der 
lateralen. verursachen soil, sondem vor allem, dass bei den von 
uns operierten Affen und Katzen es gerade die lateralen Zellen des 


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202 Mingazzini- Polimanti, Ueber die kortikalen 

Hypoglossus sind, welche wir gewohnlich, wie auch bei den Pa- 
tienten Hudovernigs und Parhons, am starksten getroffen finden. 
Diese auffallige Tatsache scheint una nur zu bestatigen, dass gerade 
die lateralen Zellen des Hypoglossuskemes es sind, die, wenn auch 
nicht zu besonderen Bewegungen, so doch sicher zu der lateralen 
Muskulatur der Zunge im allgemeinen in engerer Beziehung stehen. 

Eine ahnliche Folgerung ergibt sich aus unseren Versuchen 
beziiglich der trophischen Funktionen des Hypoglossuskemes. Nicht 
nur bei unseren an Resektion des Hypoglossus operierten Katzen 
und Affen, sondem auch bei den von Staderini in derselben Weise 
operierten Kaninchen und in ahnlichen Fallen beim Menschen 
(Marina) war fast ausschliesslich der vordere Teil der Zunge und 
vor allem die Zungenspitze atrophisch. Dies beweist, dass fiir 
die basale Halfte der Zunge nicht nur der Hypoglossus, sondem 
wahrscheinlich auch andere Nerven (Chorda tympani, N. facialis, 
N. glosso pharyngeus) trophische Funktionen ausiiben. Dies er- 
scheint um so begreiflicher, wenn man bedenkt, dass die Hebung 
der Zungenwurzel nicht nur durch die Tatigkeit des M. stylo¬ 
glossus, sondern auch durch den vom Facialis innervierten M. stylo- 
hyoideus und durch den M. glossostaphylinus zustande kommt, 
den einige als indirekt vom Trigeminus innerviert betrachten. 

Noch in einer anderen Beziehung ist der Zungenbefund 
beachtenswert. Bei der j ungen Katze war der Schwund der 
histologischen Zungenelemente, hauptsachlich der Muskelfasern 
bedeutend schwerer und ausgedehnter als bei den Affen und bei 
der erwachsenen Katze, obwohl die ausgefiihrte Operation und die 
nach derselben iiberlebte Zeit bei alien fast ungefahr die gleiche 
gewesen war. Bei dem Cercopithecus griseoviridis war sogar noch 
auf der kontralateralen Seite die Zerstorung des kortikalen 
Zungenzentrums hinzugekommen. Dies erklart sich leicht, wenn 
man bedenkt, dass bei dem Katzchen nicht so sehr eine Atrophie, 
als vielmehr eine Aplasie der Zungenmuskulatur vorliegt, da das 
Organ sich noch im Stadium des Wachstums befand. Die Tat¬ 
sache, dass die mehr medial gelegenen Muskelfasern auf der linken 
(operierten) Seite der Zunge bei den Tieren, namentlich bei dem 
Katzchen (Fig. 13), unversehrt geblieben waren, wahrend ungefahr 
drei Fiinftel der lateralen Muskelfasern fast vollstandig fehlten, 
zeigt einen direkteren Zusammenhang an zwischen diesem Teile 
der Muskelfasern und den verschwundenen (lateralen) Zellgruppen 
des Kerns. Dieser Befund ist, makroskopisch wenigstens, nicht neu. 
Ascoli wies darauf hin, dass bei der Hemiatrophia linguae der 
laterale Teil der atrophischen Zungenhalfte gewohnlich mehr 
getroffen ist als der mediale, und dass bei den Bildem der 
Hemiatrophia linguae der Tabiker eine bedeutendere Volum- 
abnahme speziell am ausseren Rand der Zunge besteht, so dass 
das ganze Organ wirklich eine halbmondformige Gestalt annimmt. 
Biancone fiigt hinzu, dass die Atrophie der Zungenhalfte in keinem 
seiner vier Falle von Hemiatrophia linguae gleichmassig war, doch 
konnte er sich davon iiberzeugen, dass dieselbe im allgemeinen im 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus. 


203 


lateralen Teile vorherrschte. Femer fiihrt er an, dass die raumliche 
Einschrankung des atrophischen Prozesses ohne Unterschied eben- 
sowohl in den Fallen von Verletzung des Hypoglossusstammes 
wie in den Fallen von Lasion der Wurzelfasern auftritt. Er kommt 
daher zu der Schlussfolgerung, dass eine teilweise Atrophie (d. i. 
der lateralen Halfte) der Zunge nicht ohne weiteres zugunsten 
einer Wurzellasion nnd gegen eine Lasion des Nervenstammes 
spricht, wie dies Dinkier meint; wenigstens miissten zu jenem 
Symptom noch andere hinzutreten, die fur einen an der Sehadel- 
basis lokalisierten Prozess sprechen. Unsere Beobachtungen 
sprechen im allgemeinen ebenfalls dafiir, dass die Atrophie der 
lateralen Zungenhalfte, resp. der Zungenspitze zugunsten der 
Annahme einer Verletzung des Nervenstammes zu verwerten ist. 
Dass femer die antero-laterale Halfte einer jeden Zungenhalfte 
verwiegend unter dem trophischen Einflusse des Hypoglossus, 
der iibrige Teil der Zunge unter demjenigen anderer Nerven steht, 
erhellt daraus, dass bei gleichzeitiger Verletzung anderer die 
Zunge innervierender Nervenkerne (Glossopharyngeus, Facialis), 
wie z. B. bei der amyotrophischen Lateralsklerose, die Aus- 
dehnung in der Langsrichtung, die Schwere und die Schnelligkeit 
der Atrophie der Zunge bei weitem erheblicher ist als in den 
Fallen von Verletzungen des Hypoglossus allein. Diese Anschauung 
wird auch durch die Tatsache unterstiitzt, dass in den schwereren 
Fallen von Pseudobulbarparalyse die Zunge vollstandig unbeweg- 
lich und wie fixiert auf dem Boden der Mundhohle liegt, so dass 
sie mit der Spitze die innere Seite der Schneidezahne streift. 
Bei dieser Krankheit nun gerade befallen die Krankheitsprozesse 
bisweilen in schwerer Weise nicht nur die zentralen Bahnen des 
Hypoglossus, sondem auch diejenigen des Facialis, des motorischen 
Trigeminus und zum Teil auch des Vagus. 

Wir konnen nicht umhin, auch kurz die feinen Veranderungen 
zu erwahnen, die das Muskelgewebe der Zunge erlitten hatte. 
In einem Falle von Hemiatrophie der Zunge infolge Resektion 
des Hypoglossus stellte einer von uns (Mingazzini) fest, dass viele 
Muskelfasem an Volumen abgenommen und die entsprechenden 
Sarkolemmkeme nicht nur anZahl zugenommen hatten,sondern sich 
auch reihenweise angeordnet hatten und sich auf dem Wege eines 
Fragmentierungsprozesses befanden; andere Muskelfasern waren 
geschwollen ,und innerhalb desSarkoplasmas fand sich eine brockelige, 
komchenartige Substanz in demselben Falle. Die Gefasswande 
wiesen eine deutliche Degeneration auf, und die Nerven waren 
atrophisch (d. h. die entsprechenden Fasem waren verschmalert 
und ihr Endoneurium verdickt); das Fettgewebe endlich hatte sich 
stark vermehrt und war vielfach an die Stelle der Muskelfasem 
getreten. Staderini konstatierte bei der histologischen Untersuchung 
der Zunge von Tieren, bei denen die Hemisektion der Zunge aus- 
gefiihrt worden war, dass die vertikalen Muskelbiindel numerisch 
sehr vermindert waren, dabei aber normale Dimensionen und 
normales Aussehen bewahrten, wahrend die Quermuskelfasern iiber- 

Monatsschrift fttr Psychiatrie and Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. 14 


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204 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen. 

haupt ungeschadigt waren. Auch wir konnen diese Beobachtung 
bestatigen; denn, und zwar ganz besonders bei der jungen Katze, bei 
der die Atrophie der Muskelfasem ausgepragter war, zeigte sich 
sehr deutlich auf der Seite der Operation ein Schwund der vertikalen 
Fasem (Fig. 13). Beziiglich der feineren Veranderungen der Muskel- 
biindel verweisen. wir im iibrigen auf die bereits weiter oben 
gegebene Beschreibung. 

Das Studium der Verbindungen des Hypoglossuskemes kann 
nicht von dem der dorsalsten Fibrae arcuatae intemae, welche 
ventral den Hypoglossuskem umzieben (Fibrae afferentes XII, 
Kranzfasem) getrennt werden. Die meisten Forscher waren der 
Meinung, dass diese die Endausbreitung der zentralen Hypo- 
glossusbahn vorstellen und aus der Hirnrinde und zwar speziell 
aus der unteren Stimwindung (bei dem Menschen) entspringen und 
weiterhin im Knie der inneren Kapsel, dann im zweiten Medial- 
fiinftel des Pes pedunculi und in der Pyramide verlaufen. 
Schliesslich sollen sie die Raphe kreuzen und zwischen den dor¬ 
salsten Fasem des hinteren Langsbiindels durchtretend, in zwei 
Biindelchen geteilt (Koch) als Fibrae afferentes im kontralateralen 
Hypoglossuskem endigen. Gegen diese Auffassung der Fibrae 
afferentes in dem Sinne zentraler Hypoglossusfasem sprechen 
verschiedene Tatsachen. Staderini fand sie bei Tieren, bei denen 
er den Hypoglossus einereeits reseziert hatte, stets gut erhalten. 
Auch in den Fallen von Hemiatrophia lingualis bei dem Menschen, 
in welchen Atrophie des Hypoglossuskemes bestand, wurden sie 
im allgemeinen intakt vorgefunden. So z. B. wiesen sie in dem 
von Biancone und mir mitgeteilten Fall von Hemiatrophia linguae 
keine nennenswerten Veranderungen auf. Ihre Intaktheit in solchen 
Fallen konnte wohl als ein geniigendes Argument betrachtet 
werden, um jeden Zusammenhang dieser Fibrae afferentes mit 
dem Hypoglossuskeme auszuschliessen. Indes hat schon einer von 
uns (Mingazzini) hervorgehoben, dass die Degeneration dieser 
Fasem offenbar von der.Degeneration der Pyramidenbahnfasem, 
deren Endigungen sie darstellen, abhangt. Ford erhob hiergegen 
den Einwand, dass nacb Exstirpation des Rindenzentrums der 
Zunge das entsprechende Pyramidenbiindel der Degeneration 
iiberhaupt nicht anheimfallt. Auf diese an sich logische Be- 
merkung Fords erwiderte einer von uns (Mingazzini), dass die 
von Ford operierten Tiere schon nach einer verhaltnismassig 
kurzen Zeit getotet worden sind; mankonne daher annehmen, dass 
die bezeichneten Fasem dem Degenerationsprozesse gegeniiber 
einen bedeutenden Widerstand leisten, und dass daher nach der 
Verletzung ihres Rindenzentrums ein sehr langer Zeitraum ver- 
treichen miisse, um Veranderungen in diesen Fasem zustande 
kommen zu lassen. Die Tatsache, dass bei alien von uns operierten 
Tieren die Fibrae afferentes XII intakt geblieben sind, erscheint 
immerhin ein geniigender Beweis dafiir zu sein, das3 diese 
Fasem mit dem Hypoglossuskem nichts zu tun haben. 
Namentlich ist die Tatsache beweiskraftig, dass auch bei dem 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus. 


205 


Cercopith. griseoviridis, bei welchem rechts die ganze kortiko- 
linguale Balm (einschliesslich rechts der Fibrae rectae der Raphe) 
vollstandig degeneriert war, trotzdem die Fibrae afferentes auf beiden 
Seiten vollstandig erhalten waren. 

Ein anderer noch strittiger Punkt betrifft die Bedeutung der- 
jenigen Fasem, welche Koch als Fibrae propriae nuclei hypoglossi 
bezeichnete. Bekanntlich verstehen die Neurologen hierunter das 
unentwirrbare Fasergeflecht, welches im Innem des Kernes samt- 
liche Raume zwischen den Zellen ausfiillt (Plexus ,,endonuclearis“, 

,.Plexus centralis") und ihn an seiner Peripherie in Gestalt einer 
weissen Kapsel umgibt; diese letztere ist besonders an der dorsalen, 
inneren und ausseren Flache (Plexus perinuclearis, Plexus peripheri- 
phericus, Markfeld von Oberstemer) sehr deutlich. Der Ursprung 
und die Bedeutung dieser Fasem war seit langer Zeit Gegenstand 
zablrcicher Kontroversen unter den Neurologen. Einige, wie 
Koch, meinten, dass sie als Auslaufer der Zellen des Hypoglossus- 
kemes dazu bestimmt waren, die verschiedenen Teile der Zellsaule 
des Hypoglossuskemes untereinander zu verbinden (daher auch 
der Namen ,,Fibrae propriae"). Gegen diese Auffassung spricht 
jedoch die Tatsache, dass Muller und Koch-Marie in einem Falle von 
Hemiatrophia linguae bei dem Menschen das Netz der Fibrae 
propriae auf der Seite, auf welcher der Kern vollstandig atrophisch 
war, erhalten fanden. Auch Forel, der verschiedene Kaninchen 
untersuchte, bei denen der Hypoglossus einerseits reseziert worden 
war, konnte keine Reduktion der Fibrae propriae auf der der 
Operation entsprechenden Seite wahmehmen. Ebenso fand Sladerini 
bei Kaninchen, Hunden und bei neugeborenen Katzchen, welchen 
er den Hypoglossus auf der einen Seite reseziert hatte, trotz 
volligen Untergangs der Ganglienzellen des Hypoglossuskemes 
das Netz der Fibrae propriae in der ganzen Lange des Kernes 
auch auf der Seite der Operation erhalten; dieser Befund war 
konstant und unabhangig von der Zeitdauer, wahrend welcher die 
Tiere nach der Operation gelebt hatten. Nach der Meinung anderer 
Autoren (z. B. Kolliker) sollen die Fibrae propriae vielmehr die 
Endigungen der kortiko-bulbaren Bahnen, d. h. der Fibrae afferentes 
darstellen (zentrale Bahn des Hypoglossus). Dies stimmt mit einem 
Befunde Turners und Bellochs iiberein, welche die Fibrae propriae 
in einem Falle normal oder fast normal fanden, in welchem die 
Zellen des Hypoglossuskemes und die Wurzeifasem total degeneriert 
waren wahrend einer von uns ( Mingazzini ) ihre Abwesenheit bei 
einem 8 monatlichen Fotus feststellte, bei dem die Pyramiden noch 
nicht markreif waren. 

Biancone hat einen vermittelnden Standpunkt eingenommen 
und sucht die erste Hypothese mit der zweiten zu vereinigen. 
Er nimmt an, dass die Fibrae propriae sowohl aus den Fibrae 
afferentes XII wie auch aus den Auslaufern der Nervenzellen des 
Hypoglossuskemes hervorgehen; sie wiirden also nicht nur die 
Endigungen der zentralen Bahn des Hypoglossus (Kdlliker), sondem 
auch Verbindungen zwischen den Zellen des XII-Kemes selbst 

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206 M ingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen 

(Koch) und den beiderseitigen Kemen untereinander darstellen. 
Die neueren Untersuchungen nach der Methode Golgis ergaben in 
der Tat, dass die Fibrae propriae XII zum kleinen Teile aus den 
Auslaufem der Zellen des Hypoglossuskemes, zum grossten Teile 
aber aus Verastelungen der Achsenzylinder der sogenannten Fibrae 
afferentes entstehen. Diesen doppelten Ursprung der Fibrae 
propriae einmal angenommen, folgt, dass eine Atrophie der Zellen 
des Hypoglossuskemes sekundar den Schwund der zugehorigen 
Zellfortsatze bedingen muss. Damit dieser eintritt, bedarf es nach 
Geronzi keines langen Zeitraumes. In seinem Falle von Hemi- 
atrophia linguae reichte in der Tat die Degeneration der Zellen 
des Kernes nicht einmal 2 Monate zuriick, und dennoch fand 
er, trotz Integritat der F. afferentes, bereits eine leichte aber 
merkliche Verminderung dieses Fasersystems. Es muss allerdings 
hervorgehoben werden, dass in seinem Falle die Degeneration des 
Hauptkemes des Hypoglossus, da dieselbe primar war, auch 
gleichzeitig die Zellen und die Fibrae propriae getroffen haben 
konnte, wahrend, wenn die Atrophie der Kemzellen sekundar 
nach einer Verletzung des Hypoglossusstammes auftritt wie im 
Falle von Biancone und Mingazzini, es eines langeren Zeitraumes 
bedarf, damit eine Atrophie der Fibrae propriae eintritt. Sodann 
fiigt Bianconi hinzu, dass der Schwund der Fibrae propriae, wenn 
er nur durch Zerstorung der Nervenzellen des Kll-Kemes ent- 
steht, leicht iibersehen werden kann, da er stets nur einige wenige 
Fasem betrifft. Dies ist vielleicht auch der Grund, warum er in 
manchen Fallen von primarer und sekundarer Erkrankung des 
XII-Kemes vermisst worden ist (Koch, Marie, For el, Turner und 
Staderini). Die vorausgegangenen Erwagungen lassen auch er- 
kennen, warum dieser Schwund ausgepragter sein muss, wenn die 
Fibrae afferentes XII befallen sind, die den hauptsachlichsten 
Bestandteil der Fibrae propriae darstellen, und den hochsten 
Grad erreichen muss, wenn eine gleichzeitige Zerstorung der Fibrae 
afferentes und der Zellen des Hypoglossuskemes besteht. Dies 
zeigt sich in dem Falle von Sclerosis lateralis amyotrophica, den 
einer von uns ( Mingazzini) beschrieben hat, in welchem gleich¬ 
zeitig vollstandige bilaterale Degeneration der Fibrae afferentes 
und der Ganglienzellen des Hypoglossuskemes bestand. 

Gegner der vorstehenden Lehre ist Schiitz (dem sich Staderini 
anschliesst). Schiitz behauptet, dass die Fibrae propriae einen Teil 
eines grossen Fasersystems bilden, dem er die Bezeichnung ,,dor- 
sales Langsbiindel“ beilegt. Dies System ware nicht auf das Gebiet 
des Nucleus hypoglossi beschrankt, sondem soli sich viel weiter, 
namlich von der Commissura mollis bis zur Pyramidenkreuzung 
erstrecken. 

Bevor wir unsere Befimde zu Hiilfe ziehen, scheint es geboten, 
besonders die Definition der Fibrae propriae XII zu erwagen. Sie 
umfassen namlich nach Obersteiner sowohl den Plexus perinuclearis 
als auch die endonuklearen Fasem. Andere Autoren sind jedoch 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus. 


207 


nicht dieser Meinung, denn einerseits meinen Koch, Staderini und 
Forel, wenn sie von den Fibrae propriae sprechen, stets (wie aus den 
Erlauterungen ihrer Abbildungen und aus den von ihnen gegebenen 
Definitionen hervorgeht) den Plexus perinuclearis, andererseits 
haben Biancone, Mingazzini u. A. unter Fibrae propriae XII das 
eWonukleare Geflecht verstanden. Dies Missverstandnis hat zu 
unerquicklichen Diskussionen Anlass gegeben. So ist es begreiflich 
dass wir von Anfang an die Notwendigkeit gefiihlt haben, das 
perinukleare von dem endonuklearen Geflecht zu unterscheiden. 
In der Tat stimmt namlich das Verhalten des perinuklearen und 
endonuklearen Geflechts in Fallen sekundarer oder primarer 
Atrophie resp. Degeneration der Ganglienzellen des Hypoglossus- 
kernes nicht iiberein. Aus unseren Befunden ergibt sich, dass gerade 
das perinukleare Geflecht bei den beiden Katzen und samtlichen 
operierten Affen erhalten war. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass, 
im Einklange mit den Ansichten von Schiitz, das perinukleare 
Geflecht wenig oder nichts mit den Zellen des Hypoglossuskemes 
zu tun hat; was iibrigens auch aus Sagittalschnitten durch den Kern 
des Hypoglossus bei dem Menschen hervorgeht, wie einer von uns 
(Mingazzini ) kiirzlich nachgewiesen hat. Ganz anders ist das Ver- 
balten der Fasem des Plexus endonuclearis bei unseren operierten 
Tieren. Dieselben waren in der ganzen Ausdehnung des Hypoglossus¬ 
kemes bei den von uns operierten Katzen und Affen rarefiziert, mit 
Ausnahme des Inuus, bei dem die Rarefizierung nur im distalen Ab- 
schnitt und in der Nahe der Peripherie festgestelltwurde. Letzteres 
ist urn so wichtiger insofem, als gerade bei diesem Affen die Zellen des 
Hypoglossuskemes im Vergleich mit den anderen weniger gelitten 
hatten. Bedenkt man nun, dass das System der Fibrae afferentes 
bei alien diesen Tieren unversehrt und die Rarefizierung des endo¬ 
nuklearen Geflechts verhaltnismassig gering war, so ist es ausser 
Zweifel, dass wenigstens ein Teil der endonuklearen Fasem von Ver- 
astelungen der Zellfortsatze des Hypoglossuskemes abzuleiten ist. 
Da nun der Faserschwund des endonuklearen Geflechtes bei dem 
zentral und peripher operierten Cercopithecus griseoviridis viel er- 
heblicher war als bei den anderen, ausschliesslich peripher operierten 
Tieren, so muss man schliessen, dass auch die Endverastelungen 
der Fasem der zentralen Hypoglossnsbahn sich an der Bildung dieses 
Plexus beteiligen. Auch bei diesem Tiere war jedoch noch ein Teil 
der Fasem des in Rede stehenden Geflechts unversehrt, und man 
kann als wahrscheinlich betrachten. dass dieser Teil mit den noch 
erhaltenen XII-Kemzellen in Verbindung steht. 

An der Bildung der Fasern des Plexus endonuclearis miissen 
sich also drei Klassen von Fasem beteiligen, die den Endigungen 
ebensovieler Fasersysteme entsprechen. Ein Teil steht im unmittel- 
baren Zusammenhange ausschliesslich mit den Wurzelfasem 
des N. hypoglossus; ein anderer Teil steht in Verbindung nicht nur 
mit den Wurzelfasem des Hypoglossus, sondem auch mit den End¬ 
verastelungen der Fasem der zentralen Bahn dieses Nerven; 
cine dritte Klasse endlich steht wahrscheinlich mit jener Gruppe 


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208 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikaien 


von Hypoglossuszellen in Verbindung, die selbst nach Aufhebung 
jeder Verbindung mit den Wurzelfasem und der zentralen Bahn 
noch erhalten bleibt, und die, wie wir bereits erwahnten, von sen- 
siblen Bahnen und vielleicht auch vom Vagus abhangig ist. Dies 
stimmt iibrigens auch mit dem iiberein, was uns das Studium der 
Markreifung des in Rede stehenden Gebietes lehrfc; wahrend in 
einem ersten Zeitabschnitte (wenigstens bis zum ersten Monat des 
extrauterinen Lebens) nur die Wurzelfasem und einige Fasern des 
endonuclearen Geflechts gut markhaltig sind, geht in einer zweiten 
Periode (vom 5. Monat des extrauter. Lebens ab), wie sich aus den 
kiirzlich von Mingazzini veroffentlichten Beobachtungen ergibt, 
die Markumhiillung der iibrigen Fasem des endonuklearen Ge¬ 
flechts vor sich, d. h. derjenigen Fasem, die der zweiten Klasse 
der Nervenzellen des Hypoglossuskemes entsprechen. 

Auch das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit der atro- 
phischen Zungenhalfte hat bereits wiederholt Beachtung gefunden. 
In drei von den vier von Biancone beschriebenen Fallen von 
Hemiatrophia linguae wurde eine einfache Herabsetzung der 
elektrischen (direkten und indirekten) Erregbarkeit in der atrophi- 
schen Zungenhalfte festgestellt. Auch bei dem vierten Patienten 
Wiersmas, bei welchem der Hypoglossus durch den Drack einer 
geschwollenen Lymphdriise in Mitleidenschaft gezogen war, fand 
sich keine Entartungsreaktion der Muskulatur derZunge. Hingegen 
in einem anderen Falle Biancones und in den Fallen von Bernhardt , 
Erb, Brugia, Montesano , Dinkier, Marina und im 5., 6., 7. Falle 
Wiermas fand sich Entartungsreaktion der atrophischen Zungen¬ 
halfte. Dies hangt nach Biancone von der Tatsache ab, dass die 
Hypoglossuslahmung nicht immer schwer genug war, um im Nerven 
und in den Muskelfasem der Zunge denjenigen Prozess hervor- 
zurufen, der die anatomische Basis fiir die Entartungsreaktion 
bildet. In der Tat war in einem der Falle Biancones der Hypo¬ 
glossus nicht durchschnitten, sondem nur in Narbengewebe ein- 
gebettet und geschrumpft; daher ist anzunehmen, dass vieleNerven- 
fasem und folglich auch viele Muskelfasem unverandert geblieben 
waren. Die mikroskopische Untersuchung der Zunge zeigte auch 
wirklich in seinem Falle, dass nur wenige Muskelfasem der Zunge 
geschwunden oder degeneriert waren. 

Bei unseren Versuchstieren war das elektrische Verhalten 
der atrophischen Zungenhalfte nicht gleichformig, denn bei zwei 
Affen(Cercoc. fulig., Inuus caud.)wardie elektrische Erregbarkeit in 
der atrophischen Halfte herabgesetzt, bei dem Cercopith. griseo- 
viridis und bei Cercop. patas zeigte sich schon nach 3 Monaten 
partielle Entartungsreaktion, die bis zum Tode fortbestand. Dieses 
verschiedenartige Verhalten kann von keinem der Operation selbst 
anhaftenden Moment abhangen, denn bei den beiden letzten Affen 
war die Ausreissung des zentralen Stumpfes des Nerven hinter 
der Ansa vorgenommen worden, ganz ebenso wie bei dem Cerco- 
cebus fuliginosus. 


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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus. 


209 


Das Studium der Serienschnitte des Gehims des Cercop. 
griseoviridis wirft etwas Licht auf den Verlauf der zentralen Hypo- 
glossusbahn. Schon oben haben wir die infolge der Exstirpation 
des (rechten) kortikalen Zentrums des Hypoglossus degenerierten 
Abschnitte in der inneren Kapsel, im Pes pedunculi, im Biindei 
von der Schleife zum Fusse, in den Pyramidenbiindeln der Briicke 
und in der Pyramide beschrieben. Der Schluss, dass dies 
Degenerationsgebiet ausschliesslich der zentralen Bahn des Hypo¬ 
glossus entspricht, wiirde natiirlich nur zulassig sein, wenn die 
Exstirpation sich wirklich genau auf die Rinde des Gyrus frontalis 
lateralis und seinen Stabkranz beschrankt hatte. Dies war nieht 
der Fall, die Lasion erstreckte sich vielmehr auch auf den vorderen 
Schenkel der inneren Kapsel und das Putamen. Trotzdem geben 
uns einige indirekte Argumente das Recht zu behaupten, dass die 
soeben angegebene Bahn fast ausschliesslich der Leitung der 
zentralen Impulse des kortikalen Zungenzentrums dient. In erster 
Linie sprechen hierfiir Griinde der Analogie. Bei dem Menschen 
nimmt die zentrale Hypoglossusbahn das dorsale Drittel des 
vorderen Segmentes der inneren Kapsel ein, gelangt dann (als 
Tractus corticobulbaris) in den medialen Teil des Pes pedunculi 
medial vom Facialisbiindel, wendet sich von hier zur medialen 
Schleife und steigt endlich langs der Raphe zum Hypoglossuskem 
der entgegengesetzten Seite auf. Wie man sieht, ist diese fiir den 
Menschen angegebene Bahn mit Ausnahme der Strecke in der 
inneren Kapsel mit der von uns gefundenen degenerierten zen¬ 
tralen Bahn der Zunge des Cercopithecus griseoviridis identisch. 

Zweitens miissen wir einige anatomische Beobachtungen von 
Flatau an Affen beriicksichtigen, denen einzelne motorische Rinden- 
zentren mit Ausnahme des kortikalen Hypoglossuszentrums ex- 
stirpiert worden waren. Die Ergebnisse unserer Ver3uche stimmen 
nun mit denjenigen Flataus sehr gut iiberein, insofern wir eine De¬ 
generation gerade derjenigen Biindei der motorischen Bahn fanden, 
welche in den Versuchen Flataus von der Degeneration verschont 
geblieben waren. Flatau fand namlich nach Exstirpation des 
kortikalen Halszentrums, dass in der inneren Kapsel bald die 
unteren Fasem des vorderen Schenkels, bald samtliche Fasem des 
oberenTeilesder inneren Kapsel degeneriert waren; nachExstirpation 
des kortikalen Zentrums der Vorderpfote fand er entweder den 
dorsalen Teil des hinteren Schenkels oder den ganzen hinteren 
Schenkel der Kapsel degeneriert; endlich nach Exstirpation des 
Rindenzentrums des Hinterbeins fand er Degeneration des dorsalen 
Abschnittes der inneren Kapsel in ihrer ganzen Ausdehnung. In 
unserem Falle hingegen waren im Niveau des Kapselknies die 
Fasem des ventralen Drittels und im Niveau des vorderen 
Schenkels der inneren Kapsel die laterale Halfte des ventralen 
Drittels degeneriert; gerade dieser Teil der Kapselfaserung war 
in alien Versuchen Flataus mit Ausnahme des ersten unversehrt 
geblieben, und eben bei diesem ersten Versuch hatte die Operation, 
wie man aus den Abbildungen Flataus ersieht, zum Teil auch 


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210 Mingazzini - Polimanti, Ueber die kortikalen 

das Hypoglossuszentrum getroffen, und dementsprechend waren 
im Niveau des Knies der Capsula interna die Fasem des ventralen 
Viertels derselben degeneriert. 

Was den Pes pedunculi betrifft, so fand Flatau nach Ex- 
stirpation des Rindenzentrums des Vorderbeins Degeneration im 
lateralen Teile des Pes, nach Exstirpation des Halszentrums 
Degeneration bald im mittleren, bald mehr im medialen Teile des 
Pes, wahrend wir proximalwarts die Fasem des zweiten medialen 
Sechstels und distalwarts einen Teil der im medialen Fiinftel 
desselben verlaufenden Fasem degeneriert fanden. Die Abbil- 
dungen Flataus zeigen femer, dass im Pons bei seinen Versuchen 
nur die medialen Biindel der Pyramidenbahnen auf der Seite 
der Exstirpation von der Degeneration verhaltnismassig verschont 
geblieben waren, also gerade diejenigen, die in unserem Falle fast 
vollstandig degeneriert waren. Man konnte annehmen, dass die 
Degeneration des medialen Abschnitts des Pes und der medialen 
Pyramidenfasem der Briicke in unserem Falle nicht nur auf die 
zentrale Hypoglossusbahn, sondern auch auf die frontocerebellare 
Bahn zu beziehen ware, die nach Mingazzini in den medialen und 
ventromedialen Biindeln der Briickenpyramide verlauft. Indessen, 
wenn dies der Fall ware, so hatten wir in der Briicke Schwund 
eines bedeutenden Teiles der Zellen und der Fasem des homo- 
lateralen paramedialen Gebietes und der kontralateralen Fasem 
des Stratum superficiale und profundum finden miissen. Dies war 
nicht der Fall, vielmehr fehlte in dem paramedialen Gebiete mit 
Ausnahme des Schwundes einiger Nervenzellen irgend welche 
Veranderung; die fronto-cerebellaren Bahnen konnen also nur in 
sehr geringem Masse verletzt gewesen sein. 

Was das Biindel von der Schleife zum Fusse betrifft, so ist 
beach tens wert, dass in diesem der mediale Teil vollstandig de¬ 
generiert war. 

Endlich waren in der rechten Pyramide des Cercopith. griseo- 
viridis die dorso-medialen Biindel degeneriert, d. h. gerade die, 
welche in den entsprechenden Figuren Flataus gut erhalten sind. 

Man kann also auch per exclusionem behaupten, dass im all- 
gemeinen in der inneren Kapsel, im Fuss, in den Pyramidenbiindeln 
der Briicke und der Oblongata der von uns operierten Tiere gerade 
diejenigen Fasem fast vollstandig degeneriert waren, die Flatau 
bei Exstirpation der Rindenzentren fur Extremitaten und Nacken 
besser erhalten fand. 

Ein Punkt, den wir noch besonders hervorheben mochten, 
ist folgender: Die Fibrae afferentes des Hypoglossuskerns wurden 
bei keinem von uns operierten Tiere verandert gefunden, nicht ein- 
mal bei dem Cercop. griseoviridis, der peripher und kortikal operiert 
worden w'ar. Dies weist darauf hin, dass diese Fasem nicht nur mit 
der peripherischen Bahn, sondem auch mit der zentralen Bahn des 
Hypoglossus nichts zu tun haben. Es ware in der Tat sehr be- 
fremdend, dass die Degeneration dieser Bahn bei dem Cercopith. 


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Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologie. Bd. XXVH. 







JMJM 


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I 


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und bulbiiren Verbindungen des Hypoglossus. 


211 


griseoviridisgeradebei den Fibrae rectaeder Raphe Halt gemachtund 
nichtbis zu den distalstenEndigungen fortgeschritten ware, wahrend 
der Hypoglossuskem selbst unter dem Einfluss der Rinden- 
abtragung Veranderungen erfahren hat. Es ist also nicht unwahr- 
scheinlich, dass die Fibrae rectae der Raphe, sich etwas nach aussen 
verschiebend, mitten in der Formatio reticularis alba emporsteigen 
und mit den Wurzelfasem in den XII-Kern eindringen. Wir 
hoffen, dass weitere Forschungen etwas mehr Licht in diese Frage 
bringen werden. 

Mit der Frage der Verbindungen zwischen der Rinde und den 
Kemen des Thalamencephalon hangt die Frage der Beziehungen 
des Corpus Luysii eng zusammen. Es ist bekannt, dass dasselbe 
direkte Verbindungen zum Teil mit der Hirnrinde und zum Teil 
mit der Ansa nuclei lenticularis hat; letztere tritt anscheinend 
mit den ventralen Zellen des Corpus Luysii in Verbindung, wahrend 
andere Fasem der Ansa in die Markkapsel desselben ziehen 
(Monakou'). Da in unserem Falle die Nervenzellen des medialen 
Drittels des Corpus Luysii schwer degeneriert waren, so ist an- 
zunehmen, dass zu dem Reste der Zellen (d. h. den mittleren und 
lateralen) des Corpus Luysii Fasern ziehen, die direkt von dem 
latero-posterioren Teile der konvexen Oberflache des Lobus fron¬ 
talis, d. h. dem von uns bei dem Cercopithecus griseoviridis 
exstirpierten Gebiete stammen. 

Wir diirfen nicht schliessen, ohne noch einen wichtigen Punkt 
beziiglich der Verbindungen zwischen dem Thalamus und der 
Grosshimrinde zu beriihren. Nach Monakou • entwickelt sich nach 
Exstirpation des Lobus prafrontalis (sowohl bei dem Menschen wie 
beim Affen) eine sekundare Degeneration im medialen Teile 
des Pes pedunculi (der sogenannten frontalen Briickenbahn), 
ausserdem im Nucleus anterior und medialis des Thalamus, und 
teilweise auch im vorderen Teile des Nucleus lateralis thalami. 
Da bei dem zentral und peripher operierten Cercopithecus griseo¬ 
viridis der Nucleus anterior unversehrt, hingegen der Nucleus 
medialis und der dorsale Teil des Nucleus lateralis thalami stark 
degeneriert waren, so kann derNucleus anterior thal. nichts mit dem 
exstirpierten Teile des Lobus frontalis zu tun haben. Was den 
Nucleus medialis und lateralis thal. betrifft, ware es nicht zulassig, 
ihre Degeneration ausschliesslich der Exstirpation des G. frontalis 
lateralis zuzuschreiben, da bei der Operation auch das frontale Ende 
der inneren Kapselund ein(obgleich unbedeutender)Teil des Nucleus 
lentiformis (Putamen) zerstort worden war. 

Erklarung der Abbildungen auf Taf. XIII — XVI. 

Durchgehende Bezeichnungen: n. XII. Hypoglossuskem, pp Plexus 
perinuclearis; pe Plexus endonuclearis. — f. XII. Wurzelfaaem des Hypo¬ 
glossus; D. rechts, — S. links, — faff (sogenunnte) Fibrae afferentes XII, 
fc (sogenannte) Fibrae eonnnissurules nucleorum hypoglossi. 


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212 Mingazzini-Polimanti, Ueber den kortikalen 


Fig. 1. Photogramm der rechfcen Grosshirnhemisphare dee Cerco- 

E i thee us griseoviridis: Zerstorimg dee unteren Drittele dee G. frontalis 
tteralis. 

Fig. 2. Schema derselben Hemisphere, um das Lasionsgebiet scharf er 
hervorzuheben. 

Fig. 2 bis. Gercop. griseoviridis. Photogramm eines durch den hinteren 
Toil dee G. frontalis lateralis gefiihrten Frontalschnittes. Rechte sieht man 
die Zerstbrung dee G. frontalis lateralis, die sich bis zum vorderen Ende 
dee Nucleus lentiformis erstreckt. 

Kg. 3. Cercopith, griseoviridis . Photogramm eines durch den mittleren 
Teil dee Pee pedunculi gefiihrten Frontalschnittes (Farbung nach Pal). Im 
rechten Pee pedimeuli bemerkt man ein vorwiegend auf das zweite mediale 
Sechstel beschranktes Degenerationsgebiet. 

Fig. 8 bis. Cercopith. griseoviridis. Frontalschnitt cm der Grenze von 
Briicke imd Himschenkel. Rechte sieht man das Biindel ,,von der Haube 
zum Fusse“ und das dorsomediale Biindel der Pyramidenbahnen degeneriert. 

Fig. 4. Cercopithecus griseoviridis. Ausreiesung des linken Nervus 
hypoglossus. Frontalschnitt der Oblongata an der Grenze des distalen 
und des dritten Drittels des Hypoglossuskems. Rechte sieht man die 
Degeneration der dorsomedialen Fasem (p) der Pyramide; ausserdem sind 
auf dieser Seite fast samtliche Fibrae rectae der Raphe (fr) verschwunden. 
Links hat derHypoglossuskern an Volumenverloren, der Plexus endonuclearis 
isterheblich rarefiziert,vieleZellendesHypoglossuskemee sindverschwunden, 
besonders die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; besser erhalten, 
wenn auch atrophisch, sind die im Zentrum gelegenen. 

Fig. 5. Cercopith. griseoviridis. Dorsomedialer Teil eines Frontal¬ 
schnittes im Niveau des mittleren Teiles des Hypoglossuskems. Links er- 
scheint das Gebiet des Hypoglossuskemes um ungefahr x /, verkleinert, 
nur wenige Zellen sind erhalten, und diese fast alle geschrumpft; der Plexus 
endonuclearis ist stark rarefiziert, die Wurzelfasern des Hypoglossus, be¬ 
sonders die lateralen sind zum Teil verschwimden. Die anderen Formationen 
sind beiderseits gut erhalten. 

Fig. 6 . Cercopithecus patas. Ausreissung des linken Nervus hypo¬ 
glossus. Dorsomedialer Teil eines Frontalschnittes im Niveau des distalen 
Drittels des Hypoglossuskemes (Farbung nach^Pal und mit Fuchsin). Links 
ist der Plexus endonuclearis rarefiziert, viele^Nervenzellen des Hypoglossus¬ 
kemes und zwar besonders die lateralsten, und auch viele zentrale sind 
verschwimden, besser erhalten sind die medialen. Die Fibrae afferentes, 
die Fibrae commissurales und der Plexus perinuclearis sind auf beiden 
Seiten gut erhalten. 

Fig. 7. Gercop . pcUas. Schnitt wie oben, im Niveau des mittleren Teiles 
des Hypoglossuskemes. Man bemerkt links ungefahr die gleichen Ver- 
anderungen wie in vorhergehender Figur; ausserdem sind von den Zellen 
des Hypoglossuskemes diejenigen besonders atrophisch oder verschwunden, 
welche an der dorsolateralen Peripherie liegen. 

Fig. 8 .. Cercocebus fuliginosus. Ausreissung des linken Nervus hypo¬ 
glossus. Teil eines Schnittes wie oben, im Niveau des mittleren Teiles des 
Hypoglossuskemes (Farbung Pal-Fuchsin). Die Fibrae afferentes des 
Hypoglossuskemes sind beiderseits wenig sichtbar; die Fibrae commissurales 
und der Plexus perinuclearis sind beiderseits gut erhalten. Links sind 
der Plexus endonuclearis und die lateralsten Wurzelfasern des N. hypo¬ 
glossus zum grossen Teile verschwunden; die peripherischen Nervenzellen 
sind fast alle verschwunden, die zentralen zum grossen Teile geschrumpft. 

Fig. 9. Inuus caudatus. Ausreissung des linken Nervus hypoglossus. 
Schnitt wie oben im Niveau der mittleren Teile des Hypoglossuskemes. 
Links bedeutender Schwund der Zellen des Hypoglossuskemes; am meisten 
betroffen sind die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; der Plexus 
endonuclearis ist etwas rarefiziert, imd zwar seinem lateralen Rande 


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Monatsschrift fiir Psychiatrie und Neurologie . Bd. XXV11, 


Mingazzini-Polimanti 


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Fig. 10. 






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und bul baron Verbindungen des Hypoglossus. 


213 


entsprechend; die lateralsten Wurzelfasern sind verschwunden. Die anderen 
Formationen (Fibrae oommissurales und die F. afferentes XII) sind beider- 
seits gut erhalten. 

Fig. 10. Erwaohsene Katze. Ausreissung des linken Nervus hypo- 
gloasus h in ter der Ansa. Teil eines Sohnittes wie oben, im Niveau des 
distalen Drittels des Hypoglossuskemes (Farbung Pal-Fuchsin). Im 
Hypoglossuskern sieht man links, dass die dorsolateralen ZeUen zum Teil 
verschwunden sind; di zentralen und die lateralen des ventralen Poles 
sind besser erhalten, doch fast alle geschrumpft. Der Plexus perinuclear is 
und die Wurzelfasern sind zum Teil rarefiziert. Die Fibrae afierentes und 
die Fibrae (fco) commissurales XII sind beiderseits unversehrt. 

Fig. 11. Erwachsene Katze. Schnitt wie oben, im Niveau des mittleren 
Teiles des Hypoglossuskemes. Im linken Hypoglossuskern sind die Ganglien- 
zellen des Zentrums und einige der medialen und ventralen Peripherie zum 
ffuten Teil erhalten; die dorsolateralen sind verschwunden oder haben an 
volumen verloren. Die iibrigen Teile verhalten sich wie in der vorher- 
gehenden Figur. 

Fig. 12. Junge Katze. Ausreissung des linken Nervus hypoglossus 
hinter der Ansa. Frontalschnitt wie oben, an der Grenze des mittleren 
und distalen Drittels des Hypoglossuskemes. Links: Der Plexus 
endonuclearis ist fast vollstandig verschwunden; von den Kemzeilen dea 
Hypoglossus sind viele, und zwar besonders die peripherischen, vollstandig 
zerstort; die anderen, also die zentralen und auch die ventralen, sind blass 
und haben wenig scharfe Konturen. Die Fibrae afferentes XII und der 
Plexus perinuclearis sind gut erhalten. Von den Wurzelfasern sind die 
lateralen verschwunden. 

Fig. 18. Junge Katze. Frontalschnitt des vorderen Abschnittes der 
Zunge (Farbung mit Hamatoxylin). fm Muskelfasem, die auf der linken 
Seite (S) zum grossen Teile, besonders in dem ventralen Teile der lateralen 
drei Viertel atrophiert (fm) oder verschwunden sind; man vergleiche die- 
selben mit den gut erhaltenen der rechten Seite. Die feinen im Texte be- 
8chriebenen Verander ungen sind bei dieser Vergrosserung nicht sieht bar. 


Literature Verzeichnis. 

Ascoli, SulT emiatrofia della Hngua. H Policlinico 1894. 

Ballet et Marinesco , Note sur les lesions de l’hypoglosse cons^cutives a 
l’arrachement du nerf. Bull. Soc. m&l. d. Hopitaux, Paris, 17 Mars 1898. 
Biancone , Contributo alio studio dell’emiatrofia della lingua. Vol. XXIX, 
fasc. I—II. Riv. sperim. di Freni atria. 

Cayal , Meccanismo de la regeneracion de los nervios. Trab. Labor. Invest. 
Biol. Fase. 3, 1905. 

Da Fano 9 Feine Strukturveranderungen der motorischen etc. Archiv 
fiir pathol. Anatomic 1908. 

Fod 9 Sulle alterazioni delle cellule del nucleo di origine in seguito a taglio 
o strappamento dell’ ipoglosso. Riv. di patol. nervosa, vol. IV. 1899. 
Forel 9 Ueber das Verhaltnis der experimentellen Atrophio. 1891. Zurich. 
Flatau , Ueber die Pyramidenbahnen. Lemberg 1906. 

Oehuchten, L'anat. fine de la cellule nervenso. La Cellule. Vol.XIII. pag. 3 (3). 
Qeronzi , Contrib. alio studio delle paral. bulb. unil. Bull. Soc. Lane. 
Ann. XVI. 

Kosako und Jagita f Jahrb. f. Psych, und Neurol. Untersuchungen etc. 
Vol. XXIV. 1903. 

Hudovemig , Zur Anatomie des peripheren Hypoglossus. Journal f. Psych. 

und Neurol. IX. 1907. Neurol. Bl. 1908. p. 626. 

RtiUiker, Handbuch der Gewebelehre. Leipzig 1893. Bd. II. 

Obersteiner, Anleitung beim Studium der nervosen Zentralorgane. Leipzig 
1896. 


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214 Bornstein-Ovon, Untersuchungen 

Mingazzinl , Intomo alle origini del nervus hypogl. Annali di Freniatria, vol. 
I, fasc. 4. 

Derselbe, Osservazioni cliniche ed anatomiche sull’emiatrofia della lingua. 

Arch. ital. di otologia. Anno 1896. Vol. IV. 

Derselbe, Osservaz. morfolog. sul nucleo dell’ipogl. Arch. d. fisiol. Vol. VII. 
Monakow , Gehimpathologie. Nothnagel’s. spec. Pathol, u. Therapie. II. Aufl. 
1905, Wien. 

Porhon un dGoldstein, Lesions second, dans les cellules du noyau de Thypoglosse. 
Romaine m&iic. Avril 1900. 

Derselbe, Sur Torigine de la branche descend, de Thypogl. Romaine m&licale 
1899. 

Parhon , M. et Mm., Contribution a Tetude des localisations dans le noyau 
do l’hypogl. Revue Neurol. 1903. p. 461. 

Staderini , Ricerche speriment. sopre l’origine reale del nervo ipogloss. Intern. 

Mon. f. Anat. u. Phys. 1895. Bd. 12. H. 4. 

Derselbe, Le fibrae propriae etc. Monit. zool. ital. 1897. 

JSchtUz , Anatomische Untersuchungen iiber den Faserveilauf etc. Archiv 
f. Psych. Bd. 22. 

Wiersma , Falle von Hemiatr. linguae. Neurol. Blatt. 1899. No. 18. 


(Aus dem Stoffwechsellaboratorium der Kgl. Univereitats-Nervenklinik 

Gottingen.) 

Untersuchungen iiber die Atmung der Geisteskranken. 

III. Teil. Weitere Beobachtungen iiber den Energieumsatz 

der Hebephrenen. 

Von 

Dr. med. A. BORNSTEIN und Dr. phil. v. OVEN. 

Vor einiger Zeit hatte der eine von uns iiber Versuche be- 
richtet 1 ), aus denen hervorzugehen schien, dass bei einer Anzahl 
— nicht bei alien — Hebephrenen eine Verminderung des Umsatzes 
chemischer Energie besteht, die in Form von Warme bei der Ver- 
brennung von Eiweiss, Fett und Kohlehydraten frei wird und die 
man am einfachsten aus dem respiratorischen Stoffwechsel, aus 
der Produktion der Kohlensaure und der Assimilation des Sauer- 
stoffs berechnet. Als Massstab wurde dabei der ,,Grundumsatz“ 
der Versuchsperson (auch Erhaltungsumsatz genannt) angenommen, 
d. h. der Umsatz des niichternen Menschen (10—15 Stunden nach 
der letzten Mahlzeit) bei vollstandiger Korperruhe, gemessen mit 
dem Zwn/zschen Respirationsapparate. 


1 ) Monateschr. f. Psych, und Neurol. Bd. 24. S. 392 ff. 


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uber die Atmimg der Geisteskranken. 


215 


Es erschien wiinschenswert, die begonnenen Versuche nach 
mehreren Gesichtspunkten fortzufiihren. Zuerst muasten die damals 
gemachten Beobachtungen natiirlich bestatigt werden, was um so 
notiger erschien, als Frenkel-Heulen bei drei von ihra untersuchten 
Fallen diese Storung nicht hatte finden konnen. Dies beweist 
zwar nichts gegen die Richtigkeit der friiheren Versuchsreihen — 
denn auch wir batten derartige Hebephrenen und Katatoniker 
mit normalem Stoffwechsel gefunden —, spricht aber jedenfalls 
nicht gerade zu ihren Gunsten. Wenn wir nun auch subjektiv 
davon iiberzeugt waren, dass unsere Versuchstechnik einwandfrei 
war und ein Irrtum bei unseren zahlreichen Beobachtungen 
auszuschlieasen war, so erschien es uns doch erforderlich, wenigstens 
an einem unserer Kranken die erhaltenen Resultate von auto- 
ritativer Seite bestatigen zu lassen. So wandten wir uns denn 
an Herm Prof. Adolf Lowy in Berlin, dessen Kompetenz in diesen 
Fragen nicht bezweifelt werden diirfte, mit der Bitte, einige Gas- 
proben eines Patienten im Zuntzschen Laboratorium zu analysieren. 

Dieser Bitte kam Herr Prof. Lowy mit gewohnter Liebens- 
wiirdigkeit nach, wofiir wir ihm auch an dieser Stelle unseren 
warmsten Dank aussprechen mochten. Femer danken wir auch 
Herm Dr. Glikin von Zuntzschen Institute fur die Analyse einer 
weiteren Reihe von Gasproben des gleichen Kranken, so dass die 
erhaltenen Resultate mehrerer, unabhangiger Beobachter mitein- 
ander verglichen werden konnen. Die Mittelwerte der gefundenen 
Zahlen gibt die folgende Tabelle I 1 ). 


Tabelle I. 

M. St., 29 Jahre alt, 160 cm, 60—63,5 kg, normaler Grund- 
umsatz: 1650 Kalorien. 


Pro Minute ver- 
brauchter Sauerstoff 

Grundumsatz in 
24 Stunden 

Analysator 

184,4 cm* 

1302 Kalorien 

Bornstein 1908*) 

171,2 

1207 

Bornstein u. v.Oven 1909 

168,1 cm* 

1204 „ 

Lowy 1909 

179,2 cm* 

1224 „ 

Glikin 1909*) 


Es geht aus dieser Tabelle hervor, dass die erhaltenen Resultate 
fur den Grundumsatz bei den drei neuen Versuchsreihen so gut 
wie vollig miteinander ubereinstimmen, und zwar liegen die Werte 
noch niedriger als bei den im vorigen Jahre angestellten Versuchen. 
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Grundumsatz im Verlaufe 
der Krankheit noch weiter gesunken ist, doch mochten wir nicht 
mit Sicherheit behaupten, dass bei den Versuchen im Jahre 1908 
alle und jegliche Muskelspannung auszuschliessen war, wodurch 


*) Betr. d. Einzelwert© s. Tab. VI. 

*) 1. c. 

3 ) Erhielt Ovarialtabletten, s. weiter imten. 


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216 


Bornstein-Oven, Untereuchungen 


damals etwas zu hohe Werto hatten vorgetauscht werdon konnen. 
Die gefimdenen Werte betragen etwa 7S-—74 pCt. der Norm, d. h. 
sic sind — wenigstcns nach der herrschenden Ansicht — durchaus 
pathologisch und liegen noch erheblich niedriger als alle von uns 
bei friiheren Untereuchungen gefundenen Zahlen. Es ist also bei 
diesern Hebephrenen von drei verschiedenen, mit der gasanalytischen 
Technik vertrauten Heobachtern eine Herabeetzung des Grundumsatzes 
beobachtet warden; und zwar liegen die erhaltenen Werte noch er¬ 
heblich niedriger, als die im Jahre 1908 beim gleichen Kranken ge¬ 
fundenen. 

Es kann somit die Frage, ob es Falle von Jugendirresein mit 
herabgesetzter Gesamtoxydation gibt, als im bejahenden Sinne 
entschieden betrachtet werden. Eine andere Frage ist es, ob diese 
Fade haufig oder gar die Regel sind. Bei den friiheren Vcreuchen 
war bei einem ziemlich hohen Prozentsatz der Fade (6 von 12 Faden 
sicher 3, an derGrenze des Pathologischen liegend) die Stoffwechscl- 
stdrung beobachtet worden. Nicht so bei den jetzigen Versuchen. 
Zwar wurde noch bei zwei daraufhin nachuntersuchten Kranken 
(mit dem obenerwahnten also bei drei) die Stoffwechselstorung 
als unvermindert weiterbestehend gefunden; die Tabelle II gibt 
eine Resume dieser Vereuchsreihen. An den anderen konnten aus 
verschiedenen Griinden keine neuen Vereuche angestedt werden; 
die eine Patientin war nach einer Diphtherie einer chronischen 
Pneumonic erlegen, andere waren aus der Behandlung entlassen 
oder in andere Anstalten verlegt worden. 


Tabelle II. 



| Pro Minute 




gebildete 

ab- 

Respirat. 


Dat. 

Kohlen- 

sorbierter 

Quotient 

Bemerkungen 


saure 

Sauerstoff 



om* 

cm* 

CO,: O, 


8. VIII 08 1 ) 

147,8 

161,0 

0,918 

L. E., 48 kg, 148 cm 

11. VIII. 08 

156,2 

163,7 

0,956 

Vergl. Bd. 24, S. 422 

11. vm. 08 

156,4 

164,6 

0,953 

2.1. 09 

117,4 

147,8 

0,795 

P. W., 44 kg, 157 cm 

4.1. 09 

113,9 

143,7 

0,794 

5.1. 09 

115,3 

157,5 

0,732 

Soporos. Spann ungen 
der NackenmuBkulatur 


Bei einem |46 Jahre alien Kranken wurden die Versuche 
deswegen nicht wiederholt, weil man die gefundone Oxydations- 
verminderung zur Not auch auf das Alter des Kranken hatte 
zuriickfiihren konnen. In den Faden jedoch, in denen wir den 
ausseren Umstanden nach in der Lage waren, die friiheren Resultate 
nachzupriifen, haben wir sie bestatigt gefunden. 

') Mittel aus zwei gut ubereinstimmenden Versuchen. • 


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liber die Atmung der Geisteskranken. 


217 


U nter den 12 neuen Kranken, die zur Beobachtung gelangten, 
haben wir jedoch nur in 2—3 Fallen eine mehr oder weniger grosse 
Herabsetzung des Grundumsatzes beobachten konnen. Der 
Prozentsatz ist also sehr viel geringer als bei den Versuchen der 
friiheren Reihe. In der folgenden Tabelle III geben wir die Versuchs- 
protokolle von 2 Kranken, die einen recht niedrigen Grundumsatz 
hat ten, die einer dritten Kranken finden sich in Tabelle VII. 


Tabelle III. 



Pro Minute 



Dat. 

produ- 

zierte 

Kohlen- 

saure 

I aufge- 

nommener 

Sauerstoff 

Respirat. 

Quotient 

Bemerkungen 

i 


cm* 

cm 1 

CO,: O, 


28. X. 08 i 
28. X. 08 j 
31. X. 08 1 
1. XI. 08 ! 

i 139,5 

I 139,7 

133.8 

153.9 

184,0 

186.5 

190.5 

194.6 

0,758 
0,749 
0,703 1 
0,791 

Frl. U., ca. 30 Jahre, 
161 cm, 57—61,5 kg 
Nicht ganz ruhig 
■Hustet ofters wahrend 
des Versuches 

7. XI. 08 

7. XI. 08 

151,6 

148,3 

200,0 

192,8 

0,758 

0,775 

j Frau 0., 37 Jahre, 53 kg 
Starke Spannungen 
wahrend beider Versuche 


Die Grosse des Kraftumsatzes eines Kranken kann man noch 
auf anderem Wege feststellen als der ist, den wir beschritten haben. 
Setzt man namlich einen Menschen mit einer bestimmten Nahrung 
ins Korpergleichgewicht, d. h. bleibt das Korpergewicht dieses 
Menschen wahrend einer Reihe von Tagen bei dieser Nahrung 
unverandert, so kann man annehmen, dass sein Energieumsatz 
dem Energiegehalt der zugefiihrten Nahrung entspricht, abzfiglich 
des Energiegehalts von Urin und Stuhlgang, die man im allge- 
meinen leicht bestimmen resp. in vielen Fallen schatzen kann. 
Diese Methode ist vielleicht etwas weniger genau als die Methode 
der Respirationsversuche, ist aber, besonders wenn man die Ver- 
suche fiber eine genfigende Reihe von Tagen ausdehnt, im Prinzip 
richtig. Sie gibt jedoch, wie ausdrficklich hervorgehoben werden 
muss, eine etwas andere Funktion als der Respirationsversuch am 
Zunfeschen Apparat, und zwar den,, Gesamtumsatz“, d. h. den Grund¬ 
umsatz vermehrt um den Leistungszuwachs ftir Korperbewegungen 
und ffir Verdauungsarbeit. Die Grosse dieses Gesamtumsatzes 
muss natfirlich, falls der Grundumsatz herabgesetzt ist, auch er- 
niedrigt sein; doch wfirde eine solche Aenderung nur unter be¬ 
sonders gfinstigen Umstanden wahmehmbar sein, im allgemeinen 
nur, wenn der Leistungszuwachs ffir Muskelarbeit so gering ist, 
dass er nicht allzu stark ins Gewicht fallt, also z. B. bei ruhigen, 
bettlagerigen Kranken. Diese Bedingung erffillte am ehesten noch 


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218 Bornstein-O ven, Untersuchungen 

die Patientin U., an der eine derartige Schatzung des Grund- 
umsatzes vorgenommen werden konnte. Die Resultate zeigt 
Tabelle IV. 

TabeUe IV. Frl. U. 


Dat. 

Korper- 

gewicht 

kg 

Perspira- | 
tio insensi- 
bilis 

g ! 

Bemerkungen 

10. XI. 

50,860 

> 875 

Patientin hat seit 2 Tagen fast 
vollig gehungert. 2 Liter Milch, 
25 g Sanatogen, 150 g Zucker 

11. XI. 

51,010 

546 

desgl. 

12. XI. 

51,900 

626 ! 

desgl. 

13. XI. 

52,720 

il 73 | 

desgl. 

14. XI. 

53,420 

917 ; 

desgl. 

15. XI. 

53,380 

1023 

desgl. 

16. XI. 

53,750 

907 

desgl. 

17. XI. 

54,000 

925 

desgl. 

18. XI. 

54,110 

905 

2 Liter Milch, 100 g Zucker 

19. XI. 

54,100 

919 

desgl. 

20. XI. 

54,090 

892 

desgl. 

21. XI. 

54,160 

912 

desgl. 

22. XI. 

54,120 

887 

desgl. 

23. XI. 

54,110 

907 

desgl. 


Die Patientin war mit einer Zufuhr von etwa 1720 Kalorien 
im Korpergleichgewicht. Nach Abzug der Abgange durch Stuhlgang, 
Sputum u. s. w. mogen etwa 1600 Kalorien wirklich im Korper 
verbrannt sein. Magnus-Lewy schatzt den Gesamtumsatz einer 
derartigen bettlagerigen normalen Person auf ca. 1800 Kalorien. 
Bei unserer Patientin wiirden wir eher einen noch hoheren Wert 
zu erwarten haben, weil dieselbe nicht ruhig im Bette lag, sondern 
oft stundenlang wippende Bewegungen im Bette machte. Leider 
musste der Versuch abgebrochen werden, weil die Patientin die 
Anstalt verliess. Ohne dass wir also auf diesen kurzen Versuch be- 
sonderes Gewickt legen wollen, scheint uns doch der niedrige Wert 
des Gesamtumsatzes ganz in den Rahmen der anderen Versuche zu 
passen, die wir an der gleichen Kranken angestellt haben. 

An der grossen Mehrzahl der neuen Kranken, die wir unter- 
suchten, konnte, wie schon erwahnt, eine Storung des Kraft- 
wechsels nicht wahrgenommen werden. Das kann verschiedene 
Griinde haben. Einmal ist es nicht leichfc, aus dem Material einer 
mittelgrossen Irrenanstalt Versuchspersonen auszusuchen, die sich 
gegen das Atmen in den Respirationsapparat nicht strauben und 
auch sonst die notige Korperruhe innehalten. Nachdem natur- 
gemass bei den friiheren Versuchen gerade die ruhigeren Kranken 


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iiber die Atmung der Geisteskranken. 


219 


ausgesucht waren, blieben im allgemeinen nur Kranke iibrig, 
die nicht so ruhig lagen, wie bei den friiheren Versuchen. Andere 
Versuchspersonen lagen zwar scheinbar ruhig, bliesen aber nach 
Leibeskraften in den Apparat hinein, so dass 7—10—12 Liter Luft 
pro Minute die Lunge passierten. Dass bei diesen Versuchen Werte 
gefunden wurden, die normal oder oft auch hoher als normal waren, 
beweist noch nicht mit Sicherheit, dass der Grundumsatz wirklich 
normal war. 

So musste denn die Frage berechtigt erscheinen- Gibt es 
iiberhaupt typische Falle von Dementia praecox, die eine Herab- 
setzung des Grundumsatzes nicht zeigen ? Wir glauben, diese 
Frage bejahen zu miissen. 

In der folgenden Tabelle geben wir die Versuche an den- 
jenigen unserer Hebephremen, die einen normalen Grundumsatz 
zeigten imd bei denen dennoch eine wesentliche Beeinflussung 
durch Muskelspannungen und Muskelbewegungen nicht zu konsta- 
tieren war. Es gibt also in der Tat Falle von Dementia praecox, 
die einen vollig normalen Kraftwechsel haben, und es wiirde sich 
jetzt noch darum handeln, zu untersuchen, ob die Falle mit Herab- 
setzung des Grundumsatzes einem einheitlichen Krankheitsbilde 
entsprechen. Das hat sich bis jetzt nicht feststellen lassen; weder 
das Krankheitsbild noch die Schwere der Erkrankung scheint in 
einem offensichtlichen Zusammenhange mit der Stoffwechsel- 
storung zu stehen. Vielleicht deckt aber spater eine genaue 
psychische Analyse einen solchen Zusammenhang auf. 


Tabelle V. 


Datum 

Pro ll 

gebildete 

Kohlen- 

saure 

cm 3 

linute 

ver- 

brauchter 

Sauerstoff 

cm 3 

Respirat. 

Quotient 

0O 2 : 0 2 

Be merk ungen 

13. XI. 08 

j 152,4 

217,4 

! 0,701 

Frl. L., 18 Jahre, 52 kg 

13. XI. 08 

j 152,3 

215,7 

0,706 

21. XI. 08 

175,0 

220,9 

0,792 


5. XII. 08 

167,3 

221,0 

0,757 


19. XII. 08 ! 

1 

166.0 

207,6 

0,800 

i 

1 

10. XII. 08 ! 

169,8 

222,4 

0,764 

M., ca. 25 Jahre, ca. 65 kg. 

10. XII. 08 ' 

: 172.0 

225,1 

0,764 


18. XII. 08 ' 

k ■ I 

! 163,2 

208,2 

0,784 


27. XI. 08 

196,3 

1 

236,5 

0,830 

D., 20 Jahre, 61,5 kg 
175 cm 

19. XII. 08 

j 194,3 

254,8 

0,762 


21. XII. 08 

| 188,4 

249,6 

0,757 

; 


Es war in der friiheren Arbeit die Moglichkeit diskutiert 
worden, dass es sich bei der Stoffwechselstorung um eine mit der 

Monatascbrift fUr Paychiatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 15 


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220 Bornstein-Oven, Untersuchungen 

Pubertat im Zusammenhang stehende Entwicklungsanomalie 
handeln konnte; diese Moglichkeit war damals schliesshch als die 
wahrscheinlichste hingestellt worden. Wenn man dieser Vorstellung 
im einzelnen nachgehen wollte, so wiirde man zwei Analogien 
dazu aus der menschJichen Physiologie heranziehen konnen, einmal 
die Herabsetzung des Energieumsatzes bei Greisen, anderseits die- 
jenige bei kastrierten Tieren. Die psychischen und physischen Er- 
scheinungen, die bei diesen beiden analogen Kraftwechselstorungen 
auftreten, sind bekanntlich trotz mancher Analogien voneinander 
und von dem Symptombild der Hebephrenie grundverschieden; 
gerade deswegen aber erschien es niitzlich, der moglichen Analogic 
in bezug auf den Stoffwechsel noch weiter nachzugehen, schon um 
prazisere Anbaltspunkte fur spatere Fragestellungen zu erhalten. 

A. Lowy, der die Herabsetzung des Energieumsatzes bei 
kastrierten Tieren als erster mit einwandfreien Methoden nach- 
wies, zeigte gleichzeitig, dass diese Herabsetzung durch Verfiittern 
von Ovarialsubstanz sowohl bei weiblicben als auch bei mannlichen 
Versuchstieren vollig aufgehoben werden kann. Wie verhalten sich 
nun unsere Hebephrenen gegeniiber der Zufuhr von Ovarial¬ 
substanz ? Die Beantwortung dieser Frage ist wichtig ehe man 
zu weiteren Erklarungsversuchen schreitet. 

Wir haben, diesem Gedankengang folgend, zwei unserer 
Kranken Ovarialtabletten verabreicht. Die Resultate dieser Ver- 
suche zeigen die folgenden Tabellen VI und VII. 

Tabelle VII. 


Datum 

Pro M 

produ- 

zierte 

Kohlen- 

saure 

cm* 

[inute 

aufge- 

nomine* 

ner 
Sauer- 
stoff 1 
cm 3 ; 

Respira¬ 

tor. 

Quotient 

i 

CO t :0, ; 

Bemerkungen 

10 . XII. 08 

167,4 

191,2 ! 

i 

! 0,876 

i 

Schl., ca. 20 Jahre; 
55,5 kg 

17. XII. 08 

| 161,8 

188,9 i 

1 0,857 


17. XII. 08 i 

163,4 

188,9 

0,866 

1 

18. XII. 08 ! 

i 

s 

1 

172,0 

188,7 ' 

0,912 | 

Seit 18. XII. mittags 
9 Oophorintabletten 
(Landau) taglich. Heute 
etwas Leibschmerzen 

21 . XII. 08 

171,5 

197,6 

0,868 


22 . XII. 08 : 

145,0 

184.7 

0,786 


2. 1. 09 1 

163,7 

199,4 ; 

: 0,821 


5.1. 09 

l 172,8 

206,6 

0,836 


6 .1. 09 

1 180,6 

224,9 , 

t 

| 0,803 

! i I 

Seit 7. I. 12 Oophorin- 
j tabletten taglich 

8. 1. 09 

180.9 

220,1 i 

i 0,822 | 

i 

11 . I. 09 

, 163,9 

212,8 

0,770 

j Seit 9. I. kein Oophorin 
mehr 

13. 1. 09 

178.3 

223.4 

0.798 

1 


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iiber die Atmung der Gemteskranken. 

TabeUe VI. 


221 


Dat. 

Pro M 

gebildete 

Kohlen- 

saure 

cm 8 

inute 

ver- 

brauchter 

Sauerstoff 

cm* 

Respirat. 

Quotient 

CO, : O, 

Bemerkungen 

7. I. 09 

136,1 

1 

146,2 

0,931 

St., 29 Jahre, 
Grew. 60 kg, 
Lange 160 cm 

7. I. 09 

149,2 

16G,5 

0,896 


11. I. 09 

137,5 

l J 

161,4 

0,852 

l 

I 

Seit 9.1. tagl. 12 Ta- 
bletten Ovarial 
( Merk ), seit 11. I. 
18 Tabletten 

13. I. 09 

147,1 

146,3 

1,005 


15.1. 09 

132,4 

175,6 

0,754 

desgl. 

29. IV. 09 

132,4 

151,3 

0,875 

1. V. 09 

159,6 

194,4 

0,8211 

Gew. 62 kg 

4. V. 09 

144,6 

181,5 

0,796 

6 . V. 09 

145,7 

174,2 

0,836 


8 . V. 09 

135,3 

162,6 

0,832 


11 . V. 09 

152,4 

203,0 

0,751 

Grew. 63 kg 

13. V. 09 

175,2 

151,7 

0,866 

15. V.'OO 

135,1 

177,0 

0,763 


17. V.'09 

149,8 

160,5 

0,934 


20 . v: 09 

143,7 

160,6 

• 0,894 


22 . V. 09 

153,5 

159,3 

| 0,964 


25. V.*09 

144,9 

182,4 

0,795 

1 g Veronal 

25. V. 09 

157,0 

196,8 

0,798 

1 g Veronal 

27. V. 09 

157,2 

175,0 

0,899 

1 g Veronal 

27. V. 09 

167,3 

176,1 

0 950 

1 g Veronal 

29. V. 09 

145,0 

148,3 

0,978 

1 g Veronal 

29. V. 09 

152,6 

155,5 

0,982 

1 g Veronal 

10. VI. 09 

131,3 

151,4 ; 

| 

0,867 

seit 7. VI. 09 

18 Ovarialtabletten 
(Merk) taglich. 

1 g Veronal 

12. VI. 09 

149,9 

162,3 

i 0,924 

12. VI. 09 

163,9 

179,0 

0,916 


15. VI. 09 

176,8 

176,6 | 

1,002 

1 g Veronal 

15. VI. 09 

170,1 

171,0 j 

0,995 

1 g Veronal 

17. VI. 09 

134,9 

177,0 

0,762 

17. VI. 09 

142,1 

178,3 

0,797 ! 


19. VI. 09 

133,2 

183,3 

0,726 j 

1 g Veronal 

19. VI. 09 ; 

j 129,2 

177,0 j 

0,730 i 

1 g Veronal 

22. VI. 09 I 

i 135,8 

175.6 i 

0,773 ; 

22. VI. 09 

1 134.3 

s 183.8 | 

0,731 

5* 


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222 Arndt, Ueber die GJykosurie der Alkoholdeliranten. 

Der am langsten beobachtete Kranke St. der Tabelle VI zeigt 
keine wesentliche Beeinflussung des Grundumsatzes durch die 
Zufuhr von verhaltnismassig grossen Mengen der Eierstock- 
substanz (18 Tabletten zu 0,5 g). Dagegen scheint der Grund- 
umsatz des Kranken der Tabelle VII durch die Ovarialtabletten 
etwas erhoht zu sein (um etwa 15 pCt.); doch isfc einerseits bei 
diesem Kranken die Herabsetzung des Grundumsatzes iiberhaupt 
nur sehr gering, anderseits die Erhohung nach Verabreichung 
derOvarialtabletten ebenfalls nicht gross genug, um starkes Gewicht 
darauf zu legen. Wir werden deshalb sagen miissen, dass bei unseren 
Kranken eine erhebliche Beeinflussung des Grundumsatzes durch 
die Ovarialtabletten jedenfalls nicht festgestellt werden konnte, 
und dass der Zustand des Kraftwechsels unserer Kranken daher eher 
den durch das Senium als den durch die Kastration geschaffenen 
Verhaltnissen verglichen werden kann 


Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

Von 

Dr. MAX ARNDT, 

Heilanstalt M Waldhaus‘ 4 bei Wannaee-Berlin. 


Als ich im Jahre 1896 auf Veranlassung von H. Strauss Unter- 
suchungen iiber das Vorkommen von alimentarer Glykosurie bei 
Gehirn- bezw. Geisteskrankheiten anstellte, ergab sich, dass bei 
Alkoholdeliranten nicht nur verhaltnismassig oft nach Verab¬ 
reichung von 100 g Traubenzucker in dem wahrend der nachsten 
Stunden gelassenen Urin Zucker nachgewiesen werden konnte, 
sondern dass auch ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Deli- 
ranten schon bei der gewohnlichen gemischten Krankenhauskost 
Zucker im Urin ausschied. Von 15Deliranten zeigten 7 eine spontane 
Glykosurie (e nutrimentis), und bei 4 weiteren trat nach Dar- 
reichung von 100 g Traubenzucker (alimentare) Glykosurie auf, 
so dass also von 15 Deliranten 11 eine Herabsetzung der Assimi- 
latioDsfahigkeit fur Kohlehydrate bezw. Traubenzucker erkennen 
liessen 1 ). Ich habe damals darauf hingewiesen, dass vorher nur 
Bumm 2 ) einen Fall von Delirium tremens mit Melliturie ausfvihrlich 
beschrieben und gleichzeitig hervorgehoben hatte, dass er bei 
weiteren Untersuchungen einen analogen Befund nie wieder hatte 


l ) Max Arndt, Ueber alimentare und transitorische Glykosurie bei 
Gehirnkrankheiten. Deutsehe Zeitsehr. f. Nervenheilk. 1897. 13d. X. 8.419. 

*) Ueber transitorische Albuminuric und Melliturie bei Delirium 
tremens. Berliner klinische Woehensehr. 1882. No. 25. S. 378. 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 223 


erheben konnen, ud<1 dass femer von De Wolf 1 ) erwahnt worden war, 
,.Glykosurie fande sich als sekundare Komplikation uoter aoderem 
auch beim Delirium tremens.“ Unbekannt war mir, dass auch schon 
v. Jaksch, wie ich bei Raimann (s. unten) sehe, im Ham von Deli- 
ranten auch ohne vorausgegangene Zuckerzufuhr nicht gerade 
selten Dextrose gefunden hatte. In der Folge ist dann jedenfalls 
das Vorkommen von Zucker im Urin der Alkoholdeliranten von 
verschiedenen Autoren bestatigt worden, so insbesondere von 
Laudenheimer 2 ), J. Strauss 3 ) und Raimann*). Dagegen hat sich 
dieser fur die Symptomatologie und die Pathologie cles Delirium 
tremens, wie mir scheint, nicht ganz unwichtige Befund bisher in 
die Lehrbiicher der Neurologie und Psychiatrie noch keinen Ein- 
gang verschafft, und, wahrend als korperliche Begleiteraclieinung 
bezw. Urinbefund beim Trinkerdelirium stets das Vorhandensein 
von Eiweiss angegebcn ist, finde ich z. B. in den Lehrbiichern von 
Binsuvmger-Siemerling 6 ), Kraepelin 9 ), Oppenheim 7 ), Reichardt 9 ), 
Wernicke 9 ), Ziehen 10 ) keinerlei Hinweis darauf, dass der Ham der 
Deliranten in einem nicht geringen Prozentsatz der Falle Zucker 
enthalt. Ich halte es deshalb fur angebracht, die Aufmerksamkeit 
erneut auf diese Tatsache hinzulenken, und will zu diesem Zwecke 
iiber die Ergebnisse ausgedehnter Untersuchungen iiber das Vor¬ 
kommen von Zucker im Ham der Deliranten berichten, die ich in 
Fortsetzung und zur Vervollstandigung meiner schon mitgeteilten 
ersten Beobachtungen vor nunmehr beinahe einem Jahrzehnt 
ausgefiihrt habe. 

Zunachst muss ich kurz mitteilen, welche neuen Tatsachen 
iiber das Vorkommen und welche neuen Theorien iiber das Wesen 
der Delirantenglykosurie von den schon genannten Autoren 
seit meiner ersten Publikation gefunden bezw. aufgestellt worden 
sind. Ich konnte dam als, wie eingangs bereits erwahnt, bei 7 unter 
15 Deliranten spontane und bei 4 von den 8 iibrigen alimentare 


l ) Glycosuria, its complications and therapeutics. Ref. im Zentralbl. 
f. Nervenheilk. 1884. S. 263. 

*) Rudolf Laudenheimer, Diabetes und Geistesstorung. Berliner klin. 
Wochenschr. 1898. No. 21. 

*) Untersuchungen iiber alimentare, „spontane“ und diabetische 
Glykosurien, unter besonderer Beriicksichtigung des Kohlehydratstoff- 
wechsels der Fiebernden und der Potatoren. Zeitschr. f. klinische Medizin. 
1900. Bd. 39. Heft 3 und 4. S.-A. S. 66. 

*) Emil Raimann, Ueber Glykosurie und alimentare Glykosurie bei 
Geisteskranken. Zeitschr. f. Heilk. 1902. Bd. 23. Heft 2. S.-A. S. 79 ff. 

s ) O. Binswanger und E. Siemcrling, Lehrbuch der Psychiatrie. 2. Aufl. 
Jena 1907. Abschnitt iiber Alkoholpsychosen von A. Cramer. S. 251. 

•) Emil Krapelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch fiir Studierende und 
Aerzte. VII. Aufl. 1904. Bd. II. S. 99. 

’) H. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. Berlin 
1908. Bd. II. S. 1601. 

') M. Reichardt, Leitfaden zur psychiatrischen Klinik. Jena 1907. 
S. 97 ff. 

*) Carl Wernicke, Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen. 
Zweite revidierte Auflage. Leipzig 1906. S. 270 ff. 

'•) Th. Ziehen, Psychiatrie. III. Aufl. Leipzig 1908. S. 434. 


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224 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeiiranten. 

Glykosurie — letztere auch bei 2 unter 4 Fallen von Delirium 
tremens abortivum — nachweisen. In welchem Stadium des 
Deliriums der Versuch der alimentaren Glykosurie angestellt wurde, 
schien fur den positiven oder negativen Ausfall desselben von 
keiner entscheidenden Bedeutung zu sein; denn wahrend bei einigen 
Kranken im Hohestadium des Deliriums kein Zucker nach Dex¬ 
trose-Verabreichung im Urin gefunden wurde, konstatierte ich ali- 
mentare Glykosurie bei anderen, die im abklingenden Delirium 
dem Versuche unterworfen worden waren. Auch iiber den Einfluss 
des Deliriums auf die Dauer der spontanen Glykosurie hatte ich 
keine sicheren Resultate erhalten, da in 5 Fallen, trotzdem der Urin 
dieser eben aufgenommenen Deliranten schon Zucker enthielt, 
noch der Versuch der alimentaren Glykosurie gemacht und dadurch 
das Bild getriibt worden war; der sechste Rranke starb am Tage 
nach der Aufnahme, und nur bei dem siebenten konnte die Dauer 
der spontanen Glykosurie bestimmt werden; sie bestand noch 2 Tage 
nach dem Abklingen des Deliriums fort. Immerhin ergab sich mit 
volliger Sicherheit, dass sowohl die alimentare wie die spontane 
Glykosurie bei Delirium tremens durch dieses selbst bedingt sein 
mussten, denn einige Zeit nach dem Ablauf der Psychose war in 
den Fallen mit spontaner Glykosurie der Zucker aus dem Ham 
verschwunden, und es gelang dann auch nicht mehr, durch Trauben- 
zuckerzufuhr Glykosurie hervorzurufen. In analoger Weise ergab 
bei den Deliranten, bei welchen wahrend des Deliriums der Ver¬ 
such der alimentaren Glykosurie positiv ausgefallen war, derselbe 
ein negatives Resultat, wenn er einige Tage nach Ablauf des 
Deliriums wiederholt wurde. Ich wies darauf hin, dass der Unter- 
schied zwischen spontaner und alimentarer Glykosurie im Delirium 
nur ein gradueller sei und allerlei Uebergange vorhanden waxen; 
die Starke des Deliriums schien mir in dieser Beziehung von keiner 
ausBchlaggebenden Bedeutung zu sein, da sich die FaUe mit spon¬ 
taner Glykosurie klinisch gar nicht von denen mit alimentarer 
unterschieden, wie ubrigens letztere auch nicht von denen ohne 
nachweisbare Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Trauben- 
zucker. Da ich nun bei meinen Versuchen ausserdem gefunden hatte, 
dass chronische Schnapstrinker, wenn sie unter der direkten schadi- 
genden Einwirkung des Alkoholmissbrauches standen und akute 
Intoxikations-Erscheinungen darboten, d.h. also nicht delirierende, 
eben in die Anstalt aufgenommene Trinker oder selbst solche, 
welche sich nach langerer Abstinenz grade nur einmal tiichtig be- 
trunken hatten, fast regelmassig eine Herabsetzung der Assi¬ 
milationsfahigkeit fur Traubenzucker zeigten, so kam ich zu dem 
Ergebnis, dass es ,,die akute Exazerbation der Alkoholintoxikation 
mit ihrer direkten Nachwirkung sei, welche zur Ausscheidung von 
Zucker im Urin disponiere; von der Starke der Intoxikation, der 
Widerstandsfahigkeit des Individuums und wahrscheinlich von 
noch mehr Faktoren hange die Intensitat dieser Stoffwechsel- 
storung und ihre Dauer ab“. Ich legte besonderen Nachdruck darauf 
dass die Glykosurie der Schnapstrinker die Folge akuter toxischer 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


225 


Zustande sei, da ja bei diesen selben Personen und bei Schnaps- 
trinkem iiberhaupt der Versuch der alimentaren Glykosurie fast 
durchgehends negativ ausfiel, wenn sie langere Zeit alkohol- 
abstinent gewesen waren. Dabei habe ich allerdings das Delirium 
einfach als „direkte Nachwirkung der Alkoholintoxikation“ auf- 
gefasst und nicht als einen spezifischen, wenn auch selbstverstand- 
lich auf der Basis des chronischen Alkoholmissbrauch.es ent- 
standenen. toxischen Prozess, als welcher es doch wohl richtiger 
anzusehen sein diirfte 1 ). Laudenheimer i ), der meine Befunde im 
grossen und ganzen bestatigte, lehnt deshalb die Annahme, dass 
es sich bei der spontanen und alimentaren Glykosurie der Deliranten 
um eine einfache Alkoholvergiftungserscheinung handele, ab, 
fasst sie vielmehr als einen spezifisch deliriosen Stoffwechselvorgang 
auf, ahnlich wie dieAlbuminurie, und erblickt darin eine interessante 
Vervollstandigung der Analogie des Delirium tremens und der 
akuten fieberhaften Infektionskrankheiten, mit denen es ja den 
typisch kritischen Abfall der Krankheit, Blut- und Pulsbefund, 
Albuminurie gemeinsam hat und die ja auch nur im Fieber- 
stadium zu alimentarer Glykosurie disponieren.“ Er hatte unter 
29 Deliranten der Leipziger psychiatrischen Klinik, deren Urin 
wahrend der Dauer des Deliriums taglich untersucht worden war, 
bei 7 Zucker in Mengen bis zu 1 pCt. gefunden, und zwar war der- 
selbe stets erst mehrere Tage nach Ausbruch der Psychose auf- 
getreten, um spatestens einen Tag nach dem kritischen Abfall des 
Deliriums wieder zuverschwindeD. Ob der betrachtlicheUnterschied 
in der Frequenz der Delirantenglykosurie zwischen meinen (7:15) 
und seinen (7:29) Ergebnissen auf Zufall oder lokale Verhaltnisse, 
z. B. verschiedene Zusammensetzung des alkoholischen Getranks 
oder Unterschiede der Krankenhausernahrung, zuriickzufiihren sei, 
liess er dahingestellt. Uebereinstimmend mit den Angaben von 
H. Strauss 3 ) und mir, konnte er bei mehr als 50 pCt. seiner Deliranten 
(nach Darreichung von 120—150 g Traubenzucker) alimentare 
Glykosurie konstatieren, eine Disposition, die nach Abfall des 
Deliriums rasch verschwand und selbst bei Deliranten mit spontaner 
Glykosurie schon am zweiten Tage nach dem kritischen Schlaf nicht 
mehr nachzuweisen war. J.Strauss*) konnte auf Grund seiner Unter- 
suchungen das Vorkommen von alimentarer und spontaner Glyko¬ 
surie im Delirium tremens bestatigen. Er ist der Meinung 5 ), dass 
die direkte, sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzende 
Wirkung des Potatoriums und der unmittelbare Einfluss des 

‘) Uebrigens sind die Ansichten der Autoren dariiber, ob das Delirium 
tremens nur eine Exacerbation der chronischen Alkoholvergiftung oder die 
FoJge von durch den Alkoholmissbrauch imKorper entstandenen (evtl. Stoff- 
wechsel-) Giften sei, recht geteilt (s. Wassermeyer, Delirium tremens. Archiv 
f. Psychiatrie. Bd. 44. Heft 3. S. 906 ff). 

*) 1. c. S. 8/9. 

s ) Hermann Strauss, Zur Lehre von der neurogenen und der thyreo- 
genen Glykosmie. Deutsche ined. Wochenschr. 1897. No. 18 und 20. 

*) t. c. S. 56. 

‘) 1. c. S. 56. 


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226 


Arndt, Ueber die Glykosurie der Aikoholdeliranten. 


deliriosen Prozesses als solcher gemeinsam an dem haufigen Auf- 
treten der Glykosurie bei Deliranten ursachlich beteiligt waxen. 
Speziell die von ihm nachgewiesene Tatsache des Vorkommens 
spontaner Glykosurie bei nicht delirierenden Potatoren weise 
darauf hin, dass der direkte Einfluss des Potatoriums auf das 
Eintreten der spontanen Glykosurie der Deliranten nicht ganz 
geleugnet werden konne. Eine ganz erhebliche Erweiterung unserer 
Kenntnisse vom Wesen der Delirantenglykosurie brachte die Arbeit 
Baimanns 1 ). Er ging bei seinen ausgedehnten Untersuchungen 
xiber Glykosurie und alimentare Glykosurie bei Geisteskranken 
von dem etwas schematischen Verfahren ab, das die meisten bis- 
herigen Autoren angewandt hatten, indem sie den Kranken eine 
bestimmte Menge, meist 100 g, Traubenzucker verabreichten und 
dann die Falle, je nachdem im Urin Zucker nachgewiesen werden 
konnte oder nicht, in solche mit positivem und solche mit nega- 
tivem Versuchsausfall sonderten. Er bestimmte vielmehr fur jeden 
Kranken die Assimilationsgrenze fur Traubenzucker, d. h. diejenige 
Menge Dextrose, welche in den Organismus eingefuhrt werden 
musste, damit in dem darauffolgend entleerten Ham mit den 
gebrauchlichen klinischen Proben Zucker eben nachweisbar war 
(0,2pCt.). Hierzu waren in der Hegel mehrere Versuche mit ver- 
schieden grossen Zuckerdosen erforderlich. Die schliesslich als 
notwendig erkannte Traubenzuckermenge ergab, dividiert durch 
das Korpergewicht, einen allgemein vergleichbaren Wert. Es bedarf 
keiner Auseinandersetzung, dass diese Art der Versuchsanordnung 
einen Fortschritt gegeniiber der bisher iiblichen bedeutet und ge- 
eignet war, neue Aufschliisse zu bringen. Baimanns Untersuchungen 
erstreckten sich — sein gesamtes Versuchsmaterial umfasst 101 
Geisteskranke — auf 28 Deliranten und ergaben folgendes be- 
merkenswerte Resultat: ,,Bei alien diesen Patienten nahm die 
Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand ein unmittelbar nach 
dem kritischen Abschlusse des Delirs; sie stieg von da binnen wenig 
Tagen zu durchwegs hohen Werten an.“ 9 Falle zeigten nach dem 
kritischen Schlafe spontane Glykosurie bis zu 1,3 pCt., bei weiteren 
10 Patienten konnte Zucker in Spuren nachgewiesen werden; 
4 andere Patienten sind ausser Betracht zu lassen, da bei ihnen nur 
ein ganz rudimentares Delirium vorlag oder aber eine transitorische 
Glykosurie vielleicht iibersehen worden sein konnte, weil aneinzelnen 
Tagen der Ham nicht untersucht worden war; und bei den 5 iibrigen 
Fallen ergaben die Versuche mit Traubenzuckerzufuhr, dass zu 
der angegebenen Zeit die Assimilationsgrenze immer herunter- 
gedriickt war. Es bestand also kein durchgreifender Unterschied 
der Falle mit und ohne Glykosurie. Eine relative Verschiedenheit 
glaubt B. insofern wahrgenommen zu haben, als die Assimilations¬ 
grenze um so mehr herabgedriickt zu sein schien, je schwerer die 
Vergiftung war, je grosser die Hohe, welche das Delirium erreichte. 
Die Falle, in denen es zu keiner spontanen Zuckerausscheidung 


*) 1. c. 


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A r ndt , Ueber die CJlykosurie der Alkoholdelirantcn. 227 


kam, waren vorwiegend leichte. Er lehnt die Annahme, dass es 
sich bei der Delirantenglykosurie um eine direkte Nachwirkung dee 
Potatoriums handeln konnte, mit einem Hinweis auf die zeitlichen 
Verhaltnisse des Auftretens der Zuckerausscheidung ab. Auch 
Komplikationen des Deliriums, wie Fieber, entzundliche Prozesse 
oder andere Faktoren, wie Alter, Ernahrungszustand (Adipositas), 
Sehad el trail men, schliesslich die Art des vorausgegangenen Pota¬ 
toriums (Bier oder Schnaps) spielten keine nachweisbare Rolle, 
und es bliebe deshalb nichts iibrig, als einen direkten Kausalnexus 
zwischen Delirium und Glykosurie anzunehmen. Fiir diesen spricht 
nach R. vor allem die Gesetzmassigkeit im zeitlichen Auftreten 
der Zuckerausscheidung, welche ausnahmslos erst erfolgte, wenn 
das Delirium kritisch abgeklungen war, um dann binnen wenig 
Tagen wieder zu verschwinden. Als bemerkenswert ergab sich 
noch, dass die Assimilationsgrenze wahrend des Deliriums haufigen, 
oft stiindlichen Schwankungen unterworfen war; die Glykosurie 
trat intermittierend auf, bestand an gewissen Tagen, zu gewissen 
Stunden, um dann zeitweilig zu fehlen. R. hat dann noch Unter- 
suchungen bei 9 nicht deliranten Alkoholikern gemacht; er konnte 
unter dem Einflusse des Potatoriums allein nie spontane Glykosurie 
beobachten, allerdings war nur ein einziger Fall frisch, am Tage 
nach einem Rausche, untersucht worden. Mit Riicksicht auf die 
positiven Befunde anderer Autoren und auf Grund seiner Versuche 
schliesst er, dass die Herabsetzung der Assimilationsgrenze bei 
Trinkern ohne Geistesstorung sich ausserordentlich rasch ausgleiche, 
sobald die Abstinenz beginne. Als Unterschiede in dem Auftreten 
der Glykosurie bei deliranten und nichtdeliranten Alkoholikern 
bezeichnet R. die folgenden: Die Erniedrigung der Assimilations¬ 
grenze war bei den Deliranten eine viel hochgradigere, indem recht 
oft spontane Glykosurie auftrat; dort, wo keine akute Geistes¬ 
storung auftrat, war dagegen die Assimilationsgrenze niemals 
negativ; es bestand also ein gewisser Parallelismus zwischen 
Psychose und Glykosurie. Ferner riickte die Assimilationsgrenze 
bei den Deliranten rasch, beinahe kritisch, herauf, wahrend sie 
in der einfachen Alkoholabstinenz nur langsam hinaufzuschleichen 
schien. Endlich stand die Assimilationsgrenze bei den Deliranten 
am tiefsten nach dem kritischen Schlafe, nachdem die Alkohol¬ 
abstinenz doch schon eine gewisse Zeit gedauert hatte; von diesem 
Punkte an erfolgte dann erst der Aufschwung. Die Herabsetzung der 
Assimilationsgrenze bezw. die spontane Glykosurie der Alkoholiker 
ist als eine toxische anzusehen und der Glykosurie bei anderen 
Vergiftungs- und Stoffwechselkrankheiten an die Seite zu stellen. 
Dagegen ist die postdeliriose Glykosurie nur auf Rechnung des 
Deliriums zu setzen; sie wird vielleicht durch ein Stoffwechsel- 
produkt hervorgerufen, das sich erst mit Beginn der Rekonvaleszenz 
bildet. Zur Erklarung der taglichen oder gar stiindhchen Inter- 
missionen dieser Glykosurie sei vielleicht eine Vermittelung des 
Nervensystems anzunehmen. 

Es eriibrigt noch, kurz darauf hinzuweisen, dass ausser diesen 


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228 Arndt, Leber die Giykosurie der Alkoholdeliranten. 

3 Autoren noch einige andere das Vorkommen von Zucker im Urin 
der Deliranten erwahnen. So berichtet Hasche-Kliinder' 1 ), dass 
bei 39 von 372 Delirium-Fallen, die in der Zeit vom 1. I. 1903 
bis zum 1. III. 1905 im allgemeinen Krankenhaus Hamburg- 
Eppendorf behandelt wurden, Zucker im Urin nachgewiesen worden 
war, d. i. also in 10,5 pCt. der Falle. Dollken 2 ) fand Giykosurie 
in 3 Fallen von Delirium tremens, Wassermeyer 3 ) in 4 Fallen, und 
Kauffmann*) gibt an, dass er manchmal, aber verhaltnismassig 
selten, Traubenzucker bei Deliranten gefunden habe. 

Die Untersuchungen, iiber welche ich jetzt berichten will, 
sind zu derselben Zeit ausgefiihrt worden wie die soeben referierten 
Raimanns. Ich hatte aber davon Abstand genommen, wie bei 
meinen friiheren Versuchen, durch Darreichung einer bestimmten 
Quantitat von Traubenzucker eine eventuell vorhandene Herab- 
setzung der Assimilationsgrenze feststellen zu wollen, habe mich 
vielmehr darauf beschrankt, den Urin einer grossen Reihe von 
Deliranten und nichtdeliranten Alkoholikern fortlaufend auf das 
etwaige Vorhandensein einer spontanen Giykosurie hin zu unter- 
suchen. Die Ergebnisse, zu denen ich hierbei gelangt bin, sind 
infolgedessen nicht so eindeutig und prazis wie die, welche Raimann 
bei seinen systematischen experimentellen Untersuchungen er- 
halten hat. Doch ist das Krankenmaterial, welches ich zu benutzen 
Gelegenheit hatte, ein verhaltnismassig sehr viel grosseres als 
das Raimanns, und so werden meine Beobachtungen, insbesondere 
in Hinblick auf die von ihm festgestellten Tatsachen, manche Be- 
statigungen und Erganzungen bringen. 

Als ich wahrend der Jahre 1899—1901 als Assistenzarzt an 
der Manner-Aufnahme-Abteilung der Irrenanstalt Dalldorf tatig 
war, habe ich etwa 2% Jahre lang den Urin aller auf die Abteilung 
zur Aufnahme gelangten Deliranten wahrend der ganzen Dauer des 
DeHriums und auch noch einige Zeit lang nachher auf das Vorkommen 
von Zucker (und Eiweiss) untersucht. Es wurde grundsatzlich der 
24 stiindige Tagesurin (von 8 Uhr morgens bis zum nachsten Tage 
um dieselbe Zeit) gesammelt, die Gesamtmenge und das spezifische 
Gewicht bestimmt und dann auf Eiweiss und Zucker gepriift. Zum 
Nachweis des Albumens wurden die Kochprobe und die Unter- 
schichtung mit Salpetersaure angewandt, zum Nachweis des Zuckers 
die Trommersche und Nylandersche Probe und, sofern diese ein 
positives Ergebnis gehabt hatten, die Gahrungsprobe. Nur wenn 
diese letztere unzweifelhaft positiv ausgefallen war, wurde das 


*) Zur Pathologie das Delirium aicoholicum. Mitteilungen aus don 
Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1905. S. 43. 

a ) Die korperlichen Erscheinungen des Delirium tremens. Leipzig 1901. 

3 ) Delirium tremens. Eine klinische Studie. Arch. f. Psych. 190^. 
Bd. 44. S. 861. 

4 ) Max Kauffmann , Ueber Kohlehydraturie beim Alkoholdelirium. 
Miinchner med. Wochenschr. 1907. S. 2185. Derselbe, Stoffwechseluntor- 
suchimgen bei Alkoholdeliranten. Journal fiir Psychologic und Neurologic. 
Bd. X. p. V*. S. 28. 1907. 


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Arndt, I’obor die Glykosurie dor Alkoholdeliranten. 


229 


Vorhandensein von Zucker ala sicker angenommen. Zumeist 
wurde dann noch eine quantitative Bestimmung des Zuckergehaltes 
mittels des Polarisationsapparates gemacht. Ich wiU gleich hier 
erwahnen, dass in einer Reihe von Fallen durch die Trommersche 
und Nylandersche Probe die Anwesenheit reduzierender Sub- 
stanzen im Urin angezeigt wurde, durch Anstellung der Galirungs- 
probe aber der Nachweis nicht gefiihrt werden konnte, dass es sich 
wirklich um Zucker gehandelt hat. 

Ich komme nachker noch auf diese Falle zuriick und hebe 
hier nur folgendes hervor: Ein Teil der Deliranten wurde der Anstalt 
aus der eigenen Wohnung, ein nicht unerheblicher aber aus Kranken- 
hausern zugefiihrt. Den letzteren waren fast regelmassig in den 
betreffenden Krankenhausem allerlei Arzneimittel, insbesondere 
Chloralhydrat und Morphium, verabreicht worden. Ich habe da- 
gegen prinzipiell — bis auf einige wenige Ausnahmen — den 
Deliranten wahrend der ganzen Dauer des Anstaltsaufenthaltes 
keinerlei Narkotika gegeben. Wenn also auch bei vielen, aus 
Krankenhausem in die Anstalt uberfiihrten, Deliranten durch die 
daselbst verabreichten narkotischen Mittel das Auftreten redu¬ 
zierender Substanzen (Glykuronsauren) im Urin hervorgerufen 
sein kann, so ist eine solche Wirkung in diesen Fallen wohl immer nur 
am ersten oder auch am zweiten Tage des Anstaltsaufenthaltes 
anzunehmen. Bei den aus der eigenen Hauslichkeit der Anstalt 
zugefiihrten Deliranten waren in der Regel keine Arzneimittel 
gegeben gewesen. 

Die Massnahme. bei der Behandlung der Deliranten prinzipiell 
die Verabreichung narkotischer Mittel zu vermeiden, hatte zur 
Folge, dass haufig eine Isolierung dieser auf der ohnehin stets iiber- 
fiillten und unruhigen Station sehr storenden Kranken notwendig 
wurde. Die Isolierung brachte nun wieder mancherlei Uebel- 
stande fiir das Sammeln des Urins mit sich. In dem Einzelraum 
urinierten die Kranken oft auf den Fussboden, und wenn es auch 
haufig gelang, sie durch Zureden dazu zu bewegen, ihren Urin in 
ein Gefass zu entleeren, so scheiterte dies doch hin und wieder, 
und es war deshalb in manchen Fallen unmoglich, an einem Tage 
oder gar an mehreren Tagen des Deliriums den gesamten Urin 
zu sammeln oder manchmal selbst nur eine Urinprobe zur Unter- 
suchung zu erhalten. So sind denn leider bei einer Anzahl von 
Deliranten die Untersuchungsprotokolle nicht vollstandig, indem 
oft gerade der Urin zur Zeit der Akme des Deliriums nicht gepriift 
werden konnte. 

Ich habe dann ferner auch den Urin der in die Abteilung auf- 
genommenen nichtdeliranten Trinker wahrend der ersten Tage nach 
der Aufnahme untersucht. Es wurde stets die 24 stiindige Tages- 
menge in der oben geschilderten Weise gepriift. Und zwar geschah 
dies einmal in der Absicht, festzustellen, in einem wie hohen 
Prozentsatz der nicht delirierenden Potatoren unmittelbar nach 
einer Periode fortgesetzten, mehr oder minder starken Alkohol- 
missbrauches Zucker imUrin, und wie langeZeit hindurch, nachweis- 


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230 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


bar sei, ferner aber auf Grund der bekannten Erfahrung, dass gar 
nicht so selten Potatoren im Prodromalstadium eines Deliriums 
in die Anstalt kommen, bei der Aufnahme noch keine eigentlich 
charakteristischen Symptome des Deliriums darbieten und dann 
einige Tage spater delirant werden: Gerade in solchen Fallen bot 
sich ja die Moglichkeit, den Urin der Kranken schon vor Beginn 
und wahrend der ganzen Dauer des Deliriums zu untersuchen, 
wahrend bei den schon delirierend in die Anstalt eingelieferten 
Kranken die Urinuntersuchung des ersten Tages oder gar der 
ersten Tage des Deliriums fehlte. 

Die Untersuchungen erstreckten sich demnach auf Deliranten 
und nichtdelirante Trinker, welche in dem 2V 4 jahrigen Zeitraum 
vom 14.1.1899 bis 14. IV. 1901 in die Manner-Aufnahme-Abteilung 
der Anstalt Dalldorf zur Aufnahme gelangten. Wahrend dieses 
Zeitraumes wurden nun im ganzen 763 Trinker, d. h. Personen, 
die an Alcoholismus chronicus, einer alkohologenen Psychose oder 
einer anderen Psychose litten, bei deren Entstehung der Alkohol 
mitgewirkt oder zu welcher Alkoholmissbrauch sich hinzugesellt 
hatte, aufgenommen. Doch nur bei etwa Vaj namlich bei 194 von 
diesen Trinkem, sind brauchbare fortiaufende Urinuntersuchungen 
gemacht worden. Bei einer Beihe von Kranken war es aus ausseren 
Griinden gar nicht, bei anderen nur in unvollkommener und un- 
genugender Weise moglich, den Urin zu untersuchen. Viele Trinker 
kamen aus anderen Anstalten oder Krankenhausern zur Aufnahme 
und waren seit langerZeit derEinwirkung des ubermassigenAlkohol- 
genusses entzogen gewesen, so dass von einer fortlaufenden Urin¬ 
untersuchung von vornherein Abstand genommen wurde. Auch 
bei alien Fallen von Korsakowscher Psychose, akutem Wahnsinn 
der Trinker etc.,ebensobeidurch Alkoholismus komplizierten anders- 
artigen Psychosen (Paralyse pp.) habe ich auf fortiaufende Unter¬ 
suchungen verzichtet. Zu erwahnen ist ferner, dass unter den 
763 „Aufnahmen“ sich eine Reihe von Trinkem befinden, die 
wahrend des 2 1 / 4 jahrigen Zeitraumes mehrfach, manche 4—6 mal, 
zur Anstalt kamen und jedesmal wieder als ,,Aufnahme" gerechnet 
sind; unter den 194 Kranken, bei denen Urinuntersuchungen 
gemacht worden sind, befindet sich denn auch eine ganze Anzahl 
,,mehrfach aufgenommener ‘ ‘, doch sind sie in die Statistik nur als 
eine Person eingestellt worden. Dies war nur dann nicht angangig, 
wenn, wie es ofters vorkam, der betreffende Trinker einmal im 
Delirium, ein anderes Mal mit einem abortiven Delirium, ein drittes 
Mai vielleicht ohne akute psychotische Symptome zur Aufnahme 
gelangte. Ich werde die wenigen derartigen Falle besonders hervor- 
heben. 

Die 194 Falle, deren Urin vom Tage der Aufnahme ab eine Zeit 
lang untersucht worden ist, verteilen sich auf die folgenden drei 
Gruppen: 

1 . 99 Falle von Delirium potatorum; 

2. 26 Falle von Delirium potatorum abortivum; 

3. 69 Falle von Alooholismus chronicus. 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


231 


Zu dieser Klassifizierung sei bemerkt, dass in die Gruppe 
„Delirium potatorum 41 nur vollig einwandfreie Falle von Trinker- 
deliriumgerechnet worden sind. In der Gruppe 2, ,,Abortivdelirium“, 
vereinigte icb die leichteren Falle von sehr kurzer Dauer, in denen 
das eine oder andere Symptom des Deliriums nur unvollstandig 
oder gar nicht ausgepragt war. Endlich befinden sich in der dritten 
Gruppe alle diejenigen Trinker, bei denen kein Delirium vorhanden 
war. Es handelt sich in fast alien Fallen dieser letzten Kategorie 
um chronische Alkoholisten, die frisch in die Anstalt aufgenommen 
worden waren, entweder direkt aus der eigenen Hauslichkeit, 
bezw. ihrem sonstigen bisherigen Aufenthaltsorte (von der Strasse 
etc.) oder indirekt aus diesen durch Vermittelung der Polizei; 
im letzteren Falle ist dann oft durch den Aufenthalt auf den Polizei- 
wachen ein mehrstiindiger (bis zu einem Tage!) Zwischenraum 
zwischen Hauslichkeit (letzterAlkoholgenuss!) undAufnahme in die 
Anstalt eingeschaltet worden. Ich Hess dagegen alle diejenigen 
Trinker ohne weiteres ausser Betracht, welche schon langere Zeit 
(einige Tage) dem chronischen Alkoholmissbrauch entzogen gewesen 
waren, also z. B. alle aus Rrankenhausem der Anstalt uberwiesenen 
Alkoholisten. Die in dieser Gruppe 3 zusammengefassten Trinker 
boten deshalb samtlich irgend welche Zeichen akuter Alkohol- 
intoxikation oder lange fortgesetzten Alkoholmissbrauches dar, 
wie mehr oder weniger schwere Betrunkenheit, Benommenheit, 
Tremor linguae et manuum, kongestioniertes Gesicht, belegte 
Zunge, neuritische Symptome (Schmerzen in den Waden etc.), 
allgemeinen Tremor, Unruhe, Angst, unruhigen Schlaf, schreck- 
hafte Traume, vereinzelte Visionen, voriibergehende Delirien, 
einen Krampf- oder Schwindelanfall am ersten Tage oder wahrend 
der paar ersten Tage nach der Aufnahme usw. Es konnte deshalb 
vielleicht auch der eine oder andere Fall aus dieser Gruppe eben 
noch als Abortivdelirium aufgefasst werden. 

Die Ergebnisse der Urinuntersuchungen sind kurz zusammen- 
gefasst folgende: 

1 . Von den 99 Deliranten zeigten 30, also 30 pCt., spontane 
Glykosurie, wahrend bei den 69 iibrigen kein Zucker im Urin ge- 
funden wurde. 

2 . Bei 4 von den 26 Kranken mit Abortivdelirium, d. i. bei 
15,4 pCt., warZucker imUrin vorhanden, bei den anderen 22 nicht. 

3. Von den 69 frisch aufgenommenen, nichtdeliranten Trinkern 
hatten 21=30,4 pCt. Zucker im Urin, die iibrigen 48 nicht. 

Ich gehe zunachst auf die Gruppe der 30 Deliranten mit 
spontaner Glykosurie naher ein. Unter ihnen ist einer, der wahrend 
der 2% jahrigen Beobachtungszeit 4 mal ein Delirium in der An¬ 
stalt durchmachte (s. unten Fall 17) und jedesmal Zucker im Urin 
ausschied; ein zweiter (Fall 3) iiberstand 2 Dehrien, beide mit 
spontaner Glykosurie. Wie verhalt sich die bei diesen 30 Kranken 
beobachtete Zuckerausscheidung hinsichtlich ihrer Dauer und ihrer 
Intensitat, und welcher Art sind ihre zeitlichen und sonstigen Be- 


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232 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

ziehungen zum Delirium ? Ein fliichtiger Durehblick der Unter- 
suchungsprotokolle zeigt, dass hier ganz erhebliche Differenzen 
zwischen den einzelnen Fallen bestehen, und da die Falle auch in- 
sofern nicht ganz gleichwertig sind, als der eine im Prodromal- 
stadium, ein anderer vielleicht am zweiten Tage, ein dritter am 
letzten Tage des Deliriums aufgenommen wurden, so erscheint 
eine kurze Skizzierung der einzelnen Falle unerlasslich. Ich kann 
mich dabei fur jeden Fall auf wenige Zeilen beschianken, denn 
das Krankheitsbild ist ja in alien Fallen das gleiche und deshalb 
nur beziiglich seiner Dauei festzulegen, und auch die Angaben 
iiber die Glykosurie werden sich hauptsachlich auf ihre Dauer 
beschranken. 

1. A. R., am 11.11. 1899 delirierend aufgenommen; Delirium bestehfc 
seit 10. II. Deliriert 12. II.—17. II. (am 15. II. Glykosurie:+, sonst wurde 
der Urin nicht untersucht). Krisis am 18. II. 

Res. : Der Urin enthalt am 6. Tage de6 Deliriums, am 3. vor der 
Krisis, Zucker; an alien iibrigen ist er nicht untersucht worden. 

2. E. E., am 19. II. 1899 im Prodromalstadium aufgenommen. Am 
21. II. abends setzt das Delirium ein. (Glykosurie: + .) 22. II.—24. II. De¬ 
lirium (an allen3Tagen Glykosurie: -f-), am 25.11. Krisis (Glykosurie: + ), am 
26. II.—28. II. Glykosurie: —. 

Res.: An den beiden ersten Tagen des Prodromalstadiums Urin nicht 
untersucht, am dritten (Beginn des Delirs) enthalt er Zucker, ebenso an alien 
3 Tagen des Delirs und am Tage der Krisis, an den drei folgenden nicht 
mehr. a 

3 a. G. S., am 25. IV. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er 
angeblich bereits seit 3 Tagen deliriert hat (Glykosurie:—); 26. IV. deliriert 
(Urin nicht untersucht). 27. IV. Krisis (Urin nicht untersucht), 28. IV. ruhig, 
aber noch desorientiert (Glykosurie: + ), 29. IV. desgleichen (Glykosurie: -f-), 
30. IV. orientiert (Glykosurie: + ?)> 1* V.—3. V. Glykosurie: weiterhin 

(4. V.—11. V.) Glykosurie: —. 

Res.: Am 1. (4. Deliriums-) Tage enthalt der Urin keinen Zucker, 
am folgenden (letzten Deliriumstage) und am Krisis-Tage ist er nicht unter¬ 
sucht worden; an den 6 auf die Krisis folgenden Tagen besteht Glykosurie, 
weiterhin nicht mehr. 

3 b. Wiederaufgenommen am 11. II. 1901 im Prodromalstadium. 
Beginn des Delirs am 13. II. abends. Deliriert am 14. II. (kein Urin), 15. II. 
(Glykosurie: —) und 16. II. (Glykosurie: —); am 17. II. Krisis (Glykosurie: 
+ )• Am 18. H. Glykosurie: —. 

Res.: An den 2 Tagen des Prodromalstadiums und den beiden ersten 
Tagen des Deliriums wurde der Urin nicht untersucht; an den beiden letzten 
Tagen des Deliriums enthielt er keinen Zucker, wohl aber am Krisis tage, 
am Tage darauf nicht mehr. 

4. D., am 7. V. 1899 delirierend aufgenommen; ist am Tage zuvor er- 
krankt (Glykosurie: —); 8. V. deliriert (Glykosurie: —), 9. V. desgleichen, 
doch orientiert (Glykosurie: + ), 10. V. ruhig und orientiert (Glykosurie: -f- ?), 
11. V. abends Delirium (Glykosurie: +), 12. V. Delir. (Glyk.: +), 13. V. 
Delir. (kein Urin), 14. V. Delir. (Glykosurie: —), 15. V. Krisis (Glykosurie: 
+ ?), 16. V.—20. V. Glykosurie: —. 

Res.: An den ersten beiden Tagen enthalt der Urin keinen Zucker, 
am 3. und 4. besteht unter Riickgang des Deliriums Glykosurie, ebenso, 
nachdem das Delirium erneut eingesetzt hat, am 5. und 6.; am 7. kein Urin 
untersucht, am 8. kein Zucker; am Krisistage ist Glykosurie zweifelhaft, 
an den 5 folgenden ist sie nicht vorhanden. 

5. F., am 10. V. 1899 delirierend aufgenommen. 11. V. deliriert 
(Glykosurie: —). 12. V. deliriert (Glykosurie: —). 13. V. Xachlass der Un- 


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Arndt, Ueber dio Glykosurie dor Alkoholdoliranton. 


233 


ruhe, orientiert (Glykosurie: —), 14. V. vollig ruhig, hat gut geschlafen 
(Glykosurie: +); Glykosurie: 15. V. —, 16. V. + 18. V.: —, 19. V.: —. 

Res.: Am 2.—4. Tage enthiilt der Urin keinen Zucker, wohl aber am 

5. (dem Tage der Krisis); an den folgenden Tagen keine Glykosurie mehr. 

6. E. H., am 20. V. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er an 
den beiden vorhertrehenden Tagen 3 Krampfanfalle gehabt hatte; 21. V. 
deliriert, 22. V. deliriert, aber viol ruhiger (Glykosurie: +)> 2*1. V. desorien- 
tiert, Tiervisionen, ruhiger (Glykosurie: -[■*)• 24. V. orientiert, ruhig (Gly¬ 
kosurie: —), 25. V. Glykosurie: —. 

Res.: An den beiden ersten Tagen ist der Urin nicht untersucht worden, 
am 3. und 4 enthielt er Zucker; an diesen beiden Tagen war das Delirium 
ohne typische Ivrise im Abklingen; weiterhin war Pat. klar und zeigte 
keine Glykosurie mehr. 

7. F. K., am 24. V. 1899, naehdem er bereits'3 Tage deliriert" hatte, 
aufgenommen, deliriert; 25. V. orientiert. ruhig, aber Tremor und Visionen 
(Glykosurie: —); 26. V. hat nach 1.0 Trional gut geschlafen. Tremor geringer 
(Glykosurie: -f-), 27. V. Wohlbefinden (Glykosurie: —), 28. V. Glykosurie: —. 

Res.: Am 1. Tage (dem 4. des Deliriums) Urin nicht untersucht, am 
2. (abklingendes Delirium) enthalt er keinen Zucker, wohl aber am 3. (nach 
dem Schlaf), an den folgenden nicht mehr. e c- , k % 

8. F. G.. am 27. V. 1899, nachdem er angeblich bereits 4 Tage deli¬ 
riert hatte, delirierend aufgenommen (Glykosurie: + ); deliriert am 28. V. 
(Urin nicht untersucht); am 29. V. Schlaf, doch noch starker Tremor und 
Desorientiertheit (Glykosurie: +), 30. V. ruhiger, Tremor geringer, mangel- 
haft orientiert (Glykosurie: + ), 31. V. orientiert, Wohlbefinden (Glykosurie: 
+ )> 1. VI. Glykosurie: —. 

Res.: Am 1. Tage (den 5. [?] des Delirs) enthalt der Urin Zucker 
am 2. wurde er nicht untersucht; am 3. und 4. (wahrend des allm&hlichen 
Abklingens des Delirs) ist er wieder zuckerhaltig, ebenso am folgenden 
(nachdem das Delirium vollig verschwunden), weiterhin nicht mehr. 

9. M., am 23. VI. 1899, nachdem er nachts zuvor erkrankt war, zur 
Anstalt: Sinnestauschungen, Wahnideen, Tremor, ist aber orientiert (Gly¬ 
kosurie: —); 24. 6. deliriert (Glykosurie: +), 25. VI. deliriert (geringe Gly¬ 
kosurie), 26. VI. desgl. (Glykosurie: + *)> 27. VI. desgl. (Glykosurie: +), 
28. VI. desgl. (Glykosurie: —), 29. VI. ruhiger (Glykosurie: —). Halt noch 
einige Tage an Wahnideen sexuellen Inhalts fest. 

Res.: Am 1. Tage kein Zucker im Urin, wohl aber am 2.—5. in wech- 
selnder Starke, nicht mehr am 6. (letzten) Tage des Deliriums, ebenso wenig 
am folgenden. 

10. P., am 11. IX. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er bereits 
2 Tage lang in einem Krankenhause behandelt worden war (Glykosurie: -f-). 
12. IX. deliriert (Glykosurie: -{-), hatte abends 1,6 Trional erhalten; 13. IX. 
deliriert (Glykosurie: —); 14. IX. Schlaf, orientiert (Glykosurie: +); 16. IX. 
und 16. IX. Glykosurie: —. 

Res.: Am 1. Tage (dem 3. des Delirs?) enthalt der Urin Zucker, 
ebenso am 2., am 3. (letzten) nicht, dagegen wieder am Tage der Krisis 
und dann nicht mehr. 

11. T. Sch., am 7. X. 1899 delirierend aufgenommen (kein Urin unter- 
sucht); 8. X. deliriert (Urin nicht untersucht), 9. X. schlaft (Glykosurie: +), 
10. X. noch ungenau orientiert (Glykosurie: +)> H- X.—13. X. Gly¬ 
kosurie: —. 

Res.: An den beiden ersten Tagen (den letzten des Deliriums) konnte 
der Urin nicht untersucht werden, an den beiden folgenden (wahrend und 
nach der Krisis) enthielt er Zucker, weiterhin nicht mehr. 

12. H., am 16. X. 1899 aufgenommen, macht in den nachsten Tagen 
cin Delirium durch, wahrend dessen er an einem Tage (18. X.) Zucker im 
Urin hatte; an alien ubrigen (16. X., 17. X. und 19. X.—22. X.) enthalt 
dor Urin keinen Zucker. Die genaueren klinischen Notizen iiber diesen Fall 
stohen mir leider nicht zur Verfiigung; es ist vor ullem unbestimmt, wie 


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234 Arndt, Uebor die Glykosurie dor Alkoholdeliranten. 


lange das Delirium dauerte und an welchem Tage desselben die Glykosurie 
bestand. 

13. O. B., am 21. X. 1899 aufgenommen, nachdem er am Tage zuvor 
erkrankt war; ist ruhig, fangt naehts an zu delirieren (Urin ist nicht unter- 
sucht); 22. X. deliriert (Urin nicht untersucht); 23. X. deliriert (Glykosurie: 
+ ?); 24. X. Delirium im Abklingen (Glykosurie: +); 25. X. hat geschlafen, 
ist unruhig und orientiert (Glykosurie: -f- ?); 26. X. Glykosurie: -f- gering. 

Res . : An den beiden ersten Deliriumtagen ist der Urin nicht unter¬ 
sucht worden, am 3. (letzten Delirium-)Tage enthielt er Zucker, ebenso am 
4. (Delirium ist im Abklingen), 5. und 6. (den beiden ersten Tagen nach der 
Krisis). 

14. A. H., am 25. X. 1899 delirierend aufgenommen, hat hohes Fieber, 

rechtsseitige Pneumonie (Glykosurie: —); 26. X. deliriert, hohes Fieber, 
(Glykosurie: +); 27. X. desgl., etwas ruhiger (Glykosurie: —); 28. X. desgl. 
(Glykosurie: —). 29. X. vdllig verwirrt, hohes Fieber (Glykosurie: —); 

30. X. desgl. (Glykosurie: —); 31. X. desgl.; 1. XI. frtih Exitus. 

Res. : Am 1. (wievielten des Deliriums ?) Tage enthalt der Urin keinen 
Zucker, dagegeu am 2., weiterhin 4 Tage nicht mehr; der Fall ist durch 
Pneumonie kompliziert und flihrt am 8. Tage zum Exitus. 

15. F. E., am 26. X. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er bereits 

am Tage zuvor in einem Krankenhause deliriert hatte; 27. X. deliriert 
(Glykosurie: —); 28. X. desgl. (Glykosurie:—); 29. X. Krisis (Glykosurie:—): 
30. X. orientiert, noch leichter Tremor (Glykosurie: 31. X. und 1. XI. 

Glykosurie: —. 

Res . : Am 1. Tage Urin nicht untersucht, am 2. und 3., sowie am 
Krisis-Tage enthalt er keinen Zucker, dagegen am folgenden (dem Tage nach 
der Krisis); spaterhin nicht mehr. 

16. H. O., am 28. X. 1899 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —); 

29. X. deliriert (Glykosurie: —); 30. X. desgl. (Glykosurie: 31. X. ruhig. 

Urin nicht weiter untersucht. 

Es ist moglioh. dass es sich in diesem Falle um eine Paralyse, kom¬ 
pliziert durch Alkoholismus (seit 8 Jahren in grossem Masse) handelt; jeden- 
falls ist das Delirium fraglos als alkohologenes zu betrachten. 

Res . : Am 1. und 2. Deliriumstage enthalt der Urin keinen Zucker. 
wohl aber am 3. (letzten); spater ist er nicht mehr untersucht worden. 

17 a. H. M.. 43 Jahre alt, Hutarbeiter; Vater an ^Gehirnerweichung* 4 
gestorben, sonst erblich nicht belastet. Klein, starke Kyphoskoliose, leidlich 
gut genahrt. Arteriosklerose, Leberschwellung, sonst korperlich keine Ab- 
weichungen von der Xorm. Potus seit 1890 fiir 15—30 Pfennig Schnaps und 
ca. 10 Flaschen Bier taglich. Keine Kopfverletzungen oder Krankheiten 
durchgemacht. Keine Krampfe mid Schwindelanfalle. Delirium 1896, 1898 
und Marz 1899. Hat bis zum 11. XL 1899 gearbeitet, erkrankte daim mil 
Gehors- und Gesichtstauschungoii. Ain 14. XI. 1899 vvieder aufgenommen. 
Ist orientiert, starker allgemeiner Tremor, Yisionon bei Druck auf die Bulbi. 
(Glykosurie: 15. XI. deliriert (Glykosurie: -(-); 16. XI. deliriert (Gly¬ 

kosurie: -f-); 17. XL deliriert (Urin nicht untersucht); 18. XI. schlaft, de¬ 
liriert aber abends wieder (Glykosurie: 4-); 19. XL Tremor universalis, 
zeitlieli nicht orientiert, ruhiger, keine Yisionon mehr (Glykosurie: -(-); 
20. XL gut geschlafen, keine Yisionen (Glykosurie: -f-); 21. XI. nur noch ge- 
ringer Tremor, vdllig orientiert, etc. (Glykosurie: -(-). Befindet sich weiter¬ 
hin vdllig wohl. ist aber leicht erregbar, zeigt starkes Hunger- und Durst- 
gefiihl. Der Urin enthielt noch bis zum 24. XL Zucker in geringer Menge. 
claim (untersucht bis zum 3. XII.) nicht mehr. 

Res. : Der Urin enthalt wahrend des ganzen Deliriums (4 Tage, ausser- 
dem 1 Tag nicht untersucht), am Krisistage, sowie noch 5 Tage nachher in 
abnehmender Menge Zucker. 

17 b. VViederaufgenornmen am 28. IV. 1900, nachdem er erst vor ca. 
6 Wochen entlassen worden war. Hat wieder stark getrunken gehabt. Sehr 
starker allgemeiner Tremor, mangelhaft orientiert, keine Sinnestauschungen 
(Glykosurie: -f-); 29. IV. desgl. (Glykosurie: —); 30. IV. deliriert (Gly- 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 235 


kosurie: + ); 1-V. war nachts sehr unruhig, zittert sehr stark, ist aber orien- 
tiert (Glykosurie: -f- ?); 2. V. war nachts sehr unruhig, schlaft am Tage 
(Glykosurie:+); 3. V. ausser Bett (Glykosurie:-f-); V.—0. V. Gly¬ 

kosurie : —. 

Res.: Am 1. Tage (Prodromalstadium) enthalt der Urin Zucker, am 
2. (desgl.) nicht, am folgenden (Deliriumstage) ist er wieder zuckerhaltig, 
ebenso an den beiden nachsten Tagen des bereits abklingenden Delirs 
und dem Tage darauf, dann nicht mehr. 

17 C. Wiederaufgenommen am 15. XI. 1900, nachdem er 4% Monate 
ausserhalb der Anstalt gewesen war: Hat seit 4 Tagen nicht geschlafen, 
Visionen gehabt, nicht arbeiten konnen. Ist orientiert, Tremor. (Glykosurie: 

16. XI. desgl. (Glykosurie: -f- ?); 17. XI. nicht geschlafen, keine Sinnes- 
tauschungen, Tremor (Urin nicht untersucht); 18. XI. gut geschlafen, Wohl- 
befinden (Glykosurie: +}. Der Urin enthalt noch bis zum 24. XI. Spuren 
von Zucker. 

Res. : In diesem Anfalle von Abortivdelirium enthielt der Urin an 
den beiden ersten Tagen Zucker, am 3. ist er nicht untersucht worden, und 
dann bestand noch 7 Tage lang, wahrend welcher die deliriosen Symptorne 
bereits verschwunden waren, Glykosurie. 

17 d. Wieder aufgenommen am 15. II. 1901. Seit 5 Tagen bestehen 
Schlaflosigkeit und Visionen; ist ruhig, orientiert, Tremor (Glykosurie: —); 

16. II. desgl., nicht geschlafen, viele Visionen gehabt (Glykosurie: 

17. II. deliriert (Glykosurie: -f - ); 18. II. deliriert (Glykosurie: +); 19. II. 
deliriert (Glykosurie: + ); 20. II. ruhiger, beginnende Orientierung (Gly¬ 
kosurie : -j-); 21. II. Krisis Glykosurie: -f-); 22. II. und 23. II. Glykosurie: +; 
24. II.—26. II. Glykosurie: —. 

Res. : Am 1. Tage, (dem 5. dee Prodromalstadiums) besteht keine 
Glykosurie, dagegen enthalt der Urin am 2. (6. des Prodromalstadiums), 
w&hrend der 4 folgenden Delirientage, am Tage der Krisis und noch 2 Tage 
nach derselben Zucker, dann nicht mehr. 

18. P. P., am 17. XII. 1899 delirierend aufgenommen; hat am 15. XII 

3 Krampfanfalle gehabt, am 16. XII. in einem Krankenhause zu delirieren 
begonnen. 18. XII. deliriert (Glykosurie: -f-), 19. XII. deliriert, aber 

ruhiger (Glykosurie: -f~ *); 20. XII. Krisis (Glykosurie: —). 

Res.: An den ersten beiden Delirientagen ist der Urin nicht unter¬ 
sucht worden, an den beiden folgenden (letzten) enthalt er Zucker, am 
Krisistage nicht mehr. 

19. F. W., hat am 21. XII. 1899 einen Bruch des linken Unterschenkels 
erlitten, kam in ein Krankenhaus, fing dort an zu delirieren, wurde am 
23. XII. delirierend in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: +), starb am 
Nachmittage des folgenden Tc^es im Collaps. 

Res.: Am 1. (dem 3. Delirium-) Tage onthielt der Urin Zucker, am fol¬ 
genden starb der Kranke; Urin nicht mehr untersucht. 

20. A. G., am 21. XII. 1899 Rippenbruch, katarrhal. Lungen- 
entziindung, am 23. XII. in ein Krankenhaus, am 24. XII. beginnendes 
Delirium, am 26. XII. in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: —); 27. XII. 
ruhiger, desorientiert. Tremor (Urin nicht untersucht); 28. XII. ruhig, des- 
orientiert, erhohte Temperatur (Glykosurie: —); 29. XII. deliriert (Gly¬ 
kosurie: —), 30. XII. deliriert (Glykosurie: —), 31. XII. nachts sehr unruhig, 
schlaft am Tage (Glykosurie: —); 1. I. hat geschlafen, ruhig, nicht ganz 
orientiert (Glykosurie: +), 2. I.—4. I. 1900 Glykosurie: —. 

Res. : Von 5 beobachteten Delirium-Tagen (2 waren bereits voraus- 
gegangen) enthielt der Urin an vier keinen Zucker, am 1. wurde er nicht 
untersucht; auch wahrend der beiden Krisistage bestand beine Glykosurie, 
sondem nur am Tage nach der Krisis war sie vorhanden, um dann wieder 
zu verschwinden. 

21. F. B., 40 Jahre alt, Bauerngutsbesitzer, gut genahrt, starker 
Potus (bis zu 3 Litem Kombranntwein taglich), hat im Januar 1899 ein 
Delirium durchgemacht, fing am 28. XII. 1899 wieder an zu delirieren und 

Monataschrlft ftlr Psychiatric and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 16 


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236 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

wrirde am 29. XII. delirierend in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: —); 
30. XII. deliriert (Glykosurie: —); 31. XII. deliriert (Glykosurie: —); 
1. I. 1900 ruhiger, leidlich orientiert (Glykosurie: +); 2. I. hat geschlafen, 
ist ruhig und vollig orientiert (Glykosurie: +). Die Glykosurie bestand noch 
weiter bis zum 6. I., an welchem Tage der Kranke entlassen wurde, und zwar 
in einer Starke von 0,8—1,7 pCt. Es war starkes Hungergefiihl, aber kein 
vermehrter Durst vorhanden; volliges Wohlbefinden. 

Res . : Am 2.—4. Deliriumtage enthalt der Urin keinen Zucker; da- 
gegen bestand Glykosurie am 5. Tage (Krisis), sowie noch wahrend aller 
5 weiteren Beobachtungstage, und zwar in einem solchen Grade, dass man 
an Diabetes denken musste, zumal der Kranke nieht weiter beobachtet und, 
wie in alien iibrigen Fallen, das Verschwinden der Glykosurie konstatiert 
werden konnte. Doch spricht gegen das Vorliegen eines Diabetes vor allem 
wohl die Tatsache, dass wahrend der ersten 3 Tage des Deliriums keine Gly¬ 
kosurie bestand. 

22* P. W., am 3. IV. 1900 aufgenommen, nachdem er seit dem 1. IV. 
in einem Krankenhause gewesen war und dort deliriert hatte; deliriert 
(Glykosurie: + ?); 4. IV. deliriert (Glykosurie: —); 5. TV. deliriert (Gly¬ 
kosurie: —); 6. IV. deliriert, croupose Pneumonie (Glykosurie: + ?); 7. IV. 
hohe Temperatur, ruhiger, orientiert (Glykosurie: +)? 8. IV. hohe Tem- 
peratur, vollig orientiert (Glykosurie: +); 9. IV. hohe Temperatur, vollig 
orientiert (Glykosurie: 10. IV.—12. IV. neues Delirium, dauernd hohe 

Temperatur (Pneumonie), 13. IV. Delirium im Schwinden; 14. IV. Krisis der 
Pneumonie, ist vollig orientiert (Glykosurie vom 10. IV.—14. IV.: —). 

Res .: Am 1. Tage (3. des Deliriums ?) enthalt der Urin vielleicht etwas 
Zucker, am 2. und 3. nieht, am 4. vielleicht; am folgenden (dem Tage der 
Krisis) und den beiden Tagen darauf besteht Glykosurie, die dann wieder 
verschwindet, wahrend ein neues Delirium von dreitagiger Dauer auftritt 
und zugleich mit einer seit der Krisis des ersten Deliriums bestehenden 
crouposen Pneumonie kritisch endet; wahrend der Dauer dieses zweiten De¬ 
liriums und auch nach Ablauf desselben enthielt der Urin keinen Zucker. 

23. F. M., am 7. V. 1900 delirierend aufgenommen, nachdem er seit 
dem 4. V. in einem Krankenhause gewesen war, dort am 4. V. und 5. V. 
Krampfanfalle gehabt und am 7. V. begonnen hatte zu delirieren (Glykosurie: 
—); 8. V. desorientiert, schwitzt, angstlich, zittert, Visionen (Glykosurie: —); 

9. V. mangelhaft orientiert, leicht benommen, Visionen (Glykosurie: -{-); 

10. V. ruhig (Glykosurie: +); 11. V. heiter, mangelhaft orientiert (Gly¬ 
kosurie: 12. V. desgl. (Glykosurie: -f); 13. V. desgl. (Glykosurie: + ); 

14. V. erst heute vollig orientiert etc. (Glykosurie: —); 15. V. —17. V. 
Glykosurie: —. 

Res.: Am 1. und 2. Tage des Deliriums enthalt der Urin keinen Zucker, 
wohl aber am 3. (Delirium im Abnehmen), am folgenden (Krisis) und noch 
3 weitere Tage, wahrend deren er zwar ruhig ist und keine Sinnestauschungen 
hat, aber doch sehr heiter und mangelhaft orientiert ist, so dass es sich hier 
wohl urn ein nochmaliges Aufflackern des Deliriums, wenn auch nur in 
abortiver Form, handelt; erst am 8. Tage ist er vollig orientiert, und von da 
an ist der Urin zuckerfrei. 

24. F. O., am 5. VII. 1900 delirierend aufgenommen, nachdem er seit 
dem 3. VII. in einem Krankenhause gewesen war und dort am 5. VII. an- 
gefangen hatte zu delirieren (Glykosurie: —); 6. VII. deliriert (Glykosurie: 
—); 7. VII. deliriert (Glykosurie: —); 8. VII. Krisis (Glykosurie: —); 9. VII. 
ruhig, orientiert (Glykosurie: -f); 10. VII. und 11. VII. Glykosurie: —. 

Res . : An alien drei Tagen des Deliriums und am Tage der Krisis 
enthalt der Urin keinen Zucker; nur am Tage nach der Krisis besteht Gly¬ 
kosurie, die dann wieder verschwindet. 

25. O. F., am 5. VIII. 1900 delirierend aufgenommen (Glykosurie: +); 
war am 1. VIII. vom Wagen gefallen, Kopfwunde, vom 3. VIII.—5. VIII. 
in einem Krankenhause, begann dort zu delirieren; 0. VIII. deliriert (Gly¬ 
kosurie: —); 7. VIII. schliift am Tage (Glykosurie: -f-); 8. VIII. ruhig, 
orientiert (Glykosurie: -(-); 9. VIII. Glykosurie: —. 


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Arndt, Ueber die Giykosnrie der Alkoholdeliranten. 237 


Res. : Am 1. Tage des Deliriums enthalt der Urin Zucker ,~am 2. nicht; 
am 3. (Krisis) und am Tage darauf besteht wieder Glykosurie, die dann ver- 
schwindet. 

26. A. G. t am 20. VIII. 1900 aufgenommen; Krarapfanfall. 21. VIII. 
mangelhaft orientiert, ruhig. Tremor universalis, deliriert naehts (Urin nicht 
untersucht); 22. VIII. deliriert (Glykosurie: —); 23. VIII. deliriert (Gly- 
koeurie: —); 24. VIII. ruhiger, mangelhaft orientiert (Glykosurie: +). 
25. VIII. noch nicht ganz klar (Glykosurie: -f-); 26. VIII. geordnet (Gly¬ 
kosurie:—); 27. VIII. Urin nicht untersucht; vom 28. VIII. bis 4. IX. 
enthielt der Urin (ausser am 2. IX.) noch Zucker, dann nicht mehr (5. IX. 
bis 7. IX.) 

Res.: An den ersten beiden Tagen (Prodromalstedium) ist der Urin nicht 
untersucht worden, an den beiden Delirium-Tagenenthielt er keinen Zucker; 
an den beiden Tagen des abklingenden Deliriums bestand Glykosurie, die 
dann einen Tag verschwand, um (am nachsten Tage wurde nieht untersucht) 
noch acht Tage lang anzuhalten. 

27. W. B., am 6. X. 1900 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —); 
7. X. deliriert (Glykosurie: —); 8. X. desgl. (Glykosurie: —); 9. X. desgl. 
(Glykosurie: + ); 10. X. ruhig, mangelhaft orientiert, Tremor (Glykosurie: 
-f- ?); 11. X. geschlafen, ruhig (Glykosurie: —); 12. X. Glykosurie: —. 

Res . ; An den ersten 3 Delirium tagen enthalt der Urin keinen Zucker, 
wohl aber am 4. und spurenweise am 5., an welch* letzterem das Delir bereits 
im Abklingen war; an den beiden folgenden Tagen keine Glykosurie mehr. 

28. W. Sch., am 4. I. 1901 delirierend aufgenommen, nachdem er 
zu Hause am 1. I. angefangen hatte zu delirieren und am 3. I. deswegen in 
ein Krankenhaus aufgenommen worden war (Glykosurie: —(-); 5. I. deliriert 
(Glykosurie: -|~); 6. 1. Krisis (Glykosurie: 7. I. ortlich noch ungenau 

orientiert (Glykosurie: +); 8. I. nicht geschlafen, ortlich noch ungenau 
orientiert (Glykosurie: -(-); 9. I. nicht geschlafen, aber jetzt vbllig orientiert 
(Glykosurie: +); die Glykosurie dauerte noch weiter bis zum 15. I.; vom 
16. I.—20. I. Glykosurie: —. 

Res . : Wahrend der ganzen Zeit des beobachteten Deliriums (2 Tage 
lang, wahrscheinlich 4. und 5. Tag des Deliriums), am Tage der Krisis und 
noch 9 Tage nachher bestand Glykosurie; von den letzten 9 Tagen weisen 
die ersten 3 noch deliriose Symptome (schlechten Schlaf, mangelhafte 
Orientierung) auf. 

29. H. F., am 21. III. 1901 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —); 
22. III. deliriert (Glykosurie: —); 23. III. deliriert (Glykosurie: -f-); 24. III. 
ruhig, ungenau orientiert, Tremor (Glykosurie: + ?); 25. III. orientiert 
(Glykosurie: -+-?). 

Res. : An den ersten beiden Deliriumtagen enthielt der Urin keinen 
Zucker, dagegen am dritten (letzten), sowie in geringen Mengen am Tage 
der Krisis und am Tage darauf. 

30. F. M., am 7. IV. 1901 aufgenommen, hat seit einigen Tagen Ge- 

sichtstauschungen gehabt; 8. IV. ruhig, mangelhaft orientiert, kongestio- 
niertes Gesicht, iingstlich (Glykosurie: 9. IV. ruhig, geschlafen, geringer 

Tremor (Glykosurie: + ); 10. IV. ruhig, kongestioniertes Gesicht, Schweiss- 
ausbruch (Glykosurie: -}-); 11. IV. Wohlbefinden (Glykosurie: —). 

Res. : Das Delirium hat sich in der Hauptsache schon vor der Auf- 
nahme in die Anstalt nbgcspielt, doch zeigt er noch 3 Tage lang lcichte 
deliriose Erscheinungen (mangelhafte Orientierung, Sehweissausbruch, 
kongestioniertes Gesicht, am ersten Tage auch Angst), und wahrend aller 
drei Tage enthielt der Urin Zucker. 

Ich muss zunachst darauf hinweisen, dass in 2 unter diesen 
30 Fallen, namlich den Fallen 1 und 2, nicht, wie bei alien iibrigen, 
durch die Anwendung der Gahrungsprobe der strikte Beweis dafiir 
erbracht worden ist, dass es sich bei der im Urin nachgewiesenen 
reduzierenden Substanz zweifellos um Zucker gebandelt hat. Indes: 

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238 Arndt, Ueber die Glykoaurie der Alkoholdeliranten. 

In beiden Fallen waren die Trommersche und N ylanderache Probe 
in einem solchen Grade positiv, wie sie es eigentlich nur bei stark 
zuokerhaltigem Urin zu sein pflegen; im Falle 2 zeigten sie wahrend 
aller 4 Tage des Deliriums und am Tage der Krisis das Vorhanden- 
sein grosser Mengen von reduzierender Substanz an, wahrend sie 
nach der Krisis dauernd negativ waren. Ferner hatte dieser Kranke 
(2) auch in einem friiheren Anfalle von Delirium potatorum 
spontane (durch Gahrungsprobe erwiesene) Glykosurie gezeigt 
und ist bereits in meiner ersten Arbeit iiber diesen Gegenstand 
(s. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. X. S. 441. Fall 26) ver- 
wertet worden. Kurzum, ich habe geglaubt, auch diese beiden 
Falle, trotz der fehlenden Gahrungsprobe, in die Gruppe derer 
mit Glykosurie einreihen zu diirfen. 

Ich will gleich hier bemerken, dass diese beiden Kranken, als 
sie ein anderes Mai ohne deliriose Symptome, aber unter anderen 
Folgeerscheinungen des chronischen Alkoholmissbrauches zur 
Aufnahme gelangten, ebenfalls eine transitorische (durch die 
Gahrungsprobe erhartete) Glykosurie zeigten. 

An der Hand der im Vorstehenden gegebenen klinischen 
Notizen iiber diese 30 Falle und auf Grand der jedem Falle bei- 
gefiigten Zusammenfassung iiber die Dauer der Zuckerausscheidung 
lasst sich nun ein Ueberblick iiber die zeitlichen Beziehungen 
der Glykosurie zum Delirium geben. Es erscheint mir zweckmassig, 
die Mitteilung und Besprechung meiner Ergebnisse an die von 
Raimann gemachten Beobachtungen und Schlussfolgerangen an- 
zukniipfen. Bei samtlichen Deliranten Raimanns nahm, wie oben 
erwahnt, die Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand unmittelbar 
nach dem kritischen Abschlusse des Deliriums ein, um von da 
binnen wenig Tagen zu durchwegs hohen Werten anzusteigen. 
Aber es war nicht etwa nur die Intensitat der Zuckerausscheidung 
nach der Krisis am grossten, sondern in alien Fallen von Delirium 
mit spontaner Glykosurie, die Raimann beobachtete, trat die Zucker¬ 
ausscheidung stets erst nach der Krisis auf; auf der Hohe der Er- 
krankung sah er nie eine spontane Glykosurie, und er bezeichnete 
dieselbe deshalb folgerichtig als „postdeliri6se“. 

Unter meinen 30 Kranken befindet sich eine Anzahl, bei denen 
wie in Raimanns Fallen die Zuckerausscheidung erst nach der 
Krisis des Deliriums auftrat. Bei der Mehrzahl meiner Falle da- 
gegen bestand die Glykosurie bereits wahrend des Deliriums selbst. 
Ich habe nun aus den Fallen der letzten Kategorie aus dem weiter 
unten erorterten Grimde noch diejenigen ausgesondert, in denen eine 
Zuckerausscheidung nur am Ende des Deliriums, d. i. also nur am 
letzten Tage oder auch nur an den beiden letzten Tagen des De¬ 
liriums, beobachtet wurde, und konnte so die 30 Falle zunachst in 
3 Grappen einteilen: 

1. Falle, in denen die Glykosurie erst nach der Krisis des 
Deliriums auftrat. Hierher gehoren die Falle 3 (a und b), 5, 7, 11, 
15, 20, 21, 22, 24 = 9 Falle; 


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Arndt, Ueber die GlykoBurie der Alkoholdeliranten. 239 


2. Falle, in denen die Glykosurie wahrend des Deliriums, aber 
nur am Ende desselben, d. i. am letzten Tage oder an den beiden 
letzten Tagen, auftrat. Hierber gehoren die Falle 6, 13, 16, 18, 
23, 26, 27, 29, 30 = 9 Falle; 

3. Falle, in denen die Glykosurie wahrend des Deliriums, 
und zwar schon betrachtliche Zeit vor dem Ende desselben, auf¬ 
trat. Hierher gehoren die Falle 1, 2, 4, 8, 9, 10, 14, 17 (a, b und d), 
19, 25, 28 = 11 Falle. 

4. Der Fall 12 muss hier ausser Betracht bleiben, da nicht sicher 
feststeht, an welchem Tage des Deliriums die Glykosurie bestanden 
hat. 

Bei 5 von den 9 Fallen der ersten Gruppe, namlich den Fallen 
5, 15, 20, 21 und 24, war die Glykosurie sicher nur eine postdeliriose, 
da wahrend des Deliriums keine Zuckerausscheidung stattfand; 
im Falle 22 sind am ersten und vierten (letzten) beobachteten De- 
liriumstage vielleicht Spuren von Zucker im Urin gewesen, doch 
waren sie so gering, dass man sie wohl ausser Betracht lassen und 
den Fall wegen seiner postdeliriosen Glykosurie in diese Gruppe 
rechnen kann. Endlich ist in den Fallen 3 (und zwar in den beiden 
Delirium-Anfallen dieses Mannes), 7 und 11 zwar auch nur eine 
Zuckerausscheidung nach dem kritischen Abfall des Deliriums 
beobachtet worden, doch darf nicht ausser Acht gelassen werden, 
dass wahrend eines mehr oder minder grossen Teils des Deliriums 
der Urin nicht untersucht worden ist, also immerhin Zucker ent- 
halten haben kann. Mit dieser Einschrankung bilden aber die Falle 
dieser Gruppe eine vollkommene Bestatigung der Raimann schen 
postdeliriosen Glykosurie. 

In den 9 Fallen der zweiten und den 11 Fallen der dritten 
Gruppe trat die Glykosurie bereits wahrend des Deliriums auf. 
Der Zeitpunkt des Beginns der Zuckerausscheidung war ein recht 
verechiedener; in manchen Fallen wurde nur am letzten Tage, 
in anderen an den beiden letzten, in anderen schon an den ersten 
Tagen des Deliriums Zucker im Urin konstatiert. Ich habe nun, 
wie gesagt, diejenigen 9 Falle, in denen die Glykosurie nur am 
letzten Tage oder nur an den beiden letzten Tagen des Deliriums 
beobachtet wurde, zu einer besonderen Gruppe vereinigt. Doch ist 
der Unterschied zwischen diesen Fallen und den iibrigen, in der 
Gruppe III zusammengefassten, nur ein kUnstlich und willkiir- 
lich geschaffener. Ich habe diese Trennung, die iibrigens nicht 
einmal ganz strong durchgefiihrt ist, aus folgendem Grunde vor- 
genommen. In 4 Fallen der zweiten Gruppe, namlich den Fallen 6, 
13, 23 und 26, befanden sich die deliriosen Erscheinungen an den 
Tagen, an welchen die Glykosurie auftrat, bereits im Abklingen. 
Es handelte sich in diesen Fallen nicht um das gewohnlichere 
kritische, sondern um ein mehr allmahliches Aufhoren des De¬ 
liriums. Zwar war dieses zur Zeit, als die Zuckerausscheidung ein- 
setzte, sicher noch vorhanden, und die Glykosurie ist demnach 
fraglos als eine „deliri6se“ zu bezeichnen, doch konnte man immer¬ 
hin daran denken, dass das langsame Abklingen des Deliriums in 


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240 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

diesen Fallen der typischen Krisis der meisten anderen Falle 
analog und mithin auch die wahrend dieses allmahlichen Abklingens 
beobachtete Glykosurie der postdeliriosen gleichzusetzen ware. 
Hierher gehort auch wohl der Fall 30, bei welchem das Delirium, 
sich anscheinend in der Hauptsache schon vor der Aufnahme in 
die Anstalt abgespielt hatte, wahrend der Kranke in der Anstalt 
noch drei Tage lang unter leichten deliriosen Erscheinungen Zucker 
ausschied; ich fasste den Fall als abklingendes Delirium auf und 
reihe ihn deshalb den soeben besprochenen 4 Fallen an. Es liegt 
also immerhin die Moglichkeit vor, die bei diesen 5 Fallen der 
Gruppe II beobachtete Glykosurie als eine der postdeliriosen 
analoge anzusehen. Die anderen 4 Falle dieser Gruppe (No. 16, 18, 
27,29) habe ich aber nur aus dem rein ausseren Grunde in dieselbe 
eingereiht, weil auch bei ihnen die Glykosurie nur am letzten Tage 
bezw. an den beiden letzten Tagen des Deliriums beobachtet wurde. 
Das Delirium endete in diesen Fallen kritisch, die Glykosurie ist 
zweifellos als eine echte „deliri6se“ zu bezeichnen, und die Falle 
sind eigentlich besser der Gruppe III zuzurechnen. Die Falle der 
Gruppe II bilden gewissermassen einen Uebergang zwischen denen 
der Gruppen I und III. Die Zuckerausscheidung beginnt wahrend 
des Deliriums, aber nur am Ende desselben, mehr oder weniger 
unmittelbar vor der Krisis, in einigen Fallen im schon abklingenden, 
lytisch endigenden Delirium. Zu erwahnen ist noch, dass bei 3 von 
den 9 Fallen der zweiten Gruppe, namlich den Fallen 6, 13 und 18, 
der Urin in der ersten Zeit des Deliriums nicht untersucht worden 
ist, so dass immerhin die Moglichkeit besteht, dass er auch schon 
in dieser Zeit, also nicht nur am Ende des Deliriums, Zucker ent- 
halten hat. 

Ich komme schliesslich zu den 11 Fallen der dritten Gruppe, 
bei denen die Glykosurie schon so betrachtliche Zeit vor dem Ende 
des Deliriums, in der Regel schon vor den beiden letzten Tagen 
desselben, auftrat, dass es vollig ausgeschlossen ist, sie etwa 
als eine Erscheinung des schwindenden Deliriums aufzufassen. 
Im Falle 1 enthielt der Urin am 3. Tage vor der Krisis Zucker, 
wahrend er an alien iibrigen nicht untersucht worden war; im 
Falle 8 enthielt er am ersten Tage Zucker, am zweiten ist er nicht 
untersucht worden, an den beiden folgenden des abklingenden 
Delirs war wieder Zucker vorhanden; im Falle 14 (mit Pneumonic 
kompliziert) bestand am 2. Tage Glykosurie, dann 4 Tage nicht 
mehr; der Kranke 19 hatte am 3. Deliriumtage Glykosurie und 
starb am folgenden; im Falle 25 fand sich am ersten Tage Zucker, 
am folgenden nicht mehr, am Krisistage erschien er wieder. Inter- 
essant ist Fall 4. Wahrend an den ersten beiden Deliriumtagen 
keine Glykosurie bestand, konstatierte man sie am 3. und 4. Tage 
unter allmahlichem Abklingen und am 5. und 6. Tage unter er- 
neutem Einsetzen des Deliriums. Man konnte hier, wenn man 
etwa der Anschauung Raimanns gerecht werden wollte, die Gly¬ 
kosurie des 5. und 6. Tages auch als eine postdeliriose Fortsetzung 
einer im abklingenden Delirium (am 3. und 4. Tage) aufgetretenen 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Aikoholdeliranten. 


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Glykosurie auffassen, die nur zufallig mit dem erneuten Einsetzen 
des Deliriums zusammenfallt, aber im iibrigen der postdeliriosen 
Glykosurie gleichzusetzen ist; doch ware diese Annahme recht ge- 
zwungen, und es ist wohl viel plausibler, die Zuckerausscheidung 
des 5. und 6. Tages als eine „deliriose“ anzusehen. Endlich konnte 
in den 5 Fallen No. 2, 9, 10, 17 und 28 an alien oder fast alien 
beobachteten Deliriumtagen Zucker im Urin nachgewiesen werden, 
namlich im Falle 2 an samtlichen 4 Tagen und am Krisistage, im 
Falle 9 am 2. bis 5. Tage, wahrend am 1. und 6. (letzten) keine 
Glykosurie bestand, im Falle 10 an den beiden ersten und am 
4. (Krisis-) Tage, wahrend am 3. (letzten Deliriumtage) keine 
Glykosurie vorhanden war. Im Falle 17 bestand in 3 Delirium- 
Anfalien und 1 Abortivdelirium dieses Mannes wahrend der ganzen 
Dauer der Delirien Glykosurie, und im Falle 28 schliesslich wurde 
eine Zuckerausscheidung wahrend der beiden letzten Tage des 
Deliriums, am Tage der Krisis und an den darauffolgenden Tagen 
beobachtet. 

Falle, wie die 5 zuletzt erwahnten, aber auch die meisten 
anderen Falle der Gruppen II und III beweisen jedenfalls zur 
Geniige, dass die Delirantenglykosurie nicht nur, wie Raimann 
es beobachten konnte, eine postdeliriose ist, sondern dass in einer 
grossen Zahl von Fallen die spontane Glykosurie bereits wahrend 
des Deliriums auftritt, und zwar nicht nur am Ende desselben, im 
abklingenden Delirium, sondern oft schon vom Beginn an. Von 
meinen 30Fallen zeigten rund je ein Drittel postdeliriose Glykosurie, 
Glykosurie am Ende und Glykosurie wahrend des Verlaufes des 
Deliriums. Es erhebt sich nun die Frage: Lassen sich diese von 
mir gemachten Befunde in Einklang bringen mit der von Raimann 
aufgestellten Behauptung, dass bei den Deliranten die Assimilations- 
grenze ihren tiefsten Stand erreiche unmittelbar nach dem kritischen 
Abschlusse des Deliriums ? Meine 9 Falle der ersten Gruppe mit 
postdelirioser spontaner Glykosurie sprechen ohne weiteres fiir die 
Richtigkeit dieses Satzes. Von den 20 Fallen der Gruppen II und III 
konnen ebenfalls einige mit spontaner Glykosurie im abklingenden 
Delirium in diesem Sinne aufgefasst werden. Von alien iibrigen 
Fallen mit spontaner Glykosurie wahrend des Deliriums miisste 
aber zu erweisen sein, dass diese Zuckerausscheidung auch nach 
der Krisis noch bestanden habe und womoglich noch starker ge- 
wesen sei als wahrend des Deliriums. Denn wenn die Assimilations- 
grenze schon im Delirium einen so niedrigen Stand hatte, dass es zu 
spontaner Zuckerausscheidung gekommen war, so musste letzteres 
gewiss der Fall sein, wenn sie nach der Krisis den tiefsten Stand 
einnahm. Wenn wir nun die Falle der Gruppen II und III daraufhin 
durchmustern, ob bei ihnen die Zuckerausscheidung bis in die 
Zeit nach der Krisis hineinreichte, so ergibt sich Folgendes: Von 
diesen 20 Fallen mit spontaner Zuckerausscheidung im Delirium 
war bei 3 (No. 1, 16, 19) der Urin nach der Krisis nicht untersucht 
worden. Fall 4, in dem das Delirium nach voriibergehendem Ab- 
klingen erneut zum Ausbruch kam,bleibt hier besser ausserBetracht, 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


ebenso Fall 14, der durch Pneumonie kompliziert war and, ohne dass 
vorher eine eigentliche Krisis des Deliriums gewesen ware, am 

8. Tage zum Exitus fiihrte. Von den iibrigen 15 Fallen war nur bei 
2 nach der Krisis kein Zucker im Urin gefunden worden. Es sind 
dies die Falle 9 und 18. Im Falle 9 enthielt der Urin am 2.—5. Tage 
des Deliriums Zucker in wechselnder Starke, nicht mehr aber am 
€. (letzten) und am folgenden Tage. Im Falle 18 war an den beiden 
letzten Deliriumtagen Glykosurie vorhanden, am Krisistage aber 
nicht mehr. Die iibrigen 13 Falle zeigten dagegen samtlich auch 
nach der Krisis eine mehr oder minder langdauernde Glykosurie. 
Ich mache auf die Falle 10 und 25 aufmerksam, in denen eine am 
drittletzten und vorletzten bezw. am vorletzten Tage beobachtete 
Glykosurie am letzten Tage des Deliriums verschwand, um am 
Krisistage wiederzuerscheinen. In den iibrigen Fallen dauerte die 
Zuckerausscheidung vom Beginn ihres Auftretens im Delirium 
bis zum Krisistage oder iiber ihn hinaus kontinuierlich an. 

Wie verhalten sich nun diese Falle im Hinbhck auf das andere 
Postulat, dass namlich die Glykosurie nach der Krisis intensiver 
gewesen sei als vor derselben? Leider bin ich nicht in der Lage, 
diese Frage auf Grand meines Materials in einwandfreier Weise 
zu entscheiden. Von den in Betracht kommenden, nur 13, Fallen 
der Gruppen II und III sind die meisten ungeeignet: In einigen 
setzte die Glykosurie erst im bereits abklingenden Delirium ein, 
und eine eigentliche Krisis war gar nicht vorhanden. In anderen 
war entweder vor oder nach der Krisis eine polarimetrische Unter- 
suchung nicht gemacht worden; in 2 von diesen Fallen war bei der 
vor der Krisis angestellten Gahrungsprobe der ganze Urin vergoren, 
in und nach der Krisis aber nur ein Teil des Urins, so dass immerhin 
eine grosse Wahrscheinlichkeit dafiir spricht, dass der Urin vor 
der Krisis einen starkeren Zuckergehalt hatte. Im Fall 23 enthielt 
der Urin an 2 Deliriumtagen keinen Zucker, am dritten (letzten) 
Tage 0,2 pCt. in 1310 ccm = 2,62 g, am Krisistage 0,3 pCt. in 
1310 ccm = 3,93 g, am nachsten Tage 0,2 pCt. in 920 ccm = 1,84 g, 
weiterhin 0,2 pCt. in 1040 ccm = 2,08 g und 0,3 pCt. in 1000 ccm 
= 3,0 g. Die ausgeschiedene Zuckermenge war also am Krisistage 
etwas grosser als am letztenDeliriumstage, fiel dann, um schliesslich 
noch einmal wieder anzusteigen; doch sind diese Differenzen sehr 
gering. Im Falle 27 enthielt der Urin an den ersten 3Deliriumstagen 
keinen Zucker, am 4.1,2 pCt. in 800 ccm = 9,6 g, am 5. (abklingendes 
Delir) nur noch Spuren. Endlich enthielt im Falle 28 der Urin am 
vorletzten Deliriumstage in ? ccm = 1,5 pCt. Zucker, am letzten in 
620 ccm = 1,0 pCt. = 6,2 g, am Krisistage in 820 ccm = 1,3 pCt. 
— 10,66g. Die folgenden 9Tage zeigen folgendeZuckerausscheidung: 
1. 1,5 pCt. in 900 ccm = 13,5 g; 2. 2,0 pCt. in 1320 ccm = 26,4 g; 
3. 1,2pCt. in 2620ccm = 31,44g; 4. l,0pCt. in 1520ccm = 15,2g; 
5. 1,2 pCt. in 1400 ccm = 16,8 g; 6. 0,6pCt. in 2720 ccm = 16,4 g; 
7. 0,2 pCt. in 1400 ccm = 2,8 g; 8. ?? pCt. in 2600 ccmm. 

9. 0,7 pCt. in 2400 ccm = 16,8 g; weiterhin war kein Zucker mehr 
im Urin naehweisbar. Auch in diesem Falle war also am Tage 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 243 

der Krisis die Zuckerausscheidung etwas grosser als am vorher- 
gehenden; sie stieg wahrend der drei folgenden Tage, an denen 
iibrigens noch leichtere delirioseErscheinungen bestanden, gradatim 
an und dauerte dann noch sechs weitereTage in geringerer Intensitat 
fort. Es war also in den beiden einzigen fur die Entscheidung 
dieser Frage verwertbaren Fallen (23 und 28) die Zucker¬ 
ausscheidung am Krisistage oder an den darauffolgenden Tagen 
grosser als wahrend des Deliriums. Mithin war in diesen beiden 
Fallen auch das zweite oben aufgestellte Postulat erfiillt: Die 
Assimilationsgrenze hatte also bei ihnen nach dem kritischen Ab- 
schlusse des Deliriums einen tieferen Stand als wahrend des 
Deliriums. 

Eine Betrachtung meiner 30 Falle von spontaner Glykosurie 
bei Delirium tremens mit Riicksicht auf Raimanns Angabe, dass 
die Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand unmittelbar nach 
dem kritischen Abschlusse des Deliriums einnehme, ergibt also, 
dass ein Teil der Falle, namlich die mit postdelirioser Glykosurie, 
diese Behauptung vollauf bestatigt; dass eine Reihe anderer Falle, 
namlich solche mit Zuckerausscheidung am Ende oder im Ab- 
klingen des Deliriums, wahrscheinlich ebenfalls in diesem Sinne 
aufgefasst werden konnen; und dass schliesslich auch alle iibrigen 
Falle mit Glykosurie wahrend des Deliriums, sofern dieselbe iiber 
die Rrisis hinaus andauert, jedenfalls nicht gegen Raimanns An¬ 
gabe sprechen. Ja, zwei Falle der zuletzt erwahnten Kategorie, 
deren Beobachtungsergebnisse hierfiir verwendbar waren, be- 
statigen direkt den von Raimann aufgestellten Satz. Dagegen lassen 
sich in keiner Weise mit demselben in Einklang bringen die bei 
zwei anderen Fallen (9 und 18) erhobenen Befunde; denn in diesen 
beiden Fallen bestand eine Glykosurie wahrend des Deliriums, 
aber nicht mehr nach der Krisis; sie sprachen also direkt gegen 
die Annahme, dass die Assimilationsgrenze unmittelbar nach dem 
kritischen Abschlusse des Deliriums ihren tiefsten Stand einnehme. 
Es erscheint mir deshalb fraglich, ob diese Anschauung Raimanns 
eine ganz allgemeine Geltung beanspruchen kann, wenn ich auch 
zugeben muss, dass sie fur den grossten Teil der Falle zuzutreffen 
scheint. Aus meinen Beobachtungen ergibt sich jedenfalls, dass das 
Maximum der Zuckerausscheidung bei der spontanen Glykosurie 
der Deliranten post crisem gelegen ist, denn von 30 Deliranten 
zeigten 22 — und von den iibrigen Fallen miissen 6 ausser Betracht 
bleiben —. d. h. also fast alle, entweder nur oder (ausser einer 
deliriosen) auch eine postdeliriose Zuckerausscheidung. 

Die Glykosurie der Alkoholdeliranten kann also, wie Raimann 
es in seinen samtlichen Fallen von spontaner Glykosurie gefunden 
hat, „postdeliri6s“ auftreten. Dass dies durchgehend so sein muss, 
entspricht nicht den Tatsachen, denn in etwa 2 / a meiner 30 Falle 
von spontaner Glykosurie trat dieselbe bereits vor der Krisis auf. 
Es existiert also fraglos bei Alkoholdeliranten eine richtige „deli- 
ribse 11 Glykosurie. — Raimann gibt dann noch an, dass die Assi¬ 
milationsgrenze von ihrem tiefsten Stand unmittelbar nach dem 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


kritischen Abschlusse des Deliriums binnen wenig Tagen zu durch- 
wegs hohen Werten ansteige. Dass dies im allgemeinen richtig ist, 
unterliegt keinem Zweifel. Ich habe selbst in meiner ersten Arbeit 
darauf hingewiesen (s. oben), dass in den Deliriumfallen mit spon- 
taner Glykosurie der Zucker einige Zeit nach dem Ablauf der Psy- 
chose aus dem Urin verschwunden war und dass es dann auoh 
nicht mehr gelang, durch Traubenzuckerzufuhr Glykosurie her- 
vorzurufen; dass femer bei den Deliranten, bei welchen der Versuch 
der alimentaren Glykosurie wahrend des Deliriums positiv aus- 
gefallen war, derselbe ein negatives Ergebnis hatte, wenn er einige 
Tage nach der Krisis wiederholt wvirde. Auch in meinen samtlichen 
jetzt mitgeteilten Fallen von spontaner Glykosurie bei Deliranten 
— mit Ausnahme des Falles 21, der am 5. Tage nach der Krisis 
entlassen wurde, ohne dass die Glykosurie verschwunden war — 
konnte mehr oder weniger lange Zeit nach dem Ende des Deliriums 
das Aufhoren der Zuckerausscheidung konstatiert werden. Diese 
Tatsache ist vor allem auch ein Beweis gegen die Annahme, dass 
in dem oder jenem Falle etwa ein Diabetes vorgelegen haben konnte; 
dass dies wohl auch im Falle 21 nicht zutraf, geht, wie schon oben be- 
merkt, vielleicht daraus hervor, dass der Urin am 2.—4. Deliriums- 
tage keinen Zucker enthielt. Es handelte sich also in alien Fallen 
urn eine transitorische Glykosurie. Doch iiberdauerte diese mehr- 
fach das Deliriumende um eine ganze Reihe von Tagen, so im Falle 
3a = 6 Tage, 17a = 5 Tage, 17c = 7 Tage, 21 — mindestens 5 Tage, 
26 = 8 Tage und 28 sogar 9 Tage. Es steigt also jedenfalls nicht 
durchgehends die Assimilationsgrenze binnen wenig Tagen zu hohen 
Werten an, da in 6 Deliriumanfallen noch 5—9 Tage lang nach der 
Krisis Zucker im Urin ausgeschieden wurde. 

Die Intensitat der Zuckerausscheidung war im allgemeinen 
nur gering. Bei der grossen Mehrzahl aller Falle betrug der polari- 
metrisch festgestellte Prozentgehalt des Urins an Zucker 0,2 bis 
0,4 pCt., in 2 Fallen 0,5 pCt. und nur in 4 Fallen war er hoher. 
So schied der Kranke No. 17 einmal 0,8 pCt. aus, und zwar geschah 
dies in dem Anfalle von Abortiv-Delirium (17 c) am Tage der 
Aufnahme. Der Kranke 21 hatte am Krisistage 0,2 pCt. und an 
den folgenden Tagen 0,7 bis 0,8—1,0—1,7 pCt. Zucker im Urin; 
dann wurde er entlassen, sodass eine weitere Beobachtung des 
Yerlaufes dieser Glykosurie leider nicht moglich war. Der Kranke 27 
schied am 4. Tage des Deliriums 1,2 pCt. und am 5. Spuren von 
Zucker aus, und der Kranke 28 endlich zeigte eine ganz besonders 
starke und langdauernde Glykosurie; sie iiberstieg 8 Tage lang 
1,0 pCt. und erreichte einmal sogar 2 pCt. (s. oben). Berechnungen 
der in dem 24 stiindigen Tagesurin ausgeschiedenen Zuckermengen 
zu geben, erscheint mir deshalb von nur geringem Wert, weil, wie 
ich bereits wiederholt gesagt habe, es nur selten gelang, fortlaufend 
den gesamten Tagesurin der Deliranten zu sammeln. Nur soviel 
ergab sich aus meinen Beobachtungen, dass die Menge des Urins, 
wie das ja seit langem bekannt ist, wahrend des Deliriums regel- 
massig vermindert ist, und dass nach Ablauf des Deliriums in den 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 245 

meisten Fallen eine mehr oder weniger erhebliche Polyurie eintritt. 
Doch habe ich eine so hochgradige Polyurie, wie sie Hasche- 
Kliinder 1 ) in 2 Fallen beobachten konnte (bis 7000 und bis 9000 ccm 
Urin pro die), nie gesehen. In der Regel betrug die Urinraenge 
am Tage oder an den ersten Tagen nach der Krisis 2000 bis 3000 ccm. 

Von den 69 Deliranten, welche keine spontane Glykosurie 
zeigten, hatten 3 wahrend der Beobachtungszeit je 2 Delirien durch- 
gemacbt und beide Male keinen Zucker im Ham ausgeschieden; 
ein vierter kam auch in einem abortiven Delirium zur Aufnahme 
und zeigte in diesem ebenfalls keine Glykosurie. 

Bei 21 unter diesen 69 Deliranten fielen die Reduktionsproben 
positiv aus, wahrend die Galirungsprobe ein negatives Resultat 
ergab. Es erscheint mir zweifellos, dass es sich in einem Teil dieser 
Falle um geringe Spuren von Zucker gehandelt hat, die aber eben so 
gering waren.dass eineVergahrung nicht nachweisbarwar. Undzwar 
wiirde ich dies fur etwa die Halfte dieser Falle annehmen; es sind 
das diejenigen, in denen die beiden Reduktionsproben mitten im 
Delirium, am Ende desselben oder nach der Krisis positiv waren, 
wahrend sie spaterhin wieder negativ ausfielen. Es ist ja an und 
fur sich wahrscheinlich — und unter Raimanns Fallen ist eine 
Reihe solcher —, dass bei einzelnen Deliranten die Assimilations- 
grenze nur so weit herabgesetzt ist, dass Zucker im Urin allenfalls 
in Spuren erscheint. Prinzipiell verhalten sich, wie Raimann fest- 
gestellt hat, die Falle ohne spontane Glykosurie nicht anders wie 
die mit solcher, da sich ja auch bei den ersteren experimented 
* durchweg eine Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Kohle- 
hydrate nachweisen lasst. Immerhin hat es eift gewisses Interesse, 
zu wissen, wie haufig bei Deliranten spontane Glykosurie vorkommt, 
zumal doch die Versuche der alimentaren Glykosurie in der Regel 
nicht gemacht werden. Wenn man nun zu den 30 Deliranten mit 
sicherer Glykosurie noch etwa 10 von diesen Fallen, bei denen sich 
Spuren von Zucker fanden, zuzahlt, so wiirden unter 99 Deliranten 
40, d. s. 40 pCt., mit Glykosurie sein. 

Bei der anderen Halfte der soeben erwahnten 21 Falle diirfte 
die im Urin nachgewiesene reduzierende Substanz wohl kaum 
Traubenzucker gewesen sein. Die Reduktionsproben waren hier 
zumeist am ersten oder zweiten Tage nach der Aufnahme positiv, 
und es ist am wahrscheinlichsten, dass es sich da um Glykuron¬ 
sauren gehandelt hat, wie sie nach Verabreichung mancher Medi- 
kamente (Chloralhydrat etc.) im Urin auftreten. Doch scheinen 
auch, abgesehen von diesen „postmedikamentosen“, noch andere 
Glykuronsauren im Harn der Deliranten vorzukommen. Wenig- 
stens gibt Kauffmann 2 ) an, dass der Urin der Deliranten haufig 
reduzierende Substanzen enthalte, die mit dem Aufhoren des 
Delirs ziemlich rasch verschwanden; es handele sich um gepaarte 
Glykuronsauren. Traubenzucker hat Kauffmann dagegen, wie 


*) 1. c. S. 48. 
*) 1. c. 


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246 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

oben bereits erwahnt, nur verhaltnismassig selten im Harn der 
Deliranten gefunden. Wie weit es sich in meinen Fallen um der- 
artige, durch das Delirium bedingte Glykuronsauren gehandelt 
hat, vermag ich nicht zu entscheiden. In einem Falle war mir 
aber das Vorhandensein solcher Substanzen sehr wahrscheinlich; 
es ist der folgende: 

G. R., seit dem 10. XII. 1899 krank, am 14. XII. delirierend durch 
die Polizei zur Anstalt (Tromm: -f-, Nyl.: —); 15. XII. deliriert (Tromm: -f-, 
Nyl.; —); 16. XII. deliriert (Trom: + , Nyl. +); 17. XII. ruhiger, leidlich 
orientiert (Tromm: -|-> Nyl. Polar: 0,5 nach links); 18. XII. vollig 
orientiert (Tromm: +, Polar: 0,05 nach links); der Urin zeigte noch vom 
19. XII. bis 21. XII. Tromm: + und Polar = 0,05 bis 0,1 nach links, vom 
22. XII. ab war die reduzierende Substanz verschwunden. 

Es bestand also wahrend der ganzen beobachteten Dauer 
des Deliriums (3 Tage) eine Ausscheidung reduzierender Substanzen, 
die auch wahrend des Abklingens des Deliriums und eine Reihe 
von Tagen danach (im ganzen noch 5 Tage lang) anhielt; durch 
Polarisation konnte nachgewiesen werden, dass es sich um links- 
drehende Substanzen handelte; sie waren nicht vergarbar. 

Von den 26 Kranken mit Delirium tremens abortivum zeigten 
nur 4 spontane Glykosurie, wahrend bei den 22 anderen kein Zucker 
im Urin gefunden wurde. Der Prozentsatz der Falle mit Glykosurie 
ist also ein erheblich geringerer (15,4 pCt.) als beim typischen 
Delirium (30 pCt.). Dieser Befund wurde fur Raimanns Angabe 
sprechen, dass die Schwere des Deliriums von Einfluss auf dieHerab- 
setzung der Assimilationsgrenze sei. Er glaubte (s. oben) eine . 
relative Verschiedenheit der Falle insofem wahrgenommen zu haben, 
als die Assimilationsgrenze umso mehr herabgedriickt zu sein schien, 
je schwerer die Vergiftung war, je grosser die Hohe, welche das 
Delirium erreichte. Die Falle, in denen es zu keiner spontanen 
Zuckerausscheidung kam, waren vorwiegend leichte. 

Ich erwahne, dass bei 5 von den 22 Abortiv-Deliranten ohne 
Glykosurie die Reduktionsproben positiv ausfielen, die Gahrungs- 
probe aber ein negatives Ergebnis hatte. Fiir diese Falle gilt natiir- 
lich das oben Gesagte; wahrscheinlich hat es sich bei 4 von ihnen 
um Ausscheidung geringer Zuckermengen gehandelt. 

Die vier Falle mit spontaner Glykosurie sind folgende: 

1. G., am 15. V. 1899 aufgenommen: Starker Tremor, schwatzt sehr 
viel, sehr riihrselig, orientiert; 16. V. ,.traumt“ von seinem Beruf, keine 
Visionen. (Tromm und Nyl.: -)-); 17. V. Glykosurie: 4-, 0.8 pCt.; 18. V. 
Glykosurie: -f- ?; 19. V. ist noch sehr euphorisch. riihrselig, schwatzt viel, 
Zittern geringer (Glykosurie: + , 0,1 pCt.); 20. V. Glykosurie: —, 21. V. 
Glykosurie: -j- T; 22. V. ist bedeutend ruhiger. docli immer noch etwas 
Tremor (Glykosurie: —); 23. V. Glykosurie: —; 24. V. Glykosurie: -f- 
(0,2pCt.); 25. V. Glykosurie: -f- (0,3 pCt.); 26. V. bis 29. V. Glykosurie: —. 
Nach Darreichung von 100 g Traubenzucker am 31. V. zeigt der Urin keinen 
Zucker. 

Rea. : Es handelte sich also um eine intermittierende Glykosurie, die in 
den ersten Tagen in wechselnder Starke auftrat, einige Tage verschwand und 
dann wieder 2 Tage anhielt. 

2. P. St., zum 25. Male wegen alkoholischer Geistesstorung in An- 
staltsbehandlung, am 21. XII. 1899 aufgenommen; 25. XII. hat nicht ge- 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


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schlafen, allgemeine motorische Unruhe, Tremor, ist zerfahren, matt (Gly¬ 
kosurie: + *1*0 pCt.); 20. XII. desgl.(Glykosurie: + ?); 27. XII. ausser Bett 
(Glykosurie: + ?); 28. XU. riihrselig, angstlich, verwirrt, leieht benommen 
(Glykosurie: + * 1*5 pCt.); 29. XII. leichteVisionen bei Druck auf die Bulbi, 
orientiert, ruhig, kein Tremor (Glykosurie: + , 1,3 pCt.); 30. XII. orientiert, 
ruhig etc. (Glykosurie: +1,3 pCt.); 31. XII. wieder ausser Bett (Gly¬ 
kosurie: + , 0,8 pCt.); 1. I. bis 3. I. 1900 Glykosurie: —. 

Rea. : Eine am Tage nach der Aufnahme konstatierte Glykosurie 
war wahrend der beiden folgenden Tage minimal, zugleich traten die 
Deliriumerscheinungen sehr zuriick; als diese am folgenden Tage in ver- 
starktem Masse hervortraten, wurde auch die Glykosurie wieder starker 
und hielt jetzt 4 Tage an, 2 Tage langer als die leichten Delirium-Symptome 
dauerten. 


3. J. W., zum 17. Male wegen alkoholischer Geistesstorung in An- 
staltsbehandlung, am 4. 1. 1900 wieder aufgenommen, ist sehr erregt (Gly¬ 
kosurie: —); 5. I. orientiert, keine Halluzinationen, ziemlich unruhig, 
schwatzt viel, Tremor universalis, hochrotes Gesicht (Glykosurie: —); 
6. I. gut geschlafen, orientiert, ruhig, starker, allgemeiner Tremor (Gly¬ 
kosurie: +, 0,3 pCt.); 7. I. ausser Bett. 7. I. bis 10. I. 1900 Glykosurie: —. 

Res . .* Am 3. Tage enthielt der Urin Zucker, nachdem Pat. bereits 
gut geschlafen hatte; die Glykosurie ist wohl als „po8tdeliridse“ anzusehen. 

4. F. W., 35 Jahre alt, Schutzmann, hereditar nicht belastet, trinkt 
seit langer Zeit fiir 20 bis 30 Pfennig Schnaps und 5 Glas Bier taglich; vor 
% Jahr 1 Krampfanfall, im Laufe des letzten Jahres oft Schwindelanfalle, 
Kopfschmerzen, Erregungszustande, Eifersuchtsideen, bedroht die Frau, 
will die Kinder (4) umbringen, usw. Am 22. VI. 1899, nachdem er seit 
6 Tagen wegen Rheumatismus keinen Dienst getan hatte, fing er wieder an, 
die Frau zu beschuldigen und zu bedrohen, zertriimmerte Stubenmobiliar, 
glaubte, dass ein Mann unter dem Bett versteckt sei, erschien nachher ganz 
benommen und wurde an demselben Abend in die Anstalt aufgenommen 
(Glykosurie: +, gering); 23. VI. war und ist ruhig, leieht benommen, hoch¬ 
rotes Gesicht, Tremor linguae et manuum, glaubt in der Kaserne zu sein, 
weiss nicht, wie lange er hier ist. ist zeitlich ungefahr orientiert (Gly¬ 
kosurie: + ); 24. VI. hat gut geschlafen, ist voilig ruhig, ortlich und zeitlich 
orientiert, weiss nicht, wie er hierhergekommen ist usw., macht einen be- 
deutend freieren Eindruck. (Glykosurie: +); 25. VI. gut geschlafen, be- 
deutend freier; abends ein Krampfanfall von 5 Minuten Dauer mit Zuckungen 
am ganzen Korper und Bewusstlosigkeit (Glykosurie: +, 0,3 pCt.). In 
der Folgezeit war er dauernd ruhig, hot keinerlei psyehische Anoinalien dar, 
klagte aber noch eine Zeit lang (ca. 4 Wochen) iiber Kopfschmerzen, Blut- 
andrang nach dem Kopfe, etc. Spater trat volliges Wohlbefinden ein, und 
am 21. IX. 1899 wurde er entlassen. Der Urin enthielt vom 20. VI. bis zum 
17. VII. Zucker in Mengen von 0,1 bis 0,8 pCt., nur am 0. VII. war er zucker- 
frei; am 20. VII. und 23. VII. waren vielleicht noch Spuren vorhanden, 
im iibrigen war vom 18. VII. bis 28. VII. kein Zucker mehr nachweisbar, 
ebensowenig in den am 1. VIII., 19. VIII. und 2. IX. gemachten Proben. 

Rea,: Ich habe diesen Fall etwas eingehender mitgeteilt, weil hier eine 
Glykosurie bestand, die wahrend der 2—3 Tage des Abortivdeliriums und dann 
noch mehr als 3 Wochen andauerte. Dass es sich nicht um Diabetes handelte, 
ergibt sich wohl daraus, dass weder Poly uric noch Polydipsie oder Polyphagie 
oder sonstige Symptome von Diabetes bestanden, und dass die Glykosurie 
ohne Anwendung irgendwelcher diatetischer Massnahmen nach nahezu 
4 Wochen verschwand, um wahrend der weiteren, mehr als zweimonatigen 
Beobachtungszeit nicht mehr in die Erscheinung zu treten. Das Abortiv- 
delirium war nur von kurzer Dauer und wesentlich durch Desorientiertheit 
und Tremor, Angst und Benommenheit charakterisiert. Dieser Fall bildet 
mit seiner langdauernden Glykosurie wohl schon einen Uebergang zu 
einigen Fallen der nachsten Kategorie, umsomehr, als das Abortivdelirium 
nur wenig ausgepragt war. 


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248 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 


Ich wende mich schliesslich zur Besprechung der dritten 
Gruppe, der 69 nichtdeliranten Trinker. Von den 48 dieser Kranken 
welche nach der Aufnahme keinen Zucker im Urin ausschieden — 
3 von ihnen wurden iibrigens wahrend der Beobachtungszeit zwei- 
mal aufgenommen—, zeigten 15 einen positiven Ausfall der Trommer 
schen und Nylanderschen Probe, wahrend die Garungsprobe negativ 
war. Ich verweise beziiglich dieser Falle auf das oben Gesagte und 
lasse es vollig dahingestellt, ob es sich um Spuren von Zucker oder 
um andere reduzierende Substanzen gehandelt hat; es wird ver- 
mutlich hier das eine, dort das andere der Fall gewesen sein. 

Von den 21 Trinkern mit spontaner Glykosurie kann ich 17 
ganz kurz gemeinsam besprechen, da die Zuckerausscheidung bei 
ihnen alien in ganz derselben Weise in die Erscheinung trat. Der 
Urin enthielt namlich bei den meisten (11) nur am ersten Tage nach 
der Aufnahme, bei den anderen wahrend der zwei (5) oder drei (1) 
ersten Tage des Anstaltsaufenthaltes Zucker. Und zwar schwankte 
die Menge desselben zumeist von Spuren bis zu 0,3 pCt.; nur in 
2 Fallen betrug sie erheblich mehr, namlich einmal 0,9 pCt. und in 
dem anderen Falle am ersten Tage 0,9 pCt., am zweiten 1,5 pCt. 
Bei zwei von diesen 17 Fallen trat die Glykosurie nicht wie bei alien 
iibrigen nach einem mehr oder weniger lange Zeit fortgesetzten 
Alkoholmissbrauch, sondern nach einem nur einmaligen Alkohol- 
exzess auf; beide Trinker waren nur einen Tag lang ausserhalb der 
Anstalt gewesen und in trunkenem Zustande wieder aufgenommen 
worden; der eine schied zwei Tage lang Spuren, der andere ebenso 
lange 0,1 bis 0,2 pCt. Zucker aus. 2 von den 17 Kranken hatten 
bei einem anderen Anstaltsaufenthalt im Delirium ebenfalls Zucker 
ausgeschieden. 

Von besonderem Interesse ist folgender von diesen Fallen. 
Ein Kranker zeigte nach der Aufnahme Glykosurie, welche dann 
verschwand und auch bei einem jetzt einsetzenden Delirium 
nicht wieder in die Erscheinung trat. 

K. D., am 31. VII. 1900 durch die Polizei zur Anstalt gebracht, weil 
er zu Hause getobt hatte; 1. VIII. war und ist ruhig, hat viel getraumt, 
keine Sinnestauschungen, ist orientiert, Tremor universalis, hochrotes 
Gesicht (Glykosurie: + , 0,2 pCt.); 2. VIII. gut geschlafen, ausser Bett 
(Urin nicht untersucht); 3. VIII. nachts Visionen gehabt, jetzt ruhig, Wohl- 
befinden; abends beginnt er zu delirieren (Glykosurie: —); 4. VIII. bis 
6. VIII. Delirium (Glykosurie: —); 7. VIII. Ivrisis (Glykosurie: —); 8. VIII. 
Wohlbefinden (Glykosurie: —). — Ich erwahne noch, dass dieser selbe 
Kranke auch in einem anderen Deliriumanfalle keine Glykosurie hatte. 

Der Fall ist ein pragnantes Beispiel dafur, dass die durch die 
Alkohol-Intoxikation und die durch das Delirium hervorgerufene 
Glykosurie nichts miteinander zu tun haben und scharf von ein- 
ander zu sondern sind, wie dies Raimann besonders hervorgehoben 
hat. An und fur sich sollte man doch erwarten, dass einlndividuum, 
welches infolge von alkoholischer Intoxikation Zucker ausscheidet, 
eine Vermehrung der Glykosurie zeigen wird, wenn nun noch ein 
Delirium einsetzt, dass doch ebenfalls in gewissem Masse die Ten- 
denz zur Herabsetzung der Assimilationsgrenze besitzt. Doch das 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 249 

Gegenteil ist hier der Fall: Die Glykosurie versohwindet nach 
einem Tage und erscheint weder wahrend des nach 2 Tagen be- 
ginnenden Delirs, noch auch nach der Krisis wieder. 

Ueber die letzten 4 Falle dieser Gruppe muss ich ein wenig aus- 
fiihrlicher berichten. 

In dem ersten Falle handelt es sich um einen 55 Jahre alten 
Mann, der am 7. VI. 1899 in die Anstalt aufgenommen wurde 
(Glykosurie: —). Er war sehr angstlich, lief unruhig umher, ausserte 
Versiindigungsideen, furchtete, ermordet zu werden; 8. VI. Glyko¬ 
surie: + 0,6 pCt.; am 9. VI. (Trom.:+, Nyl.:-)-, Garung und 
Polar:—) und 10. VI. (Glykorusie: +, 0,1 pCt.) dauerte derselbe 
Zustand an, und auch in den nachsten Wochen beherrschten Angst 
und depressive Wahnideen das Krankheitsbild. Der Urin enthielt 
noch am 11. VI. Zucker in geringer Menge, weiterhin aber konnte 
trotz taglicher Untersuchung bis zum 2. VII. keine Glykosurie mehr 
konstatiert werden, wenn auch die Reduktionsproben hier und da 
ein positives Resultat ergaben. Der Mann war dem Potus in hohem 
Masse ergeben gewesen, und ich trage kein Bedenken, die transi- 
torische Glykosurie des 2. bis 5. Tages auf Rechnung der Alkohol- 
intoxikation zu setzen. Als konkiuTierendes atiologisches Moment 
tritt hier vor allem die Angst auf, die das Hauptsymptom des als 
,,Ang8tpsychose“ im Wernicke schen Sinne aufzufassenden Krank- 
heitsfalles ausmacht. Laudenheimer 1 ) hat wohl als erster auf die 
kausalen Beziehungen zwischen depressiven Affekten bezw. Angst 
und Glykosurie hingewiesen und die transitorische Glykosurie 
gewissermassen als ein Herdsymptom des Angstaffektes bezeichnet. 
Weiterhin haben dann Raimann 2 ) und Schultze 3 ) die Haufigkeit 
von Glykosurie bezw. Herabsetzung der Assimilationsgrenze bei 
Depressionszustanden bestatigt, und Schultze kommt auf Grund 
seiner Beobachtungen zu dem Ergebnis, dass die Glykosurie die 
iiberwiegend grossere Zahl von Fallen krankhafter Depression ver- 
schiedenster Art und Genese begleitet und dass ihre Starke im 
allgemeinen der Starke der Depression entsprach. In unserem 
Falle kann also sehr wohl die heftige Angst des Kranken als Ur- 
sache der Zuckerausscheidung in Betracht kommen. Indes, der 
friihere starke Alkoholmissbrauch und die Tatsache, dass die Gly¬ 
kosurie nur wahrend der ersten Tage des Anstaltsaufenthaltes be- 
stand, wahrend die Angst noch weiter anhielt, lassen es mir doch 
viel plausibler erscheinen, dass die Alkoholintoxikation den haupt- 
sachlichsten atiologischen Faktor bildet. 

In dein zweiten Falle handelt es sich um einen 47 Jahre alten Potator 
strennus, der in den Jahren 1891 bis 1899 schon 10 mal wegen alkoholischer 
Psychose in der Anstalt gewesen war. Er war sehr fettleibig und hatte im 
Jahre 1888 eine ziemlich schwere Kopfverletzung erlitten. In den Jahren 
1899 bis 1900 wurde er wiederum 4 mal in schwer trunkenem und erregtem 

*) 1. c. S. 5. 

>) 1. c. S. 9 ff. 

3 ) Ernst Schultze . Ueber Storungen des Kohlehydratstoffwechsels 
bei Ueisteskranken. Neurol. Zentralbl. 1908. S. 982. 


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250 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

Zustande in die Anstalt aufgenommen. Die schwereren Erscheinungen 
schwanden gewohnlich in 2—4 Tagen, doch blieben Reizbarkeit, Erregbar- 
keit, Kopfschmerzen usw. in mehr oder weniger hohem Grade dauernd be- 
stehen. Wahrend aller 4 Aufenthalte schied er Zucker im Urin aus, und zwar 
das erste Mai acht Tage lang Spuren, das zweite Mai 17 Tage lang zuerst 
0,2 bis 0,4 pCt., dann Spuren, das dritte Mai 14 Tage lang 0,2 bis 0,3 pCt., 
das letzte Mai acht Tago lang Spuren. Es erfolgte also in alien 4 Fallen 
eine ziemlich langdauernde (1—2 Wochen) Glykosurie, die aber imraer ver- 
schwand und sich so als transitorische dokumentierte. Als atiologische 
Faktoren konunen Trauma capitis, Neurasthenic und Fettleibigkeit neben 
dem Alkohol in Frage, doch diirfte dem letzteren wohl die Hauptrolle zu- 
kommen, da mit seinem Fortfall auch die Glykosurie schwindet. 

Der dritte Fall betrifft einen 30 Jahre alten Mann, der seit etwa 
12 Jahren stark trinkt. Er wurde zweimal unter den Folgerscheinungen des 
iibermassigen Alkoholmissbrauches aufgenommen, bot ausserdem neur- 
asthenische und polyneuritische Erscheinungen dar. Das erste Mai schied 
er 9 Tage lang Zucker in Mengen bis zu 0,2 pCt. und dann noch eine Zeit 
lang Spuren aus, das zweite Mai 5 Tage lang 0,2 bis 0,3 pCt. und auch 
spaterhin noch Spuren. Es handelt sich also hier ebenfalls um eine langer- 
dauemde transitorische Glykosurie. 

Fall 4. B. G., pensionierter Gendarm, 43 Jahre alt; aufgenommen am 
19. IX. 1900, weil er seine Ehefrau bedroht, Mobiliar zertriimmert hatte etc. 
Er war friiher stets gesimd, trinkt seit etwa 13 Jahren fur ca. 1 Mark Bier und 
Schnaps taglich, war bis auf einen Rippenbruch (1896) stets gesund. Hatte 
in letzter Zeit ofters Schwindelanfalle, einmal Krampfe, oft Erregungszu- 
stande, beschimpfte und misshandelte die Frau etc. Bei der Aufnahme ist 
er ruhig, orientiert, etwas deprimiert; allgemeiner Tremor, kongestioniertes 
Gesicht. 20. IX. < Jesicht nicht mehr so rot. Tremor universalis etwas ge- 
ringer, Sehnenreflexe gestcigert; hat gut geschlafen, keine Visionen. Die 
beschriebenen Erscheinungen verloren sich im Laufe der nachsten Tage, 
G. bot keinerlei sonstige Anomalien dar und wurde am 13. X. 1900 entlassen. 
Die Untersuchung des Urins ergab, dass in der Zeit vom 19. IX. bis 4. X. 
Zucker ausgeschieden wurde, und zwar am 19. IX. = 0,3pCt., 20. IX. —0,5pCt., 
21. IX. =0,5 pCt. und dann weiterhin stets noch Spuren. die zumeist mit 
der Garungsprobe und polarimetrisch nicht nachweisbar waren, wahrend 
die Reduktionsproben positiv ausfielen; von 5. X. bis 12. X. waren auch 
diese, mit Ausnahme des 9. X., negativ. Es handelt sich also auch hier um 
eine ziemlich langdauernde transitorische Glykosurie, die wahrend der 
ersten drei Tage 0,3 bis 0,5 pCt. betrug und dann noch 13 Tage lang in Spuren 
auftrat. 

Diese letzten 3 Falle unterscheiden sich von den 17 anderen 
dieser Gruppe dadurch, dass bei ihnen die Glykosurie langer als 
1—3 Tage dauerte. Ihnen ist wohl noch der Fall 4 (F. W.) der vorher- 
gehenden Gruppe beizuzahlen, bei dem nach einem kurzdauernden 
Abortivdelirium eine mehrwochige Glykosurie fortbestand. Es 
scheint so, als wenn die nach langer dauerndem Alkoholmissbrauch 
ohne delirante Symptome auftretende Glykosurie in der Regel nur 
wenige Tage dauert, und dass, wenn ihre Dauer eine langere ist, 
vielleicht doch noch andere Faktoren (eine diabetische Pradis* 
position ?) vorliegen. Ich konnte mich wenigstens bei diesen 4 Fallen 
der Verrautung nicht erwehren, dass hier vielleicht doch eine all- 
gemeinere Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Kohle- 
hydrate vorhanden gewesen sein diirfte, als sie durch Alkohol¬ 
missbrauch hervorgerufen zu werden pflegt. 

Ich will zum Schlusse kurz auf das Wesen und die Pathogenese 
der Glykosurie bei deliranten und nichtdeliranten Alkoholisten 


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A milt. Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 251 


etwas naher eingehen. Verhaltnismassig einfach ist die Deutung 
der spontanen Glykosurie bei den nichtdelirierenden Potatoren. 
Der Vollstandigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass ausser den 
bereits erwahnten Untersuchungen von J. Strauss (s. oben) eine 
ganze Reihe von Beobachtungen iiber das Auftreten von Zucker 
im Urin von Trinkern in der Literatur niedergelegt sind. So hat 
Sauvage 1 ) bereits im Jahre 1763 beobachtet, dass nach reichlichem 
Genuss alkoholischer, besonders siisser, Getranke im Urin Trauben- 
zucker in deutlich nachweisbarer Menge auftrat. Kratschmer 2 ) 
fand, dass der Harn von Personen, welche Bier in grossen Mengen 
zu sich nahmen, ab und zu deutlich Zucker enthielt; und zwar war 
es besonders der nahezu farblose, spezifisch leichte Ham, welcher 
wahrend des Biergenusses zur Ausscheidung gelangte, in dem sich 
Zucker nachweisen liess. Auffallend war, dass sich in dieser Bezie- 
hung nicht alle Personen gleich verhielten, auch wenn sie zum 
Zwecke des Versuchs grosse Mengen von Bier zu sich genommen 
hatten; bei einigen wurde regelmassig Zucker gefunden, bei anderen 
nicht. Moritz 3 ) konnte bei den meisten Teilnehmern zweier Soupers, 
bei denen viel Siissigkeiten und Champagner genossen waren, ein- 
wandsfreiZucker imHarn nachweisen. v. Striimpell*)stellte fest, dass 
habituell starke Biertrinker nach reichlichem Biergenuss in einzelnen 
Fallen spontane Glykosurie zeigten, aber nur dann, wenn das Bier 
verhaltnismassig rasch in grosserer Menge (1 V 2 —2 Liter) getrunken 
wurde. Er betont, dass individuelle Verhaltnisse eine grosse 
Rolle bei der Entstehung dieser Glykosurie spielen, und schreibt 
ausser der individuellen Disposition der chronischen Alkohol- 
intoxikation und der mit dem Bier erfolgenden anhaltenden iiber- 
reichen Zufuhr geloster Kohlehydrate eine ursachliche Bedeutung 
zu. L. Krehl 6 ) stellte ausgedehente Untersuchungen bei Studenten 
und Brauern an und fand, dass nach Biergenuss ziemlich haufig 
Zucker im Harn auftrat; er gelangte zu dem Ergebnisse, dass die 
Individuality und der Verdauungszustand von Bedeutung fur die 
Entstehung der Glykosurie waren, dass aber femer zu ihrer Er- 
klarung die Wirkungsweise gewisser Stoffe, welche im Biere ent- 
halten waren, anzunehmen sei. Weiterhin hat Reuter*) bei 9 Pota¬ 
toren des Hamburg-Eppendorfer Krankenhauses Zucker im Harn 
nachgewiesen; sie waren frei von komplizierenden Organerkran- 


J ) Zitiert bei Claude Bernard , Lecons sur le diabete. Paris 1877. Leg. 1. 
*) Zur Frage der Glykosurie. Zentralbl. f. d.medizinisch. Wissenschaften. 
1886. No. 15. 257. 

*) Ueber die Kupferoxyd reduzierenden Substanzen des Harnes unter 
physiologischen und })athologischen Verhaltnissen usw. Deutsches Arch, 
f. klin. Medizin. 1890. S. 269. 

4 ) Zur Aetiologie der alimentaren Glykosurie und des Diabetes mellitus. 
Berliner klin. Woehenschr. 1896. No. 46. S. 1017. 

*) Alimentare Glykosurie nach Biergenuss. Zentralbl. f. innere Medizin 
1897. 40. S. 1033. 

•) Karl Reuter . Ein Beitrag zur Frage der Alkoholglykosurie. Mit- 
teilungen a us den Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1900. Bd. 7. 
2. S. 77. 

Monataaehrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. 17 


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252 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 

kungen und, bis auf einen, welcher Anzeichen von Delirium zeigte 
ganz ruhig und ohne schwere nervose Storupgen; sie erhielten im 
Krankenhaus bia auf jeeinenkeinen Alkohol undkeineMedikamente; 
ihre Kost war gemischt und massig kohlehydrathaltig. Alle 9 
schieden entweder vom Tage der Aufnahme ab oder erst einige 
Tage spater ganz voriibergehend oder geraume Zeit hindurch 
Zucker im Harn aus. p- 

Das Auftreten von Zucker im Urin nach dem Genuss alkoho- 
lischer Getranke ist mithin durcb eine grosse Reihe von Autoren 
iibereinstimmend festgestellt worden. Weniger Uebereinstimmung 
besteht fiber die Pathogenese dieser Glykosurie. Als gemeinsame 
ursachliche Faktoren werden individuelle Disposition, toxische 
Wirkung des Alkohols und, bei der nach Biergenuss auftretenden 
Zuckerausscheidung, reichliche Zufuhr von Kohlehydraten wohl 
mit Recht angeschuldigt. Leo 1 ) sieht auf Grund seiner Experimente 
in der nach reichlichem Biergenuss auftretenden Glykosurie eine 
toxische Wirkung der Hefezellen, wahrend Naunyn 2 ) die gleich- 
zeitige Wirkung der Zuckerfiberschwemmung und der durch Wein 
und Bier gesteigerten Diurese als ursachliches Moment in An- 
spruch nimmt. Endlich ist J. Strauss 8 ) geneigt, dem Zustande der 
Betrunkenheit eine besondere Bedeutung ftir das Auftreten der 
Glykosurie zuzuschreiben. 

Die Frage der Pathogenese der Glykosurie nach Alkohol- 
genuss ist also durchaus noch nicht geklart. Dass die individuelle 
Veranlagung, die toxische Wirkung des Alkohols und die reichliche 
Zufuhr der Kohlehydrate von ursachlicher Bedeutung sind, ist wohl 
zweifellos. Der letztgenannte Faktor kommt bei Schnapstrinkem, 
aus denen z. B. mein Material fast ausschliesslich besteht, in Fort- 
fall, ebenso sind die von Leo und Naunyn angeschuldigten Moments 
hier nicht in Anwendung zu bringen. Ob die Betrunkenheit als 
solche, d. h. die Benommenheit des Sensoriums, der rein psychische 
Faktor, einen Einfluss auf die Entstehung der Glykosurie hat, 
wage ich nicht zu entscheiden. Gegeben ist diese Moglichkeit gewiss, 
da ja auch andere psychische Momente, z. B. die Angst (s. oben), 
von atiologischer Bedeutung ftir die Glykosurie sind. Doch mochte 
ich jedenfalls betonen, dass in einer Reihe meiner Falle keine Be¬ 
trunkenheit bei der Aufnahme vorhanden war, und dass ferner bei 
einer grosseren Reihe von Fallen die Glykosurie 2 und mehr Tage 
bestand, also die Betrunkenheit weit fiberdauerte. Mir erscheint 
es am plausibelsten, dass ausser der individuellen Veranlagung 
wesentlich die toxische Wirkung des Alkohols auf irgend welche 
mit dem Kohlehydratstoffwechsel in Verbindung stehende Organe 
es ist, auf welche man die Glykosurie der Alkoholisten zurtick- 
zuffihren hat. Sie steht dann auf einer Linie mit der nach anderen 
Vergiftungen auftretenden Glykosurien, eine Annahme, die ich 


l ) Zitiert bei Naunyn . 

*) B. Naunyn , Der Diabetes mellitiis. II. Aufl. 1906. S. 36. 
’) 1. c. S. 62. 


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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 253 

(fur die alimentare Glykosurie) bereits vertreten habe 1 ) und die 
auch Raimann 2 ) als die wesentlichste ansieht. 

Viel schwieriger erscheint mir die Deutung der DeliraDten- 
Glykosurie. Dass das Delirium als solches den wesentlichen atio- 
logischen Faktor dieser Glykosurie bildet, ist wohl zweifellos. Aber 
in welcher Weise das Delirium wirksam ist, lasst sich nur vermuten. 
Raimann, der nur eine postdeliriose Glykosurie beobachtet hat, 
kaim natiirlich nicht das Delirium direkt als ursachlichen Faktor 
in Anspruch nehmen, denn es ware ja sonst wunderbar, dass die 
Glykosurie sich niemals wahrend des Deliriums zeigt. Er nimmt 
also an, dass sie durch ein Stoffwechselprodukt hervorgerufen wird, 
das erst im Beginn der Rekonvaleszenz sich bildet. Ich selbst habe 
ja recht oft wahrend des Deliriums Glykosurie beobachten konnen, 
und es steht nichts im Wege, diese Zuckerausscheidung als direkte 
Wirkung des deliriosen Prozesses zu bezeichnen, wie es Lauden- 
heimer angenommen hat. Die eigentliche Pathogenese der Glyko¬ 
surie ist damit natiirlich noch in keiner Weise erklart. Fiir die post¬ 
deliriose Glykosurie diirfte aber folgendes Moment in Betracht 
kommen: Ein Teil der Deliranten nimmt wahrend des Deliriums 
wenig Nahrung zu sich, beginnt aber nach dem kritischen Schlaf 
wieder mit Appetit zu essen; es ware immerhin moglich, dass bei an 
und fiir sich bestehender Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit 
fiir Kohlehydrate diese vermehrte Nahrungsaufnahme bezw. Kohle- 
hydratzufuhr zu spontaner Glykosurie fiihrt. Des weiteren will 
ich nicht unterlasen darauf hinzuweisen, dass eine im Beginn des 
Deliriums beobachtete Zuckerausscheidung bei einem eben auf- 
genommenen Kranken auch durch direkten Alkoholgenuss ver- 
ursacht sein kann. Ich verweise in dieser Beziehung auf den oben 
geschilderten Fall. Dass ausser dem Delirium als solchem indivi- 
duelle Momente fiir das Auftreten der spontauen Glykosurie mass- 
gebend sein miissen, ist selbstverstandlich. Denn sonst ware es 
ja nicht zu verstehen, weshalb es in vielenFallen zu einer spontanen 
Zuckerausscheidung kommt, in zahlreichen anderen nicht. Wenn 
auch in den letzteren eine, durch Traubenzuckerzufuhr zu ei weisende 
Herabsetzung der Assimilationsgrenze besteht, so ist doch nioht 
einzusehen, warum sie nicht so hochgradig ist wie in den anderen 
Fallen. Denn auf die Starke des Deliriums zu rekurrieren, 
ist nicht angangig, da zahlreiche Falle von sehr schwerem 
Delirium vollig ohne Glykosurie verlaufen. Dass der geringere 
Prozentsatz der Falle mit Glykosurie beim Abortiv-Delirium immer¬ 
hin in diesem Sinne verwendet werden kann, habe ich oben schon 
erwahnt. Aber es bleibt doch die von mir bereits in meiner ersten 
Arbeit erwahnte Tatsache bestehen, dass die Deliriumfalle ohne 
Glykosurie sich klinisch gar nicht von denen mit Glykosurie unter- 
scheiden. Da bleibt eben nichts iibrig, als auf individuelle Momente 
zuriickzugreifen, und das hat auch Raimann 8 ) tun miissen, um die 

») 1. c. S. 437. 

*) 1. c. S. 119. 

3 ) 1. c. S. 80. 

17* 


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254 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeiiranten. 

Tatsache zu erklaren, dass die Assimilationsgrenze bei den einzelnen 
Fallen in so verschiedenem Grade herabgesetzt war. Er nimmt zwei 
Faktoren an, 1. die individuell verschieden hohe Assimilations¬ 
grenze und 2. die individuell verschieden grosse Toleranz fur Al- 
kohol. Ich bin fest iiberzeugt, dass diese individuellen Momente 
eine sehr grosse Rolle spielen. Wie gesagt, die Tatsache, dass viele 
Deliranten Zucker ausscheiden und andere nicht, lasst sich sonst 
gar nicht erklaren. Man miisste denn sonst annehmen, dass bei 
gleichem klinischen Bilde die Stoffwechselstorungen ganz ver¬ 
schieden sein konnen. Fur die Bedeutung der individuellen Dispo¬ 
sition sprechen auch die Falle, die bei vied er hoi ten Anfallen von 
Delirium stets Glykosurie zeigten oder stets ohne Glykosurie ver- 
liefen. Ich verweise auf die Falle 3 und 17: Bei ersterem wurde in 
zwei Delirium-Anfallen postdeliridse Glykosurie beobachtet, bei 
letzterem enthielt der Urin in 3 Delirien und einem Abortiv-De- 
lirium wahrend des Deliriums und der darauffolgenden Tage 
Zucker. In gleichem Sinne sprechen folgende Beobachtungen: 
Unter deD 69 Deliranten ohne spontane Glykosurie sind 3, welche 
zweimal ein Delirium durchmachten und beide Male keinen Zucker 
ausschieden. 2 Deliranten mit spontaner Glykosurie zeigten die- 
selbe auch, als sie zu einer anderen Zeit ohne deliriose Er- 
scheinungen, aber unter den Folgesymptomen des chronischen 
Alkoholmissbrauches aufgenommen wurden. Auch die beiden 
Falle von Alcoholismus chronicus, welche bei 4 resp. 2 Aufnahmen 
jedesmal fur mehr oder weniger lange Zeit Zucker ausschieden, 
sind hier anzufiihren. Der Einfluss der individuellen Momente ist 
also sicher ein grosser. Doch davon abgesehen, besteht die Tatsache, 
dass das Delirium als solches, bezw. die ihm zugrundeliegenden 
Stoffwechselstorungen oder Organveranderungen eine Herab- 
setzung der Assimilationsfahigkeit fiir Kohlehydrate herbeifiihren, 
die oft wahrend oder nach dem Delirium in spontaner Glykosurie 
sich kundgibt. Ueber die Pathogenese dieser Glykosurie wissen 
wir ebenso wenig wie iiber die des Deliriums selbst. 

Ich mochte dann noch ganz kurz meine Beobachtungen iiber 
das Vorkommen von Eiweiss im Urin der Deliranten mitteilen. Dass 
eine mehr oder weniger starke, transitorische Albuminurie bei 
Deliranten sehr haufig ist, wird iibereinstimmend von fast alien 
Autoren angegeben. Ueber den Grad der Haufigkeit gehen die 
FeBtstellungen der verschiedenen Beobachter allerdings ganz er- 
heblich auseinander, und zwar schwanken sie nach einer Zusammen- 
stellung von Wassermeyer 1 ) zwischen 16 und 76 pCt., ja Hertz 1 ) 
und Dollken 3 ) fanden die Albuminurie nahezu konstant. Wasser¬ 
meyer 4 ) selbst fand unter 241 Fallen der Kieler psychiatrischen 
Klinik 159 mal Eiweiss, d. i. in 66 pCt. der Falle, betont aber, dass 
diese Prozentzahl jedenfalls zu gering sei, da bei vielen Kranken 

») 1. c. S. 886. 

*) Zitiert bei Wassermeyer. 

>) 1. c. 

4 ) 1. c. 


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W e i h s , Uefcer Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn. 255 

nur eine einzige Urinuntereuchung angestellt worden war und er 
sich. selbst wiederholt davon iiberzeugen konnte, does das Eiweiss 
ofters erst im Verlauf des Deliriums auftrat. „Es verschwindet 
zuweilen gleichzeitig mit dem Delirium oder auch schon vorher, 
oder aber es iiberdauert den Anfall um einen oder einige Tage. 
Die Menge des Eiweisses war sehr verschieden, von leichter Opalee- 
zenz beim Kochen bis zu 2 pCt. nach Esbach. . 

Der Urin meiner Deliranten ist wahrend der ganzen Beobach- 
tungszeit taglich (bis auf die eingangs erwahnten Ausnahmen) 
auf das Vorhandensein von Albumen untersucht worden. Von 
106 Delirium-Fallen zeigten 72, d. s. 68 pCt., zu irgend einer Zeit 
des Deliriums Albuminurie; unter diesen 72 Fallen befinden sich 
4 mehrfach aufgenommene, so dass es sich tatsachlich nur um 
68 Personen handelt. Ein Delirant zeigte in einem Delirium Albu¬ 
minurie, in einem zweiten nicht. Unter 26 Fallen von Delirium 
tremens abortivum war bei 15, also etwa57,7 pCt.,Albuminurie vor- 
handen; die Gesamtzahl dieser Falle ist an und fiir sich nur gering, 
und die Differenz zwischen der Prozentzahl dieser Falle mit Albu¬ 
minurie und der bei Deliranten gefundenen ist zu gering, um daraus 
irgend einen Unterschied herzuleiten. Es ergibt sich demnach also 
auch aus meinen Beobachtungen, dass in dem grossten Teil der 
Falle von Delirium tremens Eiweiss im Urin gefunden wird. 

Herm Geheimrat Dr. Sander , Dalldorf, und Herm Direktor 
Sanitatsrat Dr. Richter in Buch bin ich fiir die Erlaubnis zur Aus- 
fiihrung meiner Untersuchungen zu Dank verpflichtet. 


{An8 dim physiologischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven- 
klinik in Berlin. Geh.-Rat Prof. Ziehen.) 

Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 
namentlich im Hirnschenkelfuss des Kaninchens. 

Von 

ALICE WEIHS 

in Prag. 

(Hierzu Taf. XVII—XVIII.) 

Der Grundgedanke der folgenden Arbeit war, durch sehr kleine 
Exstirpationen innerhalb eines motorischen Rindenzentrums, 
welche weder an sich noch durch komplizierende Entziindungs- 
prozesse iiber das einzelne Zentrum hinausgreifen konnten, die 
Lokalisation der einzelncn Teilbahnen innerhalb des Pyramiden- 


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256 Weihs, Ueber Lokalisationeninnerhalbder Pyramidenbahn. 

bahnquerschnittes zu bestimmen. Die wichtigsten Vorarbeiten sind 
folgende: 

Flechsig 1 ) hat bekanntlich zuerst mit Hiilfe einer entwicklungs- 
ge8chichtlichen Methode den Verlauf der Pyramidenbahn genau 
bestimmt. Nach seinen Ermittlungen nehmen die Pyramidenfasern 
im Himschenkelfuss das 3. Viertel 2 ) von innen nach aussen gerechnet, 
bezw. (in distalen Ebenen) das mittlere Drittel 3 ) und in der inneren 
Kapsel das mittlere Drittel des hinteren Schenkels ein. Die zentrale 
Bahn der motorischen Himnerven schliesst sich medial an. Der 
Eintritt der Pyramidenbahn in das Centrum semiovale erfolgt im 
3. Viertel des Schwanzkemes (von vom nach hinten gezahlt). Sie 
zeigt beim Menschen keine Beziehung zu den Hinterstrangen, wohl 
aber fand Flechsig bei Mus decumanus starke Biindel, die in die 
Hinterstrange kreuzten. 

Wahrend sich bis heute viele Autoren dieser Ansicht im 
wesentlichen anschlossen, wurden sie von Dejerine 4 ) in folgender 
Weise modifiziert. Im Himschenkelfuss soli der Extremitatenteil 
der Pyramidenbahn vorwiegend die 3 mittleren Fiinftel (vor 
allem das 4. Fiinftel, wenn man das medialste als erstes bezeichnet) 
einnehmen. Sie gibt sowohl Fasem an die Substantia nigra wie an 
das Briickengrau ab. Ferner soli sie Biindel durch die Substantia nigra 
zur medialen Schleife schicken, welche den ,,Pes lemniscus profond“, 
d. h. einen Teil der lateralen pontinen Schleifenbiindel Schlesingers 5 ), 
bilden. Das medialste Fiinftel enthii.lt vorwiegend Fasern aus der 
facio-pharyngo-laryngealen Rindenregion 6 ), also den Hirnnerven- 
teil der Pyramidenbahn. Diese Fasem enden grosstenteils in der 
Substantia nigra und zwar in ihrem medialen Abschnitt. Ein anderer 
Teil endet im vorderen Briickengrau. Nur sehr wenige dieser 
Fasern gelangen durch die Pyramidenkreuzung in das Riickenmark. 
Obwohl Dejerine diesen Schluss nicht ausdriicklich zieht, so ist 
offenbar anzunehmen, dass diese letzte Fasergruppe des medialen 
Fiinftels zum Extremitatenanteil der Pyramidenbahn 7 ) gehort. 


') Flechsig, namentlich: Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark, 
Leipzig 1876; Systemerkrankungen im Riickenmark, Arch. d. Heilk. Bd. 18. 
1877. 8. 293 ff. (vergl. auch Naturforscher-Versammlung in Miinchen 1877); 
Arch. f. Anatomie und Phys. 1881, nam. S. 15 ff; Plan des menschlichen Ge- 
hims. Leipzig 1883. S. 7. 

*) Dejerine, namentlich: Mom. de la Soc. de Biol. 1893; Compt. rend. 
Soc. de Biol. 1897 und Anatomie des centres nerveux. Paris 1901. T. II. 
8. 73 ff. 

*) Sie soil namlich hier in das zweite Viertel etwas hineinragen; an 
anderer Stelle (Plan, 8. 7) heisst es, dass sie in hoheren Ebenen mehr in 
die aussere Halfte hineinreicht. 

4 ) Charcot (Lemons sur les localisations. Paris 1876—1880. S. 202) 
weist der Pyramidenbahn das mittlere Drittel zu. 

4 ) Obersteinersche Arbeiten aus dem Inst. f. Anatomie und Phys. des 
Zen tralnervensys terns. 1896. H. 4. S. 76. ScMesinger deutet die Biindel als 
zentrale sensible Trigeminusbahn (S. 82). 

*) Schon Brissaud hatte im medialen Fussabschnitt ein „faisceau 
g4nicul6“ unterschieden, welches die Facialis- und Hypoglossusfasem 
enthalten sollte (These de Paris 1880). 

’) Strong genommen gehort die zentrale Bahn der motorischen Him- 


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namentlich im Himschenkelfuss des Kaninchens. 


257 


Ausdriicklich behauptet ubrigens Dejerine (S. 78 und 129), dass in 
den medialen vier Fiinfteln des Fusses die Extremitatenfasem der 
Pyramidenbahn, die Himnervenanteile der Pyramidenbahn und 
die Rinden-Briickenfasem gemischt verlaufen und nur von einem 
Vorherrschen der einen und anderen Fasergattung in diesem oder 
jenera Fiinftel gesprochen werden kann. Andererseits gibt er 
insofem eine speziellere Lokalisation an, als er z. B. der Bein- 
faserung speziell das 4. Fiinftel zuweist (S. 133). Aus diesem 
4. Fiinftel soil auch der ,,Pes lemniscus profond“ hervorgehen. 

Dejerine macht ausserdem noch Angaben iiber aberrierende 
Biindel (S. 543 und 51, auch 81). Zu diesen gehoren namentlich 
die oben schon erwahnten lateralen pontinen Biindel (,,Pes lemnicus 
profond“), die nach Dejerine nicht zu den motorischen Hirnnerven- 
kemen ziehen, sondern nach langerem Verlauf in der Bahn der medialen 
Schleife zur Pyramidenbahn zuriickkehren und in die Pyramiden- 
kreuzung gelangen. Das Biindel von der Schleife zum Fuss (Spitzka- 
sches Biindel, Pes lemniscus superficiel) wird von Dejerine als 
eine Varietat des Pes lemniscus profond, d. h. also der lateralen 
pontinen Biindel betrachtet (1. c. S. 52) und soli ebenfalls aus dem 
4. Fiinftel des Fusses entspringen und in diePyramide der Oblongata 
gelangen oder auch im vorderen Briickengrau endigen. Keine Be- 
ziehung zur Pyramidenbahn scheint De/m'we denjenigen aberrieren- 
den Fussfasern zuzuschreiben, die er als Fibres aberrantes postero- 
ext6rnes beschreibt; diese sollen vielmehr aus dem vierten Fiinftel 
des Fusses zur Haube und zum Vordervierhiigel ziehen (S. 54 
und 543). Dagegen be.schreibt er (S. 547) „Fibres aberrantes 
protuberantielles“,die imPonsgebiet ausderFussbahn in die mediate 
Schleife iibertreten sollen 1 ), um schliesslich wieder zur Pyramiden¬ 
bahn in der Oblongata zuriickzukehren. Analoge Fasern sollen 
in kleiner Zahl die Pyramidenbahn sogar erst distal von der Briicke 
verlassen, um fiir eine kurze Strecke sich dem Verlauf der Schleife 
anzuschliessen (,,Fibres aberrantes bulbaires“, S. 549). 

Obersteiner 2 ) unterscheidet im Hirnschenkelfuss ausser dem 
Stratum intermedium nicht 5, sondern 6 Abschnitte; von diesen 
enthalten der zweite und dritte Pyramidenfasern, und zwar der 
zweite die kortiko-bulbare Bahn zu den Kernen der motorischen 
Himnerven, der lateral angrenzende dritte die kortikospinale Ex- 
tremitatenbahn. Das medialste (erste) Sechstel wird von den 
frontalen Briickenbahnen gebildet. Im vierten Sechstel vermutet 


nerven nicht zur Pyramidenbahn, da sie zum grossen Teil nicht bis in die 
Pyramiden der Medulla oblongata gelangt. Es soli jedoch zur Abkiirzung 
die gesamte Pfrojektionsfaserung der motorischen Region, soweit sie zu 
Vorderhomzellen oder diesen homologen KemzeUen gelangt, als Pyramiden¬ 
bahn bezeichnet werden. 

') Falschlich glaubt Dejerine ( S. 549), dass nur diese Fibres aberrantes 
protuberantiolles den lateralen pontinen Schleifenbiindeln Schlesingers ent- 
spreohen. Tatsachlich ist auch der Pes lemniscus profond im wesentlichen 
den letzteren zuzurechnen. 

’) Obersteiner, Anleitung beim Studium des Baues der nervosen 
Zentralorgane. 1901. 4. Aufl. S. 398. 


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258 W e i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 


0. Bahnen fiir die Muskelsensibilitat, im fiinften liegt die temporale 
Briickenbahn, im sechsten iibrigens relativ unbedeutenden Ab- 
schnitt das Biindel von der Schleife zum Fuss. 

Die funktionelle Topographie der Pyramidenbahn in der 
inneren Kapsel wurde namentlich auch von Beevor und Horsley 1 ) 
untersucht. Auf Grund ihrer sehr genauen Reizversuche an Affen 
stellten sie folgende Anordnung der Faserziige in der inneren Kapsel 
von vom nach hinten fest: Auge, Mund, Kopf, Zunge, Schulter, 
Ellbogen, Hand, Finger, Rumpf, Hiifte, Knie, Fuss, Zehen. Manche 
klinische Befunde machen diese Anordnung auch fiir den Menschen 
wahrscheinlich 2 ). Andererseits hat Melius 3 ) nach Exstirpation des 
Facialisfeldes bei dem Affen gerade im Knie der inneren Kapels 
keine Degeneration gefunden. Ebenso ist ein Fall Bergers 4 ) — 
Hemiplegie ohne Zungenbeteiligung bei einem Herd im Knie und 
im vordersten Drittel des hinteren Kapselschenkels — der Lokali- 
sation der Zungenfasem im Kapselknie nicht giinstig. 

Bechterew 5 ) nimmt im Gegensatz zu Dejerine im Himschenkel- 
fuss eine Zusammenordnung funktionell zusammengehoriger Fasem 
an, insofern als im zweiten Viertel desselben, das die Pyramiden- 
fasem enthalt, der laterale Abschnitt die Fasem aus dem hinteren 
Teil des Gyrus sigmoideus, der mediale die Fasem aus dem vorderen 
Teil desselben Gyms fiihren soli. Dorsolateral von der Extremitaten- 
bahn liegen die Fasem fiir die motorischen Hirnnervenkeme*), die 
Bechterew aus seiner „zerstreuten accessorischen Schleife" herleitet, 
welche mit den lateralen pontinen Schleifenbiindeln identisch ist. 
Er stiitzt sich dabei auf experimentelle Untersuchungen Trapezni- 
koffs beim Hunde. In der inneren Kapsel soli die Pyramiden¬ 
bahn das mittlere Drittel bezw. das dritte Viertel des hinteren 
Schenkels einnehmen. 

Ziehen 1 ) fand nach isolierter Exstirpation des Vorderbein- 
zentrums beim Hund zerstreute Degenerationen in der inneren 
Kapsel. Im Himschenkelfuss und zwar im mittleren Drittel des¬ 
selben sah er das Degenerationsfeld der Substantia nigra anliegen. 
Weiterhin bildeten die degenerierten Fasem im Pons ein geschlossenes 
Biindel; in die Pyramidenkreuzung traten sie vor den Hinterbein- 
fasem ein. Im Seitenstrang des Riickenmarks lagen sie der grauen 
Substanz zunachst, aber nicht als kompaktes Biindel, denn es 
fanden sich zwischen den degenerierten auch normale Fasem. 

*) Beevor and Horsley, An experimental investigation etc. Philos. 
Transactions. 1890. 

*) Vergl. z. B. Vetter, Ueber die feinere Lokalisation in der Caps. int. 
Volkmanns Sammlung klinischer Vortrage. 1896. No. 166. 

’) Relations of the frontal lobe etc. Amer. Journal of Anat. Bd. 7. 

*) Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. 6. S. 114. 

5 ) Bechterew, Die Leitungsbahnen in Gehim und Ruckenmark. 1899. 
S. 279. 

*) 1. c. S. 318 und 236. Vergl. auch Neurol. Centralbl. 1890. S. 739 und 
1891, S. 107. 

7 ) Ziehen, Sekundare Degeneration nach Exstirpation etc. Arch. f. 
Psych, und Nervenkr. 1887. S. 300. 


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namentlich im Himschenkelfuss des Kaninchens. 


259 


Die klinischen Falle, in welchen die sekundare Degeneration 
nach Zerstorung eines motorischen Zentrums innerhalb des Gehirns 
gewissenhaft untersucht wurde, sind leider sehr sparlich. Ich ver- 
weise beispielsweise auf den Fall von Thiele 1 ), in welchem die Zer- 
storung des obersten Drittels der motorischen Region eine De¬ 
generation an der Grenze des mittleren und hinteren Drittels des 
hinteren Schenkels der inneren Kapsel hervorgerufen zu haben 
scheint (siehe auch oben Fall Berger). 

Gad und Flatau 2 ), die am blossgelegten Riickenmarksquer- 
schnitt Reizversuche machten, beobachteten, dass die fiir proximale 
Korperteile bestimmten Fasern der grauen Substanz der Vorder- 
homer anliegen, wahrend die fur distale Teile bestimmten Fasern 
weiter hinten und an der Peripherie des Riickenmarkes verlaufen. 
Diese Verteilung wiirde dem von Flatau spater fiir die sensible 
Leitung aufgestellten Gesetz der exzentrischen Lagerung der langen 
Bahnen entsprechen. 

Dagegenglaubte Hoche 2 ) eineLokalisation innerhalb desRiicken- 
markes ablehnen zu miissen, da er bei einem Fall von anscheinend 
Monoplegie der Hand schon vom Pons an das ganze Gebiet von 
degenerierten Fasern iibersat fand; der grosste Teil derselben 
kreuzte in die gegenseitigen Seitenstrange, nur 30—40 Fasern blieben 
als Pyramidenvorderstrang auf der gleichen Seite. Im dritten 
Siebentel des Hirnschenkelfusses bildeten die degenerierten Fasern 
ein Dreieck, dessen Spitze die Substantia nigra beriihrte. Der 
motorische Schleifenanteil war frei. 

DieFrage der Gruppierung der motorischen Bahnen im mensch- 
lichen Riickenmark behandelte femer sehr genau Fabritius*). 
Er untersuchte mehrere Falle von Verletzung des Riickenmarks 
durch Messerstiche und kam dadurch und durch den Vergleich 
ahnlicher Falle in der Literatur zu dem Ergebnis, dass die Bahnen 
fiir die einzelnen Bewegungen voneinander getrennt verlaufen, 
und zwar die fiir das Bein im hinteren inneren, die fiir den Arm 
im vorderen ausseren Abschnitt der Pyramidenseitenstrangbahn; 
innerhalb dieses Gebietes sollen die Fasern fiir proximal gelegene 
Abschnitte mehr medial, die fiir distal gelegene mehr lateral liegen. 
Also finden sich z. B. im Gebiet fiir das Bein die Fasern fiir die 
Hiifte am weitesten hinten innen, dann folgen die fiir das Knie, 
hierauf am weitesten nach vom aussen die fiir den Fuss; eine 
analoge Anordnung besteht fiir die obere Extremitat. Zu einem 
ahnlichen Ergebnis gelangt Halhtrom 5 ) auf Grund einer klinischen 
Beobachtung. 


>)■ Thiele, Brain, 1901. Bd. 24. S. 509. 

*) Gad und Flatau, Ueber die grobere Legalisation etc. Neurol. Central- 
blatt. 1897. S. 481. 

3 ) Hoche, Ueber die Lage der f. die Innervation der Handbew. etc. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 1900. XVIII. S. 149. 

4 ) Fabritius, Finska Sak. Handlingar, zitiert nach Jahresbericht fiir 
Neurologie und Psychiatrie. 1907. und Gruppierung der motorischen 
Bahnen etc. Arbeiten aus dem Pathologischen Institut Helsingfors. II. 

*) Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 97. S. 167. 


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260 W o i h 3 , Ueber Lokalisationen innorhalb der Pyramidenbahn, 

Flatau x ) nahm in seinen spateren Arbeiten einen isolierten 
Verlauf der einzelnen Pyramidenbahnenteile nur fur die innere 
Kapsel an. Distalwarts sollen sich die Bahnen vermnchen, doch 
nehmen im Fuss die fur den Oberkorper bestimmten den medialen 
Abschnitt, die fiir den Unterkorper bestimmten den lateralen Ab- 
schnitt ein. Von den dorsomedialen Partien der Pyramidenbahn 
gehen feine Biindel entweder durch die Substantia nigra oder 
direkt in die medialen Teile der Schleife iiber. Einige Biindel ziehen 
durch die Schleife zum dorsalen Teil der Substantia reticularis 
tegmenti, wie er nach Exstirpationen im Gebiei des Zentrums des 
Kopfes, Nackens und der oberen Extremitaten sah. Der Pyramiden- 
anteil der Schleife enthalt Fasern fiir die motorischen Hirnnerven- 
kerne und endigt in der Haube; er verbindet also die kortikalen 
Pyramidenneurone mit den motorischen Schaltneuronen der Haube. 
Von hier sollen extrapyramidale Bahnen stammen, die den Riicken- 
marksvorderhornern zustreben. 

Sand 2 ) weist den Pyramidenfasern das mittlere Drittel des 
Fusses an. In der Briicke sollen sich die kortikobulbaren und 
kortikospinalen Fasern vermischen. Erstere losen sich entgegen 
Hoches Beobachtung besonders von den medialen Biindeln der 
Pyramide ab. Die Degeneration soil im verlangerten Mark am 
starksten im dorsolateralenWinkel der Pyramide sein, von wo homo- 
laterale Fasern abgehen, wahrend die kontralateralen Fasern 
durch den dorsalen Rand und den dorsomedialen Winkel die 
Pyramide verlassen. Jacobsohn 3 ) hatte gezeigt, dass die medialen 
und dorsalen kortikospinalen Fasern der Pyramiden sich kreuzen, 
die lateralen den Pyramidenvorderstrang bilden. Sand findet fiir 
diekortikoft ftf&aren Fasern diesel be Anordnung; die zu den homo- 
lateralen Kemen ziehenden Fasern liegen lateral, die zu den kontra¬ 
lateralen Kernen gelangenden Fasern medial. Schleifenfasern zu 
den motorischen Hirnnervenbahnen existieren nach Sand nicht, 
sondern letztere ziehen nur von der Pyramide durch das Areal der 
Schleife oder die Raphe zu den Kernen. In der Hohe der Trochlearis- 
kreuzung verlassen die ersten Fasern die Pyramide und ziehen von 
ihrer dorsolateralen Ecke zu den mittleren Abschnitten der Schleife. 
Zwischen oberem und mittlerem Ponsdrittel verlassen zahlreiche 
kortikobulbare Fasern den Pyramidentrakt in charakteristischen 
schragen Biindeln. 

Ausser der Sandschen Arbeit beschaftigen sich viele alt ere 
Untersuchungen mit der speziellen Verlaufsweise der zentralen 
Bahnen der motorischen Hirnnerven. 


’) Flatau, Ueber die Pyramidenbahnen. Poln. Arch. f. biologische 
und medizinische Wissenschaft. 1906. III. 

*) Sand, Zur Kenntnis der kortikobulbaren und kortikoprntinen 
Pyramidenfasern. Arbeiten aus dem Neurologischen Institut von Ober- 
steiner. 1903. Heft 10. 

*) Jacobsohn, Ueber die Lage der Pyramiden - Vorderstrangbahn. 
Neurol. Oentralbl. 1895. 


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namentlich im Hirnschenkelfuss des Kaninchens. 


261 


Nach Kolliker 1 ) kommt eine gekreuzte Verbindung des Facialis- 
kerns mit der Rinde dadurch zustande, dass starke Biindel aus 
der Pyramide medialwarts austreten, sich sofort in der Raphe 
kreuzen und dorsalwarts vom Lemniscus medialis quer und schief 
lateralwarts zum Facialiskem ziehen. 

Auf demselben Weg verfolgte Hoche 2 ) degenerierte Fasern der 
Facialisbahn zu dem gleichseitigen und dem gekreuzten Kern. 
Der grossere Teil derselben stammte aus dem medialen Abschnitt 
der Pyramidenbahn und zog zum gegenseitigen Kern, der kleinere 
Teil der Fasern gelangte aus dem lateralen Abschnitt der Pyramide 
zum gleichseitigen Kern. Die Fasern der zentralen Hypoglossusbahn 
sah Hoche — ebenfalls in Uebereinstimmung mit Kolliker — von 
der Pyramide teils in der Raphe, teils neben der Raphe, teils lateral¬ 
warts durch die Olive im Bogen durch dieFormatio reticularis, teils 
zum gleichseitigen 8 ), teils zum gekreuzten Hypoglossuskem ziehen. 
Ausserdem beschreibt H. auf Grand seiner Degenerationsbefunde 
eine zweite Bahn von der Himrinde zum Facialis- und Hypo¬ 
glossuskem. Diese zweite zentrale Bahn soil nach Hoche im Pes 
pedunculi aussen von der Pyramidenbahn liegen; von den obersten 
Ponsebenen ab bis zum Niveau des Hypoglossuskernes soil sie der 
medialen Schleife angehoren (daher die Bezeichnung ,,motorischer 
Schleifenteil“) und mit den lateralen pontinen Biindeln Schlesingers 
identisch sein, aber die Kreuzung der medialen Schleife nicht mehr 
mitmachen. Ob ausserdem auch das Spitzka sche Biindel (Biindel 
von der Schleife zum Fuss) zu der zentralen Bahn der motorischen 
Himnerven gehort, lasst H. dahingestellt; jedenfalls war es in seinen 
beiden Fallen von Hemiplegie mit Beteiligung des Facialis und 
Hypoglossus intakt. 

Weidenhammer*) fand die zentrale Hypoglossusbahn in Fasern, 
die aus der Olivenzwischenschicht zum gekreuzten und zum gleich¬ 
seitigen Hypoglossuskem ziehen; die zentrale Facialisbahn sucht 
auch er im ,,Tractus lemnisco-peduncularis“. Ueber die Fasciculi 
pontini laterales sind seine Aeusserungen widersprechend. In der 
ersten Mitteilung spricht er nur von absteigender Degeneration 
und nimmt ihre Endigung in der Briicke an, in der zweiten Mit¬ 
teilung behauptet er auf- und absteigende Degeneration und be- 
zieht erstere auf die sensible Trigeminusbahn. 

Zu ziemlich komplizierten Ergebnissen ist Probst 6 ) bei seinen 
Experimentaluntersuchungen gelangt. Allerdingsmochteichglauben 
dass die bekannten Fehlerquellen der Marchischen Methode 


*) Kolliker , Gewebelehre. 1893. S. 275. 

*) Hoche, Beitrage zur Anatomie der Pyramidenbahn. Arch. f. Psych. 
1898. Bd. 30. S. 103: 

*) Verbindungen mit dem gleichseitigen Kern hatte Edinger schon 
friiher nachgewiesen (Deutsche med. Wochenschr. 1886). 

4 ) Wetdenhammer, Neurol. Centralbl. 1896. S. 191 und 1897. S. 712. 
•) Probet, Zur Kenntnis der Pyramidenbahn. Monatsschr. f. Psych, u. 
Neurol. 1899. S. 91 und Zu den fortsohreitenden Erkrankungen der mo¬ 
torischen Leitungsbahnen. Arch. f. Psych. 1898. S. 766. 


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262 W © i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 


ihm bin und wieder auch eine Degeneration vorgetauecht haben. 
Nach Probst gehen in der Medulla oblongata aus dem Pyramiden- 
areal Fasem ab: 

1. zur gleichseitigen Olivenzwischenschicht, 

2. zur Raphe, urn nach Durchkreuzung derselben in die 
Gegend der gekreuzten Olive zu gelangen. 

3. ein ,,gekreuztes accessorisches Pyramidenbfindel“, 

4. ein ,,gleichseitiges accessorisches Pyramidenbiindel“. 

Die Pyramidenbahnen sollen durcb solcbe Fasem auch mit 
dem Vorderstrang, den beiden ventralen und lateralen Randzonen, 
den beiden vorderen Grenzzonen, beiden Strickkorpem und dem 
Oberwurm in Verbindung treten. 

Ausserdem erkennt Probst in der Schleife verlaufende 
Pyramidenfasem an, welche namentlich ,,die dorsale, mediale 
und laterale Partie“ liber dem Himschenkelfuss einnehmen und in 
der Brficke und im verlangerten Mark feinste Faserchen in die 
Substantia reticularis abgeben. An der medialen Seite der Pyramide 
steigen hier ausserdem Faserchen in der Raphe auf und ziehen durch 
die Schleifenformation namentlich zum gekreuzten, aber auch zum 
gleichseitigen Facialiskem und anderen motorischen Himnerven- 
kemen. 

Den motorischen Trigeminuskern fand Probst bei Verletzung 
des zugehorigen Rindenzentrums frei von Degeneration. Ebenso 
vermochte er in anderen Fallen nicht mit Htilfe der iforcAi-Methode 
eine Degeneration in der grauen Substanz nachzuweisen. Er nimmt 
daher an, dass noch besondere Schaltneurone eingeschoben sind 
oder die Fasem schliesslich marklos werden. 

Das Picksche Bfindel ist ebenfalls zu der Pyramidenbahn bezw. 
zur Bahn der motorischen Hirnnerven in Beziehung gebracht 
worden. Pick 1 ) selbst betrachtete es als eine abnorme Verbindung 
zwischen Seitenstrang und Strickkorper, vielleicht auch Kleinhim. 
Hoche 2 ) stellte fest, dass es abwarts degeneriert, und vermutete, 
dass es sich um eine abnorm hohe einseitige Pyramidenkreuzung 
handele. Ranschoff 3 ) fand, dass es gleichzeitig mit den Pyramiden¬ 
bahnen markhaltig wird. Zu einer etwas abweichenden Auffassung 
ist neuerdings Leuy 4 ) gelangt. Andere „aberrierende“ Pyramiden- 
faserbfindel sind von Sjriller 6 ), Dejcrive 8 ) u. A. beschrieben worden. 

Auch Lewandowsky 1 ) konnte mit Hfilfe der J/arcta'-Methode 


') Pick, Ueber die abnormen Faserbtindel in der Medulla oblongata. 
Arch. f. Psych. 1890. Bd. 21. S. 636. 

*) Hoche, Arch. f. Psych. Bd. 30. S. 103. Vergl. auch UgoloUi. Riv. di 
pat. nerv. u. ment. 1902. 

*) Neurolog. Centralbl. 1899. 

*) Folia neuro-biolog. 1908. Bd. 2. S. 25. Daselbst finden sich auch 
weitere Literaturangaben. 

*) Brain 1899. S. 563. 

*) Rev. neurol. 1900. No. 15. 

’) Lewandowsky, Die Funktionen des zentralen Nervensysterns. Jena 
1907. S. 313. 


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namentlich im Himschenkeliuss dee Kaninchens. 


263 


Endigungen der PyTamidenfasem in den Hirnnervenkemen oder 
in den Vorderhornem selbst nicht nachweisen, sondern die Fasern 
im Riickenmark nur bis in die Zwischenzone zwischen Hinter- und 
Vorderhom, im Himstamm bis in die Formatio reticularis ver- 
folgen. Er vertritt die Ansicht, dass „die von der Rinde anlangende 
Erregung bereits auf gewisse physiologische Zusammenfassungen 
treffen diirfte, in die sie freilich in jeder Weise einzugreifen vermag“. 
Auch Monakow und Flatau nehmen zu der Hypothese von Schalt- 
neuronen ihre Zuflucht. 

Weit vager noch sind die Vermutungen von Adamkiewicz 1 ). 
Die wahren motorischen Zentren sollen im Kleinhirn liegen und 
durch den im Grosshim entstehenden ,,Willen“ angeregt werden. 
Die Bahn der motorischen Innervation wiirde durch Stabkranz > 
Bruckenarme ins Kleinhirn, durch die Kleinhimseitenstrangbahn. 
zu den grauen Vorderhornem ziehen. Fur die Pyramidenbahn 
wiirden die Grosshirnganglien an Stelle des KJeinhirns als Zentren 
fungieren. Da bei den Operationen an subkortikalen Zentren stets 
die Rinde verietzt wurde, konnten die durch diese Experimente 
herbeigefiihrten Lahmungen wohl auf letztere bezogen werden. 

Die vergleichende Anatomie der Pyramidenbahn, namentlich 
derPyramidenkreuzung behandelt a. A.. Ziehen 2 ). VondenUngulaten 
wurde die des Schafes untersucht. Die physiologisch bestimmten 
Leitungsbahnen sind nach Ziehen oft auch anatomisch durch ihre 
eigentiimliche Gliaanordnung, ihr Faserkaliber, ihre Gefassver- 
teilung und schliesslich auch ihre Tinktionsfahigkeit scharf charak- 
terisiert. Die Kreuzung beginnt in einerHohe, in welcher die Vorder- 
horner noch gut ausgebildet sind, und verlauft sehr steil. Die Fasern 
lassen sich teils zu dem Maschenwerk des Proc. retie., teils aber 
auch in den Burdachschen Strang verfolgen. Sie nehmen in seinem 
lateralen Teil ein etwa dreieckiges Feld ein, dessen Spitze zur 
Nische zwischen Angulus int. und Hinterhomkopf gerichtet ist 
und lateral an die spinale Trigeminuswurzel grenzt. Bei den 
Marsupialiem verlauft nach Kollikers und Ziehens 3 ) Forschungen 
die Pyramidenbahn ganz oder grosstenteils im Hinterstrang, nach 
vollstandiger Kreuzung. Die diirftigen Pyramiden der Monotremen 
gehen wahrscheinlich in den Hinterstrang. Die Pyramidenbiindel 
der Insektivoren stammen aus dem Vorderstrang, teilweise vielleicht 
aus dem Hinterstrang, die der Chiropteren und Edentaten aus 
Seiten- und Hinterstrang, die einiger Rodentien (Maus, Ratte, 
Eichhom) aus dem ventralen Hinterstrangsfeld. Die Leporinen 
zeigen einen mehr karnivorenahnlichen Typus. Stieda hatte den 
Verlauf der Pyramidenbahn des Kaninchens im Hinterstrang, 
Lenhossek ausschliesslich im Seitenstrang angegeben. Ziehen fand 

') Adamkiewicz, Der Doppelmotor im Gehim. Neurol. Centralbl. 1907 
S. 590. 

*) Ziehen, Ueber die Pyramidenkreuzvmg des Schafes. Anatomischer 
Anzeiger 1900. XVII. S. 237. 

3 ) Ziehen, Das Zentralnervensystem der Marsupialier und Monotremen. 
S. 881. 


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264 W e i h e , Ueber Lokalisationen inner halb der Pyramidenbahn. 

ihn vorwiegend im Seitenstrang, doch einige Pyramidenfasem auch 
im Vorder- und Hinterstrang. Beziiglich weiterer Einzelheiten ver- 
weise ich auf die eingehende Darstellung Ziehens in seiner Mono¬ 
graphic iiber das Aplacentaliergehirn und iiber das Orycteropus- 
gehim 1 ). 

Bei den vorliegenden Untersuchungen wurde zunachst durch 
Reizung mit moglichst schwachem faradischen Strom das Zentrum 
fiir moglichst isolierte Bewegungen im Gebiet des Mund- und Ohr- 
facialis, des motorischen Trigeminus, des Hypoglossus und einer 
Extremitat festgestellt (stets links) und sodann ein kleiner Teil 
dieser Stelle im Durchmesser von 1—2—4 mm mit einem feinen 
Messerchen unter anti- bezw. aseptischen Kautelen oberflachlich 
exstirpiert; die Tiere, meist Kaninchen, ausnahmsweise Hunde. 
wurden nach ungefahr 3 Wochen getotet, Gehim und Riickenmark 
nach Mar chi behandelt und in Serienschnitte zerlegt. Bei der 
Deutung der Befunde, welche grosstenteils von Herm Geh.-Rat 
Ziehen kontrolliert wurden, beobachtete ich die bekannten, fiir die 
Marchinche Methode so iiberaus wichtigen Vorsichtsmassregeln. 

Die motorische Erregbarkeit der Tiere und dann wieder der 
einzelnen Zentren durch den elektrischen Reiz erwies sich als sehr 
ungleich. Einige Tiere zeigten sich bei schwachen Stromen fast ganz 
unerregbar. Die Anwendung starker Strome wurde ganz vermieden, 
da es gerade auf genaueste Lokalisation des Reizes ankam. Hie 
und da ermiideten die Zentren so leicht, dass die Reizung nur wenige 
Male mit Erfolg wiederholt werden konnte. Allgemein sprachen die 
Facialiszentren am leichtesten an. Besondere Schwierigkeiten 
bot nur die isolierte Reizung des Hinterbeinzentrums, wie dies auch 
Garville-Duret und Fiirslner beobachtet haben. Sie gelang beim 
Kaninchen nur in einem Fall, und da dieses Tier bald nach der 
Operation zugrunde ging, wurden fiir die Untersuchung der 
Hinterbeinfaserung Hunde verwendet. Aber auch bei einem der 
Hunde war das motorische Hinterbeinzentrum fiir die in Betracht 
kommenden Strome unerregbar, obwohl die bekannten Schadi- 
gungen der Rindenerregbarkeit durch Narkose, Blutverlust usw. 
sorgfaltig vermieden wurden. Diese Erscheinung mag darauf 
zuriickzufiihren sein, dass der schwache Reiz fiir die grossen 
Massen der Hinterbeinmuskulatur nicht geniigt, wie schon Munk 
hervorgehoben hat. Da aber beim Affen Bewegungen auch vom 
Hinterbeinzentrum aus stets auszulosen sind, gewinnt die Annahme 
an Wahrscheinlichkeit, dass bei dem fast vollstandigen Mangel von 
isolierten und hoher koordinierten willkiirlichen Bewegungen des 
Hinterbeins beim Kaninchen und der relativ geringen Ausbildung 
derselben beim Hund auch nicht regelmassig eine ausgiebige Ver- 
tretung solcher Bewegungen in der Hirnrinde vorhanden ist. Das 
Vorderbein nehmen hingegen auch die Nager haufig auch ganz 

1 ) Denkschriften der medizinisch-naturwissenBchaftlichen Geeellschaft 
in Jena. Bd. 6. Teil 2. S. 884 und 1909. Bd. 16. S. 477. 


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namentlich im Hirnschenkelfuss dea Kamnchens. 


265 


isoliert in Anspruch; es ist daher wohl auch in der motorischen 
Region ausgiebiger vertreten. 

Die Lage der Zentren entsprach meist mehr oder minder 
genau dem Ferrierschen Schema; eine deutliche Abweichung zeigte 
sich nur in einem Falle, wo Zehenbewegung des Vorderbeins ganz 
vom medial, etwas weiter liinten und lateral Adduktion des Vorder¬ 
beins ausgelost wurde und das Facialiszentrum sich weiter hinten 
fand. 

Es sollen nun die Befunde bei den einzelnen Versuchstieren 
kurz beschrieben werden. Die einzelnen Tiere sind mit grossen 
lateinischen Buchstaben bezeichnet. 

1 . Mundfacialisbahn, 

11.1.1909. 3 /j jahriges Kaninchen G. Trepanation in der linken Parietal- 
gegend, Erweiterung der Oeffnung mit der Knochenzange. Das Hinterbein- 
zentrum erweist sich als unerregbar. Vom Facialiszentrum durch Reizung 
bei 9 cm Rollenabstand Retraktion der rechten Oberlippe. Exstirpation 
eines etwa 4 mm* grossen diinnen Stiicks Rinde. 

13.1. Die Barthaare stehen rechts weiter nach vom gerichtet. An beiden 
Ohren hangend gehalten, kreuzt das Tier stets das rechte Vorderbein liber 
das linke. Auf Stiche in der Lippengegend scheinbar gleichmassige Reaktion. 

2. II. Totung durch Chloroform. Keine Spuren von Meningitis. Das 
Gehim wird fiir 3 Stunden in Formalin, 21 Tage in MiMersche, 28 Tage in 
Marchische Losung gelegt. 

13. I. 3 /j jahriges Kaninchen H. Bei Reizung der Rinde bei 7*4 cm 
Rollenabstand Zittem der Barthaare rechts. Exstirpation. 

15. I. Weder Reiz- noch Ausfallserscheinungen deutlich. 

12. II. Totung durch Chloroform, 6 Stunden Formalin, 24 Tage 
MiiUersche, 28 Tage Marchische Losung. 

Die mikro8kopischen Befunde in diesen beiden Fallen von Exstirpation 
des Zentrums fur den Lippenfacialis deckten sich im wesentlichen fast voll- 
standig, so dass eine gemeinsame Beschreibung zulassig erscheint. In der 
Gegend der unteren Olive (vergl. Fig. 1) zeigt sich bei G Degeneration der 
linken Pyramide, die im medialen Teil am dichtesten ist und lateralwarts 
langsam abnimmt. Nur die medialste Randzone der Bahn erscheint fast ganz 
frei. Dorsalwarts schliesst sich an letztere ein stark degenerierter Streifen 
entlang dem medialen Rand der Olive. Einzelne degenerierte Fasern iiber- 
schreiten die Raphe und ziehen entlang dem medialen und ventralen Rand 
der Olive, ohne in die gekreuzte Pyramide einzugehen. In derFormatio retie, 
sieht man Degeneration besonders im dorsalen Teil in der Nahe der Hypo- 
glossuskeme, vielleicht links etwas starker als rechts. Die Kleinhimseiten- 
strangbahn zeigt eine leichte, aber deutliche Degeneration, und zwar iiber- 
wiegend rechts, die spinale Trigeminuswurzel eine symmetrische, ebenfalls 
sehr leichte Degeneration rechts und links. 

Bei H sind die schwarzen Tropfchen mehr diffus iiber das Pyramiden- 
areal verteilt. Ein degeneriertes Biindel drangt sich durch die Olive und lasst 
sich durch die Form. ret. dorsalwarts bis an den Hypoglossuskem verfolgen. 

Proximalwarts wird die Degeneration der Pyramide auch bei G diffuser 
und nimmt etwas an Starke ab. In der Hohe der oberen Olive (vergl. Fig. 2) 
ist die Degeneration bei beiden Tieren am starksten am ventralen Rand 
in den beiden medialen Dritteln. Dorsalwarts ist sie in der Form, retie., 
zum Teil in den Fibrae rectae langs der Raphe zu verfolgen. Das Facialis- 
knie zeigt beiderseits eine etwa gleiche leichte Degeneration. Im gekreuzten 
Facialiskem findet sich eine etwas starkere Degeneration aJbs in dem 
gleichseitigen. Auch der gekreuzte Lemniscus medialis zeigt eine grossere 
Zahl degenerierter Fasem. Die schwarzen Schollen in den austretenden 
Nervenstammen sind wohl auf Zerrung, Quetschung u. dgl. zuriick- 
zufuhren. Eine starke Degeneration findet sich weiterhin im Bereich des 


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2(36 Weihs, Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 

Corpus trapez. (vergl. Fig. 3) und der Olivenzwischenschicht. Es handelt 
sich dabei jedoch fast nur um quer- oder schraggeschnittene, also nicht zum 
C. trapezoides zu rechnende Fasem. Ein Unterschied zwischen rechts und 
links ist nicht wahrnehmbar. In der Formatio reticul. ist in diesem Niveau 
die Menge der degenerierten Fasern nur sehr gering, und sie beschranken 
sich auf den dorsalen Teil, wo sie bis in die Raphe hinein zu finden sind. 
Die spinale Trigeminuswurzel zeigt bei H rechts ein leichte, aber deutliche 
Degeneration, links ist sie fast frei. 

In der Hirnschenkelregion (vergl. Fig. 4) zeigen sich recht charakte- 
ristische Veranderungen. Ira raedialen Drittel beschrankt sich die Dege¬ 
neration auf einen schraalen ventralen Randstreifen. Im mittleren Drittel 
erstreckt sie sich liber den Fuss in seiner ganzen Hohe und nimmt dabei an 
Dichtigkeit lateralwarts zu. Sehr deutlich heben sich die degenerierten 
Biindel der Flechsigschen Fussschleife (laterale pontine Biindel) von der 
Subst. nigra ab. Im lateralen Fussdrittel findet sich nur am dorsalen 
Rand eine schmale Degenerationszone. Der Lemniscus medialis ist nahezu 
degenerationsfrei. Dieselbe Anordnung der degenerierten Fasem findet sich 
auch bei H. 

Proximalwarts werden die Schwarzpunkte im mediaien Drittel immer 
sparhcher. Dew mittlere Drittel ist jetzt besonders in seinern mediaien Ab- 
schnitt dicht von schwarzen Punkten wie iibersat. Die Biindelquerschnitte 
der Flechsigachen Fussschleife sind als solche nicht mehr zu sehen. statt ihrer 
findet sich ein zusammenhangender schmaler Degenerationsstreifen (vergl. 
Fig. 5). 

In den untersten Ebenen der inneren Kapsel ist ihr vorderer Schenkel 
frei von Degenerationen. Dieselben beginnen vielmehr erst im Knie imd 
nehmen etwa ein Drittel des hinteron Schenkels ein. Das Maximum der 
Dichtigkeit entspricht etwa der Mitte des hinteren Schenkels. Die dege¬ 
nerierten Fasern sind in den hintersten Ebenen auffallig schichtweise an- 
geordnet, so dass sich immer schmale nicht degenerierte Felder zwischen 
die degenerierten schieben. Die nicht degenerierten Felder sind wohl 
durchweg als Fasciculi perforantes (Kolliker) zu deuten. Im ganzen bildet 
das Degenerationsareal ein etwa gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze 
ventral und lateral gerichtet ist. Dorsal von der inneren Kapsel finden sich 
links degenerierte Partien entspreehend dem Corpus geniculatum laterale. 
Diese Degeneration scheint auch mit dem Stabla’anz des Thalamus und 
vielleicht auch mit seinem Nucleus ant. ventralis zusammenzuhangen. An 
der Operationsstelle in der Rinde findet sich bei G eine kleine cystische 
Hohle, bei H nur der durch die Operation gesetzte Defekt. 

23. XI. 1 jahriges Kaninchen D. Starke Blutung beim Spalten der 
Dura. Reizung der Hirnrinde zunachst erfolglos, dann von einer Stelle 8 mm 
links von der Mediallinie bei 7 1 . cm Rollenabstand Oeffnen des Mimdes und 
Verziehung des rechten Mundwinkels. Exstirpation. 

25. XI. Passiven Bewegungen, beispielsweise der Streckung der 
Extremitatenwird rechts ein geringerer Widerstand entgegengesetzt als links. 
Beide Ohren hangen etwas nach links. Barthaare rechts mehr nach vorn 
hangend. 

10. XII. Totung. Das Gehirn wird 4 Stunden in Formalin, 3 Wochen 
in Miillersche, 4 Wochen in Marchische Losung gelegt. 

Der mikroskopische Befund unterscheidet sich bei diesem Versuch 
von den vorhergehenden durch die Mitbeteiligung der gekreuzten Pyramide. 
In der Medulla oblongata ist die linke Pyramide ziemlich gleichmassig von 
degenerierten Fasern iibersat; linienformig angeordnet gehen degenerierte 
Fcwem iiber die Mittellinie etwas liinaus und finden sich dann vereinzelt 
in der rechten Pyramide, besonders in ihrem ventralen Teil. In der Subst. 
retie, liegen sie links mehr medial liber der Olive, rechts sind sie in den late¬ 
ralen Partien zahlreicher. Im Facialiskem finden sich auf der gekreuzten 
Seite deutlich mehr degenerierte Fasem. Im Himschenkelfuss ist die 
Degeneration ahnlich verteilt wie bei G und H: das mediale Drittel ist 
fast frei, die starkste Degeneration findet sich an der Grenze des mittleren 
und lateralen DritteLs. Das letztere ist noch ziemlich stark beteiligt. Im 


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namentlich ira Himschenkelfuss des Kaninchens. 


267 


ventralen Teil des Lemniscus med. findet sich beiderseits eine leichte 
Degeneration, links starker als rechts. Ebenso ist der von Miinzer und 
Wiener l ) beschriebene Tractus tectobulbaris cruciatus links sehr stark, 
etwas aber auch rechts deutiich degeneriert. In der inneren Kapsel deckt 
sich das Bild vollstandig mit dem fiir H und G beschriebenen. 

2. Ohrfadalisbahn. 

16. I- 1 jahriges Kaninchen J. Operation wie oben. Bei 7 cm Rollen- 
abstand Aufrichten des rechten Ohres. Exstirpation. 

18. I. Rechtes Ohr hangt schlaff herab. An den Ohren hangend ge- 
halten, kreuzt das Tier die Beine rechts iiber links. 

13. II. Totung. Gehirn 3 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Miillersche, 
4 Wochen in Marchisehe Losung. 

Mikroskapischer Befunrt. Schon in den unteren Ebenen der Medulla 
oblongata'ist die gauze linke Pyramide ziemlich dicht mit Degenerationen 
iibersat, die nur am lateralen Rand etwas sparlicher werden. Die rechte 
Pyramide zeigt nur wenig degenerierte Fasern, deren Uebergang durch die 
Raphe zu verfolgen ist. Die Form, retie, scheint rechts und links in etwa 
gleichem Moss leieht beteihgt. Am Boden der Rautengrube findet sich eine 
recht erhebliche Degeneration beiderseits, die auch in das Areal der Hypo- 
glossuskerne iibergreift. Die Kleinhimseitenstrangbahn zeigt namentlich 
rechts degenerierte Fasern. Etwas starkere Degeneration findet sich auch 
zwischen der rechten Olive und dem rechten Nucleus lateralis. Proximal- 
warts nimmt die Dichtigkeit der Degeneration in der Pyramide ab und 
nimmt die medialen 3 Viertel des Areals ein, rechts ist sie unbedeutend. 
Der gekreuzte Facialiskem ist von Schwarzpunkten durchsetzt, auch der 
gleichseitigo zeigt eine deutliche Degeneration. Ebenso verhalt sich das 
Facialisknie und das Corpus restiforme. Die sensible Trigeminuswurzel zeigt 
iiberall vereinzelte degenerierte Fasern. Die Olivenzwischenschicht ist be- 
sonders links etwas starker degeneriert; dies gilt in geringerem Mass auch 
von der Langsfaserung im Bereich des C. trapez. In der Briickengegend, 
woselbst die Ponsfasem das Pyramidenareal in mehrere Biindel spalten, 
ist das ganze linke Pyramidenareal betroffen. Der Lemniscus med. zeigt 
nur in seinem ventralen Teil links etwas starkere Degeneration. Der Him¬ 
schenkelfuss erscheint in seinem lateralen Drittel bis an die Orenze zum 
mittleren Drittel fast frei. Das mittlere Drittel ist samt den Flechsigschen 
Fussschleifenbiindeln mit Degenerationspunkten iibersat. In sehr geringem 
Mass ist auch das mediale Drittel beteiligt. Die mediate Schleife ist in den 
proximalen Ebenen ebenso wie die gekreuzte Pyramide ganz frei von De¬ 
generation. In noch hoheren Ebenen nimmt die Degeneration beinahe aus- 
schliesslich das mittlere Drittel des Fusses ein. In dem hinteren Schenke! 
der inneren Kapsel ist ausser dem ventralsten und dem dorsalsten Ab- 
schnitt alles „schichtweise“ degeneriert, und zwar am dichtesten die Um- 
gebung des Knies; doch sind die Befunde nicht ganz einwandfrei. Das 
Corpus gen. lat. und die Gitterschicht zeigt eine ziemlich starke Degeneration, 
ebenso der obere Thalamusstiel und zum Teil auch die Lamina medullaris 
lateralis. Die Himrinde zeigt nur den kleinen der Exstirpation entsprechenden 
Defekt. 

3 . Motorische Trigeminusbahn. 

18. I. 3 j&hriges Kaninchen K. Operation wie oben. Weit vom, iiber 
der Orbita bei 6,8 cm Rollenabstand Kaubewegungen der Kiefer auslosbar. 
Exstirpation. 

20. I. Weder Reiz- noch Ausfallerscheinungen erkennbar. 

13. II. Totung durch Chloroform. Cehim 6 Stunden in Formalin, 
4 Wochen in Miillerache f 6 Wochen in Marchiache Losung. 

12. XII. 2 jahriges Kaninchen F. Hinterbeinzentrum nicht erregbar. 
Von einer Stelle 9 mm von der Medianlinie nach links, iiber der Orbita bei 

l ) Miinzer und Wiener , Das Zwischen- und Mittelhim des Kaninchens. 
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1902. S. 241. 

Honataschrift ftir Paychlatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. ] g 


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268 W e i h a , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 


7,5 cm Roll enabetand Kaubewegungen, dabei allerdingB etnmal auch Kopf- 
drehung nach rechts. Exstirpation. 

10.1. Totung. Gehim 20 Stunden in Formalin, 3WocheninAftJ#ersche, 
4 Wochen in Marchiache Loeung. 

19. I. % jdhriges Kaninchen L. Bei 8^ cm Rollenabstand Aufein- 
anderdriicken der Kiefer. Exstirpation. 

21.1. Einfiihren eines Stucks Mohrriibe zwischen die Lippen und Z&hne 
von links her lost prompt Kaubewegungen aus, ixm rechts niemals. 

14. II. Totung. Gehim 4 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Aftftfersche, 
4 Wochen in Marchiache Losung. 

Mibroakopischer Be fund : Bei L. finden sich schon in der Medulla oblon¬ 
gata, weit kaudal vom Austritt des Trigeminus degenerierte Fasem. Die- 
selben nehmen im H tnterstrang beiderseits eine ganz umschriebene Stelle 
am Hinterhomkopf lateral vom Processus cuneatus ein (vergl. Fig. 6). 
Man kann den Weg der degenerierten Fasem aus der linken Pyramide deut- 
lich verfolgen. Der Seitenstrang zeigt eine leichte fast symmetrische Dege¬ 
neration. In den unteren Ebenen der Olive ist in alien drei Fallen die 
linke Pyramidenbahn leicht diffus degeneriert, ausserdem durchziehen einige 
wenige degenerierte Fasem die rechte Pyramide in ihrem dorsals ten Ab- 
schnitt Die spinale Trigeminuswurzel und die Kleinhimseitenstrangbahn 
zeigen beiderseits eine sehr schwache Degeneration. Die Zahl der dege¬ 
nerierten Fasem in der Pyramide nimmt nach oben zu. In der Hohe der 
starksten Entwicklung der Olive liegen sie am dichtesten in den mittleren 
Partien des Pyramidenareals ( vergl. Fig. 7); sehr sparlich sind sie im medialen 
Teil, ziemlich zahlreich im lateralen. Die mediale Schleife ist beiderseits, 
namentlich in den Randpartien, die der rechten Pyramid© zunachst liegen, 
leicht degeneriert. Auch in der Briickemaserung finden sich einzelne 
degenerierte Fasem. Der Aquaduktkem des Trigeminus zeigt in alien 
Schnitten degenerierte Fasem, und zwar der qleichseitige mehr als der ge- 
Jcreuzte. Der motorische Hauptkem des Trigeminus ist frei von Dege¬ 
neration. Dort, wo die Pyramide rings von der Briicke eingeechlossen 
wird, lagert sich die Degeneration besonders in die dorsalen Partien; weiter 
oben erfolgt eine Verschiebung, indem die degenerierten Fasem vorzugs- 
weise den dorsomedialen Teil einnehmen. Die gekreuzte Pyramide ist durch- 
weg frei von Degeneration. In der Briicke und im Lemniscus medialis findet 
sich proximalwarts eine symmetrische leichte Degeneration. Bei dem Ueber- 
gang in den Himschenkelfuss riickt die Degeneration am medialen Rand 
der Pyramide weiter ventral und gelangt in das mediale und zum Teil auch 
mittlere Drittel des Fusses. Sie ist am starksten am ventralen Rand, nimmt 
aber auch die weiter dorsal zwischen den ventralen Maschen der Substantia 
nigra gelegenen Biindel ein (vergl. Fig. 8). Auch der rechte Himschenkelfuss 
zeigt ein kleines Degenerationsfeld bei L im ventralen lateralen Teil des 
medialen Drittels. Der Lemniscus medialis zeigt beiderseits eine gleiche, sehr 
unbedeutende Degeneration. Die lateralen pontinen Biindel heben sich 
durch dunklere Farbung ab 1 ), sind aber nirgends degeneriert. Bei K und F 
ist die Degeneration im ganzen schwacher, aber ebenso lokalisiert. Proximal¬ 
warts ist die Degeneration an der Grenze des medialen und des mittleren 
Fussdrittels am starksten. Das laterale Drittel ist frei von Degeneration, 
das mediale Drittel ziemlich stark beteiligt. Auch in der inneren Kapsel 
zeigt sich in alien Fallen ein charakteristisches Bild. Der hintere Schenkel ist 
ganz frei, im vorderen Schenkel grenzt sich die nicht degenerierte dorsale Halfte 
scharf von der ventralen stark schichtweise degenerierten ab. Nur ein kleiner 
vorderster Teil ist wiederum frei von Degeneration. In hoheren Ebenen 
breitet sich die Degeneration fast liber die ganze ventrale Halfte der inneren 
Kapsel aus, lasst aber den hinteren Schenkel und das vorderste Achtel 
des vorderen Schenkels frei. Das Corpus geniculatum lat. ist vollkommen 
intakt, doch findet sich im Innera dee Thalamus ein grosserer degenerierter 


l ) Bei Anwendung der ftzlschen Method© erscheinen sie eher hell 
gefarbt. 


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namentlicb im Hirnsehenkelfuss dee Kaninchens. 


269 


Bezirk. Der Rindendefekt ist von geringem Umfang; in seiner Umgebung 
finden sieh keine Ver&nderungen. 


4. H ypogloaausbahn. 


20.1. % jahriges Kaninchen M. Bei 8% cm Rollenabstand von einer 
Stelle an der orbitalen Flache der Rinde aus (etwa entepreohend dem 
Punkt 9 von Ferrier 1 ) deutliche Bewegung der Zungenspitze nach rechte. 
Exstirpation. 

25. I. Zunge weicht nach links ab. Keine Hemiatrophie. 

15.11. Totung. Gehim 3 Stunden in Formalin, 4 Wochen inilfttfZersohe, 
6 Wochen in Marchische Losung. 

21. I. % jahriges Kaninchen N. Bei 9 cm Rollenabstand Zungen- 
bewegung. Exstirpation. 

26. I. Derselbe Befund wie bei M. 

17. U. Totung. Gehim 3 Stunden in Formalin, 4 Wochen inMiiUerscihe, 
6 Wochen in Marchische Losung. 

Mikroskopischer Be fund: Das oberste Cervikalmark weist keine Ver- 
knderungen auf, speziell sind die in den Hinterstrang kreuzenden Pyramiden- 
biindel trei von Degeneration. 

Erst in der Medulla oblongata zeigt sich eine schwache diffuse Dege¬ 
neration in der linken Pyramids. Eine grosse Zahl von schwarzen Punkten 
findet sich ausserdem beiderseits in der Formatio retie, und in der Raphe 
bis an den Hypoglossuskem. Das feine Fasernetz des Kerns selbst zeigt bei N 
beeonders links eine eben wahmehmbare Degeneration, bei M ist der Befund 
nicht sicher. Dorsal von den Oliven ziehen stark degenerierte Biindel durch 
die Substantia ret. dorsalwarts. Die Kleinhimseitenstrangbahn weist links 
etwas starkere Degeneration auf als rechts. Die iibrigen Himnervenkeme 
sind frei. Das Facialisknie zeigt vereinzelte degenerierte Fasem. Im distalen 
Briickengebiet erscheinen die den Pyramiden benachbarten horizontalen 
Fasem leicht degeneriert. Im proximalen Briickengebiet wird die Dege¬ 
neration der Pyramiden starker, besonders in der medialen Halfte, wenn 
man sich eine Halbierungslinie im langsten schrdgen Durchmesser gezogen 
denkt. Im Hirnsehenkelfuss ist die Degeneration so angeordnet, dass der 
mediale Winkel am dichtesten mit schwarzen Punkten bedeckt ist; dieselben 
werden schon in der lateralen Halfte des medialen Drittels sparlicher, finden 
sich nur ganz vereinzelt noch im mittleren Drittel und lassen dew laterals 
ganz frei. Die mediale Schleife ist frei,ebenso der rechte Fuss und die lateralen 
pontinen Biindel Schlesingers beiderseits. Die Degeneration der inneren 
kapsel ist im vorderen Schenkel am starksten. Sie ist noch in der Hohe 
der vorderen Kommissur sehr deutlich zu erkennen. Der hintere Schenkel 
ist relativ frei. Das Corp. gen. lat. zeigt wie auch der Thalamus keinerlei 
Veranderung. An der Operationsstelle findet sich ein kleiner, ziemlich tief- 
gehender Defekt, die Umgebung ist unversehrt. 


5. Vorderbeinbahn. 

10. XI. 1 jahriges Kaninchen A . Bei 8 cm Rollenabstand Anziehung 
des rechten Vorderbeins. Exstirpation. 

14. XI. Keine Gehstoriing. Beim Hangen an den Ohren st&rkeree 
Beugen und Anziehen des rechten Hinter- und Vorderbeins. 

16. XII. Totung. Gehim 6 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Miitter- 
sche Losung, 4 Wochen in Marchische Losung. 

22. V. % jahriges Kaninchen V . Bei 7% cm Rollenabstand isolierte 
Zehenbewegung in der rechten Pfote, spater auch Hebung der rechten 
Schulter. Exstirpation. 

25. V. Die rechte Pfote wird langere Zeit in imbequemer Stellung, 
z. B. mit dem Fussriicken nach unten, gelassen. Das rechte Bein wird, iiber 


Die Funktionen des Gehims. Braunschweig. 1879. S. 173 und 

Fig. 36. 


18 * 


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270 W e i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 


die Tischkante herabhangend, spontan nicht angezogen. In Schwebehaltung 
werden die rechten Extremitaten starker angezogen. 

14. VI. Totung. Gehirn 3 Stunden in Formalin, 14 Tage in Mtillereche, 
20 Tage in Marchiache Losung. 

29. V. V 2 jahriges Kaninchen Z. Anziehung des rechten Vorderbeins 
bei 8 cm Rollenabstand. Exstirpation. 

1. VI. Deutliche Storung des Muskelgefiihls im rechten Vorderbein 
ohne merkliche Gehstorung. 

19. VI. Totung. Gehirn 5 Stunden in Formalin, 20 Tage in Mailer - 
sche, 20 Tage in Marchiache Losung. 

Mikroskopischer Befund: Das Dorsalmark ist unverandert, nur im 
Vorderstrang ganz vereinzelte degenerierte Fasem. In der Halsanschwellung 
werden dieselben alsbald haufiger und treten auch in Seiten- und Hinter- 
strangen auf. Am zahlreichsten sind sie im gekreuzten Seitenstrang. 
Einzelne degenerierte Fasem treten zu den grossen Zellen des gekreuzten 
Vorderhoms; das gleichseitige Vorderhom erscheint fast ganz frei. — In 
der Gegend der Pyramidenkreuzung ist das linke Pyramidenfeld dicht 
mit degenerierten Fasem iibersat, am starksten in seinem medialen Ab- 
schnitt. Von hier aus (iberschreiten sie in Biindeln die Raphe und kreuzen 
zum Teil unter einem Winkel von etwa 45° in den rechten Hinterstrang; den 
letzteren erreichen sie in der Nische zwischen Processus cuneatus (Angulus 
cornu post.) und Hinterhomkopf. Der gleichseitige Hinterstranc erhalt 
keine degenerierten Fasern. Unter einem etwas grosseren Winkel kreuzen 
Fasem in die medialen Partien des rechten Seitenstrang 8 . In der Hohe der 
unteren Olive ist die Degeneration iiber die ganze linke Pyramide verteilt. 
In der Formatio ret. finden sich beiderseits nur vereinzelte schwarze Punkte, 
die dorsal gegen die Raphe zu etwas dichter werden und in den Hypoglossus- 
kem hineinreichen. Die Kleinhirnseitenstrangbahn ist beiderseits in gleichem 
Masse schwach degeneriert, auch die spinaJe Trigeminuswurzel erscheint 
namentlich links nicht ganz frei. In der Gegend der oberen Olive bleibt der 
Befund in der Pyramide unverandert. Es zeigt sich auch eine leichte De¬ 
generation in der Olivenzwischenschicht, bezw. im Lemniscus medialis be- 
sonders links. ImGebiet des Corpus trapezoides findet sich eine starkere Dege¬ 
neration, welche jedoch grosstenteils auf die dasselbe durchsetzenden langs- 
verlaufenden Fasem zu beziehen ist. Weiter proximal zeigt die Pyramide 
nur in ihrem ventralen Abschnitt dichte schwarze Tropfchen, die sich auch 
in den ventralen Briickenfasem finden. In den distalsten Ebenen des Pea 
ped. zeigt sich die starkste Degeneration im ventralen Teil des medialen 
Drittels; in abnehmender Dichte besetzt sie auch noch das mittlere Drittel 
in seiner ganzen Ausdehnung; das laterals Drittel ist fast frei. Proximal- 
warts verschiebt sich die Degeneration mehr und mehr in das mittlere 
und laterals Drittel, das mediale ist nur in seinem lateralen Teil noch 
etwas betroffen. Der Lemniscus med. ist beiderseits kaum merklich de¬ 
generiert. Bemerkenswert erscheint die wenn auch recht leichte Degeneration 
der lateralen pontinen Biindel, die in alien 3 Fallen nachzuweisen ist. In 
hoheren Ebenen besteht eine Differenz zwischen dem Tier V und den beiden 
anderen Fallen. Bei V findet sich namlich ausserdem noch ein ziemlich aus- 
gepragtes Degenerationsfeld im lateralen Drittel des Pes, welches sp&ter 
in den hinteren Schenkel der inneren Kapsel iibergeht. Bei dem Uebergang 
des Pes in die innere Kapsel ist bei A und Z die Degeneration am dichtesten 
im letzten Viertel des vorderen Schenkels nachst dem Knie, sie nimmt dann 
in den anschliessenden 2 Vierteln immer mehr ab, um im ersten zu ver- 
schwinden; im hinteren Schenkel ergreift sie nur den dem Knie anliegenden 
Abschnitt. An den nicht degenerierten hinteren Schenkel der Kapsel 
sohliesst sich ein mit vereinzelten Tropfchen besetztes Feld, entsprechend 
dem Gebiet des Corpus gen. lat. Oralwarts geht diese Degeneration direkt in 
eine solche im Thalamusstiel und seiner lateralen Marklamelle iiber. Die 
Umgebung der exstirpierten Rinde ist unverandert. 

6. Hinterbeinbahn. 

Wie oben berichtet, blieben diese Vereuche bez. des Kaninchens 
ohne Ergebnis. Mitteilungen iiber die Beobachtungen bei dem Hund behalte 
ich mir vor. 


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namentlich im Himschenkelfuas dee Kaninchens. 


271 


Nach den im vorstehenden mitgeteilten Befunden ist eine 
gewisse Legalisation innerhalb der Pyramidenbahn des Kaninchens 
distalwarts nur bis in den Hirnschenkelfuss sicher nachweisbar. In 
der inneren Kapsel wiirde sich die Lage der einzelnen Bahnen so 
gestalten, dass die Hypoglossusbahn vorzugsweise im vorderen 
Schenkel, z. T. auch in dem grauen Maschenwerk zwischen Nucleus 
candatus und Nucleus lentiformis verlauft, wahrend die Facialis- 
bahn, soweit die Praparate einen Schluss erlauben, vorzugsweise 
das Knie und die angrenzenden Teile des hinteren Schenkels ein- 
nimmt. Die motorische Trigeminus bahn scheint im vorderen 
Schenkel der inneren Kapsel sehr zerstreut zu verlaufen 1 ). 

Im Pes pedunculi fiihrt nur das laterale Drittel fast keine 
Pyramidenfasem. Der medialste Teil des medialen Drittels gehort 
der zentralen Hypoglossusbahn an; dann folgt mit ihr z. T. zu- 
sammenfallend die motorische Trigeminusbahn; die Mundfacialis- 
bahn nimmt vorzugsweise das mittlere Drittel, vielleicht z. T. 
noch das laterale und mediale, die Ohrfacialisbahn wahrscheinlich 
fast ausschliesslich das mittlere Drittel ein. Die Vorderbeinbahn 
verlauft namentlich im ventralen Teil des medialen Drittels und 
im anschliessenden Teil des mittleren Drittels. 

In den -oberen Ebenen der Briicke sind die Degenerationen 
in den Fallen von Verletzung des Trigeminus- und Hypoglossus- 
zentrums auf die dorsale, resp. die dorsomediale Halfte beschrankt, 
bei Vorderbeinzentrumslasionen auf die ventrale Halfte; in den 
iibrigen Fallen bestand keine deutliche und fur identische Ope- 
rationen konstante und charakteristische Anordnung der De¬ 
generation. 

Dasselbe gilt fiir die Pyramide im verlangerten Mark; nur die 
Trigeminusbahn liegt anscheinend konstant im mittleren und 
lateralen Abschnitt des Areals, die des Facialis am medialen Rand. 
Dabei ist allerdings zweifelhaft, ob eine so weit spinalwarts herab- 
reichende Degeneration noch auf die Trigeminus- und Facialisbahn 
bezogen werden darf. Man konnte meinen, dass es sich um Fasem 
der Extremitatenbahn handeln miisse, welche in irgend einer Weise 
bei der Operation in Mitleidenschaft gezogen worden waren. 
Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass die Degeneration 
im Riickenmark ganz oder fast ganz vermisst wurde. Man wird 
also doch wenigstens auch mit der Moglichkeit rechnen miissen, 
dass einzelne Fasem der Facialis- und Trigeminusbahn unverhalt- 
nismassig weit spinalwarts ziehen und dann schleifenartig riick- 
laufig zu ihrem Kern ziehen. Nur bei dem Kaninchen L, bei 
welchem sich (vergl. Fig. 6) eine ganz ausgesprochene Degeneration 
imHinterstrang des Cervikalmarks fand, wird man wohl sicher eine 
Mitbeteiligung der Extremitatenbahn annehmen miissen. - 

Beziiglich des Verlaufs der Vorderbeinbahn erscheint mir der 
Uebergang ziemlich zahlreicher Fasem in den gekreuzten Hinter- 


*) Vielleicht hangt dies mit der relativ grossen Ausdehnung des 
kortikalen Kauzentrums bei dem Kaninchen zusammen. 


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272 W e i h a , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn, 

strung x ), der mit aller Bestimmtheit nachzuweisen war, besonders 
interessant; die iibrigen Fasem verteilten sich auf den gekreuzten 
Seiten- und den gleichseitigen Vorderstrang. 

Die alte Angabe Stiedas und die neuere Angabe Ziehens ge- 
langen damit wieder zu ihremRecht. Es ware auch in der Tat recht 
auffallend, wenn bei dem Kaninchen der Hinterstrangs verlauf 
der Pyramidenbahn, wie er bei den meisten iibrigen Nagem besteht, 
vollstandig verschwunden sein sollte. Freilich scheint die Pyramiden- 
hinterstrangsbahn des Kaninchens lateraler zu iiegen als beispiels- 
weise diejenige der Murinen: bei letzteren nimmt sie die ventrale 
Kuppe des Hinterstrangs ein, bei dem Kaninchen eine Nische, 
die lateral vom Angulus cap. post. (bezw. Processus cuneatus) 
liegt. 

Im Kemgebiet der entsprechenden Hirnnerven waren fast 
immer Degenerationen nachweisbar. So fanden sich im Facialiskem 
nach Lasion seines Zentrums beiderseits degenerierte Fasem, 
und zwar namentlich auf der gekreuzten Seite. Nach Exstirpation 
im Gebiet des motorischen Trigeminuszentrum fand sich nur im 
Aquaduktkem Degeneration, wahrend der motorische Hauptkem 
auffalliger Weise fast frei bheb. Im Hypoglossuskem fanden sich 
keine sicheren und konstanten Veranderungen. Es wird noch vieler 
Nachuntersuchungen bediirfen, um in dieser Beziehung zu sicheren 
Ergebnissen zu gelangen. Namentlich scheint es erforderlich, 
einerseits die Leberisdauer der Tiere nach der Operation und 
andererseits die Dauer des Aufenthaltea der Gehimstiicke in den 
einzelnen Fliissigkeiten zu variieren. Die grossen Zellen des Vorder- 
homs der Halsanschwellung waren bei Lasion des Vorderbein- 
zentrums von degenerierten Fasem umgeben. 

Der Verlauf der kortikobulbaren Bahn der motorischen Hirn¬ 
nerven ist durch meine Versuche noch nicht eindeutig aufgekart. 
Weitaus am wahrscheinlichsten ist nach meinen Befunden, dass 
die meisten Fasem aus dem Pyramidenareal in die Formatio 
reticularis abbiegen und in dieser, zum Teil auch in der Raphe 
zu den Kemen aufsteigen. Die Kreuzung scheint auf diesem Weg 
schon bald nach dem Austritt aus dem Pyramidenareal statt- 
zufinden. Die mediale Schleife wird wohl nur passiert, ohne dass 
die in Frage stehenden Biindel sich ihrem Verlauf auch nur strecken- 
weise anschliessen. Eher konnte man daran denken, dass uberhaupt 
imventralenAbschnittder medialen Schleife auch einige aberrierende 
Pyramidenfasem verlaufen. Die lateralen pontinen Biindel kommen 
nur fur die zentralen Facialisbahnen in Betracht. 

Bemerkenswert scheint mir noch die in den Fallen von Ex- 
stirpationen im Facialis- und im Vorderbeinzentrum aufgetretene 
rein einseitige Degeneration im Bereich des Corpus gen. lat., 
die weiter oral warts in den oberen Stiel des Thalamus opt. 
zu verfolgen war. Eine ausreichende Erklarung dieses Befundes 
vermag ich noch nicht zu geben. Es liegt natiirlich nahe, an eine 

l ) Bei L. auch in den gleichseitigen Hinterstrang. 


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namentlich im Hirnschenkelfuss dee Koninohens. 


273 


in der Rinde entspringende kortikothalamische Bahn zu denken. 
Das Corpus geniculatum laterals scheintvondiesenFasem nurdurch- 
zogen zu werden. 

Endlich weise ich darauf hin, dass auch bei meinen Versuchen 
einzelne nicht konstante und grosstenteils auch unerhebliche 
Degenerationen in Gebieten gefunden worden sind, die ganz un- 
erklarlich erscheinen, so im Corpus restiforme, in der s^inalen 
Trigeminuswurzel,in motorischenBahnen ;weiterOrdnung(Facialis- 
knie) u. s. f. Es ist sehr zweifelhaft, ob diese uberhaupt mit der 
Exstirpation als solcher zusammenhangen. Zerrungen, Gefass- 
verletzungen bezw. -Kompressionen und andere akzidentelle 
Moments spielen wahrscheinlich hier eine Rolle. Es muss ktinf tigen 
Untersuchungen vorbehalten bleiben, in dieser Beziehung end- 
giiltige Aufklarung herbeizufiihren. 

Zum Schluss gestatte ich mir noch meinem hochverehrten 
Lehrer Herm Geheimrat Professor Ziehen fur seine giitige An- 
regung und die weitgehende Forderung dieser Arbeit den warmsten 
Dank auszusprechen. 


Erklarung der Abbildungen auf Taf. XVII—XVIII. 

Fig. 1—5. Kaninchen G. Exstirpation im Bereich dee Mundfacialis- 
zentrumfl. Weitere Erklarung siehe Text. 

Fig. 6—8. Kaninchen L. Exstirpation im Bereich dee Kauzentrums. 


Br cj 

C g m 

Cgr 

Cm 

Cp 

CQ 

DB 

FM 

Fr 

G ip 

h Lb 

H S 

h Va 

Klsstrb 

Lm 

Li 

m M 
M 

N o i 

Nos 

Nr 

P c m 

Po 

Po' 

PP 

fy 

S n 
tM 


Bezeichnungen 

= Brachium coniunctivum. 

= Corpus geniculatum mediale. 

= Hohlengrau 
= Corpus mamillare. 

= Commissura posterior. 

= Commissura corporum quadrigeminorum. 

= Decussatio brach. conjunct. 

= Fasciculus retroflexus. 

= Formatio reticularis. 

= Ganglion interpedunculare. 

= Hinteres Langsbiindel. 

= Hinterstrang. 

= Hinterer Vierhiigelarm (darunter mediale Schleife). 

= Kleinhirnseitenstrangbahn. 

= Lemniscus med. 

= Lemniscus later. 

= Mittleres Mark. 

= Meynertache fontanenartige Haubenkreuzung. 

= Nucleus oliv. inf. 

= Nucleus oliv. sup. 

= Nucleus ruber. 

= Pedunc. corp. mamillar. 

= Pons. 

= Distalste, eben zur Mittellinie absteigende Ponsfasern. 
= Pes pedunculi. 

= Pyramide. 

= Subst. nigra. 

= Tiefes Vierhugelmark. 


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274 


S a n o , Beitrag zur vergleichenden. Anatomic 


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Tptr 

Tr 

V m a 
v Va 

V Aq 
Vm H 
VII K 


= Tractus peduncularis transversus. 

== Corpus trapezoidee. 

= Velum med. ant. 

= Vorderer Vierhiigelarm. 

= Aquaeduktkem des Trigeminus. 

= Motorisoher Hauptkem des Trigeminus. 
= Facialisknie. 


(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven- 

klinik der Charity.) 

Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra, 
des Corpus Luysii und der Zona incerta. 

Von 

Dr. TORATA SANO. 

(Hierzu Taf. XIX—XX.) 

(Fortsetzung.) 


2. Macacus rhesus. 

Der Schnitt 231 1 (vgl. Fig. 8), welcher ventral das vordere 
Briickenfiinftel schneidet, zeigt die Substantia nigra zum ersten 
Male deutlich, und zwar ganz lateral zwischen dem Lemniscus 
medialis und einer ziemlich machtigen langs getroffenen Faser- 
schicht, die ich vorlaufig als S bezeichne und spater besprechen 
werde, als ein kleines, halbmondformiges Feld. Ihre Dicke betragt 
0,7 mm. 

Man kann hier innerhalb der Substantia nigra schon Fasern 
meist feinen Kalibers sehen, die in verschiedenen Richtungen ver- 
laufen. In die dorsale Ecke der Substantia nigra scheinen Fasern 
aus dem randstandigen Grau lateral von der aufsteigenden Vier- 
hiigelschleife einzutreten. In den medialen bezw. ventralen Teil 
der Substantia nigra treten ausserdem Fasern ein, welche aus dem 
benachbarten Haubengebiet stammen. Dorsal vom laterals ten Teil 
des sich eben formierenden Pes pedunculi sieht man ein graues, 
unscharf begrenztes Feld, das zweifelsohne dem Feld M beim 
Menschen entspricht. Dieses Feld M zeigte sich schon ziemlich 
deutlich in einem Niveau, wo die Substantia nigra noch nicht als 
ein deutliches einheitliches Feld zu erkennen ist, namlich auf dem 
Schnitt 234 2 . 

Der Schnitt 226 1 (vgl. Fig. 9) trifft ventral noch immer das 
vordere Bruckenfiinftel. 

Die Substantia nigra nimmt rasch an Umfang zu; ihre Dicke 
betragt 1,5 mm. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 275 

Die im vorigen Schnitte innerhalb der Substantia nigra gleich- 
massig verteilten feinen Fasem zeigen hier schon den ersten deut- 
lichen Anfang der Differenzierung zweier komplizierter Faser- 
gebiete. Diese beiden Fasergeflechte entsprechen den bei dem 
Menschen besprochenen Geflechten D 1 und D m . Das Geflecht D m 
ist etwas grosser als das Geflecht D l . Beide Geflechte bestehen 
aus Fasern, welche in D m mehr transversal und in D 1 transversal 
und longitudinal verlaufen. In der medialsten Partie lateral von 
der Substantia perforata posterior sieht man eine Gruppe schief 
getroffener Biindel. Sie erinnern sofort an die Fasciculi pontini 
mediales, die wir beim Menschen beschrieben und im wesentlichen 
mit dem Biindel von der Schleife zum Fuss (also dem S’pitefcaschen 
Biindel) identifiziert haben (vgl. S. 121). Die weitere Verfolgung 
dieser Biindelschnitte ergibt beim Macacus folgendes: Spinalwarts 
lassen sich diese Biindel wenigstens bis Schnitt 240 verfolgen. Sie 
stehen dabei einerseits fortwahrend in Zusammenhang mit dem 
Lemniscus medialis, andererseits scheint es, als ob diese Fasern 
sich z. T. auch nach der gekreuzten Briickenformation ver- 
heren. Auf Fig. 9 sind diese Fasern mit FS bezeichnet. Aehnliche 
Biindel hat Ziehen bei Echidna naehgewiesen. Cerebralwarts ge- 
sellen sie sich den wurzelformig aus der Substantia nigra auf- 
steigenden Fasem bei, wenden sich dann aber allmahlich dorso¬ 
lateral und lassen sich, wenigstens z. T., mit voller Sicherheit bis 
in das Areal der Sehhiigelschleife verfolgen. Danach unter- 
liegt es keinem Zweifel, dass wir es hier wenigstens nicht nur mit 
dem Biindel von der Schleife zum Fuss, sondern auch mit einem 
Biindel der Sehhiigelschleife zu tun haben. Bis jetzt ist iiber 
solche Biindel nur wenig bekannt, etwas ausfiihrlicher sind sie 
neuerdings von Ziehen 1 ) beschrieben worden. 

Die mit Prop bezeichneten Fasern sind vielleicht als Propons 
aufzufassen 2 ). 

Die auf der Figur mit S bezeichnete Schicht ist spinalwarts 
auf dem Schnitt 235 ganz im Bereich des Lemniscus medialis ge- 
legen und von diesem nicht zu trennen. Auf noch weiter spinal¬ 
warts gelegenen Schnitten stellt sie einen schmalen Streifen dar, 
welcher den medialen Abschnitt der medialen Schleife mit dem 
lateralen Abschnitt der medialen Schleife verbindet. Cerebralwarts 
bleibt sie in ihrer Lage und entfernt sich immer mehr vom Haupt- 
teil des Lemniscus medialis, der bekanntlich immer weiter dorso¬ 
lateral ruekt. so dass sie auf dem Schnitt 221 mit dem letzteren 
nur mittelst der spater zu schildernden ,,wurzelformig aufsteigen- 
den“ Fasern zusammenhangt. Weiter cerebralwarts verschwindet 


') Ziehen, Th., Das Zentralnervensystem der Monotremen und Mar- 
supialier. IV. Teil. S. 906 ff. 

*) Prof. Ziehen macht mich darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung 
Propons neuerdings in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet 
wird. Obersteiner (Anleitung etc., S. 72) versteht darunter ein Querbiindel 
an der spinalen Ponsgrenze, Marburg (Atlas, Fig. 34 u. 35) ein solches an 
der cerebral en Ponsgrenze. 


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276 


Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomic 


ihr medialer Teil immer mehr, und da die Substantia nigra sich 
vergrossert und medialwarts riickt, wahrend die Schicht S immer 
dem Fuss angeschmiegt bleibt, so sieht man auf dem Schnitt 208 
ihren Rest dorsal vom medialsten Fussteil. Schliesslich bleibt nur 
ein kleiner medialer Rest iibrig, der sich an der Bildung des Faser- 
geflechts C zu beteiligen scheint (siehe unten). 

Auf mehreren Schnitten sieht man aus der Schicht S auch 
ziemlich zahlreiche Fasern ventrolateral ziehen imd in das Fuss- 
areal eintreten. Es scheint, dass diese Fasern das Fussareal dann 
durchsetzen und so schliesslich auf kiirzerem Wege an die ventrale 
Seite des Fusses gelangen. Auf die Bedeutung der Schicht S 
komme ich spater zuriick. 

Der Schnitt 221 2 (vgl. Fig. 10) schneidet ventral das vorderste 
Briickensechstel. 

Die Substantia nigra ist grosser geworden; ihre Dicke betragt 
2,5 mm. Ein Zerfall der Substantia nigra in eine dorsale kompakte 
Zone und eine ventrale retikulierte Zone ist in diesem Niveau noch 
kaum zu erkennen; vielmehr scheint die Substantia nigra hier in 
ihrer ganzen Breite ziemlich kompakt. Man sieht deutlich zwei 
kleine Gruppen schief getroffener Bundel, die lateralen pontinen 
Biindel und die Biindelgruppe, die auf der Figur mit C bezeichnet 
ist, in den Fuss eintreten. Die Biindelgruppe C, die auf dem 
Schnitt 223 zuerst aufgetretene war, ist starker als die lateralen 
pontinen Bundel, die nur eben zu erkennen sind. 

In der ventralsten Partie der Substantia nigra sieht man 
schief und quer getroffene Fasern. Sie formieren sich spater zum 
Stratum intermedium. 

Die Substantia reticulata medialis pedis lasst sich von dem 
Stratum profundum pontis hier noch nicht abgrenzen. 

Die feinen Fasern des Propons lassen sich fiber die dorso- 
laterale Spitze des Fusses hinweg bis in den dorsolateralsten Teil 
der Substantia nigra bezw. das von der letzteren nicht scharf ab- 
grenzbare Randfeld M verfolgen. Einzelne Fasern des Propons 
durchbrechen auch den Fuss in seinem dorsolateralsten Abschnitte. 

Aus der Schicht S steigen Fasern auf, die oben bereits kurz 
als „wurzelfdrmig aufsteigende“ Fasern erwahnt wurden. Auf Fig. 10 
sind sie mit Wf bezeichnet. 

Die Fibrae efferentes tecti sind z. T. deutlich bis in die mittlere 
Partie der Substantia nigra zu verfolgen. Sie sind zwischen den 
Querschnitten der Schleifenbiindel bei Fet auf der Figur eben zu 
erkennen. 

Auf einem Schnitt (208), welcher ventral noch eben den vor- 
deren Rand der Briicke schneidet, hat sich die Substantia nigra 
stark ventral- und namentlich medialwarts ausgedehnt. Ihre 
Form ist etwa langlich viereckig; ihre Dicke betragt 3,7 mm. 
Der ventrolaterale Abschnitt ladt sich ziemlich breit in den Fuss aus. 
Diese Ausladung entspricht wohl dem beim Menschen beschrie- 
benen Processus lateralis. Medialwarts stosst die Substantia nigra 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 277 


ohne scharfe Grenze an die Substantia perforata posterior und 
das in diese eingelagerte Ganglion interpedunculare. Dorsal grenzt 
sie an den Rest der medialen Schleife. Ventral stosst sie an den 
Pes pedunculi, welcher den dorsolateralen Pol der Substantia nigra 
klammerartig umgreift. Der direkte Zusammenbang der Fibrae 
efferentes tecti mit der Substantia nigra ist wegen der dichten 
Faserung der medialen Schleife nicht so deutlich wie im vorigen 
Schnitt. 

Das graue Feld M findet sich dorsal vom dorsolateralen Pol 
der Substantia nigra; es ist grosser geworden und birgt einen 
grossen versprengten Biindelquerschnitt des Pes pedunculi in sich. 

Auch auf diesem Schnitte gelingt es nicht, innerhalb der Sub¬ 
stantia nigra mit Sicherheit einen dorsalen und ventralen Ab- 
schnitt abzugrenzen; nur insofem im dorsalen Abschnitte die 
Fasem vorzugsweise diffus und langsgetroffen, im ventralen Ab¬ 
schnitte hingegen mehr biindelweise und quergetroffen erscheinen, 
bekommt der letztere gegeniiber dem ersteren ein retikuliertes 
Aussehen. Die Biindelgruppe C und die lateralen pontinen Biindel 
treten in ventrolateraler Richtung in den Fuss ein. Die Biindel- 
gruppe C ist auch hier erheblich starker als die lateralen pontinen 
Biindel. Die Gefechte D 1 und D m zeigen meist longitudinal ver- 
laufende gewundene Fasern, und zwar zeigt D 1 im ganzen grobere 
Fasern als D m . 

Ventromedial vom Feld M erkennt man erst hier 1—2 Biindel- 
querschnitte, die den beim Menschen genannten Q-Biindeln ent- 
sprechen. Ueber den Verlauf und das Schicksal dieser Biindel 
wird spater gesprochen werden. 

Die Substantia reticulata lateralis pedis ist noch ganz schwach 
angedeutet. 

Die Substantia reticulata medialis pedis, die auf dem Schnitte 
214 zuerst deutlich als solche auftrat, findet sich auf diesem Schnitt 
als Anhangsel der medialen Partie des Stratum profundum pontis, 
wobei ihre Zugehorigkeit zu demselben ebenso deutlich bleibt 
wie auf dem Schnitt 221*; sie verursacht die Zerkliiftung der 
medialen Partie des Fusses. 

Die Schicht S und der Lemniscus medialis sind hier schon 
weit auseinander gewichen. 

Im dorsalen Teile der Substantia nigra, und zwar nur im 
medialen Abschnitt. sieht man einige wenige transversal verlaufende 
Fasern, die dem beim Menschen beschriebenen Faserzug B ent- 
sprechen. 

Der Schnitt 190 * (vgl. Fig. 11) schneidet ventral die Austritts- 
bundel des Oculomotorius. 

Die Substantia nigra ist hier sehr machtig entwickelt und 
enthalt noch mehr Fasern als friiher. Ihre Form ist etwa langlich 
viereckig, ihre Dicke betragt 6,1 mm. Hier lasst sich schon recht 
deutlich innerhalb der Substantia nigra eine dorsale Zona compacta 
und eine ventrale Zona reticulata abgrenzen. Die Biindelgruppe C 


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278 


Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


tritt etwas zuriick, dagegen treten die lateralen pontinen Biindel 
erheblich mehr hervor. Das Geflecht D l ist sehr machtig entwickelt 
und besteht grosstenteils aus dichten, starken Fasern, wahrend das 
Geflecht D m locker angeordnete und im Vergleich zu D 1 sparlichere 
Fasern zeigt. In beiden Feldern herrschen jetzt die longitudinalen 
Fasern mehr als friiher vor. 

Ausser dem Feld C und den lateralen pontinen Biindeln findet 
man auf diesem und auf den vorhergehenden Schnitten im ven- 
tralsten Grenzgebiete der Substantia nigra viele feine langs- und 
zum Teil auch quergeschnittene Faserbiindel; sie stellen offenbar 
das bei der Beschreibung des Schnittes 221 schon erwahnte Stratum 
intermedium dar. 

Die Fibrae efferentes tecti sind deutlich direkt in die Zona 
compacta substantiae nigrae zu verfolgen. 

Der Faserzug B ist besser entwickelt, langer ausgedehnt und 
ist vom Lemniscus medialis etwas abgeriickt. In der Nahe von B 
verlauft noch ein feiner zweiter Faserzug (B ?), dessen Deutung 
zweifelhaft ist. 

Die ventral vom roten Kern gelegene, der halbmondformigen 
Schicht beim Menschen entsprechende Schicht ist bei Macacus 
kurz und breit. Die ventral von ihr gelegene, beim Menschen nur 
auf eine sehr kurze Strecke sichtbare zellarme Schicht scheint bei 
diesem Tier ganz zu fehlen. 

Die halbmondformige Schicht vom Faserzug B zu trennen, 
ist auf einzelnen Schnitten kaum moglich; nur die Verfolgung der 
B-Fasern auf der Serie bis zu ihrem Uebergang in die Hatschek- 
sche Kreuzung gestattet, sie von der halbmondformigen Schicht 
zu unterscheiden. 

Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis 
mamillaris, das schon auf dem Schnitt 200 auftritt, ist deutlich 
zu sehen. 

Das Pedamentum laterale wird teilweise von den die Sub¬ 
stantia perforata posterior und die Substantia nigra scharf 
trennenden groben Wurzelbiindeln des Oculomotorius verdeckt. 
Es geht ubrigens in die Substantia perforata posterior allmahlich 
iiber; man sieht viele feine Fasern in dorsomedialer Richtung in 
ihm verlaufen. 

Die Substantia reticulata medialis pedis ist schon auf dem 
Schnitt 201 ganz verschwunden. 

Die Substantia reticulata lateralis pedis ist grosser als friiher 
und ziemlich faserreich. Die A-Felder sind ahnlich wie bei dem 
Menschen zu erkennen und hangen mit dem Hakenfeld H F zu- 
sammen. 

Das Feld M ist ziemlich faserreich und weniger scharf be- 
grenzt als friiher. 

Das Feld A hebt sich durch seine Faserarmut deutlich ab. 
Ausser dem Hauptfeld A liegen in der Nahe des Hakenfeldes noch 
mehrere schmalere Lamellen grauer Substanz, die ich ebenfalls zu 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 279 

den A-Feldern rechne. Von der Substantia reticulata lateralis 
pedis der distalen Schnitte sind diese A-Felder auch bei dem 
Macacus nicht scharf getrennt. 

Medial von M und in der lateralen Partie des dorsalen Ab- 
schnittes der Substantia nigra finden sich viele quer- oder schief- 
getroffene Biindel, deren Zusammenhang mit dem Lemniscus 
medialis sehr fraglich ist. Es handelt sich um die auf dem Schnitte 
208 zuerst aufgetretenen Q-Biindel. 

Lateral vom roten Kern sieht man vielleicht schon eine An- 
deutung des Forelschen Feldes H. 

Auf Schnitt 179 erreicht die Substantia nigra ihr Maximum. 
Ihre Dicke betragt 6,4 mm. Lage und Form sind nicht wesentlich 
verandert. Medial ist sie von den Wurzelbundeln des Oculo- 
motoriums, ventrolateral vom Hirnschenkelfuss begrenzt. Die Reti- 
kulation des ventralen Abschnittes hat noch etwas zugenommen, 
namentlich im Bereich des Feldes C. Im lateralen Teil des dor¬ 
salen Abschnittes fallt das Auftreten besonders dicht gedrangter 
Ganglienzellen auf. 

Die Fibrae efferentes tecti sind nicht mehr bis in die Zona 
compacta substantitie nigrae zu verfolgen. 

An der ventralen Peripherie des Fusses kann man stellenweise 
ganz vereinzelt langsgetroffene zirkular verlaufende Fasern sehen. 

Das Hakenfeld zerfallt in zwei Teile, einen dorsalen trans- 
versalen, sehr undeutlich begrenzten und einen ventralen, jetzt 
dreieckig gestalteten. Der erstere bildet den Vorlaufer der Zona 
incerta, wie die spateren Schnitte zeigen, der letztere wird von 
sehr vielen Fasern durchsetzt, die anscheinend von der Gegend 
des Feldes M und des transversalen Schenkels des Hakenfeldes 
stammen. 

Das Stratum intermedium ist deutlicher und etwas breiter 
als friiher. 

Dorsal vom lateralen Pol der Substantia nigra ist jetzt eine 
eigentiimliche Zone aufgetaucht, aus welcher ziemlich zahlreiche 
Fasern im Bogen zu Fussfeld ziehen; dabei durchsetzen sie zum 
Teil die A-Felder. Es handelt sich, wie die weitere Verfolgung 
der Serie ergibt, um die kaudale Spitze des Corpus Luysii. Schon 
jetzt sind hier einzelne ziemlich grosse Ganglienzellen und auffallig 
starke Gefassliicken zu erkennen. 

Die halbmondformige Schicht erstreckt sich ventral vom 
Lemniscus medialis von der medialsten Partie der Substantia nigra 
zum transversalen Schenkel des Hakenfeldes. 

Das Feld M ist im Begriff, zu verschwinden; auf Objekt- 
trager 174 ist es nicht mehr zu erkennen. 

Die Q-Biindel sind starker geworden und etwas medialer ge- 
riickt. 

Ein Zug von Fasern, die hauptsachlich von der ventralen 
Seite des Fusses und zum Teil vom Pedamentum laterale stammen 
und zwischen der medialen Grenze des Fusses und der lateralen 
des Pedamentum laterale dorsolateral in die Substantia nigra 


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280 


S a d o , Beitrag zur vergleiohenden Anatomie 


ziehen (vgl. Kolliker, Handbuch, Fig. 708), ist wohl als Tractus 
peduncularis transversus zu deuten. Sein erstes Auftreten fallt 
etwa auf Schnitt 190, doch ist er hier nur durch wenige Fasem 
vertreten. Das Geflecht D 1 ist besonders gut, das Geflecht D™ 
nur wenig entwickelt. 

Das Pedamentum laterals birgt in sich wenige vereinzelte 
langsgetroffene dorsomedial verlaufende Fasern, deren weiterer 
Verlauf nicht festzustellen ist. 

Die A-Felder sind auf diesem Schnitt weiter ventral geriickt 
und finden sich hauptsachlich zwischen den Biindeln des Fusses, 
also im wesentlichen schon ausserhalb der Substantia nigra. Das 
Aussehen der A-Felder, namentlich des grossten A-Feldes, unter- 
scheidet sich von demjenigen des hakenformigen Feldes schon auf 
den ersten Blick durch die eigentiimlich gelbliche, an die gelatinose 
Substanz erinnernde Farbe. 

Einen Zusammenhang der A-Felder mit dem Corpus geni- 
culatum laterals weist die Betrachtung der Schnittreihe nicht nach, 
wohl aber verschmelzen sie alien thal ben mit dem hakenformigen 
Feld. 

Der Schnitt 171 * (vgl. Fig. 12) liegt an der Basis eben oral 
vom Oculomotoriusaustritt. Auf der rechten, nicht abgebildeten 
Schnitthalfte sind die Wurzelbiindel des Oculomotorius eben noch 
getroffen. 

Die Substantia nigra ist kleiner geworden; in ihrem lateralen 
Bereich ist das Corpus Luysii aufgetreten. Die Substantia nigra 
ist ventraler geriickt. Sie zeigt beinahe Halbkreisform. Die letztere 
wird nur dadurch gestort, dass sich an die Hauptmasse lateral noch 
der Best des Processus lateralis substantiae nigrae anschliesst. 
Ihre Dicke betragt 5,5 mm. 

Die Dicke des Corpus Luysii betragt 2,3 mm. Seine dorsale 
Markkapsel ist ziemlich gut entwickelt, die ventrale hingegen 
schwach und zerkliiftet. Aus dem Corpus Luysii ziehen Fasern 
durch den Fuss, um sich in der Zone zwischen dem Fuss und dem 
Tractus opticus zu verlieren. 

In Bezug auf den Zusammenhang der Zona incerta, der Gitter- 
schicht und der halbmondformigen Schicht ergibt sich folgendes: 
Wie beim Menschen bildet der dorsale transversale Abschnitt des 
Hakenfelds den Vorlaufer der Zona incerta. Auf dem abgebildeten 
Schnitt erscheint letztere bereits als selbstandiges Gebilde. Spater 
geht sie allmahlich medialwarts in die halbmondformige Schicht 
bezw. in die Zona transitoria (vgl. S. 126) tiber. Noch weiter cere- 
bralwarts hangt sie lateral mit der Gitterschicht zusammen. In 
der halbmondformigen Schicht und in der Zona incerta finden sich 
zahlreiche Biindelquerschnitte, welchc unter der Bezeichnung 
„Q-Bundel“ bereits wiederholt erwahnt wurden. Sie treten zuerst 
auf dem Schnitt 208 deutlich in Gestalt quer oder leicht schrag 
geschnittener Biindelquerschnitte auf und finden sich immer im 
dorsalen Abschnitt der Substantia nigra. Ihre Verschiebung er- 
folgt ganz allmahlich in ventromedialer Richtung, so dass sie 


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der Substantia nigra, dee Corpus Luysii und der Zona incerta. 281 


schliesslich an die Stelle gelangen, wo in distalen Ebenen das 
Biindel aus der Substantia nigra zum Pedunculus corporis mammil- 
laris gelegen ist. 

Das Stratum intermedium ist noch ziemlich breit. 

Die ventrale Hauptmasse der Substantia nigra zeigt trotz des 
Schwindens der lateralen Partie das Geflecht D 1 immer noch ganz 
deutlich, wahrend das Geflecht D m fast verschwindet. 

Die Fibrae efferentes tecti sind nicht mehr deutlich nachzu- 
weisen. Dagegen sind die Fasem des Tractus peduncularis trans- 
versus an der ventralen Seite des Pes pedunculi in dorsolateraler 
Richtung bis in das Gebiet der Substantia nigra sehr deutlich zu 
verfolgen. 

Die Felder H 1 und H 2 lassen sich erst hier eben als getrennte 
Felder unterscheiden. Wahrend H 1 ziemlich gut entwickelt ist, 
ist das Feld H 2 nur durch eine Gruppe ganz vereinzelter Fasem 
eben angedeutet. 

Der Fuss zeigt in der lateralen Halfte eine starke Zerkliiftung, 
die z. T. von den sog. Stillingschen Fasem bedingt wird. 

Das Pedamentum laterals ist medial von der Substantia nigra 
als eine sehr kleine Zone zu sehen. 

Die A-Felder sind noch immer in grosser Zahl vorhanden und, 
wie oben bereits bemerkt, durch ihr gelatinoses Aussehen ausge- 
zeichnet. Besonders bemerkenswert ist das lateralste dieser A- 
Felder, welches durch seine ansehnliche Breite und seine haken- 
formige Gestalt sofort auffallt und geradezu das friiher besprochene, 
inzwischen aber in Auflosung begriffene hakenformige Feld vor- 
tauschen kann. Die Stillingschen Fasem drangen sich zum Teil 
in Biindeln durch diese A-Felder hindurch. Die Grenze des Pro¬ 
cessus lateralis substantiae nigrae gegen die A-Felder ist nicht mehr 
scharf. Es steht nichts im Wege, diese ganzen Anhaufungen grauer 
Substanz auch hier noch als Substantia reticulata lateralis pedis 
zusammenzufassen. Die Biindelgruppe C ist stark zusammenge- 
schrumpft und ist beinahe mit den noch ziemlich gut entwickelten 
lateralen pontinen Biindeln verschmolzen. Auf Schnitt 158 kann 
man sie nicht mehr sicher erkennen. 

Der Schnitt 152 1 (vgl. Fig. 13) trifft an der Basis den Fasciculus 
mamillaris princeps. Da der Schnitt etwas schrag verlauft, streift 
er zugleich eben den hinteren Chiasmarand. 

Die A-Felder riicken noch ventraler und medialer. Die Sub¬ 
stantia nigra ist jetzt zwischen die zerkliifteten Biindel des medialen 
Fussteils eingelagert. Bei dGrSn liegt ihre dorsale Grenze. 
Der Processus lateralis substantiae nigrae ist seit Objekttrager 165 
vollstandig verschwunden. Der Rest der Substantia nigra wird 
durch machtige Faserbiindel, die aus dem Fuss dorsalwarts steigen 
und sich in dem Xuysschen Korper verheren, in zwei Teile ge- 
spalten, die auf der Figur als Sn 1 und Sn 2 bezeichnet sind. Die 
Substantia reticulata medialis pedis ist, soweit sie iiberhaupt noch 
vorhanden war, mit dem Teil Sn 2 verschmolzen. Hand in Hand 
.mit dieser Yeranderung haben sich auch massenhafte Faserbiindel 


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282 


S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie 


eingestellt, die aus dem medialsten Teil des Fussfeldes zum Corpus 
Luysii ziehen. Die Deutung dieser Fasern ist sehr schwierig. 
Wahrscheinlich handelt ea sich einerseits um sehr weit medial ge- 
legene Stillingsche Fasern und andererseits im Biindel des Fusses, 
die sich zum Aufstieg in die innere Kapsel anschicken. 

Das Corpus Luysii ist grosser. Seine Dicke betragt 2,3 mm. 
Es zeigt eine stark entwickelte dorsale und eine undeutliche ven- 
trale Markkapsel. 

Die Faserverbindungen des Corpus Luysii sind oben bereits 
wiederholt erwahnt worden. Ich beschranke mich daher jetzt 
darauf, sie nochmal kurz aufzuzahlen: 

1. Mediale Fasern zur Ansa peduncularis. 

2. Ventrale imd laterale Fasern zum Fussareal, die weiterhin 
teils in den Tractus opticus, teils in den Globus pallidus zu ge- 
langen scheinen. 

3. Fasern zum Feld H 2 . 

4. Fasern, die ventromedial gegen das Tuber cinereum und 
die Corpora mamillaria verlaufen. 

Die Seite 24 genau geschilderten Q-Biindel sind jetzt bis an 
die mediale Grenze des Fusses gelangt und scheinen sich der Ansa 
peduncularis zuzugesellen. Dieser letzteren gesellen sich auch 
Fasern zu, die aus dem Luysschen Korper, und zwar aus seinem 
medialen Pol, austreten und sich im Bogen um den medialen Rand 
des Fusses herum ventralwarts wenden (vgl. namentlich Objekt¬ 
trager 156). 

Das Feld H 2 ist machtiger geworden, es hilft einerseits die dor- 
sale Markkapsel des Corpus Luysii bilden, andererseits teilt es mit 
einem dorsolateralen, gegen das Feld H 1 ziehenden Fortsatz die 
Zona incerta unvollkommen in zwei Teile, einen medialen und 
einem lateralen. Ein dritter Teil der Fasern des Feldes H 2 zieht 
in vereinzelten Biindelchen in die Gittersohicht. Das Feld H 1 ist 
etwas reduziert, jedoch noch mindestens ebenso stark entwickelt 
wie das Feld H 2 . 

Die Decussatio hypothalamica anterior Fords lasst sich spinal- 
warts nur bis Objekttrager 156 verfolgen, auf noch weiter spinal- 
warts gelegenem Schnitte verlieren sich ihre Fasern seitlich sehr 
rasch im Grau des Tuber cinereum. Auf Objekttrager 160 sind 
sie iiberhaupt nicht mehr sicher nachzuweisen. In cerebraler Rich- 
tung lassen sich die Fasern erheblich weiter verfolgen. Auf ein- 
zelnen Schnitten fallt es allerdings sehr schwer, sie von der Meynert- 
schen bezw.Guddenschen Kommissur (Kreuzung) scharf zu trennen. 
Ich mochte auch nicht ausschliessen, dass die spater auf Objekt¬ 
trager 142 sichtbaren Fasern zum Teil der Ouddenschen Kommissur 
angehoren. Auf Objekttrager 145 und folgenden steigen die Fasern 
der Fore/schen Kreuzung einzeln in der Tiefe des Hohlengraus 
dorsolateral auf und wenden sich schliesslich teils durch die Fomix- 
biindel hindurch, teils im Bogen um die Fomixbiindel herum 
lateralwarts, um wenigstens zum Teil in die Ansa peduncularis 
iiberzugehen. Da in dieser Gegend das Corpus Luysii bereits fast 


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Buchan zeigen. 


2 S3 


verschvvunden ist, so ist ein Zusammenhang der Forelschen Kreu- 
zung mit dem Corpus Luysii fiir den Affen unwahrscheinlieh. 

Die Zona transitoria ist ziemlich breit und wird von der 
Hauptmasse der Zona incerta nur unvollstandig durch die Fasern 
des Feldes H 2 getrennt. 

Der Schnitt 132 1 (vgl. Fig. 14) trifft ventral das Chiasma 
etwa in seiner Mitte. 

Die Substantia nigra ist selbstverstandlich schon langst ver- 
schwunden, dagegen findet sich noch immer im medialen Teile 
des Fusses ein starkes Netzwerk grauer Substanz, welches spinal- 
warts ganz kontinuierlich in die A-Felder und in die Substantia 
nigra iibergeht. Man bezeichnet dieses graue Netzwerk am besten 
wieder als Substantia reticulata (medialis) pedis. 

Das Corpus Luysii lasst sich bis zum Schnitt 140 allmahlich 
abnehmend bequem verfolgen. Auf Objekttrager 140 ist es im 
gefarbten Schnitte sogar noch makroskopisch leicht zu erkennen. 
Auf den folgenden Schnitten nimmt es nicht nur sehr rasch ab, 
sondern wird es auch von Nervenfasem so dicht durchzogen, dass 
von grauer Substanz kaum noch etwas zu sehen ist. Schon auf 
dem Schnitt 138 bleibt es zweifelhaft, ob iiberhaupt noch graue 
Substanz vorhanden ist, immerhin lasst sich bis zu dem auf 
Fig. 18 abgebildeten Schnitt 132 mit einiger Sicherheit die Stelle 
imgeben, wo das Corpus Luysii zu suchen ist. 

Das Feld H 1 ist etwas schwacher geworden, aber noch gut 
entwickelt. Das Feld H 2 , das jetzt machtiger geworden ist, gibt 
noch immer viele Fasern durch den Fuss zum Globus pallidus ab. 

Auf Schnitt 112 1 , welcher ventral das Tuber cinereum und den 
Pedunculus inferior thalami trifft, wird die Zona incerta medial 
vom Pedunculus inferior thalami begrenzt. Sie geht in den un- 
mittelbar lateral vom Pedunculus inferior thalami noch iibrig blei- 
benden Ueberrest der Substantia reticulata pedis uber. 

(Fortsetzung folgt.) 


Buchanzeigen. 

Handbuch der Physiologic des Menschen. Herausgegeben von W. Nagel. 
Bd. 4. 2. Halfte. 3. Toil. Braunschweig. 1909. Fr. Vieweg & Sohn. 

In diesem Teilband behandelt M. Cremer die allgemeine Physiologie 
fler Xerven. Klar und vollstandig werden die wichtigsten Tatsachen dieses 
Gebiets erortert. Fiir den Neuropathologen ist der Schlussabschnitt iiber das 
Zuckungsgesetz am interessantesten (S. 970 ff.). Freilich tritt auch hier 
wieder die tiefe Kluft. zutage, welche zwischen den Beobachtungen am 
herauspraparierten Nerven und den Beobachtungen am lebenden Menschen 
beeteht. V T erf. widinet wohi auch deshalb dem Zuckungsgesetz bei dem 
Menschen nur etwa 1 Druckseite. Im Gegensatz zu Verf., Achelis u. A., glaube 
ich nicht, dass die Helmholtzeche Erklarung dae abweichende Veriiaiten bei 
dem lebenden Menschen schon in ausreichender Weise verstandlich macht. 
Die physiologische Literatur ist — wenigstens bis zum Jahre 1907 — sehr 
sorgfaltig beriicksichtigt und angegeben. 

A.Antheaume und Roger Mignot: Les maladies mentales dans 1’armde fran^aise. 

Paris. 1909. Delarue <fc Cie. 

Dies Buch, welches die Militarpsyohosen auf Grund der Erfahrungen 
Monatuchrift tllr Paychiatrle and Neurologie. Bd. ZZVtl. Heft 3. 19 


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284 


Tagesge.se hichtliche.s. — Personal ion. 


bei deni franzosischen Heer behandelt, bietet znm Toil can ausscrordentlich 
grosses In ter esse. Insbesondere der statistische Teil bringt ein sehr wert- 
volles tatsachliches Material. Der zweite Teil ist spaziell klinisch. Dio 
Klassifikation lohnt sieh an diejenigo von Berieux an. Allenthalben sind 
einzelne, znm Teil rceht interessante Krankengeschichten eingefiigt. Der 
dritteTeil behandelt administrative, forensische nnd prophylaktische Fragen. 
im vierten sind einsehlagige Gesetzesparagraphen, Sitzungsberichte der 
Deputiertenkammer u. a. zusammengestellt. Die Literaturiibcrsieht ist 
beziiglieh der nicht franzosischen Literatur unvollstandig, hingegen ausserst 
willkommen wegen des Hinweises auf viele franzosische Spezialarbeiten. 

Z. 

Die Gemiitsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluss auf korperliche, 
besonders auf krankhafte Lebenserseheinungen. Von C\ Lange. 2. Aufl., 
besorgt und eingeleitet von H . KureUa. Wurzburg. C. Kabitzsch. 1910. 

Langes Sehrift erschien zuerst im Original im Jahre 1885, die erste 
deutsche Ueborsetzung von KureUa im Jahre 1887. Die vorliegende neue 
Auflage ist ein nur wenig veranderter Abdruck der ersten Auflage. Jeden- 
falls hat sich KureUa ein grosses Verdienst ervvorben, indom or uns die Lehre 
Langes durch eine gute 1 'ebersetzung bequem zuganglich gemacht hat. 
Er sc-hickt der 2. Auflage eine interessante, aber freilieh auch sehr einseitige 
Darstcllung der bisherigen Einwirkung der Xanf/eschen Sehrift auf die zeit- 
genossische Wissenschaft voraus. Z. 


Tagesgeschichtllches. 


Vom 18—24. September d. Js. findet die Versammlung deutscher 
Xaturforscher und Aerzte in Konigsberg i. Pr. statt. Es sollen auf der 3 elben 
besonders die gemeinsehaftlichen Sitzungen gepflegt warden. 

Anmeldungen von Vortragen fiir die Sektion fiir Psychiatric und 
Notirologie warden baldigst erbeten an Prof. Dr. E. Meyer in Konigsberg 

i. Pr., Psychiatrische Klinik. 

Bisher sind von Vortragen und Referaten angemeldet: 

1. Bdi'dny- Wien: rntersuohung.smethoden des Vestibularapparates 
und ihre praktische Bedeutung (insbesondere fiir die Diagnose der Er- 
krankungen der hinteren Schadelgrube, sowie fiir die Beurteilung der 
Unfallsfolgen naeh Schadelverletzungen). 

2. BonAo//er-Breslau: Ref.: Ueber Degenerationspsychosen. 

3. Higier- Warschau: Tay-Sachsscho familiare Idiotie und verwandte 
Zustande. 

4. Isserlin-Miinehim: Ueber den Ablauf von Willkurbewegungen. 

5. Liepmann- Berlin: Ueber Pseudobulbarparalyse. 

6. Mingazzini- Rom: Ueber pathologisch-anatomische Untersuchungen 
zur A])hasiefrage. 

7. Reichardt-Wiirz biirg: Ueber die Hirnmaterie. 


Personalien. 

Edouard Brissaud ist im Dezember 1909 im Alter von 57 Jaliren ge- 
storben. Die Neuropathologie verdankt ihm zahlreiche grosso Arbeiten. 
Besonders sind hervorzuheben die Abhandlungen iiber Rire et Pleurer 
spasmodic] ties, iiber den Tortioolis mental, den Infantilisme dysthyroidien. 
die Choroe variable des degeneres. den Reflex der Fascia lata. Gigantismus 
und Akromegalie, die Little *ehe Krankheit, die spinale Metamerie, die 
,,Aphasie d’intonation** u. s. f. Seine Anatomic du cerveau do Hiomme, 
welche auf Anregung Charcots entstand, war fiir das Studium dev Him- 
anatomie in Frankreich bahnbrechend. Die Arbeit iiber Angoisse und Anxieto 
greift in psychiatrisches Gebiet iiber. Von seiner grossen Vielseitigkeit 
zeugen ausserdern zahlreiche Arbeiten iiber Tuberkuloso. Geschwulstlehre 
u. s. f. Er war Professor an der medizinischen Fakuitat in Paris und Mitglied 
der Akademie. Auch in Deutschland wird sein Andenken lange lebendig 
bleiben. 


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(Alls der steiermark. L.-Irrenanfltalt Feldhof und der Klinik fiir 
Geisteekranke ip Gras.) 

Zur pathologlsehen Anatomie der Dementia praeeox. 

Von 

H. ZINGERLE 

in Graz. 

(Hierzu Tafel XXI—XXII.) 

Trotzdem sich seit den grundlegenden Arbeiten Kraepelins und 
seiner Schule das Interesse dem Studium der Dementia praeeox 
wie kaum einer anderen Form der Psychosen zugewendet hat, sind 
durch die zahlreichen Untersuchungen bisher verhaltnismassig 
wenig sichere Ergebnisse zutage gefordert worden, und es sind immer 
neue Ratsel, vor welche sich der Forscher gestellt sieht. 

Noch ganz unklar sind die Faktoren, welche fiir die Aetiologie 
in Betracht kommen. Es ist zwar sicher. dass der Hereditat, be- 
sonders bei den Katatonen-Formen, eine Bedeutung zukommt — 
es fanden Belastung zu 67 pCt. Schulze 1 ), zu 50 pCt. Kolpin 2 ), 
80 pCt. Ziehen 3 ) —, aber ausschliesslich ist dies sicher nicht der 
Fall; — auch angeborene Keimesschadigungen kommen nur in 
einem Teile der Falle in Betracht, der aber z. B. nach den Erfahrun- 
gen Schulzes nicht gerade klein ist. In 30 pCt. konnte dieser Autor 
schon vor dem Beginn des Leidens das Vorhandensein von Imbe- 
zillitat oder Debilitat nachweisen. — Damit geht gewissermassen 
in Parallele der von Ziehen und anderen Autoren wiederholt er- 
hobene Befund einer hereditaren Syphilis. Ob und welche Rolle 
aber die Lues oder andere Gifte, wie z. B. Alkohol, sowie sonstige 
Schadigungen, Traumen etc. spielen, ist noch ganzlich unbekannt. 
Von besonderer Wichtigkeit ist es, dass auch der ursprunglich an- 
genommene enge Zusammenhang mit den Stoffwechselvorgangen 
der Pubertatszeit sich nicht ais zweifellos sicher erwiesen hat, 
seitdem das Vorkommen dieser Krankheitsform sowohl in der 
fruhen Kindheit, als auch jenseits der 40 er Jahre bekannt ge- 
worden ist. 


*) Ueber die Bez. des angeb. u. friih erworb. Schwachs., sowie der 
psychopath. Konstitution zur Dem. praec. Inaup.-Diss. Jena 1908. 

*) Ueber Dem. praec. etc. Allg. Zeitschr. f. Psych. 65. 

*) Psychiatric. 1908. 

Monatsschrift fiir Psychimtri© und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 9Q 


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286 


Zingerle, Zur pathologist* hen Aiiatomie 


Unleugbar grosse Fortschritte sind in klinisch- symptomato- 
logischer Hinsicht zu verzeichnen, und haben gerade die modernen 
Bestrebungen^auf Sonderung der klinischen Symptome nach ihrer 
Wertigkeit, klarer Prazisierung der Elementarsymptome und ihrer 
Beziehungen untereinander [Blevler 1 ), Stranaky 2 ), Kleiat 3 )] ver- 
heissungsvoile Ausblicke fur kiinftige Forschungen eroffnet. Be- 
sonders interessante Ergebnisse bat auch die Untersuchung der 
korperlichen Erscheinungen der D. praecox zutage gefordert 
[Weatphal 1 ), Meyer 6 ), Hiifler 9 ), u. A.], unter welchen einige, wie 
z. B. die mannigfachen Augensymptome, kortikale Herd- 
erscheinungen, besonders aber die sogenannten Katatonen-Anfalle 
in auffalliger Weise eine Analogic mit den Befunden bei progressiver 
Paralyse nahelegen und auf das Bestehen einer organischen Him- 
erkrankung hinzuweisen scheinen. 

Wie weit man aber trotz alledem von abgeschlossenen Ergeb- 
nissen entfemt ist, beweisen die vielfachen Schwierigkeiten bei der 
Differentialdiagnose gegeniiber sonstigen funktionellen Krank- 
heitsformen. Je nach dem Standpunkte, den eine Schule vertritt, 
variiert auch die Haufigkeit der Diagnose ,,Dementia praecox", 
und zeigen dann nur die katamnestischen Erhebungen, wenn 
solche in so anerkennenswerter objektiver Weise gemacht werden 
wie z. B. in der Kraepelinschen Klinik —, inwieweit Fehler gemacht 
worden sind. — So hat die jiingste derartige Untersuchung von 
Zendig 1 ) ergeben, dass unter 468 in den Jahren 1904—06 auf- 
genommenen Fallen 29,8 pCt. als Fehldiagnosen sich darstellten, 
die dem manisch-depressiven Irresein zugehorten. 

Es laufen also zweifellos fiir die Feststellung der klinischen 
Symptomatik in der Literatur genug Falle mit, welche falschlich 
der Dementia praecox zugerechnet werden und das Bild ver- 
falschen. Femer ist die Diskussion dariiber noch nicht endgiiltig 
geschlossen, ob die von Kraepelin vorgenommene Gruppierung in 
3 Formen den tatsachlichen Verhaltnissen entspricht und ob die 
klinischen Gesichtspunkte berechtigt sind, nach welchen im Beginn 
und Verlaufe so verschiedenartige Prozesse vereinigt werden 
[Ranke 6 )]. 

Nach Meyer 9 ) ist ein Teil der unter dem Begriff der Dementia 


') Endzustande der Dem. praec. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1908. 

*) Ueber die Dem. praec. Wiesbaden 1909. 

*) Untersuchungen zur Kenntnis der psychomot. Bewegungsstorungen 
bei Oeisteskranken. Leipzig 1908. 

4 ) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 64. 

‘) Die korperlichen Erscheinungen der Dem. praec. Allg. Zeitschr. 
f. Psych. Bd. 66. 

•) Ueber katatone Anfalle. Versamml. d. deutsohen Vereins f. Psych. 

1908. 

’) Beitrage zur Differentialdiagnose des manisch-depress. Irres. u. 
der Dem. praec. Verein bayr. Psychiater. Bericht in Allg. Zeitschr. f. Psych. 
Bd. 66. p. 932. 

’) Ueber den heutigen Stand der Histopathologic der Himrinde. 
Miinch. med. Wochenschr. 1908. 

*) Die Prognose der Dem. praec. Arch. f. Psych. 1909. 


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der Dementia praecox. 


287 


praecox zusamraengefassten Falle fiberhaupt als nicht hierher- 
gehorig abzutrennen. Ziehen') scheidet die Katatonie [Kahl- 
bauvn\ ganz aus der Dementia praecox aus, weil bei dieser erst 
sekundar ein Intelligenzverfall sich entwickelt, und spaltet sie 
dadurch von der katatonischenVarietat der Dementia hebephrenica 
ab. Auch Tamburini 2 ) schlagt vor, die heilbaren Formen von den 
unter dem Bilde einer progressiven unheilbaren Erkrankung ver- 
laufenden Formen abzusondern, da sie zweifellos anderen Krank- 
heitsformen angehoren. 

Eine weitere Schwierigkeit erwachst dadurch, dass katatone 
Symptombilder vorkommen konnen, ohne dass eine Dementia 
praecox besteht. Meyer 3 ) hat seinerzeit mit Naclidruck darauf 
hingewiesen, und hat sich dies auch weiterhin bestatigt. Und zwar 
kommen derartige Symptombilder nicht nur bei funktionellen 
Psychosen, sondem auch bei organischen Gehimerkrankungen 
vor, so dass Riche') eine wahre Katatonie und katatoniforme 
Erkrankungen bei organischen Hirnlasionen unterscheidet. Man 
findet sie bei Arteriosklerose, Hydrocephalie, Lues, Tumor und 
nicht selten bei Paralysis progressiva. Der Unterschied zwischen 
beiden ware demnach etwa so aufzufassen, wie der zwischen 
genuiner und symptomatischer Epilepsie bei organischen Gehirn- 
erkrankungen. 

Nach dem Bisherigen ist es nicht zu verwundem, dass die 
Anschauungen fiber das Wesen der Erkrankung sehr geteilt, viel- 
fach direkt widersprechend sind. So wird z. B. noch in jtingster 
Zeit bei der Besprechung der Klassifikation der Psychosen auf 
dem internationalen medizinischen Kongresse in Budapest von 
Keraval 5 ), Ballet und Maillard*) die Dementia praecox unter die 
funktionellen Psychosen neben Manie und Melancholie eingereiht, 
wahrend Bresler 1 ) sie den toxischen Psychosen angliedert und mit 
der Dementia senil., Paralys. progr., den alkoholischen Geistes- 
storungen etc. in einer Gruppe vereinigt. 

Der Anschauung, dass der Dementia praecox toxische Prozesse 
zugrunde liegen, neigt fibrigens eine grossere Zahl der Autoren zu, 
ohne dass jedocli fiber das Wesen und die Herkunft der supponierten 
Toxine irgend etwas Sicheres bekannt ist. Die schon von Kraepelin 
geausserte Vermutimg einer Autointoxikation erhielt durch 
neuere Erfahrungen fiber haufiges Vorkommen von Osteomalacie 
bei Dementia praecox eine gewisse Stfitze [5or6o®), Haberkandt*)]. 
Die Haufigkeit dieser Kombination lasst nach diesen Autoren ein 
zufalliges Zusammentreffen ausschliessen und an Erkrankungen 


>) L c. 

*) Ueber Dementia primitive. Intern. Aerztekongreas in Pest 1909. 
*) L c. 

4 ) 1. c. 

5 — 7 ) Klassifikation der Geisteskranken. Intern. Aerztekongreas 
in Pest 1909. 

*) Osteomalacie bei Geisteskranken. Allg. Zeitachr. f. Psych. Bd. 66. 
*) Osteomalacie u. Dem. praec. Arch. f. Psych. 1909. 

20 * 


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288 


Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


der Thyreoidea und Ovarien denken, infolge welcher normal© 
Abbauprodukte des Organismus zuriickgehalten werden und durcb 
ibre Ansammlung zu Vergiftungserscheinungen im Gehim fiihren. 
Zur Begriindung dieser Hypothese liess sich auch anfiihren, dass 
bei Osteomalacie, Morb. Basedowii und Myxodem psyohische 
Storangen nach Art der Dementia praecox beobachtet wurden 
[Honniclce 1 )]. 

Auf einem ganz anderen Stundpunkte stehen jene Autoren, 
welche den endogenen, auf einer degenerativen Anlage beruhenden 
Charakter des Leidens betonen (Sommer u. A.) und das Wesen des- 
selben in einer vorzeitigen Invaliditat des Zentralnervensystems 
infolge hereditarer Schwache erblicken, wie dies z. B. Danneman 2 3 * * ) 
prazisiert. 

Fur eine derartige Annahme, die mit den bisherigen Erfahrun- 
gen iiber angeborene Minderwertigkeit grosserer oder kleinerer 
Verbande des Zentralnervensystems und der daraus resultierenden 
friihzeitigen Erschopfung der Funktion derselben in guter Ueber- 
einstimmung steht, lasst sich — neben anderen Punkten — vor 
allem die grosse Zahl der erblichen Belastung, sowie die Haufigkeit 
des familiaren Auftretens von Psychosen, die der Dementia praecox 
zugehoren [Berze 8 )], heranziehen. Der Einwand, dass sich auf Grand 
einer derartigen Anschauung die eigenartige Symptomatik nicht 
widerspruchslos erklaren lasse, ist in dieser Allgemeinheit nicht 
stichhaltig. Schon bei Wernickes*) Schilderang der Pubertats- 
psychosen kommt der Gedanke zum Ausdracke, dass nicht die Art 
der Erkrankung, sondem das Alter, also der Entwicklungszustand 
des Gehirnes, alien hebephrenen Psychosen gemeinsame charak- 
teristische Ziige verleiht. Spater hat Urstein 6 7 ) die Bedeutung des 
Alters und der personlichenVeranlagung fiir die symptomatologische 
Gestaltung des Krankheitsbildes hervorgehoben. Ebenso haben 
Weygandt*) und Vogt 1 ) betont, dass das uberwiegende Vorkommen 
gerade der katatonen Formen des Jugendirreseins im Kindesalter 
in physiologischen Erscheinungen desselben begriindet sei. 

Andererseits muss man sich dabei doch wieder vor Augen 
halten, dass die — selbst anatomisch im Gehirne nachweisbaren 
Zeichen einer degenerativen Anlage nicht sicher auf den endogenen 
Charakter einer geistigen Stoning schliessen lassen, sondem, wie 
dies ja fiir die Paralysis progr. und andere organische Gehimleiden 
nachgewiesen ist, erst den giinstigen Boden bilden konnen, auf 
welchem exogene Schadlichkeiten sich leichter und fester festsetzen. 

l ) Zit. nach HaberJcandt. 

*) Kura f. Familienforschung u. Vererbungslehre. Mitteil. d. Zentral- 
stelle f. deutsche Personen- und Familiengesch. 1909. H. 5. 

3 ) Die manisch - depressive Familie. Monatsschr. f. Psych. 1909. 

*) Grundriss 1900. 

6 ) Die Dem. praec. Wien 1909. 

•) Kritische Bemerkungen zur Psychologie der Dem. praec, Monats- 
schrift f. Psych. 22. 1907. 

7 ) Ueber Falle von Jugendirresein im Kindesalter. Allg. Zeitschr. 

f. Psych. Bd. 66. 


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der Dementia praecox. 


289 


Wo man die Erkrankung fasst, iiberall stosst man somit auf 
Unsichere8 und Unklares, und ist es begreiflich, dass man sich mit 
allem Eifer der pathologisch-anatomischen Untersuchung zu- 
wandte und von dieser alles Heil erwartete. 

Leider hat der Erfolg den Erwartungen bisher nicht ent- 
sprochen; trotz der grossen Zahl der Untersuchungen liegen ein- 
deutige Befunde und sichere Ergebnisse nicht vor und kann heute 
von einer pathologischen Anatomie der Dementia praecox noch 
nicht gesprochen werden. Es ist schon die Differentialdiagnose 
gegeniiber den Veranderungen, welche bei Tuberkulose, Infektions- 
erkrankungen. chronischen Emahrungsstorungen etc. im Gehirn 
sich entwickein, unsicher und lasst sich schwer entscheiden, ob 
primare, auf das Grundleiden zu beziehende, oder sekundare Ver¬ 
anderungen vorliegen. Auch die Frage beziiglich der Berechtigung 
der Einteilung der Dementia praecox hat durch diese Unter¬ 
suchungen bisher keine merkbare Forderung erfahren; ja selbst die 
Grundlage der gewiss schwere Storungen verratenden katatonen 
Anfalle ist noch unbekannt. 

Wir stossen somit auch hier wiederum auf wenig bebauten 
Boden, und erscheint eine Fortfiihrung dieser Untersuchungen 
dringend notwendig. Els wird aber dabei weniger von Wert sein, 
moglichst viele Falle kursorisch zu untersuchen, als jeden klinisch 
gut beobachteten Fall griindlich durch zu arbeiten. 

Die Gelegenheit hierzu erhielt ich durch die Direktion der 
Landesirrenanstalt Feldhof, welcher ich fur die Ueberlassung der 
Krankengeschichte und des Gehirnes meinen herzlichen Dank 
abstatte. 

Krankheitsgesohichte. 

Anamnese . 

M. I., geb. 1870, k. 1. Keuschlerssohn aus Fiirstenfeld in St. Mark, 
wurde am 3. vTI. 1902 in die psychiatrische Klinik in Graz gebracht und am 
23. VII. 1902 nach Feldhof uberstellt. Der Vater ist gesund, die Mutter und 
eine Schwester sind geisteskrank, ein Bruder war ebenfalls geistesgestort, 
ist aber genesen. Ein Bruder und eine Schwester sind gesund. 

Pat. war ein fieissiger Arbeiter, nach Alkoholgenuss sehr aufgeregt. 
Nach Angabe des Bruders bildete er sich alle moglichen Krankheiten em, 
glaubte, er miisse sterben, w r eii ihm Niemand helfen konne. Er spreche oft 
wirres Zeug durcheinander; Lues negiert. In der Klinik war er ruhig, be- 
antwortete zutreffend alle Fragen; er gab an, seit einem Jahre krank zu sein, 
und sitze sein Leiden im Halse. Ein Arzt bezeichnete es als unheilbare 
Syphilis und glaube er dies und meine bestimmt, sterben zu miissen. Er war 
ortlich vollkommen, zeitlich unvollstandig orientiert, ausserte auch, dass es 
ihm zeitweise am Verstande fehle, und klagte iiber Schmerzen in der Nase; 
die Haut sei am Kopfe angedorrt, die Nase zerfressen, der Leib schon ganz 
zerfalien und stinke schon, das Blut sei Gift und Wasser. Dementsprechend 
war die Stimmung deprimiert. 

Die Intelligenzpriifung ergab massige, seiner Vorbildung entsprechende 
Kenntnisse. Korperlich: Pat. war kraftig gebaut, etwas abgemagert, deut- 
licher Tremor der Zunge und Hande, prompte Pupillenreaktion, keine 
Augenmuskelstorungen. Sehnenreflexe etwas erhoht. Innere Organe normal. 
Gk>norrhoe. In der Nase links starke Spina septi und leichte Verdickung der 
Schleimhaut der mittleren Muschel. 


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Zinger 1 e , Znr pathologischen Anatomie 


Verlauf der Erkrankung in der Anstalt . 

25. VII. 1902. Bei der Aufnahme mit zerknirschter Miene und 
Haltung, beginnt aber schon bei der ersten Antwort zu lacheln. Er wisse 
nicht, wo er daheim sei und auch wo er hier sei, sei ihm fremd. Als Knabe sei 
er in Steinbach gewesen, das gehore dem Kaiser. Wo der Kaiser ist, weiss 
er nicht. Nach der Volksschule verrichtete er Bauemdienste; die Mutter 
sei seit dem Jahre 1881 narrisch, hore Stimmen. 

Seit vorigem Jahre habe er eine Liebschaft, friiher onanierte er, ofters 
auch mehrmals wahrend der Nacht; schon als Kind in der Schule habe 
man mit seinem Gliede gespielt. Die geographischen Kenntnisse beschranken 
sich auf die engste Heimat, die 10 Gebote leiert er nach Kinderart herunter, 
deren Erklarung fallt ausserst mangelhaft aus. Die Weltgegenden nennt er: 
Siiden, Westen, Asien, Afrika. 

Seit April vorigen Jahres fiihle er sich so krank, liess sich die Nase 
behandeln und war nach 14 tagiger Kur gesund. Im Herbste wurde er wieder 
kranklich, konnte aber iiber den Winter noch arbeiten. Im Friihjahr machte 
er eine Gonorrhoe durch; von da ab tat er nichts mehr, weil seine Krankheit 
erblich sein solle. Verschiedene Medikationen blieben erfolglos. Zu Hause 
horte er Stimmen, behauptet aber dann gleich wieder, gehort habe er nichts, 
es habe ihn nur von Weibem getraumt, die er coitierte, und hatte er dabei 
Pollutionen. Die Leute sagten ihm, er sei ein Narr, auch auf der Klinik 
schimpfte man iiber ihn: „Pfui Teufel, ewiger JucT, pfui Tschanker“; 
er glaubt syphilitisch zu sein, es stinke ihm bei der Nase und dem Munde 
heraus. 

Aufgefordert, seine Leiden zu erzahlen, beginnt er gleich, es krache 
im Halse imd Genick, steche im Kopfe und in den Schultem, die Nase habe 
keine Luft, der Magen sei hin. Das Genitale sei ganz faul. 

Schadel von gewohnlichen Dimensionen, Stimnaht gewulstet. Uvula 
langer, als normal. An der Innenseite des linken Oberschenkels ein behaarter 
Naevus. 

26. VII. 1902. Wahrend der Nacht of ter wach, beklagte sich iiber* 
die Nahe des Teufels. Heute sitzt er verstimmt im Garten, aussert sich, 
dass ihm ein stinkender Hund vorgemacht werde, dass im Essen Kot sei. 

8. VIII. 1902. Steht oft am Fenster oder an der Tiire, lauscht, 
springt plotzlich auf, rennt in den Garten, springt in den Graben und ver- 
sucht zu fliichten. Als Motiv gibt er die endlosen Schimpfereien, welche 
manchmal drohend werden, und das Auftauchen des Teufels an. Gegen 
Abend meist weinerlich, angstlich, legt sich nur widerstrebend zu Bett 
und schlaft auch mit Chloral wenig. 

28. VIII. 1902. Steigt in hastiger Flucht bis zum hochsten Gipfel 
eines Baumes, lasst sich auf Zuspruch bewegen, herabzukommen, motiviert 
sein Verhalten damit, es sei ihm plotzlich alles fremd und verandert vor- 
gekommen, alles hatte so drohend ausgesehen; er ist sehr verstort, weicht 
auch vor dem Arzte zuriick. 

19. IX. 1902. Wird bei Tag und Nacht durch fortwahrendes Gerede 
belastigt; dazu kommen noch verschiedene Organgefiihle, wie Stechen und 
Schlagen, Durchstromen der Adem, wahrscheinlich von Gift, verschiedene 
Geriiche, teuflische Blendungen, eigentiimliche Lichterscheinungen. Genital- 
sensationen leugnet er. Zum Essen muss Pat haufig genotigt werden. 
Schlaf mangelhaft. 

13. X. 1902. Steht auf der Abteilung traumhaft herum, halt sich 
mit Vorliebe im Vorraume des Abortes auf, wurde gegen den Warter, der 
ihn hinausweisen wollte, aggressiv. Zwei Tage isoliert. 

10. XI. Steht ganz in sich versunken herum, lachelt und spricht 
leise vor sich hin. 

13. XI. Erzahlt heute auf Befragen, dass er fortwahrend rufen hore, 
die Luft gehe ihm kreuzweise im Kopfe aus und ein; wenn er stehen bleibe, 
habe er das Gefiihl, als wenn er gehen solle und um^ekehrt. Er werde auch 
von elektrischen Stromen beeinflusst, die durch die Luft kommen; seine 
Nase stinke und sei ganz faul, durch das Genitale gehe das Gift herunter, 


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der Dementia praecox. 


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das er am Schlossberg eingenommen habe, es treibe ihm das Genital© an 
und dann wieder zuriick. Zeitweise Nahningsverweigerung, weil es ihm vom 
Magen heraufdriicke. 

2. XII. Agnosziert einen seit Wochen hier befindlichen Kranken 
als seinen Bruder; habe auch seinen Vater hier sterben gesehen. Hat an- 
dauernd Sensationen; sei durch stinkige Luft aufgeblasen, sehe und hore 
nichts mehr, werde langsam versteinert, wackle mit dem Kopfe, bewegt 
die Schultem, um das Steinerasseln zu demonstrieren. Macht einen miiden, 
schlafrigen Eindruck, verkehrt nur wenig. 

18. XII. Habe seinen Vater bei der Tiir hereinkommen sehen, 
wundert sich dariiber, dass dieser lebend kam, da er doch dessen Leichen- 
geruch deutlich spiirte. Das durch den Ham abgehende Strychnin macht 
ihm Kitzeln. Er sei schon wie ein Fass aufgeblasen, ganz hohl, das Klopfen 
und Reden in den Ohren halle so wider, dass er nicht schlafen konne. 

26. XII. Sieht schlecht aus, fahl, blass. Puls frequent, schwach; 
Pat. kugelt am Boden herum, kommt ins Bett. 

23. I. 1903. Beklagt sich, dass der Magen und die Eingeweide 
herausgeschnitten seien, dass er durch das Telephon verhohnt werde etc. 

22. II. Hort seine Angehorigen und Geschwister; die hinter der Tiire 
stehen sollen; seine Schwester befiehlt ihm, vor dem Arzte nieder zu knieen, 
er werde fort und fort elektrisiert, habe ein Loch im Kopfe, das er sich an- 
geblich mit Watte ausstopfen rniisse. Vom Magen steige ihm Gestank auf; 
steht ratios herum, versteckt sich in Winkeln, zieht haufig das Gewand iiber 
den Kopf, zieht sich beim Liegen auf den moglichst kleinsten Raum zu- 
sammen. Nachte ruhig. 

20. IV. Stellt heute Sensationen und Halluzinationen als Tr&ume 
hin, sei ganz gesund, sucht seine friiheren Ideen in ganz schwachsinniger 
Weise zu entkraften, objektiv ist er andauerad Halluzinant, wahnt seme 
Eltem und Bruder hier. 

7. V. Er habe gestem Gift fressen mu seen, man solle ihn hinausfiihren 
und erschieesen. 

12. V. Liess sich von einem dementen Paralytiker bewegen, diesem 
bei einem F uchtversuche behiilflich zu sein. 

16. VI. Aeussert offers Todesahnungen, heute wurde er hingemacht 
und vergiftet; sonst unverandert. Haufig schlaflos. 

25. VIII. Lag die letzten Wochen viel auf den Banken herum 
oder separierte sich in einem Winkel, ruhig verschlossen, Bewegungen 
langsam, miide. Vor einigen Tagen zu Bette gebracht, bleibt er ruhig liegen, 
ist zufrieden mit dieser Aenderung. Psychisch sonst unverandert, aussert zeitr 
weise Vergiftungsideen, klagt, dass ihm die Zahne im Munde klappem, 
seine Gedarme undurchgangig seien. Durch 2 Tage abstinent. 

23. IX. Pat, lag wahrend der letzten Wochen stuporos dahin, musste 
zur Nahrungsaufnahme genotigt werden; Aeusserungen waren nur ausserst 
sparlich zu erhalten. Behauptet, heute nicht langer hier bleiben zu wollen, 
er gehe hinunter in die Glashalle, wo der Operationssaal sei, er konne nicht 
mehr leben. Er wolle sich operieren lassen,fiihle am ganzen Korper Schmerzen; 
er sei schon stinkig geworden und gehore in den ailerletzten Winkel. 

12. X. Tiefer Hemmungszustand, bewegt sich in eigentiimlichen 
Posen. Bestandig mutazistisch. Nach Ian gem Fragen gibt er an, dass er der 
Schacher sei. 

5. XI. Pat. liegt regungslos zu Bette, exquisit katatonisch, magert 
ab. Puls frequent, weich. 

5. XII. Liegt meist ruhig, zusammengekauert, steigt zeitweilig aus 
dem Bette, geht mit steifen Beinen im Zimmer auf und ab. Lasst sich 
selten in ein Gesprach ein. Heute zuganglich, behauptet, er habe seinen 
Vater nicht gekannt, habe nie seine Mutter gesehen; es sei ihm die Zunge 
wecgegangen, seine ganzen Gedarme seien in den Abort verschwunden. 
Haft sich rein. 

25. I. 1904. H&lt bestandig sein Sacktuch vor den Mund, behauptet, 
er habe die Pest im Bauche, muss© unter die Erde, damit die anderen nicht 
von ihm vergiftet werden. 


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Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


10. III. Dauemd zu Bette, voller Sensationen, zeitweiae Nahrungs- 
verweigerung. An manchen Tagen liegt er lethargisch dahin, manchmal 
wieder reger, sitzt auf, spricht iiber seine Zustande. 

17. VI. Nimmt trophisch ab. Ueber beiden Lungenspitzen ver- 
sch&rftes Atmen und trockene Ronchi. 

22. Vm. Unverandertes Verhalten, beklagt sich haufig iiber den 
Gestank, der von ihm ausgehe. 1 

26. XII. Liegt an manchen Tagen bewegungslos dahin; manchmal 
reger, spricht von derPestkrankheit, an der er leide; er sei hier, um zu sterben. 
Nahrungsaufnahme wechselnd. 

22. II. 1905. Nach wie vor voller Sensationen, sei vergiftet, faul, 
stinke, verpesteteLuft gehe von ihm aus; verlangt in die Zelle, um die anderen 
nicht zu verpesten. 

4. VIII. Liegt meist bewegungslos zu Bette, den Blick gegen die 
Decke gerichtet, steht manchmal plotzlich auf, stellt sich neben das Bett, 
bleibt statuenhaft stehen. Am 14. V. versuchte er, die Stiicke eines zer- 
brochenen Loffels zu schlucken, wollte Kaffee durch die Nase trinken. Erzahlt 
heute, dass er einen Bisswurm in seinen Beinen habe, der von seinem Fleisch 
fresse. 

24. IX. Stuporoses Verhalten, lie^t regungslos, mit gesohlossenen 
Augen im Bette, muss zum Essen genotigt werden, gibt nur auf wieder- 
holtes Befragen mit leiser Stimme Antwort. Bittet um einen Schneider, 
denn nur dieser konne ihm helfen; er sei ganz hohl und werde mit Blut ge- 
fiittert. 

7. VIII. 1906. Liegt stets zu Bette, meist mit gespreizten Fingern 
in exquisit katatonischem Zustande, murmelt zeitweise unverstandlich vor 
sich hm, erwahnt etwas vom Kegelschieben, Gift, Blitz u. a. Nach vollig 
regunglosen Wochen springt er manchmal plotzlich auf, wirft Bettzeug- 
stiicke von sich und stosst dabei zusammenhangslose Worte heraus. Daim 
lasst er sich wieder ruhig ins Bett fiihren und bleibt wie friiher regungslos 
liegen. 

12. XI. Zeigt Befehlsautomatie, halt nach geringem passivem 
Widerstande Hand oder Bein in der gegebenen Stellung auch bis zu einer 
Stunde steif, lasst dann die Extremitat langsam und allmahlich in Ruhe- 
stellung herab. Nachts ruhig, oft unrein. 

14. V. 1907. Immer regungslos, mit halbgeschlossenen, zwinkernden 
Augenlidem im Bette, spricht manchmal etwas vom „Blutwurm“ und von 
Stechen in den Gliedem. Fiexibilitas cerea besteht unverandert. 

9. XI. Magert zusehends ab, verweigert manchmal die Nahrung 
mit der Motivierung, „es stinke“ oder Gift sei drinnen. Im Munde ver- 
spiire er einen Geschmack ,,wie nach Kot aus dem altenJAborthausel“. Be- 
ldagt sich iiber den Blitzschlag im Riickenmark, weshalb er sich nicht zu 
bewegen getraue; auch sehe er ofter Feuererscheinungen und hore „die 
Sprache“. Was er hore, sei nicht immer deutsch, er wisse selbst nicht, was 
gesprochen wird, wahrscheinlich sei dies aber auf ihn gerniinzt. In seinem 
Leibe habe er Wurmblut, das krabble und steche oft im ganzen Korper. 
Auch die Schadeldecke sei eingesehniirt, am besten ware es, man wurde ihm 
den Schadel einschlagen. In der Nase stinke es grauslich nach dem Spitz- 
wurm; in den Gedarmen sei alias faul. 

31. XII. Seit 2 Wochen hartnackige Diarrhoen, Puls zwischen 
80 und 90, Temperatur normal. Im linken Oberlappen der Lungen Er- 
scheinungen von Tuberkulose. Pat. ist verhaltnismassig agil, zeigt nur an- 
deutimgsweise Fiexibilitas; psychisch sonst unverandert. 

9. I. 1908. Diarrhoe halt unverandert an. Pat. wird immer schwacher, 
seit 2 Tfi^en Fieber, heute um %2 Uhr nachmittags Exitus. 

Obduktionsbefund 
(am 10. I. 1908, vormittags). 

Schadeldach rundlich, Knochen mitteldick; Langsdurchmesser 177. 
Breitendurchmesser 151. Gehirngewicht 1430 g. 


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der Dementia praecox. 


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Weiche Gehimhaute gross ten toils zart, durchsichtig, ohne Substanz- 
verlust abziehbar, nur iiber den oberen Stimwind ungen und den oberen 
Anteilen der Zentral wind ungen, ebenso an der Basis der Umgebung dee 
Chiasma milchig getriibt. Gefasse massig injiziert, Gefassbaum an der 
Basis ohne Besonderheiten. 

Das Gehim ist im ganzen gut geformt, in seinen beiden Half ten von 
gleicher Grosse, reichlich gegliedert. Die Windungen sind glatt, nicht auf- 
fallig atrophisch; eine Verbreiterung der Sulci ist nur in den Stirnlappen, 
rechts starker als links, und zwar imBereiche des S, fs. und S. pres bemerkbar. 

Die typischen Hauptfurchen und Windungen sind alle deutlich ge- 
bildet. Bemerkenswert ist nur, dass die Oberflachengliederung in beiden 
Hemispharen differiert, rechts viel reichlichor ist als links. In der rochten 
Hemisphare ist der Stirnlappen durch zahlreiche Furchen 2. und 3. Ordnung 
eingeschnitten und sind auch Tiefen wind ungen an die Oberflache getreten. 
Besonders reichlich und atypisch gegliedert ist aber der Scheitel- und Hinter- 
hauptslappen, wahrend die Oberflachengestaltung im Schlafelappen einen 
relativ emfachen Charakter tragt. 

Die linke Hemisphare zeigt einen viel einfacher gefurchten Stirnlappen, 
die Windungen sind breiter und weniger durch sekundare Furchen unter- 
brochen als rechts. Auch die Zentral wind ungen sind hier etwas breiter 
als rechts. Immerhin finden sich auch in dieser Hemisphare atypische 
Furclienzweige, weiche Verbindung zwischen typischen Furchen schaffen; 
Die postzentrale Furche verlauft ganz parallel dem Sulc. Rolando, die 
interparietale Furche ist in mehrfache Teilstiicke gesondert. 

Die Fissura Sylvii ist beiderseits geschlossen. Die Himnerven liegen 
in gewohnlicher Zahl und Dicke vor. 

Auffallig ist eine starke Steilstellimg der Briicke, durch weiche die 
Himschenkel steiler abfallen als gewohnlich. Die linke Kleinhimhalfte 
ist etwas kleiner als die rechte, aber etwas starker gewolbt. Im Bau der 
Kleinhim-Hemispharen sowie der. Briicke sonst ausserlich keine Ab- 
weichimgen vom Normalen. 

In der linken Lunge verstreute Miliartuberkel mit hamorrhagischem 
Hofe. In der rechten Lunge einzelne, bis erbsengrosse, verkalkte Tul>erkel. 
Pleuritis fibrinosa sinistra, Herz klein; chronischer Milztumor. Enteritis 
ulcerosa. Das Gehim wurde in lOproz. Formol gehartet. Zur Bearbeitung 
wurden aus den verschiedenen Windungsgebieten der einzelnen Lappen, 
sowie aus dem Kleinhim, den basalen Ganglion und dem Halstnarke 
kleine Stiicke entnommen imd nach den verschiedenen Methoden (Carmin, 
Hamotoxylin - Eosin, v . Gieson , Nigrosin, Thionin, Weigerts che Mark- 
scheiden- imd Gliafarbung, Marchi) gefarbt. Da nach der Angabe von 
SchiUz 1 ) dor Zerfall der Fibrillen schon 12 Stunden post mortem beginnt, 
wurde in Hinsicht auf die spate Obduktion von der Fibrillenfarbung Ab- 
stand genommen. Um Einsicht zu gewinnen, inwieweit bei der Katatonie 
Entwicklungss tor ungen des Gehirns eine Rolle spielen, wurde ausserdem 
das ganze Gehim bis zum oberen Halsmarke in Serienschnitte zerlegt und 
nach der Weigrertschen Markscheidenmethode gefarbt. 

Histologischer Befund. 

Schwerere Entwicklungsstorungen in Form von Agnesien einzelner 
Teile, heterotoper Lagerung grauer oder weisser Substanz, oder von 
Mikrogyrie liessen sich nirgends auf finden. Nur im Kleinhim kommt 
eine Storung dor Ordnung dor Purkin /eschen Zellen, Verlagerung derselben 
in die Kornorschicht vor. In der Grosshimrinde komrnen Bilder vor, die 
an eino stellenweise verzogerte histologischo Differenzierimg von Ganglien- 
zellen denken lassen, die spater Erwahnung finden werden. 

Residuen von mit Nnrbonbildung ausgeheilten hamorrhagischen 
Gewebszerstorimgen oder Erweichungen fehlen vollstandig. Die nachweis- 

J ) Zur pathologischen Anatomie der Nervenzellon und Neurofibrillen 
Monatsschr. f. Psych. Bd. 26. 


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Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


baren krankhaften Veranderungen sind nicht ausschliesslich auf die Gross* 
hirnrinde lokalisiert. Sie erstrecken sich auf die basalen Ganglien, das Klein- 
him und sind selbst in dem untersuchten obersten Riickenmarksanteile 
noeh vorhanden. 

Sie sind aber nicht uberall von gleicher Intensitat; am starksten be- 
troffen sind beiderseits das Stimhim sowie die Windungen der Scheitel- 
lappchen und der Nucl. dentatus des Kleinhims. Am geringsten ein- 
bezogen erscheinen beide Hinterhauptslappen. Ausserdem bestehen auoh 
in den einzelnen Windungen selbst starke Unterschiede, indem an den 
Windungskuppen die Veranderungen regelmassig schwerere sind als an den 
F\ irehen wandungen. 

1. Qrosshimhemisphdren . 

Die Dura kam nicht zur Untersuchung. Die Pia ist zum grosseren Teile 
diinn und ohne Veranderungen. Nur stellenweise sind die Bindegewebsziige 
verdickt, von spindelformigen Fibroblasten mit saftigen Kemen durchsetzt. 
In den Maschen des adventitiellen Gewebes der Gefasse liegen dabei ver- 
einzelte Lymphozyten, wenige, Plasmazellen ahnliche Formen (runder Zell- 
leib, Protoplasma dunkel homogen, exzentrischer nuider oder halbmond- 
formiger Kern mit dicker Kemmembran, wandstandigem Chromatin und 
zentraler Lichtung), sowio einzelne langlich ovale Formen, in deren lichtem, 
fein gekomtem Zelleibe 2—3 kleinere dunkle Kerne sichtbar sind. In der 
Tiefe einzelner Furchen ist die Pia mit der zonalen Schicht mitunter ver- 
wachsen, wobei die Grenzen beider verwischt sind. Die gliose Randzone ist 
dabei grobfaseriger, wie aufgelockert und kemreicher. Zum grosseren Teile 
sind es kleine dunkle Gliakeme mit unregelmassiger Kontur, wie sie auch 
normal in der Randzone vorkommen, die aber bier einen formlichen Wall 
bilden. Daneben finden sich auch runde und langliche Kerne mit spinnen- 
zellenahnlichem Zellleibe. 

Gefasse: Die grossen Gefasse an der Basis zeigen, abgesehen von 
Pigmentkomchen-Einlagerung in die Wand, keine Veranderung. Die Be- 
funde an mittelgrossen und kleinen Gefassen der Rinde sind wechselnde. 
Nur zum geringeren Teile bieten dieselben nichts Abnormes dar. Die Gefasse 
sind nicht iibermassig stark mit Blut gefullt, kleine Blutaustritte gehoren 
zu den Seltenheiten. Eine Neubildung von Kapillaren in irgend erheb- 
licherem Masse fehlt ganzlich. Nur an einer der Stellen war ein Querschnitts- 
biindel sichtbar, das am 2. oder 3. Gefasschen aufgebaut ist. In manchen 
Gefassen bildet das Blut eine homogene hyaline Masse oder mit Hama- 
toxylin sich stark blau farbende Kugeln, von denen ganz vereinzelte auch im 
adventitiellen Gewebe gefunden wurden und ganz den Amyloidkugeln ahnlich 
sind. Hyaline Entartung der Gefasswande selbst kommt — wenn auch nicht 
haufig — in grosserer oder geringerer Ausdehnung vor. Relativ haufig ist aber, 
dass kleine Gefassquerschnitte ganz kernlos erscheinen und hellglanzende 
Hinge darstellen, die bei alien Farbungen unverandert bleiben und nur mit 
Fuchsin einen leichten Stich ins Rotliche annehmen, Haufig ist eine starke 
Schwellung der Endothelkeme, durch welche die Wand nach aussen buckelig 
vorgewolbt wird. In den mittelgrossen Rindengefassen sind stellenweise auch 
die Kerne der Media und Adventitia vergrossert. Eine starkere Verdickung 
des adventitiellen Gewebes fehlt. 

Die adventitiellen Lymphraume der Gefasse sind fast durchgehends 
erweitert und enthalten Kernhaufchen, die niemals aus Plasmazellen be¬ 
stehen. Es sind Lymphozyten, sowie grossere Kerne mit lichter Zeichnung 
ahnlich den mittelgrossen Ghakemen, ferner, besonders in den Markgefaasen, 
grossere runde Pigmentkomchenzellen, die mitunter in erheblicher Menge 
die Lymphscheiden ausfiillen und bei Thioninfarbung sich strotzend gefiillt 
mit verschieden grossen, schwarzlich dunkelblauen Komchen oder Schollen 
erweisen. Ausserdem kommen noch — wohl aus gewucherten cwiventitiellen 
Elementen herstammende — langliche, biskuitformige, keulenformige Kerne 
mit auffallend dunkler Kemmembran vor, an denen stellenweise auch 
Degenerationserscheinungen, wie Schrumpfung, dunkle homogene Farbung, 
auffaliig sind. 


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der Dementia praeeox. 


295 


Zweifellos sind einzelne Gefasse such von perivaskularen Schrumpfungs- 
raumen umgeben und liegen in diesen Lymphozyten vermischt mit deutlichen 
Uliakernen, deren Zellleib nur mehr als schmaler Saum einer gekomten 
Substanzerhaltengebliebenist. Ueberhaupt sind haufig kleinerundeGliazellen 
in der Umgebung der Gefasse vermehrt nnd reihenformig oder in Haufchen 
(Gliarasen) langs des Gefassverlaufes angeordnet. In manchen Rindengebieten 
sieht man dagegen zellarme Hofo um die Gefasse, die in einiger Entfemung 
durch einen Kernwall abgegrenzt warden. Sehr haufig ist dieser Befuna 
von zellarmen Gefasshofen im allgemeinen nicht; kommen solche auch bei 
chronischen Degenerationsprozessen haufig vor, so fehlen nach Alzheimer 1 ) 
dieselben auch m normalen Gehirnen nicht vollig und sind daher nur mit 
Vorsicht zu be war ten. 

Nebst den Kornchenzellen liegen in den Adventitiazellen. den Gref ass- 
wand ungen, selbst in den Endothelien, Komchenablagerungen in Haufchen 
oder Reihen. Diese Ablagerungen sind reichlicher in den Mark- als in den 
Rindengefassen, erscheinen bei Hamatoxylinfarbung hellgelb, mit Marchi 
schwarz, mit Thionin zum Tt'il blau, zum Tail griinlich. Die Zellanhaufungen 
um die Gefasse wechseln in ihrer Ausdehnung, und findet man bald nur 
einige wenigo, bald die grossere Menge derselben. Sie gehen nicht parallel 
dem Grade der vorhandenen Rindenveranderungen, sind oft sparlich an 
Rindenstellen mit starker Zellerkrankung und umgekehrt. 

Der Gefassbefund ergibt somit im wesentlichen Ansammlung von 
hamatogenen Elementen in Form von Lymphozyten innerhalb der Gefass- 
scheiden, die nach Nissl 2 ) im normalen Gehime niemals vorkommen und 
gewohnlich bei nichteitrigen entzundlichen Prozessen gefunden warden. 
Dazu kommen noch gewucherte Adventitia-Elemente und schliesslich Abbau- 
produkte, in Form von freien und in Zellen angeschlossenen Pigmentkomem 
und Fettsubstanzen, die bei Zerfall nervoser Substanz regelmassig gefunden 
werden und durch den Lymphstrom in die Gefassscheiden und Wandungen 
uberfiihrt und dort deponiert werden [Alzheimer 2 ), Gehry*)]. 

Nervenzellen der Rinde. Die Rinde ist nirgends auffalhg verschmalert 
und gegen das Mark zu scharf abgegrenzt. Der Schichtenaufbau ist in der 
Grundlage ein dem Normalen entsprechender und erfahrt nur durch die 
pathologischen Veranderungen vielfach eine Storung. 

Die Molekularzone ist teils gleichmassig breit und eher keroarm; stellen- 
weise ist sio jedoch oberflachlich uneben und in der giiosen Randschicht 
aufgelockert, sowie kemreicher. In einzelnen Windungen des Stirn- und 
oberen Scheitellappens wird das Gewebe durch Haufchen eines gelb- 
schwarzen Pigmentes formlich getiipfelt. Die Veranderungen an den Ver- 
wachsungsstellen mit der Pia wurden schon friiher beschrieben. Hinsichtlich 
der Ganglienzellen der Rinde ist in erster Linie auffallig, dass in alien Rinden¬ 
gebieten in mehr weniger ausgedehntern Masse, am starksten an denWindungs- 
kuppen ZellausfalJe bestehen, die iiberwiegend in den Pyramidenschichten, 
in geringerem Masse in der Schicht der polymorphen Zellen vorkommen. 
DieZellverminderung istentweder eine diffuse, oder es treten grossere ganglien- 
zellenlose Stellen hervor, welche aus einem kernarmen, grobfaserigen Grund- 
gewebe, dem veranderten Grau, gebildet sind. Diese Ausfalle reichen oft 
bis in die obersten Lagen der kleinen Pyramidenzellen hinein, und grenzt 
sich dann die ausserste Zellage mit einem welligen, gezackten Rande gegen 
die Molekularzone ab, der auch Bilder vortauscht. wie sie in der Embryonal- 
zeit zur Zeit der Bildung der Retzius schen Warzchen gefunden werden. In 
der Nachbarschaft solch lichter Flecken und auch im Bereiche der diffusen 
Ausfalle sind die Zellen meist schwer verandert und, was besonders auffallig 
ist, vielfach auch nicht mehr typisch gelagert, schief, quer, mitunter direkt 


J ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats- 
schrift f. Psych. 3. 

*) Histologische und histopathologische Arbeiten etc. Bd. 1. 

'*) Ueber den Abbau des Ner\ y engewebes. Versamml. d. deutschen 
Vereins f. Psych. 1906. 

4 ) Zur Histopathol. der tuberk. Meningitis. Arch. f. Psych. 1909. 


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296 


Zingerle, Zur pathologischen Anatomic 


verkehrt, rait dem Spitzenforteatze mark warts gestellt, liegen auch manch- 
mal in kleinen Gruppen zu 3—4 dioht aneinander. (Fig. 1.) 

Die ausgesprochensten Bilder einer derartigen Rindendestruktion 
oharakterisierten die am schwersten betroffenen Windungsgebiete, wie im 
Stim- und Scheitellappen. In den weniger veranderten Rindengebieten 
•ind die Ausfalle weniger ausgedehnt und zahlreich. und erweist sich auch die 
BinsteUung nicht in so hohem Grade gesch&digt. 

Selbst an den Stellen derartiger schwerster Veranderung lokaiisiert 
ich dieselbe haupt3achlich auf die Pyramidensehichten. In der inneren 
Komerschicht, sowie der Schicht polymorpher Zellen koramen aus- 
gedehntere Liicken nicht vor, und sind nur sparliche, kleinere Ausfallszonen 
vorhanden. Tn der Regel kontrastiert also bei Verddung der ausseren 
Schichten eine im Verh&ltnisse dazu zellenreiche tiefe Rindenlage. 

Bei oberflachlicher Uebersicht fallt noch auf, dass im Gegensatze zu 
der Zellverarmung an den Kuppen an einer Oder beiden Seitenflachen der 
Windungen sich Bilder zeigen, die an eine Entwicklungshemmung denken 
lassen (Fig. 2). Die Ganglienelemente sind daselbst zahlreich. liegen dicht 
aneinander und lassen wenig Zwischensubstanz zwischen sich. Die Zellen sind 
dabei kleiner, in den einzelnen Pyramidensehichten in der Gross© wenig 
different und machen den Eindruck von unfertigen Zellformen. Die typische 
Form der Pyramidenzellen kommt wenig zum Ausdrucke. Sie sind mehr 
abgerundet, birn-, auch spindelformig, zeigen wenig Fortsatze. Der Kern 
ist im Verhaltnis zum Zelleibe gross, gut gezeichnet, mit deutlichem Kern- 
korperchen, der Protoplasmaleib schmal, feingekomt, ohne die typisch 
angeordneten Chromatinschollen. In der Schicht der kleinen Pyramiden¬ 
zellen, resp. der ausseren Komerschicht gleichen die Formen meist voll- 
kommen dem Typus unentwickelter Korner, 1 yei welchem der Zelleib gerade 
noch einen schrnalen Sanm urn den Kern bildet, der sich nach einer Seite 
in einen kurzen Spitzenfortsatz verlangert. Im Bereiche dieser Rinden- 
formation sind in der vorderen Zentralwind ung auch fast keine Betz&chen 
Riesenpyramidenzellen sichtbar. Die Rinde der Fissura calcarina tragi 
fast durchaus ein derartig unentwickeltes Geprage. In der Schicht der 
polymorphen Zellen sind birnformige Elemente seltener. 

Zerfalls- und Degenerationserscheinungen kommen an diesen Zellen 
ebenso — wenn auch nicht so ausgedehnt — vor, wie im Bereiche der iibrigen 
Rinde. 

In Hinsicht auf die sp&te Obduktion und auf die Moglichkeit post- 
mortaler Veranderungen kann dieser Befund nur mit Vorsicht und grosser 
Zuriickhaltung verwertet werden. Der Verdacht, dass derselbe eine ver- 
zogerte Reifung von Ganglienelementen zum Ausdruck bringt, ist jedoch ein 
naheliegender. 

Die iibrigen Veranderungen an den Ganglienzellen sind recht aus- 
gebreitete, zum Teil schweren Grades und stellen sich in den verschiedensten 
Formen dar. Vollkommen normal aussehende Zellen kommen bald reich- 
licher, bald nur vereinzelt vor, sind aber in der Minderzahl. Das Vorkommen 
von intakten Zellen neben den verschiedensten Arten der Zellv r eranderung 
ist nach Nissl ein Zeichen, dass der Krankheitsprozess noch nicht abgelaufen 
ist. Haufig ist eine Form rnit kurzen, zum Teil ganz fehlendcn Fortsatzen, 
bei welcher der Protoplasmaleib nur wenige Chromatinkornchen enthalt, 
die entweder dor Kernperipherie in Reihon anliegen oder in kleinen, zu- 
sammengebackenen Schollen ganz an die Peripherie, besonders an die Basis 
des Zelleibes, geriickt sind. Besonders haufig sieht man einen hellen Ring um 
den Kern, als Zeichen einer Retraktion des Protoplasma vom Kern (Fig. 3). 
Dieser perinukleare Ring erreicht oft eine solche Grosse, dass nur mehr ein 
schmaler Saum des Protoplasma den.selben umgrenzt, der auch an einer oder 
mehreren Stellen unterbrochen sein kann. Diese Formen fiihren unmittelbar 
zu den schweren Veranderungen liber, bei welchen der Kern in einem Hohl- 
raum liegt, der an einer Stelle noch Haufchen gekornten Protoplasmas und 
Pigment in sich schliesst, als Reste des urspriingiichen Zellleibes. 

Diese Zeilveranderung ist in ganz charakteristischer Weise schon von 


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der Dementia praecox. 


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Alzheimer') beobachtet worden; er schlieest ihr Zustandekommen durch eine 
Leichenveranderung aus, und ist ee von Intereese, dass er sie in Beziehung 
zu einer starken serosen Durchtrankung der Zellen, z. B. bei Himodem, 
bringt. Nur soli durch die wasserentziehende Eigenschaft des Alkohols, 
auf deren Bedeutung auf die Erweiterung schon bestehender Hohlraume 
auch SchiUz *) hinweist, nachtraglich bei der Hartung eine noch starkere 
Schrumpfung eintreten, die selbst zur Zerreissung des Zelleibes fiihrt. 

Kommen auch Pigmentablagerungen schon normalerweise in den Zellen 
Erwachsener vor [Da Fano *)] und tritt eine Fettpigmententwicklung schon 
in der Pubertat in Form von hellgelb glanzenden Kornem auf [Miihlmann A )\ 
so ist doch die Pigmentmenge, die in vorliegendem Falle in den beschriebenen 
Zellen — iibrigens in vielen Zellen mit andersartigen Veranderungen — vor- 
handen ist, eine ungewohnlich grosse, meist liber den ganzen Zelleib verteilte, 
und lasst darauf schliessen, dass, wie dies bei chronisch verlaufenden 
Psychosen iiberhaupt haufig vorkommt [Schulz*)], Alzheimer l * * 4 * 6 * * ) u. A., eine 
pathologische Pigmentierung der Ganglienzellen eingetreten ist. Die 
Komchen bleiben bei Haematoxylin-Eosin, Nigrosinfarbung hellgelb, er- 
scheinen bei Thionin-Farbung zum Teil blau, zum Teil griinlich. Mit 
Marchifarbung farbt sich mindestens ein Teil derselben, ebenso wie in den 
Gefassseheiden, schwarz, und erhalt das Marchibild der Rinde dadurch ein 
eigenartiges Aussehen (Fig. 5). Es scheint, dass hier verschiedene Abbau- 
produkte vorliegen und dass, wie dies Alzheimer 9 ) in Fallen von Dementia 
praecox beschrieben hat, der Eiweisszerfall zum Teil bis zur Bildung ein- 
facher Fettkorper vorgeschritten ist, zum Teil auch nur bis zur Bildung 
protagonoider Korper gediehen ist. Die Kerne dieser Zellen zeigen mannig- 
fache Veranderungen. Zum Teil sind sie grosser, abgerundet, das Kemkorper- 
chen erscheint gequollen, auch verdoppelt. enthalt vielfach im Zentmm eine 
Vakuole; der Kernsaft ist vermehrt resp. das Chromatinnetz fleckweise wie 
aufgelost und verschwtmden. Man trifft nicht selten wandstandige Kerne, 
die fast ganz wasserhell, ohne Chromatinzeichnung sind und nur mehr das 
Kernkorperchen enthalten. Es scheint, dass diese Befunde mit der An- 
nahme Alzheimers von einer vermehrten serosen Durchtrankung der Zellen 
gut in Uebereinstimmung stehen. Andere Kerne sind gleichmassig triib, die 
Kemmembran ist gerunzelt, auch undeutlich und schlecht vom Protoplasma 
sich abhebend, die Form verandert, langlich und schmal; stellenweise 
scheinen sie mit dem Zelleibe zugrunde gegangen zu sein. Man sieht dann 
iiberhaupt nur mehr strukturlose Reste in einem Hohlraume liegen oder 
Zellschatten ohne Kern, welche keine deutliche Struktur erkennen lessen 
und eine unregelmassige, unscharfe Kontur besitzen. 

Neben dieser Form, bei welcher chromolytische Prozesse vom Zentrum 
gegen die Peripherie zu schreiten und die Veranderungen des Zelleibes 
durch eine anscheinende Ablosung desselben vom Kern eingeleitet werden, 
gibt es nun ebenso haufig solche, bei welchen die aussere Kontur der Zelle 
uneben, wie angenagt aussieht, und in den Buchten gewucherte Trabant- 
zellen eingelagert sind welche bei der friiheren Form haufig fehlen, zum 
mindesten nicht merklich vermehrt sind. Auch bei dieser Veranderung ist 
die meist verkleinerte Zelle auf einen Teil eines Hohlraumes zuriickgezogen, 
und von oft 8 und mehr Trabantzellen im grosseren Teile ihres Umfanges 


l ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats- 
schrift f. Psych. Bd. 3. 

*) 1. c. 

*) Studien liber Veranderungen im Thai. opt. etc. Monateschr. f. 
Psych. 26. 

4 ) Weitere Untersuchungen iiber die Veranderungen der Nervenzellen 

in verschiedenem Alter. Arch. f. makroskopische Anatomie. 1901. 

6 ) Zur path. Anatomie chron. Geistesstonmgen. Allg. Zeitschr. f. 

Psych. 57. Beitr. z. pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats- 
schr. f. Psych. 2. 

•) Ueber den Abbau des Nervengeweb^. Vers. d. deutschen Vereins 

f. Psych. 1906. 


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Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


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eingekreist, wahrend normalerweise die Trabantzellen vorwiegend an der 
Basis der Zeilen sich ansammeln [Alzheimer, Ramon y Cajal 1 )]. Die Kerne 
schmiegen sich vielfach eng den Einbuchtungen der Zellkontur an, 
scheinen dabei durch ihr Vorbauchen mitunter zu einer Verdrangung und 
nierenformigen Eindellung des Zellkemes Veranlassung zu geben. Manchmal 
scheint ein Trabantkem direkt innerhalb des Zelleibes, wie eingeschlossen 
vom Protoplasma, zu liegen. Auch bei diesen Formen sieht man die ver- 
schiedensten Uebergange zu schweren Zelldestruktionen, wobei nur mehr 
Protoplasma und mannigfach geformte Kernreste innerhalb eines Haufchens 
von Trabantkemen liegen. Nicht selten ist iiberhaupt nur mehr ein Haufchen 
von Pigment- und anderen Kornem ubrig geblieben oder sind alle Reste 
der Nervenzellen verschwlinden. Diese Zellveranderung findet sich am aus- 
gedehntesten und haufigsten in den tiefen Rindenlagen, in der Schicht 
der inneren Korner und polymorphen Zeilen, vereinzelter in den ausseren 
Lagen (Fig. 6). In letzteren ist haufiger die Form der zentralen Auflosung 
des Zelleibes; neben dennoch zu besprechenden Veranderungen ist ubrigens 
auch der Zellzerfall in den tiefen Schichten nicht immer von der Vermehrung 
der Gliazellen begleitet, sondern kommt auch unabhangig da von vor. 

Wenn auch schon normalerweise in den tieferen Rindenschichten die 
Trabantzellen etwas reichlicher sind als in denPyramidenlagen [( Alzheimer 2 )] 
so ist doch zweifellos, dass hier die Veranderungen ganz das Geprage des 
Prozesses an sich tragen, der als Neuronophagie bezeichnet wird. Hierfur 
spricht nicht allein die Massenhaftigkeit und die formlich zu einer peri- 
cellularen Infiltration [Sand*)] gediehene Lagerung der Trabantkerne, 
sondern auch die gleichzeitige schwere Zellveranderung selbst. Es ist derzeit 
noch nicht vollkommen sichergestellt, in welchem Verhaltnisse die Wucher- 
ung der Trabantzellen und die Ganglienzellenerkrankung zueinander stehen 
Alzheimer 1 ) neigt zur Annahme, dass die Gliaelemente in den durch Atrophie 
der Ganglienzellen freiwerdenden Rauin eintreten, wogegen aber zu 
sprechen scheint, dass mitunter die Kerne so gegen die Zello andrangen, 
dass selbst der Ganglienzellenkern eine Formveranderung erfalirt. I ebrigens 
lasst Alzheimer es of fen, ob bei Wucherung der Trabantzeile eine Ganglien- 
zelle notwendig immer krank sein muss. Laignel-Lavaetine und Voiein*) % 
auch Sand sehen in ihr eine sek undare Reaktion auf eine verminderte 
Vitalitat der Zelle, wobei freilich unverstandlich bleibt, dass so viele Zell- 
veranderungen nicht von dieser Wucherung begleitet sind. Im wesentlichen 
beruhren sich diese Anschauungen in ihrem Kerne mit den H'ei^ertechen 
Darlegungen vom biologischen Gleichgewichte der Gewebe, auf Grund 
welcher Ntssl^) hinweist, dass pathologische Einfliisse die nervosenElemente 
derart schadigen konnen, dass sie keine Wachstumshindernisse fiir die sie 
umgebenden Gliazellen mehr darstellen und diese zur Wucherung veranlasst 
werden. Bei einem derartigen Vorgange ware aber verstandlich, dass unter 
Umstanden die gewucherten Zeilen iiber die einfache Raumausfiillung 
hinaus die Nervenzelle selbst bedrangen. Auch mit dieser Annahme bleiben 
aber die speziellen Umstande, insbesondere welcher Art gerade die Schadi- 
gung der Nervenzellen sein muss, welche zur Storung des biologischen 
Gleichgewichts fiihrt, noch vollig unbekannt. 

In den Pyramidenschichten, vorwiegend in den Windungskuppen im 
Bereiche der zellverarmten Gebiete, kommen besonders reichhch auch Bilder 
schwerer chronischer Zellveranderung ziu* Beobachtung (Fig. 4). Bei relativ 
noch besser erhaltenerForm des Zelleibes liegt der ganz homogene, dunkel ge- 
farbteKem exzentrisch, istohne Struktur,geschrumpft, langhchbis stabchen- 
formig. Der Zelleib ist vergrossert, farbt sich gleichmassig mit Thionin blau, 

J ) Ueber die Beziehungen der Nervenzellen zu den Neurogliazellen etc. 
Monatsschr. f. Psych. 1. 

*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats- 
schrift f. Psych. 2. 

*) La neuronophagie. Bruxelles 1906. 

4 ) Referiert Jahresbericht f. Neur. u. Psych. 1906. 

6 ) Histologische und histopathologische Arbeiten. Bd. 1. 


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der Dementia praecox. 


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enthalt mitunter auch zusammengebackene dunklere Chrornatinmassen in 
der Peripherie oder er ist verkleinert, bildet nur mehr einen schmalen 
blassen Saum mit unregelmassig gezackter, fetziger Kontur um den 
Kern. Andere Zellen sind gleichmassig verkleinert, das Protoplasma zeigt 
wabige Stmktur mit blasser Farbung, erscheint oft eigentiimlich glasig, die 
Fortsatze sind auf weite Strecken sichtbar, gleichmassig dunkel, besonders 
der Spitzenfortsatz ist oft unterbrochen, geringelt, auch verbreitert und 
der Lange nach gespalten (Fig. 3). Im Grau zwischen den Zellen heben sich 
derartige Fortsatze, die von Zellen abgeschnitten sind, oft in grosserer 
Anzahl hervor. Vereinzelt kommen solche degenerierte Zellen auch in der 
Schicht der polymorphen Zellen vor, wo sie dann in enger Nachbarschaft 
mit Zellen liegen, deren Kerne schon gezeichnet und rund sind. In den 
ausseren Zellagen sind alle Pyramidenschichten davon durchsetzt. 

In anderen Zellen sind die Veranderungen weniger intensive; die Fort¬ 
satze sind aber ohne typische Chromatinanordnung, zum Teil ganz licht, 
verbreitert oder abgebrochen, die Kemmembran ist ofters verschwommen; 
im schmutzig blau gefarbten Keminhalte hebt sich noch das Kem- 
korperchen ab. 

Schliesslich kommen noch Zellen vor, die zu ganz amorphen, struktur- 
losen dunklen Kliimpchen zusammengeschrumpft sind, welche ihre ur- 
spriingliche Form ganz verloren haben und an deren Zelleib und Kern 
nicht mehr von einander zu differenzieren sind. 

Bemerkenswert ist, dass im Bereiche dieser chronischen Zell- 
degenerationen die Rinde armer an Gliazellen ist und auffallige Erscheinungen 
von Neuronophagie und Wucherung der Trabantzellen fehlen. An vielen 
Zellen mangeln uberhaupt anlagernde Gliakeme. 

Natiirlich gibt es an alien Rindenschnitten Uebergangsgebiete, in 
welchen die verschiedenen Formen der Zellveranderungen sich untereinander 
mischen. Das Hauptgebiet der schweren chronischen Zelldegenerationen 
mit ausgebreiteter Verminderung der Elemente und S tor ungen der Ein- 
stellung und Lagerung der Elemente sind aber iiberall die Pyramiden¬ 
schichten indenWindungskammen undgreiftderProzess von hier ingeringerer 
oder grosserer Ausdehnung auf die Seitenflachen des Gyrus liber. 

Das Rindengrau zwischen den Zellen zeigt im ganzen ein eigentiimlich 
getupfeltes, gekomtes Aussehen, das besonders auf den photographischen 
Reproduktionen auffallig ist. Im Bereiche der Zellausfalle hat das Gewebe 
einen mehr grobnetzformigen Bau, inwelchem helle, rundeMaschen hervor- 
treten. Man hat den Eindruck, dass das Gewebe von einer serosen Fliissigkeit 
durchtrankt ist, und ist dieser Befund wohl — in Uebereinstimmung mit 
einem Teile der Ganglienzellenveranderungen — Ausdruck eines Gehirn- 
odems. 

Qliagewebe. Die Gliazellen sind, wie schon erwahnt, in der Molekular- 
zone stellenweise, in der iibrigen Rinde besonders im Bereiche der inneren 
Komerschicht und der polymorphen Zellen vermehrt. In der Fissura 
calcarina ist die Wucherung am starksten in der Lage zwischen beiden 
Komerschichten. Die Gliavermehrung der Rinde ist also eine ungleich- 
massige. Stellenweise, z. B. in der linken vorderen Zentralwindung, sind 
die Gliazellen auch in den Pyramidenschichten in grosserer Zahl vorhanden. 

So wohl in der Rinde, als auch im Marke findet man auch reihenweises 
Aufmarschieren von Gliazellen, langs der Gefasse oder Haufchen um die- 
selben. Auch im Marke sieht man oft solche Reihen oder grossere Zellhaufen 
(Gliarasen). Die Mannigfaltigkeit der Zellformen ist eine grosse. Neben 
solchen mit kleinen, runden, dunklen Kernen kommen solche mit mittel- 
grossen und grosseren lichteren, runden oder eiformigen Kernen vor. Im 
Mark liegen auch vereinzelt Zellen mit deutlich abgegrenztem, blassblauem, 
langlich ovalem Zelleibe, grosserem Kern mit Kernkorperchen, die den 
von Nissl 1 ) beschriebenen entsprechen. Progressive Veranderungen in 
Form von Mitosen, mit der charakteristischen Zunahme der Chromatin- 


J ) Histologische und histopathologische Arbeiten. Bd. I. 


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Zingerle, Zur pathologischen Anatoinie 


mibetanz der Kerne bei Undeutlichwerden der Kemmembran sind selten. 
Haufig sind dagegen regressive Veranderungen sowohl in der Rinde, als im 
Marke; man sieht geschrumpfte, langliche oder eckige, ganz homogene, 
stark farbbare Kerne, die mitunter noch von einem etwas vergrosserten 
Protoplasmaleibe mit spinnenzellenartigen Auslaufem, als Zeichen friiherer 
Schwellung, umgeben sind. Auch unter den gewucherten Trabantzellen 
liegen inmitten unveranderter Kerne solche Degenerationsformen, die auch 
auf kleine Krumeln zusammengeschrumpft sind. Im Marke liegen dies© Kerne 
oft strichweise in grosserer Zahl zeretreut. Andere Kerne sind vergrossert, 
wie gequollen und zeigen infolge Abnahme der Chromatinsubstanz eine auf- 
fallend lichte Farbung. Einzelne sind nahezu ganz wasserhell, wie aus- 
gelaugt, und enthalten nur mehr vereinzelte Chromatinpiinktchen. Die 
Kemmembran zeigt dabei, ausser einer Verdunnung, keine Veranderung. 
Auffallig sind femer stark vergrosserte Gliakeme mit buckeliger, gelappter 
Form, mit zierlichem Chromatingeriiste. In viel reicherer Zahl kommen 
diese im C. striatum vor und werden daher bei den Befunden in den basalen 
Ganglien naher beriicksichtigt werden. Die Protoplasmatischen Auslaufer 
der Gliazellen sind im allgemeinen wenig sichtbar. Der Zelleib ist meist 
kaum sichtbar, bildet eine zumeist maschenartig angeordnete Substanz, und 
sind, wie dies normal haufig ist, die Maschenraume oft so gross, dass die Zelle 
innerhalb eines Hohlraumes zu liegen scheint. Spinnenzellen in grosserer 
Menge fehlen, kommen aber vereinzelt vor. Die von Alzheimer 1 ) beschriebene 
charakteristische Umklammerung der Ganglienzellen durch Spinnenzellen 
konnten wir nicht beobachten. Haufig sind im Zelleib der Gliaelemente 
Pigment- und Fettkomchen abgelagert, die sich in Haufchen dem Kerne 
wie eine Kappe anlagem oder zwischen den Maschen liegen. Die Komchen 
verhalten sich bei Farbungen so wie die im Bereiche der Nervenzellen. 
Solche Haufchen kommen auch freiliegend im Gewebe vor oder auch 
zwischen den gewucherten Trabantzellen. Stellenweise sind sie in einer 
Kreisform aneinandergelagert, so dass man den Eindruck gewinnt, als ob 
beim Zugrundegehen eines Kernes nur mehr die veranderte Chromatin¬ 
substanz zuriickgeblieben sei. 

Hinsichtlich der Gliafaserung lasst sich die Moglichkeit nicht aus- 
schliessen, dass die Weigerta che Methode nicht alle vorhandenen Fasem 
gefarbt hat. Sicher ist aber, dass die Fasern nicht in dem Masse vermehrt 
sind wie die zelligen Elements. Dort, wo die Molekularzone kemreicher 
und verbreitert ist, zeigt sich auch der Gliafasersaum verdickt, bildet einen 
dichten Filz, aus welchem meist feine Faserchen pallisadenartig gegen die 
oberflachlichen Rindenschichten absteigen. Wahrend normal die inneren 
Rindenschichten sehr faserarm sind [Weigert 2 ), NissI], sind hier die faserigen 
Elements entschieden, wenn auch nicht sehr stark und niemals wie etwa 
bei der Paralyse vermehrt, langs und querverlaufend, bald zart und 
netzartig verflochten, bald von dickerem Kaliber. Sicher warden solche 
Fasern auch von den Trabantzellen produziert. Sie laufen zwischen denselben 
und ihnen eng angeschmiegt und legen sich ofters, wie dies auch Alzheimer 1 ) 
gefunden hat, dem Leibe der Ganglienzellen an. Die Fasem bilden oft ganze 
Bogen und Schlingen um diese Zellen. An besonders schwer geschadigten 
Rindenstellen reicht die Faserwucherung uber die innere Komerschicht 
bis in die Pyramidenzellenschichten hinein. Bemerkenswerter Weise fehlt 
aber gerade im Bereiche der Zellausfalle eine auffallige Faservermehrung. 

Die Fasem, die sich in den Markleisten gefarbt haben, liegen nicht 
sehr dicht und erscheinen so angeordnet wie an Kontrollpraparaten. Auf¬ 
fallig sind nur stellenweise dicke, lange Fasem, die mit gewelltem Verlaufe 
ofters auf lange Strecken zu verfolgen sind. Man sieht sie auch bei den 
anderen Farbungen und konnte sie mit Achsenzylindem von Nervenfasem 

1 ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats- 
schrift f. Psych. 2. 

*) Kenntnis der normal, menschl. Neuroglia. 1895. 


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der Dementia praecox. 


301 


verwechseln, wenn nicht die prazise Gliafarbung diese Annahme aus- 
schliessen liesse. 

Hinsichtlich der Markfaserung ergab sich in der Rinde ein ziemlich 
gleiohmassiger Befund. An alien untersuchten Teilen besteht eine starke 
Reduktion der ausseren Hauptschicht (Kaes). Die innere Hauptschicht ist 
besser erhalten, obwohl auch in dieser stellenweise eine Faserverminderung 
auffallt, die aber niemals hohere Grade erreicht. Auffallig ist, dass in der 
Fig8iira calcarina die Verdoppelung des Baillargerschen Streifens fehlt. Die 
radiaren Markstrahlen zeigen keine nachweisbare Verkummerung. 

In der ausseren Hauptschicht sind nur mehr sparliche atrophische 
und mit varikosen Anschwellungen versehene Fasern der Tangentialschicht 
und des supraradiaren Flechtwerkes sichtbar. Streckenweise fehlen auch 
diese ganz und zeigt sich die aussere Hauptschicht ganz licht- und faserlos. 
Bei Marchifarbung fehlen durchaus Zeichen frischen Zerfalles, auch in den 
Markleisten. Schwarze Schollen wurden in der ganzen Rindendicke nirgends 
in entsprechender Menge und Anordnung gefunden, obwohl sich die Fett- 
komchen in den Zellen- und Gefassscheiden sehr prazis farbten. 

Die Anordnimg der Faserareale im weissen Marklager ist eine 
normale, und treten dabei irgendwelche abgrenzbaren Systemausfalle nicht 
zu Tage. Diese fehlen auch im Bereiche der basalen Ganglien, und sind 
auch im Hirnstamm keine sekundarenDegenerationen nachweisbar. Hier sei 
auch kurz erwahnt, dass die Ventrikel im allgemeinen nur ganz massig 
erweitert sind; die Wande sind glatt, das Ependym ist nicht verdickt, ohne 
Granulationen. 

Basalt Qanglien. Die Thai. opt. und Corp. striat. sind von normaler 
Form und Grosse. An den Gefassen kommen dieselben Veranderungen vor, 
wie im Himmantel; auch die Zellveranderungen sind, abgesehen von den 
nicht so ausgesprochenen Zellausfallen, im wesentlichen die Gleichen und 
kommen neben normal gezeichneten, aber viel Pigment fiihrenden Zellen die 
verschiedensten Formen des Zellunterganges vor. Man sieht Verminderung 
und mehr feinkornige Verteilung der Chromalinsubstanz, Bildimg von 
perinuklearen hellen Ringen, allmahlichen komigen Zerfall des Zelleibes 
bis auf wenige Rest©. Der Kern ist oft triib verschwommen, verzogen, 
vielfach ganz licht mit verfliissigtem Chromatingeriiste. Haufig ist die 
Kemmembran gerunzelt und liegen die Kerne exzentrisch. Wie in der 
Rinde sind auch hier haufig — wenn auch nicht durchgehends — die Trabant- 
zellen stark vermehrt und zeigen sich die ausgesprochenen Biider der 
Neuronophagie. Die grossen Zellen des N. caud. sind oft von einem Kranze 
von Trabantkemen umgeben. Auffallig ist die reichliche, mit Thionin gelb 
gefarbte Korachenmasse, die sich in alien Zellen findet und den Leib oft 
ganz ausfiillt, mit Thionin eine griinliche Farbung annimmt. Zerstreut 
linden sich atrophische und chronisch veranderte Formen mit homogenem 
Protoplasma und geschrumpftem Kerne, die sich durch ihre dunkle Farbung 
von den iibrigen Zellen stark abheben. Hie und da farbt sich der Zelloib 
mit Eosin glanzend rot. In anderen Zellen mit relativ besserer Protoplasma- 
struktur ist der Kern allein in eine derartige homogene Masse umgewandelt. 
Nebst dem kommen auch ganz amorphe Zellreste und Zellschatten vor. Es 
sei aber hervorgehoben, dass sich noch reichlich Zellen erhalten haben, 
die aus8er einer Verminderung der Chromatinsubstanz und Mangel an 
typischer Anordnimg derselben nichts Abnormes zeigen. 

Unter den nicht nervosen Zellen, die im ganzen vermehrt sind, fallt 
das stellenweise reichere Vorkommen von den Formen mit eigentiimlich 
gelappten Kemen auf, die schon in der Rinde erwahnt wurden. Dieselben 
nnden sich vorwiegend im Bereiche des Corp. striat.; die Kerne erreichen 
3—4 fache Grosse der mittelgrossen Gliakerne und haben die verschieden- 
artigste Form: keulen-, hahnenkamm-, Flachenkiirbis-, retortenformig; 
haufig sind sie auch langgestreckt, stabchenformig, aber auch ovale Formen 
kommen vor. Es ist auffallig, dass an einer Seite der Kern haufig mehr 
abgeflacht ist, wahrend auf der anderen Seite die Ausbuchtungen und Ein- 
schniirungen sich zeigen. Die Kerne liegen ausserdem haufig nicht plan, 
sondem mit ihren Polen aus der Horizontalebene herausgedreht. Bei hoher 


Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 


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302 Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 

Einstellung sieht man dann diese daher wie 2 Kerne nebeneinander liegen, 
bei tieferer kommt erst das verbindende Mittelstiick zur Ansicht. Auch die 
seitlichen Auswiichse fur sich zeigen oft derartige Niveaudifferenzen in der 
Vertikalebene. Die Kerne sind hell, besitzen ein bald mehr. bald weniger 
dichtes Chromatingeriist, dessen Knotenpunkte meist in der Peripherie am 
deutlichsten und grosser sind und der Kemmembran anliegen. Haufig sind 
1—2 Kemkorper ahnliche Piinktchen vorhanden. Der Zelleib dieser Kerne 
ist sehr undeutlich, oft nur in Spuren nachweisbar und bildet ein Maschen- 
werk von, sich sehr blass farbender komiger Substanz, ahnlich wie in den 
kleinen Gliazellen, so dass die Kerne meist in einem Hohlraum zu liegen 
scheinen. 

Derartige Formen kommen auch als Trabantzellen der Ganglienzellen 
vor imd zeigen auch regressive Veranderungen. Oefters ist der Kern vakuolen- 
haltig, stark abgeblasst oder erscheint im ganzen wie von einer triiben 
Fliissigkeit erfiillt. Auch Schrumpfungen sieht man, wobei die Kerne 
schmal und zugespitzt erscheinen. Es kann kein Zweifel sein, dass diese 
Zellen eigentiimlich veranderte Gliaelemente sind, und sieht man auch 
Uebergangsformen zu den mittelgross en, lichteren Gliazellen. 

An den iibrigen Gliaelementen kommen wie in der Rinde regressive 
imd hier etwas haufiger auch progressive Veranderungen vor, wobei die 
Kerne reichlich mit grosseren Chromatinkornem angefiillt sind, die auch 
Mitosenform zeigen. Eine Vermehrung der Gliafasersubstanz ist nicht 
nachweisbar. 

Kleinhim • Die Pia ist stellenweise verdickt und in der Furchentiefe 
verwachsen, in der grosseren Ausdehnung aber diinn und zart. Das Klein¬ 
him selbst ist ausserlich ohne Veranderung, zeigt auch auf dem Durch- 
schnitte normalen Bau. Die Gefasse sind wie im Geium teilweise mit Lympho- 
zyteninfiltraten und Komchenzellen besetzt. 

Die Komerschicht der Rinde ist von normaler Breite und Dichte. 
An ihrem Uebergange in die Molekularzone ist ein Streifen grosserer ovaler 
und runder Kerne eingeschoben, die lichter gefarbt sind als die Komer. 
In diesem Streifen liegt die Mehrzahl der Purkinjeschen Zellen. Beziiglich 
der Anordnung dieser ist auffalhg, dass sie auf weite Strecken ganz fehlen, 
dann wieder wie gehauft dicht aneinander gedrangt liegen. Sehr haufig 
findet man auch solche in die Komerschicht bis zur Markleiste hinab 
verlagert. 

Neben normalen Zellen kommen solche mit den verschiedensten Ver¬ 
anderungen vor. Man findet vermehrten Pigmentgehalt, staubartigen 
Zerfall des Chromatins, diffus schmutzig-blauliche Farbung des Zelleibes, 
exzentrische Kerne, Schrumpfung und zum Teil auch Schwellung des Zell- 
korpers. Die Fortsatze sind aber fast iiberall auffallig verbreitert und auf 
weite Strecken scharf abgesetzt und treten mit ihren bandartigen Ver- 
astelungen bei alien Farbungen ungemein deutlich hervor und geben der 
Molekularsubstanz ein gebandertes Aussehen. Die Fortsatze enthalten meist 
keine abgegrenzten Chromatinspindeln, sondem erscheinen mit Thionin 
diffus blaulich. Manche sklerotisch veranderten Zellen besitzen homogenen 
wandstandigen Kern von Stabchenform und diffus licht gefarbtes Proto¬ 
plasma ohne bestimmte Struktur. 

Zwischen und liber den Purkinjeschen Zellen kommen ausserdem 
in nicht scharf abgegrenzter Schichtung und oft weit in die Molekular- 
schicht verstreut stern-, spindel- und birnformige Zellen vor, die an Grosse 
auch die grossten Komer und Gliaelemente iibertreffen.einen runden, saftigen 
Kern mit Kemkorperchen und Kristalloid besitzen. Das Protoplasma ist von 
Chromatinkornern durchsetzt, die haufig sich an der Zellperipherie an- 
sammeln. Manche Zellen sind ganz rund; die Fortsatze der iibrigen sind 
ahnlich verandert, wie bei den Pur kin j eschen Zellen. Regressive Verande¬ 
rungen, wie Verflussigung des Zelleibes kommen vor. 

Das Markfasemetz der Rinde ist sowohl in der Komerschicht, als 
auch im Bereiche der Pur Arm; eschen Zellen deutlich gelichtet. Einzelne 
Markfaserchen steigen in die Molekularschicht auf, und findet man in 
dieser stellenweise auch tangential verlaufende Fasem. Die Gliakerne 


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der Dementia praecox. 


303 


in der Molekularzone bieten nichts beeonderes, sind nur im Bereiche der 
Verwachsungen mit der Pia vermehrt. 

Im Marke kommen vorwiegend mittelgrosse und grossere lichte Glia- 
kerne vor, deren Zelleib zum Teil vergrossert und mit spinnenformigen Proto- 
plasma- Auslaufern versehen ist. Auch Pigmenthaufchen wie im Gross- 
him sieht man haufig. Ein Teil der Kerne ist eckig, ganz homogen, auch 
Kemgruppen und Kemreihen langs der Gefasse kommen vor, ebenso wie 
mitotische Veranderungen. Die Gliafasem im Marke bilden ein feines, 
zartes Netz, ohne Zeichen von Verdichtung. Schwere Veranderungen 
bestehen im Nucl. dentatus. Die Zellen enthalten viel Komchenhaufen, 
die sich mit Thionin griinlich farben, sind zum Teil vergrossert und stark 
geschwellt; ihre Kontur ist unscharf, das Protoplasma ist wenig farbbar 
und haufig komig zerfallen und verfliissigt, der Kern exzentrisch, blase und 
das Kemkorperchen vergrossert. Dane ben liegen Zellen mit dunklem, 
homogenem Kern, der zackige Form, hat; manchmal sieht man nur mehr 
Komchenreste in einem Hohlraum liegen oder Zellschatten von ganz un- 
scharfer Umgrenzung und blasser Farbung ohne Kern. Die Gliakeme sind 
im Bereiche dieser Veranderung deutlich vermehrt. Nirgends aber besteht 
eine Wucherung der Trabantzellen um die nervdsen Elements, wie in der 
Rinde. Im Ruckenmark (oberes Halsmark) ist die Pia von schwarzlichen 
Pigmentkernhaufen und S treif en reichlich durchsetzt. Lyraphozyteninfiltrate, 
Komchenzellen in den Gefassscheiden kommen ebenfalls vor, besonders 
im Bereiche der Gefasse in der Tiefe des Sulc. anterior. Die Vorderhom- 
zellen sind vermindert, zum Teil sklerotisch, geschrumpft, die Gliazellen 
vermehrt. 

Epikrise. 

Mit seiner charakteristischen Symptomatik und dem typischen 
Verlaufe erweist sich der Fall zweifellos als der katatonen Form 
der Dementia praecox zugehorig. 

Die Anamnese gibt leider keine sicheren Anhaltspunkte fiber 
den Zeitpunkt des Beginnes der Erkrankung. Nach den Angaben 
des Patienten kam sie 1901, also im 31. Lebensjahre, zum Aus- 
bruche, jedenfalls nicht auf Basis der Gonorrhoe, da nervose 
Symptome schon vorher bestanden hatten. Wahrscheinlich hat 
aber diese Infektion im Sinne von Blevler und Jahrmdrker 1 ) auf 
die Gestaltung des Krankheitsbildes und Entwicklung einzelner 
Symptome, z. B. seiner Wahnvorstellungen, einen Einfluss ge- 
nommen. 

Unter Berficksichtigung der Haufigkeit erblicher Belastung 
und des Vorkommens psychopathischer Konstitution bei dieser 
Erkrankungsform ist die anscheinend schwere erbliche Belastung 
von Interesse, die in Verbindung mit der wahrscheinlichen In- 
toleranz gegen Alkohol, so wie den Asymmetrien im Oberflachen- 
bau beider Hemispharen auf eine aborigine geschwachte Gehim- 
konstitution schliessen lasst. 

Das Leiden begann unter dem Bilde einer schweren hypo- 
chondrischen Verstimmung mit Halluzinationen des Gemeingeftihls 
und Muskelsinnes, wozu sich bald Sinnestauschungen auf anderen 
Sinnesgebieten, nicht systematisierte Wahnvorstellungen, zer- 
fahrener Gedankengang, Personenverkennung mit Erinnerungs- 
falschungen gesellten. Die anfangliche, oft angstliche Depression 

*) Endzustande der Dem. praec. Allg. Z. f. Psych. 1908. 

21 * 


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304 


Z i n g e r 1 e , Zur pathologisch9n Aiiatomie 


ging bald in eine mifc den oft monstrosen Wahnvorstellungen 
auffallig kontrastierende Apathie iiber. 

Dieses erste Stadium dauerte etwa bis zum Jahre 1904 und 
entwickelte sich aus demselben allmahlich ein typischer Stupor 
mit Negativismus, Stereotypie, Befehlsautomatie, der von zeit- 
weisen katatonen Erregungen unterbrochen wurde, in seiner In- 
tensitat ausserdem Schwankungen zeigte, innerhalb welcher eine 
bessereRegsamkeit, mit einer gewissenKrankheitseinsicht gemengt. 
zu beobachten war. Der hypochondrische Grundzug blieb wahrend 
des ganzen Yerlaufes durch andauernde abnorme Organempfindun- 
gen und somatopsychische Wahnvorstellungen erhalten. 

Katatone Anfalle wurden nicht beobachtet, von korperlichen 
Symptomen der Katatonie war nur friihzeitiges fibrillares Zittern 
vorhanden. Pupillenerscheinungen fehlten. 

Nach verhaltnismassig kurzer Dauer (6 Jahre) kam es — vor 
allem wohl infolge korperlicher Erschopfung durch den ente- 
ritischen Prozess und durch Tuberkulose — zum Exitus. 

Fur die anatomische Untersuchung erschien der Fall durch 
das verhaltnismassig jugendliche Alter des Patienten, die nicht zu 
lange Dauer der Erkrankung bei schwerer Intensitat aller Er- 
scheinungen, sowie durch die geringe Schwere der tuberkulosen 
Veranderungen im Korper gunstig. 

Hinsichtlich der makroskopischen Gehirnveranderungen ergab 
sich, abgesehen von den erwahnten Anomalien der Oberflachen- 
Gliederung, ausser einer stellenweisen milchigen Triibung der Pia 
nichts Abnormes. Es bestand keine Atrophie der Windungen, 
keine bemerkenswerte Erweiterung der Ventrikel, das Ependym 
ist glatt und zart. 

Makroskopisch nachweisbare Veranderungen sind bei Kata¬ 
tonie — im Gegensatze zu den Befunden bei progr. Paralyse und 
Dementia senilis — iiberhaupt seltener und wenig ausgesprochen. 
Von wenigen Autoren wird Atrophie der Windungsziige [Klippd 
und Lhermitte 1 )), Verschmalerung von Mark und Rinde [Zimmer- 
mann 2 ), Obregia 8 )] beschrieben. Speziell franzosische Autoren er- 
wahnen auch Hemiatrophie oder lobare Atrophie des Kleinhimes. 
Etwas haufiger wird iiber Verdickungen der Haute ohne Infil¬ 
tration (. Klippd und Lhermitte), Pachymeningitis, Leptomeningitis, 
iiberhaupt iiber leichtere meningitische Veranderungen berichtet 
[Obregia 2 ), Schiitz 4 ), Lukacs 5 ), Marchand •)]. Schutz erwahnt auch 
das Vorkommen von Hydrocephalus ini. und extemus; in Goldsteins 

*) Un cas de d4mence pr6coce. L’Enc6phale. 1909, u. Ref. in Riche, 
Barb6, Wickersheimer. Arch, de Neurologic, 1907. 

*) Kasuistischer Beitrag zur Aetiologie u. pathologischen Anatomic d. 
Dem. praec. Mitteil. aus den Hamburger Krankenanstalten. 1908. 

*) Contribution k I’etude de l’anatomiepatholog. de la d^mence precoce. 
Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1906. 

*) I. c. 

®)> Beitrage zur pathologischen Anatomie d. Dem. praec. Ref. Mendel, 
Neur. Centralbl. 1908. 

*) Zit. nach Riche, Barbe u. Wickersheimer. 


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der Dementia praecox. 


305 


Falle bestand eine sulzige Verdickung der Pia und Piaodem, wie 
es auch Weber 1 ) beobachtete. 

In der Mehrzahl der Falle fehlen aber meningeale Veranderun- 
gen bis auf eine fleckweise Triibung; die Ventrikel sind nicht er- 
weiterfc, und findet man nicht nur keine Spur einer Atrophie und 
Schrumpfung der Rinde und des Markes, sondern ist im Gegenteile 
das Gehimgewicht — trotz vorgeschrittener Verblodung — mit- 
unter bis zu 200 g schwerer — ohne eigentliclies Oedem oder 
Hyperamie etc. [Reichardt 9 )]. Derselbe Autor hat gefunden, dass 
die Substanz dabei ungewohnlich trocken und konsistent sein kann. 

Die Beziehungen dieser makroskopischen Veranderungen zum 
Wesen des Krankheitsprozesses sind nicht ohne weiteres klar fest- 
zustellen und nicht immer dieselben. Zum Teile sind sie Reste 
fruhzeitig abgelaufener Erkrankungen, wie der Hydrocephalus und 
die Verwachsung des Foramen Magendi im Falle Potzel 3 ) oder die 
Piacyste im Falle Goldstein 4 ), und mogen Ausdruck dafiir sein, 
dass die Erkrankung auf einem vorbereiteten Boden zur Ent- 
wicklung gekommen ist. Zum Teile mogen Veranderungen wohl 
auch durch die begleitenden korperlichen Erkrankungen, wie z. B. 
die so haufige Tuberkulose, zustande kommen. Ob und wie die 
Himschwellung Reichardts mit dem eigentlichen Krankheits- 
prozesse selbst im Zusammenhange steht, ist noch vollig ungeklart. 

Erwahnt muss femer werden, dass von mehreren Autoren auf 
das Vorkommen von Entwicklungsstorungen im Gehim aufmerk- 
sam gemacht wurde, die sich durch Asymmetrien [Mondio*)] in kon- 
stante Anomalien [Klippel und Lhermitte 9 )] oder auch durch Ano- 
malien der histologischen Struktur, wie mangelhafte Ausbildung der 
inneren Komerschicht im Stimlappen [Zimmermann' 1 )], abnorme 
Gestaltung und Reihenanordnung der Ganglienzellen [Weber*)] 
kenntlich machen. Klippel und Lhermitte, Deny und Barbe 9 ) 
beschrieben auch Falle mit Syringomyelie im R. M. Diese kongeni- 
talen Deformitaten miissen wohl als Zeichen erblicher Belastung und 
angeborener minderwertiger Anlage aufgefasst werden. So neigt 
Weber zur Ansicht, dass insbesondere bei den so schwer und letal 
verlaufenden Psychosen des Jugendirreseins eine derartige minder- 
wertige Anlage (he Ursache einer so friihzeitigen totalenErschopfung 
der gesamten Leistungsfahigkeit des Gehirnes ist. Doulrebente und 
Marehand 10 ) nehmen neben einer Dementia praecox auf chronisch 
entziindlicher Basis eine solche konstitutioneller Natur an, welche 


’) Ueber akute todlich verlaufende Psychosen. Monatsschr. f. 
Psych. Bd. 16. 

*) Ueber die Himmaterie. Monatsschr. f. Psj^ch. 24. 
s ) Verein f. Psychiatrie in Wien. 1907. Neurol. Central!)!. 19U8. 

4 ) Zur pathologischen Anatoniie d. Dem. praec. Near. Centralbl. 1909. 
b ) Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1905. 

•) 1. c. 

•) 1. c. 

*) 1. c. 

*) L’Encephale. 1909. 

10 ) Zit. nach RicheQBarbe u. \Yickersheimer. 


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306 Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 

bei erblich Betasteten auftritt, deren schlecht entwickelte Ganglien- 
zellen einer psychischen Schadigung im Momente der Pubertat 
raach unterliegen. 

Es muss aber hervorgehoben warden, dass schwerere Storungen 
derEntwicklung, wie sie bei Idioten, Mikrocephalen etc. in Form von 
auflgedehnten Heterotopien, Mikrogyrien, Porencephalien etc. oft ge- 
f unden werden, in keinemFalle beschrieben wurden ,die Entwicklungs- 
stdrungen sich also innerhalb bescheidener Grenzen halten und 
bisher iiberhaupt nur in der geringeren Zahl der Falle vorkamen. 
Makroskopische Abnormitaten zeigten sich in unserem Falle in 
Anomalien der Oberflachengliederung und einer Asymmetrie der 
Grosshim- und Kleinhimhemispharen. Histologisch liegt im Gross- 
him moglicherweise eine verhinderte Reife von Ganglienzellen und 
Storung von Einstellung derselben vor. Auf eine solche muss wohl 
die oft ganz verkehrte Stellung von Ganglienzellen bezogen werden. 
Die iibrigen Verlagerungen von Zellen stehen aber wohl mit dem 
Erkrankungsprozesse selbst in Beziehung. Im Kleinhirn beschrieb 
Claude 1 ) eine auf kongenitalen Wachstumsstorungen beruhende 
Atrophie und Storung der Entwicklung der Purkinjeschen Zellen. 
In unserem Falle ist es von Interesse, dass Entwicklungsanomalien 
am Kleinhirn starker ausgepragt sind als am Grosshim und 
zwar gehort hierher die unregelmassige Anordnung und Lagerung 
der Purkinjeschen Zellen, die Verlagerung derselben in dieKomer- 
schichte und ihre zum Teil mangelhafte Ausbildung. Die zwischen 
und uber den Purkinjeschen Zellen gelegenen kleineren und viel- 
gestaltigen Ganglienzellen sind wohl nichts anderes als verlagerte 
und nicht ausgewachsene Purkinjesche-Zel\en, denen sie mit ihren ver- 
zweigten Fortsatzen oft auffallend ahneln. Wir konnten derartige 
Formen auch bei verschiedenen Entwicklungsstorungen beob- 
achten. Ebenso erwahnt Rondoni 2 ), dass er an Stelle der Pur kinje- 
schen Zellen kleinere Elemente verschiedener Form fand, die er 
fiir nicht ausgewachsene Ganglienzellen halt. 

Man muss sich aber wohl hiiten, diesen verhaltnismassig ge- 
ringgradigen Zeichen von Entwicklungsstorung eine zu grosse Be- 
deutung beizumessen. In solchem Umfange findet man sie auch 
bei Individuen, welche niemals geisteskrank waren. 

Histologische Veranderungen im Gehime wurden — mit ganz 
wenigen Ausnahmen [Dreyfuss 3 ), 1 Fall von Lukacs\ — in der schon 
grossen Zahl der untersuchten Gehirne mit Sicherheit nachge- 
wiesen, und stimmt der Befund in unserem Falle damit iiberein, 
dass eine Lokaliaation der Veranderungen auf bestimmte Ge- 
hirnleile nicht besteht. Sie sind uber die ganze Gehimrinde aus- 
gebreitet. wie es von Eisath 1 ), Goldstein, Sioli 6 ) u. A. gefunden 

I ) A propos de 1’atrophie cerebclleuae etc. L‘Enc£phale 1909. 

*) Beitrage zum Studium der Entwicklungskrankheiten des Gehirns. 
Arch. f. Psych. 1909. 

J ) Tod im katatonen Anfall. Centralbl. f. N. 1907. 

4 ) Ueber normale und pathologische Glia. Monatsschr. f. Psych. 20. 

5 ) Histologische Befunde bei Dem. praec. Allg. Zeitschr. f. Psych. 

1909. 


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der Dementia praecox. 


307 


wurde, und dariiber hinaus noch sind mitbetroffen die basalen Gang- 
lien, das Kleinhirn und selbst das obere Riickenmark. Es erscheint 
somit das ganze Zentralnervensystem erkrankt, was auch von 
Moryasu 1 ), Goldstein, Klippel und Lhermitte beobachtet wurde. In 
Uebereinstimmung mit den Angaben von Zalplachta 2 ) und Goldstein 
sind die Veranderungen in den vorderen Gehimteilen starker aus- 
gepragt und nehmen gegen den Hinterhauptslappen zu ab. 
Moryasu leugnet auch eine derartige topographische Abgrenzung 
nach der Intensitat der Veranderungen. Immerhin muss erwahnt 
werden, dass die Veranderungen nicht gerade am starksten im 
Stirnlappen sind und allmahlich gegen das Hinterhaupt zu ge- 
ringer werden. Ein derartiger kontinuierlicher Abfall besteht 
nicht und ist z. B. der obere Scheitellappen viel starker be- 
troffen, als es die Zentralwindungen sind. 

Auch innerhalb der einzelnen Windungen gibt es topo¬ 
graphische Verschiedenheiten; erstlich bestehen gewisse Unter- 
schiede hinsichtlich der Intensitat derart, dass die Kuppen viel 
schwerer verandert sind als die Rinde im Bereiche der Furchen- 
wandungen. Zweitens sind auch die einzelnen Rindenschichten 
selbst nicht ganz gleichartig erkrankt; die ausseren Lagen (Pyra- 
midenschichten) zeigen regelmassig Zellveranderungen, welche in 
den tiefen Schichten nur vereinzelt vorkommen. In diesen tritt 
dagegen eine starkere Wucherung der Gliaelemente hervor, auf 
welche zuerst Alzheimer *) aufmerksam gemacht hat. 

Fur die Auffassung des Krankheitsvorganges ist die Frage, 
welche Gewebe des Gehimes in den Prozess einbezogen sind, von 
grosser Bedeutung. Die bisherigen Untersuchungen haben dariiber 
nicht zu ubereinstimmenden Resultaten gefiihrt. 

Eine Reihe von Autoren, darunter besonders franzosische 
Forscher, wie Klippel und Lhermitte, Laignel und Lavastine*), 
fanden die Veranderungen auf das Nerven- und Gliagewebe be- 
schrankt, den Gefass- und Bindegewebsapparat intakt. Ladame s ), 
Zalplachta betrachten eventuell gefundene Gefassveranderungen 
als nebensachlich und interkurrenter Natur. Zweifellos sind auch in 
einzelnen Fallen, wie z. B. von Zimmermann •), Veranderungen an 
den Gefassen nachgewiesen worden, welche sicher erst sekundar 
auf Basis sender Involution und Arteriosklerose entstanden waren. 

In einer Anzahl von Beobachtungen wurden aber Befunde an 
den Meningen und den Gefassen erhoben, fur welche es nicht ohne 


*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Katatonie. Arch. f. 
Psych. 1909. 

*) Ref. Jahresbericht f. Neur. u. Psych. 1906. 

3 ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der ■Himrinde. Monatsschr. 
f. Psych. 2. Einiges zur pathologischen Anatomie chron. Geistesstorung. 
A]lg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 57. Nissls histologische u. histopathologische 
Arbeiten. Bd. 1. 

*) Zit. nach Riche, Barbe, Wickereheitner. 

5 ) L’ histologie pathologique des malad. mental. L’Enc£phale 1909. 

•) 1. c. 


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308 


Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


weiteres sicher steht, dass sie accidentell durch anderweitige Er- 
krankungsvorgange erzeugt sind. 

Die in unserem Falle vorhandene fleckige Pia-Infiltration und 
das stellenweise Verwachsen mit dem Rindensaume beschreiben 
auch Moryasu und Zimmermann und ist dies wohl fur alle 
Falle anzunehmen, in denen makroskopisch Lepto- und Pachy¬ 
meningitis gefunden wurde. Auch die Anhaufuung von Lympho- 
zyten in den zum Teile erweiterten perivaskularen Lymphraumen 
ist nicht so selten [Ladame, Moryasu, Lukacz, Vogt 1 )]. Die in un¬ 
serem Falle angedeutete Zellproliferation der Gefassadventitia be- 
stand auch im Falle von Obregia 2 ), wiederholt wurden auch ver- 
einzelte Stabchenzellen gefunden [Behr z )~\\ die stellenweise Wuche- 
rung der Endothel- und Adventitiakerne erwahnen Vogt und 
Moryasu. Ueber das Vorkommen von Plasmazellen in den 
perivaskularen Raumen berichtet Ladame. Moryasu rechnet 
seinen 9. Fall mit starker Gefassinfiltration und Anhaufung von 
Plasmazellen wohl mit Recht zur progressiven Paralyse. Wir sahen 
nur sparliche Plasmazellen in der infiltrierten Pia, niemals solche 
im Gehim selbst. 

Es ist bei diesen Befunden sicher, dass die Gefassveranderuhgen 
niemals hohere Grade erreichen und mit denen bei progr. Paralyse 
und sonstigen entziindlichen Gehimerkrankungen an Intensitat 
sich nicht messen konnen. 

Erwagt man die Inkonstanz dieser Veranderungen, sowie den 
Umstand, dass sie im Verhaltnisse zu den Befunden am Nerven- 
und Ghagewebe geringfiigig erscheinen, so drangt sich tatsachlich 
die Vermutung auf, dass sie sekundarer Natur sind. Dabei kommt 
noch in Betracht, dass in der Mehrzahl der Falle meist schwere 
Korpererkrankungen vorlagen — vor allem Tuberkulose —, 
welche zur Zirkulation toxischer Produkte Veranlassung geben. 

Dagegen ist der in unserem Falle so ausgesprochene Befund, 
dass Zerfalls- und Degenerationsprodukte in Form von teils freien, 
teils in Zellen eingeschlossenen Pigment- und Fettkornchen- 
haufchen, protagonoiden und lipoiden Substanzen in den Lymph- 
scheiden und Gefasswandungen abgelagert sind, ein auffallig 
haufiger und von einer Anzahl Autoren registriert wurden (Sioli, 
Goldstein, Moryasu, Vogt u. A.) Diese Ablagerungen sind wohl 
zweifellos Produkte eines Gewebsabbaues, die allmahlich in 
den Lymphscheiden der Gefasse aufgeschwemmt werden und 
von da in die Gefasswandungen eindnngen. Tatsachlich sieht 
man auch derartige Abbauprodukte sowohl frei im Gewebe, als 
auch in den Nerven- und Gliazellen in reichlichem Masse an- 
gesammelt. 

l ) Ueber das Vorkommen von Plasmazellen in der menschlichen 
Himrinde. Monatssohr. f. Psych. 1901. 

*) 1. c. 

3 ) Ueber die Bedeutvmg der Plasmazellen etc. Allg. Zeitschr. f. Psych. 

Bd. 66. 


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der Dementia praecox. 


309 


Die Haufigkeit dieser Veranderung lasst auf den Ablauf von 
degenerativen Prozessen im nervos-gliosen Gewebe schliessen, 
und tatsachlich wurden in fast alien Beobachtungen in diesem die 
Zeicben einer mehr minder schweren Erkrankung gefunden, die 
aber freilich auch in den schwersten Fallen nicht alle Zellen betraf. 
Von der Mehrzahl der Autoren wird das Vorkommen normaler 
neben degenerierten Zellen hervorgehoben. 

So schwere Storungen der Rindenarchitektur, wie sie bei der 
progressiven Paralyse vorkommen, fehlen im allgemeinen bei der 
Dementia praecox. Vielfach findet man dabei eine diffuse Ver- 
minderung der Nervenzellen [Maschtschenko 1 ), Ladame, Goldstein, 
Sioli, Moryasu, Zimmermanri]. Obregia fand kortikale Ge- 
biete, in denen nervose Elemente ganz fehlen. Zimmermann er- 
wahnt in einem Falle eine unregelmassige Grenzlinie zwischen der 
Molekularzone und der Schicht der kleinen Pyramidenzellen, wie 
wir sie in unserem Falle auf starkere Ausfalle in dieser Schicht 
zuriickfiihren konnten. In keinem Falle wurden aber so schwere, 
formlich herdartige Ausfalle von Nervenzellen beobachtet, wie in 
unserem, der dadurch eine gewisse Ausnahmestellung einnimmt 
und das Bild einer schweren Rindenerkrankung aufweist, bei der 
in diesen Herden der Mangel einer entsprechenden Gliawucherung 
und Schrumpfung auffallt. Auf das Zugrundegehen von Zellen 
ohne Schrumpfung der Rinde hat schon Nissl aufmerksam gemacht. 

Neben diesen Zellausfallen erfahrt die Architektur der Rinde 
eine weitere Storung durch die unregelmassige Einstellung vieler 
Zellen, deren Spitzenfortsatze schief, sogar quergestellt sind. Da 
diese Stellimgsanomalien am ausgepragtesten in der Nachbarschaft 
solcher Stellen sind, in welchen Zellen zum Schwunde gekommen 
sind, und iiberhaupt mehr auf die Pyramidenschichten beschrankt 
sind, in welchen sich die schwersten Zellveranderungen finden, 
miissen sie wohl mit Erkrankungsvorgangen in Beziehung gebracht 
werden. Dass durch solche die Einstellung der Zellen stark ver- 
andert werden kann, wissen wir ja durch anderweitige Er- 
fahrungen. 

Ueber derartige Storungen bei Katatonien ist bisher ver- 
haltnismassig wenig berichtet worden. Klippel und Lhermitte 
fanden sie in den Pyramidenschichten eines Falles; Cramer*) er- 
wahnt eine teilweise Verlagerung von Zellen und mangelhafte Aus- 
richtung derselben. Vonlnteresse ist, dass Alzheimer 3 ) in einemFalle 
von Delir. acutum eine Schiefstellung nicht weniger Ganglien- 
zellen beschreibt, woraus hervorgeht, dass eine solche ohne be- 
merkenswerte pathologische Gliafaserbildung und bei einem relativ 
kurz dauernden Prozesse sich entwickeln kann. Auch Thoma*) 

x ) Ueber pathologische Veranderungen in der Grosshimrinde bei 
Dem. secund. Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1899. 

*) Zit. nach Moryasu. 

J ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Hirnrinde etc. Monats- 
schrift f. Psych. Bd. 2. 

4 ) Beitrag z. Klinik u. Pathologie akut letal verlaufender^ Falle. 
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1909. 


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310 Zingerle, Zur pathologischen Anatomic 

sah in Fallen von Delir. acutum die Stellung der Ganglienzellen 
in Unordnung geraten und Verlagerung derselben. 

Die an den erhaltenen Ganglienzellen nachweisbaren Ver¬ 
anderungen sind recht mannigfaltige, und kann man in der Rinde 
die verschiedensten Uebergange von wenig veranderten Zellen 
bis zur vollstandigen Nekrose beobachten. Trotzdem sind gewisse 
Veranderungen vorherrschender, und lassen sich ca. 3 Haupt- 
formen derselben unterscheiden, die nebst dem auch lokalisatorisch 
gewisse Unterscheide zeigen und sich nicht gleichmassig auf alle 
Schichten verteilen. 

In erster Linie bestehen markante chronische Zellverande- 
rungen, die unter dem Bilde der chronischen Atrophie und sklero- 
tischen Degeneration verlaufen, wie sie auch von fast alien Autoren 
beschrieben worden sind, und an sich nichts Charakteristisches 
darbieten. Kurz erwahnt sei nur das eigenthmliche glasige Aus- 
sehen, welches das Protoplasma mancher Zellen dabei annimmt 
und welches schon anderen Autoren ( Schulz , Klippel und Lhermitte) 
aufgefallen ist. Die Zellveranderung ist stellenweise bis zur 
Bildung ganz strukturloser Kliimpchen vorgeschritten. Im all- 
gemeinen ist aber bei diesen Formen trotz der Verlagerung der 
Kerne und der oft schweren Umbildung des Protoplasmas, die 
aussere Zellform relativ gut erhalten, eine Beobachtung, die von 
verschiedenen Autoren ( Moryasu , Schulz u. A.) hervorgehoben 
wurde. Ebenso trifft dies fur die leichteren Veranderungen mit 
beginnendem Zerfall der chromatophilen Substanz zu. 

Dagegen ist auch die aussere Gestalt der Zelle schon starker 
in Mitleidenschaft gezogen bei jener zweiten Form der haufigeren 
Zell veranderungen, wobei das Protoplasma durch Fliissigkeits- 
ansammlung vom Kerne abgehoben erscheint und die wir mit 
Alzheimer auf eine starke serose Durchtrankung infolge Gehirn- 
odems zuriickfiihrten, womit auch der eigentiimlich maschige Bau 
des Gehirngrau in Uebereinstimmung steht. Die Zellen erscheinen, 
so lange nur die perinuklearen Ringe gebildet sind, geblaht, die 
Fortsatze undeutlich und zeigt sich eine Tendenz zur Abrundung 
der Zellen. Mit Zunahme der Fliissigkeit geht die Form der Zelle 
ganz verloren und bleiben schliesslich nur mehr Protoplasmareste 
mit dem mehr weniger destruierten Kerne iibrig. 

Diese Form der Veranderung ist in den Literaturfallen nicht 
besonders erwahnt, ausgenommen bei Ladame, der eine Anzahl der 
Zellen als hydropisch bezeichnet. Zimmermann, Schulz , Moryasu 
beschreiben wohl das Vorkommen von Vakuolen im Zelleibe, 
andere Autoren berichten von allmahlicher Unkenntlichmachung 
und Verschwinden der Zellen (Zalplachta) oder von zentraler 
Chromatolyse (Moryasu), die auch wir nicht selten sahen. 

Die meisten Autoren, welche neben den chronischen Zell- 
veranderungen noch andere fanden, beschreiben dieselben als 
akute Zellerkrankung in Form von homogener Schwellung mit 
Chromatolyse, Vergrosserung und Aufhellung des Kernes, die in 


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der Dementia praecox. 


311 


unserem Falle in der Rinde wohl ebenfalls vorkommt, offcers 
jedoch in den basalen Ganglien und in den cerebellaren Kernen 
zu finden ist. 

Auff allend haufig wurde jedoch die dritteForm der Zell verande- 
rungen beobachtet, die voneiner Wucherungder Trabantkeme be- 
gleitet ist und gewohnlich als Neuronophagie bezeichnet wird. Hierbei 
ist die aussere Gestalt der Zelle meist ebenfalls stark verandert, die 
Oberflache erscheint uneben, wie angenagt, und auch bei dieserForm 
kommt es haufig zu einem Zerfall und Schwund des Protoplasmas, 
schliesslich auch des Kernes. 

Starker als liber die Art der Zellveranderungen schwanken 
in den bisherigen Berichten die Angaben fiber die Lokalisation der 
selben. In einer Reihe von Beobachtungen wurden alle Schichten 
der Rinde betroffen gefunden (Ladame, Sioli, Zimmermann, Gold¬ 
stein, Vogt, Klippel und Lhermitte). Zalplachta und Alzheimer fanden 
besonders die tiefen Schichten verandert, Laignel und Lavastine 
mehr die kleinen und grossen Pyramidenzellen, Maschtschenko 
vorwiegend die kleinen Pyramidenzellen. Nach Moryasu sind die 
Pyramidenzellen starker betroffen als die Elemente der poly- 
morphen Schicht. 

In unserem Falle liegen die Verhaltnisse nicht so einfach. Die 
Rinde ist fast liberal 1 in ihrer ganzen Dicke erkrankt, die einzelnen 
Veranderungen sind jedoch schichtweise verteilt. In den Pyra- 
midenlagen finden sich hauptsachlich diedegenerativ-atrophischen, 
sowie die hydropischen Formen. 

In der inneren Komerschicht und Schicht der polymorphen 
Zellen dagegen lokalisiert sich vorwiegend die mit Wucherung der 
Trabantkeme einhergehende Veranderung. 

Wenn auch der Begriff der akuten und ohronisohen Zell- 
veranderung im allgemeinen nichts dartiber aussagt, in welchem 
Zeitraum sich eine solche entwickelt hat (Nissl), so lasst sich in 
unserem Falle, besonders auch in Hinsicht auf die starken Zellausfalle, 
ersehen, dass schwerere und altere Zellerkrankungen mehr die 
ausseren Schichten betreffen. Die Neuronophagie stellt sich nach 
Schroder 1 ) als Resultat eines kurzdauemden Prozesses dar und kann 
also auch jfingeren Datums sein. Auch Weber 2 ) halt die Neupro- 
duktion von Gliazellen um die Nervenzellen, ebenso wie am ausseren 
Rande der perivaskularen Raume ffir Aeusserung eines akuten 
Vorganges, welche bei jeder schweren Schadigung des Gehimes 
(Zirkulationsstorungen, Intoxikationen) vorkommt. 

Entsprechend dieser vorwiegenden Verteilung alterer chro- 
nischer Veranderungen auf die ausseren Schichten der Rinde, zeigen 
sich auch weitgehende Defekte in den Assoziationsstraten der- 
selben, die auf einen alten Erkrankungsprozess schliessen lassen. 
Auffallig ist aber, dass diese Faserdegeneration in ihrer Starke 

1 ) Anatomische Befunde bei einigen Fallen von akuten Psychosen. 
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1909. 

*) 1. c. 


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Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 


mit der der Zellveranderungen nicht ganz parallel geht. Sie ist 
viel hochgradiger, als man erwarten sollte, und ist die Tangential- 
fasernschicht, so wie das supraradiare Geflecht bis auf wenige 
Reste ganz geschwunden. Die tieferen Assoziationsgeflechte der 
Rinde samt den Radiarstrahlen sind nur in verhaltnismassig 
geringem Grade gelichtet. Einen Zerfall von Markfasem, besondere 
im supraradiaren Flechtwerke, beobachteten auch Goldstein und 
Weber. M or yam, Maschtschenko und Cramer beschreiben einen all- 
gemeinen Schwund der Markfasem. Unter den Fallen von Zimmer- 
mann fand sich nur einer mit Lichtung der Rindenfasem. Im 
ganzen sind im Verhaltnis zur Zahl der Beobachtungen die An- 
gaben uber Veranderungen der Markfasem auffallig sparlich. Am 
Nervenparenchym finden wir somit eine Mischung von chronischen 
und akuten Veranderungen und unter letzteren speziell solche, 
welche durch ein Himodem entstanden sind, ohne dass klinisch 
einer der plotzlichen Todesfalle beobachtet wurde, auf welche 
Goldstein geneigt ist, die akuten Veranderungen zu beziehen. 

Eine starke Beteiligung des Gliagewebes an dem Erkrankungs- 
prozesse wird von den meisten Beobachtem angegeben, und bietet 
dasselbe auch in unserem Falle die Zeichen von Wucherang und 
Degeneration, und zwar starker an den zelligen Elementen, 
sparlicher an der Faserung. Ein Teil der Zellen, besonders in der 
weissen Substanz, ist ohne Veranderung geblieben. 

DieWucherungserscheinungen finden sich in Uebereinstimmung 
mit Alzheimer, Cramer, Sioli, Weber u. A. am starksten in den 
tiefen Rindenschichten; stellenweise, abermehr fleckweise, kommt 
auch eine Verdichtung der Randglia mit Kemwucherung 
an der Rindenoberflache vor, wie sie auch von Doutrebente und 
Marchand 1 ), von Elmiger 2 ), Weber, Sioli u. A. erwahnt wird. Sie 
steht dabei mit den vorhandenen meningealen Verdickungen in 
deutlichem Zusammenhange. An einzelnen Rindenteilen ist auch 
eine massige Kernvermehrung in den ausseren Rindenschichten 
sichtbar, zum Teil in Form frei oder um Gefasse liegender Haufchen, 
oder als Wucherung von Trabantkemen um die Pyramidenzellen. 
Niemals erreicht sie aber so starke Grade wie in den tiefen Rinden- 
lagen. Nicht in alien Literaturfallen scheint eine solche schichtweise 
starkere Gliawucherung vorhanden gewesen zu sein. Nicht selten 
wird die Gliaverdichtung und Kemvermehmng als diffus iiber die 
ganze Rindendicke verbreitet angegeben (Klippel und Lhermitte , 
Ladame, Maschtschenko, Moryasu, Goldstein). Wahrend Alzheimer 
und Sioli die pathologische Gliafaserbildung sich auch auf die 
Markleiste erstrecken sahen, wird in vielen Fallen das im Verhalt- 
nisse zur Rinde geringe Betroffensein der Gliafasersubstanz in 
der weissen Substanz hervorgehoben. Haufiger ist dagegen die 
auch in unserem Falle deutliche Verdichtung von Gliazellen 
teils um die Gefasse, teils in Form von freien Haufen inmitten der 
weissen Substanz. 

1 ) Zit. nacli Riche, Barbe und Wickersheimer. 

*) Zit. nach Eisath. 


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der Dementia praecox. 


313 


An den Zellen sind stets mannigfaltige Degenerations- und 
Proliferationsvorgange nachzuweisen. Letztere aussem sich durch 
Vergrosserung der Zelleiber, charakteristische Anordnung und 
dunklere Farbung der Chromatinsubstanz im Kerne, sowie durch 
die erwahnte pathologische Faserbildung. Typische Spinnenzellen, 
die in unserem Falle nur vereinzelt vorkommen, wurden in anderen 
Fallen (Weber, Alzheimer, Vogt) reichlicher gefunden. Alzheimer 1 ) 
erwahnt, dass dieselben in den tiefen Rindenschichten so zahlreich 
sein konnen, wie bei der Paralys. progr. 

Eine Vermehrung der protoplasmatischen Fortsatze fand 
Eisath bei den chronischen Formen der Dementia praecox. 

Die Degenerationserscheinungen stellen sich an den Zellen 
in den verschiedensten Formen dar. 

Wie Klippel, und Lhermitte, Eisath u. A. beschreiben, sind die 
Zellumrisse vielfach nicht mehr feststellbar. Die Kerne sind zum 
Teil stark farbbar (Klippel), zum Teil eckig, kriimmelig und ge- 
schrumpft, ganz homogen. Haufig sind auch Pigmentablagerungen, 
die als Haufchen dem Kerne anliegen. An den regressiven Ver- 
anderungen beteiligen sich auch die Trabantkerne, unter welchen 
auch Eisath zwergartige Formen fand. Vielfach sind die Kerne 
vergrossert, wie gequollen, und armer an farbbarer Substanz. 
An solchen Formen ist auch die Membran verdiinnt und manchmal 
gerunzelt. Einzelne Kerne sind ganz abgeblasst und scheinen in 
Verfliissigung begriffen. In der Literatur sind noch erwahnt ganz 
homogene Gliazellen (Eisath), sowie langgestreckte recht grosse 
Gliakerne, umgeben von einem hellen, zackigen Zelleibe (Vogt, 
Fall 7). Dies fiihrt uns auf die Besprechung jener eigentiimlich 
veranderten grossen GUazellen, die wir vereinzelt in der Rinde, 
in grosserer Zahl in der Substanz der Stammganglien fanden. 
Sie sind weniger durch die Form des Zelleibes, der stellenweise 
einfach vergrossert ist, stellenweise mit seinen Umrissen ganz 
undeutlich ist, als durch die mannigfaltige lappige Gestaltung 
des Kernes auffallig, und fand ich sie bisher in keinem Falle er¬ 
wahnt. 

Es haben wohl, abgesehen von Vogt, andere Autoren grosse 
Zellformen beobachtet, ohne aber dieser auffalligen Veranderung 
an den Kemen Erwahnung zu tun. So fand Zimmermann in zwei 
seiner Falle eine „enorme“ Aufquellung der Kerne. Alzheimer 
sah unter den Trabantkemen sehr grosse, blasse Kerne. Eisath 
beschreibt bei den akuten Formen neben kleinen Gliakemen grosse, 
helle, stark geschwellte Kerne, die das 4—5 fache der normalen 
Grosse erreichten. Bei den chronischen Formen der Dementia 
praecox vermisste er dieselben. 

Bei der von uns beobachteten Form sieht man allmahliche 
Uebergange von grosseren, blassen, mehr ovalen Kemformen und 
fragt es sich, wodurch diese auffallige, lappige Umgestaltung der 

l ) Einiges zur pathologischen Anatomic chronischer Geistesstorungen. 
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 57. 


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Z i n g e r 1 e , Zur pathologischen Anatomie 


Kerne zustande gekommen ist. Wir konnen uns hierbei wohl auf die 
Anschauungen Albrechts 1 ) beziehen, welcher auf Grand der An- 
nahme eines flussigen Zustandes des Zelikernes derartige Ver- 
anderangen auf eine Verminderung der Oberflachenspannung 
zuriickfuhrt. ,,Es konnen dabei flache, lappige Yorwolbungen 
entstehen, oder als anderes Extrem, es konnen ganz umschriebene, 
trommelschlagelartige Vorwiichse dadurch entstehen, dass an 
einem Punkte plotzlich eine starke Verringerung der oberflachlichen 
Spannung erzeugt wird, wodurch an der betreffenden Stelle ein 
plotzliches Hervorpressen von Inhalt in den Zelleib erfolgen muss. 
Die Form des Vorwuchses wird sich modifizieren je nacb den 
Widerstanden, die derselbe im Zelleibe findet.“ Er erwahnt auch, 
dass derartige Knospen durch Verdiinnung des Stieles vollkommen 
frei werden konnen und nun als freie Kerne in der Zelle liegen. 
Er sah derartige Sprossbildung an den verschiedenartigen Gewebs- 
zellen, besonders an den Gefassendothelien. 

Wir haben diese Schilderung hier wiedergegeben, um zu 
zeigen, wie sehr sie mit den Befunden an den hier gefundenen Zellen 
ubereinstimmt. Auch bei diesen hat man vielfach den Eindruck, 
dass ein zweiter kleinerer Kern in der Zelle liegt, der aber noch 
ofters deutlich durch einen diinnen Stiel mit dem Mutterkeme 
zusammenhangt. 

Gibt nun die Albrechts che Anschauung eine Erklarung fiir die 
Genese dieser eigentiimlichen Zellform, so bleibt freilich noch 
ganz offen, worauf diese umschriebene Verminderung der Ober¬ 
flachenspannung des Kernes in unserem Falle zuriickzufuhren ist; 
jedenfalls miissen im Zelleibe Veranderungen vor sich gegangen 
sein, welche zu einer eingreifenden Storung des normalen endo- 
cellularen Spannungsverhatlnisses gefiihrt haben; vielleicht spielen 
hierbei physikalische Aenderangen der Himmaterie eine grossere 
Rolle als rein chemische. Wenn wir an der Albrechts chen Er¬ 
klarung festhalten, kann die Veranderung nur in einer Zeit ent- 
standen sein, in welcher die Kemsubstanz noch fliissig war, also 
postmortale Gerinnungen noch fehlten. Die Annahme eines 
Kunstproduktes kann daher wohl ausgeschlossen werden. Das 
Verhaltnis der Gliafasern zu den Zellen stellt sich zum Teil in der 
Art dar, wie es Eisath beschrieben hat, der die kurzen Fasern bei 
den Trabantzellen derart an die Kerne gelagert fand, dass eine 
sichelformige Figur entstand. So wie Eisath sahen wir auch von 
den Begleitzellen ausgehende Faserfortsatze sich der Oberflache 
der Nervenzellen anschmiegen, dieselben in Bogen umkreisen. 
Auch Alzheimer erwahnt, dass man von Trabantzellen produzierte 
Gliafasern oft dem Leibe der Ganglienzellen sich anlegen sieht. 
Die von ilim beschriebene charakteristische Anordnung der Art, 
dass die starksten Fasern die Zelle klammerartig umschliessen, 
die diinneren Fasern auf der der Zelle abgelegenen Seite liegen, 

■) Pathologic der Zelle in Lubarsch und Osteriag, Ergebnisse d. path. 
Anatomie. 1902. 


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der Dementia praecox. 


315 


fehlt in unserem Falle. Starkere Gliamantel um die Markgefasse, 
wie sie von einzelnen Autoren ( Vogt, Ladame u. A.) gefunden wurden, 
kommen in unserem Falle nur ganz vereinzelt zur Ansicht. 

Die Befunde in den Stammganglien, im Hirnstamm und 
im Halsmarke decken sich im wesentlichen mit denen in der Gehim- 
rinde, und finden sich, wie auch von Goldstein, Moryasu, 
Klippel und Lhermitte beobachtet wurde, dieselben Veranderungen 
an den Gefassen, Nervenzellen und am Gliagewebe. Es bestehen 
nur gewisse Unterschiede darin, dass je nach dem Orte gewisse 
Veranderungen starker hervortreten. So sind im Riickenmark 
sklerotisch veranderte Zellen haufiger als in den Stammganglien, 
in welchen die Bilder der Neuronophagie und Formen mit peri- 
nuklearen hellen Ringen iiberwiegen. Ebenso fehlen im Riicken- 
marke die erwahnten gelappten Gliakeme, die besonders im 
Nucl. caudat. reichlich sind. Die Gliafaserung zeigt nirgends eine 
nachweisbare Vermehnmg. An den nervosen, als auch an den 
Gliazellen ist durchgehends der reiche Gehalt an Pigment- und 
Fettkomem auffallig, ebenso wie auch die Pia des Riickenmarks 
von Pigmentansammlungen in grosseren Haufchen formlich in- 
filtriert ist. Leider konnten wir nur einen kleinen Teil des Hals- 
markes untersuchen und konnen daher nichts iiber die Clarke - 
schen Saulen angeben, die Moryasu stets erkrankt fand. 

Nach Moryasu sind bei langer Dauer der Erkrankung auch die 
Markfasern des Riickenmarks vermindert, desgleichen beschreiben 
Klippel und Lhermitte eine Lasion der Gollschen Strange mit Ent- 
artung der hinteren Wurzeln. Wir haben iiber derartige Verande¬ 
rungen, deren Beurteilung bei dem Vorkommen von Him- 
schwellungen und Steigerung des Hirndruckes im Verlaufe dieses 
Leidens grosste Vorsicht erfordert, keine Erfabrung. 

Eine gesonderte Besprechung verdienen die Befunde im 
Kleinhime, da sowohl Kleist die katatonen Bewegungserscheinungen 
in Beziehung zu einer Lasion kortiko-cerebellarer Bahnen bringt, 
als auch eine Reihe franzosischer Autoren [Babinski 1 * ), Du four*), 
Claude 3 )] unter den motorischen Symptomen solche zu finden 
glaubten, welche auf einer Funktionsstorung des Kleinhimes be- 
ruhen, und welche in manchen Fallen so ausgepragt sind, dass 
die Aufstellung einer besonderen cerebellaren Form der Katatonie 
berechtigt sei. Als pathologisch-anatomischer Befund wurde bei 
dieser Form eine Atrophie des Kleinhims gefunden ( Klippel und 
Lhermitte), die entweder ausschliesslich eine Hemisphere und 
ganze Lappen betrifft (Hemiatrophie cerebelleuse), oder sich nur 
auf die Lamellen ohne Mitbeteiligung der grauen Kerne beschrankt 
(globale Atrophie). Bei der ersten Form sind die Purkinjeschen 
Zellen vermindert, in ihrerForm aber erhalten, bei der zweitenForm 
zeigen sie nebst dem Veranderungen der Struktur, Verminderung der 


1 ) Zit. nach Dufour. 

*) D6mence precocc etc. L’Enc6phale 1909. 

3 ) A propos de l’atrophie c4r6bell. etc. L’Encephale 1909. 


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31 () Zingerle, Zur pathologischen Anatomie 

chromatophilenSubstanz und exentrische Lage der Kerne. Ebenso 
sind die Elemente der Komerschichten vermindert. Die Glia ist 
nicht beteiligt. Die Hemiatrophie ist nach Klippel und Lhermitte 1 ) 
keine Folge sekundarer Veranderungen und geht der Entwicklung 
der psyehisehen Symptome voraus. Die Oberflaehenatrophie ist 
sekundarer Natur, manchmal auch Folge der Tuberkulose. Claude 
unterscheidet ebenfalls zwei Arten von Lasionen, eine Atrophie, 
charakterisiert durch eine Verminderung des Volumens der 
Lamellen rait Verschmalerung der Molekular- und Korner- 
schicht, infolge einer kongenitalen Entwicklungshemmung, so- 
wie 2. Veranderungen der Purkinje schen Zellen, infolge Einwirkung 
einer toxi-infektiosen Schadlichkeit, welche auch die Rinden- 
affektion hervorgerufen hat. 

Ausfalle und Erkrankung der Zellen beobachtete auch Goldstein , 
Moryasu sah an den Purkinj eschen Zellen die Fortsatze stellen- 
weise fehlend und Vakuolen im Zelleibe. 

Dass auch in unserem Falle Zeichen einer Entwicklungs- 
hemmung im Kleinhirn deutlich vorhanden waren, wurde schon oben 
erwahnt. Eine Atrophie einer Kleinhim-Hemisphare war angedeutet. 
Nirgends aber bestand eine starkere Atrophie der Molekular- oder 
Kornerschicht, wie sie Claude beschreibt. Immerhin kann das 
Kleinhirn als Sitz einer kongenitalen Wachstumsstorung bezeichnet 
werden, die also sicher schon vor Entwicklung der Erkrankung 
bestanden hatte. Daneben aber bestanden noch Veranderungen 
an den Purkinje schen Zellen, die sich mit den von Goldstein , 
Moryasu . Klippel und Lhermitte gefundenen decken und wohl 
erst im Verlaufe des Leidens entstanden sind. Bemerkenswert ist 
dabei die Verminderung des Markfasernetzes der Rinde. Von be- 
sonderem Interesse ist nebstdem die schwere Veranderung in dem 
N. dentat., in welchem neben der Ganglienzellerkrankung auch 
eine ausgesprochene Gliawucherung vorhanden ist, die im Bereiche 
der Lage der Purkinje schen Zellen nicht nachweisbar ist. Wohl 
aber sind auch die Gliakerne an den Stellen deutlich vermehrt, 
an welchen Verwachsungen der Pia mit der Rindenoberflache 
vorhanden sind. Wir konstatieren somit, in Uebereinstimmung 
mit den genannten Autoren, dass die im Kleinhirn vorhandenen 
Veranderungen der zweiten Art im wesentlichen mit denen im Gross- 
him identisch sind. In unserem Falle scheinen dieselben ausge- 
dehntere zu sein als in den bisherigen Beobachtungen. Ob es 
Falle gibt, in welchen sich das Verhaltnis derart gestaltet, dass das 
Kleinhirn starker betroffen ist als das Grosshirn, also ein be- 
sonders ausgesprochener Typus der cerebellaren Form entsteht, 
ist derzeit unbekannt. 

Der pathologisch-anatomische Prozess ist in unserem Falle 
in Uebereinstimmung mit einer grosseren Zahl von Literatur- 
beobachtungen somit 1. ein ausgedehnter, im ganzen Zentralnerven- 
system verbreiteter, 2. aussert er sich durch eine schwere Affektion 


*) De l’atrophie du cervelefc dans la d6m. pr£c. L’Enc^phale 1909. 


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tier Dementia praecox. 


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der Nervenzellen und Fasern der grauen Substanz, unter Mitbeteiligung 
des Gliagewebes, der aber nur zumTeil den Charakter einer Reaktion 
auf die nervose Destruktion zukommt; denn ausgebreitet sind 
degenerative Veranderungen der Glia vorhanden, und ausserdem ist 
die Gliawucherung selbat zum Teil eine selbstandige, besonders in 
der Umgebung der kleinen, noch mehr aber der grosseren Gefasse 
in der weissen Substanz, wobei gar keine Degeneration der Mark- 
fasern nachweisbar ist. 

Veranderungen in den Meningen und Gefdssen treten dagegen 
in den Hintergrund und fehlen in einigen Fallen ganz. Starkere 
Infiltrationen, encephalitische Herde, Erweichungsprozesse wurden 
niemals beobachtet. Trotzdem ist man berechtigt, von einer aus- 
gesprochenen organisehen Veranderung des Nervensystems zu 
sprechen, deren Intensitat freilich in einzelnen Fallen grossen 
Schwankungen unterworfen ist. Manchmal nahem sich die Zell- 
veranderungen und der Faserschwund fast dem Bilde der Paralyse 
(Moryasu), oder findet man kaum weniger Spinnenzellen, als bei 
dieser (Alzheimer). Auch in unserem Fall erinnem die starken Zell- 
ausfalle und die Stoning der Rindenarchitektur an Befunde bei 
dieser Erkrankung. 

Die Zell veranderungen als solchehabennichtsCbarakteristisches 
oder Spezifisches an sich, wie dies auch von einer Reihe von Autoren 
hervorgehoben wird (Goldstein, Ladame, Moryasu, Schiitz); sie sind 
— auch hinsichtlich der Fibril lenbefunde — ihrer Art nach die- 
selben tvie bei anderen organisehen Erkrankungen. Da aber fur 
die Beurteilung einer Rindenerkrankung die Berucksichtigung aller 
Gewebebestandteile in Betracht kommt, so bedarf es keiner aus- 
fiihrlichen Erlauterung, dass das Gesamtbild einer Reihe von 
organisehen Veranderungen bei Gehirnerkrankungen, wie bei der 
Paralysis progressiva, der Lues cerebri, der Arteriosklerose, bei 
encephalitischen Prozessen, infantilen Erkrankungen nach Art der 
atrophischen Hirnsklerose, sich von dem bei Katatonie deutlich 
unterscheidet und diesbeziiglich differentialdiagnostische Schwierig- 
keiten nicht entstehen konnen. Auch die Abtrennung von den 
Veranderungen bei Alkoholismus chronicus diirfte nicht zu schwer 
sein. Nach Alzheimer 1 ), Ziehen 2 ) u. A. fehlt dabei auch in schweren 
Fallen eine Storung der Rindenarchitektur, ein schwerer Mark- 
seheidenzerfall und ist die Gliawucherung verhaltnismassig be- 
seheiden und mehr auf die ausserste Rindenschicht beschrankt 
[Meyer* •*) ]], dagegen zeigen die Gefasse ausgesprochen regressive 
Veranderungen. 

Eine gewisse Aelinlichkeit besteht mit den Rindenbefunden 
bei der einfachen, nicht durch arteriosklerotische Zerstorungen 
komplizierten Dementia senilis. Neben den verschiedenartigen 
Zellveranderungen, Verlust der Markfasem der Rinde, regressiven 

*) Nissls histologische u. hi6topathologische Arbeiten. Bd. 1. 

: ) Psychiatrie. 1908. 

•*) Die pathologiache Anatomic der Psychosen. Orth-Festschrift. 1903. 

MonatBschrift fiir Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 4. 22 


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Z i n g e r 1 e , Zur pathologischen Anatomie 


und progressive!! Veranderungen an der Glia wird von alien 
Autoren der grosse Pigmentreichtum in den Zellen, wie im Grund- 
gewebe hervorgehoben. Auch in der Gefasswand findet man 
solches abgelagert und Mastzellen. Es sind auch die Trabantzellen 
vermehrt und scheinen ofters in den Leib der Nervenzellen ein- 
gedrungen [ Moryasu 1 ), Meyer]. Freilich sindsolche unkomplizierte 
Falle selten: haufig kommen doch daneben Gefassveranderungen 
vor, Schrumpfungen der Rinde und perivaskulare Gliosen, die bei 
der unkomplizierten Katatonie fehlen. 

Auch bei genuiner Epilepsie kann man starken Zerfall des 
nervosen Gewebes, Auftreten myelin- und fettartiger Substanzen 
in den Nervenzellen, Glia- und Gefasselementen finden in Ver- 
bindung mit sonstigen Veranderungen an den Nervenzellen und 
der Glia, sowie mit Ausfall in der Tangentialfaserschichte und im 
supraradiaren Flechtwerke, [Alzheimer 2 ), Ranke 3 ,) Weber]. Nur ist 
im Gegensatze zu den Befunden bei Katatonie die Gliawucherung 
vorwiegend in den oberen Rindenschichten lokalisiert, und ist be- 
sonders der subpiale Faserfilz verdickt. 

Schwieriger wird die Differentialdiagnose, wenn man eine 
Reihe von Erkrankungen zum Vergleiche heranzieht, wie chronische 
Infektionen, Zirkulations- und zu Kachexie fuhrende Ernahrungs- 
storungen, bei welchen die Gehimveranderungen oft eine weit- 
gehende Aehnlichkeit mit denen bei Katatonie aufweisen. 

Unter den chronischen Infektionen ist es in erster Linie die 
Tuberkulose, die hier in Betracht kommt, da sie ja eine haufige 
Komplikation der Katatonie bildet und dadurch dieser scheinbar 
zugehorige Befunde vortauschen kann. Besonders franzosische 
Autoren (Riche, Barbi und Wickersheimer) haben auf die Wichtig- 
keit der Beriicksichtigung dieser interkurrenten Erkrankungen hin- 
gewiesen. Laignd-Lavastine und Leroy*) kamen auf Grand ihrer 
Untersuchungen von Gehimen Tuberkuloser zu dem Ergebnisse, 
dass die Lasionen derselben Art sind wie bei der Dementia praecox 
und sich nur durch ihre geringere Intensitat unterscheiden. 

Vogt) 3 fand in einigen Fallen von Tuberkulose chronische Ver- 
anderangen der Nervenzellen, zum Teil leichten, zum Teil schweren 
Grades. Er beschreibt langgestreckte, stark gefarbte Kerne inner- 
halb des intensiv geschrumpften Zelleibes mit sichtbaren Axonen, 
auch leichtere Zerfallserscheinungen mit Bildung von hellen Raumen 
um die Kerne. Gliakernwucherung fehlte oder war vorhanden. 
Piere 8 ) fand Chromatolyse bis zur fast volligen Zerstorung des 


*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Psychosen. Arch. f. 
Psych. 1909. 

*) Bericht auf der Jahresvers. d. deutschen Vereins f. Psych, in 
Frankfurt. 1907. 

s ) Ueber den heutigen Stand der Histopathologic der Hirnrinde. 
Miinch. med. Wochenschr. 1908. 

4 ) Zit. nach Riche, Barbe, Wicker sheimer. 

*) Das Vor kommen von Plasmazellen etc. Monatsschr. f. Psych. 1901. 
•) Zit. nach Jensen : Lungenschwindsucht und Nervensystem. Jena 

1905. 


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der Dementia praecox. 


319 


Protoplasmas, nebst Deformation der Kerne, geringe Verande- 
rungen am Gliazellkorper. Er konnte die Erkrankung auch im 
Kleinhim nachweisen. Erwahnung verdient ferner das wiederholt 
beobachtete Oedem der Haute und der Gehirnsubstanz in Begleitung 
einer Erhohung des Gehimgewichtes [Oppenheimer 1 ), Ducamp *)]. 

Auch wir fanden in einem Falle von Tuberkulose bei einer 
jungen Frau ausgesprochene Veranderungen, Ausfall und chronische 
Degeneration von Nervenzellen, sowie massige Vermehrung der 
Gliakeme. Es fehlte aber jede starkere Faserverdichtung, speziell 
das Vorkommen von Spinnenzellen. 

Von grossem Interesse fiir unsere Frage sind ferner die Befunde 
bei psychischen Erkrankungen in Begleitung von Zirkulations- 
storungen, wie sie neuerdings von Jakob 3 ) erhoben wurden. Er 
sah im Gehime dabei ausgedehnte akute und chronische Zell- 
veranderungen mit Zerfall der intracellularen Fibrillen, Ersatz der 
chromophilen Substanz durch liellbraunes (mit Osmium schwarzes) 
Pigment; um die Ganglienzellen bestand eine auffallige Vermehrung 
der Gliabegleitzellen, mit deutlicher Beeinflussung der Form der 
ersteren. Daneben zeigten sich progressive Veranderungen an 
den Gliazellen und haufige Rasenbildung. Ein Unterschied gegen 
unseren Befund liegt darin, dass sich die Veranderungen mehr 
in den kleineren Zellelementen als an den grossen Ganglienzellen 
lokalisierten, und dass dieselben gradweise gegen die Oberflache 
zunahmen, am meisten ausgesprochen in der zweiten Rindenschicht 
waren. Ebenso erwahnt Jakob nichts von einer pathologischen 
Gliafaserbildung. 

Vergleicht man diese Gehirnbefunde bei korperlichen Er¬ 
krankungen mit denen, wie sie von einer Reihe von Autoren bei 
Katatonie erhoben wurden, so lasst sich vielfach zwischen beiden 
kein Unterschied auffinden. Dagegen tritt ein solcher gegeniiber 
anderen, schwereren Fallen hervor, wie sie z. B. von Alzheimer, Gold¬ 
stein u. A. beschrieben wurden und zu welchen auch der unsere ge- 
hort. Hier zeigen sich Abweichungen beziiglich der Lokalisation 
der Veranderungen, an welchen besonders die tiefen Zellschichten 
der Rinde beteiligt sind, in der starken Degeneration der Mark- 
fasem der Rinde, der eigenartigen Anordnung der Gliafasern, 
Neuproduktion derselben, eventl. auch in der Storung der Ein- 
stellung der Zellen. Eine so starke Wucherung von Spinnenzellen, 
wie sie Alzheimer beobachten konnte, wurde bei den erwahnten 
korperlichen Erkrankungen iiberhaupt niemals beschrieben. 

Diese Gliawucherung in den tiefen Schichten der Rinde ist 
aber kein fiir Katatonie typischer Befund. Alzheimer *) selbst wies 


*) 1. c. 

») 1. c. 

*) Zur Klinik und pathologischen Anatomie der Kreislaufpsychose. 
N. C. Bl. 1909 u. Joum. f. Psych. 1909. 

*) Einiges zur pathologischen Anatomie chronischer Geistesstorungen. 
AUg. Zeitschr. f. Psych. 57. 

22 * 


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Zingerle, Zur pathologtschen Anatomie 


auch bei Melancholie eine Anhaufung von Fasem produ- 
zierenden Gliazellen in den tiefen Rindenschichten nach. 

Die Tatsache, dass bei den haufig die Katatonie komplizieren- 
den korperlichen Erkrankungen, wie Tuberkulose, Zirkulations- 
storungen etc., anatomische Gehirnveranderungen auftreten, welche 
sich mit den bisherigen Katatoniebefunden ganz oder teilweise 
decken, ist somit von grosster Wichtigkeit. Es ist vorderhand 
auch nicht mit Sicherheit entschieden, ob die Haufung derartiger 
korperlicher Erkrankungen, wozu noch eventuelle Erschopfung, 
Fieber, Kachexie infolge mangelhafter Emahrung kommen konnen, 
nicht das Bild einer schweren Rindenerkrankung hervorrufen 
kann, das an Intensitat an das in unserem Falie hinanreicht. 

Bevor daher nicht weitere Untersuchungen von sicher ganz 
unkomplizierten Fallen von Katatonie vorliegen, sind wir nicht mit 
Sicherheit in der Lage, die bisherigen Ergebnisse zur Feststellung 
des pathologisch anatomischen Prozesses zu verwenden und einen 
Schluss auf die Art der Erkrankung zu machen. 

Die Annahme einer Reihe von, besonders franzosischen Autoren 
(Klippel u. Lhermitte, Ladame), welche die pathologisch-anato- 
mische Grundlage in einer Lasion der neuroepithelialen Gewebs- 
bestandteile, wahrscheinlich toxischer Genese, erblicken,kann somit, 
so naheliegend sie erscheint, doch nicht als einwandssicheres, fest- 
stehendes Ergebnis anerkannt werden. Man muss vielmehr Ranke 1 ) 
beipflichten, dass wir von einem Verstandnisse der gefundenen 
pathologischen Veranderungen noch weit entfemt sind. 

Sicher erscheint als Resultat des Grossteils der bisherigen 
Untersuchungen nur das eine, dass eine starkere Lasion des Gefass- 
bindegewebsapparates fehlt und sich die Dementia praecox 
pathologisch-anatomisch in keine Parallele zur Paralysis progressiva 
stellen lasst, wie dies auf Grund des zu Analogien verlockenden 
klinischen Verlaufes mehrfach versucht worden ist. 

Es ist entschieden erstaunlich, dass eine Erkrankung, die in 
ihren typischen ausgebildeten Formen das so ausgesprochene Ge- 
prage einer schweren organischen Psychose mit der Generalprognose 
in der Richtung zurDemenz (Bleuler) an sich tragt, pathologisch- 
anatomisch so wenig charakteristische Befunde gibt, aus welchen 
sich derzeit gar kein sicherer Riickschluss auf das Bestehen des 
Leidens intra vitam machen lasst, und welche sich in ahnlicher 
oder selbst gleicher Form auch bei korperlichen Erkrankungen 
erheben lassen, die ohne oder mit ganz anderartigen geistigen 
Storungen verliefen. Ja, wenn man bedenkt, dass es noch gar nicht 
feststeht, ob und wie weit die bisher gefundenen Veranderungen 
iiberhaupt die Grundlage der psychischen Erkrankung bilden 
und nicht vielmehr durch sekundare Komplikationen hervorgerufen 
sind, muss man gestehen, dass hier noch alles ungeklart ist, und dass 
moglicherweise Veranderungen eine Rolle spielen, deren Nachweis 


*) 1. c. 


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I 


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Monatssckrift fiir Psychiatric und Neurologie Bd. XXVJl. 







Tafel XXI—XXII. 



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Verlag von S . Karger in Berlin. 

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der Dementia praecox. 


321 


bis heute noch nicht gelungen ist. Abgesehen vom Verhalten des 
Rindengrau ware unseres Erachtens bei kiinftigen Untersuchungen 
ein besonderes Augenmerk auf den Zustand der Assoziations- 
fasersysteme der Rinde zu richten. In unserem Falle wenigstens 
scheint der fast komplette Schwund der Assoziationsfasern in den 
ausseren Rindenschichten nicht im Verhaltnis zu der Ausdehnung 
der Zellasionen zu stehen, und wiirde eine derartige schwere 
Faserdegeneration der Eigensysteme der Rinde wohl geeignet sein, 
einLicht auf den eigenartigen dissoziativen Charakter der Erkran kung 
zu werfen. Ein Fall ist fur diese Frage natiirlich ohne Bedeutung 
und soil diese Bemerkung nichts anderes als eine Anregung geben. 
Schliesslich waren auch noch Untersuchungen der Himmaterie im 
Sinne Reichardts weiter zu verfolgen. 

Erkjarung der Abbildungen auf Tafel XXI—XXII. 

Pig. l. Schnitt aus der rechten 3, Stimwindung. Sehicht der Pyra- 
midenzellen. Thioninfarbung. Vergross. 131. Zeigt die zellarmen Horde und 
die schweren Veranderungen der Pvramidenzellen. 

Pig. 2. Schnitt durch die linke untere Stirnwindung. Thioninfarbung. 
Vergr. 131. Zeigt lichte, mehr rundhche Zellen in der Pyramidenschicht. 
Man sieht auch Zwillingazellen, sowie Kerne mit 2 Kemkorperchen. 

Pig. 3. Schnitt aus dem Gyrus angularis. Thionin. Camera- Auszug 67. 
Proj. Ocular (Zeiss) 2, Objektiv 4. 

Der Schnitt stellt die grossen Pyramidenzellen und die angrenzende 
innere Komerschicht dar. Auffallig ist die Veranderung des Protoplasma, 
die Bildung von perinuklearen hellen Ringen, sowie das Vorkommen von 
schief, selbst verkehrt gestellten Ganglienzellen. 

. Fig. 4. Schnitt durch die linke vordere Zentralwindung. Hamatoxylin- 
Eosin. Camera-Auszug 67, Ocular 2, Objektiv 4. 

Chronische Veranderung der Ganglienzellen mit starker Beteihgung 
der Kerne, links an einer Zelle starke Veranderung mit Vermehrung der 
Trabantkeme. 

Fig. 5. Schnitt durch die linke obere Stirnwindung. Marchif&rbung. 
Camera-Auszug 67, Ocular 2, Objektiv 4. 

Zeigt die Anhaufung von myelinoiden Abbauprodukten in den 
Pyramiden- und Gliazellen. 

Fig. 6. Schnitt durch die linke obere Stirnwindung. Thionin. Vergr. 
wie 5. 

Vermehrung der Trabantzellen um die Zellen der tiefen Rindenschicht. 


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322 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


(Aus der psyehiatriaohen Klinik der kgl. Charit6 
[Geh. Rat Prof. Ziehen] in Berlin.) 

Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallucinatoria 
(Westphal) zur Amentia (Meynert). 

Von 

Dr. M. BRESOWSKY 

in Jurjew (Dorpat). 


Die akute halluzinatorische Paranoia wird heute noch von vielen 
Psychiatem nicht zur Paranoia gerechnet, von denjenigen namlich, 
die die akute Paranoia fur wesensungleich mit der chronischen 
halten, sie daher ganzlich von dieser trennen und die Bezeichnung 
„Paranoia“ fiir die chronischen Formen vorbehalten. Sie halten 
damit fest an den Anschauungen der alteren Psychiater iiber das 
Wesen der Paranoia, Verriicktheit, wie sie sich ergeben hatten nach 
Ueberwindung der altesten Ansichten, wonach namlich paranoische 
Zustande nur sekundar vorkommen sollten. In diesem Sinn spricht 
sich Griesinger folgendermassen aus: „ . . . es gibt namentlich 
auch hochst interessante Zustande, wo die beiden Hauptarten 
der Primordialdelirien sich sehr langsam neben einander entwickeln, 
wo bei dieser Langsamkeit, die sich iiber eine Reihe von Jahren 
eretreckt, die sich widerstrebenden Vorstellungen (Grossenwahn 
und Verfolgungswahn) Zeit haben, sich allmahlich zusammen- 
zuordnen, zu durchdringen und zu festen Gedankenverbindungen, 
zu einem sogenannten System von Wahnvorstellungen aufs engste 
zusammenzuwachsen. Es bildet sich oft hier eine hochst eigen- 
tumlich ineinander gearbeitete Mischung von Verfolgungs- und 
von Grossenideen . . . Diese eigentiimliche, sehr chronische 
Storung halte ich nicht mehr . . . fiir sekundar, habe mich viel- 
mehr von der protogenetischen Bildung dieser Zustande iiberzeugt 
und bezeichne sie jetzt als primare Verriicktheit.“ „Die Primordial¬ 
delirien entstehen nicht aus Ealluzinationen oder Ulusionen . . . 
Der Kranke glaubt es nur, weil die Halluzination seinem eigenen, 
schon vorhandenen normalen Vorstellungsinhalte Worte gab; das 
sinnlicheBild fiir dieWahnvorstellung hat nicht diese erst gemacht.“ 
Es ist klar, dass das von Griesinger gezeichnete Bild der 
Psychose die chronische Paranoia mit Entwicklung eines Wahn- 
systems darstellt. Es fragt sich nunmehr: Was ist das Wesentliche 
der Paranoia ? Ist auch der chronische Verlauf und die Entwicklung 
eines Wahnsystems wesentlich ? Oder ist das Wesentliche nur die 
primare Beteiligung der intellektuellen Sphere an dem Aufbau 
des Krankheitsbildes ? Von der verschiedenen Beantwortung 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


323 


dieser Frage hangt die systematisohe Steilung der akuten Paranoia 
ab. Westphal, der als das Wesentliche der Paranoia den abnormen 
Vorgang im Vorstellen betrachtete, macht zuerst genauere Mit- 
teilungen fiber die akute Paranoia. 

Die Verrficktheit ist nach Westphal eine primare Geistes- 
storung, deren Wesentliches der abnorme Vorgang im Vorstellen 
ist; der aUgemeine Inhalt der Vorstellungen bleibt sich immer 
gleich (d. h. Verfolgungs- und Grossenideen). Sie entwickelt sich: 
1. aus Hypochondrie; 2. entstehen von vomherein Wahnideen und 
Sinnestauschungen, die den Wahn weiter stfitzen und ausbilden; 
3. entstehen plotzlich und mit grosser Gewalt (anscheinend in 
voller Gesundheit) und in grosser Ausdehnung aufspringende 
Halluzinationen; 4. aus der originaren Verrficktheit (Sander). Das 
Bild der Verrficktheit und der Verlauf ihrer Erscheinungen kann 
sich sehr verschieden gestalten, je nachdem 1. die sogenannten 
formalen Vorgange im Denken ungestort oder mehr weniger gestort 
sind, 2. das motorische Verhalten nach der einen oder anderen 
Seite beeintrachtigt ist. Das motorische Verhalten kann bald mehr 
vortibergehend, bald mehr dauernd bis zur Tobsucht gesteigert 
sein, besonders bei der akut, unter massenhaften Sinnesdelirien 
vor sich gehenden Entwicklung. Der formale Ablauf des Denkens 
kann mehr oder weniger erheblich gestort sein, die Storung kann 
ganz fehlen.auf der anderen Seite sich zu vollkommenerVerwirrtheit 
steigem. Die intellektuelle Schwache gehort nicht zu den wesent- 
lichen Charakterzfigen der Verrficktheit. In zahlreichen Fallen 
findet sich keine Spur davon, in anderen bestand sie von jeher und 
ist nicht als Produkt der Krankheit zu betrachten. Der Ablauf ist 
ein sehr mannigfaltiger. Es gibt eine akute Entstehung mit akutem 
Verlauf, welcher zur Heilung ftihrt. 

Diese hier in kfirzester Form angeffihrten Anschauungen 
Westphals sind nicht ohne Widerspruch geblieben, die Zusammen- 
fassung aller der Westphalschen Paranoia angehorigen Krankheits- 
bilder in eine Psychose ist vielfach abgelehnt und die Aufstellung 
„psychologischer“ Krankheitsformen als irrationell bezeichnet 
worden. Andererseits ist die Westphals, che Lehre weiter ausgebaut 
worden. Ziehen wies nach, dass bei der Paranoia, die er kuiz als 
diejenige Psychose definiert, welche primar Storungen des Intellektes 
und nicht der Affekte bedingt, nicht nur primare Wahn vorstellungen 
und Halluzinationen, sondem auch primare Inkoharenz vorkommt, 
erweiterte somit das Gebiet der Paranoia um Krankheitsformen, 
die von anderen Forschem zum Teil als selbststandige Psychosen 
be8chrieben worden waren. Freilich erweiterte sich der Umfang 
der Paranoia so ganz ausserordentlich, und da nach Ziehen u. a. 
die Intellektpsychosen mit den Affektpsychosen durch fliessende 
Uebergange verbunden sind, so unterscheiden sich samtliche ein- 
fache funktionelle Psychosen von einander nur duroh die vor- 
herrschenden psychologischen primaren Hauptsymptome. Speziell 
die Paranoiagruppe zeriallt demgemass in die Paranoia hallucina¬ 
toria acuta mit der ideenflfichtigen, stuporosen und inkoharenten 


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324 Bersowsky, Ueber die Beziehimgen der Paranoia acuta 

Varietat, die Paranoia hallucinatoria chronica, Paranoia simplex 
acuta und chronica. 

In gleicher Weise aussert sich Cramer. „Haben wir es somit 
bei der Paranoia mit einer primaren Stoning der Verstandestatig- 
keit zu tun, bei der erst sekundar die Stimmung des Gemiits in 
Mitleidenschaft gezogen wird, so handelt es sich bei den Stimmungs- 
anomalien um eine primare Erkrankung des Gemiits, bei welcher 
erst sekundar die Verstandestatigkeit beeinflusst wird.“ 

Die Resultate seiner Untersuchungen iiber Abgrenzung und 
Differentialdiagnose der Paranoia fasst Cramer in einigen kurzen 
Satzen zusammen, von denen besonders bemerkenswert sind, dass 
Verwirrtheit (Amentia), Wahnsinn und Verriicktheit klinisch und 
genetisch eine Reihe wichtiger Erscheinungen gemeinsam haben; 
dass die differentiell-diagnostischen Momente, welche geltend ge- 
maoht werden, um Verwirrtheit, Wahnsinn und Verriicktheit zu 
trennen . . . geeignet sind, diese drei Krankheitsbilder auf dem 
gemeinsamen Boden der Paranoia zu differenzieren; dass . . . die 
Definition der Paranoia lauten muss: die Paranoia ist eine einfache, 
funktionelle Psychose. Sie ist charakterisiert durch eine Er¬ 
krankung der Verstandestatigkeit, wobei die Affekte nur eine 
sekundare Rolle spielen.“ 

Diese von den erwahnten Forschern durchgefiihrte Aufstellung 
von Krankheitsformen auf Grand des psychologischen Prinzips 
ist vielfach angegriffen worden, hauptsachlich weil sie Aetiologie, 
Verlauf und Ausgang nicht geniigend beriicksichtige, somit die 
Moglichkeit offen lasse, dass die verschiedensten Krankheitsformen 
auf Grand eines ihnen gemeinsamen Symptomes zu einer Form ver- 
einigt wiirden. Indessen stosst auch das atiologische Prinzip auf 
nicht geringe Schwierigkeiten. Denn abgesehen davon, dass die 
Ursache so mancher Psychose nicht zu ermitteln ist, ist es denkbar, 
und nach sicheren Erfahrungen sogar sehr wahrscheinlich, dass 
infolge der verschiedenen individuellen Disposition dieselbe Ur¬ 
sache bei verschiedenen Personen verschiedene Psychosen aus- 
losen kann, und femer, dass verschiedene Ursachen die Wirkung 
haben konnen, die nervose Substanz in derselben Weise zu schadigen. 

Obgleich die ,,halluzinatorische Verwirrtheit" unter diesem 
und anderen Namen schon eine Reihe von Jahren bekannt war, 
hat erst Meynert ihr eine besondere systematische Stellung ange- 
wiesen. „Ich fand das Bediirfnis, von letzterer (der primaren Ver- 
riicktheit) den akuten Wahnsinn zu trennen, als dessen Grand- 
lage ich die Verwirrtheit erkannte." — „Von der Paranoia unter- 
scheidet sich die Verwirrtheit durch den klaren Bewusstseinszustand 
der ersteren . . .“ Mit diesen Satzen ist Meynerts Ansicht iiber 
die systematische Stellung der Amentia ausgesprochen. Was nun 
das fur die Amentia charakteristische Symptom die Verwirrtheit 
anbelangt, so ist sie Folge des Assoziationsmangels, des — ganzhchen 
oder teilweisen — Ausfalls der Assoziationsleistung. Zu diesem 
Assoziationsmangel treten sehr haufig Sinnestauschungen — 
Halluzinationen und namentlich Illusionen. — Als tvpischste Form 


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hallucinatoria (Weatphal) zur Amentia (Meynert). 


325 


bezeichnet Meynert die halluzinatorische Verwirrtheit, „das An- 
fangsstadium eines Bildes der zusammengesetzten Amentia, 
welche mit halluzinatorisoher Verwirrtheit einsetzt und zwei Ver- 
laufsrichtungen nehmen kann, in eine maniscbe Form . . . und in 
eine stuporose Form, selbst bis zu fast ganzlichem Aufhoren 
psychischer Aeusserungen.“ Meynert betont femer die Mannig- 
faltigkeit der Erscheinungsformen der Amentia, deren er fiinf 
Typen aufzahlt, erwahnt bezuglich des motorischen Verhaltens, 
dass es in der Breite zwischen Tobsucht und Stupor sohwanke, 
gibt an, dass ,,in fliichtiger oder in andauemder, doch erkennbarer 
Weise . . . Grossenwahn und Verfolgungswahn der Inhalt der 
Delirien der Amentia sind.“ Es gibt auch eine periodische 
Amentia. Wie leicht ersichtlioh, entspricht die Gesamtheit der 
von Meynert zur Amentia gerechneten Krankheitsbilder der ge- 
samten Paranoia acuta Ziehens, ohne dass aber die von beiden 
Forschem aufgestellten Typen oder Varietaten einander entsprechen. 
Auch ist in beiden Fallen die Aetiologie die gleiche, obschon 
Meynert die Amentia in eine idiopathische und eine symptomatische 
Form zerlegt. „Die idiopathische fallt grosstenteils mit den 
psychisohenUrsaohen und mit den nutritiv erschopfenden Momenten 
zusammen. Die symptomatische ist die fieberhafte Amentia, die 
an Epilepsie und Hysteroepilepsie in ihren Anfallen gekniipfte, 
endlich die intoxikatorische und bazillare Form.“ Aus dem An- 
gefiihrten geht hervor, dass trotz des von Meynert auf die Er- 
schopfung bezogenen und physiologisch motivierten Krankheits- 
bildes die Auffassung der Krankheitsform sich dem sympto- 
matologischen und psychologischen Prinzip nahert. In ahnlicher 
Weise, von symptomatologischen Erwagungen ausgehend, fasst 
Chaslin die Confusion mentale primitive als akute Psychose auf, 
deren typische Falle nur die primare lnkoharenz aufweisen. 

Kahlbaum hat zuerst auf den Unterschied zwischen Zustands- 
bild und Krankeitsform hingewiesen und die Forderung aufgestellt, 
Krankheitsformen nur auf Grund des Gesamtverlaufs, ohne Ueber- 
schatzung der Einzelsymptome, aufzustellen. Da bei den auf 
Grund der KahJbaurmchen Prinzipien aufgestellten Krankheits¬ 
formen Aetiologie, Verlauf und Ausgang ausschlaggebend sind, 
Verlauf und Ausgang ganz besonders bei unklarer Aetiologie, so 
decken sicb diese Krankheitsformen nur zum Teil mit den auf 
Grund der Symptomatologie ermittelten. Was nun die Amentia 
Meynerts anbelangt, so schrankt Kraepelin, der nach den oben 
erwahnten Kahlbaumachen Grundsatzen verfahrt, das Gebiet der 
Amentia stark ein, indem er, im Sinne Meynerts die Amentia als 
Erschopfungspsychose, und nur als solche, definierend, ihr nur die 
erwiesenermassen auf Erschopfung, auf ,,eine greifbare aussere 
Schadlichkeit“ zuruckgehenden Falle zuweist, wobei gewisse 
Formen als „Kollapsdelirium“ und „chronische nervose Er- 
schopfung“ von der Amentia im engeren Sinne getrennt werden. 
Die symptomatologisch wohl so gut wie identischen, auf Infektion 
und Intoxikation zuruckgehenden Falle werden als besondere 


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326 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


„Infektionspsychosen“ und ,, Vergiftungspsychosen“ aufgefiihrt. 
Die periodische Amentia Meynerts gehort nach Kraepelin dem 
manisch - depressiven Irresein an. Ausserdem wiirde ein grosser 
Teil der von Meynert der Amentia zugerechneten Falle zur Dementia 
praecox Kraepelins gehoren. In der Auffassung Kraepelins erscheint 
die Amentia Meynerts und ebenso die Paranoia acuta hallucinatoria 
Westphals als eine Zusammenfassung von nur symptomatologisch 
gleichen oder ahnlichen Zustandsbildem. Eine solche Beurteilung 
von Gesichtspunkten aus, die sich ganz vorwaltend auf Aetiologie, 
Verlauf und Ausgang stiitzen, notigt uns im Hinblick auf die von 
vielen Psychiatem vertretenen anderen Anschauungen die Fragen 
auf: 1. Besteht eine konstante, innere Abhangigkeit zwischen der 
Aetiologie und der klinischen Erscheinungsform der genannten 
Psychose ? 2. Besteht eine solche Abhangigkeit zwischen den Er¬ 
scheinungsformen und dem Verlauf und Ausgang ? 3. Besitzen die 
Defektzustande des Ausgangs etwas fiir die Psychose Spezifisches ? 
Die Beantwortung dieser Fragen ist ebenso verschieden wie die 
Auffassung der genannten Psychosen. 

Fragen wir nun: wie verhalt sich Westphals akute halluzina- 
torische Paranoia in der Ausgestaltung, die ihr Ziehen gegeben hat, 
zur Amentia Meynerts und im besonderen, wie verhalt sich die 
Paranoia hallucinatoria acuta in ihren klinischen Erscheinungs- 
formen und Varietaten zu den Erscheinungsformen der Amentia, 
deren Meynert fiinf angibt, so wird die Antwort zuerst auf psycho- 
logischem Gebiete zu suchen sein. Wir finden denn auch, class die 
Amentia Meynerts im grossen und ganzen der akuten halluzina- 
torischen Paranoia entspricht: sowohl die Aetiologie und Sym¬ 
ptomatology, als auch Verlauf, Dauer und Ausgang der Amentia 
entsprechen der Paranoia acuta hallucinatoria. Es ist aber die 
psychologische Analyse der Erscheinungsformen nicht durchgefuhrt: 
die Amentia umschhesst sowohl die halluzinatorischen als auch die 
dissoziativen Formen, das Vorkommen der rein dissoziativen Form 
wird nur angedeutet, die Inkoharenz als psychopathologisches 
Grundsymptom insofem, als sie auch primar auftritt, nicht ihrer 
tatsachhchen Bedeutung gemass behandelt. Trotzdem ist die weit- 
gehende Uebereinstimmung des Meynerts chen klinischen Bildes 
und der akuten halluzinatorischen Paranoia unverkennbar. 

Die zur Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia ge- 
borenden Formen sind auch in der Zeit nach Westphals Mitteilung 
und vor Meynerts definitiver Ausgestaltung der Amentia Gegen- 
stand von Untersuchungen gewesen, die die Ansatze zur spateren 
Entwicklung nach beiden Richtungen hin zeigen, insofem als einer- 
seits im Vordergrimd der Betrachtung der akute und voriiber- 
gehende Charakter und die „Storung des Bewusstseins“ stehen, 
andererseits aber das Wesen der psychischen Storung. Mendel 
fasst diese Formen unter dem Begriff des halluzinatorischen 
Deliriums zusammen: „Ist die Besonnenheit aber nicht in normaler 
Weise vorhanden, und treten dann krankhafte Storungen . . . 
ein, dann entsteht das Delirium. Es sind demnach Delirien im Ge- 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


327 


biete der inneren Sinneswahrnehmung oder der Assoziation der 
Denkvorstellungen oder der Gefiihle oder in mehreren dieser 
Fnnktionen gleichzeitig sich vollziehende, pathologische Vorgange, 
die von dem Kranken wegen krankhaft gestorter Besonnenheit 
als krankhafte nicht anerkannt werden. Wir unterscheiden dem- 
nach 1. SiDnesdelirien, 2. Verstandesdelirien (Delirien im engeren 
Sinn) . . 1st auch die Grundlage dieser Begriffsbestimmung, 
die Annahme einer ansserhalb oder liber der Assoziationstatigkeit 
existierenden oder funktionierenden besonderen „Besonnenlieit“ 
fur uns nicbt mehr annelimbar, so gebt aus der Beschreibung 
des psychologischen Aufbaus der Mendelschen Sinnes- und Ver¬ 
standesdelirien hervor, dass darunter halluzinatorische und para- 
noische Zustande und Krankbeitsformen zu verstehen sind 1 ). Zeigt 
diese Auffassung Mendels viele Aehnlichkeit mit Meynerts Amentia- 
begriff, so fasst Schiile akute und cbroniscbe Formen unter dem 
gemeinsamen Merkmal der Stdrung im Vorstellungsleben zusammen 
als „primaren, chronischen und akuten Wahnsinn“, von dem er 
folgende Definition gibt: „Der innerste Kern dieser grossen Rrank- 
heitsgruppe ist eine primare Stoning im Vorstellungsleben, enti¬ 
ty eder in Form einer Hemmung oder Forderung der Ich-Gruppe 
mit allegorisierender (illusionarer) Apperzeption; oder aber einer 
Auflosung des Icb-Verbandes durch jah einbrechende und iiber- 
macbtige Sinnestauschungen . . . Im ersten Falle bleibt das Ioh 
erhalten . . .; im zweiten wird das Ich verdunkelt . . . Im ersten 
Falle besteht . . . das Wesen der Storung psyohologisoh in einer 
Illusion oder falschen Apperzeption; im zweiten in einem hallu- 
zinatorischen Traumzustand. Jene setzt das Wesen des chronischen 
primaren Wahnsinns zusammen, diese das Wesen des akuten.“ 
Von den aus neuerer Zeit stammenden Ansichten sind ferner 
bemerkenswert die von Krafft-Ebing , dessen „halluzinatorischer 
Wahnsinn“ im allgemeinen der Amentia Meynerts entspricht 
(vergl. die Definition von Pilcz: „Die Amentia ist gekennzeichnet 
durch das Auftreten massenhafter Halluzinationen euf alien Sinnes- 
gebieten und durch Verwirrtheit) und ferner die Ansicht Sommers. 
Sommer , der auf streng atiologischer Basis steht, fiihrt unter den 
funktionellen Geisteskrankheiten die halluzinatorische Verwirrt- 
heit, den halluzinatorischen Wahnsinn und die Katatonie auf. Da- 
mit stellt er gesonderte klinische Krankheitsformen aut, die in den 
engsten Beziehungen zur Paranoia acuta hallucinatoria stehen. Die 
Existenz von idiopathischen Psychosen dieser Art wird somit von 
Sommer anerkannt, wahrend sie nach der Auffassung Kraepelins 
nur die Bedeutung von Zustandsbildern haben (im Verlauf der 
Dementia praecox oder des manisch - depressiven Irreseins). 


*) „Dae Delirium hallucinatorium ist eine funktionelle Psychose, deren 
Symptomenkomplex in seinem Beginn und Verlauf wesentlich durch Sinnee- 
tauschungen bestimmt wird, welche mit inkoharenten Reden, irrem Handeln 
und einer erheblichen Beeintrachtigung des Selbstbewusstseins verbunden 
sind. . . . Die Krankheit entwickelt sich sodann in aktiver, agitierter oder 
in passiver Form." 


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328 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

Ausserdem fiihrt Sommer dieselben Formen als symptomatische 
Aeusserungen bestimmter zu Grunde liegender Erkrankungen 
und Intoxikationen an. Sohliesslich sei nooh die Definition 
Siemerlings erwahnt, der unter Amentia Geistesstorungen ver- 
steht, die ausgezeichnet sind durch „das plotzliche Einsetzen 
traumhafter Bewusstseinstrubung mit Verwirrtheit, zablreicbe .... 
meist unzusammenhangende Halluzinationen und Illusionen, Ver- 
anderungen in der motorischen Sphare . . Andererseits kennt 
Siemerling eine Paranoia acuta, bei der es sich um ,,schnelle Ent- 
wicklung von Wahnideen mit systematisiertem Charakter der Ver- 
folgung oder Grosse“ handelt, die er in eine einfache und eine 
halluzinatorische Form zerlegt. 

Aub den angefiihrten Ansichten ersehen wir, dass im grossen 
und ganzen in bezug auf die akute halluzinatorische Paranoia 
Krafft-Ebings Meinung zu Recht besteht, wenn er aussert: ,,Die 
hier als Wahnsinn abgehandelten Krankheitszustande entsprechen 
grossenteils dem, was andere Autoren akute primare Verriicktheit 
(Westphal ), halluzinatorische Verwirrtheit, Mania hallucinatoria 
(Mendel), delusional stupor (Neivington) benannt und beschrieben 
haben.“ Tatsachlich ist aber die Gesamtauffassung der Autoren 
verschieden, obschon es sich offenbar um dieselbe Psychose handelt: 
wir finden teils eine Zusammenfassung der genannten Psychosen 
mit der chronischen Paranoia zu einer hoheren Einheit, teils eine 
ganzliche Trennung von der chronischen Paranoia, teils eine Be- 
urteilung nach ausschliesslich atiologischen Gesichtspunkten, 
schliesslich eine weitere Zerlegung nach symptomatologischen 
Gesichtspunkten. 

In der alteren franzosischen Literatur wird die von uns Paranoia 
acuta hallucinatoria genannte Psychose mit der Manie und dem 
Delirium acutum, mit der Stupiditat und der akuten Demenz zu- 
sammengefasst. Von den Autoren der neuesten Zeit fasst Chaslin 
alle Formen in der Confusion mentale primitive zusammen. Seglas 
erkennt eine Paranoia acuta an, die nichts mit der Confusion 
mentale zu tun hat; andere fassen die Confusion mentale als rein 
exogenes Symptom auf und betrachten nach Magnans Vorgang 
das Delire systematise aigu als untrennbar von der hereditaren 
psychopathischen Konstitution. Regis z. B. gibt eine sehr genaue 
Einteilung der Confusion mentale in Unterformen, halt sie fiir eine 
exogene Psychose und trennt sie vollstandig von dem auf heredi- 
tarer Basis entstehenden Deiire systematise aigu. Dieses Delire 
systematise aigu oder d’embiee ( Magnan) — „Deiire multiple, 
polymorphe, sans evolution determinee des degeneres“ — ent- 
spricht nach Magnans Auffassung der Paranoia acuta, was fiir die 
Paranoia acuta simplex zutreffend ist, wahrend die Paranoia acuta 
hallucinatoria fraglos ein ganz anderer Begriff ist. Im grossen imd 
ganzen macht sich die Auffassung Magnans insofern geltend, als 
die akute Paranoia als Manifestation einer latenten, hereditaren 
Predisposition betrachtet wird, die mit der Confusion mentale nichts 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


329 


zu tun hat: letztere sowie das D&ire aigu warden als exogene 
Syndrome aufgefasst. 

In der alteren englischen Literatur wird die Paranoia acuta 
hallucinatoria gewohnlich mit der Manie zusammengefasst. 
H. Maudsley unterschied zwischen affektivem und Vorstellungs- 
irresein (ideational insanity), doch fasste er die ideational insanity 
als Unterart der affektiven Psychosen auf, und zwar als mit Stoning 
der Vorstellungstatigkeit komplizierte affektive Psychosen; iiber- 
haupt erscheinen bei ihm die intellektuellen Storungen als sekundare 
Storungen. Unsere akute halluzinatorische Paranoia erscheint bei 
Maudsley als Manie, als manisches Delirium und als Monomanie. 
Fielding Blandjord zerlegt die Manie in die akute Manie, die akute 
delirante Manie und das Delirium acutum. Die Monomanie 
identifiziert er mit der chronischen Manie. Auch Bucknill und 
Hack Tube rechnen unsere akute halluzinatorische Paranoia zum 
Teil zur Manie, zum Teil zur akuten Dementia, und unterscheiden 
daneben eine delusional insanity, d. h. die Monomanie, von der sie 
sich aussem: ,,Delusional insanity . . . exemplifies undue intensity 
of the conceptive and perceptive faculties** (im Gegensatz zum 
Damiederliegen derselben bei der Dementia). Neunngton unter¬ 
schied zwischen dem anergic stupor und dem delusional stupor. 
In gewissem Sinn entspricht dieser Stupor Unterformen der akuten 
halluzinatorischen Paranoia. H. Berkley rechnet zu den Unter¬ 
formen der Manie die akute hallucinatory confusional insanity, die 
er aber als der Manie tatsachlich nicht verwandt ansieht, und das 
akute Delirium; femer kennt er als selbstandige Gruppen die Fieber- 
dehrien, die Intoxikationspsycbosen u. s. w., eine akute Paranoia 
fiihrt er nicht an. Berkley unterscheidet die chronische progressive 
Paranoia von den Intoxikationspsychosen, der chronischen 
sekundaren Verriicktheit, der akuten halluzinatorischen Ver- 
wirrtheit ( Meynert ); er rechnet die chronische Paranoia zu den auf 
Degeneration zuriickgehenden Psychosen. Den gleichen, stark von 
atiologischen Erwagungen abhangigen Standpunkt vertreten auch 
noch andere englische Autoren; die chronische Paranoia wild von 
der akuten getrennt. Unter delusional insanity versteht Cloueton 
,,states of fixed and limited delusion**; ,,delusional insanity“ ist 
gleichbedeutend mit Monomanie, Monopsychosis; es ist unsere 
chronische Paranoia. (Unter Amentia verstehen die englischen 
Psychiater einen angeborenen Defektzustand, gleichbedeutend mit 
Idiotie.) 

In den Schilderungen der zur Gruppe der akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia geborenden Psychosen findet sich gewohnlich 
als wichtiges, die Psychose kennzeichnendes Merkmal die Bewusst- 
seinsstorung. Dieser Begriff ist nicht bestimmt genug, insofern ala 
viele Autoren zwischen Bewusstlosigkeit und vollem Bewusstsein — 
im Gebiete der Bewusstseinstriibungen — eine ganze Reihe von 
Helligkeitsgraden des Bewusstseins unterscheiden. Was unter 
„Bewusstsein“ zu verstehen ist, haben die Psychiater in ver- 
schiedener Weise zu bestimmen versucht. Krafft-Ebing gibfc folgende 


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330 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


Definition: „Das Bewusstsein reprasentieren die in der Zeiteinbeit 
im wissenden Icb gegenwartigen Vorstellungen.“ Es ist also unter 
Bewusstsein nach Krafft-Ebing zu verstehen: der vollstandige 
Zusammenhang der laufenden Assoziationskette mit den gegen¬ 
wartigen Empfindungen und Vorstellungen und mit den Er- 
innerungen. Kraepelin aussert sich in dieser Frage folgendermassen: 
,,Ueber all, wo aussere Eindriicke in psychische Vorgange umgesetzt 
werden, ist Bewusstsein vorbanden . . . Das Wesen des Be- 
wusstseins ist fiir uns vollig dunkel, doch wissen wir, dass der Be- 
stand desselben . . . von den Verrichtungen der Himrinde ab- 
hangig ist.“ Es wird hier also das Bewusstsein als von dem Zu- 
stande der Himrinde unmittelbar abhangig gedacht, aber auf eine 
psychologische Analyse der Komponenten des Bewusstseins nicht 
eingegangen. Als Bewusstseinstrtibung wird ein solcher Zustand 
der Himrinde aufgefasst, bei welchem der Schwellenwert fiir die- 
jenigen Reize, die einenpsychischen Eindmck hervorrufen, fiber 
die Norm gestiegen ist; nach der Grosse des Schwellenwertes kann 
man verschiedene Helligkeitsgrade des Bewusstseins unterscheiden. 
„Unter Umstanden kann anscheinend der Schwellenwert ffir 
aussere und ffir innere Reize in ungleichmassiger W eise verandert 
werden; wahrend die Einwirkung ausserer Eindriicke erbeblich 
erschwert ist, konnen dennoch durch innere Erregungen lebhafte 
Bewusstseinsvorgange ausgelost werden. Das ist der Fall bei den- 
jenigen Zustanden, die wir ils Delirien zu bezeichnen pflegen. Urn- 
gekehrt sehen wir bei den Verblodungen nicht selten aussere Reize 
noch verhaltnismassig leicht Empfindungen erzeugen, wahrend 
sich innere Vorgange fast gar nicht mehr im Bewusstsein geltend 
machen.“ Von ahnlichen Gesichtspimkten wie Kraepelin gehen 
viele andere Autoren aus. 

Ziehen fasst bekanntlich die Trfibung des Bew'usstseins als 
Storung im Zusammenhang der Ideenassoziation auf; „psychisch“ 
ist nach Ziehen gleichbedeutend mit „bewusst“; ein psychischer 
Vorgang ist nicht in einem hoheren Masse bewusst als der andere; 
wir brauchen zur Erklarang der Bewusstseinsstorung nicht ver¬ 
schiedene Helligkeitsstufen eines Bewusstseins im Sinne einer be- 
sonderen Seelenfunktion anzunehmen: wir erklaren tins solche Zu- 
stande durch die Schadigung oder Unterbrechung der normalen 
Ideenassoziation oder auch die Ausschaltung grosser Vorstellungs- 
kreise. 

Wernicke steht auf einem ahnlichen Standpunkt. Als Bewusst¬ 
sein bezeichnet er sowohl Inhalt als auch Tatigkeit des Bewusst¬ 
seins, d. h. die sich im Bewusstseinsinhalte abspielenden Erregungs- 
vorgange; zur Erklarung der komplizierten Bewusstseinsvorgange 
nimmt er verschiedene Grade des Bewusstseins an und bringt den 
bekannten Vergleich mit dem Wellengipfel. Jede Bewusstseins¬ 
storung ist nach Wernicke Storung (Verlust) des Bewusstseins- 
inhaltes oder Storung (Verfalschung) der Bewusstseinstatigkeit 
oder boides. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


331 


N &cb.Binsuxinger bedeutet der Ausdruck„Bewusstseins8tdrung“ 
„nichts anderes als krankhafte Abweicbungen des gesetzmass igen 
Ablaufes der psycbischen Vorgange, welche uns am deutlichsten 
in den Anfangsteilen der assoziativen Tatigkeit, in dem Yorgang 
des Aufmerkens und des Wiedererkennens und in den Endgliedem, 
den sogenannten Willenshandlungen, erkennbar werden.** Unter 
Bewusstsein versteht Binsvoanger „die Summe der zeitlich zu- 
sammentreffenden psychischen Vorgange**. Unter Besonnenheit 
versteht Binswanger diejenige Bewusstseinstatigkeit, bei der Merk- 
fahigkeit, Aufmerksamkeit und der Ablauf der Ideenassoziation in 
formaler Hinsicht nicht gestort sind; dabei konnen trotz erhaltener 
Orientierung weitgehende Storungen des Denkprozesses vor- 
handen sein. Vergleichen wir damit die Ansicht von Regis: „La 
meilleure id4e qu’on puisse se faire de la conscience c’est de la 
conskterer, avec Th. Ribot et son 6cole, comme un ph6nomene 
d’origine organique dans la constitution duquel entrent comme 
616ments principaux: la perception exacte, l’appropriation perso- 
nelle et le classement mn4monique de nos sensations.** Wir er- 
fahren femer, dass die Bewusstseinstriibung in einer Storung 
einee der genannten drei Komponenten bestehe. Wie wir sehen, 
wird das Bewusstsein von Regis ebenfalls psychologisch erklart, 
der Begriff der Bewusstseinstriibung aber weit ausgedehnt: er 
umfasst nach Rigis nicht nur samtliche Psychosen, die mit „Be- 
wusstseinstriibung** verlaufen, sondem auch z. B. die Hysterie und 
dieNeurasthenie; selbst einzelne Symptome, Halluzinationen z. B., 
sind Zeichen eines getriibten Bewusstseins, andererseits erlautert 
Rigis den Begriff „iijconscient“ folgendermassen: „On entend 
par lit non que le sujet a cess6 de percevoir, de s’approprier ou 
d’enchainer ses id4es et ses sensations; mais simplement qu’il en 
m6connait la nature pathologique. Et c’est la un caractdre tellement 
important qu’il sert 4 distinguer les psychoses avec perte complete 
de la raison et de la responsabilit6 de celles ou il peut rester encore 
une part plus ou moins grande de ces attributs, et qu’on ddsigne 
pour ce motif sous le nom de conscientes (d61ire conscient, halluci¬ 
nations conscientes, impulsions conscientes).“ Vergleichen wir 
damit Krafft-Ebinq: „Eine Storung des Bewusstseins als einer 
integrierenden Funktion der Himrinde ist a priori in jedem 
Psychosenprozess zu erwarten. Tatsachlich ist jene auch das 
bleibende Merkmal in der Flucht und klinischen Fulle der Er- 
scheinungen.** Von anderen Autoren wird der Begriff wesentlich 
enger gefasst und nur angewandt in Fallen einer solchen, aus ver- 
schiedenen Ursacben zustande gekommenen Storung der assozia¬ 
tiven Tatigkeit, bei der die Beziehungen zurAussenwelt gestort sind, 
d. h. die zusammenhangende und normale Auffassung der Wahr- 
nehmungen nicht vorhanden ist. Wie wir sehen, ist der Begriff der Be- 
wusstseinsstorung nicht nur unbestimmt, sondem er lasst sich stets 
durch eine psychologische Analyse auf eine Assoziationsleistung 
zuruckfiihren und ist somit ein entbehrlicher Hiilfsbegriff, der aber 
noch vielfach gebraucht wird, und zwar ganz im allgemeinen als Aus- 


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332 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


druck fiir gewisse Schadigungen der physiologischen Leistung der 
Himrinde, besonders im Hinblick darauf, dass das Gehim an 
Allgemeinerkrankungen des Korpers wie die anderen Korperteile 
teilnimmt und in spezifischer Weise mit „Bewusstseinsst6rungen“ 
reagiert. Wenn wir als physiologische Leistung der Himrinde das 
Umsetzen der durch die Sinnesorgane vennittelten Reize in 
Empfindungen und die femere Auslosung von Assoziationen be- 
trachten — was der Zustand ist, den wir als „ voiles Bewusstsein“ 
bezeichnen —, so ist das Bewusstsein die physiologische Leistung 
der Himrinde. Schadigungen, die das Gehim in seiner Eigenschaft 
als Assoziationsorgan oder Bewusstseinsorgan treffen, bewirken 
eine Storung oder Triibung des Bewusstseins, die sich durch eine 
psychologische Analyse als durch die verschiedensten Ausfalls- 
und Reizerscheinungen zusammengesetzt erweist, entsprechend der 
Kompliziertheit der Assoziationsleistung, die wir Bewusstsein 
nennen. Zu solchen Schadigungen gehoren fieberhafte Er- 
krankungen, Infektionen, Intoxikationen, Inanition; die auf diesem 
Boden entstandene Psychose weist gewohnlich das Bild der Ver- 
wirrtheit auf; unter dieser Bezeichnung hat man bekanntUch 
nichts anderes als die Inkoharenz der Ideenassoziation zu verstehen. 
Diese Inkoharenz nun ist es, welche der ganzen Amentiagruppe 
ihr spezifisches Geprage verleiht, so dass viele Psychiater sie von 
der Paranoia — auch von der Paranoia acuta — trennen zu miissen 
glauben. Indessen ist aber (durch Ziehen) nachgewiesen worden, 
dass die Inkoharenz bald gelegentlich, bald als Hauptsymptom 
im Verlaufe der akuten halluzinatorischen Paranoia auftritt, d. h. 
die akute halluzinatorische Paranoia s. str. und die dissoziative 
Paranoia sind klinisch ganz nah verwandte Krankheiten. Die 
Mannigfaltigkeit der auf der genannten Grundlage erscheinenden 
Krankheitsbilder ist so gross, dass von vielen Seiten Versuche 
gemacht worden sind, bestimmte Typen aufzustellen. Die von 
Ziehen und von Sommer gegebenen Varietaten sind schon erwahnt; 
Krafft-Ehingkennt nur eineForm.den halluzinatorischenWahnsinn; 
Kraepdin trennt das ,,Erschopfungsirresein“ in drei Gruppen: das 
Kollapsdelirium, die Amentia, die chronische nervose Erschopfung; 
als besondere Gruppe fiihrt er ausserdem die Infektions- und die 
Vergiftungspsychosen an. Nach Chadins Auffassung gehoren alle 
Falle der von uns Paranoia acuta hallucinatoria genannten 
Psychose der primaren Verwirrtheit, „Confusion mentale primitive** 
an. Rigis fiihrt diese Falle als zur Confusion mentale 1 ) gehorend 
an, die er in zwei Formen einteilt: Confusion mentale typique und 
Confusion mentale aigue; erstere zerfallt in 2 Typen: C. m. simple 
oder asth^nique und C. m. delirante (delire onirique); letztere (die 
Confusion mentale aigue) zerfallt in drei Typen: C. m. aigue stupide 
(Stupidity), C. m. agit^e (Confusion hallucinatoire aigue), C. m. 
m6ningitique (d61ire aigu). Von der systematisierenden Paranoia 


*) Ausserdem reehnct er die Dementia praecox zur Confusion mental© 
chronicjue. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


333 


trennt Rigis die genannten Formen ganzlich, die akuten syste- 
matisierenden Formen teilt er ebenfalla in mebrere Gruppen ein. 
Aehnlich verhalt sich Anglade in dieser Frage, der die genannten 
Psychosen als blosse ,.Syndromes psy chopathiques“ betrachtet und 
die Confusion mentale einteilt in: 1. C. m. asthAnique mit 3 Formen: 
Torpeur c6rebrale, D6mence aigue und Stupidity, und 2. C. m. 
hallucinatoire mit 3 Formen: k forme depressive, k double forme und 
avec delire systematise. 

Von Interesse ist die von Rigis gegebene Einteilung. Das 
Delire onirique diirfte der sogenannten „traumhaften Verworren- 
heit“ entsprecben, einem Zustande, in welcbem neben Inkoharenz 
namentlich Sinnestauschungen vorberrschen, wahrend unter Deiire 
asthenique einfacbe Inkoharenz verstanden wird, deren Typus 
sich dem der Stupiditat nahert. Regis halt diese Zustande fiir ganz 
spezifisch: „Cet ensemble morbide, fait de confusion mentale et 
de deiire onirique, est vraiment caracteristique, caracteristique k 
ce point qu’il implique toujours, k mon avis, le diagnostique 
d’intoxication. J’ai pu ainsi, par la seule constatation d’un 
deiire onirique k base plus ou moins confuse, conclure & l’existence 
d’une autointoxication restee latente ou ignoree et qui, dds lors, se 
reveiait manifestement.“ 

Aus dem Angefiihrten geht hervor, dass von mehrerenGesicbts- 
punkten aus Versuche gemacbt worden sind, die einzelnen Typen 
der genannten Psychosen zu erforschen und ihre Beziehungen zu 
einander festzustellen. Es handelt sich dabei stets um die 
„primaren“ paranoischen Symptome (Halluzinationen und Wahn- 
vorstellungen) auf der einen Seite und die primare Inkoharenz, die 
Verwirrtheit, auf der anderen und die aus ihrer Wechselwirkung sicb 
ergebenden Krankheitsbilder. Die innere Verwandtschaft dieser 
Krankbeitsbilder macht sich darin geltend, dass zwischen beiden 
Extremen — der reinen akuten halluzinatorischen Paranoia, der 
Halluzinose, und der reinen primar inkoharenten Varietat, der 
Amentia—eine iinunterbrochene Reihe vonZwischenstufen existiert, 
und zwar derart, dass die beiden genannten Formen gewissermassen 
die selten erreichten aussersten Grenzen vorstellen, zwischen denen 
sich die ungeheure Mehrzabl der hierher geborenden Falle bewegt. 
Dabei aussert sich bei den dem Typus der akuten halluzinatorischen 
Paranoia i. e. S. naher stehenden Fallen die Verwandtschaft mit der 
inkoharenten Form in der geringenBestandigkeit der auftauchenden 
psychischen Gebilde, in ihrer mangelnden logischen Begriindung 
sowie in ihrer diirftigen Systematisierung, wahrend andererseits das 
Auftreten von fliichtigen Halluzinationen und Wahnvorstellungen 
den Typus der Inkoharenz, der reinen Verwirrtheit, in der Richtung 
zur Halluzinose verschiebt. Femer treten zuweilen im Verlauf der 
akuten halluzinatorischen Paranoia in interkurrenterWeise Zustande 
von Inkoharenz auf, und zwar handelt es sich dabei nicht immer 
um eine sekundare Inkoharenz, etwa infolge von massenhaften 
Halluzinationen und Wahnvorstellungen oder heftigen Affekten, 

MonAtssehrift fttr Ptyohiatrie and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 23 


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334 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

sondem die Zustande von Inkoharenz sind auf ein zeitweises An- 
wachsen der Intensitat des zugrunde liegenden Prozesses zuriickzu- 
fiihren. Da ausser den genannten Grundsymptomen, die samtlich 
zum Gebiet der Storungen der Empfindungs- und Assoziations- 
tatigkeit gehoren, noch andere primare und sekundare dauemde 
Symptome auch auf affektivem und motorischem Gebiet auf- 
treten konnen, so geht hieraus hervor, dass auf dem Grunde der 
akuten hailuzinatorischen Paranoia die Entwicklungsmoglichkeit 
fiir eine ganze Reihe von Varietaten gegeben ist. Aber aucb die 
Inkoharenz, die Verwirrtheit, ist nichts Einheitliches, ihr Zustande- 
kommen kann sehr verschieden bedingt sein, und nur das Ergebnis, 
namlich die Erschwerung oder Aufhebung der einheitlichen, zu- 
sammenhangenden Assoziationstatigkeit ist scheinbar gleichartig. 
Bei der akuten hailuzinatorischen Paranoia i. e. S. haben wir es 
zunacbst mit einer „halluzinatorischen“ Verwirrtheit zu tun, d. b. 
es handelt sich urn eine sekundare Inkoharenz als Eolge von massen- 
haften Sinnestauschungen. „DieAssoziation als solcheisthiernormal, 
aber sie arbeitet mit einem pathologisch veranderten Vorstellungs- 
und Empfindungsmaterial, dessen Bewaltigung sie nicht gewachsen 
ist“ (Ziehen). Fritsch nimmt an, dass aus einem solchen halluzinato- 
rischen Stadium mit Notwendigkeit die Verwirrtheit hervorgeht, 
indes die Verwirrtheit dieser Art muss zu den nicht alltaglichen 
Erscheinungen gerechnet werden, denn vielfach oder sogar gewohn- 
lich bleibt der Zusammenhang der Assoziationen bei denjenigen 
Kranken erhalten, deren Krankheitserscheinungen sich auf 
Sinnestauschungen beschranken. Genau dasselbe Uesse sich von 
der sekundaren Inkoharenz infolge von massenhaften Wahn- 
vorstellungen sagen, die allerdings hauptsachlich bei gewdssen 
Formen der Paranoia simplex acuta vorkommen. Nichts Patho- 
gnomonisches bietet die in vielen Fallen der akuten halluzinatori- 
schen Paranoia vorkommende sekundare Inkoharenz infolge von 
Affektsteigerung. Es gibt femer noch eine Form der sekundaren 
Inkoharenz, die nur eine scheinbare Inkoharenz ist und nicht 
selten im Verlauf der akuten hailuzinatorischen Paranoia beobachtet 
werden kann. Eine solche scheinbare Inkoharenz kommt dann 
zustande, wenn der Bewusstseinsinhalt vorw'iegend oder aus- 
scbliesslich von den Halluzinationen und Wahnvorstellungen ge- 
bildet wird und die Aufmerksamkeit des Kranken vorzugsweise 
diesen Bewusstseinsinhalten zugewandt ist. Unter solchen Um- 
standen konnen die Eindriicke der Aussenwelt, da sie keine Auf¬ 
merksamkeit erregen, unter der Schwelle des Bewusstseins 
bleiben oder aber Ulusionar oder wahnhaft aufgefasst werden. Der 
Zusammenhang der Assoziationen braucht dabei nicht gestort 
zu sein, die Assoziationen konnen sich in normaler Weise an die 
hailuzinatorischen und illusionaren Wahmehmungen ankniipfen 
und weiter verarbeitet werden, auch in wahnhafter Weise. Die Be¬ 
ziehungen zur Aussenwelt sind in den Hintergrund getreten, der 
stete innere Zusammenhang mit der Aussenwelt ist unterbrochen 
oder aufgehoben: das Verhalten des Kranken, seine sprachlichen 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 335 

Aeusserungen, erscheinen mehr oder weniger inkoharent, aber eine 
echte Inkoharenz der Ideenassoziation liegt nicht vor. 

Die primare Inkoharenz pflegt haufig als ,,traumhafte Ver- 
wirrtheit“ aufzutreten; dieser Zustand ist vielfach beschrieben 
worden, deshalb sei hier kurz erwahnt, dass in diesen Fallen 
hauptsachlich das Gesamtgebiet der Auffassung gestort ist. 
Aeussere Reize werden illusionar aufgefasst, eine Kontrolle durch 
die Assoziationstatigkeit findet nicht statt. Die Merkfahigkeit ist 
erloschen oder doch sehr schwer beeintrachtigt. Der Gedankengang 
ist ganz vorzugsweise von sinnlichen, pathologisch veranderten und 
pathologischen Reizen abhangig, d. h. von Illusionen und fluchtig 
und wechselnd auftretenden Halluzinationen und wird durch die 
Assoziationstatigkeit nicht einer Urte.Iskontrolle unterworfen. Diese 
Form der primaren Inkoharenz ist typisch fur akute, delirante 
Zustande. 

Femer tritt die Inkoharenz auf in der Form der „zerfahrenen 
Verwirrtheit“ (Kraepelin). Die Auffassung ist erhalten, aber es 
„findet hier ein Forfcschreiten des Gedankenganges nach irgend 
einer Richtung iiberhaupt nicht statt, sondern nur ein planloses 
Herumfahren in denselben allgemeinen Bahnen mit zahlreichen, 
verbliiffenden Abirrungen. Vielfach wiederholen sich ahnliche 
Wendungen, freihch meist in ganz unklaren und widerspruchs- 
vollen Formen. Die Ablenkbarkeit durch innere und aussere 
Einfliisse kann hier ebenfalls sehr gross sein, aber die neu erweckten 
Vorstellungen bedingen keine Richtungsanderung, sondern schieben 
sich einfach zusammenhang^los in die zerfahrenen Gedankengange 
ein. Es gelingt oft ohne Schwierigkeit, durch Fragen mitten in 
dem Wirrwarr von Vorstellungen eine Reihe vollstandig geordneter 
Antworten zu erzielen.“ Diese Form ist den chronischen Fallen 
eigentiimlich. 

Femer gibt die Komplikation der Inkoharenz mit motorischer 
Erregung oder Stupor oder mit primaren Affektstorungen dem 
Rrankheitsbilde ganz eigenartige, charakteristische Ziige, die viele 
Forscher zur Aufstellung besonders klinischer Typen angeregt 
haben. 

Wenn wir unter den vielseitigen und zahlreichen Forschungs- 
ergebnissen, die aus den Untersuchungen iiber die Erscheinungs- 
formen der uns beschaftigenden Psychosen hervorgegangen sind, 
diejenigen besonders beriicksichtigen, die sich einem einheitlichen 
Gesichtspimkt bei der Analyse der Krankheitsbilder imterordnen 
lassen, so gelangen wir zur folgenden Reihe von klinischen Typen, 
die samtlich im Begriffe der akuten halluzinatorischen Paranoia 
im weiteren Sinne enthalten sind. Zunachst werden die Varietaten 
mit primaren Affekt- und Assoziationsstorungen nicht mit ange- 
fiihrt, ausgenommen die doch wohl mit Recht eine Sonderstellung 
einnehmenden Falle mit primarer Inkoharenz. 

Wir konnen unterscheiden: 

1. Die Halluzinose (Wernicke), den halluzinatorischen Wahn- 
sinn (Sommer), „es handelt sich um eine durch Halluzinationen 

23* 


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336 Bresowsky, Uelier die Bezielningen <ie” Paranoia acuta 


bedingte Wahnbildung, welche bei Wegfall der Halluzinationen 
spurlos verscbwindet.“ Die Halluzinationen konnen fliichtig sein 
und wechseln, mit ihnen wechseln die Wahnvorstellungen; die 
Orientiertheit und Besonnenheit konnen erhalten sein, es kann aber 
auch zu sekundarer Inkoharenz infolge massenhafter Sinnes¬ 
tauschungen kommen. Die Form entspricht wohl auch der von 
Westphal erwahnten halluzinatorischen Form. ,,Der Inhalt der 
Halluzinationen und die sich daran kniipfenden Wahnvorstellungen 
sind Verfolgungs- und Grossenideen.“ 

2. Die Form der halluzinatorischen Paranoia, bei der ausser 
den Halluzinationen und Hlusionen primare, nicht-halluzinatorische 
Wahnvorstellungen auftreten. An die Sinnestauschungen und Wahn¬ 
vorstellungen kniipfen sich zuweilen weitere Wahnvorstellungen 
an, doch kommt es nicht zu einer logischen Systembildung, da die 
Wahngebilde zu unbestandig sind und der Kranke sie nicht durch 
Einbeziehung seiner sonstigen Wahmehmungen stiitzt oder 
kontrolliert. Die Orientiertheit und die Besonnenheit konnen er¬ 
halten sein, haufig ist sekundare Inkoharenz. 

3. Eine Form der akuten halluzinatorischen Paranoia, bei 
der primar Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen auftreten, 
die Sinnestauschungen aber bald verblassen, so dass die Wahn¬ 
vorstellungen in den Vordergrund des Krankheitsbildes treten. 
Es kommt zur Ausbildung eines zuweilen ausserlich leidlich ge- 
schlossenen Systems, das aber nur diirftig oder gar nicht von den 
sonstigen Wahrnehmungen des Kranken gestiitzt oder ausgebaut 
wird. Die Orientiertheit und die Besonnenheit sind gewohnlich er¬ 
halten, es kommen aber auch interkurrente Zustande mit reich- 
lichen Sinnestauschungen und sekundarer Inkoharenz vor, anderer- 
seits kann der Zustand dem Bilde der chronischen einfachen 
Paranoia sehr ahnlich sein. 

Diese Formen stellen nichts von einander streng Geschiedenes 
dar; man beobachtet nicht selten, dass eine in die andere ubergeht; 
charakteristisch ist nur das primare Auftreten der paranoischen 
Symptome bei erhaltener Orientiertheit und bloss gelegentlicher, 
sekundarer Inkoharenz. Gewissermassen eine Steigerung dieser 
Formen in der Richtung zur Inkoharenz stellt die von Sommer 
speziel) als 

4. halluzinatorische Verwirrtheit bezeichnete Form vor. Wir 
haben es hier mit primarer Inkoharenz und Sinnestauschungen zu 
tun, wozu noch gewohnlich gesteigerte affektive Erregbarkeit 
kommt. Diese Form entspricht im wesentlichen der Meynerts chen 
klinischen Darstellung. Infolge der Inkoharenz ist eine systema- 
tische Wahnbildung ausgeschlossen, die Orientiertheit geht verloren. 

In der Richtung zur Stupiditat, die iibrigens von vielenForschem 
ebenfalls zu den hierher gehorenden klinischen Formen gerechnet 
wird, steht die reine, einfache 

5. primare Inkoharenz, die von Chaslin besonders eingehend 
beschriebene Form, bei der aber ebenfalls haufig sich ganz fliichtige, 
abgerissene Wahnvorstellungen und Halluzinationen finden; aller- 


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hallucinatoria (Wastplial) zur Amentia (Meynert). 337 

dings gehoren sie nicht zum klassischen Bilde der prim&ren In¬ 
koharenz, es zeigt sich darin aber die Verwandtschaft zu den schon 
erwahnten Formen. Es ist fiir diese Form die Schwerbesinnlichkeit 
charakteristisch, franzosische Autoren reden von Prostration — 
torpeur c6r6brale — stupidity, sie entspricht zum Teil Meynert's 
Form der Amentia obne Reizerscheinungen. Damit ist aber die 
Formeniibersicht nicht erschopft. Namentlich franzosische Autoren 
bestehen auf der gesonderten Stellung der ,,traumhaften Verwirrt- 
heit“, des D61ire onirique, dem die psychopathologischen Eigen- 
tiimlichkeiten zukommen, die den Zustand der traumhaften Ver- 
w irrtheit bedingen und die oben bereits erwahnt sind. Grosse 
Schwierigkeiten diirfte zuweilen die Abgrenzung dieser Form 
von der gewdhnlicben halluzinatorischen Verwirrtheit machen; 
Meynert beschreibt diese Zustande eingehend, ohne ihnen eine 
Sonderstellung einzuraumen, doch passt seine Varietat der „hallu- 
zinatorischen oder illusorischen Verwirrtheit durch die ganze 
Krankheitsdauer“ sehr gut auf die „traumhafte Verwirrtheit". Be- 
merkenswert ist, dass Regis, der ein Ineinander-Uebergehen der 
anderen Typen der von ihm als Confusion mentale bezeichneten 
Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia annimmt, ein 
solches Verhalten des Delire onirique nicht anfiihrt, wohl aber 
bemerkt, dass diese Form nichts anderes sei als die einfache Ver¬ 
wirrtheit mit Delirien. Rovbinowitsch trennt das D61ire onirique 
ganzlich von der Confusion mentale. 

Gemeinsam ist, vvie wir sehen, den letzterwahnten Formen die 
primare Inkoharenz, d. h. im einzelnen die Inkoharenz des Ge- 
dankenablaufs, die Unorientiertheit und die motorische Inkoharenz, 
was alles zusammen das Zustandsbild der Verwirrtheit ergibt. Ob- 
gleich die psychologische Grundlage der inkoharenten Formen sich 
in charabteristischer Weise von denjenigen der anderen Formen 
der akuten halluzinatorischen Paranoia unterscheidet, lehrt die 
klinische Erfahrung, wie schon erwahnt, ihre enge Zusammen- 
gehorigkeit mit den letzteren, so dass alle erwahnten Formen als 
Verietaten einer und derselbenKrankheit auftreten; femer stimmen 
sie auch darin mit den iibrigen Erscheinungsformen der akuten 
halluzinatorischen Paranoia iiberein, dass sie in gleicher Weise 
komplizierende primare Symptome auf affektivem und motorischem 
Gebiet aufweisen. Von der Analogie oder vielmehr Identitat der 
Aetiologie wird spater die Rede sein. 

Die klinische Erfahrung lehrt weiter, dass das von Meynert 
als charakteristisch fiir die Amentia bezeichnete Symptom, die 
Verwirrtheit, die Zusammenhangslosigkeit in den Aeusserungen und 
Handlungen, sich keineswegs auchnur voriibergehend in allenFallen 
der halluzinatorischen akuten Paranoia findet; es gibt Falle, in 
denen die Ordnung des Gedankenganges und der adaquate 
Stimmungszustand nicht im geringsten krankhaft verandert sind, 
so dass die Bezeichnung „Verwirrtheit“, „Amentia“ fiir das Ge- 
samtgebiet der akuten halluzinatorischen Paranoia nicht zutreffend 
ist und die Verwirrtheit nicht stets als Grundlage des „akuten 


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338 B r e s owsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


Wahnsinns“ zu gelten hat. Der Bewusstseinszustand vieler Falle 
unterscheidet sich nicht von demjenigen der cbronischen Paranoia 
simplex, es unterscheidet sich nur der Verlauf und die Aetiologie, 
wenigstens in den meisten Fallen. 

Im Gegensatz zu den meisten iibrigen Psychosen ist die Aetio¬ 
logie der zur Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia ge- 
horenden Psychosen in der grossen Mehrzahl der Falle bekannt und 
ergibt sich aus der Anamnese: in den meisten Fallen werden als 
Ursache der Erkrankimg akute Erschopfung, akute Infektion und 
akute oder chronische Intoxikation exmittelt. Es ist augenschein- 
lich, dass die infolge von Infektionen und Intoxikationen (auch 
Autointoxikationen) entstehenden Falle als Folgen von Gift- 
wirkungen betrachtet werden miissen, die ihren Einfluss auch nach 
der direkten Einwirkung aussem, und zwar weil sie Veranderungen 
hervorgebracht haben, die nunmehr die Grundlage sind von 
selbstandigen, von der direkten Einwirkung der erwahnten 
atiologischen Faktoren unabhangigen Psychosen. Wir konnen uns 
somit vorstellen, dass in diesen Fallen eine organische Veranderung 
der Gehimsubstanz vorliegt, welche die Folge einer chemischen 
Einwirkung ist; diese Veranderung kann sich wieder ausgleichen, 
sie kann aber auch in schweren Fallen einen solcben Umfang an- 
nebmen, dass die Psychose sowohl klinisch wie pathologisch- 
anatomisch zu den organischen zu rechnen ist. Aehnlich verhalt 
es sich mit den Erschopfungspsychosen, die kaum von den oben 
erwahnten zu trennen sind. In den ganz reinen Fallen miisste es sich 
um eine Erkrankung handeln, die als Folge des zu raschen Ver- 
brauchs oder ungeniigenden Ersatzes der zur normalen Funktion 
der Gehimzellen notwendigen Substanzen auftritt. Wir haben es 
also auch hier mit einer veranderten Zusammensetzung der Gehim¬ 
substanz zu tun; es lasst sich aber wohl kaum etwas dariiber sagen, 
wie gross der Anted der moglicherweise eine Giftwirkung aussera- 
den Zerfallsprodukte am Zustandekommen der Psychose ist; 
Kraepelin spricht von der narkoseahnlichen Wirkung der „Er- 
miidungsstoffe". Es wiirde sich also auch in einem solchen Fall um 
eine Art Intoxikation handeln. Uebrigens ist die Zahl der aus- 
schUesslich auf eine Erschopfung im Sinne von gesteigerter Er- 
miidung zuriickzufiihrenden Fade von psychischer Erkrankung 
nur ganz gering oder vielleicht gleich Null, denn man wird wohl 
stets neben dem einfachen Verbrauch und fehlenden Ersatz von 
notwendigen Substanzen andere Faktoren annehmen miissen, zum 
mindesten nicht ausschliessen konnen, vergl. Kraepelin, der an- 
fiihrt, dass das Gebiet der Amentia ,,bei sorgfaltiger Priifung und 
Verfolgung der Falle bis auf eine kleine Gruppe im Gefolge von 
ansteckenden Krankheiten zusammenschrumpft; auch hier wird 
die Verursachung durch Gifte immer wahrscheinlicher“. Uebrigens 
entsteht die Psychose haufig durch das Zusammenwirken der ge- 
nannten Ursachen, besonders gem treten kombiniert auf die In¬ 
fektion und die Erschopfung. Krafjt-Ebing gibt an, dass die 
Krankheitsbilder des halluzinatorischen Wahnsinns auf dem Boden 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


339 


der funktionellen Erschopfung, der Asthenie des Nervensystems 
stehen. Diese Abhangigkeit der Erkrankung von einem exogenen 
Paktor, der eine chemische Beeinflussung und somit eine materielle 
Veranderung der Gehimsubstanz hervorzubringen imstande ist, 
veranlasst viele Psychiater, die auf dem Boden der Infektion und 
Intoxikation entstehenden Falle der akuten halluzinatorischen 
Paranoia nicht in demselben Sinn als selbstandige Psychosen zu 
betrachten wie z. B. die chronische Paranoia simplex, sondem sie 
fassen sie nur als symptomatische Aeusserungen eines anderen 
„Grundleidens“ auf, dass fur die Diagnosestellung massgebend ist. 
Cf. neben vielen anderen Autoren Toulouse: ,,Au fond la confu¬ 
sion mentale n’est encore qu’un symptome, un gros symptome 
qui ne parait pas constituer une maladie essentielle primitive . . 

Es wird also diesen Fallen die Bedeutung eines Symptomes zuer- 
kannt, das nicht weit von den verschiedenen Formen der Delirien 
steht, zu denen ubrigens bekanntlich Uebergangsformen existieren 
und gegen die eine feste Abgrenzung kaum moglich erscheint. 
Schon Fiirstner wies darauf hin, dass sich der Differentialdiagnose 
zwischen Puerperalpsychosen, d. h. ,,Zustanden von Angst, Auf- 
regung und Verwirrtheit“, und Fieberdelirien Schwierigkeiten in den 
Weg stellen, ja, sie unmoglich machen konnen. Meynert bemerkt: 
„Die fieberhaften Krankheiten sind Ursachen der Amentia, ja, das 
Fieberdelirium selbst eine Form derselben . . . Der Zusammen- 
hang einer akuten Krankheit mit Amentia ist ein doppelter, 1. durch 
das floride Stadium und 2. durch die Erschopfung in der Rekon- 
valeszenz.“ Die Bedeutung der Erschopfung ids unmittelbare 
Krankheitsursache im Sinne Meynerts wird von den Vertretem der 
oben erwahnten Anschauungen meist nicht gewiirdigt und der 
Zusammenhang zwischen Ursache und Erkrankung dadurch als fast 
unmittelbar gedacht. Wahrend einige (hauptsachlich franzosische) 
Psychiater die Psychosen der Amentiagruppe lediglich als „Syn- 
drome“ auffassen, ohne ein Gewicht auf den Unterschied der Ent- 
sehungsweise zu legen, zerlegen andere die Gruppe in besondere 
Infektions-, Vergiftungs- und Erschopfungspsychosen; Ziehen 
endlich (wie auch Krafft-Ebing) betrachtet im Sinne Meynerts die 
Gruppe als eine klinische Einheit von Krankheitsbildem, und zwar 
von der Bedeutung einer vollentwickelten, selbststandigenPsychose. 
Die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus eine solche ver- 
schiedene Beurteilung derselben Krankheitsbilder erfolgt, sind uns 
bekannt; was Meynert anbelangt, so widmet er seine Aufmerksam- 
keit vorwiegend der klinischen Erscheinung der Amentia, ohne sich 
eingehend mit der Aetiologie zu befassen. Es fragt sich nun im Hin- 
blick auf die erwahnte verschiedene Beurteilung, ob tatsachlich 
ein von der Aetiologie abhangiger Unterschied in der Erscheinungs- 
form der aus diesen Ursachen hervorgehenden Psychosen sich in 
konstanter Weise beobachten lasst, und ob dieser Unterschied so 
wesentlich ist, dass er eine Trennung in verschiedene Gruppen recht- 
fertigt. Denn wenn es sich ergibt, dass die aus den erwahnten ver¬ 
schiedenen Ursachen hervorgehenden Psychosen das gleiche 


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340 Bresoweky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

klinische Bild darbieten — was im grossen und ganzen der Fall ist—, 
so hat eine Zerlegung der ganzen Gruppe der akuten halluzina- 
torischen Paranoia in verschiedene Psychosen nach atiologischen 
Gesichtspunkten doch wohl nur ein vorwiegend theoretisches 
Interesse. Anglade, Sottier, Regis, auch Chaslin u. A. lehnen eine 
solche Trennung dnrchaus ab, die erstgenannten mit dem aus- 
driicklichen Hinweis auf die klinische Identitat der Krankheits- 
bilder, die sie zur Confusion mentale rechnen. Ziehen aussert sioh 
in dieser Frage folgendermassen: „Selbst wenn ein bestimmtes 
atiologisches Moment eine Psychose mit besonderer Vorliebe hervor- 
bringt oder alien typischen Psychosen eine besondere „schatten- 
werfende" Farbung verleiht, so scheint mir damit die Aufstellung 
einer atiologisch definierten Psychose noch nicht ausreichend ge- 
rechtfertigt, wenigstens dann nicht, wenn damit der Verzicht auf 
die Einreihung in eine andere, nicht atiologische Klassifikation 
ausgesprochen werden soil . . . Eine Ausnahme ware nur dann 
statthaft, wenn eine bestimmte, klinisch charakterisierte Psychose 
stets nur aus einem atiologischen Momente sich entwickelte . . . 
Der umgekehrte Satz, dass ein bestimmtes atiologisches Moment 
stets dieselbe Psychose hervorbringe, ist erst recht falsch: die Er- 
schopfung erzeugt in einem Fall eine Manie, in einem anderen eine 
akute Demenz, in einem dritten vielleicht die sogenannten asthe- 
nischen Delirien usw.“ Uebrigens bemerkt Ziehen, dass bei den 
Erschopfungs- und Infektionsformen sich haufig schon sehr friih 
primare Inkoharenz einstelle, so dass das Krankheitsbild der 
dissoziativen Form, der Amentia im engeren Sinn, entstehe, wahrend 
bei den toxischen Formen die Massenhaftigkeit der Sinnes- 
tauschungen auffallend sei und Inkoharenz seltener und meist 
sekundar auftrete. 

Aehnliche Angaben finden wir haufig in der Literatur, aller- 
dings ohne nahere Angaben fiber die Rolle der Inkoharenz in dem 
angegebenen Krankheitsbilde; eine nahere, konstante Beziehung 
zwischen Ursache und Erscheinungsform ist nicht nachgewiesen 
worden; die sich speziell mit der Aetiologie der Geisteskrankheiten 
befassenden Arbeiten, z. B. von Toulouse und von Meyer, stehen 
auf demselben allgemeinen Standpunkt. Ueber die Erscheinungs¬ 
form der Infektionspsychosen bemerkt Toulouse: „Toutes les 
formes vesaniques ont 4te observes. Cependant l’une d’elles, la 
confusion mentale, a 6te souvent notee . . und an anderer 
Stelle: „En resume les delires f4briles sont comparables 4 ceux 
produits par une intoxication minerale, alcool ou plomb.“ Damit 
istgesagt, einerseits,dass die Intoxikations- und Infektionspsychosen 
dieselbe klinische Erscheinungsform haben konnen, also dass ver- 
schiedene Ursachen Psychosen von gleicher Art ergeben konnen, 
und andererseits, dass die Infektionspsychosen zwar haufig unter 
dem Bilde der „Verwirrtheit“ (Amentia) auftreten, dass aber auch 
andere Erscheinungsformen beobachtet werden, d. h. dass gleiche 
Ursachen Psychosen von verschiedener Art ergeben konnen. 

Was nun die Ursachen und die von ihnen in konstanter Weise 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


341 


hervorgerufenen Symptome anbelangt, so wird allerseits die Tat- 
saohe festgestellt, dass die Intoxikationen vorwiegend Krankheits- 
bilder mit Sinnestauschungen hervorzurufen pflegen, diese Krank- 
heitsbilder gehoren vorzugsweise zur akuten halluzinatorischen 
Paranoia i. e. S. Nehmen wir z. B. die praktisch wichtigste In- 
toxikation, den Alkoholismus. Mit Bonhoffer unterscheiden wir 
nnter den akuten Alkoholpsychosen das Delirium tremens, die 
Korsahnoaohe Psychose und die akute Halluzinose der Trinker. Von 
den oben erwahnten klinischen Spielarten der akuten halluzina- 
torischen Paranoia wiirde wohl die „halluzinatorische Verwirrtheit“ 
dem Delirium tremens und der Korsakowschen Psychose entsprechen, 
wahrend die akute Halluzinose der Trinker sowohl als reine Hallu- 
zinose als auch als akute „halluzinatorische Paranoia d. e. S.“ 
anzusehen ware. Femer gibt es (nacb Wernicke) Falle, in denen 
nach dem Schwinden der Halluzinationen die Wahnideen noch 
weiter festgehalten werden, ehe die Genesung eintritt. Bei der be- 
kannten Neigung dieser Falle zur Systematisierung bieten sie also 
wenigstens zeitweilig das Bild der Paranoia simplex dar, die in den 
chronischen Formen als „Eifersuchtswahn“ aufzutreten pflegt. 

Nach den sehr zahlreichen Angaben in der Literatur treten die 
Infektionspsychosen vorzugsweise als „halluzinatorische“, „traum- 
hafte“ oder auch einfache Verwirrtheit auf, also zeigen sie ge- 
wohnlich inkoharente Formen. Meyer bemerkt zu den Infektions¬ 
psychosen: „Ihr klinisches Bild steht . . . den Fieberdelirien 
sehr nahe und setzt sich aus Bewusstseinstriibung, Erregung und 
Sinnestauschung zusammen.“ Mit diesen Worten ist die haufigste 
Erscheinungsform der Infektionspsychosen charakterisiert, die also 
den inkoharenten Varietaten der akuten halluzinatorischen Paranoia 
angehort. Es kommen aber ebenfalls — abgesehen von ganz 
anderen Psychosen, wie z. B. Melancholie — Falle vor, die den 
Typus der Paranoia mit primaren Wahnbildungen und Hallu¬ 
zinationen aufweisen. 

Das Moment der Erschopfung spielt bei den Infektions¬ 
psychosen eine wichtige Rolle — haufig ist die Infektionskrankheit 
die Ursache der Erschopfung, und die entstehende Psychose muss 
als Folge der auf das erschopfte Gehirn einwirkenden, der In¬ 
fektionskrankheit entstammenden Einflusse angesehen werden. 
Es ist nicht moglich, in solchen Fallen eine zuverlassige Trennung 
zwischen den Infektions- und den Erschopfungspsychosen durch- 
zufiihren. Es gibt Autoren, die Erschopfungspsychosen gar nicht 
anerkennen und die hierher gehorenden Falle zu den Intoxikations- 
und Infektionspsychosen rechnen. Vergleiohen wir damit die An- 
schauung Meyers von der chronischen Erschopfung: sie bewirkt 
„wohl sicher eine Herabsetzung der allgemeinen Widerstands- 
fahigkeit des Korpers und begiinstigt auf diese Weise die Ent- 
wicklung von Storungen, welche ohne ihre Mitwirkung vielleicht 
nicht zustande gekommen waren“. Meynert halt die nutritive Er- 
schopfung fur die eine der Ursachen der idiopathischen Amentia, 
auf eine vorzugsweise infolge der nutritiven Erschopfung auftretende 


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342 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


bestimmte Erscheinungsform weist er nicht hin. Die klinische 
Erfahrung lehrt, dass alle oben erwahnten Formen der akuten 
halluzinatorischen Paranoia, sowohl die typischen Formen wie auch 
die Varietaten, diese Ursache haben konnen, allerdings muss dabei 
die Moglichkeit, dass es sich dabei zuweilen auch um autotoxische 
Vorgange handeln kann, nicht iibersehen werden. Sommer gibt die 
halluzinatorische Verwirrtheit als Symptomenkomplex an, der 
u. a. auch bei Erschopfung auftritt. Ziehen weist darauf hin, dass 
auf diesem Boden am haufigsten neben den Inanitionsdelirien 
die Stupiditat und die halluzinatorischen und die inkoharenten 
Foimen der akuten Paranoia vorkommen, sowie alle Uebergangs- 
formen zwischen diesen Typen. Hier waren noch die auf experimen- 
tellem Wege ermittelten Angaben Kraepelins zu erwahnen, welche 
uns eine Vorstellung da von geben, in welcher Richtung die Sym- 
ptome einer nur auf Erschopfung beruhenden Psychose zu finden 
waren: wir werden etwa an die Symptome der Stupiditat und an die 
Inkoharenz denken miissen, auch an den Symptomenkomplex des 
Kollapsdeliriums. Die praktische Erfahrung lehrt, wie schon er- 
wahnt, dass ein bestimmter Zusammenhang zwischen der Aetiologie 
und der Erscheinungsform der Erschopfungspsychosen nicht fest- 
zustellen ist. Wir stellen das auch dann fest, wenn wir die Aetiologie 
einschranken, d. h. aus der Zahl der Erschopfungspsychosen die 
auf ein bestimmtes Moment zuriickgehenden allein untersuchen, 
z. B. die Puerperalpsychosen; allerdings stossen wir bei diesem Bei- 
spiel auf die verschiedenste Beurteilung: werden sie doch nicht 
nur als Folgen der Erschopfung, sondem auch als Folgen der In- 
fektion und der Autointoxikation angesehen, und wird schliesshch 
die Entbindung selbst nicht als Ursache, sondem als Gelegenheits- 
ursache, als Anstoss zur Manifestierung eines latent schon vor- 
handenen Leidens betrachtet. 

Fassen wir alles Erorterte kurz zusammen, so konnen wir 
nur die von Ziehen gemachten Bemerkungen wiederholen, namlich 
dass die toxischen Formen am haufigsten mit vorwaltenden Sinnes- 
tauschungen und die infektiosen und Erschopfungsformen am 
haufigsten mit vorwaltender Inkoharenz verlaufen, genauere An¬ 
gaben lassen sich dariiber nicht machen. Selbst die viel einfachere 
Frage, warum in einem Falle auf der Basis des chroniscben Alko- 
holismus ein typisches Delirium, bei einem andero eine Halluzi- 
nose sich entwickelt, beantwortet Bonhoffer mit einem Hinweis 
auf die Differenz in individuellen Momenten und mit einer auf die 
Lokalisationslehre sich stiitzenden Hypothese, neben welcher auch 
Intensitatsunterschiede der Intoxikation von Bedeutung sein 
wiirden, d. h. eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und 
Symptomenkomplex kann auch unter verhaltnismassig giinstigen, 
einfachen Bedingungen nicht angegeben werden. 

Von weiteren atiologischen Faktoren ist das Trauma nach 
Meynert eine wichtige Ursache, ,,hauptsachlich der amnestischen 
und transitorischen Formen“. Unter dieser Bezeichnung versteht 
Meynert die Dammerzustande, die ja tatsachlich symptomatisch der 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


343 


akuten halluzinatorischen Paranoia nahe stehen, und zwar so nahe, 
dass man sie von der Psychose kaum trennen kann. Nach Ziehen 
ist das Krankheitsbild „durch massenhafte Halluzinationen, 
Unorientiertheit, Inkoharenz, Schwindel, Koordinationsstorungen, 
tobsiichtige Erregung und Angstaffekte“ charakterisiert, anch be- 
merkt Ziehen, dass bei den Dammerzustanden ,,Halluzinationen 
und Wabnvorstellungen ausnahmsweise fehlen konnen, wahrend 
die Orientierung und der Zusammenhang der Ideenassoziation 
stets gestort ist“. Ob wir nun nach den heutigen Anschauungen die 
Dammerzustande von den Psychosen trennen oder sie mit Meynert 
als amnestische oder transitoriscbe Form einer Amentia betrachten, 
wir wissen, dass diese Krankheitsbilder ganz vorzugsweise den 
Formen mit Inkoharenz und Sinnestauschungen, der ,,halluzina¬ 
torischen Verwirrtheit“ i. e. S. angehoren. 

Die Frage der Bedeutung der hereditaren Belastung bei den 
an akuter halluzinatorischer Paranoia erkrankenden Individuen ist 
insofern von ganz besonderem Interesse, als die Annahme einer 
solchen Belastung viele Autoren veranlasst hat, besondere Er- 
scheinungsformen aufzustellen, die zum Teil nur bei hereditiir 
Belasteten vorkommen, zum Teil durch den Einfluss der hereditaren 
Belastung vom gewohnlichen Typus abweichen. Zu den exogenen 
„Gelegenheits“ursachen kommen die endogenen Ursachen, die bei 
manchen Formen eine ganz uberragende Bedeutung haben. 

Nach Ziehen lasst sich in ungefahr 50 pCt. aller Falle eine 
hereditare Belastung nachweisen; Meynert steht wohl ungefahr auf 
demselben Standpunkt; er fiihrt aber an, dass nach KaMbaum und 
WiUe die Vererbung bei der Amentia eine geringe Rolle spiele. Eine 
bestimmte Beziehung der hereditaren Belastung zur Erscheinungs- 
form wird bei den genannten Autoren nicht erwahnt. Diejenigen 
Psychiater, welche die akute halluzinatorische Paranoia vorzugs¬ 
weise als Reaktion des Gehirns gegen eine scbadliche Einwirkung 
von Infektion und Intoxikation betrachten — namentlich als 
Reaktion eines erschopften Gehirns —, sind geneigt, den Einfluss 
der Belastung in diesen Fallen gering anzuschlagen, die ganze Gruppe 
ist ihrer Meinung nach zu den exogenen Psychosen zu rechnen. 
Aber auch andere Autoren, die die akute halluzinatorische Paranoia 
nicht ausschliesslich als aus exogenen Ursachen hervorgehende 
Psychose betrachten, kommen einer solchen Auffassung ziemlich 
nahe: Regis z. B. gibt an, dass in der Aetiologie der Confusion 
mentale das wichtigste die Gelegenheitsursache, die Infektion oder 
Intoxikation sei, weniger wichtig seien die „influences h6r6ditaires 
diath6siques“, und noch weiter im Hintergrunde stehen die 
„influences v6eaniques“. Aber aus der Auffassung der akuten 
halluzinatorischen Paranoia als Reaktion des Gehimes gegen eine 
schadliche Einwirkung ergibt sich die Frage: reagiert ein bereditar 
belastetes Gehirn auf eine solche Einwirkung ebenso oder anders 
als ein normales ? Einen solchen besonderen Typus, der ausser dem 
abweichenden Symptomenbilde namentlich einen besonderen Ver- 
lauf hat, nehmen z. B. Krajjt-Ebing und auch Schiile an, doch be- 


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344 Bresowsky , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

zieht sich diese ihro Angabe keineswegs bloss auf die Paranoia acuta 
halluzinatoria: es ist eine allgemeine, charakteristische Abweichung 
vom normalen Typus, die lediglicb eine Folge der hereditaren Be- 
lastung des „invaliden Gehims“ (Schiile) ist. 

Diejenigen Psychiater, die die akute halluzinatorische Paranoia 
fiir eine einfache funktionelle Psychose halten, schreiben der 
Hereditat etwa die Bedeutung zu, die sie bei den affektiven ein- 
faohen Psychosen hat. Der Prozentsatz der Falle mit nachge- 
wiesener hereditarer Belastung muss aber sich als viel kleiner bei 
der akuten halluzinatorischen Paranoia herausstellen als bei der 
Manie oder Melancholie, weil namlich die erstere tatsachlich viel- 
fach bloss als Reaktion aufzufassen ist, wie oben erwahnt. Wir 
finden denn auch in den Lehrbiichem betrachtlich hohere Zahlen 
fiir den Prozentsatz der hereditaren Belastung bei den affektiven 
Psychosen. Dazu iiussert sich Anglade: . . . „Le terrain sur lequel 
6volue la confusion mentale ne differe de celui des psychonevroses 
que par la part plus restreinte qui y revient 4 l’ber6dite.“ 

Fiir eine ganz spezifische, nur bei hereditar Belasteten vor- 
kommende Form wird von franzosischen Psychiatern (Regis) eine 
Form der akuten halluzinatorischen Paranoia gehalten, bei der der 
systematisierte Wahn besonders bemerkenswert ist, doch wird an- 
gegeben, dass die?e Form sich nicht sicher von den nicbt auf here¬ 
ditarer Basis entstehenden Varietaten der Confusion mentale 
trennen lasst (z. B. von der Confusion hallucinatoire avec d61ire 
systematise). Die Sonderexistenz dieser Form ist, wie zugegeben, 
etwas zweifelhaft, um so mehr, als das „D<Slire d’emblee, multiple, 
polymorphe des d6g6n6res“, das wohl zur akuten Paranoia simplex 
zu rechnen ist und das als spezifische Psychose der hereditar Be¬ 
lasteten gilt, ebenfalls mit der erwahnten Form viel Gemeinsames 
hat imd nichts fin- eine strikte Trennung Verwertbares angegeben 
werden kann. 

Die klinische Erfahrung lehrt, dass ausser den auf exogene und 
endogene Ursachen zuriickzufiihrenden Fallen eine betrachtliche 
Zabl von mit den Symptomen der akuten halluzinatorischen 
Paranoia verlaufendenErkrankungen nicht mit Sicherheit auf irgend 
eine bekannte Ursache zu beziehen ist. Einer solchen Spontan- 
erkrankung kommen vielleicht die Falle nahe, in denen trotz einer 
bekannten exogenen Ursache der Verlauf der Krankheit ein vom 
gewohnlichen, typLschen Bilde abweichender ist, sei es durch das 
Auftreten von besonderen Symptomen, sei es durch eine ab- 
weichende Verlaufsart. Die Spontanerkrankungen \veisen namlich 
besonders haufig diese Abweichungen auf. Diese Eigentiimlichkeiten 
sind von vielen Psychiatern als hinreichend charakteristisch und 
wdchtig aufgefasst worden, um sie als typische Symptome von 
anderen, von der Paranoia acuta hallucinatoria zu trennenden 
Psychosen, anzuerkennen. 

Anderereeits gibt es unzweifelhaft (cf. Thomsen) Falle von 
akuter halluzinatorischer Paranoia, die auf keine bestimmte Ur- 
.sache zuriickzufuhren sind, die aber den gewohnlichen Typus der 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 345 

Psychose zeigen und weder besondere Komplikationen nooh eine 
abweichende Verlaufsart zeigen. Die Erscheinungsform dieaer 
Falle ist entweder die systematisch paranoische oder die ver- 
wirrt paranoische, auch bier gehen diese Zustande haufig inein- 
ander fiber. An der selbstandigen Existenz dieser Falle zu 
zweifeln oder sie als episodischc Exazerbationen im Lauf einer 
chronischen Psychose aufzufassen, liegt kein Grund vor, da in der 
Literatur zahlreiche hierher gehorige Falle mit sich fiber eine ganze 
Reihe von Jahren erstreckenden Katamnesen angeffihrt werden. 
Zwar sind diese Falle nur dann sicher fiberzeugend, wenn sie mit 
Genesung enden — und namentlich solche Falle sind veroffentlicht 
worden, — es liegt aber doch wohl kaum ein Grund vor, die hierher 
gehorenden Falle deshalb ffir ungeeignet ftir eine Durchmusterung 
zu halten, weil sie nicht in Genesung, sondern in Heilung mit 
Defekt oder in sekundare Demenz ausgingen. Es ist nur der Nach- 
weis erforderlich, dass diese in Heilung mit Defekt oder sekundare 
Demenz ausgegangenen Falle in ihrem Endstadium die charakte- 
ristischen Merkmale der analogen Erkrankungsfallj mit typischer 
Aetiologie aufweisen. 

Ausser den erwahnten exogenen und endogenen Momenten, 
die bei der Entstehung der Paranoia acuta hallucinatoria in Be- 
tracht kommen, haben wir noch die psychischen Faktoren zu be- 
rticksichtigen: wir finden ungemein haufig eine Gemfitserregung 
teils als auslosende Ursache neben anderen Momenten, teils schein- 
bar oder tatsachlich als einzige Ursache der Psychose. Diese Tat- 
sache ist bereits von vielen Autoren untersucht worden. Zweig 
kommt zu folgendem, die Beziehungen zwischen den korperlichen 
und den psychischen Ursachen beim Zustandekommen der Amentia 
(Krae'pdins) beleuchtendem Schluss: „Aetiologisch scheint bei der 
Amentia das Zusammentreffen korperlicher und psychischer Ur¬ 
sachen wichtig zu sein. Bei Fallen, die durch akute Erkrankungen 
ausgelost sind, dtirfte der psychische Faktor die Rolle des pradis- 
ponierenden Moments spielen, wahrend chronische Erkrankungen 
den pradisponierenden Boden abgeben, auf dem das psychische 
Moment auslosend wirkt.“ 

Wenn wir Verlauf und Ausgang der zur akuten halluzina- 
torischen Paranoia gerechneten Psychosen einer kurzen Durch¬ 
musterung unterwerfen, mit besonderer Bezugnahme auf das Ver- 
halten der paranoischen i. e. S. und der inkoharenten Formen, so 
finden wir neben vielem Gleichartigem, alien symptomatologischen 
und atiologischen Sondergruppen in gleicher Weise Zukommendem 
einige bemerkenswerte, diesen Sondergruppen eigentfimliche Be- 
sonderheiten. Das Bemerkenswerteste ist aber der Ausgang, der 
Endzustand, sofem es sich nicht um Genesung oder Exitus letalis 
handelt; dem Ausgangszustand soli hier eine besondere Besprechung 
vorbehalten bleiben. 

Von den meisten Autoren wird angegeben, dass die Psychose 
von einem Prodromalstadium eingeleitet wird; dieses hat haufig 
eine ganz kurze Dauer, manchmal beginnen die Krankheitser- 


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346 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


scheinungen ganz plotzdch, „ansoheinend aus voller Gesundheit“ 
(Westphal). Irgendwelche Beziehungen zur Aeiiologie seheinen nicht 
zu bestehen, ebenso ist das anbrechende Hauptstadium der Psychose 
nicht in eine innere oder auch nur konstante Verbindung mit dem 
Prodromalstadium zu bringen, kurz: aus den Symptomen des 
Prodromalstadiums lassen sich keine Schliisse auf die Erscheinungs- 
form und den Verlauf der Psychose ziehen. 

Der Verlauf der Psychose ist bekanntlich sehr verschieden- 
artig, sie verlauft zuweden in mehreren Stadien, auch mit Wieder- 
holung derselben Erscheiungsform. Meynert unterscheidet einfache 
Formen und zusammengesetzte Formen; letztere setzen mit reiner 
Verworrenheit und Reizerscheinungen ein, gehen dann in Stupor 
oder Manie iiber, „konnen aus dem Stupor unmittelbar oder erst 
durch Wiederkehr von Verworrenheit und Reizerscheinung in 
Genesung iibergehen, auch durch ein Schlussstadium von Manie, 
das dem Stupor unmittelbar oder auf die emeute Verworrenheit 
folgt“. Auch Ziehen gibt an, dass der Verlauf oft ein remittierender 
sei, auch konne man haufig zwei Stadien unterscheiden, das erste 
mit vorwaltender Erregung, das zweite mit vorwaltender Hemmung; 
das zweite Stadium ist manchmal ein pseudomelancholisches, sehr 
selten ein pseudomanisches. Was die Dauer anbelangt, so sind die 
zusammengesetzten Formen, die ebenso wie die einfachen in Heilung 
ausgehen konnen, durch ihre ungemein lange Dauer ausgezeichnet; 
Meynert fuhrt an, dass die Krankheit mehr als 1000 Tage dauern 
konne, und wamt vor Verwechselung mit sekundarer Geistes- 
storung: „Die ganze Geisteskrankheit kann scheinbar versumpfen, 
ungezahlte neue Erregungsstadien mit besseren Zeiten und zahl- 
reichen tiefen Erschopfungen wechseln lassen.“ Die Aussicht auf 
Genesung diirfte noch festgehalten werden, „so lange langlaufige 
Umformungen des Krankheitsbildes noch mit einander wechseln“. 
Immerhin ist eine mit zweitem pseudomelancholischem oder 
pseudomanischem Stadium zusammengesetzte Form als durchaus 
seltenes Vorkommnis zu bezeichnen, wenn man von den nicht 
seltenen Fallen absieht, die nach einem bloss einige Tage oder mehr 
dauemden aufgeregten halluzinatorischen oder Verwirrtheitszustand 
mit Inkoharenz in einen ruhigeren, melancholisch, manisch oder 
paranoisch gefarbten Zustand ubergehen. Die Dauer solcher Falle 
wie uberhaupt der Falle von einfacher, unkomplizierter Amentia 
im Sinne Meynerts wird von ihm als zwischen zwei bis drei Wochen 
und 100 bis 200 und 300 Tagen schwankend angegeben; letztere 
Zahlen sind nach heutigen Erfahrungen fiir den Durchschnitt viel 
zu gross; Ziehen gibt als Dauer des durchschnittdchen Gesamt- 
verlaufs sechs Monate an, ahndche Angaben finden wir bei den 
meisten Autoren. 

Was die verschiedenen Erscheinungsformen der akuten 
haduzinatorischen Paranoia anbetrifft, so lasst sich ein Unterschied 
in der Dauer der Psychose etwa zwischen den haduzinatorischen 
und systematisierenden Formen einerseits und den inkoharenten 
andererseita nicht feststeden, die in der Literatur veroffentlichte 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 347 

Kasuistik der hierher gehorenden Falle lasst keinen anderen Schluss 
zu. Es handelt sich dabei vielfach um solche Falle, die in Heilung 
ausgingen, bezuglich der Falle mit ungiinstigem Ausgang lasst sich 
zunachst bloss sagen, dass ihre Beurteilung von Seiten der Autoren 
sehr schwankt: das Krankheitsbild wird vielfach. nur als episo- 
disches Zustandsbild im Lauf einer chronischen Psychose be- 
trachtet und die Zeit, die bis zum Schwinden der akuten Symptome 
vergeht, ziemlich unbestimmt angegeben, auch abgesehen von 
Remissionen. Von der Amentia gibt Meynert , wie schon erwahnt, 
an, dass die Hoffnung auf Genesong auch bei langerer Bauer der 
Krankheit (Meynert gibt gegen 3 Jahre an) nicht aufgegeben zu 
werden braucht; wir konnen mit ziemlicher Bestimmtheit an- 
nehmen, dass sich in weitaus den meisten Fallen ein annahernd 
sicheres Urteil iiber den weiteren Verlauf bereits viel friiher abgeben 
lasst. Nach Meynert sind die Aussichten auf einen giinstigen Aus¬ 
gang trotz abnorm langer Bauer der Psychose solange als vorhanden 
zu betrachten, als das Zustandsbild wesentliche Aenderungen zeigt, 
d. h. so lange es noch nicht zum charakteristischen einformigen 
Ausgangsstadium gekommen ist. Eine so lange dauemde Verlaufs- 
art gebort jedenfalls zu den seltensten Vorkommnissen, die klinische 
Erfahrung lehrt, dass in weit kiirzerer Zeit, etwa in 5 bis 6 Monaten, 
zuweilen sogar noch friiher, die Psychose eine Wendung nimmt, 
die einen best imm ten Schluss auf den weiteren Verlauf zu ziehen 
gestattet, und zwar trifft dieses namentlicb fur die inkoharenten 
Formen zu; die halluzinatorisch-paranoischen i. e. S. diirften etwas 
weniger sicher auf ihren femeren Verlauf zu beurteilen sein, am 
wenigsten sicher lasst sich der weitere Verlauf der akuten systema- 
tisierenden Formen mit vereinzelten Halluzinationen voraussehen. 
Innerhalb der angegebenen Zeit, namlich im Laufe von etwa 5 bis 
6 Monaten, hat in den meisten Fallen der Verlauf der Psychose eine 
deutliche Aenderung oder Wendung nach irgend einer Richtung 
bin gezeigt; wir sehen z. B. in den giinstig verlaufenden Fallen 
mit dem Verblassen der akuten Krankheitserscheinungen eine 
unzweifelhafte Besserung des psychischen Gesamtzustandes ein- 
treten, in den ungiinstig verlaufenden Fallen zeigt das Krankheits¬ 
bild entweder kein Fortschreiten nach irgend einer Richtung, 
dagegen Fortbestehen und Einformigwerden der psycbischen 
Aeusserungen, sowie haufigAuftreten oder Fortbestehen von ausser- 
lich unvermittelten voriibergehenden Erregungszustanden — oder 
aber bei Wiedergewinnung der verlorenen Orientiertheit und 
Verblassen von Sinnestauschungen Fortbestehen einer erhebliohen, 
haufig in der Intensitat wechselnden Inkoharenz der sprachlichen 
Aeusserungen und des Gedankenablaufs — oder aber wir kon- 
statieren einen einfachen psychischen Befekt. Bie Falle dagegen, 
iiber deren mutmasslichen weiteren Verlauf man innerhalb der 
angegebenen Zeit nichts Bestimmtes aussagen kann, gehoren wohl 
zum grossten Teil der chronischen halluzinatorischen und einfachen 
Paranoia an: es hat sich in diesen Fallen um einen verhaltnis- 
massig akut einsetzenden Beginn einer chronischen Paranoia 


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348 Bre sowsky, Ueber die Beziehungen der Parjmoia acuta 


oder aber um eine den Eindruck einer akuten Psychose machende 
Exacerbation eines schon bestehenden chronischen psychiscben 
Leidens gehandelt oder schliesslich, nach Meynert, um eine wahrend 
einer bestehenden Paranoia voriibergehend auftretende Er- 
schopfungsamentia, die als akute Psychose ablauft, ohne ursachliche 
Beziehungen zur schon bestehenden chronischen Psychose zu haben. 

Ueberschauen wir diese Verhaltnisse, d. h. Verlauf und Dauer 
bei den Fallen mit nachweisbarer Aetiologie, so finden wir, dass die 
einfachsten und auch gxinstigsten Verhaltnisse bei den Intoxi- 
kationspsychosen vorwalten. In der Tat wird iiberall in der Literatur 
angegeben, dass z. B. die akuten halluzinatorischen Alkohol- 
psychosen in den weitaus meisten Fallen in ganz kurzer Zeit, einigen 
Tagen bis einigen Wochen, verlaufen, nur ganz ausnahmsweise 
erstreckt sich der Verlauf iiber einige Monate (nach Ilberg bis auf 
15 Wochen). Die Verlaufsart ist so gut wie immer eine einfache, 
d. h. es handelt sich nur um einen einzigen psychopathischen Zu- 
stand, der im ganzen Verlauf der Psychose das Krankheitsbild 
darstellt. Femer steht fest, dass die Formen mit systematisierender 
Wahnbildung die langste Dauer haben, die geringste Zeit zur Riick- 
bildung brauchen die mit akuter halluzinatorischer Verwirrtheit aus- 
brechenden Falle; ein Delirium tremens kann sich im Laufe einiger 
Tage ausgleichen. Was den Ausgang anbelangt, so erweist es sich, 
dass die akuten Alkoholpsychosen neben kurzer Dauer und einfacher 
Verlaufsart auch einen giinstigen Ausgang zeigen, nur bei wieder- 
holtem Rezidiv beobachten wir einen Ausgang in psychischen 
Defekt. Eine wesentlich schlechtere Prognose scheinen die Intoxi- 
kationen mit anderen Stoffen, namentlich Metallgiften, zu haben, 
doch handelt es sich hier hauptsachlich um chronische Er- 
krankungen. 

Die auf Erschopfung zuriickgehenden Falle der akuten 
halluzinatorischen Paranoia scheinen gewohnlich unter den Sym- 
ptomen einer akuten halluzinatorischen Verwirrtheit zu verlaufen, 
die spaterhin in ein ruhiges Stadium ohne Sinnestauschungen 
iibergehen. Nach Kraepelin haben diese Falle keine ungiinstige 
Prognose. Obschon die Versuche Aschaffenburgs richtige Hinweise 
auf die spezielle Symptomatologie der Erschopfungspsychosen geben, 
sind diese Symptome doch nicht charakteristisch in dem Sinn, dass 
sie ein brauchbares Unterscheidungsmerkmal gegeniiber den Fallen 
der akuten halluzinatorischen Paranoia mit anderer Aetiologie 
abgaben, es lasst sich aus dem Verlauf nicht auf die Aetiologie 
schliessen. Plotzlich ausbrechende Falle auf dem Boden der akuten 
Erschopfung verlaufen haufig unter dem Bilde des Collapsdeliriums, 
das von vielen (u. A. Kraepelin, Binswanger) als stiirmischste Form 
der Erschopfungspsychose betrachtet wird, mit kurzer Dauer und 
im ganzen ernster, aber nicht ungiinstiger Prognose. Es lasst sich 
nichts besonders Charakteristisches fur den Verlauf der auf Er¬ 
schopfung zuriickgehenden Falle anfiihren. Raecke gibt an, dass 
es moglich ist, in manchen Fallen mehrere Verlauifsstadien zu 
unterecheiden; diese Stadien wiirden sich aber nur in den Fallen 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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mit primarer Inkoharenz abgrenzen lassen, und femer lehrt die 
klinisohe Erfahrung, dass es nur ein Teil der zugehorigen Psychosen 
ist, an dem man diese Stadien tatsaohlich beobachten kann und 
dass femer auch andere, namentlich postinfektiose Falle, zum Teil 
ebenso verlaufen. 

Ueber den Verlauf und die Dauer der infolge von Infektion 
oder mit Infektion kombinierten atiologischen Momenten zum 
Ausbruch gekommenen Falle lasst sich kaum etwas Bestimmtes, 
aligemein Giiltiges, sagen. Die Dauer schwankt ganz ungemein, 
ebenso der Verlauf; es kommt hier wohl in ganz besonderem Masse 
das Verhaltnis zwischen der Sohwere der Erkrankung, gewisser- 
massen der Intensitat der den psychischen Erscheinungen zugrunde 
liegenden abnormen materiellen Vorgange und den vorhandenen 
Kraften, der Widerstandsfahigkeit des erkrankten Organes oder 
Kdrpers in Betracht. Beziiglich des Verlaufes muss bemerkt werden, 
dass wir in diesen Fallen die grosste Mannigfaltigkeit der Er- 
scheinungsformen beobachten; es scbeint jedoch, dass auf diesem 
Boden am haufigstender Symptomenkomplex der halluzinatorischen 
Verwirrtheit angetroffen wird, auch scheinen Unregelmassigkeiten, 
Komplikationen des Verlaufs, Wechsel des psychopathischen Zu- 
standes, haufiger vorzukommen als bei den auf Intoxikation und 
Erschopfung beruhenden Fallen. Vielleicht konnte man zur Er- 
klarung dieser Tatsachen die Annahme heranziehen, dass es sich in 
diesen Fallen besonders haufig um sekundare Einfliisse handelt, 
bedingt durch die infolge der Psychose entstandene cerebrale Er¬ 
schopfung, die nun ihrerseits das Bild der Erkrankung in ihrem 
Sinn zu verandem und ebenso auf Verlauf und Dauer des Falles 
einzuwirken vermag. Ueber Verlauf und Dauer der einzelnen 
Erscheinungsformen — der inkoharenten und der halluzinatorisch- 
und systematisiert-paranoischen — lasst sich nichts Bestimmtes 
angeben, es kommt am haufigsten ein Mischtypus vor; iibrigens 
ist es haufig, namentlich bei langere Zeit dauemdenFallen, sohwierig 
oder fast gar nicht moglich, im einzelnen nachzuweisen, ob es sich 
um eine echte Inkoharenz der Ideenassoziation oder bloss um eine 
scheinbare Inkoharenz der sprachlichen Aeusserungen bei besser 
erhaltener Assoziation handelt, die vielleicht von Sinnestauschungen 
und Wahnvorstellungen abhangig ist. Die primare Inkoharenz 
bildet haufig das primare und dominierende Symptom, ist aber doch 
gewohnlich auf eine im Verhaltnis zur Gesamtdauer der Krankheit 
kurze Zeit beschrankt; es scheint, dass das langere Zeit hinduroh 
unveranderte Fortbestehen der inkoharenz von Bedeutung fur 
den weiteren Verlauf ist, insofem als diese Falle gewohnlich nioht 
zur Heilung kommen. 

Von den anscheinend ganz ohne nachweisbare Ursache auf- 
tretenden Fallen der akuten halluzinatorischen Paranoia lasst sich 
in Bezug auf Dauer und Verlauf ebenfalls nichts Bestimmtes sagen; 
in vielen Fallen ist der Verlauf ganz analog dem gewohnlichen. 
bekannten Typus, die Psychose hat keine abnorm lange Dauer, 
weist auch keine symptomatologischen Eigentiimlichkeiten auf, 

Monatsschrlft fOr Psychlatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 24 


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350 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


zeigt keinen komplizierten Verlauf, hat einen giinstigen Ausgang; 
in andem Fallen tritt ein ungiinstiger Ausgang ein, ohne dass wir 
imstande waren, aus dem symptomatologischen Zustandsbilde 
und dem anfanglichen Verlauf einen solchen ungiinstigen Ausgang 
vorauszusehen; vielfach tritt die Psychose von vornherein mit 
primaren dauernden Affekt- und Assoziationsstorungen im Sinne 
der Varietaten der akuten halluzinatorischen Paranoia auf, um 
dann nicht selten in gewissen Fallen einen Ausgang zu nehmen, 
der zum Teil in so charakteristischer Weise mit der symptomato¬ 
logischen Erscheinungsform verbunden zu sein scheint, dass viele 
Psychiater annehmen, dieser Ausgang sei bereits in der Psychose 
enthalten, gehore zu ihrem Wesen, d. h. der ungiinstige Ausgang 
hange in diesem Falle nicht von der Schwere der Erkrankung oder 
der mangelnden Widerstandsfahigkeit des erkrankten Gehiroes 
ab, sondem der Ausgang stelle gewissermassen das Ziel vor, zu dem 
die gesamte Entwicklung des Krankheitsvorganges hinleite, oft 
unter Stillstanden und scheinbaren Besserungen. Auch hier handelt 
es sich grosstenteils um Formen, die weder dem inkoharenten, 
noch dem halluzinatorischen oder systematischen Typus ganz an- 
gehoren, es treten alle Typen auf, haufig mit episodischen Er- 
regungszustanden. Diesen Fallen stehen nahe oder sind wahr- 
scheinlich ganz gleichwertig solche Erkrankungsfalle, bei denen 
die Psychose zwar nicht ganz spontan ausbricht, in welchen aber 
die Wirkung zur Geringfiigigkeit der Ursache in gar keinem Ver- 
haltnis steht; man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass 
hier doch wohl kein innerer Zusammenhang zwischen der Psychose 
und ihrer scheinbaren Ursache besteht, sondem dass es sich um 
eine Gelegenheitsursache handelt bei einem aus andem, inneren 
Griinden zum Ausbruch der Psychose reifen oder fahigen Gehim. 
Damit nimmt aber die Wahrscheinlichkeit zu, dass in diesen Fallen 
anscheinend spontaner Erkrankung der Verlauf und vielleicht 
auch der Ausgang in einem hohem Masse an das Wesen der Psychose 
gekniipft sind als in den andem Fallen, d. h. dass in diesen Fallen 
der Einfluss der Individualitat und der Widerstandsfahigkeit des 
Erkrankten und femer der Schwere der Erkrankung auf den Ver¬ 
lauf und den Ausgang geringer sind als sonst, doch ist dies nur eine 
Annahme, die sich allerdings dem Beobachter mit einer gewissen 
Wahrscheinlichkeit aufdrangt. 

Wenden wir uns nunmehr den Varietaten der akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia zu. Der Verlauf der ideenfliichtigen Varietat, 
die bekanntlich nicht selten zu gleicher Zeit mit primarer Exaltation 
verbunden ist, zeigt gewohnlich das Bild der Psychose mit gelegent- 
licher, sekundarer und auch primarer Inkoharenz; es gibt aber 
unzweifelhafte Falle, in denen die Inkoharenz primar und vor- 
waltend auftritt, wahrend das Krankheitsbild deutliche Anzeichen 
der Ideenflucht aufweist, es handelt sich in einem solchen Fall um 
eine ideenfliichtige Amentia. Die Tatsache, dass die Inkoharenz 
in diesen Fallen primar ist und nicht Folge der Ideenflucht, kann 
oft nur unter Schwierigkeiten festgestellt werden; sie muss ausser 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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aus den sprachlichen Aeusserungen auch noch aus andem Um- 
standen erschlossen werden, um als erwiesen gelten zu konnen. 
Ueber den Verlauf und die Dauer dieser Falle, der ideenfliichtig- 
paranoischen und der viel selteneren ideenfliichtig-inkoharenten, 
lasst sich nur im allgemeinen sagen, dass die Falle ohne Inkoharenz 
einen einfacheren Verlauf und wohl gewohnlich eine kiirzere Dauer 
aufweisen, der Ausgang ist nach Ziehen giinstiger als beim Durch- 
schnitt der akuten halluzinatorischen Paranoia. Die ideenfliichtige 
Amentia scheint einen langer dauemden Verlauf und vor alien 
Dingen einen viel weniger giinstigen Ausgang zu haben; wir werden 
bei diesem Umstand an die Ansicht Schides und Krajlt-Ebingn er- 
innert, die eine derartige Entwicklung der Symptome und des 
Verlaufs dem invaliden oder pradispon^erten „belasteten“ Gehim 
zuschreiben. Uebrigens sind beide Varietaten, die inkoharente und 
die einfach ideenfliichtige, eng mit einander verwandt und bilden 
den Uebergang von der akuten halluzinatorischen Paranoia zur 
Manie, man beobachtet hin und wieder bei einem rezidivierenden 
Fall dieser Art, dass von den Anfiillen die einen den Typus der 
Manie zeigen, wahrend die andem das Bild der ideenfliichtigen 
Varietat oder der inkoharent-ideenfliichtigen Form der akuten 
halluzinatorischen Paranoia aufweisen. Es kommt auch zuweilen 
vor, dass bei haufigen Rezidiven der Typus sich vom rein ideen- 
fluchtigen allmahlich zum inkoharenten verschiebt, um schliesslich 
in einen echten sekundaren Defektzustand auszugehen, der den 
Typus der Erregung und Inkoharenz zeigt. Die Varietat mit 
primarer Exaltation ohne Ideenflucht verhalt sich ebenso. Die 
Tatsache, dass diese Varietaten Uebergange zur Manie vorstellen, 
hat viele Psychiater bewogen, sie zur Manie zu reehnen; Wernicke 
spricht von der verworrenen Manie, Kraepelin rechnet alle diese 
Falle zum manisch-depressiven Irresein, schon vor langerer Zeit 
hatte Mendel sie als Mania hallucinatoria beschrieben. 

Wahrend die ideenfliichtige Varietat in vielen Fallen zugleich 
eine exaltierte ist, lasst sich bei der depressiven Varietat eine Kom- 
bination mit der stuporosen weit seltener beobachten, so kommen 
aber zweifellos alle Zwischenstufen vor. Die depressive Varietat 
bildet den Uebergang zur entsprechenden Affektpsychose und wird 
daher von vielen als Melancholie mit Wahnbildung aufgefasst. 
Wir beobachten neben rein halluzinatorischen und systematisierten 
Formen der depressiven Varietat auch Formen mit primarer 
Inkoharenz; bei diesen schliessen wir auf die depressive Stimmung 
teils aus den inkoharenten, aber doch die Stimmung verratenden 
Aeusserungen, teils aus dem typischen depressiven Gebahren, 
das noch lang nach dem Verlust des Zusammenhangs der Ideen- 
assoziation fortbestehen und erkennbar sein kann. Ueber Verlauf 
und Dauer dieser depressiven Varietat mit und ohne Inkoharenz 
lasst sich nichts Spezielles aussagen, es mtissen hier dieselben 
Erwagungen geltend gemacht werden, wie sie uns nach dem Vor- 
gange von Schiile und Krafft-Ebing fiir die exaltierten Formen 
massgebend erschienen. 

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352 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

Die stuporose Varietat stellt den Uebergang zwischen der 
akuten halluzinatorischen Paranoia und der Stupiditat dar; wir 
beobachten in diesen Fallen neben den Grundsymptomen der 
Paranoia eine primare Hemmung, und zwar ausser einer primaren 
Denkhemmung eine motorische Hemmung. Dieses Symptom — 
die motorische Hemmung — und die Rolle der motorischen Er- 
scheinungen im Krankheitsbilde der hierher gehorenden Fall© 
iiberhaupt ist bekanntlich der Gegenstand und der Ausgangspunkt 
zahlreicher Untersuchungen ge worden, die zu den verschiedensten 
Ergebnissen geffihrt haben, vor alien andero bat KaMbaum auf 
Grund seiner Untersuchungen solcher Falle die Katatonie auf- 
gestellt. Von vielen Psychiatem wird dieser Begriff in dem Sixm 
verstanden, dass mit der Bezeichnung Katatonie eine besondere, 
durch motorische Symptome ausgezeichnete Varietat der akuten 
halluzinatorischen Paranoia gemeint wird. Schiile z. B. aussert 
sich in folgender Weise iiber den „attonischen Wahnsinn — die 
Katatonie": „Die Katatonie ist eine spezielle Erscheinungsform 
des akuten halluzinatorischen Wahnsinns und dadurch gekenn- 
zeichnet, dass als wesentliches Krankheitselement eine motorische 
Spannungsneurose sich einstellt, bald anhaltend, bald fliichtig 
intermittierend, wahrend zugleich das Bewusstsein durch Halluzina- 
tionen und Illusionen tiberffillt, sich vor den Perzeptionen von 
aussen mehr oder minder vollstandig abschliesst.... Der psychische 
Zustand kann ... entweder inhaltlich auf derTraumstufe des akuten 
Wahnsinns bleiben, oder aber auf die des wirklichen temporaren 
Blodsinns (Stupors) herabsinken. Aus beiden Phasen ist voll- 
standige geistige Erholung moglich. . . . Der Verlauf ist stets ein 
zyklischer. . . . Der Ausgang ist Genesung oder bleibende (eigen- 
artige) Geistesschwache." Heben wir das Wesentlichste noch be- 
sonders hervor, so finden wir, dass nach Schiile die Katatonie eine 
Psychose ist mit kompliziertem (,,zyklischem“) Verlauf, eigen- 
artigen motorischen Symptomen, zwischen der akuten halluzma- 
torischen Paranoia und der Stupiditat stehend, mit einem Ausgang 
in Genesung oder sekundaren Schwachsinn. Fasst so Schiile die 
Katatonie als spezielle Erscheinungsform der akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia auf, so ist die Beurteilung der Katatonie von 
Seiten vieler anderer Psychiater aus verschiedenen Griinden eine 
ganz andere; es wiirde den Rahmen dieser Arbeit iiberschreiten, 
wenn wir uns hier mit den Ergebnissen der zahkeichen Arbeiten 
iiber diese Fragen beschaftigen wollten, nur insofem, als die ge- 
ausserten Ansichten sich direkt auf die uns hier beschaftigende 
Frage beziehen, d. h. Verlauf, Dauer und Ausgang der stuporosen 
Varietat der akuten halluzinatorischen Paranoia betreffeD, sei hier 
das Wesentlichste kurz angefiihrt. 

Kahlbaum aussert sich fiber seine Katatonie in folgender Weise: 
„Die Katatonie ist eine Gehimkrankheit mit zyklisch wechselndem 
Verlaufe, bei der die psychischen Symptome der Reihe nach das 
Bild der Melancholie, der Manie, der Stupeszenz, der Verwirrtheit 
und schliesslich des Blodsinns darbieten, von welchen psychischen 


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hallucinatoria (Weetphal) zur Amentia (Meynert). 


353 


Gesamtbildem aber eins oder mehrere fehlen konnen, und bei der 
neben den psychischen Symptomen Vorgange in dem motorischen 
Nervensystem mit dem allgemeinen Character des Krampfes als 
wesentliche Symptome erscheinen“. Diese Definition steht voll- 
standig auf dem Boden der Anschauungen der alteren deutschen 
Psychiatrie, die Katatonie erscheint hiemach etwa als Mania 
typiea mit motorischen Symptomen. Dagegen gewinnt bei der schon 
erwahnten Forderung Kahlbaumt, das Wesentliche einer Psychose 
im Gesamtverlauf und Ausgang zu sehen, der Ausgang der Psychose 
in ,,Blodsinn“ eine ganz wesentliche Bedeutung, da dieser Ausgang 
nunmehr als das der Psychose innewohnende, sozusagen normale 
Ende oder Ziel erscheint. Die Katatonie ist also nach Kahlbaum 
eine Psychose mit kompliziertem („zykhschem“) Verlauf, eigen- 
artigen motorischen Symptomen und Ausgang in einen Defekt- 
zustand. 

Kraepelin glaubt nicht, dass alle von Kahlbaum vereinigten 
Krankheitsbilder zusammengehoren, er schrankt den Begriff der 
Katatonie ein, nach Kraepelin handelt es sich im wesentlichen um 
das Auftreten eigentiimlicher, meist in Schwachsinn ausgehender 
Zustande von Stupor oder Erregung mit den Erscheinungen des 
Negativismus.derlmpulsivitat undVerschrobenheit, derStereotypie 
und Suggestibility in Ausdrucksbewegungen und Handlungen. 
Aus der eingehenden Beschreibung des Krankheitsbildes ent- 
nehmen wir, dass auch Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen 
auftreten; diese Symptome gehoren mit zum Krankheitsbilde, 
freilich olme eine wesentliche Rolle zu spielen. Dagegen erscheint 
die motorische Seite des Krankheitsbildes durch die Einbeziehung 
von Erregungszustanden ganz wesentlich erweitert. Wie bei Kahl¬ 
baum erscheint auch hier als das Wesentliche der Verlauf und Aus¬ 
gang, wobei die einzelnen Symptome, trotz ihres vielfach ganz 
spezifischen Charakters, nicht massgebend sind, sondem ihre 
Gesamtheit oder Kombination. Die Katatonie erscheint als Form 
der Dementia praecox. 

Nach Sommer ist die Katatonie ein idiopathischer Symptomen- 
komplex, ,,in welchem Stereotypie vonHandlungen undBewegungen 
sich mit wechselnden Zustanden von Melancholie, Manie, Wahn- 
sinn und Verwirrtheit verbunden zeigt“. Hiernach sind die moto¬ 
rischen Eigentiimlichkeiten das Eigentlicbe, Wesentliche des 
Krankheitsbildes, die psychischen Symptome sind zu Neben- 
symptomen geworden, eine Betrachtungsweise, die der Auffassung 
der Katatonie als einer blossen „Myopsychie“ nicht allzu fern steht. 
In der Auffassung Kraepelins erscheinen die paranoischen Sym¬ 
ptome als Merkmale oder Aeusserungen eines fur den Gesamt¬ 
verlauf belanglosen Zustandsbildes, doch ist das Krankheitsbild 
der Katatonie ohne die charakteristischen psychischen Symptome 
undenkbar, diese Symptome sind in ihrer Eigenart fur die Psychose 
pathognomonisch. Gehort somit nach Kraepelin' s Auffassung 
ein Zustandsbild mit den Merkmalen der akuten halluzinetorischen 
und stuporosen Paranoia zu den Phasen des Verlaufs der Katatonie, 


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354 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

so fehlt bei Sommer jede bestimmte Beziehung zu den akuten 
paranoisch-halluzinatorisehen Zustanden, doch gibt er an, dass die 
Katatonie bei dem Uebergang zum Schwachsinn eine Reihe von 
Ziigen zeigt, welche symptomatisch Beziehung zur Paranoia, zum 
Wahnsinn und zur halluzinatorischen Verwirrtheit haben. Dagegen 
erscheint bei Kraepdin als ganz wesentlich der Ausgang in einen 
eigenartigen psychischen Schwachezustand, der somit nicht in der 
Heftigkeit der Erkrankung, der Individualitat oder der Wider- 
standsfahigkeit des Erkrankten liegt, sondem in dem Wesen der 
Psychose. 

Es fragt sich nun, ob diese, als Katatonie beschriebene Psychose 
iiberhaupt noch zur stuporosen Varietat der akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia gerechnet werden kann, und wie sich die spezielle 
Symptomatologie der stuporosen Varietat zur Katatonie verhalt. 
Zunachst muss festgestellt werden, dass es unzweifelhaft Falle der 
stuporosen Varietat gibt, in denen ausser den paranoischen Sym- 
ptomen mu' primarer Stupor beobachtet werden kann. Diese Falle 
miissen als tatsachliche Zwischenstufe zwischen der akuten hallu¬ 
zinatorischen Paranoia und der Stupiditat betrachtet werden; 
fiir die Bedeutung der Inkoharenz in diesen Fallen, sowohl der 
gelegentlichen, als auch der vorwaltenden, gilt das schon bei den 
anderen Varietaten Gesagte in gleicher Weise. Anders aufgefasst 
und keineswegs in einheitlicher Weise beurteilt werden die Falle, 
in denen es sich um akute halluzinatorische Paranoia mit 
Stereotypie von Haltungen und Bewegungen handelt. Nach Schiile 
ist, wie schon erwahnt, diese Form eine Untergruppe des Wahnsinns, 
der Paranoia, und wie wir aus seiner Beschreibung des klinischen 
Bildes solcher Krankheitsfalle entnehmen, halt er die symptomato- 
logischen Eigentiimlichkeiten der Psychose, die von ihm deutlich 
und eingehend beschrieben werden, nicht fiir so bedeutungsvoll, 
dass ihr Auftreten fiir die Kennzeichnung einer besondem, von 
dem „akuten Wahnsinn“ prinzipiell zu trennenden Psychose aus- 
reichend ware. Rechnet man diese Falle zur akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia, so muss man beziiglich des Verlaufs und Aus- 
gangs annehmen, dass die katatonischen Symptome ein ungiinstiges 
Zeichen sind, insofem als sie zwar nicht wegen der der Psychose 
zugrunde liegenden Tendenz, sondern aus andem, gewissermassen 
„ausseren“ Griinden die Prognose ganz erheblich versch lech tern, 
d. h. gewohnlich zur sekundaren Demenz fiihren oder vielmehr 
diesen Ausgang mit grosser Wahrscheinlichkeit anzeigen. Ziehen 
aussert sich in diesem Sinne, wenn er angibt, dass der Ausgang in 
sekundare Demenz besonders in denjenigen Fallen zu befurchten 
ist, in denen zahlreiche primare (d.b.nicht durch Sinnestauschungen, 
Wahnvorstellungen oder Affekte bedingte) stereotype (katatoniscbe) 
motorische Erregungen auftreten. Nach anderen Psvchiatem hat 
das Auftreten von katatonischen Symptomen keine so ungiinstige 
prognostische Bedeutung. 

Wenden wir uns nunmehr zur Frage, wie sich innerhalb des 
gelegentlich als Varietat der akuten halluzinatorischen Paranoia 


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aufzufassenden Krankheitsbildes der Katatonie die paranoischen 
Symptome und die primare Inkoharenz verhalten. Die klinische 
Erfahrung lehrt, dass wir in diesen Fallen haufig eine eigentumliche 
Mischung oder ein Nebeneinanderbestehen von halluzinatorischen, 
wahnhaften und inkoharenten Zustanden feststellen konnen, im 
grossen und ganzen beobachten wir aber, dass es vorzugsweise 
Halluzinationen und Wabnvorstellungen sind, die das psychische 
Krankheitsbild der Katatonie charakterisieren, Inkoharen 7 . kommt 
nicht selten nur gelegentlich zur Beobachtung, urn dann wieder 
den primar paranoischen Symptomen Platz zu machen. Nament- 
lich in diesen Fallen beobachteten wir eine scheinbare Inkoharenz, 
die dadurch hervorgerufen wird, dass der Kranke seine Aufmerk- 
samkeit auf die inneren Vorgange konzentriert und den Zusammen- 
hang mit der Aussenwelt nur notdiirftig oder gar nicht aufrecht 
erhalt, auch wohl wahnhaft beurteilt, wenn er unter der unein- 
geschrankten Herrschaft des Wahnes steht. Aus den Beschreibungen 
des klinischen Bildes dieser Psychose konnen wir zahlreiche ahnliche 
Beobachtungen entnehraen, z. B. aussert sich Schiile: „Der Kranke 
geht immer mehr in einem wahnhaften Innenleben, in dessen Bann 
nun auch Sinnestauschungen aller Art einriicken, unter.“ Ferner: 
„Auf der Hohe der vollentwickelten Krankheit bleibt das Bewusst- 
sein oft durch Wochen hindurch annaher nd oder ganz auf der 
Traumstufe mit entsprechendem Abschluss der Aussen-Perzeption. 
Um so reicher entfaltet sich ein halluzinatorisches Innenleben; 
doch konnen auch einzelne dammerbafte, meist illusorisch um- 
deutete Wahmehmungen sich einmischen. Zeitweilig sogar iiber- 
rascht plotzlich eine ganz richtige Perzeption mit planvoll be- 
messener Entausserung. Alle Phasen der Bewusstheit spielen in 
einander.“ Auch in den Schilderungen Kraepelins wird wiederholt 
auf die dem aus-eren Anschein durchaus widersprechende erhaltene 
oder wenig geschadigte Auffassung und Orientiertheit hingewiesen. 
Wir finden aber aucb hier die Angabe, dass der Ged&nkengang 
,,zerfahren“, unzusammenhangend sei. Es gehort nun allerdings 
zu den Eigentiimlichkeiten dieser Zustande, dass die motorischen 
Eigentiimlichkeiten sich auch auf das sprachliche Gebiet erstrecken 
imd uns damit haufig eine Beurteilung des Gedankenablaufs sehr 
erschweren. Uebrigens machen wir sehr haufig die Beobachtung, 
dass die erwahnten motorischen und anderen Eigentiimlichkeiten 
bei den Katatonikern sicher sekundar sind, bedingt durch Hallu¬ 
zinationen oder Wahnvorstellungen. Es kann auch namentlich 
eine scheinbare Inkoharenz vorgetauscht werden, meist aber handelt 
es sich um Storungen des Sprachzusammenhanges, des Satzbaues 
usw., um „Sprachverwirrtheit“ (Kraepelin). Wir haben es zwar 
oft mit schwerer Inkoharenz der sprachliohen Aeusserungen zu 
tun, es ist aber fraglich, ob dieser sprachliohen Inkoharenz auch 
tatsachlich eine entsprechende Inkoharenz der Ideenassoziation 
zugrunde liegt. In vielen Fallen gelingt es uns, festzustellen, dass 
die Inkoharenz anscheinend ganz vorzugsweise die sprachliche 
Funktion ergriffen A hat, wahrend Auffassung und Orientiertheit 


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356 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

wenig oder gar nicht gelitten haben. Aus dieser Tatsache folgern 
manche Psychiater, dass die Storung der sprachlicben Funktion 
in diesen Fallen sich in analoger Weise wie viele andere motorische 
Eigentiimlichkeiten unbewusst, unbeabsichtigt, ohne irgend einer 
Vorstellung zu entsprechen, vollzieht und somit als motorische 
primare Inkoharenz aufgefasst werden kann. Andererseits lasst 
das Bestehen von Stereotypien in Stellungen und Bewegungen mit 
grosser Wabrscbeinlichkeit darauf schliessen, dass wohl auch die 
Halluzinationen und Wahnvorstellungen in diesen Fallen bestandig 
sind, nicht fliichtig und wechselnd wie bei der typischen inko- 
barenten Paranoia acuta. Die sprachliche Inkoharenz, die be- 
kanntlich sehr weitgehend sein und bis zur volligen Auflosung der 
Sprache in einzelne Silben und Laute fortscbreiten, andererseits 
zur vollig zusammenhanglosen Rede bei erbaltener ausserer Form 
und scheinbar erhaltenem Satzbau werden kann, wird, ebenso 
wie die Inkoharenz der Ideenassoziation, manchmal dadurch vor- 
getauscht, dass die Kranken die verbindenden Vorstellungen nicht 
in Worte kleiden. Die dauernde vollige Dissoziation zwischen 
Oedankengang und Sprache bei sonst fehlenden Storungen der 
Ideenassoziation ist wohl schon ein Symptom des Endstadiums, 
des Ausgangs. Wir miissen also in diesen Fallen von der primaren 
Inkoharenz unterscheiden: die Falle von Inkoharenz infolge von 
,.Bewusstseinseinengung“, die Falle scheinbarer Inkoharenz infolge 
von sprachlicher Inkoharenz bei erhaltener Ideenassoziation und 
schliesslich, im Ausgangsstadium, die Inkoharenz infolge von 
eingetretener Demenz. Sehr zu gunsten der Annahme, dass die 
Inkoharenz bei den katatonischen Formen nur eine gelegentliche, 
vorvibergehende Rolle spielt, scheint die von alien Psychiatem 
bemerkte Tatsache zu sprechen, dass das Gedachtnis, die Erin- 
nerung selbst an die Zeiten scheinbar tiefster Benommenheit und 
Verwirrtheit iiberraschend gut erhalten ist. Bei echter primarer 
Inkoharenz wiirden wir nichts ahnliches feststellen konnen. 

Wie wir sehen, entsprechen die psychischen Symptome der 
katatonischen Formen der halluzinatorischen Paranoia teils der 
stuporosen und teils der inkobarenten Varietat, doch spielt letztere 
nur eine geringe Rolle, erst im Ausgangsstadium wird die Inkoharenz 
allgemein, d. h. bei den nicht in Genesung ausgehenden Fallen; 
sie kann bereits als Symptom des unheilbaren Endzustandes auf¬ 
gefasst werden, der hcchstens durch hohere Grade der Demenz 
mit sekundarer Inkoharenz abgelost werden kann. • Diese Reihen- 
folge ist bereits von den alteren deutschen Psychiatem beobacbtet 
worden, Neumann gibt an, dass ,,die Geisteskrankheit“ drei Stadien 
durchlaufe: den Wahnsinn, die Verwirrtheit, den Blodsinn. Wenn- 
gleich unter „Wahnsinn“ im Sinne Neumanns keineswegs bloss 
paranoische Zustande zu verstehen sind, so ist Verwirrtheit im 
Sinne Neumanns tatsachlich Inkoharenz, eine ,,Lockerung des 
Zusammenhanges“ der Assoziationen, „es lockem sich die Bande 
des Denkens“. „Aus diesem Lehrsatze folgt,“ setzt Neumann fort, 
,,dass ein Wahnsinn, der nicht geheilt wird, sicherlich in Verwirrtheit 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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und scbliesslich in Blodsinn verfallen wird.“ Tatsachlich ist diese 
Beobachtung fiir den allgemeinen Verlauf und Ausgang der Paranoia 
acuta hallucinatoria auch noch heute zutreffend, was nicht zugunsten 
der Auffassung spricht, dass die in Demenz ausgehenden Falle 
einem ganz besonderen, spezifischen Verlaufstypus folgen. 
Auf die Bedeutung der primaren Inkoharenz im Verlauf der viel- 
gestaltigen, zur akuten halluzinatorischen Paranoia gehorenden 
Rrankheitsbilder zuriickschauend, miissen wir feststellen, dass 
dauernde Inkoharenz stets einen schweren und ungiinstigen Verlauf 
anzeigt, namentlich aber dann, wenn sie einem anderen psycho- 
pathischen Zustand, d. h. einem halluzinatorisch- oder systemati- 
siert-paranoischen, folgt. Die primare Inkoharenz hat aber in Bezug 
auf den Verlauf keine andere Bedeutung als die paranoischen 
Symptome, wenn sie im Verlauf derKrankheit gelegentlich, voriiber- 
gehend auftritt, wenn sie als Ausdruck grosserer Intensitat der 
Erkrankung oder auch als Reaktionsform eines invaliden oder 
belasteten Gehims erscheint und endlich wenn sie tatsachlich im 
Sinne Meynerts „mit den nutritiv erschopfenden Momenten“ 
zusammenhangt, d. h. zweifelsohne Reaktion des Gehirns im Sinn 
einer akuten Psychose auf akute Erschopfung, Infektion und auf 
Intoxikation ist. 

Es ist soeben im einzelnen erwahnt worden, wie sich der Ver¬ 
lauf und die Prognose bei den verschiedenen atiologischen und 
symptomatologischen Gruppen verhalten, die unter den der akuten 
halluzinatorischen Paranoia zugehorigen Fallen un terschieden werden 
konnen. Die Prognose der akuten halluzinatorischen Paranoia im 
grossen und ganzen wird als nicht ungiinstig bezeichnet; bei der Zer- 
legung der Psychose in einzelne, atiologisch bestimmbare oder 
wenigstenssymptomatologisch umgrenzte Formen ergibt es sich, dass 
diese Gruppen im einzelnen eine ganz verschiedene Prognose haben. 
Eine Erldarung fur dieses verschiedene Verhalten der Gruppen 
sowie fur die Ausgangsmoglichkeiten des Einzelfalles gibt uns 
zum Teil die Aetiologie, allerdings ist sie nur in einem Teil der Falle 
zu ermitteln oder mit Sicherheit als bestimmend fur den Ausgang 
anzusehen. Die klinische Erfahrung lehrt, dass die iiberwiegend 
giinstige Prognose sich hauptsachlich auf die Falle bezieht, die auf 
Intoxikation, Infektion und Erschopfung und nur auf diese Momente 
zuriickzufiihren sind. Es sind das also die die Falle mit exogener 
Aetiologie, die in manchen Beziehungen den sogenannten orga- 
nischen Psychosen nahe stehen; wir konnen uns in den nicht zur 
Genesung gekommenen Fallen den Grund des ungiinstigen Aus- 
gangs und Endzustandes in einer bleibenden irreparablen Schadi- 
gung des Himgewebes vorstellen. Hieraus ergibt sich die wichtige 
Rolle, die in diesen Fallen die Intensitat, die Schwere der Er¬ 
krankung spielt. Natiirlich erkranken auch pradisponierte oder 
belastete Individuen, ausser dem exogenen tritt auch ein endogener 
Faktor hinzu, der in der Herabsetzung der Widerstandsfahigkeit 
besteht, die Prognose ist in diesen Fallen viel weniger giinstig. 
Im allgemeinen sind die Aussichten auf Genesung in denjenigen 


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358 B r e s o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


Fallen am besten, die keinen Wechsel des Zustandsbildes aufweisen 
(Anglade u. A.) und bei denen der Allgemeinzustand am wenigsten 
gelitten hat. Die schlechtesten Aussichten haben die periodischen 
Falle. Eine vollstandige Restittio ad integrum ist nach Ansicht 
vieler Psychiater kaum zu erwarten; Seglas z. B. halt sie auch bei 
den einfachen Fallen von Confusion mentale fur nahezu aus- 
geschlossen. 

Weit schwieriger ist es, sich vorzustellen, worin der Grund 
besteht, dass eine Anzahl solcher Falle, die als einfache halluzina- 
torische Psychosen auftreten, aber eine hereditare Belastung wie 
die sogenannten akuten einfachen Affektpsychosen aufweisen, 
einen ungiinstigen Ausgang nimmt. Besonders haufig ist dieser 
Ausgang bei rezidivierenden Fallen. In solchen Fallen beobachten 
wir zuweilen, wie schon erwahnt, einen Ausgang in Demenz, 
nachdem die Inkoharenz im Krankheitsbilde mit jedem neuen 
Anfalle einen breiteren Raum eingenommen hatte. In diesen Fallen 
scheint die Inkoharenz der Ausdruck oder die Aeusserung eines 
bereits geschadigten Gehims zu sein, der endgiiltige Ausgang in 
Schwachsinn lasst sich aus der steten Verschlechterung des Zu- 
standes, die in den anfallsfreien Zeiten deuthch ist, voraussagen. 
Aehnliches beobachten wir zuweilen bei abnorm langer Dauer einer 
solchen Psychose. Bekanntlich entstehen diese Psychosen ge- 
wohnlich auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung. 

Noch weniger klar oder verstandlich ist der Zusammenhang 
zwischen der Psychose und dem vorwiegend ungiinstigen Ausgang 
bei vielen anscheinend spontanen Erkrankungen, denen augen- 
scheinlich keine besondere Veranlagung, ahnlich den soeben er- 
wahnten Fallen, zugeschrieben werden kann. Bekanntlich wird 
in solchen, mehrere Verlaufstypen aufweisenden Fallen von vielen 
Psychiatern der Ausgang in Schwachsinn, in ,,eigenartige Schwache- 
zustande“, als zum Wesen der Psychose gehorend gedacht. Wenn 
der Schwachsinn in diesen Fallen wirklich immer eine charak- 
teristische Eigenart oder Farbung aufwiese, so konnte diese Tat- 
sache als Beweis dafiir aufgefasst werden, dass die Psychose die 
Tendenz zeigt, eben diesen speziellen eigenartigen Ausgangs- 
zustand hervorzubringen. Die Beobachtung lehrt aber, dass diese 
Endzustande keineswegs gleichartig sind: sie weisen alle moglichen 
Grade der Demenz, aus dem akuten Verlauf persistierende Eigen- 
tiimlichkeiten und schliesslich Uebergange zu Endzustanden auf, 
die von den Endzustanden ganz anderer Psychosen nicht zu unter- 
scheiden sind. Verschiedene individuelle Eigentiimlichkeiten sowie 
Bruchstiicke der ehemaligen psychischen Personlichkeit konnen 
wir nahezu bei alien in Schwachsinn ausgegangenen Psychosen 
antreffen. Es braucht daher z. B. das Persistieren von motorischen 
Eigentiimlichkeiten nicht als ganz besonders eigentiimliches, 
spezifisclies Merkmal angesehen zu werden, da es sich aus dem 
vorhergehenden Stadium ergibt und es nur in dem Sinn spezifisch 
ist, wie das Persistieren von andern rudimentaren psychotischen 
Ziigen bei den nicht in Genesung ausgegangenen Fallen. Ferner 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 35^ 

wird der ungiinstige Ausgang in vielen Fallen nicht nur nicht im 
vollen Umfange erreicht, sondem bleibt ganz aus, obschon er nach 
Analogic mit den anderen Fallen zu erwarten ware. Jedenfalls 
wird die Ansicht von der Zusammengehorigkeit von Verlauf und 
Ausgang im Sinne einer dem Wesen der Psychose eigentiimlichen 
Tendenz zum Teil fiir hypothetisch gehalten, zum Teil abgelehnt. 

Indessen gibt es unzweifelhaft manche Anzeiohen, die schon 
wahrend des akuten Verlaufs der Psychose auf einen ungiinstigen 
Ausgang hinweisen. Rechnet man nur diese Falle zu einer be- 
sonderen Gruppe mit der Tendenz zum Ausgang in Demenz, 
besonders in Demenz mit eigenartiger Farbung, so wird man die 
Existenz solcher Gruppen mit besonderem Verlaufs- und Ausgangs- 
typus innerhalb der akuten halluzinatorischen Paranoia nicht fiir 
unwahrscheinlich oder unmoglich halten konnen, doch erscheint 
eine sichere Umgrenzung dieser Gruppen wahrend des akuten 
Verlaufs vielfach ausserst schwierig oder fast unmoglich, und erst 
die wahrend des weiteren Verlaufs auftretenden Veranderungen 
lassen auf den Charakter des Falles schliessen. Der Ausgang in 
Schwachsinn schlechthin scheint nicht geeignet zu sein, um als 
Merkmal fiir besondere Formen aufgefasst zu werden, da dieser 
Ausgang, wie schon erwahnt, auf verschiedenen, auch ausseren 
Griinden beruhen kann. Wenn dagegen der Endzustand tatsachlich 
bestimmte eigenartige Merkmale, einen charakteristischen, psycho- 
logischen Aufbau aufweist, der sich unabhangig von der Intensitat 
der Erkrankung entwickelt und stets einem bestimmten Verlaufs- 
typus der akuten halluzinatorischen Paranoia folgt, so werden wir 
einer solchen Psychose eine Sonderstellung innerhalb der akuten 
halluzinatorischen Paranoia zuerkennen konnen. 

Der Ausgang der akuten halluzinatorischen Paranoia ist 
bekanntlich sehr vielgestaltig. Bei dem Ausgang in Heilung fragt 
es sich, ob es sich um tatsachliche Heilung oder um eine Remission 
handelt und ob ein Rezidiv zu erwarten ist; Rezidive sind nicht 
selten, sie fiihren schliesslich doch zu den ubrigen Ausgangs- 
moglichkeiten, die von der Heilung mit Defekt bis zur sekundaren 
Demenz reichen, und dem Ausgang in chronische halluzinatorische 
Paranoia. Was nun die Beurteilung dieses Ausgangszustandes 
anbelangt, so muss zunachst bemerkt werden, dass eine nicht 
geringe Schwierigkeit in vielen nicht zur Genesung gelangenden 
Fallen die Abgrenzung des akuten Stadiums der Psychose vom 
chronischen darbietet. Fiir eine grosse Anzahl von Fallen trifft 
es allerdings zu, dass der Endzustand ein ganz anderes sympto- 
matologisches Bild darbietet als das akute Stadium; ausser dem 
Hervortreten oder Deutlichwerden eines psychischen Defektes 
von verschiedener Ausdehnung beobachten wir ein Schwinden der 
akuten psychotischen Symptome, d. h. Sinnestauschungen und 
Wahnvorstellungen verblassen allmahlich und vermogen keine 
Affekte auszul6sen,ebenso schwinden allmahlich die etwaigen andern 
primaren Symptome, und es stellt sich ein dauemd unveranderlicher 
Zustand ein. Dieser unveranderliche Defektzustand ist der Aus- 


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360 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

gang der Psychose; solange noch Aenderungen des Zustandes vor- 
kommen, ist nach Meynert die Hoffnung auf einen giinstigen Aus- 
gang nicht aufzugeben. Eine zu keinerlei Hoffnungen berechtigende 
Ausnahme stellen die haufig zu beobachtenden, zuweilen periodisch 
innerhalb des abgeschlossenen Defektzustandes auftretenden Er- 
regungszustande vor, die nicht nur anscheinend unmotivierte 
affektive und motorische Erregung aufweisen, sondern auch Zu- 
stande von eventuell supraponierter schwerer Inkoharenz, rudi- 
mentaren Wahnvorstellungen und auch Sinnestauschungen. Nach 
einer solchen Entladung stellt sich der vorher beobachtete un- 
veranderte Defektzustand wieder ein. Bilden die unzweifelhaft 
der sekundaren Demenz angehorenden Endzustande die Grenze 
der Ausgangsmoglichkeiten nach einer Seite, so sind es nach der 
andern Seite die in chronische halluzinatorische Paranoia aus- 
laufenden, mit Persistieren von Wahnvorstellungen und Sinnes¬ 
tauschungen und Ausbleiben eines psychischen Defektes, sogar mit 
Fortentwicklung und Ausdehnung der Wahnvorstellungen einher- 
gebenden Falle. Innerhalb dieser Grenzen werden auch die 
Ausgangszustande der von vielen Psychiatern als Dementia para¬ 
noides bezeichneten Formen beobachtet. Wir konnen hier nur be- 
merken, dass dieser Begriff vorlaufig ganz verschieden aufgefasst 
wird, auch zeigt er mehrere Verlaufstypen, die betreffenden Autoren 
stimmen nur darin iiberein, dass sie diesen Formen einen Ausgang 
in ,,schwachsinnige Verwirrtheit" zuschreiben. 

Die nicht dem oben erwahnten Typus des Ausgangs in einen 
typischen Defektzustand folgenden Falle zeichnen sich dadurch 
aus, dass der Endzustand nicht durch ein gemeinsames allmahliches 
Schwinden der im Laufe des akuten Stadiums koordinierten 
Symptome angezeigt wird, sondern dass sie trotz Ablaufs anderer, 
dem akuten Stadium angehcrender Erscheinungen in verschiedenem 
Umfange persistieren. Das wesentliche Merkmal solcher persi- 
stierenden Wahnvorstellungen und Halluzinationen ist ihre Un- 
veranderlichkeit, ihre Einfdrmigkeit; sie werden nicht weiter aus- 
gestaltet oder irgendwie mit der Lebenserfahrung in Einklang 
gebracht und erscheinen im spateren Verlauf als fremde Bestand- 
teile des Bewusstseins. Eine nicht geringe Schwierigkeit bietet 
die Beurteilung dieser Falle dann, wenn der endgiiltige psychische 
Defekt nicht sehr erheblich ist, so dass der aus dem akuten Stadium 
der Psychose stammende ,,residuare“ Wahn zwar nicht in seinem 
Sinn fortgebildet wird, aber doch sekundare Wahnvorstellungen 
im Sinne des Erklarungswahnes hervorzurufen imstande ist. 
Bezieht sich die Beurteilung in diesen Fallen auf den Endzustand 
selbst, so ist das Auseinanderhalten von akutem und Ausgangs- 
stadium erschwert oder unmoglich dann, wenn der Defekt des 
Ausgangszustandes sich ganz unmerklich, allmahlich und im Laufe 
von langer Zeit ausbildet, wobei der Gesamtkomplex der akuten 
Symptome anscheinend unverandert weiter fortbesteht. Diesen 
Zustanden begegnen wir gewohnlich in den Fallen, in welchen eine 
scheinbare Inkoharenz besteht infolge von Ausschaltung der 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


361 


Aussenperzeption und Beschrankung der Aufmerksamkeit auf 
innere Vorgange. 

Die Anzeichen eines ungiinstigen Ausgangs treten manchmal 
verhaltnismassig friih auf und haben gewissermassen eine pro- 
gnostisch iible Bedeutung, friih insofern, als die Psychose im grossen 
und ganzen noch das Bild de3 akuten Stadiums darbietet. Wir 
konnen im allgemeinen sagen, dass diese Anzeichen samtlich auf 
einer Storung des gewohnlichen intrapsychischen Zusammenhanges 
oder Zusammenwirkens zu beruhen scheinen; sie stellen ein gewisses 
Selbstandigwerden von Krankheitserscheinungen vor, die sonst 
nur im Zusammenhang mit anderen Symptomen oder nur sekundar 
auftreten; dahin gehoren z. B. die selbstandig auftretenden un- 
motivierten affektiven Erregungen, ebenso wie die unmotivierte 
Affektlosigkeit, die selbstandigen, unmotivierten stereotypen 
motorischen Erscheinungen, sprachliche Inkoharenz bei augen- 
scheinlich weit besser erhaltenem Zusammenhang der Ideen- 
assoziation, kurz, es ist der normale Zusammenhang zwischen 
Vorstellungen, Assoziationen imd Affekten, wie zwischen Vor- 
stellungen, Affekten und motorischem Verhalten gestort, zerfallen; 
die Gefiihlsbetonung entspricht nicht mehr dem Vorstellungs- 
inhalte; daher kommt es, dass eine Korrektur des Gesamtverhaltens 
trotz augenscheinlich bestehender oder nach voriibergehenden, 
stiirmischeren Erscheinungen wieder gewonnener Orientiertheit 
und Besonnenheit ausbleibt und schliesslich, nach Schwinden 
samtlicher akuten Krankheitserscheinungen, der intrapsychische 
Zerfall deutlich hervortritt. Diese Erscheinungen sind nicht nur 
auf Demenz im gewohnlichen Sinn zu beziehen; sie sind nicht die 
Folge des Verlustes, der Verarmung an Vorstellungen und Asso¬ 
ziationen schlechthin, sondern fur diese Falle kann die von Wernicke 
gegebene Hypothese der Sejunktion in Anspruch genommen 
werden als hypothetische Erklarung fur den psychischen Mecha- 
nismus des Zerfalls der einheitlichen Personlichkeit. 

In alien erwahnten Endzustanden spielt die Demenz, abgesehen 
von den sonstigen, fast nur mit ibr vereint anzutreffenden Sym¬ 
ptomen, eine mehr oder minder erhebliche Rolle. Echte Demenz 
ist stets als Ausgangssymptom aufzufassen. 

Zu den Endzustanden gehort zum Teil auch der unter der 
Bezeichnung „Zerfahrenheit“ in der Literatur erwahnte Sym- 
ptomenkomplex. Wir konnen ihn als dauemde primare Inkoharenz 
der Ideenassoziation auffassen; der Gedankengang hat in diesen 
Fallen keine Zielvorstellung, infolgedessen wird er von der Ausgangs- 
voretellung aus in keiner bestimmten Richtung fortentwickelt, 
sondern die Ausgangsvorstellung lost nur eine sich inhaltlicb in 
ganz einformiger, stereotyper Weise in denselben Vorstellungs- 
kreisen bewegende assoziative Reaktion aus, die von der nachsten 
Empfindung briisk unterbrochen wird, da mit ihr eine neue Aus¬ 
gangsvorstellung auftritt. Die Inkoharenz erstreckt sich nioht 
selten auch auf die Beziehungen zwischen Empfindung und Vor- 
stellung; die Empfindung vermag Vorstellungen auszulosen, die 


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3t>2 Bresowsky, Ueber die Beziehungen. der Paranoia acuta 

mit ihr in gar keinem Zusammenbange steben. Dazu ist die Ablenk- 
barkeit der Aufmerksamkeit, die Abhangigkeit des Gedankenganges 
von Empfindungen, hauptsachlich ausserer Herkunft, so gross, 
dass sich das betreffende Individuum ihnen nicht entziehen kann, 
doch ist diese im hochsten Masse gesteigerte Ablenkbarkeit, die 
Hyperprosexie, nicht der Grund oder der alleinige Grund der 
Inkoharenz, sondem vielleicht eine koordinierte Erscheinung, 
denn wir beobachten, dass auch bei Abschluss von alien ausseren 
Reizen die Kranken nicht zu assoziieren vermogen, und wenn wir 
auch nicht selten imstande sind, eine Antwort zu erzielen, die eine 
richtige Auffassung und Orientiertheit verrat, so ist docb die 
Zusammenfassung der einzelnen Vorstellungen und Assoziationen 
zu hoheren Einbeiten, nicht das ganz elementare, im Begriff schon 
enthaltene Urteilen, sondem das sich aus Ueberiegung oder Kom- 
binationergebendeUrteilen vollstandig unmoglicb. Diese, zusammen 
mit der Hypervigilitat der Aufmerksamkeit fiir alle ausseren Ein- 
driicke auftretende Inkoharenz ist zugleicb mit einer abnorm ge- 
ringen Ansprechbarkeit der Innenwelt des Kranken verbunden, 
trotz leidlicb erhaltener Auffassung des Kranken gelingt es uns 
nur unter den grossten Schwierigkeiten, ein auch nur momentanes 
Eingehen des Kranken auf unsere Fragen oder Aufforderungen 
zu erzielen. Unter „Zerfahrenheit“ ware also in solchen Fallen ein 
Zustand zu verstehen, der sich aus primarer Inkoharenz, abnormer 
Ablenkbarkeit, d. h. Hyperprosexie, und abnorm geringer Ansprech¬ 
barkeit der Innenwelt zusammensetzt. Erfahrungsgemass kann 
dieser Zustand unmerklicb in Demenz tibergehen. 

Ebenfalls unter den Begriff der Zerfahrenheit fallend und ihr 
rein ausserlich nicht unahnlich, aber von ganz anderer Zusammen- 
setzung sind diejenigen Falle, bei denen es sich um sekundare 
Inkoharenz handelt infolge von krankhafter Ablenkung der Auf¬ 
merksamkeit auf innereVorgange. Auch hier gelingt es nur unter den 
grossten Schwierigkeiten, den Kranken zu einem auch nur Momente 
dauernden Eingehen auf unsere Fragen oder Aufforderungen zu 
veranlassen, nichts vermag seine Aufmerksamkeit auch nur auf 
mehr als Augenblicke von seiner Innenwelt abzulenken. Die sprach- 
Jichen Aeusserungen erscheinen inkoharent, haufig nur weil die 
verbindenden Gedanken nicht ausgesprochen werden. Auch in 
diesen Fallen bewegen sich die sprachlichen Aeusserungen schliess- 
lich in stereotyper Weise in denselben Vorstellungskreisen, und die 
Inkoharenz nimmt den Charakter einer primaren an. Diese Wen- 
dung gibt dem Zustand eine absolut ungiinstige prognostische Be- 
deutung, oder er ist vielmehr schon der Ausgangszustand. Auch 
dieser Zustand vermag unmerklich in Demenz iiberzugehen, 
manchmal entwickelt sich aus ihm der zuerst erwahnte Typus 
und dann erst die Demenz. 

Schliesslich sind Zustande, die als Zerfahrenheit aufgefasst 
werden konnen,bei denEndzustanden der akuten halluzinatorischen 
Paranoia nicht selten als Folgen der Demenz zu beobachten: sie 
treten wegen Verarmung an Erinnerungsbildern und Assoziationen 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


363 


ein. Neben dem Fehlen der richtunggebenden Zielvorstellung 
beobachten wir in manchen Fallen Perseveration und Inkoharenz, 
in anderen Hyperprosexie und Inkoharenz; auch hier finden wir 
vielfach eine stereotypes Wiederkehren derselben Aeusserungen, 
ein Sichbewegen in immer denselben Vorstellungskreisen. 

Es ist also der Begriff der ,,Zerfahrenheit“ nicht bestimmt 
genug, da er fiir mehrere Zustande gebraucht werden kann. Fassen 
wir ihn in der oben erwahnten Begrenzung als zusammengesetzt aus 
primarer Inkoharenz, Hyperprosexie und Stereotypie auf, so gehort 
er zu den prognostisch ungiinstigen Anzeichen. Der Zustand kann 
ohne wesentliche Aenderung in sekundare Demenz iibeigehen. 

Wenden wir uns nunmehr zur Frage, wie sich das akute 
Stadium zum Ausgang, besonders zum Ausgangszustand verhaJt; 
lasst sich der Endzustand in seiner Zusammensetzung aus dem 
akuten Stadium voraussagen? Hierzu wiirde die weitere Frage 
kommen: entspricht oder f olgt ein solcher Endzustand immer nur 
einem bestimmten Verlaufstypus ? Nach unseren Erfahrungen 
konnen wir uns nur in ganz beschranktem Masse ein Bild vom 
Ausgangszustand des vorliegenden Falles machen, wenn wir tms 
bei unserer Beurteilung auf den symptomatologischen Aufbau des 
Zustandsbildes beschranken. Allerdings gibt es, wie oben an- 
gefiihrt, mehrere Symptome von prognostisch iibler Vorbedeutung, 
doch sind sie wohl zum Teil schon als Symptome des Ausgangs- 
zustandes, nicht des akuten Stadiums aufzufassen. Ein ebenfalls un- 
vollkommenes, aber doch ganz wesentlich besseres Bild vom End¬ 
zustand konnen wir uns machen, wenn wir ausser der Erscheinungs- 
form auch die Aetiologie des betreffenden Falles unserer Beurteilung 
zugrunde legen: die Erfahrung lehrt, dass das Zusammenwirken 
dieser beiden Faktoren auf einen im grossen und ganzen sich inner- 
halb gewisser Moglichkeiten bewegenden Endzustand hinweist, 
allerdings ist das Gebiet dieser Moglichkeiten recht weit. Von den 
rein exogenen Formen konnen wir sagen, dass sie, wenn nicht in 
Heilung, so in einfache Demenz verschiedenen Grades ausgeben, 
die sich von der residuaren psychopathischen Konstitution bis zur 
scbweren Demenz erstreckt. Auch kann es sich um einfache Demenz 
mit vereinzelten einformigen Wahnvorstellungen und Sinnes- 
tauschungen handeln, die aus der Zeit des akuten Stadiums persi- 
stieren. Der Endzustand ist seinem Charakter nacb vom akuten 
Stadium verschieden, der Verlauf der Psychose ist ein akuter, der 
Uebergang in den Endzustand erfolgt rasch. Eine bemerkenswerte 
Ausnahme bilden viele Falle von Puerperalpsychosen, ihr Verlauf 
nimmt einen von vornherein ungiinstigen Charakter an, sie gehen 
schnell in chronische, unveranderliche Inkoharenz iiber, in Zustande 
von ,,Zerfahrenheit“ mit oder ohne Sinnestauschungen, Wahn- 
vorstellimgen und unvermittelten Affekte. Dieses Verhalten der 
betreffenden Falle von Puerperalpsychosen hat vielfach die Ver- 
mutung angeregt, dass es sich um eine vom Puerperium ausgeloste 
endogene Psychose handele. Ueber die Berechtigung einer solchen 


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364 


Bresowsky, Ueber die Beziehungen etc. 


Auffassung lasst sich streiten; beachtenswert ist, dass in diesen 
Fallen — im Gegensatz zu Fallen mit anderer Aetiologie — der 
unveranderliche Endzustand haufig sich verhaltnismassig friih- 
zeitig entwickelt. Die mit primaren Affekt- und Assoziations- 
storungen auftretenden Falle zeigen meist beim Ausgang in den 
endgiiltigen Defektzustand einen allmah lichen Uebergang in den 
Defektzustand. Die nur langsam fortschreitende allgemeine Ver- 
schlechtenmg des psychischen Zustandes kann prognostisch ver- 
wertet werden, namentlich wenn es sich um periodische oder 
rezidivierende Falle handelt. Der Ausgangszustand pflegt eine 
manchmal mit periodischen Aufregungszustanden komplizierte 
allgemeine Demenz zu sein. Es scheint, dass wahrend des akuten 
Stadiums lange anhaltende Zustande von Verwirrtheit eine beson- 
ders schwere Demenz des Ausgangszustandes anzeigen. Die iibrigen 
spontan austretenden Falle der akuten halluzinatorischen Paranoia 
haben bekanntlich verschiedene Verlaufs- und Ausgangstypen, 
von welcheneinige von vielenPsychiatem als selbstandige Psychosen 
aufgefasst werden. Wenngleich man auch vom Ausgangszustand 
zuriickblickend die Entwicklung des Endzustandes verfolgen 
kann, so ist es doch vorlaufig ganz unmoglich, noch wahrend des 
Verlaufes den Endzustand vorauszubestimmen, bevor die oben 
angefiihrten, den Endzustand anzeigenden Symptome aufgetreten 
sind. Freilich geht man am wenigsten fehl, wenn man annimmt, 
dass der Verlauf der nicht greifbar exogenen Falle ungiinstig ist, 
was tatsachlich fur die meisten Falle zutrifft, doch ist diese Be- 
trachtungsweise zu hypothetisch, ein zwingender Grund nicht 
vorhanden, der Analogieschluss in vielen Fallen nicht anwendbar. 
Uebrigens lasst uns auch die Annahme eines ungiinstigen Ausgangs 
iiber den Charakter des Endzustandes im Dunkel, wo nicht die 
Vorlaufer des Endzustandes Hinweise geben: der Ausgangs- 
moglichkeiten sind zu viele, und sie sind unter einander zu ver- 
schieden. Im akuten Stadium vorherrschende halluzinatorisch- 
paranoische und inkoharente Zustande lassen keinen besonderen 
Einfluss auf die Entwicklung des Endzustandes erkennen. 

Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein Ruckschluss aus dem 
Ausgangszustand auf das akute Stadium und den Verlauf nur in 
ganz allgemeinen Ziigen moglich ist, und zwar am besten in den 
Fallen, in denen persistierende Eigentiimlichkeiten auf das akute 
Stadium hinweisen. (Fortsetzung folgt.) 


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Albrecht, Experimentelle Unfcersuchungen etc. 


365 


(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz. 
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.) 

Experimentelle Untersuehongen iiber die Grundlagen der 
sogenannten galvanlschen Hautelektrizit&t 1 ). 

Von 

Dr. OTHMAR ALBRECHT, 

k. und k. Reglraentaant. 


Einleitung. — Auffaasung der Autoren. — Fragestellung: 1. Wo ist 
der Sitz der elektromotorischen Kraft 7 — 2. Welches ist die Quelle der 
elektromot. Kraft 7 — 3. Wie Bind die Stromschwankungen zu erkiaren 7 — 
Allgemeine Versuchsanordnung. 

Versuchsiibersicht: 

1. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft 7 Versuch 1—4. — 
Ergebnis. — 2. Welches ist die Quelle der elektromotorischen Kraft ? 
Versuch 6—13. — Ergebnis. — 3. Wie aind die Stromschwankungen zu 
erkiaren? Versuch 14. — Spezielle Fragestellung. — Spezielle Versuchs¬ 
anordnung. Versuch 15—20. — Ergebnis. — Schlussbemerkungen. — 
Schlusssatze. — Benutzte Literatur. 

Mit dem Namen des paychogalvanischen Reflexes hat Vera- 
guth eine Erscheinung bezeichnet, welche ihrem Wesen nach schon 
liingere Zeit bekannt war. Im Jahre 1888 hat Fir 4 der Soci6t6 de 
Biologie eine kurze diesbeziigliche Mitteilung gemasht, welche nur 
als Vorlaufer der eigentlich grundlegenden Beobachtungen Tar- 
chanoffs (1890) angesehen werden kann. Seither haben sich mehrere 
Forscher ohne beaonderen Erfolg mit dem Thema beschaftigt, 
bis die systematischen Untersuchungen Veraguths neue Anregungen 
zum Studium der hier vorliegenden Probleme brachten. Dieses 
Studium erscheint um so interessanter, als die Auffassungen iiber 
das Wesen und die Bedeutung der fraglichen Tatsachen seitens 
der verschiedenen Autoren vielfach stark auseinander gehen. 

Einer Anregung Prof. Hartmanns folgend, habe ich mich in 
einer Reihe von Versuchen bemiiht, den Gegenstand vom physi- 
ktdischen und neurologischen Standpunkte aus zu studieren. Die 


») Eine vorlaufige Mitteilung der Ergebniase dieser Arbeit ist untor 
dem gleiohen Titel in Band II der Folia neurobioiogica, p. 224, erschienen. 

MooAtaaehrift filr Piychiatrie und Neurologic. Bd. XXV(I. Heft 4. 25 


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3(5(5 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

vorliegende Publikation bringt die Ergebniaae bloaa eines Teilea 
deraelben 1 ). 

Die noch nicht abgeachloaaenen Kapitel werden folgen. 

Da meine Experimente begreiflicherweiae enge an die von 
anderen angestellten ankniipfen und mit denaelben kritisch in 
Zuaammenhang gebracht werden miiaaen, eracheint vor allem notig, 
eine kurze Zusammensteliung zu geben iiber: 

Die Auffassung der Autoren. 

Fer^*) (1888) atellte zwei Elektroden von gleichemDurchmeaaer 
in einiger Entfernung voneinander auf die Vorderflache dea Unter- 
armes oder die Aussenflache dea Beinea und beobachtete, wenn er 
einen niasaig atarken Strom durch dieaelben leitete, dasa die Gal- 
vanometemadel nach verschiedenen aenaoriellen Reizungen dea 
Individuuma, 80 wie nach heftigen Emotionen einen lebhaften Aua- 
schlag zeigte. Daa Fehlen einea Reizea rief die entgegengesetzte 
Wirkung hervor. So zeigte sich bei einem Individuum achon nach 
dem Schlieaaen der Augen eine Verminderung dea Auaachlagea der 
Nadel. 

Fere faa8t die Eracheinungen ala Veranderungen im Leitunga- 
wideratande der Gewebe auf. 

Tarchanoff *) (1890) verwendete unpolariaierbare Tonelek- 
troden und ein Spiegelgalvanometer und achaltete die Verauchs- 
peraon ohne Anwendung einer Batterie in den Galvanometerkreia. 
Er beobachtete, daaa in alien Formen der Erregung dea Nerven- 
systems ein Strom nachweiabar wird, welcher von den an Driiaen 
reicheren Hautpartien zu den driiaenarmeren Partien verlauft, mit 
anderen Worten, ea entatehe ein aktiver eingehender Sekretiona- 
atrom der Hautdriiaen [Sekretionaatrom Herrmanns*)]. 

,,Ea weiat alao die Beobachtung der Hautatrome mittelat einea 
empfindlichen Galvanometera die wichtige Tataache einer Teil- 
nahme der Hautdriiaen an faat alien Vorgangen der Nerven- oder 
paychischen Tatigkeit dea Menachen nach.“ 

,,Wenngleich auch zeitlich begrenzt, iat der Verlauf beinahe 
jeder Art von Nerventatigkeit, von den einfachaten Eindriicken 
und Empfindungen bis zu hochster geiatiger Anstrengung und will- 
kiirlichen motoriachen Aeuaaerungen von veratarkter Tatigkeit der 
Hautdriiaen beim Menachen begleitet.“ 

1 ) Es sind dies hauptsachlich diejenigen Versuche, welche ich im Grazer 
physikalischen Universitatsinstitute (Direktor Hofrat PfauncUer) ausge- 
fiihrt habe. Fur die mir hierbei zuteil gewordene unermiidliche Unter- 
stutzung und Anregung bei der Anordnung der physikalischen Unter¬ 
suchungen sowie fiir die Kontrolle der Resultate derselben bin ich Herrn 
Professor Benndorf und Herrn Assistenten Dr. Rozic zu ganz besonderem 
Danke verpflichtet. 

2 ) Fere t Notes sur des modifications de la resistance electrique sous 
Pinfluence des exitations sensorielles et des emotions. Oomptes rendus do 
la Soc. de Biologie. 8. S6rie 5. 

3 ) Tarcfianoffy Ueber die galvanischen Erscheinungen in der Haut etc. 
Pfliigers Arch. 46. Bd. 

4 ) Vergl. Biedermanriy Elektrophysiologie. Jena 1895. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 367 


„Der gegenwartige Stand unseres Wissens erlaubt nur, die als 
Begleiterscheinung fast jeder Betatigung des zentralen Nerven- 
systems auftretende Verstarkung der Hautdriisenfunktion als Folge 
gleichzeitiger, zur Entwicklung von Hautstromen fiihrender Er- 
regung der der Schweisssekretion vorstehenden Nervenzentren auf- 
zufassen." 

Sticker 1 ) (1897) kniipfte an die Versuche Tarchanoffs an, um 
eine objektive Darstellung von Sensibilitatsstorungen zu versucben. 
Er verwendete ein mochfiziertes, astatisches Galvanometer von 
Dubois und Rubens und unpolarisierbare Elektroden. 

Die Experimente mit gesunden Personen bestatigten die Er- 
gebnisse Tarchanoffs, wahrend die Versuche an Kranken mit An- 
asthesien, auch solchen, welche durch periphere Nervenlasion her- 
vorgerufen waren, insofem negativ ausfielen, als auch von den 
anasthetischen Stellen aus Reaktionen zu erzielen waren. Er ver- 
wies in seiner Auffassung der Vorgange auf die grosse Aehnlich- 
keit der Erscheinungen mit den Sekretionsstromen Herrmanns, 
weiter auf die Uebereinstimmung der hier gewonnenen Resultate 
mit den von HaUion und Comte gefundenen Veranderungen in den 
Kapillargefassen der Finger, und meint: „Es handelt sich beim 
Erregungsstrom zum mindesten um einen zusammengesetzten Vor- 
gang, in welchem Sinnesreizung und Sekretionsstrom mit lokaler 
Kapillarreizung und allgemeiner Kapillarkreislauferregung sich 
gegenseitig beeinflussend in wechselndem Masse zur Geltung 
kommen.“ 

Sommer 2 ) (1902) ging von der Annahme aus, dass beetimmte 
Aenderungen des Stromes zustande kommen, fur welche eine Ver- 
anderung der Leitungsfahigkeit an den Handflachen infolge 
psycho-physiologischer Vorgange angenommen werden. Er kon- 
struiert deshalb in dem Bediirfnis, die Elektroden zu verbessern, 
einen Apparat, welcher im wesentlichen aus zwei isolierten Kaut- 
schukballons besteht, deren Oberflache mit Stanniol iiberzogen 
ist. Vom Stannioluberzug konnen durch geeignete Klemmen 
Strome abgeleitet werden. Ueberdies rieb er bei einem Teil der 
Versuche die Hande bezw. Finger der Versuchspersonen mit Bronze- 
pulver ein. Er kam auf Grund seiner Untersuchungen zu folgenden 
Resultaten: 

,,1. Die elektromotorischen Vorgange sind an den Fingern 
ausserordentlich viel starker als an den Handtellem. 

2. Bei ihrem Zustandekommen spielen Muskelinnervationen, 
welche die Finger mehr oder weniger stark an die Elektroden an- 
driicken, eine wesenthche Rolle. 

3. Insofern, als diese unwillkiirliche Ausdrucksbewegungen 
sind, kann von einem elektromotorischen Endresultat psycho- 


’) Sticker, Ueber Versuche einer objektiven Darstellung von Sensi¬ 
bilitatsstorungen. Wiener klin. Rundschau. II. No. 30, 31. 

*) Sommer, Zur Messung elektromotorischer Vorgange an den Fingern. 
Beitrage zur psych. Klinik. I. j Hoft 3. 

25* 


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368 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

physiologischer Vorgange gesprochen werden, ohne dass dies© 
selbst ohne weiteres als elektrodynamisch aufgefasst werden 
konnten. 

4. Die sekretorische Theorie ist unzureichend, urn alle Beob- 
achtungen zu erklaren, es muss neben derselben eine muskelphysio- 
logische Komponente anerkannt werden. 

&. Auch beide Theorien zusammen sind nicht geeignet, um 
die Tatsache der ausserordentlich starken elektromotorischen Wir- 
kungen an den Fingern auch bei leichtem Auflegen auf die Elek- 
troden vollig zu erklaren.“ 

In einer spateren Publikation 1 ) (1905) sagt Sommer: „Fest- 
gestellt habe ich die Tatsache, dass die mit dem Spiegelgalvano- 
meter nachweisbaren Strome wesentlich durch Druckdifferenz an 
den Elektroden bedingt sind.“ 

Er konnte die gleichen Erscheinungen rein physikalisch da- 
durch erzeugen, dass er metallisch verbundene, mit isoherenden 
Handgriffen versehene Elektroden auf die Elektroden der Ver- 
suchsanordnung verschieden stark andriickte. 

Fiirstenau 2 ) (1906) versuchte, angeregt durch Sommers Unter¬ 
suchungen, die physikalischen Elemente der elektrischen Vorgange, 
welche in diesen Experimenten zum Ausdruck kommen, zu er- 
griinden, und kam mittelst systematischer Versuche zu der An- 
schauung, dass der menschlichen Haut in der elektrischen Span¬ 
nungsreihe eine Stellung zwischen Zink und Aluminium zukommt, 
so dass wir bei der bekannten Versuchsordnung das Bestehen 
zweier Elemente an den Beriihrungsstellen zwischen Elektroden 
und Haut anzunehmen hatten. Daraus ergibt sich, dass in dem 
die beiden Elektroden verbindenden Korper zwei gegeneinander 
gerichtete Strome verlaufen. 

Sommer und Fiirstenau 8 ) (1906) gaben in einer weiteren Publi¬ 
kation die Stellung der menschlichen Haut in der elektrischen 
Spannungsreihe zwischen Kupfer und Antimon an und zeigten, 
dass die Stromintensitat wesentlich erhoht wird, wenn als Elek- 
trodenKorperverwendetwerden,die in der galvanischen Spannungs¬ 
reihe von der fur die Haut gefundenen Stelle einerseits und anderer- 
seits so weit entfemt sind, dass an den Beriihrungsstellen der 
Elektroden zwei hintereinander und nicht gegeneinander ge- 
schaltete Elemente entstehen. Sie verwendete deshalb fur die eine 
Elektrode Zink, fur die andere Kohle. 

Veraguth*) machte im Jahre 1906 nach langeren Studien die 


*) Sommer, Die Natur der elektrischen Vorgange an der Haut. Munch, 
med. Wochenschr. 1905. No. 51. 

*) Fiirxtenau, Die Stellung der menschlichen Haut in der elektrischen 
Spannungsreihe. Zentralbl. f. Physiol. 1906. 

*) Sommer und Fiirstenau, Die elektrischen Vorgange an der mensch¬ 
lichen Haut. Klinik f. psych, u. nerv. Krankheiten. I. Heft 3. 

4 ) Veraguth, Ueber den galvanischen psychophysischen Reflex. Ber. 
iiber den II. Kongr. f. experim. Psychologic. Wurzburg 1906. — Das 
psychogalvanische Reflexphanomen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 


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Grand!agen der sogenannten galvanischen Hautelektrizit&t. 369 

ersten Mitteilungen von seinen bis dahin gewonnenen Resultaten. 
Er kam, wie er angibt, ohne Kenntnis von Tarchanoffs Arbeit auf 
dem Wege einer etwas geanderten Versuchsanordnung zu im 
wesentlichen gleichen Resultaten. Er leitete durch den mensch- 
lichen Korper den Strom zweier Leclanch6-Elemente, verwendete 
ein Spiegelgalvanometer und einen Shunt und stellte eine An- 
ordnung zur direkten graphischen Darstellung mittelst photo- 
graphischer Films zusammen. Er driickte sich hinsichtlich der 
Auffassung der von ihm gewonnenen Resultate und ihrer Ursachen 
mit grosser Vorsicht aus. 

Die wesentlichsten seiner diesbeziiglichen Anschauungen sollen 
im folgenden zusammengefasst werden: 

Es ist unwahrscheinlich, dass die Spiegelschwankungen der 
Ausdruck einer einfachen Veranderung des Leitungswiderstandes 
sind. Die Veranderung der Blutmenge in den Handen der Ver- 
8 uchsper8on kaim die Drehung des Galvanometer-Spiegels nicht 
verursachen. (Esmarchsche Blutleere, venose Stauung). 

Es ist unwahrscheinlich, dass der Schweiss eine wesentliche 
Rolle bei dem Zustandekommen der Galvanometerschwankungen 
spielt (formalinisierte Hande). 

Unwillkiirliche Veranderungen der Kontaktgrosse konnen 
nicht alleinige Ursache der Reizkurvenschwankungen sein (Finger- 
hutelektrode). 

„Es sind nicht die spinalen Nerven, die das anatomische Sub- 
strat des zentrifugalen Schenkels des Reflexbogens bilden, denn 
wenn ein zweiter galvanischer Strom durch den Korper geschickt 
wird, so addiert oder subtrahiert sich dessen Wirkung (je nach 
Gleichheit oder Ungleichheit der Richtung des zweiten Stromes) 
zur, bezw. von der primaren Kurve, gleichviel ob die differente 
Elektrode des zweiten Stromes auf den Verlauf der Armnerven 
aufgesetzt sei oder anderswo am Arm.“ 

Seine erste ausfiihrliche Publikation iiber den Gegenstand 
(1907) schliesst Veraguth mit der Konstatierung dreier Probleme. 
Das erste sieht er darin, dass in den Ruhekurven die Stromstarke 
stetig abnimmt, das zweite darin, dass die Hohlhand die beste 
Applikationsstelle fiir die Elektroden ist. Das dritte Problem for- 
muliert sich in der Frage: Wo entsteht dieser Strom? 

Die Aufgaben, welche er weiterhin gegeben erachtet, sind: 

„1. Neue Fragen beziiglich des Leitungswiderstandes des 
menschlichen Korpers. 

2 . Nachweis der elektromotorischen Quellen im oder am 
Korper, die unter Reizen im psychogalvanischen Reflexphanomen 
variabel sind. 

3. Nachweis der anatomischen Substrate des zentrifugalen 
Reflexschenkels bis hinaus zur Elektrode. “ 

Mai 1907 und Marz 1908. — Ueber die Bedeutung des psychogalvanischen 
Reflexes. I. Jahresversamml. d. Gesellsch. d. Nervenarzte. Dresden 1907 etc. 

Veraguth und Clotta, Klinischo und experimentelle Beobachtungen. 
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1907. 


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370 


Albrecht, Experimented Untersuchungen iiber die 


In der Marz 1908 erechienenen Publikation beantwortet Vera- 
guth die Frage, ob der psychogalvanische Reflex zum objektiven 
Existenznachweis von sensiblen Erapfindungen nach relativ kurz 
andauemden exogenen Reizen und von pathologischer Reiz- 
schwellenverschiebung dieser Empfindungen dienen kann. 

- In der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nerven- 
arzte, 1908, sprach Veraguth vom Leitungswideretand der mensch- 
lichen Hand und berichtete, dass derselbe nach seinen Experi- 
menten nicht nur von der Applikationsstelle der Elektroden, 
sondern auch von der Dauer der Durchstromung und der Spannung 
des Stromes abhangig und danach verechieden ist. 

In einer 1909 erechienenen Monographic 1 ) hat Veraguth seine 
bisherigen Arbeiten zusammengefasst und einige neue Kapitel an- 
geschlossen, in denen bei kritischer Verwertung des Materials der 
anderen Autoren die angefiihrten Anschauungen teilweise modi- 
fiziert, teilweise ausgebaut werden. 

Wir entnehmen dieser Arbeit, besondere dem Kapitel iiber 
die Entstehung des Phanomens, folgende Auffassungen: 

In alien Anordnungen handle es sich im psychogavanischen 
Reflex um Schwankungen der elektromotorischen Kraft (E) und des 
Wideretandes (W). 

Die verechiedenen Anordnungen unterecheiden sich nach der 
Eigentiimlichkeit dieser zwei Grossen folgendermassen: 

In der Anordnung Tarchanoff-Sticker: 

E entstehe in der Haut, endosomatisch (variabel) 
konstant: Apparat 

W < . , , . episomatisch: Kontakt 

v»nabel< e r dosomatUch 

In der Anordnung Sommer-Fiirstenau : 

E entstehe in zwei Elementen episomatisch (variabel), wobei der 
Haut die Bedeutung eines Metalles beigemessen wird, und endo¬ 
somatisch (variabel). 

W wie oben. 

In der Anordnung Muller s ): 

E exosomatisch (Batterie, konstant) und endosomatisch (variabel); 
die an den Elektroden entstehenden Strome seien gegeneinander 
gerichtet und heben sich auf. 

W wie oben. 


Die Ohmsche Formel 
ordnung: 


- ( J -») 


laute demiiach fiir seine An- 


= o 


J = 


E exos. konst, dr E epis. var. links qF E epis. var. rechts + E endos. var. 


VV exos. konst. + W epis. var. + W endos. var. 


J ) Veraguth, Das psychogalvanische Keflexphanomen. Berlin 1909. 
S. Karger. 

2 ) Ingenienr Muller hat in. E. mit alien medizinisch-wissenschaft- 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat, 371 

Die endosomatische elektromotorische Kraft stamme von den 
Aktionsstromen der Nerven, den Driisenstromen, dann den Begleit- 
stromen der Muskelkontraktionen, sekundar von Polarisations- 
stromen 1 ). 

Bezuglich seiner eigenen Anordnung sagt Veraguth (1. c., p. 172): 
„Man kann also in arbitrarer Verdichtung der obigen Ueber- 
legungen sagen, dass das p. g. Phanomen in der Anordnung 
M. ein Ausdruck der Widerstandsvariation der Haut unter 
psychischem Reize sei.“ 

Er schliesst unter Hinweis auf die elektrischen Organe gewisser 
Fische mit dem Satze: „Die Haut der Hohlhand und der Fuss- 
flache sind in bevorzugtem Masse das elektrisehe Organ des Men- 
schen.“ 

Jung*) hat die Veraguthsche Methodik im Vereine mit mehreren 
Schiilern besonders zu Assoziationsexperimenten ausgebaut, einen 
Apparat konstruiert, der die fortlaufende graphische Registrierung 
ermoglicht, und ist dabei zu Anschauungen gelangt, welche im 
wesentlichen mit denjenigen Veraguths harmonieren. 

Er meint u. a.: Die galvanometrischen Schwankungen hangen 
nicht bloss ab vom Druck der Hande auf die Elektroden, von der 
Blutfiille und von der Schweisssekretion, sondern noch von weiteren, 
vorderhand nicht bekannten Faktoren. 

L. Binswanger 3 ), ein Schuler Jungs, arbeitete auf dem Gebiete 
des Assoziationsexperiments mit der Methodik seines Lehrers. 

Knauer 3 ) (1908), ein ehemaliger Assistent Sommers, kniipfte 
an die Arbeiten des letzteren und Fiirstenaus an. 

Er sagt, dass ,,die Haut als eine sehr komplizierte semiper- 
meable Membran zu betrachten sei“, welche zwischen zwei Elektro- 
lyten, der Gewebsfliissigkeit innen, dem Schweisse aussen, Uegt. 

Es entstehe eine Konzentrationskette. Er fasst die Resultate 
seiner Untersuchungen in dem Satze zusammen: 


lichen Arbeiten, welche durch die von Veraguth durchgefiihrte Verwortung 
seiner zu anderen Zwecken zusammenges tell ten Versuchsanordnung in- 
auguriert worden sind, einen so geringen Zusarnmenhang, dass man die 
Anordnung besser die von Veraguth nennt. 

l ) Veraguth meint offenbar, dass die Quelle der endosomatiseh ent- 
standen gedachten elektromotorischen Kraft jene chemischen Vorgange 
sind, welche unter anderen Umstanden in den sogenannten Aktionsstromen 
etc. in Erscheinung treten. 

*) Jung . Diskussionsbemerkung zu Vertiguths Vortrag am II. Kongress 
f. experim. Psych. Wurzburg. 

Ricksher und Jung , Nouvelles recherches sur le phenomena gal- 
vaniqueetc. The Journ. of abnormal Psychol. II. p. 189. Ref. Rev. Neurol. 
XVI. p. 750. 

Peterson und Jung, Psychophysical Investigations. Brain. Juli 1907/ 

*) L. Binswanger , Ueber das Verhalten des psychogalvanischen 
Phanomens beim Assoziationsexperiment. Inaug.-Diss. Zurich 1907. 

4 ) Knauer , Ueber den Einfluss von Ausdrucksbewegungen auf das 
elektrolytische Potential und die Leitungsfahigkeit der Haut. Klinik f. 
psych, u. nerv. Krankheiten. 3. Bd. Heft 1. 


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372 Albrecht, Expeiiirentelle XJntersuchungen iiber die 

,,Jede psycho-physische Bewegung scheint mit einer Aende- 
rung des elektrolytischen Potentials bezw. der Leitfahigkeit der 
Haut einherzugehen, die bei unserer Kombination als Zunahme 
der Stromintensitat in die Erscheinung tritt.“ 

Wie man siebt, sind die Auffassungen iiber das Wesen der uns 
beschaftigenden Erscheinungen ausserordentlich mannigfaltige. Wie 
schon Veraguth richtig hervorgehoben hat, eroffnen sich auf dem 
Felde der Elektrophysiologie wie der Neurologic weite Arbeits- 
felder. Das nachste, was uns in dieser Richtung zu beschaftigen 
hat, ist, Aufklarung zu bringen iiber die Stromquelle und die Ur- 
sachen der Stromschwankungen. 

Es ergibt sich daraus die 

Fragestellung: 

1. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft? 

2. Welches ist die Quelle der elektromotorischen Kraft ? 

3. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren ? 

Weiteren Untersuchungen, mit welchen ich bereits beschaftigt 

bin, wird die Beantwortung von Fragen vorbehalten sein, welche 
sich auf die Beziehungen zu vasomotorischen Vorgangen, sowie 
anderen somatischen Erscheinungen und ihren physiologischen Zu- 
sammenhang richten. 


Versuchsanordnung. 

Zur Nachpriifung der bisherigen Versuche wurden Apparate 
verwendet, welche die moglichst gleichen Verhaltnisse bieten 
konnten wie diejenigen, welche von den anderen Autoren benutzt 
wurden. 

Es stand mir dazu ein Galvanometer von Edelmann in Miinchen 
zur Verfiigung, welches Herr Prof. Klemensietcicz beizustellen so 
liebenswiirdig war. 

Dasselbe besitzt einen Widerstand des beweglichen Systems 
von 740 Ohm und eine Empfindlichkeit von 1 mm = 2 • 10 —9 Amp. 
bei einer Skalendistanz von 2 m. Als Nebenschlusswiderstand 
wurde ein Stopsel-Rheostat von Hartmann und Braun mit Einzel- 
widerstanden von 0,1—400 Ohm verwendet. Dadurch war es mog- 
lich, eine graduelle Abstufung der Ausschlage bei jeder beliebigen 
Stromintensitat, welche in Frage kam, zu erzielen. 

Als Elektroden standen Metallkorper in der Form von Stangen, 
Platten und Fingerringen in Verwendung, und zwar vergoldete und 
vernickelte Messingrohren, Aluminium und Zink. 

Wurden die Extremitaten in Fliissigkeiten getaucht, hiillte 
ich den gleichzeitig eintauchenden Metallstab in eine Glasrohre, 
wodurch ein zufalliges Beriihren desselben und dadurch mogliche 
Kontaktanderungen vermieden wurden. Selbstverstandlich war die 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 373 

Fliissigkeit entsprechend erwarmt und die Extremitaten vorher 
wie bei alien Vereuchen griindlich gereinigt 1 ). 

Den grossten Teil der Versuche machte ich unter Anwendung 
moglichst einfacher Verhaltnisse. 

Diese bestanden m. E. in der Anwendung von Nickelgriff- 
Elektroden mit Ausschluss einer korperfremden Stromquelle, aber 
unter Anwendung eines Shunt, so dass diese Versuchsanordnung 
sich am meisten der von Tarchanoff gebrauchten naherte, nur mit 
dem Unterschiede, dass hier keine unpolarisierbaren Elektroden 
in Verwendung standen*). Wenn auch Veraguth behauptet, dass 
die Resultate auf dem Wege seiner Versuchsanordnung mit den 
von Tarchanoff erzielten nicht identisch, sondem ihnen nur ver- 
wandt seien, so musste doch die bis in alle wesentlichen Einzel- 
heiten gehende Uebereinstimmung derselben vermuten lassen, dass 
diese Resultate auf gleicliartigen Vorgangen beruhen. Es bedeutet 
m. E. demnach die Einschaltung einer korperfremden Stromquelle 
eine Komplikation. Von vornherein ist keineswegs auszuschliessen, 
dass die elektrolytischen Vorgange, welche in den Korpergeweben 
zustande kommen konnen, so wie andere nicht oder schwer mess- 
bare Vorgange physiologischer Natur, welche Veranderungen in 
der physikalischen Konstitution des Korpers bewirken konnen, 
z. B. vasomotorische etc., in der Entstehung der zu untersuchen- 
den Erscheinungen eine Rolle spielen. Es war deshalb notwendig, 
um den Kern der Erscheinungen moglichst rein herauszuschalen, 
auch die einfachsten Versuchsverhaltnisse anzuwenden. 

Bei alien Versuchen wurde von der Einstellung des Galvano¬ 
meters auf 0 ausgegangen, die Skala geht beiderseits (rot und 
schwarz) bis 30 cm in Millimeter-Teilung. 

Es ist bekannthch ndtig ( Veraguth , Monographie, p. 14), mit 
den Reizversuchen erst dann zu begixmen, wenn die Schwankungen 
des Galvanometers, die sich anfangs einstellen, aufgehort haben, 
wenn der Ausschlag gewissermassen stationar geworden ist. Man 
geht also von einem Punkte der Ruhekurve aus. Ein solcher ist 
in den folgenden Versuchen mit der Bezeichnung „Ruhestellung“ 
gemeint. 

Eine Reihe von Versuchen 'wurde in der Anordnung nach 
Veraguth gemacht und standen dabei ebenfalls als korperfremde 
Stromquelle ein oder zwei Leclanche-Elemente in Verwendung. 

*) Die Reinigung wurde durch Waschen mit Seife und Bvirate in 
fliessendem Wasserleitungswaseer und nachherigem griindlichem Abspiilen 
der Seife vorgenommen. Zum Abtrocknen standen besonders gereinigte 
Handtiicher in Verwendung. Wurde destilliertes Wasser als Elektrode 
verwendet, so fand vor dem Eintauchen der Hande eine Abspiilung mit 
destilliertem Wasser statt. Alkohol erscheint zum Reinigen nicht geeignet. 
weil er in Losungen die Elektrizitat nicht leitet und durch das Eindringen 
in die Poren der Haut ein iStromhindernis abgeben und die Ursache von 
Beobachtungsfehlern werden kann (vergl. Rolof) in Koranyi-Richter, p. 189). 

2 ) Das Fehlen eines Galvanometerausschlages bei derartiger Ver¬ 
suchsanordnung, von dem Verayuth in seiner Monographie, p. 160, berichtet, 
ist jedenfalls auf die eeringe Empfindlichkeit seines Tnstrumentes zuriick- 
zufiihren. 


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374 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen viber die 


Schliesslich habe ich eine eigen© Versuchsanordnung zur 
Losung bestimmter Problem© zusammenge3tellt, deren Einzel- 
heiten spater beschrieben werden sollen. 

I. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft? 

Die Antwort auf die in der Ueberschrift ge3tellte Frage konnen 
wir bei der Anordnung ohne korperfremde Stromquelle in drei 
Richtungen suchen: 

Entweder: 

1. Der Sitz der elektromotorischen Kraft befindet sich im 
Korper oder 

2. im Korper und am Korper oder 

3. am Korper (an der Kontaktstelle der Elektroden) allein. 

1st der Sitz der elektromotorischen Kraft im Korper gelegen, 

dann miissen, sobald ©3 zu einem Strom kommt, d. h. zum Aus- 
gleich von Potentialdifferenzen durch den ausseren Kreis, diese 
Potentialdifferenzen im Innern des Korpers schon ausgebildet sein. 
Die Richtung des Stromes ist dadurch bestimmt. Wenn die Elek¬ 
troden demnach nur dem Kontakte dienen, so muss notwendiger- 
weise dann, wenn man die Elektroden in den Handen wechselt, 
eine Umkehr der Stromrichtung im Galvanometer eintreten. 

Ist das Zweite der Fall (Sitz der elektromotorischen Kraft am 
und im Korper), dann miissen ebenso wie im ersten Fall© bei Be- 
riihrung der Korperteile, welche die Elektroden tragen, unterein- 
ander Intensitatsschwankungen entstehen, weil durch diesen Kurz- 
schluss der aus dem Korperinnern abgeleitete Strom zum Teil 
einen anderen Weg nimmt. 

Trifft die dritte Annahme zu, dann miissen sich entgegen- 
gesetzte Verhaltnisse ergeben. 

Zur Beantwortung dieser Frage wurden zunachst die folgenden 
Versuche angestellt. 

Versuchsreihe 1. 

Wenn ich mit der oben beschriebenen Anordnung: Nickel- oder 
Goldelektroden in den Handen ohne korperfremde Stromquelle 
einen Menschen in den Galvanometerkreis schaltete, war es mir 
zu wiederholten Malen moglich, zu beobachten, dass durch das 
rasche Wechseln der beiden Elektroden von einer Hand zur andern 
keine Veranderung im Galvanometerausschlag entstand. Das 
heisst, hatte ich z. B. 35 mm Spiegelausschlag in der Richtung 
nach rechts und wechselte ich nun rasch die Elektroden in den 
Handen, so blieb in diesen Fallen der Ausschlag nicht nur in der 
Richtung nach rechts bestehen, sondern er zeigte auch nur leichte 
Schwankungen iiber wenige Millimeter und stellte sich die Skala 
eventuell gleich wieder auf 35 mm ein. Diese Versuche gelangen 
mit verschiedenen Versuchspersonen. 

Aus diesen Versuchen Idsst sich mit Sicherheit ausschliessen, 
dass ein im Innern des Korpers entstandener Strom, also etiva ein 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 375 

Muskelstrom, ein Nervenstrom oder ein Sekretionsstrom der Driisen 
durch die Elektroden zum Galvanometer abgeleitet worden ist, denti 
bet einem solchen hatte uiibedingt das Wechseln der Elektroden eine 
Stromwendung im Galvanometer zur Folge haben miissen. 

Brachte ich (bei verschiedenen Versuchspersonen) die ange- 
feuchteten Fingerriicken der beiden Hande, welche die Elektroden 
hielten, miteinander in innigen Kontakt, so entstand dadurch 
keine Aenderung der Stromintensitat. 

Es geht daher aus diesen Versuchen hervor, dass der Strom 
an den metallischen Elektroden selbst entstanden sein muss. Die 
Elektroden sind dabei wie die Pole eines Elementes aufzufassen, 
welche ihre Qualitat durch das Wechseln in den Handen ebenso 
wenig anderten, wie wenn man die beiden Pole eines galvanischen 
Elementes in einem Elektrolyten im Glase zueinander in der 
Stellung verandert. 

Diese Versuche stehen zum Teil in Widerspruch mit den 
Resultaten, welche Fiirstenau bei seinen Untersuchungen erhielt. 
Fiir8tenau ging von der Auffassung aus, man konne sich die Haut 
aktiv an der Stromerzeugung betatigt denken, wie ein Metall, so 
dass ausschhesslich der Hautfeuchtigkeit die Funktion eines Elek- 
trolyten zukommt. Diese Vermutung scheint von vornherein 
einigermassen gewagt. Was soli man sich als Haut in diesem Sinne 
vorstellen? Das lebende Gewebe ist von Elektrolyten durchsetzt 
und umspiilt. Ihm kann man wohl nicht die Eigenschaften eines 
Metalles zumuten. Es bliebe hochstens die Hornschicht der Epi¬ 
dermis iibrig, um die Rolle eines Metalls in der galvanischen 
Spannungsreihe zu spielen. 

Seiner Vermutung glaubte Fiirstenau einen beweisenden Halt 
durch eine Beobachtung zu geben. Er versuchte, wie sich die Aus- 
schlagsrichtung des Galvanometers bei verschiedenen Verhalt- 
nissen zwischen rechter Hand-Elektrode, linker Hand-Elektrode 
und beim Wechseln der Elektroden verhalt, wenn man immer nur 
eine Hand in innigen Kontakt brachte, wahrend die andere eben 
nur beriihrt. Er bemerkte dabei ein Wechseln der Ausschlags- 
richtung und schloss daraus auf das Entstehen zweier verschieden 
gerichteter Strome an den beiden Elektroden. 

Ich konnte seine Beobachtungen nicht bestatigen. Meine Ver¬ 
suche ergaben unter anderem: 

Versuch 2. 

Versuchs-Person Sophie H., 18 Jahre alt, rothaarig, gesund, 
Nickelhand-Elektroden S. W. (Seiten-Wideretand) = 40 Ohm. 


Beide Hande ruhig 

-1.8 1 ) 

Rechts festerer Druck 

— 2,6 

Locker lassen 

— 1,7 

Links fester Druck 

— 2.1 

Locker lassen 

— 1,4. 


') Die Zahlen, welche den Ausschlag angegeben, bedeuten durcli- 
wegs, wenn etwas anderes nicht besonders gesagt wird, Zentirneter, also: 
1,8 = 18 Millimeter. 


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376 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die 


Dann entsprechend der Tabelle 2 von Fiiretenau unter gleichen 
Verhaltnissen wie im letzten Vereuche, nur mit S. W. von 200 Ohm, 
ergaben sich folgende Zahlen: 

Versuch 3. 

Anordnung: 

1. R. voile Hand 
L, Fingerepitze 

2. L. voile Hand 
R. Fingerepitze 

Elektroden gewechselt, — 4,3 geht zuriick auf — 0.9. 

3. R. voile Hand 
L. Fingerepitze 

4. L. voile Hand 
R. Fingerepitze 

Aus diesen Vereuchen ergibt sich: durch den Druck der Hande 
wurde ebenso wenig wie durch das vorwiegende Einwirken einer 
Hand eine Aenderung der Ausschlagsrichtung hervorgerufen. In 
der zweiten und der vierten Anordnung tritt aber eine um das 
Dreifache grossere Wirksamkeit der linken Hand zutage (0,9 gegen 
0,3 und 3,1 gegen 0,9, dieVereuchspereon istLinkshandem). Etwas, 
was uns erlauben konnte, an die Existenz zweier Elemente — je eine 
Elektrode und eine Hautstelle — zu denken, liegt nicht vor. 

Weitere Untersuchungen Fiirstenaus bezogen sich auf das Ver- 
halten des Galvanometerausschlages bei verechiedenen Stellungen 
der Elektroden zum Galvanometer und den Handen. 

Er ging dabei so vor, dass er die Elektroden „vertauschte“ — 
„d. h. die rechte Elektrode mit der Galvanometerlkemme verbindet, 
mit welcher vorher die linke verbunden war und umgekehrt“. 
Bei einem einfachen Elemente (z. B. zwei Elektroden, die durch 
einen befeuchteten Faden verbunden sind) ist der Effekt deraelbe 
wie bei einfacher Stromwendung mittels Kommutator. Bei der 
Einschaltung des menschlichen Korpers kommt noch das Wechseln 
der Hande mit in Frage. Nach unseren Vereuchen (Vereuch 1) 
ist zu erwarten, dass beim Vertauschen der Elektroden die Strom- 
richtung umschlagt. Denn das Wechseln der Elektroden in den 
Handen soli nach unseren Vereuchen bedeutungslos sein, so bliebe 
also nur die Stellungsanderung gegeniiber dem Galvanometer in 
Wirksamkeit. 

Fursienau berichtet andere Resultate in seiner Tabelle IV. 
Durch das Vertauschen der Elektroden (zweite Zeile) erhalt er nicht 
eine Wendung der Stromrichtung, sondem nur eine Verminderung 
der Stromintensitat bei gleicher Stromrichtung. Erst durch das 
Kreuzen der Hande (dritte Zeile) erzielt er die Stromwendung. Diese 
ist selbstverstandlich, denn die dritte Zeile der Tabelle unter- 
scheidet sich der Anordnung nach von der' ersten nur dadurch, 
dass der Strom umgekehrt durch das Galvanometer geschickt 
wird. Es bleibt also zunachst die Frage offen, warum seine zweite 
Zeile nicht unseren Erwartungen entspricht. 


— 0,9 
-3,1 


— 0,3 

— 0,9 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 377 


Zur Nachprdfung der Furstenausohen Ergebnisse wurde der 
folgende Versuch gemacht: 

Es wurden dabei aus beetimmten Griinden nicht die ganz gleichen 
Versuchsbedingungen, wie FiirsUnau eie anwendete, beibehalten. Dae 
„Vertauschen“ der Elektroden ist ein Vorgang, welcher nicht gleichgiiltig 
eein kann, weii er 1. Zeit benotigt, 2. ein ManipuJieren an Klemmen inner - 
halb dee Stromkreises bedingt, wodurch bekanntlich iramer Stromschwan- 
kungen hervorgerufen werden, 3. ein Abeetzen der Hande von den Elek¬ 
troden fur mindestens einige Sekunden zur Folge hat. Verwendet man 
hingegen einen Quecksilbernapfkommutator und zylinderformige Elek¬ 
troden, so konnen die von Fiirstenau erreichten Stellungen mit Verroeidung 
der oben erwahnten Momente, deren Folgen wir nicht ganz ermeesen konnen. 
zustande gebracht werden. 


Versuch 4. 



Versuchsperson 

Sophie H. 

S. W. = 

40 Ohm. 



Elektroden 

Gold 

Nickel 

Alumin. 

Zink 

1 

Erste Schaltung 

+ 2,7 

+ 1,8 

+ 2,2 

+ 2,2 

2 

Nach Wendung 

— 2,6 

-1,9 

— 1,6 

-1,9 

3 

Erste Schaltung 

+ 2,6 

+ 2,1 

+ 1,6 

+ 2,0 

4 

Hande gewechselt 

+ 1,7 

+ 2,0 

— 3,5 

— 0,3 

5 

Nach Wendung 

— 1,6 

-2,1 

+ 0,5 

+ 0,8 


Unsere erste Zeile (erete Schaltung) entspricht der ersten Zeile 
Furstenaus. Es fiihren hier wie dort alle Zahlen + Vorzeichen. 
Unsere zweite Zeile (nach Wendung) entspricht seiner dritten. Es 
sind hier und dort allenthalben — Vorzeichen vorhanden. 

Die Stellung entsprechend der zweiten Zeile Furstenaus ist bei 
tins in der fiinften Zeile (Hande gewechselt, nach Wendung) erreicht. 
Hier setzen die Unterschiede ein. Unsere Ergebnisse mit Nickel 
und Gold entsprechen den von uns vorhin angefiihrten Erwar- 
tungen und stehen im Widerspruche zu den Resultaten Furstenaus. 
Wir haben — Vorzeichen, er + Vorzeichen. Hingegen entsprechen 
die Erscheinungen bei Aluminium und Zink den Angaben Furstenaus. 
Auch wir haben hier gleiche Vorzeichen wie in der Ausgangsstellung, 
nur verminderte Stromintensitat. 

Wir wollen hier einen Versuch zur Erklarung dieser Erschei- 
nungen unterlassen, nur einige Tatsachen hervorheben. 

Ein fliichtiger Ueberblick iiber die Zahlen lehrt u. a. folgendes: 
Die Aenderungen in den Zahlengrossen, welche wir bei Gold und 
Nickel konstatieren, wird sehr unbedeutend, die bei Aluminium 
und Zink hingegen teilweise sehr bemerkenswert. So sehen wir bei 
Aluminium zwischen Zeile 1 und 2 Differenzen von 0,6 (6 mm oder 
27 pCt. des Ausschlages), zwischen 4 und 5 Differenzen von 3,0 
(30 mm oder 85 pCt. des Ausschlages) gegen die zu erwartenden 
Grossen, ohne dass in der ganzen Anordnung etwas anderes vor 
sich gegangen ware als ein einfaches Umlegen des Hebels im Kom- 
mutator. Das allein berechtigt uns zur Folgerung, dass bei den 
beiden weichen Metallen Aluminium und Zink andere (spater zu 
besprechende) Momente wirksam sind als bei Gold und Nickel. 
Durch die Hypothese Furstenaus werden diese Erscheinungen nicht 
geklart. Finden wir bei Aluminium und Zink nach dem Wechseln 


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378 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

der Hande ein Umschlagen der Stromrichtung, also scheinbar eine 
Bestatigung der Anschauung Fiirstenaus, so stehen doch die anderen 
Ergebnisse dieser Versuche mit seinen Resultaten im Widerspruch. 
Wir konnen letztere demnach keineswegs als beweisend ansehen, 
wahrend die vorhin gegebenen Daten die Annahme zweier Ele- 
mente einfach ausschliessen. 

Wir rniissen deshalb daran festhalten, doss sick der Sitz der elek~ 
tromotorischen Kraft an den Elektroden befindet, tvobei diese die Pole 
einer galvanischen Kette darstellen. 

II. Welches 1st die Quelle der elektromotorischen Kraft? 

Die vorstehenden Versuche haben bereits gezeigt, dass es sich 
bei dem durch das Galvanometer konstatierten Strom nicht um 
einen im Korper als Sekretionsstrom der Driisen oder als Muskel- 
oder Nerven-Strom entstandenen Strom handeln kann, sondem 
die elektromotorischen Krafte konnen nur an der Beriihrungsstelle 
zwischen Haut und Elektrode entstehen. 

Nach den allgemeinen Verhaltnissen ist von vomherein wahr- 
scheinlich, dass die chemischen Einwirkungen auf die beiden Elek¬ 
troden hierbei von wesentlicher Bedeutung sind, wenngleich auch 
Thermostrome vorhanden sein konnen. Indes liess sich zeigen, dass 
die Thermostrome von sehr geringer Intensitat waren, und in 
unserer Versuchsanordnung hochstens einige Millimeter Ausschlag 
ergaben, wahrend die durch die Verb indung der Elektroden mit 
den Handen erzielten Ausschlage entsprechend den gleichen Ver¬ 
haltnissen mehrere Zentimeter betrugen. Um dies zu erweisen, 
wurde folgender Versuch angestellt. 

Versuch 5. 

Es wurde sowohl in der Anordnung Tarchanoffs wie in der 
Anordnung Veraguths der Versuchsperson in die eine hohle Nickel- 
elektrode, wahrend der Stromkreis geschlossen war, ein erhitztes 
Metallstuck auf die Dauer mehrerer Sekunden eingefiihrt. Dabei 
zeigte sich das erstemal, wahrend die Person angab, lebhafte 
Warme zu fiihlen, ein deutlicher Galvanometerausschlag. 

Nachdem die Elektroden rasch wieder auf die gleiche Tempe- 
ratur gebracht worden waren, wurde der Versuch wiederholt, ohne 
dass sich ein Ausschlag zeigte. Nur bei der Anordnung nach 
Tarchanoff zeigten sich kleine Schwankungen, welche als Wir- 
kungen von Thermostromen angesprochen werden konnten. Daraus 
ist zu entnehmen, dass der zuerst registrierte Ausschlag so zu be- 
werten ist wie alle anderen Reizwirkungen. Bekanntlich fehlt bei 
rascher Wiederholung desselben Reizes die psycho-galvanische 
Reaktion. Hatte mm die Erwarmung als solche eine erhebliche 
Wirkimg gehabt, d. h. namlich, hatte sie einen Thermostrom er- 
zeugt, dessen Intensitat auch nur einen erheblichen Bruchteil der 
Intensitatsdifferenz, welche in der psycho-galvanischen Reaktion 
in Erscheinung tritt, betragen hatte, so ware das Entstehen eines 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 379 


Ausschlages abseits jeder psychogalvanischen Reaktion eine not- 
wendige Folge. Das Ausbleiben eines Ausschlages des Galvano¬ 
meters nach der zweiten Erwarmung lasst deshalb um so eher mit 
Sicherheit annehmen, dass Thermostrome bei den in Rede stehen- 
den Erscheinungen keine Rolle spielen, als die durch die Hand be- 
wirkte Erwarmung unverhaltnismassig geringer ist als die im Ex- 
perimente zur Wirkung gebrachte. 

Haben wir demnach Ursache, die Entstehung des Stromes 
wesentlich in einer chemischen Aktion, welche sich zwischen den 
beiden Metallelektroden und ihrer Umgebung vollzieht, zu suchen, 
so werden wir unser Augenmerk neben den Elektroden in erster 
Linie auf die Hautsekrete als das nachstliegende und wichtigste 
Moment zu richten haben. 

Es erscheint von vomherein merkwiirdig, dass bei Anwendung 
von Elektroden aus dem gleichen Metalle sich zwischen denselben 
Potentialdifferenzen bilden sollen. Wir konnen uns aber davon, 
dass dies tatsachlich geschieht, in folgender Art leicht iiberzeugen. 

Wenn wir zwei Zinkstabe, wie sie in diesen Versuchen zur 
Verwendung kamen, in ein Glas mit destilhertem Wasser stellen, 
so zeigt sich ein Strom von einer Intensitat, welche Ausschlage von 
mehreren MiUimetem bis zu Zentimetem bewirkt. Die beiden 
Metallstabe waren eben nicht chemisch rein, sondem hatten wahr- 
scheinlich nicht nur eine differente Zusammensetzung, sondem 
vielleicht an der Oberflache eine Menge von loslichen Salzen, welche 
sofort in die Fliissigkeit iibergehen konnten und dadurch zur Ent¬ 
stehung von Stromen beizutragen vermochten. Einmal erhielt 
ich z. B. am Schluss einer Versuchsreihe, durch welche das destil- 
lierte Wasser etwas verunreinigt war, beim Hineinhangen beider 
Zinkstabe in ein Glas (S. W\ 100 Ohm) einen Ausschlag von 7 bis 
8 cm (0,000001176—0,000001344 Amp.). 

Stellen wir uns vor, dass statt des destillierten Wassers der 
Schweiss der Hand mit dem Metall in Beriihrung kommt, so ist 
die Entstehung von Potentialdifferenzen zwischen den beiden 
Metallen um so leichter verstandlieh. 

Veraguth hat seinerzeit angegeben, dass das Formalinisieren 
der Hande, also die Ausschaltung des Schweisses, keinen Einfluss 
auf das Gelingen der Experimente ausiibt. Nach Einwirken von 
Belladonnapflaster konnte er jedoch eine wesentliche Verkleinerung 
der Erscheinungen konstatieren und ist deshalb geneigt, den 
Schweissdriisen eine gewisse Bedeutung beizumessen. 

Sommer schloss andererseits aus dem Fehlschlagen des Ver- 
suches bei einem Manne, dessen Hande sehr viel mit Alkohol in 
Beriihrung gekommen waren, dass die Schweisssekretion von 
wesentlichstem Einflusse ist. 

Versuch 6. 

Um die Angaben Veraguths nachzupriifen, liess ich mir die 
beiden Endglieder des rechten Ringfingers und jene des linken 
Zeigefingers mit in 10 proz. Formalinlosung getrankter Watte um- 


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380 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc. 


wickeln und behielt diesen, durch einen wasserdichten Stoff ge- 
sicherten Verband 6 Stunden auf den Fingem. 6 Stunden, nach- 
dem ich den Verband abgenommen hatte, wurden die Versuche 
gemacht. Selbstverstandlich blieben die formalinisierten. Finger 
in der Zwischenzeit durch eine schiitzende Wattehiille dem Ein- 
flusse fremder Stoffe, insbesondere dem Schweisse der Nachbar- 
finger, entzogen. Als Elektroden wurden die Nickelringelektroden 
verwendet. 

Vor Beginn der Versuche zeigten sich bei Verbindung der bei- 
den freihangenden Elektroden Schwankungen von 1—2 mm 
(Galvanometer ohne Shimt). Nach dem Aufstecken beider Elek¬ 
troden auf die formalinisierten Finger ergab sich ein Ausschlag 
nach Schwarz 0,3 (6 • 10 -9 Amp.), welcher durch mehrere Minuten 
unverandert stehen bheb. Nach dem Abnehmen der Elektroden 
stellt sich das Galvanometer auf 0 ein. 

Nach dem Aufstecken der Elektroden auf die nicht formalini¬ 
sierten korrespondierenden Finger zeigt sich ein Ausschlag zuerst 
auf Schwarz 4,0, dann auf Rot 6,0, welcher wieder umschlagt, auf 
Schwarz 2,0 geht und auf Rot 1,4 (28 • 10~ 9 Amp.) schliesslich 
stehen bleibt. 

Leichtes Anziehen der rechten Ringelektrode mit dem daran 
hangenden Drahte bewirkt eine Verstarkung des Ausschlages von 
Rot 1,4 auf R. 3,6. Allmahlich geht der Ausschlag zuriick auf 
R. 0,3, steigt beim Nachlassen des Fingers auf R. 6,5, geht wieder 
zuriick auf R. 1,9. Beim Anziehen des linken Ringfingers stellt 
sich das Galvanometer auf S. 2,3 ein, schwankt dann zwischen 
1.0 und 2.0. Beim Nachlassen dieses Fingers ergeben sich Schwan¬ 
kungen zwischen S. 1,7 und S. 2,5. Nach dem Abnehmen der 
Elektroden Einstellung auf 0. Danach werden die Elektroden ab- 
gewischt und neuerdings auf die formalinisierten Finger aufge- 
steckt, wobei sich das Galvanometer auf R. 0,5 einstellt. 

Anziehen oder Auslassen des rechten Ringfingers verursacht 
gar keine Veranderung. Anziehen oder Auslassen des linken Zeige- 
fingers verursachte Bewegungen im Ausmasse von nicht einmal 
y 2 mm. Nun wurden die Elektroden auf die formalinisierten Finger 
so fest hinaufgeschoben, dass ein starker, beiderseits gleich schmerz- 
hafter Druck zustande kam. Am rechten Ringfinger entstand 
eine Cyanose der Fingerkuppe, am linken Zeigefinger eine Anami- 
sierung. Der Galvanometerausschlag steigerte sich von R. 0,5 auf 
R. 0,7 und ging sehr allmahlich im Verlaufe mehrerer Minuten auf 
0,6 zuriick. 

Lebhafte Bewegungen der Finger beider Hande, krampfhafte 
Muskelanstrengungen in den Armen, welche zu fiihlbarem Schweiss- 
ausbruch in den Handen fuhrten, riefen Aenderimgen des Aus¬ 
schlages von ausserordentlicher Tragheit und im Maximum von 
2 mm hervor. 

Wir konnen demnach, wenn wir diese Erscheinungen mit jenen 
am nicht formalinisierten Finger vergleichen, mit vollem Recht 
behaupten, dass die Ausschaltung der Schweisssekretion ein Aus- 


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Sano, Beitrag zur vergleiohenden Anatom ie etc. 381 

bleiben der normalen und gewohnten galvanischen Vorgange be- 
deutet. 

Die Beruhrung der Fingerringe untereinander ergibt ein Zu- 
riickgehen von 0,8 auf 0,5, wahrend eine Beruhrung der Fixier- 
schrauben der Klemmen, durch welche die Lotstelle an den Elek- 
troden aus dem Kreise ausgeschaltet wird, ein Zuruckgehen dee 
Ausschlages auf 0,4 verursacht. Bei diesen letzten Versuchen be- 
fanden sich die Elektroden selbstverstandlich auch an den formalini- 
aierten Fingem. 

Wahrend des Verlaufes des Versuches Hess sich weiter folgen- 
des beobachten: Wenn man die beiden vom Galvanometer fiihren- 
den Kabel in den beiden Handen haltend, die daran befestigten 
Ringelektroden in Kontakt brachte, so entstanden Ausschliige von 
4—5 min, welche sich noch um 2 —3 mm steigerten, wenn man 
die Kabel knapp oberhalb oder an der mit einer isolierenden 
Schicht umgebenen Austrittsstelle des dicken Kupferdrahtes bezw. 
seiner Verbindungsstelle mit den Leitungsdrahten des Kabels anf asste. 

Es ist aus diesen Versuchen wohl ohne weiteres klar, dass die 
Strome, welche sich nach dem Aufstecken der Elektroden auf die 
formalinisierten Finger zeigten, als Thermostrome aufgefasst 
werden miissen. Sie sind in ihrer Intensitat von gleicher Grosse 
wie die zweifellos als Thermostrome aufzufassenden Strome, welche 
sich von den Elektroden ableiten lassen, die in keinerlei Verbindung 
mit dem Korper stehen. Sie nehmen adaquat dem hergestellten 
Kurzschlusse ab sie zeigen keinerlei Schwankungen wie die Strome, 
welche von den nicht formalinisierten Fingem abgeleitet werden, 
nur die mit starker Erhitzung und lebhaftem Schweissausbruche 
verbundene Muskelanstrengung verursacht eine trage und mini¬ 
male Vergrosserung des Ausschlages. 

Wegen einiger Hindemisse muss ten die oben geschilderten 
Versuche unterbrochen werden und konnten erst mehrere Stunden 
spater fortgesetzt werden. (Fortsetzung folgt.) 


(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerve n- 

klinik der CharitA) 

Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra, 
des Corpus Luysii und der Zona ineerta. 

Von 

Dr. TORATA SANO. 

(Fortsetzung.) 

(Hierzu Taf. XXIII—XXIV.) 

3. Lemur catta. 

Unter den Halbaffen habe ich zur Untersuchung die Serie eines 
Gehims von Lemur catta gewahlt. Ich werde auch hier die Be- 

Monataschrift f. Psychiatrie u, Neurologie. Bd. XXVII. Heft 4. 26 


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A 

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3$2 Sano, Beitrag but vergleichenden Anatomie 

schreibung und die Vergleichung an die Besprechung einzelner 
Schnitte bezw. Figuren ankniipfen. 

Der distalste Schnitt 34 1 (vergl. Fig. 14) schneidet ventral das 
vordere Briickensechstel. 

Die Substantia nigra findet sich in der lateralen Partie zwischen 
dem Lemniscus medialis und dem Fuss. IbreDicke betragt 1,4 mm. 
Der laterale Teil des Fusses ist noch sehr schmal und zeigt etwas 
locker gestellte Faserquerschnitte, wahrend der mediale Teil viel 
kompakter ist. 

Die Substantia reticulata medialis pedis ist andeutungsweise 
bereits vorhanden; allerdings lasst sie sich von dem Bruckengrau 
nicht scharf abgrenzen. Zwischen dem medialen Fussdrittel und der 
medialen Schleife schickt das Bruckengrau einen gezackten Fort- 
satz lateralwarts, der in einigen Beziehungen an den Processus 
faciniatus 1 ) der niederen Sauger erinnert. 

Wie beim Menschen und Macacus und sogar noch viel deutlicher 
kann man bei Lemur zwei Hauptteile der Substantia nigra unter- 
scheiden, einen dorsalen Teil, der aus ziemlich kompakter grauer 
Substanz besteht, und einen ventralen Teil, welcher maschenformig 
aufgebaut ist. Den ersteren bezeichne ich auch bei Lemur als Zona 
compacta der Substantia nigra, den letzteren als Zona reticulata 
der Substantia nigra. Auf dem Schnitt 34 ist nur die Zona com¬ 
pacta substantiae nigrae in vollem Umfang, die Zona reticulata 
nur in ihrem lateralen Teil zu sehen. Der lateralste Teil der Zona 
reticulata entspricht dem Processus lateralis unserer friiheren Be- 
schreibung. Auch bei Lemur hangt die Zona compacta substantiae 
nigrae lateralwarts mit dem schon beim Menschen und dem Makak 
nachgewiesenen Randfeld M zusammen, welches seinerseits medial 
unmittelbar an die aufsteigende Vordervierhiigelschleife angrenzt. 

Die Fasermassen, welche auf diesem Schnitte im Bereich der 
Substantia nigra auftreten, sind folgende: 

1. Quergetroffene Langsbiindel innerhalb des lateralen Ab- 
schnittes der Zona reticulata substantiae nigrae, welche mit den 
Fasciculi pontini laterales identisch sind. Die Herkunft dieser Langs¬ 
biindel zu verfolgen. bietet ein ausserordentlich grosses Interesse. 
Um dies klar zu stellen, muss etwas weiter ausgeholt werden. 
Die mediale Schleife lasst schon auf dem Objekttrager 25 sehr scharf 
die zwei schon von Hatschek 2 ) und anderen beschriebenen Areale, 
ein mediales und ein laterales, mmSch und lmSch erkennen. 
Ich will dieselben als mediales Areal der medialen Schleife 
und laterales Areal der medialen Schleife bezeichnen. Auf 
Objekttrager 25 sind dieselben noch durch eine ziemlich breite 
Brucke von Bundelquerschnitten verbunden. Auf Objekt¬ 
trager 30 hat sich das laterale Areal der medialen Schleife von dem 
medialen Areal der medialen Schleife schon fast ganz losgetrennt, 

1 ) Ziehen, Th., Das Zentralnerven9ystcm der Monotremen und Marsu- 
pialier. II. Teil. S. 807. 

-') Arbeiten aus demO&ers/emcrschenInstitut. 1904. Bd. 11. S. 144 ff. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inccrta. 383 

• 

d. h. die verbindende Briicke ist sehr schmal geworden. Zugleich 
beginnt der Uebergang des lateralen Areals der medialen Schleife 
in die Vordervierhiigelschleife. Auf Objekttrager 32 nisten sich 
in dem lateralen Areal der medialen Schleife, namentlich an der 
ventralen Seite desselben, Balken grauer Substanz ein, die auf den 
folgenden Schnitten sich vorzugsweise lateralwarts ausbreiten. 
Diese Balken grauer Substanz stellen den ersten Anfang der Zona 
reticulata substantiae nigrae dar. Durch diese Balken werden 
zugleich im ventralen Teil des lateralen Areals der medialen Schleife 
einzelne Biindelgruppen gewissermassen abgeschniirt, welche in jeder 
Beziehung den Fasciculi pontini laterales entsprechen. Zugleich 
nimmt die Entbiindelung des lateralen Areals der medialen Schleife 
in die Vordervierhiigelschleife, d. h. also in dorsaler Richtung, 
ihren Fortgang. Auf dem in unserer Figur dargestellten Schnitte 
sieht man noch den Rest dieser sich in die Vordervierhiigelschleife 
entbundelnden Fasera. Diese Entbiindelung hat so stattgefunden, 
dass zuerst die lateralen und ventralen Fasem des lateralen Areals 
der medialen Schleife sich dorsalwarts wendeten und dann die me¬ 
dialen Fasem desselben Areals folgten. Dabei blieben im ventro- 
lateralen Teil des lateralen Areals der medialen Schleife noch zahl- 
reiche Biindel zuriick, und diese sind mit den Fasciculi pontini 
laterales identisch. In der Tat ergibt sich, dass diese Biindel, 
ganz wie es Schlesinger und Flechsig beschrieben haben, allmahlich 
dem Fuss einverleibt werden. Mit anderen Worten, der laterale 
Teil der medialen Schleife (laterales Areal der medialen Schleife) 
geht teils in die Vordervierhiigelschleife, teils als Fussschleife von 
Flechsig in den Fuss liber. 

2. Zerstreute, d. h. nicht biindelformig zusammengeordnete 
langs oder schief getroffene Fasem, die in der Zona compacta 
substantiae nigrae ventromedialwarts verlaufen. 

3. Ein allerdings erst auf den folgenden Schnitten klar hervor- 
tretendes Geflecht in sehr mannigfachen Richtungen verlaufender 
Fasem, welches im zweiten Sechstel — das laterale als erstes ge- 
zahlt — am starksten entwickelt ist und hier die ganze Breite der 
Zona compacta substantiae nigrae einnimmt und sich noch in das 
Maschenwerk der Zona reticulata hineinerstreckt, wahrend es gegen 
den medialen Abschnitt der Zona compacta hin mehr und mehr 
abnimmt. Es ist dies offenbar dasselbe Feld, welches wir bei Maca- 
cus und Mensch als D 1 bezeichnet haben. Das Feld D m ist hier noch 
nicht deutlich zu sehen. 

4. Feme quergeschnittene Fasem im lateralsten Teil der Zona 
compacta und im Anschluss an das Feld M. Das auf der Figur mit 
mm Sch bezeichnete, medial von der Substantia perforata posterior 
gelegene Biindelfeld ist das mediale Hauptfeld der medialen Schleife. 
Cerebralwarts geht es grosstenteils ebenfalls in die Vordervierhiigel- 
schleife iiber. Verfolgt man die Serie genau, so ergibt sich, dass 
sich aus diesem Gebiete nur sehr sparliche Biindel vereinzelt ventral- 
warts abzweigen, die dem Biindel von der Schleife zumFusse, also dem 
sogenannten Spritzkaschen Biindel und somit den von mir beim 

26 * 


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384 Sado, Beitrag zur vergleichenden Anatomie 

Macacus und Menschen beschriebenen Fasciculi pontini mediates 
entsprechen. Jedenfalls erscheint die Verkiimmerung dieser Biindel 
bei Lemur sehr bemerkenswert. 

Die bei Macacus beschriebene Faserschicht S ist unseres 
Dafiirhaltens bei Lemur vertreten durch die obenerwahnte Briicke 
zwischen dem lateralen Areal und dem medialen Areal der medialen 
Schleife. Ebenso wie bei Macacus die SchichtS in spinalerenEbenen, 
z. B. auf Objekttrager 234, die Verbindung zwischen den beiden 
Arealen der medialen Schleife darstellt und sich erst spa ter von ihnen 
loslost, um teils in den Fuss, teils in die Vordervierhiigelschleife iiber- 
zutreten, ebenso entbiindelt sich der oben als Verbindungsbriicke 
bezeichnete Teil der medialen Schleife bei Lemur teils dorsalwarts 
in die Vordervierhiigelschleife, teils ventralwarts gegen das Fuss- 
feld hin. Ein Unterschied besteht nur insofem, als der letztere Anted 
bei Lemur erheblich geringer ist als bei Macacus. 

Das Randfeld M ist schon auf dem Objekttrager 33 3 , wo die 
Substantia nigra noch nicht deutlich ist, zu sehen. 

Auf Schnitt 36*, welcher ventral die Bindearmkreuzung vor 
dem Erscheinen des roten Kerns trifft, ist die Substantia nigra 
schon erheblich grosser; sie hat sich namentlich medialwarts aus- 
gedehnt. Ihre Dicke betragt 1,6 mm. Die Zona reticulata ist noch 
immer nur im lateralen Teil deutlich zu erkennen. Interessant ist, 
dass die Substantia nigra im lateralen Teil durch ein ziemlich 
dichtes Maschenwerk, welches die Vordervierhiigelschleife durch- 
setzt, mit dem dorsolateralen Grau der Haube in Verbindung steht. 
In der Zona compacta substantiae nigrae, die jetzt im allgemeinen 
faserreicher ist, zeigt sich das Geflecht D 1 starker, und die Fasern 
desselben ziehen, wie friiher, in das Maschenwerk der Fasciculi 
pontini laterales. Das Feld D m ist noch nicht gut entwickelt 
und auch nicht scharf abgegrenzt. Man kann ziemlich deutlich 
sehen, dass die Fasern der Geflechte wenigstens zum Teil von den 
direkt aus der Haube in die Substantia nigra hineinziehenden 
langsgetroffenen Fasern stammen (Fibrae efferentes tecti). In- 
sofern ist die Angabe im Marburgschen Atlas 1 ), welcher das Geflecht 
D 1 ohne weiteres als Feld der Fibrae efferentes tecti bezeichnet, 
sicher nicht ganz zutreffend. 

Trotz der schwachen Entwicklung des Geflechtes D n> sieht 
man jetzt ein Biindel langsgetroffener Fasern, das sich innerhalb 
der Zona compacta substantiae nigrae von der Gegend medial von 
D 1 bis zur medialsten Ecke der Zona compacta substantiae nigrae 
erstreckt. Seine Fasern scheinen aus den Geflechten und wohl auch 
aus den Fibrae efferentes tecti zu stammen. Cerebralwarts bilden 
sie grosstenteils das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus 
corporis mamillaris. Einzelne Fasern treten auch in das Maschen¬ 
werk der Substantia reticulata medialis pedis ein, vielleicht auch 
in das Stratum intermedium der Substantia nigra; ein Zusammen- 
hang mit dem Tractus peduncularis transversus ist sehr zweifelhaft. 

') Otto Marburg, Mikroskopisch-topograpliischer Atlas des menseh- 
lichen Zentralnervensystems. Wien 1904. Fig. 34, 35. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inoerta. 385 


Auf Schnitt 38 a , welcher ventral das Ganglion interpedunculare 
schneidet, betragt die Dicke der Substantia nigra 3,3 mm . Sie 
kommuniziert cUrekt und breit mit der Substantia perforata 
posterior, weil der Fuss und die mediate Schleife jetzt auch medial- 
warts auseinanderweichen. Der Processus lateralis ist viel grosser 
geworden. Die Zona reticulata ist jetzt nicht nur in der lateralen 
Partie, sondern auch in der medialen Partie der Substantia nigra 
deutlich zu erkennen; am starksten ausgebildet ist sie noch immer 
in dem an den Processus lateralis medial sich anschliessendenGebiet, 
in welches auch die Fasciculi pontini laterales (Fussschleife Flechsigs ) 
noch immer eingelagert sind. In der Zona compacta ist das Geflecht 
D 1 sehr machtig entwickelt, wahrend das Geflecht D m immer noch 
sehr schwach bleibt. 

Das Stratum intermedium,das in den vorhergehendenSchnitten 
nicht sehr deutlich hervortrat, zeigt sich hier als ziemlich breite 
Schicht meistens schief getroffener Fasern, und zwar fast nur im 
Bereich des Processus lateralis. Sie scheinen sich dem Fuss, viel- 
leicht auch dem Propons, weiterhin zuzugesellen. 

Die Substantia nigra geht ventromedialwarts kontinuierlich 
in das Pedamentum laterale fiber. Letzteres ist kurz, aber breit 
und enthalt wenige sehr feine, dorsomedial verlaufende Fasern. 
Das Bfindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis ma- 
millaris in der dorsalen Partie der Zona compacta ist jetzt starker 
entwickelt und von derGegend des Geflechtes D 1 bis zum Pedunculus 
corporis mamillaris zu verfolgen. Das Randfeld M ist nicht mehr 
scharf abzugrenzen. Es scbeint zum Teil die Fasern des Propons 
aufzunehmen. 

Der Schnitt 42 4 (vergl. Fig. 15) schneidet ventral den Nucleus 
ruber und bereits die Wurzelbfindel des OculomotoriUs. 

Die Substantia nigra ist noch grosser und sehr faserreich. 
Ihre Dicke betragt im Bereich des Processus lateralis 3,5 mm. 

In der Zona compacta substantiae nigrae sieht man die beiden 
Geflechte, das stark entwickelte D l und das ziemlich starke D m , 
die fast miteinander zusammenfliessen. 

Die Zona reticulata substantiae nigrae hat sich im medialen 
Abschnitt noch starker entwickelt, wie ein Vergleich mit Fig. 14 
sofort ergibt; nur im mittleren Teil bleibt ein Gebiet, in welcbem 
das Maschenwerk der Zona reticulata sehr zurficktritt. Ich lasse 
dahingestellt, ob das letztere Gebiet, das ich mit O bezeichne, 
dem Bfindel C des Macacus entspricht. 

Ventral vom roten Kern sieht man zunachst die aufsteigenden 
Fasern des medialen Areals der medialen Schleife. Dann folgt eine 
medialwarts breite, lateralwarts etwas schmale Zone dichtge- 
drangter, schrag dorsolateral verlaufender Fasern, die zum Teil wohl 
schon der frfiher besprochenen halbmondfbrmigen Schicht ent¬ 
spricht. Auf dem Objekttrager 39 zeigt sie sich zum ersten Male als 
eine ganz schmale, ventral vom medialen Areal der medialen Schleife 
gelegene Schicht. Auf dem jetzt abgebildeten Schnitt wird sie 
ubrigens von den medialen Schleifenfasem zum Teil durchsetzt. 


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386 


S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic 


Ein Zug von Fasem ist ventral von dieser Schicht zu sehen. 
Er ist vielleicht mit dem Faserzug B bei dem Macacus und dem 
Menschen identisch. Er tritt auf den Objekttrager 41 2 zum ersten 
Male auf. Er ist iibrigens bei Lemur noch schwerer als bei Macacus 
einerseits von der halbmondformigen Schicht und andererseits 
vom Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis ma- 
millaris und dem Tractus peduncularis trans versus zu trennen. 

Ventral von diesem Faserzug sieht man eine schmale, zellarme 
Schicht, die der beim Menschen beschriebenen entspricht. 

Der Tractus peduncularis trans versus ist hier zum ersten Male 
andeutungsweise neben dem Faserzug B zu sehen. 

Sehr interessant ist auch ein Faserbiindel, das wurzelartig 
aus dem ventralen Teil der Zona compacta entspringt und radiar 
die Substantia nigra in ventrolateraler Richtung durchsetzt, 
um in der dorsalsten Schicht des Fusses zu enden. In der Zona 
compacta scheint dieses Biindel vorzugsweise ventromedial ab- 
zubiegen. Vielleicht tritt es auch in Verbindung mit einem hier 
gelegenen ziemlich isolierten Zellhaufen, der als K' bezeichnet ist 
und auch bei dem Menschen vorhanden ist. Auf dem Objekttrager 42 
ist er nur angedeutet, auf Objekttrager 44 ist er ausserordentlich 
stark ausgepragt, auf Fig. 15 ist er mit K' bezeichnet. 

Die mit Q bezeichnete Biindelgruppe im dorsalen Teil der 
Substantia nigra entspricht wahrscheinlich den Q-Biindeln des 
Menschen- und Macacus-Gehims. 

Der Processus lateralis zeigt jetzt eine eben beginnende Zer- 
blatterung. 

Das Feld M ist kaum noch als solches zu erkennen. 

Die Substantia reticulata lateralis pedis ist im lateralen Teil 
des Fusses, also noch lateral vom Processus lateralis substantiae 
nigrae, angedeutet. 

Auf diesem und auf dem vorhergehenden Schnitt ist die ausser- 
ordentliche Schmalheit des lateralen Fussabschnittes im dorso- 
ventralen Durchmesser besonders bemerkenswert. 

Der Schnitt 45 4 (vergl. Fig. 16) schneidet ventral den vorderen 
Rand des Ganglion interpedunculare. 

Die Substantia nigra ist etwas kleiner geworden. Ihre Dicke 
betragt 3,0 mm. 

Die Zona compacta ist viel schmaler geworden. Die jetzt sehr 
machtig entwickelte Zona reticulata nimmt den grossten Teil der 
Substantia nigra ein. Das Gebiet 0 bleibt wie friiher. Die Fasern 
der Geflechte D 1 und D m , die nicht mehr differenziert und 
immer noch mit einander verschmolzen sind, sind im allgemeinen 
sparlicher geworden. 

Die starkere Ganglienzellenansammlung, die oben als K' 
bezeichnet wurde, ist jetzt noch ausserordentlich deutlich. Sie 
liegt unmittelbar dorsomedial vom Feld 0. Das ausK' entspringende 
Biischel ist durch wenige Fasern vertreten. Diese Fasem sind jetzt 
grosstenteils in dem Maschenwerk der Zona reticulata zu sehen. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 387 


Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis 
mamillaris hangt jetzt mit letzterem deutlich zusamm -n. 

Das Faserzeug B ist kaum abzugrenzen und scheint in die 
Forelsche Haubenkreuzung iiberzutreten. 

Die halbmondformige Schicht ist breiter, ihre Fasern ziehen 
anscheinend zum Teil in die Hatscheksche, zum Teil in die For eisc he . 
Kreuzung. 

Man sieht den Tractus peduncularis transversus zwischen dem 
Fuss und dem Pedamentum laterale ventralwarts ziehen und den 
medialsten Fussteil umschlingen. Er ist jedoch sehr faserarm. 

Der Processus lateralis wird jetzt allenthalben von den in den 
Fuss eintretenden Biindelschiefschnitten durchsetzt. Die Sub¬ 
stantia reticulata pedis ist jetzt etwa hakenformig angeordnet. 
Sie bildet zusammen mit den Lamellen, in welche der Processus 
lateralis zerfallen ist, die A-Felder, welche ich beim Menschen und 
Macacus beschrieben habe. Dabei ist allerdings zweierlei zu beriick- 
sichtigen. Erstens bestehen die A-Felder hier nicht aus gelatinoser 
Substanz, wie ich das fiir einige A-Felder bei Menschen und Macacus 
gefunden habe, und zweitens kann selbstverstandlich nicht jede 
hellere Schicht ohne weiteres als graue Substanz angesehen werden, 
da die den Fuss durchbrechenden Faserschichten zuweilen ebenfalls 
infolge der abweichenden Schnittrichtung heller gefarbt erscheinen. 

Die Biindelgruppe Q verschiebt sich jetzt in ventrolateraler 
Richtung, um vielleicht im Bogen in den Tractus opticus zu ziehen. 

Das Pedamentum laterale ist breiter und geht in die zellarme 
Schicht iiber. 

Der mediate Fussteil hat sich jetzt verschmalert. 

Auf einem Schnitt (46‘), der ventral das Corpus mamillaro 
etwas spinal von der Mitte schneidet, ist die Substantia nigra 
noch kleiner geworden. Ihre Dicke betragt 2,6 mm. 

Die Biindelquerschnitte in der Zona reticulata treten sehr 
zuriick, das Gebiet O bleibt immer noch deutlich. Das Biischel K 
ist hier wieder sehr machtig entwickelt; es stammt aus der Gegend 
der halbmondformigen Schicht, vielleicht direkt aus dem roten 
Kern. Der Faserzug B, derTractus peduncularis transversus und die 
zellarme Schicht sind auf diesem Schnitt verschwunden. Im dor- 
salenTeile, undzwarganz lateral, sieht man einFeldeigentiimlicher, 
meist ventrolateral verlaufender Fasern, das, wie bei Macacus, 
die kaudale Spitze des Corpus Luysii darstellt. 

Die Substantia reticulata lateralis pedis wird in zwei Teile 
gespalten, einen ventralen, fast dreieckigen und einen dorsalen, fast 
transversalen. Der letztere findet sich dorsal von der kaudalen 
Spitze des Corpus Luysii und stellt den Vorlaufer der Zona incerta 
Ford* dar. Die halbmondformige Schicht, die noch ziemlich breit 
ist, geht zum Teil in diesen Vorlaufer der Zona incerta iiber. 
Zwischen der halbmondformigen Schicht und der Zona reticulata 
sieht man in der Zona compacta die Ganglienzellensammlung K 1 . 
Die A-Felder sind machtig entwickelt und nehmen fast die ganze 
Breite der lateralsten Partie der Substantia nigra ein. 


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388 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic etc. 

Die Biindelgruppe Q ist medialer geriickt. Sie lasst sich nicht 
mit Siehnheit weiter cerebralwarts verfolgen. 

Der Schnitt 48 3 (vergl. Fig. 17) schneidet ventral das Corpus 
mamillare vor dem Austritt des Fasc. mamillaris princeps. 

Die Substantia nigra ist kaum mehr zu erkennen. 

Das Feld H 1 ist machtig, das Feld H 2 hingegen noch sehr 
schwach und zeigt nur diffuse Fasem. 

Die A-Felder sind ventraler geriickt und finden sich jetzt 
grosstenteils zwischen dem Tractus opticus und dem Fuss. 

Das Corpus Luysii ist ziemlich gross. Seine Dicke betragt 
1,1 mm. Es ist spindelformig, zeigt eine machtige dorsale Mark- 
kapsel und eine schwache, unmittelbar dem Fuss anliegende 
ventrale Markkapsel. Viele Stillingsche Fasem ziehen durch den 
Fuss; es ist schwer zu sagen, ob die medialsten dieser Fasem etwa 
als der Rest des Biischels K aufzufassen sind. 

Die Zona transitoria findet sich zwischen dem Feld H 2 und dem 
medialen Teile der dorsalen Markkapsel; sie wird von der breiten 
Hauptmasse der Zona incerta durch die Fasem des Feldes H 2 , 
die in die dorsale Markkapsel iibergehen, unvollkommen getrenni. 
Das basale Langsbiindel ist hier zum ersten Male angedeutet. 

Der Schnitt 50* (vergl. Fig. 18) schneidet ventral den Fasciculus 
mamillaris princeps im Bereich seines Austritts aus dem Corpus 
mamillare. 

Das Corpus Luysii ist schon sehr klein geworden. Seine Dicke 
betragt 0,5 mm. Die dorsale Markkapsel ist ebenfalls etwas 
schwacher geworden. Die ventrale Markkapsel wird durch wenige 
Fasern vertreten. 

Das Feld H 2 hilft zum Teil die dorsale Markkapsel des Corpus 
J uysii bilden und trennt die Zona transitoria von der Hauptmasse 
der Zona incerta ziemlich scharf. Die ubrigenFasem desFeldes(H 2 *) 
ziehen innerhalb der Zona incerta in dorsolateraler Richtung, 
und zwar teils in einem dichten Faserzug, teils in Gestalt vieler 
vereinzelter Fasem; der dichte Faserzug liegt dem Thalamus 
naher, der zerstreute Faserzug liegt dem Fuss unmittelbar an. 

Die A-Felder sind noch ventraler geriickt; sie finden sich im 
Fuss und auch ventral vom Fuss. Die ventraleren Partien hangen 
kontinuierlich mit dem Globus pallidus durch einen schmalen 
grauen Verbindungsstreifen zusammen. 

Die Fasem zur Meynerts chen Kommissur sind sehr deutlich 
(MK). 

Der Schnitt 52* (vergl. Fig. 19) schneidet ventral den spinalen 
Teil des Tuber cinereum. Das Corpus Luysii ist kaum mehr zu 
erkennen. 

Das Feld H 1 ist etwas schwacher geworden und zeigt mehr 
diffuse Fasem. 

Das Feld H 2 ist kompakter; sein dorsolateraler Fortsatz geht 
in die Gitterschicht iiber, so dass die Hauptmasse der Zona incerta 
noch scharfer in zwei Teile getrennt wird als friiher; ein zweiter 
Teil seiner Fasem bildet noch immer hauptsachlich die dorsale 


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Lemur 34 Fig . 15 Lemur 42 



Monatsschrift fiir Psyohiatrie und Neurologie. Bd. XXVII 


Fig. 16. ^ I I [ J Lemur 






Zi H 1 dMkcL H 2 



Lemur 56 







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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung. 


389 


Markkapsel des Corpus Luysii. Aus letzterem ziehen Fasem im 
Sinne der Stillingschen Fasem, den Fuss im Bogen durchbrechend, 
in den Tractus opticus bezw. die Meynertsche Kommissur. 

Der Fortsatz x von Kolliker taucht hier zum ersten Male auf. 

Die Zona transitoria ist ganz verschwunden. 

Der Schnitt 56 3 (vergl. Fig. 20) schneidet ventral noch das 
Tuber cinereum. 

Das Corpus Luysii ist verschwunden. Das Feld H 1 ist noch 
schwacher geworden, ebenso das Feld H 2 . Der Fortsatz x von 
Kolliker stammt deutlich nur vom Feld H 2 . Seine Spitze reicht 
jetzt ziemlich weit ventromedial warts. 

Aus der ventralen Partie der Zona incerta und besonders aus 
der Gegend des Fortsatzes x von Kolliker strahlen viele Fasem 
in ventrolateraler Richtung durch den Fuss, um in den Globus 
pallidus oder in die Meynerfcche Kommissur zu ziehen. 

Die graue Substanz, die von den ebengenannten Fasem 
durchsetzt wird, ist der Rest der Substantia reticulata medialis 
pedis und geht ohne scharfe Grenze in den Globus pallidus iiber. 

Die A-Felder sind betrachtlich zusammengeschrumpft. Sie 
erscheinen nur noch als mediales Anhangsel des Globus pallidus; 
zum Teil hangen sie auch mit der oben erwahnten Substantia 
reticulata medialis pedis zusammen. (Fortsetzung folgt.) 


r 


Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung. 

Entgegnung auf Professor M. Bernhardts Aufsatz. 

Von 

Dr. LUDWIG TELEKY, 

Privatdozent filr soziale Medizin in Wien. 

Bernhardt ist im 27. Band, No. 2 dieser Zeitschrift in einem 
Artikel, in dem er sehr viellnteressantes iiber den Anted der Funk- 
tion an der Entstehung und Lokalisation von Nervenkrankheiten 
ausfuhrt, auch auf die Feilenhauerlahmung zu sprechen ge- 
kommen. 

Er wendet sich dabei gegen die von mir in meiner Arbeit 
„Zur Kasuistik der Bledahmung“, Deutsche Zeitschrift fiir Nerven- 
hedkunde, Bd. 37, gemacbte Bemerkung, dass die von ihm und 
seinem Schuler Leichtentritt „publizierten Fade von Bledahmung 
mit Ausnahme eines einzigen eine auffallende Mitbeteiligung der 
Muskulatur des linken Daumens“ zeigen, und meint, ich hatte seine 
Publikation nicht mit der notigen Aufmerksamkeit studiert. 

Bernhardt hatte vollkommen recht mir daraus einen Vorwurf 
zu machen, wenn ich seinen Arbeiten und Leichtentritt ? Arbeit nicht 
vollste Aufmerksamkeit gewidmet hatte, da ja diese Arbeiten zu 


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390 T c I « k y , Einige YVorte iiber Feilenhauerlahmung. 

den interessantesten und wicbtigsten auf diesem Gebiete gehoren. 
Weil ich aber diese Arbeiten fiir so bedeutungsvoll halte, mochte 
ich mir gestatten, noch mit einigenWorten auf dieselben einzugehen, 
und zwar nicht nur um die Unrichtigkeit des mir gemachten Vor- 
wurfs darzutun, sondem vor allem aus sachlichen Griinden. 

In der Sitzung der Berliner Gesellschaft fiir Psychiatrie vom 
13. XII. 1886 sprach Bernhardt in einem Vortrag ,,Beitrag zur 
Pathologie der Bleilahmung 1 ' auch iiber Feilenhauerlahmung 
(Archiv fiir Psychiatrie, Bd. XIX). Ueber die in diesem Vortrag 
mit Nennung der Anfangsbuchstaben des Namens angefiibrten Falle 
berichtet auch Leichtentritt in seiner Dissertation (1887) ,,da mir 
(Leichtentritt) Gclegenheit gebotenwar, die diesbeziiglichenKranken- 
geschichten genauer zu studieren.“ Da Leichtentritt diese Kranken- 
geschichten ausfiihrlicher bringt als Bernhardt, habe ich mich — 
und dies war vielleicht ein Fehler von mir — soweit beide iiber die¬ 
selben Falle berichten, an die Krankengeschichten in der Fassung 
Leichtentritts gehalten. Ich werde hier zunachst diese Falle be- 
sprechen. Dann sollen auch die Falle, die Bernhardt in der Berliner 
klinischen Wochenschrift 1900 publiziert hat, besprochen werden. 

Was zunachst jene Feilenhauer anbelangt, die weder Lahmung 
noch Kolik hatten und die Bernhardt teils summarisch, teils ebenso 
wie Leichtentritt einzeln anfiihrt (Feilenhauer C., bei Bernhardt Fall 2 
Leichtentritt V), so kommt ihnen, ebenso wie jenem des Feilen- 
hauers R. (bei Bernhardt Fall 3, Leichtentritt VI), der anamnestisch 
nur unbestimmte Angaben iiber „lahmungsartige Zustande an den 
Handen“ macbte, und zur Zeit der Untersuchung ,,nirgends aus- 
gesprochene Lahmung oder Atrophie“ zeigte, wohl keinerlei Be- 
weiskraft zu; denn es wird ja von keiner Seite behauptet, dass jeder 
Feilenhauer an Bleilahmung erkrankt, auch nicht, dass jeder an 
Bleivergiftung erkrankte Feilenhauer eine Lahmung aufweisen 
miisse, sondern nur, dass die Feilenhauerarbeit das Entstehen 
einer Bleilahmung begiinstige, vor allem, dass die Lokalisation der 
Bleilahmung bei den Feilenhauern eine eigenartige sei. 

Weiter werden von Bernhardt Falle angefiihrt. bei denen nur 
anamnestische Angaben iiber Lahmung vorhanden sind; diese 
miissen natiirlich auf ihre Verlasslichkeit gepriift werden. 

„Ein dritter. noch jetzt einen Bleirand zeigcnd, hatte Koiiken gehabt, 
\u\d auch iiber Schirache der linken Daumenmuskeln (jeklagt; zur zeit arbeiteto 
or, ohne von Lahmung oder Atrophie speziell links am Daumen etwas aut- 
zuweisen. 

Ein viertcr endlich hatte vor kurzein wegen Bleilahmung die Arbeit 
einstellen miissen (zur Zeit meines Besuehes arbeitete or wieder); hier war 
es der rechte M. deltoides, der affiziert gewesen war. der Mann hatte den 
recliten Arm in der Schulter nicht heben konnen. Jetzt war er wieder wohl; 
von Lahmimg oder Atrophic war zurzeit niehts aufzufinden. speziell nichts 
an der linken Hand und dem linken Daumen." (Arch. f. Psych. Bd. XIX. 
p. 529). 

1st der erste dieser beiden Falle wohl ganz eindeutig. so wird 
die ,,Lahmung“ im zweiten Fall kaum sicbergestellt erscheinen; 
die Schwache des Daumen ist wohl mit grosster Wahrscheinlichkeit 
auf Lahmungserscheinungen zuriickzufiihren, das Nichtheben- 


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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung. 


391 


konnen des Armes, das nach kurzer Zeit, ohne Spuren zu hinter- 
lassen, zuriickgegangen war (auch von Bleisaum wird nicht h er- 
wahnt) lasst wohl auch die Deutung Omarthritis zu. 

Bemerken mochte ich hier auch noch, dass dem Umstand, 
dass Lahmung und Atrophie nach einiger Zeit verschwinden — 
Bernhardt scheint darauf einen gewissen Wert zu legen — keinerlei 
Bedeutung fiir unsere Frage zukommt; es kommen ja selbst schwere 
Falle von Bleilahmung nicht gerade selten zu mehr oder minder 
vollstandiger Ausheilung. 

Nun zu den Fallen, bei denen zur Zeit der Beobachtung Lah- 
mungserscheinungen vorhanden waren und iiber die Bernhardt 
und Leichtentritt berichten, und die wir nach Leichtentritt zitieren. 

Welche Lokalisation weisen nun die Falle Bernhardt-Leichten- 
tritt auf ? 

Feilenhauer L. ( Bernhardt 1, Leichtentritt IV). Rechts Streckerlahmung, 
„die linke Hand war ganz frei“. 

Feilenhauer K. ( Bernhardt 4, Leichtentritt VII). November 1875: 
Seit 14 Tagen Lahmung der rechten Vorderarmmuskulatur (Streckseite) 
„wdhrend links nur der Daumen affiziert schien. Die Erregbarkeit zeigfce 
sich nirgends ganzlich aufgehoben, iiberall (am wenigsten in den eigent- 
lichen Streckern der Finger) noch erhaltene Reaktion auf den Reiz des 
Induktionsstromes. 4 * 

Feilenhauer Sch. {Bernhardt 5, ,,Schr.“, Leichtentritt VIII.) ,,Die 
Motilitatspriifung ergab, dass rechts die Hand bis zur Horizontalen gestreckt 
und bei eingeschlagenen Fingem dorsalflektiert werden konnte. Von den 
Fingerstreckem blieb der dritte. weniger der vierte, unter der horizontalen. 
Streckung des Daumens war normal; Abduktion unmbglich; Seitenbewegung 
der Hand auch Supination waren frei. Mm. deltoideus und biceps waren 
gesund. Das I. Spatium interosseum war eingesunken. ebenso der Thenar ; fiir 
den induzierten Strom waren die Mm. interossei und Thenarmuskeln schwer 
erregbar. Links war die Beweglichkeit der Muskeln eine bessere, doch blieben 
auch hier der dritte und vierte Finger unter der Horizontalen. Der Daumen 
verhielt sich wie rechts . 

Ferner fiel auf, dass (alles gilt fiir rechts, links sind die Verhaltnisse 
nur angedeutet) Patient auch nur kraftlos die Mittel- und Nagelphalanx der 
Finger strecken und beugen konnte: es ging auch schwach mit den Beuge- 
bewegungen der rechten Hand. Vom Stamm aus (Oberarm und Condylus 
internus) waren so wohl der N. medianus wie auch der N. ulnaris mit dem 
induzierten Strom erregbar, ebenso die Beuger am Vorderarm und bei selir 
starken Stromen die Mm. interossei; am schwdchsten reagierten die Thenar¬ 
muskeln auf den faradischen Strom 

Bei Feilenhauer K. {Bernhardt 6, Leichtentritt IX, nicht identisch 
mit obenerwahntem K.) im Februar 1886 folgender Befund: 

,,Schultern und Ellenbogen sind beiderseits gesund. Links konnen 
Hand- und Fingerstrecker extendiert werden, sind elektrisch gut erregbar. 
Der Daumen steht stark abduziert . die Basal phalanx kann nicht auf den Meta¬ 
carpus extendiert werden , dagegen steht die Nagelphalanx auf der Basis 
hyperextendiert. Die Mm. interossei reagieren gut, die Daumenmuskulatur 
nur bei sehr hoher Stromstdrke auf den induzierten und galvanischen Strom, 
und auch bei faradischer Reizung mit trager Zuckung (faradische Ent- 
artungsreaktion). Der M. abductor brevis fehlt , an seiner Stelle findet sich 
eine Abflachung. 

Rechts kann der Daumen ohne Beugung der Nagelphalanx hochstens 
noch mit dem Zeigefinger opponiert werden, sonst nicht. Die Atrophic des 
M. abductor brevis ist nicht so ausgesprochen wie links, wohl aber die 
schlechte Erregbarkeit und faradische Entartungsreaktion der Daumenballen- 
rnuskeln. Rechts kann der Daumen nicht so abduziert werden wie links,. 


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392 Teleky , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung. 

auch die Mm. extensor brevis und longus pollicis wirken schlechter als links; 
femer ist die Streckung der drei letzten Finger schlecht, selbst die der Mittel- 
und Nagelphalanx. Der M. extensor communis reagiert nicht auf den In- 
duktionsstrom, auf den galvanischen nur bei sehr starken Stromen, dann 
aber leidlich prompt. Die eigentlichen Handstrecker, namentlich die ra- 
dialen (Mm. extensor carpi radialis longus und brevis) sind intakt.“ 

Nun die Fall© Bernhardts aus der Berliner klinischen Wochen- 
schrift, von denen Bernhardt meint, dass sie auch von mir iiber- 
sehen worden: 

Wiederum zunachst ein nichts beweisender Fall ohne Koliken 
und ohne Lahmung. Dann die folgenden: 

Feilenhauer B. „Hier (rechts) kommt die Dorsalflexion der Hand nicht 
ganz leicht und frei zustande, beim Ausstrecken der Finger zur horizontalen 
bleiben der 3. und 4. unter dem Niveau; die langen Daumenmuskeln sind 
ganz frei. Das erste Spatium int cross. ist eingesunken, auch die ubrigen 
Spatia interossea sind etu'as abgeflacht . Die Adduktion und die Abduktion 
der Finger ist erschwert, aber die Adduktion des Daumens , dessen Ballen- 
muskulatur nicht atrophisch ist, komrrU gut und jedenfalls leichter zustande , 
als die Opposition. Die Daumenhallenmuskulatur und alle Mm. interrossei 
reagieren auf starkere faradische Strome, geben aber bei direkter galvanischer 
Reizung langsame , trage Zuckungen (ASZ = KSZ bei 4 M-A). 

Links kommt die Streckung der Hand und Finger bedeutend besser als 
rechts zustande. Der 5. Finger steht vom 4. ab, das erste Spatium interosseum 
ist eingesunken. Annaherung und Entfemung der Finger voneinander 
schwierig. Der Daumenballen ist nicht atrophisch, die Opposition wird 
im Gegensatz zu links (wohl Druckfehler! Verf.) sehr gut ausgefiihrt, da- 
gegen die Adduktion des Daumens erschwert.** 

Der 42 jahrige Feilenhauer A. W.,, Rechts ist das Radialgebiet 

aktiv und elektrisch frei. Nur die beiden ersten Spat . interossea sind einge¬ 
sunken. Die Finger konnen gespreizt und adduziert werden (auch der 
Daumen). Die atrophischen rechtsseitigen Zwischenknochenmuskeln und die 
nicht atrophischen Daumenballenmuskeln zeigen die Mittelform der Ent- 
artungsreaktion. 

Links ergibt sich als einzige Anomalie eine herabgesetzte Erregbarkeit 
der eher hypertrophisch erscheinenden Daumenballenmuskeln. Ein Bleirand 
ist nur an den oberen mittleren Schneidezahnen undeutlich ausgepragt. 
Pat. hat stets mit einem grossen schweren Hammer Feilen grosseren 
Kalibera gehauen." 

Lasst man ■— wie ich es wohl mit vollem Recht getan — den 
Fall mit angeblich anamnestischer Deltoideslahmung ausser Be- 
tracht, so kommt man demnach zu dem Schlusse: Alle die von 
Bernhardt und Leichtentritt publizierten Falle von Bleilahmung 
mit Ausnahme eines Falles zeigen eine Mitbeteibgung der Mus- 
kulatur des linken Daumens (Daumenballens). Allerdings muss 
ich zugeben, dass, wenn man sich an den Bericht Bernhardts fiber 
seinenVortrag halt,FallK.I. zweifelbaft, FallSch. anders erscbeint. 
Ich habe bei meinem Studium der Falle Bernhardts mich teils aus 
sachlichen — die Krankengeschichten sind ausftihrlicher — teils 
aus ausseren Grfinden an die Publikation Leichtentritts gehalten, 
und dieser gibt noch den Fallen K..., Sch...., K.... — nachdem 
er vorher fiber Falle ohne Lahmung und Fall C berichtet — fol- 
gende Einleitung: 

„Zeigen diese Falle (sc. Fall C. und die anderen ohne jede 
Lahmung) ganz im Gegensatze zu den von Moebivs beobachteten 
keine Spur von paretischen Erscheinungen an dem vom Moebius 


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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung. 


393 


fiir Feilenhauer als Pradilektionsstelle bezeichneten Daumen, 
so will ich hieran Falle anreiben, die abweichend von den Unter- 
suchungen Moebius ergeben, dass keineswegs vorwiegend oder 
gar ausschliesslich die Muskeln des linken Daumens erkranken." 

Aus diesen Worten Leichtentritts geht wobl hervor, dass er 
bei den auf diese Einleitung folgenden Fallen eine — nur nicht 
eine vorwiegende — Beteiligung der linken Daumenballenmuskeln 
annahm; und dies ist wohl dort zu beriicksichtigen, wo die 
Fassung der Krankengeschichten selbst keine gam klare. 

Bernhardt gibt an, wie micb nun ein Vergleich der Kranken¬ 
geschichten beider lehrt, dass bei K. I. ,,Links nur der Daumen 
nicht bewegt werden konnte. Leider habe ich dariiber keine Notizen 
mehr, ob die dem Radialgebiet angeborigen Daumenmuskeln 
affiziert waren oder die eigentlichen Thenarmuskeln“. Und bei 
Sch... heisst es: ,,Links .... Parese auch der Daumenmuskeln, 
Thenarmuskeln intakt.“ 

Bernhardt bezeichnet dann bei der Zusammenfassung Fall K. I. 
als ,,zweifelhaft“, bei Sch. habe nur rechts eine Daumenballen- 
affektion bestanden. 

Diese Differenzen in der Beschreibung und Auffassung der Falle 
vermag ich nicht zu erklaren, vermute nur, dass sie auf Mangel 
in den Originialkrankengeschichten zuriickzufiihren; ich hielt mich 
aber — ich hatte die Differenzen damals iiberhaupt nicht bemerkt'— 
und halte mich auch noch heute fiir berechtigt, den ausfuhrlicheren 
Krankengeschichten Leichtentritts eben wegen ihrer Ausfiihrhchkeit 
den Vorzug zu geben. 

Die Mitbeteiligung der Muskulatur des linken Daumens 
(Daumenballens) ist, wie ich weiter behaupte, „eine auffallende“. 
Dariiber, was als „auffallend u anzusehen, kann man allerdings — 
wie ich zugeben muss — verschiedener Meinung sein. 

In meiner oben erwahnten Arbeit bespreche ich zunachst die 
Lahmung der Anstreicher, zeige — oder wenigstens glaube zu 
zeigen — „dass gerade das sogenannte typische Bild der Bleilah- 
mung das Bild der Bleilahmung des Anstreichers ist.“ Was die 
Mitbeteiligung der Daumen, und speziell des linken Daumens 
bei dieser typiscben Lahmung anbelangt, komme ich zu folgenden 
Schliissen: Wir sehen bei den Anstreichem in erster Linie die 
Strecker der Finger und der Hand ergriffen: fast stets — in alien 
Fallen, bei denen es zu einer hochgradigen Streckerparese oder 
-Lahmung gekommen — findet sich eine Mitbeteiligung der 
Daumenmuskulatur u. zw. der Strecker an beiden Handen, der 
kleinen Daumenmuskulatur an der rechten Hand. „Immer treten 
die am Daumen vorhandenen Erscheinungen von Parese gam in 
den Hintergrund gegeniiber den Paresen oder Lahmungen der 
Strecker von Fingern und Hand“. Der rechte Daumen ist stets 
(von zwei nicht eindeutigen Ausnahmen unter meinen Fallen 
abgesehen) in starkerem Masse gelahmt als der linke. An der 
linken Hand blieben in einer betrachtlichen Anzahl von Fallen 
trotz Ergriffenseins der langen Strecker des Daumens die Daumen¬ 
ballenmuskeln frei. 


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394 


Personation. 


Bei Bernhardts und Leichtentritts Feilenhauern (abgesehen vom 
1. Fall) liegen die Verhaltnisse ganz anders. Kein einziger Fall 
weist eine komplette, ja nicht einmal eine starkere Streckerlahmung 
auf, iiberall aber sehen wir eine Mitbeteiligung der kleinen Hand- 
muskeln und speziell der Daumenmuskeln, immer ist aucb die 
Daumenballenmuskulatur links mitbeteiligt, bei zwei Fallen ist an 
der linken Hand nur an der Daumenballenmuskulatur eine Anomalie 
zu v r erzeichnen. 

Dieses Verhalten der kleinen Hand- und Daumenballen¬ 
muskulatur in alien erwahnten Fallen erscheint mir auffallend. 
Von mehr als ,,auffallender“ Mitbeteiligung der Muskulatur des 
linken Daumens habe ich in Bezug auf Bernhardts Falle nicht ge- 
•sprochen. Thre regelmassige ,,vorwiegende oder ausschliessliche 
Erkrankung“ ware, wie ich in meiner Arbeit selbst des naheren 
auseinandersetzte, durch die Art der Beschaftigung des Feilen- 
hauers, der mit der Rechten rastlos einen oft schweren Hammer 
schwingt, nicht gerechtfertigt. 

Wir konnen bei der Feilenhauerlahmung hingegen stets von 
einer „vorwiegenden Mitbeteihgung einzelner oder vieler kleiner 
Handmuskeln“ sprechen und wir konnen das ,,friihzeitige Auf- 
treten dieser Lahmung (sc. der der kleinen Handmuskeln) und die 
starke Mitbeteiligung dieser Muskeln (besonders der des linken 
Daumenballens) als charakteristisch fiir die Lahmung der Feilen- 
hauer ansehen.“ 

Und wem der Nachweis dieser charakteristischen Eigentiim- 
lichkeiten aus dem Material Bernhardts , der diese Eigentiimlich- 
keiten leugnet, nicht beweisend erscheint und ebenso nicht die 
von anderen deutschen Autoren sowie die von mir publizierten 
Falle —, die ich nach dem Gesagten keineswegs denen Bernhardts 
„gegeniiber“, sondern nur nebenstellen wollte —, fiir den mochte 
ich hier zitieren, was Oliver, der beste englische Kenner der Gewerbe- 
krankheiten, iiber die Feilenhauerlahmung, die dort besonders 
in Sheffield zur Beobachtung gelangt, sagt: 

„Die Besonderheit der Feilenhauerlahmung besteht darin, 
dass wahrenddie Strecker der Finger und der Hand ergriffen werden, 
so dass es zur Entstehung einer wirklichen. ,,wrist-drop“ kommt, 
hier noch haufiger eine Lahmung, die sich auf die kleineren Muskeln 
der Finger und des Daumens erstreckt, beobachtet wird. Der 
Verlust der Kraft ist gewohnlich beschrankt auf die Finger der 
linken Hand. Mit dem linken Zeigefinger und Daumen wird der 
Mei'Sel gehalten, und infolgedessen, dass der Arbeiter einen grossen 
Teil des Tages den Meissel in dieser seiner Stellung halt, wird hier 
eine grosse Muskelarbeit geleistet, die nicht ohne Bedeutung sein 
kann fiir Entstehung und Lokalisation der Lahmung. Es ist dies 
jedoch nicht ihre einzige Ausdehnung, weil die Lahmung zugleich 
auch die Muskeln der rechten Hand ergreift. Es ist die Hammer- 
hand, die die harteste Arbeit leistet, aber nicht Arbeit von ebenso 
anstrengender Art.“ 

Personalien. 


In Basel hat sich Dr. 0. Hinrichsen als Privatdozent fiir Psychiatric 
habilit iert. 


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(Aus der Provinzialirrenanstalt zu Rom. Direktor: Prof. G. Mingazzini.) 

Ueber tuberose Sklerose. 

Von 

Oberarzt Dr. RUDOLF BONFIGLI. 

(Hierzu Taf. XXV—XXVI.) 

Die zuerst von Bourneville und Brissaud beschriebene tube¬ 
rose Sklerose ist eine der seltensten und nicht sowohl wegen ihrer 
klinischen Form als wegen ihrer pathologischen Anatomie um- 
strittenste Form der Himsklerose. Nach Pellizzi, der sich besondera 
eingehend mit dieser Frage beschaftigt hat, sind manche Falle be- 
schrieben worden, imd in den Arbeiten von Perusini 1 ), Geitlin 2 ) 
und Montei 8 ) findet sich eine zusammenfassende Darstellung alles 
dessen, was bisher beziiglich der pathologischen Anatomie dieser 
Krankheit bekannt ist. Ich selbst 4 ) habe kiirzlich auf dem neuro- 
pathologischen Kongress in Neapel kurz 2 Falle mitgeteilt und 
kam zu einigen Schlussfolgerungen, die in vielen Punkten mit 
denen der erwahnten Autoren iibereinstimmen. Jedoch behielt 
ich mir vor, einige noch sehr umstrittene Einzelpunkte nach einem 
weiteren Studium weiter aufzuklaren, und in der vorliegenden 
Arbeit bin ich, nach Untersuchung zahlreicher Praparate mit 
Hiilfe der meisten neuesten Untersuchungsmethoden, zu Schliissen 
gelangt, die in einigen Punkten von jenen der vorher erwahnten 
Verfasser und zum Teil auch von meinen friiheren abweichen. 

Zunachst gebe ich ausfiihrlich die Krankengeschichten der 
beiden Patienten sowie die entsprechenden histopathologischen 
Befunde wieder. 

Fall 1. P. Remo, 5 Jahre alt. Vater Trinker, Mutter gesund, keine 
Aborte; 5 lebende und gesunde Briider, 7 andere Briider sind im zarten 
Alter an verschiedenen Krankheiten (Meningitis, Bronchopneumonie, 
Enteritis u. s. w.) gestorben. Eine Tante vaterlicherseits war eine Zeit lang 


') Ueber einen Fall von Sclerosis tuberosa hypertrophica (Istioatipia 
corticale disseminata von Pellizzi), Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1905. 
Bd. XVII. 

*) Zur Kenntnis der tuberkulosen Sklerose des Gehims. Arbeiten aus 
dem path. Inst, der Univ. Helsingfors. Bd. I. H. 3. 

*) Recherches sur la Sclerose tubereuse. L’Enc^phale. 3. Ann6e. 
No. 2. Fevrier 1908. 

*) Due casi di sclerosi tuberosa. II Policlinico. 1908. p. 624. 
Monatsschrift fUr Psychiatric und Neurologte. Bd. XXVII. Heft 5. 27 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


in einer Irrenanstalt. Wenige Tage nach der Geburt traten im linken Arm© 
konvulaive Zuckungen von kurzer Dauer auf, die sich innerhalb 24 Stunden 
raehrmals wiederholten und nach 15 Tagen ungefahr verschwanden. Im 
Alter von 8 Monaten litt P. an anderen konvulsiven, auf den Kopf be- 
schrankten Zuckungen; mit 11 Monaten wurden die Konvulsionen allge- 
mein, es trat Schaum aus dem Munde und ein ungefahr 2 Stunden langer 
Sopor hinzu. Die anfangs seltenen Anfalle sind in der letzten Zeit haufiger 
geworden und haben sich 8—10 mal taglich wiederholt. Patient hat erst 
mit ungefahr 4 Jahren zu gehen angefangen. 

Status praesens: Sch&delkonturen pentagonahnlich, stark hervor- 
ragende, fast zugespitzte Scheitelbeinhocker, Stim hoch und schmal, Stirn- 
beinhocker weit von einander entfernt und stark vorspringend, besonders 
rechts; kleines dem Schadel entsprechendes Gesicht, Statur dem Alter 
entsprechend. Allgemeiner Emahrungszustand gut. Leicht arythmischer 
Puls. Innere Organs anscheinend normal. Driisen an den Leisten und am 
Halse fuhlbar. 

N eurologischer Be fund: Die vora Facialis und vom Hypoglossus inner- 
vierten Muskeln weisen keine Motilitatsstorung auf. Die oberen Extremi- 
taten zeigen athetotische Bewegungen. Gegen passive Bewegungen kein 
erheblicher Widerstand. Keinerlei Hypertrophien. Patient ist weder fahig 
zu stehen noch zu gehen; bei Gehversuchen sind die Beine starr ausge- 
streckt und neigen zur Ueberkreuzung; die Sehnen- und Periostreflexe 
dep Oberextremitaten sind leicht erhaltlich; die Patellarreflexe sind lebhaft, 
der Bauch- und der Kremasterreflex fehlt; Pupillen gleich, Lichtreaktion 
erhalten. Beriihrungs- und Schmerzempfindlichkeit normal. 

Geistig weist der Kranke die Zeichen einer sehr schweren Idiotie auf. 
Er spricht nicht, lasst Urin und Kot unter sich gehen; er isst mit Gier, 
was ihm unter die Hande kommt. Tod an Lungentuberkuiose. 

Sektion (24 Stunden p. m.): Himgewicht einschliesslich der weichen 
Haute 1275 g. Schadelknochen zart; die Dura ist mit dem Schadeldache 
im mittleren Teile der Sagittallinie verwachsen. An der Himoberflache 
befinden sich Stellen, die heller gefarbt, etwas erhaben iind von derber 
Konsistenz sind. Sie befallen: a) in der linken Hemisphare des Gehims: 
den mittleren Teil der oberen und der mittleren Stimwindung, den Fuss 
aller Stimwindungen, das vordere Ende des Gyrus rectus, das obere Drittel 
des G. postcentralis, den Zungenlappen, den hinteren Teil des Lobulus 
paracentralis, die beiden oberen Drittel der oberen Schlafenwindung, den 
Gyrus supramarginalis, den oberen Teil der zweiten und dritten Hinter- 
hauptwindung und einen Teil des Cuneus; b) in der rechten Hemisphare: 
den mittleren und hinteren Teil der oberen Stirnwindung, die Pars oper- 
cularis und triangularis der unteren Stimwindung, den imteren und oberen 
Teil des Gyrus centralis ant., fast die ganze Orbitalflache des Lobus fron¬ 
talis, das untere Ende des Gyrus fornicatus, die imtere Halfte des G. post¬ 
centralis, kleine Stellen des Gyrus temporalis superior und medius, einen 
Teil der dritten Schlafenwindung, einen Teil des Lobulus fusifornis und 
den oberen Teil des Praecuneus. 

Die link© Himhemisphare hat einen Querdurchmesser von 5,5 cm, 
die rechte von 6,0 cm. In der linken Himhemisphare bemerkt man, dem 
mittleren Teile der grossen Horizontalfurche Reil's zu, eine Vertiefung, in 
der die Hirnsubstanz eine weit grosser© Konsistenz als in den ubrigen Teilen 
auf weist. Auf Schnitten zeigt sich die Hirnsubstanz blass und gliinzend. 
Die Sehhiigel weisen in der Nahe des Sulcus striothalamicus eine grossere 
Konsistenz als gewohnlich auf. und das Gewebe ist an dieser Stelle von gelb- 
licher Farbung, und zwar namentlich rechts. Der Schweif des Nucleus 
caudatus zeigt sowohl rechts wie links eine starker© Konsistenz. Oberhaib 
des proximalen Abschnittes des Corpus restiforme findet sich eine kleine 
Geschwulst von der Gross© und der Gestalt einer Linse, von gelblicher Farbe 
imd knorpeliger Konsistenz. Die oben beschriebene sklerotische Zone der 
Himhemisphare weist beim Schnitte einen ahnlichen Widerstand auf wie 
verkalkte Substanzen. In der Briicke, sowie im Rest© der Medulla oblongata 
findet man makroskopisch nichts Bemerkenswertes. Das Riickenmark weist 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


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In der Lumbosakralgegend eine weit grosser© Konsisfcenz auf als in der 
Brust- und Halsgegend. Diese Konsistenz nimmt kapitalwarts allmahlich ab. 

Die Wandung des linken Herzventrikols ist verdickt. In der linken 
Lunge bronchi tische und peri br one hi tisc he Herde. Rechte Lunge normaL 
Milz und Leber normal. Nieren und Nebennieren stark entwickelt, beson- 
ders links; Nierenkapsel leicht ablosbar. Im mittleren Teile der linken 
Niere eine weisse, glanzende Zone von der Gross© eines Centesimo, von 
derber Konsistenz, welche keilformig in die Rindensubstanz eindringt. 

Die iibrigen Organe sind makroskopisch gesund. 

Pall 2. N. Mario, 7 Jahre ait. Der Vater ist Alkoholiker und yon 
heftigem Charakter; die Mutter gesund, keine Aborte. 2 Briider und eine 
Schwester gesund. In seiner era ten Kindheit hatte Pat. an eklamptischen 
Krampfen gelitten, die sich bis jetzt in Zwischenraumen von 10—15 Tagen 
wiederholt haben. Der Anfall wies immer die gleichen Charaktere auf: 
Hinfallen, tonisch-klonischer Krampf, blutiger Schaum vor dem Munde, 
Ham- und bisweilen auch Kotabgang, Cyanose im Gesicht, Dauer 3—4 Mi- 
nuten, nachher 15—30 Minuten Sopor. 

Status praeaens: Skelettentwicklung regelmassig. Allgemeiner Emfth- 
rungszustand ausgezeichnet. Muskelentwicklung normal. Leichte Schadel- 
anomalien: Stim vorgewolbt, Hinterkopf hervorstehend. Gebiss normal. 

Neurologischer Untersuchungsbefund: Strabismus convergens alternans. 
Facialis- und Hypoglossus-Innervationen normal. 

Muskelkraft der Extremitaten gut entwickelt, passive Beweglichkeit 
normal. Trotz des Strabismus convergens bewegen sich die Augapfel normal 
nach alien Richtungen. Lichtreaktionen der Pupillen normal; Patellar- 
reflex schwach, besonders links. Hautreflexe normal. Eine Untersuchung 
des Gesichtsfeldes war nicht moglich, nur konnte man beobachten, dass 
Patient, wenn er irgend einen Gegenstand betrachten soli, den Kopf auf 
die link© Schulter neigt und die Augenlidspalte verengert; gleichzeitig pragt 
sich der Strabismus convergens starker aus. Hohere Sinnesorgane im iibrigen 
ohne grobe Storung. Patient lasst gewohnlich nur einige Silben oder un- 
deutliche Tone vernehmen, die eine gewisse phonetische Aehnlichkeit mit 
den gebrauchlichsten Worten „Brot*% „trinken“ u. s. w. zeigen. Er wieder¬ 
holt oft leise die Melodie irgend eines Liedes. Die Aufmerksamkeit ist sehr 
gering und schwer zu fixieren. Patient wird ausserst leicht abgelenkt. 
Der intellektuelle Besitzstand ist ausserst diirftig. Er erkennt kaum 
seine Mutter, wenn diese ihn besucht und Backwerk bringt. Er isst mit 
Gier alles, was er findet. Lasst Kot und Ur in ins Bett gehen. 

Tod unter uramischen Erscheinimgen. 

Sektion 24 Stunden p. m.: Die Schadelknochen sind von einer anor- 
malen Harte, so dass sie nur schwer von der Sage zerteilt werden. Die 
Dura ist fest mit dem Schadeldache verwachsen. Die weiche Himhaut ist 
glatt, zart, leicht von der Oberflache der Windungen abzulosen. Auf der 
Oberflache der Hirnhemispharen finden sich Zonen von einem Durchmesser 
von 2—3 cm, die blasser gefarbt sind aLs die Umgebung und eine harte, 
feist knorpelige Konsistenz aufweisen. Die Oberflache dieser Zonen ist glatt 
oder leicht eingesunken. Sie sind unregelmassig zerstreut und finden sich 
rechte: 1. in den hinteren drei Fiinfteln des Gyrus frontalis sup.; 2. in der 
vorderen Halfte des Gyrus frontalis med.; 3. in der Pars triangularis des 
Gyrus frontalis inf.; 4. im unteren Fiinftel des Gyrus centralis ant.; 5. in fast 
der ganzen oberen Hinterhauptswindung und im hinteren Teile des oberen 
Scheitellappchens; 6. im unteren Teil des Gyrus supramarginalis; 7. in 
dem vorderen unteren Teile der oberen Schlafenwindung; 8. im vorderen 
Teil und im hinteren Drittel der mittleren Schlafenwindung; 9. am vorderen 
Ende des ausseren Gyrus rectus; 10. in den beiden mittleren Fiinfteln des 
Gyrus frontoparietalis medius; — links: 1. in den hinteren zwei Fiinfteln 
und dem vorderen Fiinftel der oberen Stimwindung; 2. in dem hinteren 
Fiinftel und im vorderen Fiinftel der mittleren Stimwindung; 3. an der 
Spitze der Pars triangularis der unteren Stimwindung; 4. in dem unteren 
Teile des Gyrus centralis ant.; 5. in dem unteren TeUe des Gyrus centralis 

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B o n f i g 1 i . Ueber tuberose Sklerose. 


post.; 6. im oberen Scheitellappchen und in der oberen Hinterhaupts- 

windung; 8. im mittleren Drittel des Gyrus temporalis inferior bis an die 
Grenze des Lobulus fusiformis; 9. in der Mitte des Lobulus orbitalis; 10. im 
vorderen Teile des Gyrus rectus extemus; 11. im mittleren Teile des Gyrus 
parietalis medius; 12. im hinteren Teile des Gyrus corporis callosi; 13. im 
ganzen Cuneus. 

Auf Schnitten, welche durch die Himhemispharen gefiihrt werden, 
bemerkt man rechts im Centrum semiovale, entsprechend dem Knoten im 
Gyrus supramarginalis, eine bedeutende Verhartung der weissen Substanz, 
die sich hier viel blasser als normal zeigt. Auf den Sehhiigeln langs der 
Stria cornea und langs des Schweifs des Nucleus caudatus finden sich zahl- 
reiche kleine Erhabenheiten von der Grosse einer kleinen Erbse. Kleinhim 
und Riickenmark sind normal. Lungen normal, Herz gross, seine Ventrikel 
erweitert, Wand des linken Ventrikels verdickt; Milz vergrossert. Rinden- 
substanz der linken Niere von graulicher Farbe, Glomeruli nicht zu unter- 
scheiden. In dem mittleren Teile findet sich eine Geschwulst, welche sich 
vom Hilus bis zur Peripherie erstreckt und die beiden ausseren Drittel 
einnimmt. Dieselbe zeigt derbe Konsistenz. weisse Farbe und unregel- 
massige aussere Oberflache. Rindensubstanz der rechten Niere von grauer 
Farbe; Glomeruli nicht sichtbar. 

Mikroskopischer Befund. Das anatomische Material habe ich in einer 
wasserigen 10 proz. Formollosung, in Alkohol 96° und in MullerseheT Losung 
gehartet; die Farbung der Chromatinsubstanz erfolgte nach den Methoden 
von Nissl, Weigert-Hoyer , v. Lenhosaek , Hoyer und Bielschowsky-Plien. 
Die Neurofibrillen impragnierte ich nach Bielschowsky und Ramon y Cajal , 
die Markscheiden nach Woilers und Ktdtsehitzky-Wolters , die Neuroglia nach 
der urspriinglichen wie nach der von mir modifizierten Elektivmethode 
Weigerts, nach Mallory . r. Gieson , mit Nigrosin und Anilinblau, das Binde- 
gewebe nach v. Gieson und Weigert . Neben diesen hauptsachlichsten Me¬ 
thoden habe ich fur die Plasmazellen die Methode von Unna-Pappenheim r 
fiir die Mastzellen das Thionin. fiir das Fibrin die Weigerts che Methode 
angewandt. Ebenso fiihrte ich einige mikrochemische Reaktionen sowohl 
behufs Untersuchung der marklosen Substanz wie zur Feststellung der in 
den Geweben abgelagerten Kalksalze aus. 

Im folgenden gebe ich die Ergebnisse meiner Beobachtungen wieder. 

Fall 1. Hirnrinde. In samtlichen Zonen der Himrinde fallt im Be- 
reich der sklerotischen Herde besonders die grosse Fnordnung in der Lage- 
rung und Orientierung der Ganglienzellen auf. Grosse Pyramidenzellen 
finden sich hier und da in mehr oder weniger grosser Anzahl in den ober- 
flachlichen, sonst gewohnlich den kleinen Pyramidenzellen reservierten 
Schichten vor. Diese letzteren sind ilirorseits auch in der tiefsten Schicht 
der polymorphen Zellen sehr zahlreicli. und einige finden sich noch in der 
weissen Substanz vereinzelt zwischen den Neurogliakemen. Die Chromatin- 
schollen zeigen sich verandert. In den nach der Nisslschen und ahnlichen 
Methoden hergestollten Praparaten sieht man geschwollene Zellen mit 
grossem, fast ungefarbtem Kern und mit mehr oder weniger vollstandiger 
Chromolyse, mit oft undeutliclien, verschwommenen Konturen, mit kurzen 
Fortsatzen, also Bilder, die unzweifelhaft dem Typus der akuten Degene¬ 
ration (akute Erkrankung Nissls) angehoren; neben diesen Zellen finden 
sich andere, mehr langliche, mit einem iiborfarbten Kern, dessen Konturen 
ungefahr den nicht scharfen Konturen der Zelle selbst parallel laufen, mit 
langen und gewundenen Auslaufem, also Elemente, die dem Tj^pus der 
chronischen Degeneration angehoren. Zwischen diesen Extremen bestehen 
Zwischenformen, ebenso sieht man hier und da noch einzelne Zellen, in 
denen der chromolytischo Prozess erst im Begimi ist und in denen man 
an der Peripherie noch einige Reste der Tigroidkorper bemerkt. Beziiglich 
der Zelltypen fallt in einigen Schnitten der motorischen Region das Vorherr- 
schen langliclier Zellen vom Typus der Stabchenzellen auf. Einige dieser 
enorm in die Lange gestreckten Zellen haben ein schlangenformiges Aus- 
sehen, und ihre Auslaufer sind auf eine weitc Strecke zu verfolgen. 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


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Daneben beobachtet man andere atypische Elemente, namlich gross© 
Zellen, die sich weder in die Klasse der Ganglienzellen noch in die Klasse 
der Neurogliazellen ohne weifceres einreihen lessen. Diese Zellen liegen zum 
kleinen Toil zwischen den Ganglienzellen in der grauen Substanz. in weit 
grosserer Anzahl aber und auch in Gruppen vereinigt in der weissen Sub¬ 
stanz. Ihr Durehmesser betragt 1<>—30 /*. Sie sind rundlich, bim- oder 
spindelformig, von unregel massiger Gestalt, stets geschwollen und haben 
meist verschwomtnene Konturen, zahlreiche kurze, feine und gewundone 
Auslaufor. Ihr Protoplasma bietet ein homogenes, bisweilen staubahnliches 
Aussehen; der Kern ist gross, rund. ungefarbt. zeigt wenig scharfe Kon¬ 
turen und enthalt ein grosses, rundes. intensiv gefarbtes. mit feinen Korn- 
chen versehenes Kernkorperehen (Taf. I, Fig. 1. 8 u. 10 b). Oft sieht man 
in derselben Zeile zwei oder mehr dieser Kernkorperehen, und zwar in 
peripherischer Lage. Mittelst der Methode von Unna-Pappenheim farbt 
sich das Protoplasma dieser Elemente rot, das Kernkorperehen tief rot 
und der Kern grim. 

Die Neurogliazellen sind zahlreich; ihr Protoplasma ist reichlich und 
farbt sich leicht sowohl mit dem verseiften Methylenbau Nissls wie mit 
Toluidinblau. Ihre Kerne sind vorwiegend klein in den mehr oberflach- 
lichen Schichten, wahrend in den tiefen Schichten die Zahl der grosseren, 
ungefarbten oder fast ungefarbten. grosse Granulationen enthaltenden 
Kerne bedeutend ist. An den Stellen, an denen die oben beschriebenen 
atypischen Zellen zahlreicher sind,' sieht man diese grossen Neurogliazellen 
in grosserer Menge; sie scheinen bisweilen eine Uebergangsform zwischen 
den normalen und den atypischen Zellen darzustellen. In Schnitten aus 
den sklerotisehen Zonen, welche nach der Methode von Bielschowsky oder 
einer leicht modifizierten Ramon y Cajalschen Methode gefarbt sind, 
weisen die Zellenveranderungon dieselben Charaktere auf. Die Unordnung 
in der Orientierung der Zellen, die ich bereits oben hervorgehoben habe, 
tritt in diesen Praparaten infolge der intensiven und scharfen Farbung 
der feinsten Verastelungen der Fortsatze noch viel deutlicher zutage. 

Der Grad der Veranderung der Neurofibrillen ist verschieden. Besser 
erhalten sind dieselben in den grosseren Zellen; in diesen gelingt es bis¬ 
weilen, ein cndozellulares Netz nachzuweisen. dessen Fibrillen ungewohn- 
lich stark sind und sich deutlich bis in die feinsten Verastelungen verfolgen 
lassen. Sehr stark verandert hingegen sind die Fibrillen in den kleineren 
Elementen, woselbst sie in einen Haufen von Kornchen verwandelt sind, 
zwischen denen man selten noch einige grobere Fasern bemerkt. Zwischen 
diesen beiden Extremen sieht man samtliche Zwischenformen von ver- 
dickten, durcheinander geworfenen, zerstiickelten Fibrillen. In den oben 
beschriebenen atypischen Zellen habe ich nie die geringste Andeutung einer 
Farbung von Neurofibrillen wahrnehmen konnen. 

Die Nervenfasern (Methode W olters-Kultschitzky ) zeigen auch ihrer- 
seits bedeutende Veranderungen. Die Kadiarfasern haben augenscheinlich 
an Zahl abgenommen, die Radii erscheinen daher verschmalert und sind 
in den Zonen, in denen der sklerotische Prozess starker ausgepragt ist, 
ganzlich verschwunden. Die kurzen Assoziationsfasern sind am starksten 
betroffen. Die oberflachlichste Schicht der Tangentialfasern ist fast 
voilstandig verschwunden. Das supraradiare und interradiare Fasergeflecht 
ist enorm gelichtet und haufig ebenfalls ganz verschwunden. Die Fasern 
sind verschmalert und weisen grosse, gewiss zum grossen Teile auf die 
Wirkung der zur Farbung angewaridten Reagentien zuriickzufiihrende 
Varikositaten auf. 

Die Neurogliafasern zeigen die schwersten pathologischen Verande¬ 
rungen. Der subpiale Neurogliafilz ist sehr dicht. Die Faserchen kreuzen 
sich nach alien Richtungen, ihr Verlauf ist oft gerade oder zickzackformig, 
ofter jedoch geschlangelt und gewunden. In der Lage, die der Schicht der 
kleinen Pyramiden entspricht, findet man haufig eine biindel- oder pinsel- 
formige Anordnung der Neurogliafasern; oft bilden sie auch kleine Wirbel 
oder Biischel (Taf. I, Fig. 4). In den tieferen Schichten nimmt man seltener 
und nur in sehr kleinen Bezirken Herde wahr, die aus einem dichten Faser- 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


chengeflecht bestehen. Die NeurogliazeUen sind in den tiefen Schichtem 
zahlreicher als in den oberflachlichen. Haufig sind spindelformige Riesen- 
zellen mit langen und zahlreichen Auslaufern (Taf. I, Fig. 2). Die oben 
erwahnten atypischen Zellen weisen auch in diesen Schnitten dieselben 
charakteristischen Merkmale auf. Bei der Weigertschen Gliafarbung er- 
scheint ihr Protoplasma durch Chromogen hell gefarbt; niemals habe ich. 
einen Zusammenhang derselben mit Ghafasern bemerkt (Taf. I, Fig. 1)- 

Die Gefasse sind im grossten Teile der sklerotischen Herde sehr 
oft durch Fibringerinnsel thrombosiert, in dem neben roten Blutkorper- 
chen mono- und polynukleare Leukozyten nachweisbar sind. Das Fibrin 
zeigt sich in feinen, engverwickelten Faden. 

Die Gefasswande sind nicht merklich verdickt, in den Gefassscheiden 
findet man oft Lymphozyten. Hamatoidinkristalle und Pigmentkomchen. 
Diese Elemente finden sich zusammen mit zahlreichen Mastzellen auch im 
umliegenden Gewebe zerstreut. 

Alle bisher beschriebenen Veranderungen treten regelmassig mehr 
oder weniger schwer in den schon makroskopisch erkennbaren Herden bezw. 
Zonen auf, die, wie oben beschrieben, eine fast knorpelige Konsistenz und 
eine weisse, glanzende Farbe zeigen, so dass auf frischen Schnitten der 
normale Farbenunterschied zwischen der Rinde und der weissen Substanz 
verwischt ist und bisweilen sogar die weisse Substanz rotlich und die graue 
durchaus weiss erscheint. 

In den makroskopisch normal erscheinenden Abschnitten sind die 
Veranderungen viel weniger schwer, und zwar um so leichter, je entfemter 
sie von den Herden liegen. In diesen normal erscheinenden Teilen ist die 
Lagerung und die Orientierung der Zellen fast normal, und viele Ganglien- 
zellen, besonders unter den grossen Pyramidenzellen. haben sehr deutliche 
und gut erhaltene Tigroidkorper. ungefarbten Kern, stark gefarbtes Kem- 
korperchen, normale Auslaufer. sehr feme Neurofibrillen sowohl in den 
Auslaufern wie auch im endozellularen Geflecht. Die Neuroglia zeigt sich 
hier wenig verandert, ihr Foserwerk ist nur dichter, die Kerne sind meist kleiner, 
Riesenzellen finden sich seltener vor, wie auch die charakteristischen atypi¬ 
schen Elemente der sklerotischen Zonen seltener sind: ausserdem treten 
sie hier nie in Gruppen, sondem nur hier und da vereinzelt auf. Die Nerven- 
fasem sind viel besser erhalten. Die Projektionsfasem sind normal. Auch 
die Tangentialfasern sind besser erhalten, weniger die Radialfasem. 
Die Gefasse erscheinen norma]. Die Dura mater weist keine besonderen 
Veranderungen auf. Die Pia ist stark verdickt und von Lymphozyten 
infiltriert; ihre Gefasse zeigen verdickte Wandungen und verengertes Lumen 
und weisen dieselben charakteristischen Merkmale auf, die wir bereits fur 
die sklerotischen Rindenpartien beschrieben haben. Starke, gefassreiche 
Bindegewebssepta dringen von der Pia aus in die Hirnnnde. ^ 

Sehhiigel: Die Nervenzellen sind in verschiedenartigster Weise ver¬ 
andert, jedoch lierrscht der Typus der chronischen Degeneration vor. Die 
kleinen Geschwiilste im Verlauf des Sulcus striothalamicus, die dieser Zone 
eine abnorm der be Konsistenz verleihen, bestehen aus Binde- und Neurogiia- 
gewebe. Zwischen den Maschen dieses Gewebes finden sich grosse und 
kleine Gliakeme in sehr grosser Anzahl, der Gliafilz ist sehr dicht. Ausser¬ 
dem findet man hier zahlreiche grossere, kugelformige Zellen, oft ohne 
scharfe Konturen, von verschiedenster Form und mit grossem, scharf be- 
grenztem, ungefarbtem, an Chromatinkornchen reichem Kern. Unter den 
Chromatinkornchen hebt sich deutlich ein grosses Kernkorperchen ab. Die 
Gefasse sind zahlreich und thrombosiert; ihr Lumen ist verengert, die 
Thromben bestehen aus roten Blutkorperchen, Leukozyten und Fibrin¬ 
gerinnsel; ihre Wandungen sind verdickt, in den Gefassen sowohl wie um 
die Gefasse herum liegen zahlreiche Mastzellen, Pigmentkomchen und 
Hamatoidinkristalle. Der grbsste Teil dieser Gefasse weist bedeutende Ver- 
kalkungen auf; einige sind vollstiindig verkalkt, und zahlreiche Ablage- 
rungen von Ivalksalzen sind im Gewebe zerstreut; letzteres ist an einigen 
Steflen geradezu in eine harte, steineme Masse umgewandelt. Diese Kalk- 
konkremente zeigen meistens ein mndliohes Aussehen und eine konzentrische 


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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 


401 


Schichtung; sie sind stark liohtbreehend und in Salzsaure leicht loslich, 
und zwar ohne Entwicklung kleiner Gaeblaschen und ohne Riickstand. 
Sie losen sich in Schwefelsaure unter Bildung von nadelformigen Kristallen 
von 8chwefelsaurem Kalk, sie farber\ sich mit Anilinfarben nur wenig und 
nehmen beiBehandlung mitHamatoxylinlosungen eine schwarzo Farbung an. 

Kleinhim: In den sklerotischen Partien fand ich folgende Ver&nde- 
rungen: Die Purkinje schen Zellen haben stark an Zahl abgenommen und 
fehlen in einigen Lamellen ganz. In NiasZ-Praparaten zeigen sie eine zen- 
trale und periphere Chromolyse, Vakuolisierung bis zum volligen Schwund 
des Zellprotoplasmas, kurze Auslaufer und einen grossen, oft undeutlichen 
Kern. Die Neurofibrillen sind in den besonders schwer veranderten Zellen 
zu einer komigen Masse zerfalien, die sich auch in die kurzen Auslaufer 
fortsetzt; in den weniger schwer veranderten Zellen sind die perizellularen 
Korbe aus dicken und spindelformigen Neurofibrillen zusainmengesetzt; 
das endozellulare Geflecht ust in einigen Zellen auf den periphersten Teil 
der Zelle beschrankt, in anderen besteht es aus feinen Komehen, zwischen 
denen man nur hier und da noch einige Fibrillen wahmimrat (Taf. I, Fig. 7). 
Der Kern ist gross, von unregelmassiger Gestalt, nicht durchscheinend. 
Die Neurofibrillen sind in den langeren Auslaufem fein, oft in Blind el ver- 
einigt. Grosse, den in der Himrinde beschriebenen ahnliche atypische 
Zellen (Taf. I, Fig. 6) finden sich in den Markstrahlen ebenfalls. Die Korn* 
chenschicht hat an einigen Stellen ein fast normales Aussehen, an anderen 
ist sie mehr oder weniger verschmalert, so dass sie nur aus wenigen kleinen, 
runden, unregelmassig zwischen den oben beschriebenen grossen atypischen 
Zellen zerstreuten „Komem“ besteht. Hier und da sieht man Gruppen 
von Zellen, die grosser sind und ein auffallig grosses Kemkorperchen auf- 
weisen, welches sich wenig mit Anilinfarben und mit dem Nissl&chen Me- 
thylenblau farbt (Taf. I, Fig. 9). Starke Ablagerungen von Kalksalzen 
von den oben beschriebenen Eigenschaften sind im Gewebe zerstreut. Die 
Nervenfasem in den Markstrahlen der sklerotischen Partien sind stark 
rarefiziert und an einigen Stellen vollig verschwunden. Sie zeigen oft einen 
gewundenen Verlauf. Die das Kleinhim bekleidende Pia ist leicht verdickt 
und sehr gefassreich und weist hier und da eine reichliche Lymphozyten- 
infiltration und Reste vorhergegangener Entziindungsprozesse auf. 

Der kleine Tumor im linken Corpus restiforme besteht aus einem 
weitmaschigen Bindegewebe und aus kleinen protoplasmaarmen Zellen. 
Das Gewebe ist sehr gefassreich, und seine Gefasse besitzen dickeWande 
und enges Lumen; viele weisen ausgedehnte Kalkeinlagerungen auf. Grosse 
Mengen von Kalksalzen finden sich auch in den Gewebsmaschen. 

Das Riickenmark zeigt in der Lumbal- und Sakralgegend, d. h. da, 
wo dasselbe makroskopisch harter und blasser erschien, die Zellen der Vorder- 
homer beziiglich ihrer feineren Struktur gut erhalten. Einige wenige Zellen 
der zentralen Gruppen fallen durch eine etwas geringe Farbbarkeit der 
Chromatinsubstanz auf, jedoch besteht nirgends Chromolyse. Die Zellen der 
ventromedialen und lateralen Gruppe zeigen ganz normale Schollen, 

ungefarbten Kera, intensiv gefarbtes Kemkorperchen, scharfe Konturen 
und gut erhaltenes endozeliulares Fasemetz. Die Auslaufer sind lang und 
gerade; sie lassen zahlreiche Verastelungen, deutliche Nw^-Schollen und 
normale Neurofibrillen erkennen. Auch die Zellgruppen der Hinterhomer 
sind normal. Die Nervenfasem sind gut erhalten, nur die Fasem in der 
subpialen Schicht erscheinen leicht atrophisch. In der LissauertchQTi Zone 
sind die Hinterwurzelfasem stark verandert; ein grosser Teil ist verschwun- 
den, viele erscheinen geschwollen und enorm verdickt, der Achsenzylinder 
liegt exzentrisch. 

Die Neuroglia ist in der grauen und der weissen Substanz stfiurk ge- 
wuchert. Ihre Zellen sind zahlreich. Die subpiale Schicht zeigt ein dichtes 
Fibrillengeflecht, die Neurogliafasern dringen bis zur grauen Substanz und 
begleiten die Septa der Pia und die Gefasse in einem meist gewundenen 
Verlaufe. Die Gefasse sind zum grossen Teile mit Blutkorperchen prall 
gefiillt, unter denen sich zahlreiche poly- und mononukleare Leukozyten 
und Fibringerinnsel befinden. Der Eintrittsstelle der hinteren Wurzeln 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


enteprechend sieht man Rest© von kleinen Hamorrhagien; an diesen Stellen 
sind die Wande der Himhautgefasse oft zerrissen und gefranst, und im Ge- 
webe zerstreut liegen ausgetretene Blutkorperchen, Pigmentkornchen und 
Haminkristalle. Die Gefasswande sind verdickt. 

Im Hals- und Brustmark habe ich keine Veranderungen gefunden. 

In den Spinalganglien sind die Zeilen ohne Veranderungen; die „hellen“ 
Zeilen sind gross, ihre Substanz ist chromophil, in A 7 i*sJ-Praparaten zeigt sie 
sich als aus sehr foinen Granulationen im Zentrum und etwas groberen in 
der Peripherie bestehend. Der Kern ist rundlich und zentral gelegen, 
er hat ein sehr deutliches und intensiv gefarbtes Kernkorperehen; um dieses 
herum sieht man zahlreiche kleine Komchen. Die ,,dunkeln“ Zeilen Lugaroa 
sind viel kleiner und intensiv gefarbt, im iibrigeii weisen sie die gleichen 
charakteristischen Merkmale auf. In den nach der Methode Bidschowskys 
und Ramon y Cajals gefarbten Schnitten ist das endozellulare Fibrillennetz 
sehr deutlich, das pcrinukleiire Gefleeht dicht, die sehr feinen Neurofibrillen 
sind in den Ausiaufern deutlich erkennhar. Der Auslaufer der hellen Zeilen 
verschwindet allmahlich jenseits der Endothelkapsel, welche die Zelle ein- 
schiiesst, nachdem er sich ein- oder zweimal auf sich selbst zusaininengerollt 
hat. Nie habe ich mehr als einen Auslaufer an einer und derselben Zelle 
gefunden. Das Nervengewebe wird von einem reichlichen Bindegewebe 
umgeben, dessen Oefasse durch Thromben verschlossen sind. Das Gefass- 
lumen ist haufig verengt, die Gefasswande sind meist leicht verdickt. 

Der Nierentumor , der makroskopisch von derberer Konsistenz als das 
iibrige Gewebe und von weisslicher Farbe war. besteht aus kleinen Epithel-. 
zeilen, die gruppenweise angeordnet sind und oft runde oder tubulare 
Liicken umgrenzen. Diese Zellgruppen werden durch mehr oder weniger 
feine Bindegewebsbalken von einandcr getrermt. Im zentralen Teil des 
Tumors finden wir sparlicho neugebildete Gefasse. Gegen das umgebende 
Bindegewebe ist der Tumor nicht scharf abgegrenzt. Die benachbarten 
Nierengefasse haben verdickte Wande und sind von einer starken Binde- 
gewebsschicht umgeben; ihr Lumen ist meist verengt, haufig thrombosiert. 
im mittleren Teile durch rote Blutkorperchen und langs der Wandung 
durch Leukozyten. Diese Veranderungen entsprechen dem Bilde des Hyper¬ 
nephroma. 

Fall 2. Hirnrinde. In den sklerotisehen Partien fallt auf: Mangel 
an Orientierung und veranderte Lagerung der Nervenzellen; die grossen 
imd kleinen Pyramidenzellen sind ohne Ordnung in den versehiedenen 
Schichten gelagert, sie zeigen entweder Chromatolvse oder Hyperchroma- 
tose des Kernes, biswoilen vollstandige Auflosung aller ihrer normalen 
Bostandteile. so dass die Zelle in eine Gruppe von formlosen Granulationen 
um einen mehr oder weniger erhaltenen Kern herum verwandelt ist; ausser- 
dem schwore Veranderungen der Neurofibrillen, die in eine Kornchemnasse 
zerfalien sind. Zwisohen diesen Zeilen sieht man andere, die so in die Lange 
gezogen sind, dass sie den Typus der Stabchenzellen annehmen; zum Teil 
sind sie auch in ihrem Langsdurchmesser onorm vergrossert, besitzen aber 
dabei mehrere ungefarbt bleibende Kerne ohne Kernkorperehen, ein wenig 
gefarbtes Protoplasma und zahlreiche Dendriten. Diese Zeilen nehmen 
eine Zone ein, die ungefahr der I'ebergangszone zwischen der Schicht der 
grossen Pyramidenzelhui und dor Sehicht der polymorphen Zeilen entspricht. 

In der Rinde finden sich einzelne Zeilen von auffalligor Grosso, in der 
weissen Substanz werden diese immer zahlreicher und treten auch in Gruppen 
vereinigt auf, so dass sie kleine Horde von der Grbsse eines Quadratnulli- 
meb'rs bilden. Der Leib dieser Zeilen ist gosehwollen, ihre Form ist rund- 
1 icii oder oblong, birnen- oder spindelformig u. s. w. Das Protoplasma er- 
scheint fein staubig, leicht farbbar und lasst weder A’w5/-Schollen noch 
Nourofibrillen erkennen; auch fehlt jede Andeutung von Neurogliafasern; 
die Fortsatze sind zahlreich, kurz und gewunden, die Konturen verwaschen. 
In den Zeilen finden sich ein oder mehrere grosse, ungefarbte, von einer 
intensiv gefarbten Membran scharf begrenzte Kerne mit Kernkorperehen 
und sehr feinen Chromatinkornchen. Zwischen diesen Zeilen sieht man 
zahlreiche Riesenzellen der Glia mit reichlichem Protoplasma, zahlreichen 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


403 


Kernen und zahireichen Auslaufern. An den Stellen, an welchen die oben 
beschriebenen atypischen Zellen zu Herden vereinigt sind, ist das Gewabe 
reich an Gefassen mit verdickten, infiltrierten Wanden, und zwischen ihren 
Maschen finden sich Lymphozyten, rote Blutkorperchen und Pigment- 
komchen zerstreut. Auch die kleinan G1 iakerna sind an diesen Stellen sehr 
zahlreich und zeigen ein sehr reichliches, auffallig leicht mit Toluidinblau 
sich farbendes Protoplasma und vielo kleina Auslaufer. Das Geflecht der 
Neurogliafasern ist in den sklerotisehen Zonen sehr dieht. 

Die tangentialen und supraradiaren Nervenfasern sind fast vollstandig 
versehwunden, enorm rarefiziert ist farner das interradiare Geflecht. Die 
Radiarfasern selbst sind in den Partien, in danan der sklerotische Prozess 
besonders stark ist, sehr vermindert, ja bisweilen vollstandig varschwundan. 

Alla diese Veranderungen sind sehr verschieden und schwanken von 
einem Maximum in den Zonen, in denen der sklerotische Prozess am starksten 
ist, bis zu einem Minimum in den makroskopisch normal erscheinenden 
Zonen, in denen die oben beschriebenen Veranderungen oft kaum wahr- 
nehmbar sind. 

Die Pia des Geliirns ist etwas verdickt, ihre zahireichen Gefasse 
zeigen ein verengtes Lumen und verdickte Wande und sind durch Thromben 
geschlossen, die aus einem Gemische von roten Blutkorperchen und Leuko- 
zyten bostehen. Aehnliche Veranderungen weisen die Gefasse der Rinde auf. 

Die kleinen, langs der Stria cornea und in den Sehhiigeln gefundenen 
Knoten bestehen fast ausschliesslich aus enorm gewucherter Neuroglia, 
vor allem aus gawucherten Neurogliafasern. Zwischen den letzteren finden 
sich viele grosse Glia- und andere grosse Zellen vom Charakter der oben 
beschriebenen ,,atypischen“ Zellen. Die Gefasse sind sparlich, die Wande 
derselben sehr diinn. Die Nervenfasern in den Sehhiigeln sind stark und 
varikos, in den Knoten fehlen sie vollstandig. 

Im Kleinhim sind die Purkinje schen Zellen normal beziiglich ihrer 
Form imd Struktur. Die Kornchenschicht weist keine Veranderungen 
auf mit Ausnahme einer leichten Verschmalerung der Markstrahlen. Atypi- 
sche Elemente habe ich nicht gafunden. Die Glia ist normal. 

Ruckenmark: Die Arachnoidea und Pia ist, besonders in der hinteren 
Halfte, verdickt; mit dem Ruckenmark ist sia nicht verwachsen, sondern 
wird durch ein Exsudat von ihm getrennt. Das Exsudat ist granulos, form- 
los; man bemerkt in demselben rimdliche, kornige, durchsichtige Korper- 
chen von einem Durchmesser von 16—30 u mit schwach farbbarem und 
nicht immer sichtbarem Kern. Es sind dies die granulosen Korper oder 
Gliige schen Korperchen, die sich haufig in der Umgebung ischamischer oder 
entziindlicher Herde der weissen Substanz finden 1 ). Die Gefasse der Pia 
zeigen verdickte und oft infiltrierte Wande. Den Austrittsstellen der hin¬ 
teren Wurzeln entsprechend weisen diese Gefasse imtarbrochene, auf- 
gefranste Wandungen auf, und hier sind dem eben beschriebenen Exsudat 
Erythrozyten beigemischt. Gleiche Charaktere zeigen die thrombosierten 
Gefasse des Piaseptums der Fissura mediana anterior. In der grauan 
Substanz finden sich ebenfalls viele thrombosierte Gefasse, die zu kleinen 
nekrotischen Herden in Beziehung stehen. 

Die Neuroglia ist vermehrt, und ihr Fasergeflecht ist in der grauen 
Substanz sehr dicht und noch dichter in dem peripherischen Teile der 
hinteren Halfte der weissen Substanz, wo sie die Septa der Pia begleitet. 
Die Faserbiindel, welche die Gollschen Strange bilden, sind sehr rarefiziert. 
Eine gleiche Rarefizierung nimmt man auch in den Seitenstrangen wahr. 
Die Zellgruppen der Vorderhorner weisen in don beiden Markhalften rnerk- 
liche Unterschiede auf. Im rechten Vorderhorn ist die vontromediale Zell- 
gruppe stark gelichtet, wahrend die anderen Gruppen gut erhalten sind; 
im linken Vorderhorn ist die ventrolaterale Gruppe besser erhalten und 
die anderen erscheinen in toto bedeutend gelichtet; im allgemeinen ist das 
linke Vorderhorn kleiner als das rechte. In den Zellen der Hinterhorner 


x ) Comil et Ranvier . Manuel d’histologie pathologique. Paris 1902. 
T. 4. pag. 825. 


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404 B.onfigli, Ueber tuberose Sklerose. 

babe ich keinen merklichen Unterschied zwischen den beiden Halften wahr- 
nehmen konnecu Der Zentralkanal weist in den untersuchten Schnitten 
grosse Verschiedenheiten in der Form auf. In einigen erscheint er normal, 
in anderen zerfallt er in zwei oder drei Hohlraume, die durch eine oder 
zwei sagittate Bindegewebssepten getrennt sind. Die Ependymzellen be- 
kleiden zum Teil diese Septen. In anderen Schnitten liegt hinter dem 
Zentralkanal eine zweite, weit kleinere Hohlung, die ebenfalls von Epen¬ 
dymzellen ausgekleidet ist. 

Der vorwiegend aus kleinen spindelformigen, zu Biindeln vereinigten, 
durch Bindegewebsbalken getrennten Zellschichten gebildete Nierentumor 
hat alle Charaktere eines Fibrosarkoms. 

Epikrise. 

Nach Anftihrung der histologischen Befunde sei es mir ge- 
stattet, einige Erwagungen beziiglich der Bedeutung der von mir 
festgestellten Veranderungen anzustellen. Vor allem stimmen die 
in meinen beiden Fallen angetroffenen histologischen Verande¬ 
rungen ungefahr iiberein und decken sich auch mit den fast iiber- 
einstimmend von anderen Autoren bei der tuberosen Skerose er- 
hobenen Befunden. Es sind im wesentlichen folgende: Unordnung 
in der Lagerung und Desorientierung der Nervenzellen, enorme 
Wucherung der Glia in den sklerotischen Zonen, weniger stark in 
den iibrigen Teilen der Rinde, Anwesenheit grosser atypischer 
Zellen in den sklerotischen Herden, Entziindungsprozesse der 
weichen Him- und Riickenmarkshaut, Bildungsanomalien und 
Rarefizierung der Hinterstrangbiindel im Riickenmark. 

Der Mangel an Orientierung und die Unordnung in der Lage¬ 
rung der Nervenzellen der Himrinde sind schon bekannte Sto- 
rungen, die man bei vielen anderen Gehimkrankheiten, ganz be- 
sonders bei der Mikrocephalie 1 ), bei der Mikrogyria spuria von 
Kalischer 2 ) und dem Hydrocephalus internus congenitus 3 ) fest- 
gestellt hat. Man hat diese Storung der Architektonik teils auf 
einen Entwicklimgsdefekt der Hirnrinde, teils auf besondere patho- 
logische Prozesse bezogen. Pellizzi hat gerade diesen atiologischen 
Unterschied sehr gut hervorgehoben, indem er von der kortikalen 
Histioatypie sprach. In meinen beiden Fallen war die Lagerung 
und Orientierung der Nervenzellen samtlicher Rindenschichten 
stets mehr oder weniger gestort. Die Spitzenfortsatze sind in 
sehr dicken, nach der Biehchowskyschen Methode hergestellten 
Schnitten auf lange Strecken zu verfolgen imd verlaufen nicht 
immer nach den oberflachlichen Schichten hin, sondern auch nach 
den tieferen hin oder in tangentialer Richtung. Neben diesen Ver¬ 
anderungen in der Anordnung der Nervenzellen habe ich in beiden 
Fallen regelmassig schwere Veranderungen in der Form und der 
Struktur der Ganglienzellen festgestellt, so namentlich zentrale 

1 ) Mingazzini, O., Beitrag zum klinisch-anatomischen Studium der 
Mikrocephalie. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1900. Bd. 7. 

! ) Pellizzi, Sulla microgiria. Studi clinici ed anatomopatologici sull’ 
idiozia. Torino 1903. 

3 ) Pellizzi, Note anatomiche ed istologiche sopra im caso di micro- 
cefalia vera ed un caso di idrocefalo intemo congenito. Torino 1908. 


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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 405- 

und peripherische Chromolyse und teilweise Zerstorung der Neuro- 
fibrillen (die unter den Elementen, welche die Zelle bilden, eines 
der widerstandsfahigsten bilden). Der Zerstorungsprozess muss als 
zer8treut bezeichnet werden, da die Veranderungen der makro- 
skopisch normal erscheinenden Zonen um so weniger schwer sicb 
erweisen, je weiter sie von den sklerotischen Herden entfemt sind. 
Die Ausbreitung des Glioseprozesses von einem sklerotischen Herd 
auf die normale Umgebung geht sicher sehr langsam vor sich, 
man darf daher nicht nur die mehr oder weniger grosse Ausdeh- 
nung, sondern auch die grossere oder geringere Intensitat der 
mikroskopischen Veranderungen auf das Alter des pathologischen 
Prozesses beziehen. Auch Perusini, welcher der Sclerosis tuberosa 
das Recht auf den Namen Histioatypia disseminata corticahs ab- 
sprechen mochte, um sie unter die diffusen Histioatypien zu reihen, 
gibt schliesslich zu, dass die Anzahl der Varietaten sehr gross ist. 
Er bedenkt ausserdem nicht, dass auch die gehauften Krampf- 
anfalle der an Sclerosis tuberosa leidenden Kinder zu einer diffusen 
Gliose Anlass geben konnen, wie man sie meistens bei Epileptikem 
antrifft, vorausgesetzt, dass wirklich die Gliose der Epileptiker 
eine Folge und nicht die Ursache der Krampfanfalle ist. 

In direktem Zusammenhange mit den Zellenveranderungen 
stehen die Veranderungen der Nervenfasern. In den sklerotischen 
Zonen sind dieselben an Zahl vermindert, verdiinnt, oft ganzlich 
verschwunden, wahrend sie, und zwar ganz besonders die Pro- 
jektionsfasem, in den nicht — sklerotischen Zonen viel besser er- 
halten sind. Am schwerstenvomDegenerationsprozessbetroffensind 
die intrakortikalen Geflechte und ganz besonders das supraradiare. 

Die enorme Wucherung der Neuroglia ist der wichtigste Be- 
fundl bei der Sclerosis tuberosa. Diese Wucherung, die sich nur 
durch den zerstreuten Charakter von alien anderen Formen der 
Gliose unterscheidet, ist wirklich auffallend. Ganz besonders ist 
dabei das Faserwerk der Neuroglia beteiligt. Besonders dicht ist 
es in der subpialen Gliahiille, was iibrigens schon von vielen Ver- 
fassern nicht nur bei der Sclerosis tuberosa, sondern auch bei der 
Idiotie, dem epileptischen Schwachsinn, der Epilepsie, der Dementia 
paralytica 1 ) u. s. w. festgestellt worden ist. In meinen beiden Fallen 
betraf die Gliosis fast ausschliesslich die Plaques, die schon makro- 
skopisch sklerotisch erschienen, wahrend in den librigen Teilen die 
Neuroglia fast normal war. Perusini und Montet fanden in ihren 
Fallen eine auf samtliche Schichten der Himrinde verbreitete 
Ghose. Diese Tatsache muss gewiss mit dem Alter der von ihnen 
untersuchten Individuen und folghch mit dem Alter des Prozesses 
in Zusammenhang gebracht werden. Es handelt sich in der Tat 
in ihren Fallen um zwei Individuen, die seit der Kindheit an 
epileptischen Krampfen gelitten und die das Alter von 15 resp. 
12 Jahren erreicht hatten. Die Gliose bei den Epileptikem ist 
nun, wie bereits erwahnt, eine zu bekannte Tatsache, als dass- 


l ) Cornil et Ranvier. 1. c. T. III. pag. 46. 


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406 Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 

ihre Bedeutung fiir solche Falle noch weiter erortert werden 
miisste. In meinen beiden Fallen hingegen, in denen der Tod viel 
friiher eintrat, hatte der Glioseprozess noch keine Zeit gehabt, 
sich auszudehnen, und daher der mehr zerstreute Charakter der 
Krankheit, der iibrigens auch von Gombault und Riche 1 ) in ausge- 
zeichneter Weise hervorgehoben wird. Die Gliakerae sind zahl- 
reich, ebenso die sogar hier und da in Gruppen vereinigten Riesen- 
zellen. Auch das Auftreten der letzteren weist auf einen Prolife- 
rationsprozess der Glia hin. Es muss nur betont werden, dass 
diese Proliferation hier hauptsachlich auf Rechnung der Neuroglia- 
fasern vor sich geht, im Gegensatz zu der sog. atrophischen Skle¬ 
rose, bei welcher die Ze/fenproliferation vorherrscht. 

Die grossen Zellen, die sich regelmassig bei der Sclerosis 
tuberosa vorfinden und nach ihren histologischen Charakteren 
kaum zu den Nervenzellen oder den Gliazellen gerechnet werden 
konnen, sind gegenwartig noch immer Gegenstand der leb- 
haftesten Diskussion. 

Gombault und Riche beschreiben in Hirngeschwiilsten grosse, 
spinngewebsformige Zellen, die sich vereinzelt oder in Gruppen 
vereinigt in Gliomen vorfinden und deren Charaktere genau denen 
der ,,atypischen“ Zellen entsprechen, die man bei der Sclerosis 
tuberosa und in Teratomen antrifft. Auch in diesem Falle ist 
das wahre Wesen dieser Elemente, die von ihnen als Neuroblasten, 
„Elemente des Ectodermblattes“ aufgefasst .werden, noch immer 
zweifelhaft. Dieselben Verfasser beschreiben bei der reaktiven 
Encephalitis in der Umgebung von Fremdkorpem eine Varietat 
von riesigen, spinnenformigen, rundlichen, vieleckigen oder spindel- 
formigen Zellen mit zahlreichen kurzen, stark verzweigten Aus- 
laufern, homogenem Protoplasma, ohne Schollen und ohne Pig¬ 
ment, mit einem oder mehreren Kemen, welche grossen Nerven¬ 
zellen ahnlich sind und die, wie sie angeben, gewissen Elementen 
gleichen sollen, die sich bei der Sclerosis tuberosa vorfinden. Diese 
Elemente finden sich in Zonen, deren Gefasse deutliche Entztin- 
dungserscheinungen aufweisen imd sind hochst wahrscheinlich 
selbst als ein Produkt entzundlicher Prozesse aufzufassen. Bei der 
Sclerosis tuberosa ist die Entziindung nach vielen alteren und 
neueren Forschem nur von sekundarer Bedeutung und ist mehr 
als Begleiterscheinung und nicht als ein atiologisches Moment auf¬ 
zufassen, wahrend man ursprunglich die Entstehung der Krank¬ 
heit auf meningitische Prozesse zuruckfiihrte. 

In meinen Fallen bestand unzweifelhaft ein chronischer Ent- 
ziindungsprozess der Hirnpia, der sich auch auf die Pia des Riicken- 
markes erstreckte; ich will hier nicht ohne weiteres diesem Pro¬ 
zesse den Ursprung der ganzen Krankheit zuschreiben, um so mehr, 
da er keinen konstanten Befund darstellt. Immerhin kann man 
wohl annehmen, dass in einem pradisponierten Gehirn eine solche 
Meningitis eine ausgezeichnete Gelegenheitsursache abgeben kann. 

l ) Comil et Remoter. 1. c. T. III. p. 36. 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


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Die Eklampsie ist iibrigens eine haufige Erscheinung bei Kindem 
und nach der Meinung der meisten Autoren gewohnlich gerade 
von entziindlichen Prozessen der weichen Hirnhaut abhangig, und 
in den eingehender beobachteten Fallen von Sclerosis tuberosa 
sind Krampfanfalle oder voriibergehende Kontrakturen in den 
ersten Monaten des extrauterinen Lebens, also gerade in der Zeit, 
in welcher die Eklampsie am haufigsten auftritt, festgestellt wor- 
den. In meinen Fallen, und ganz besonders im ersten, war der 
Entzundungsprozess der Pia sehr ausgesprochen, und die enormen 
Ablagerungen von Kalksalzen im Nucleus caudatus, im Kleinhim, 
und im Corpus restiforme weisen nicht nur auf die Schwere, son- 
dern auch auf die chronische Natur der pathologischen Prozesse 
hin. Bekanntlich ist die Verkalkung* die iibrigens nicht selten 
gerade im Kleinhirn auftritt 1 ), oft eine Folge chronischer oder 
parasitarer Entziindungen, da die in den Geweben abgelagerten 
Salze mit der reichlichen Vaskularisierung in Zusammenhang 
stehen. In meinem ersten Falle war die Himsklerose, die einer 
der seltensten Befunde der Sclerosis tuberosa ist, auf eine kleine 
Zone beschrankt, in welcher der Entzundungsprozess der Meningen 
besonders deutlich ausgepragt war, und hier hatte der vaskulare 
Prozess Anlass zu jenen reichlichen Kalksalzablagerungen gegeben, 
die in einigen Lamellen den Grad einer wahren Versteinerung er- 
reicht hatten. Auch im Kleinhirn war die Glia vermehrt, ohne 
dass sich ihre Fasern in jene charakteristischen Gruppen zu Pin- 
seln, Wirbeln und Fachern vereinigen, die man fur die Neuroglia 
der Hirnrinde beschrieben hat. Die Gliawucherung im Kleinhirn 
war besonders in der subpialen Schicht auffallend, wo sie eine 
dichte Fibrillenanhaufung von tangentialem Verlaufe datstellte, 
von der zahlreiche Fibrillenbiindel nach der Korner- und der 
Purkinje schen Schicht ausgehen (Taf. I, Fig. 3). Diese Gliafaser- 
schicht setzte sich nicht gleichmassig langs des ganzen peripheren 
Teiles der Lamelle fort, sondern zeigte sich bald mehr bald weniger 
dick und dicht; oft bestand sie nur aus wenigen Fibrillen, und in 
diesem Falle war auch der Degenerationsprozess der Nervenzellen 
geringer. Diese Verdickung der subpialen Schicht der Neuroglia 
(nicht zu verwechseln mit der feinen Bindegewebsschicht von 
Bergmann, aus welcher ebenfalls feine Fasern von gleichem Ver¬ 
laufe abgehen, die sich mit der von mir angewandten Weigertschvn 
Elektivmethode nicht farben) ist auch bei Hirnatrophien beobachtet 
worden, wenn die Himsklerose so weit vorgeschritten war, dass 
sie zu einem Schwund der Purkinje schen Zellen gefiihrt hatte, die 
ja unter den Nervenzellen diejenigen sind, die dem Degenerations- 
prozesse den grossten Widerstand leisten 2 ). 

Bei vielen Hirnlasionen hat man iibrigens eine bedeutende 
Zunahme sowohl des Bindegewebes wie der Neuroglia und einen 
gleichzeitigen Schwund der Nervenzellen wahrgenommen. Die bei 


J ) Oberateiner , Anatomi© des centres nerveux. 1893. p. 421. 
*) 0ber8teiner , 1. c. p. 422. 


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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 


Thomas angefiihrten Beobachtungen von Combette, Duguet. Mey- 
nert, Vulpian, Piorret, Clause, Fraser, Schultze, Hammarberg, Max 
Arndt, SpiUer, Herbert Mayor sowie die Beobachtungen von 
Thomas selbst 1 ) beweisen, wie gem bei Hirnverletzungen Wuche- 
rung der Glia und des Bindegewebes sich mit Degeneration und 
Schwund der Purkinje schen Zellen verbindet. Bei der Sclerosis 
tuberosa ist die Himsklerose gewiss selten; jedoch, falls sie besteht, 
weist das Kleinhim ebenfalls die atypischen Zellen auf, von denen 
weiter oben die Rede war. Ich konnte jedoch im Gegensatz zu 
Montet keinen konstanten Zusammenhang zwischen dem Auftreten 
•der atypischen Zellen in den Himwindungen und dem Schwunde 
der Purkinje schen Zellen feststellen. Dieser Zusammenhang ware 
gewiss sehr beweisend fiir eine abnorme oder wenigstens gehemmte 
Entwicklung der embryonalen Elemente, welche in der weissen 
Substanz unterhalb der Komerschicht geblieben waren, anstatt 
in die oberflachlicheren Schichten zu wandem und sich zu Nerven- 
zellen weiter zu entwickeln. In meinem Falle jedoch war ein 
solcher Zusammenhang durchaus nicht deutlich. AUerdings waren 
die Purkinje schen Zellen um so mehr degeneriert, je schwerer der 
sklerotische Prozess in einer Lamelle war, und auch die atypischen 
Zellen waren um so zahlreicher. In vielen Praparaten fand ich 
jedoch auch ziemlich gut erhaltene Purkinje sche Zellen, und eben- 
daselbst waren die atypischen Zellen sowohl zwischen den Kornern 
als unterhalb der Komerschicht sehr reichlich vorhanden. 

Was das Riickenmark betrifft, so betrafen die in demselben 
festgestellten Veranderungen ausschliesslich die Nervenfasem, die 
Neuroglia und die Meningen. Die Pia wies in meinen beiden 
Fallen deutliche Zeichen eines Entziindungsprozesses auf. Die 
Neuroglia war so stark gewuchert, dass das Lendenmark eine 
weisse Farbe und eine augenscheinlich derbere Konsistenz als ge- 
wohnlich angenommen hatte, wie es nicht nur bei der Sclerosis 
tuberosa, sondern auch bei der hereditaren Syphilis 2 ), bei der 
Lepra 8 ) und bei einigen senilen Formen 4 ) festgestellt worden ist. 
Der Rarefizierungsprozess der Nervenfasem, der in meinen beiden 
Fallen nicht erheblich war, betraf ganz besonders die Hinter- 
strange, wo gerade auch der Entziindungsprozess der Meningen 
erheblicher war; er kann also wohl mit dem Entziindungsprozesse 
in Zusammenhang gebracht werden, und zwar um so mehr, als 
die Gefassveranderungen im Riickenmark sehr bedeutend waren; 
besonders im zweiten Falle hatten Thrombosen in den feinen Ver- 
astelungen der Arteria spinalis anterior Anlass zu zahlreichen, sehr 
kleinen Erweichungsherden gegeben. Die Lissauersche Zone, deren 
Fasern sehr rarefiziert waren, erschien infolge der Erweiterung 
der Venen und der Arterien der Riickenmarkshaute zusammen- 
gepresst. Die letzteren zeigten auch Kontinuitatstrennungen den 

*) Thomas, A., Le cervelet. Paris 1897. 

*) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 316. 

*) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 362. 

4 ) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 377. 


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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 


409 


Eintrittsstellen der hinteren Wurzeln entsprechend. Es ist wohl 
ausser Zweifel, dass diese Veranderungen nicht ausschliesslich auf 
Entziindungserscheinungen zuriickzufiihren sind. Ebenso hangt 
sehr wahrscheinlich dieRarefizierung der Fasern der Hinterstrange, 
die iibrigens auch als Folge anhaltender kachektischer Zustande 
beobachtet wird, von der bedeutenden Wucherung des Binde- 
gewebes und der Glia ab. 

Indem ich nun zu der noch sehr umstrittenen Frage der 
Aetiologie der Sclerosis tuberosa iibergehe, erinnere ich zunachst 
daran, dass Boumeville und Brissaud sie der Wirkung eines lang- 
samen Entziindungsprozesses der Neuroglia zuschrieben. PeUizzi 
hat eine sehr sorgfaltige Zusammenstellung der weiterhin aufge- 
tretenen, meist sich widersprechenden Meinungen gegeben. Bald 
fiihrte man den Ursprung der Sclerosis tuberosa auf pathologische 
Bindegewebsprozesse mit nachfolgender Zerstorung der Nerven- 
elemente, bald auf chronische Entziindungsprozesse, bald auf eine 
Gliose infolge von Leptomeningitis, bald auf Neubildungsprozesse 
zuriick, die sich in den letzten Monaten des fotalen Lebens ent- 
wickeln sollten. PeUizzi selbst fasst die Sclerosis tuberosa als 
,,eine Anomalie in der histogenetischen Entwicklung der Hirn- 
rinde“ auf. Wahrscheinlich hat der Prozess seinen Ursprung im 
fotalen und nicht im embryonalen Leben. Einige Veranderungen, 
die ich in meinen Fallen festgestellt habe, wie die Missbildung des 
Zentralkanals im Riickenmarke, konnten zur entgegengesetzten 
Annahme verleiten; auch die Unordnung in der Lagerung und der 
Orientierung der Nervenzellen der Hirnrinde ist gewiss eine friih- 
zeitige Stoning, die auf eine Anomalie der fotalen Entwicklung 
hinweist. 

Die grossen atypischen Zellen, von denen ich weiter oben aus- 
fuhrlich gesprochen habe, wurden bisher von den verschiedenen 
Beobachtem verschieden erkliirt. PeUizzi betrachtet sie als Nerven¬ 
zellen oder besser gesagt als Elemente, die urspriinglich dazu be- 
stimmt sind, Nervenzellen zu werden. Nach PeUizzi haben andere, 
wie Perusini, Geitlin und Montet, eine ahnliche Meinung vertreten. 
Es waren die in ihrer Entwicklung gehemmten Neuroblasten, 
welche zur Bildung der grossen atypischen Zellen Anlass gaben. 
Hiergegen muss ich aber hervorheben, dass nie, weder von anderen 
noch von mir, auch nur die geringste Andeutung von Neuro- 
fibrillen im Korper oder in den Auslaufern dieser Zellen gefunden 
worden ist. Nur H. Vogt 1 ) hat Andeutungen von Neurofibrillen 
in einigen derselben gefunden, doch teilt er selbst die in Rede 
stehenden Zellen in Zellen nervoser Natur und in solche neuro- 
glioser Natur ein, imd nur in den ersteren, die sich vereinzelt in 
der grauen Substanz oder in den Tumoren der Ventrikel vorfanden, 
hat er Neurofibrillen beobachtet, nie hingegen in den letzteren, die 
meistens in Herden vereinigt waren. Mir scheint es nun, dass kein 

l ) Vogt, H., Zur Pathologie imd pathologischen Anatomie der ver¬ 
schiedenen Idiotieformen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1908. Bd. 24. 
S. 106. 


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410 Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 

Grund vorliegt, jene Zellen, die alle Charaktere der Nervenzellen 
besitzen einschliesslich der Anwesenheit von Neurofibrillen, nnd 
die nie an den ausschliesslich aus den grossen atypischen Zellen 
bestehenden Herden beteiligt sind, nur weil sie grosser sind oder 
eine von der normalen abweichende Form besitzen, als eine Varietat 
derselben zu betrachten. In den anderen Zellen, denen Vogt neu- 
rogliose Natur zuschreibt, wurden niemals, nicht einmal von Vogt 
selbst, Neurofibrillen nachgewiesen. Dabei ist zu bedenken, dass 
die Neurofibrillen sich ziemlich friih in den Nervenzellen bilden 
und in den letzten Monaten des fotalen Lebens schon vollstandig 
ausgebildet sind, ja dass sie nach Gierlich 1 ) in den Auslaufern der 
Pyramidenzellen der Hirnrinde noch viel friiher als im Zellkorper 
auftreten. Ich selbst habe in den grossen atypischen Zellen nie 
Neurofibrillen gefunden, und zwar weder in den Auslaufern noch 
im Zellkorper, obwohl die Protoplasmamasse enorm stark ent- 
wickelt war. Wenn auch diese Tatsache nicht entscheidend ist, 
so ist sie doch sicher von grosser Wichtigkeit gegeniiber der oben 
erwahnten Hypo these. Femer ist die Gliawucherung, wo immer 
auch aus irgend einem Grunde ein Schwund oder eine schwere 
Veranderung in den Nervenelementen vorliegt, ein heute in seiner 
Bedeutung allgemein anerkannter Prozess, der bei der Sclerosis 
tuberosa den Hauptbefund darstellt. In der pathologisch ge- 
wucherten Glia sind nun Riesenzellen und atypische Elemente 
haufig, die den bei der Sclerosis tuberosa gefundenen atypischen 
Zellen wenigstens sehr ahnlich sind. Montet und Geitlin verlangen 
den Nachweis wirklicher Auslaufer, welche die elektive Gliafarbung 
annehmen. Doch abgesehen von der Frage, ob nicht vielleiclit, wie 
Weigert behauptete, die Neurogliazellen von den Gliafasem absolut 
getrennt sind 2 ), ist meines Erachtens die Tatsache, dass an den 
sehr kurzen und enorm veranderten Auslaufern der atypischen 
Zellen keine Neurogliafibrillen zu finden sind, kein geniigender 
Grund, um den atypischen Zellen die neurogliose Natur abzu- 
sprechen. 

Ein anderes Argument zugunsten der neurogliosen Natur der 
in Frage stehenden Elemente ist folgendes: Einige unzweifelhaft 
aus Neurogliagewebe bestehende Geschwiilste weisen Riesenzellen 
mit Auslaufern und enormem Zellkorper von oft rundlicher Form 
auf, welche den atypischen Zellen der Sclerosis tuberosa sehr ahnlich 
sind. Es sind dies Geschwiilste, welche in der Mitte zwischen 
Tumor und Teratom stehen, w'ie das bereits weiter oben erwahnte 
neuroformative Gliom; diese Tumoren weisen gerade die eben- 
beschriebenen Zellen auf, uber deren Natur noch dieselbe Ungewiss- 
heit herrscht wie uber die Natur der atypischen Zellen der Sclerosis 
tuberosa. Allerdings war man bisher geneigt sie als Neuroblasten 
aufzufassen, die nicht zu voller Entwicklung gelangt sind 2 ); doch 


*) Van Gehuchten , Anatomie du system© nerveux de l’homme. 4© Edi¬ 
tion. Louvain 1906. p. 324. 

2 ) Comil et Ranvier . Op. etc. T. III. p. 91. 


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B o n f i g 1 i, Ueber tuberose Sklerose. 


411 


scheint es mir sonderbar, dass solche embryonale Elemente wie 
die Neuroblasten so hyperplastisch sein sollen, dass sie die enorme 
Grosse dieser atypischen Zellen erreichen, ohne zu irgend einer 
Bifferenziation zu gelangen. Noch ein viertes Argument veranlasst 
mich, die nervose Natur der atypischen Zellen zu bezweifeln. Nach 
der Lehre von Kupfer und Hie verliert die Keimzelle in einem 
gewissen Augenblicke der embryonalen Entwicklung die rundliche 
Eorm und nimmt nach Ablauf der Karyokinese eine langliche, 
ovale oder bimformige Gestalt an; damit erhalt sie die Charaktere 
der Neuroblasten und erwirbt den Achsenzylinderfortsatz, der von 
dem zugespitzten Ende ausgeht. Schon von diesem Augenblicke 
an zeigt sich in dem sparlichen Protoplasma eine Andeutung einer 
Bildung, welche an die „fibrillogene Masse" Fragnitos 1 ) erinnert. 
Die Zelle ist dabei immer noch sehr klein, ihre Konturen sind 
regelmassig, und das Protoplasma ist, wie bereits gesagt, sehr 
sparlich. Nun ist aber in den atypischen Zellen der Sclerosis 
tuberosa das Protoplasma umgekehrt gerade ausserordentlich 
reichlich, und dabei fehlt jede Andeutung einer neurofibrillaren 
Bildung, die Konturen der Zelle sind sehr unregelmassig, die Aus- 
laufer zahlreich, Karyokinose ist nie beobachtet worden, ihre 
Dimensionen sind im Vergleich mit jenen der Neuroblasten enorm. 

Zugunsten der Meinung, dass jene atypischen Zellen neuro- 
glioser Natur sind, spricht endlich die Tatsache, dass sie in Nissl- 
Praparaten einAussehenzeigen, dasssievon den grossenZellennicht- 
nervoser Natur nicht zuunterscheiden sind, welche ,,gemastete“ 
Zellen nennt und deren von Nisei 2 ) selbst gegebene Beschreibung 
ganz auffallig mit der Beschreibung der in Rede stehenden Zellen 
iibereinstimmt. Diese Zellen, die sich nach Nisei in der Himrinde 
der Dementia paralytica gewohnlich nicht finden, erscheinen regel¬ 
massig da, wo eine lokale Zerstorung der Nervenelemente besteht. 
Auch Scinti a ) hat in einer neuerdings erschienenen Arbeit grosse 
hypertrophische und hyperplastische Neurogliazellen in den Wan- 
den der nekrotischen Herde und in der Umgebung der Plaques 
jaunes (6tat vermoulu) der Hirnoberflache bei der senilen Demenz 
beschrieben. Die Beschreibimg dieser Zellen stimmt gleichfalls 
mit jener der atypischen Zellen der Sclerosis tuberosa iiberein. 
Auch Schroder*) hat gewucherte Gliazellen gefunden, welche den 
Zellen, die man in den Herden der Encephalitis haemorrhagica 
acuta superior gefunden hat, sehr ahnlich sind. Ebenso hat Ranke, 6 ) 

*) Fragnito, Primo congresso italiano di neurologia in Napoli. Poli- 
clinioo 1908. Anno XV. p. 696. 

*) Nisei, F., Histologische und histopathologische Arbei ten iiber die 
Grosshimrinde. Jena 1904. p. 461. 

*) ScitUi, M., Le vane forme di lesioni lacunari del sistema nervoeo 
nolle malattie mentali. Ann. di neurologia. Anno XXV. Faso. I. II. 

4 ) Schroder, P., Zur Lehre von der akuten hamorrhagisohen Poli- 
encephalitis superior (Wernicke). Histologische und histopathol. Arbeiten 
v. Ntssl. Jena 1908. p. 145. 

*) Rarike, Otto, Ueber Gehimveranderungen bei der angeborenen 
Syphilis. Zeitschr. f. die Erforsch. u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns. 
1908. Bd. II. H. 3. 

Monatmchrift fttr Paychlatrie and Neuroloyie. Bd. XXVII. Heft 5 . 28 


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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose. 


sie bei meningo-encephalitischen Prozessen der Syphilis hereditaria 
gefunden und Torata Sano 1 ) in Gliomen. Ferner habe ich in 
meinen Praparaten viele andere Elemente gefunden, welche auf 
einen vorhergegangenen oder noch bestehenden Entziindungs- 
prozess hinwiesen (Pigment, Kalksalze, Haminkristallablage- 
rungen, lymphozytare Infiltration, Fettkornchenzellen, Vakuoli- 
sierung der Zellelemente, kleine, besonders im Riickenmark zer- 
streute Erweichungen). Es scheint mir daher der Schluss erlaubt, 
dass auch die grossen atypischen Zellen nichts anderes sind als 
Neurogliazellen und auf einen lokalisierten Wucherungsprozess der 
Glia hinweisen. Es wiirde sich folglich nur um eine embryonale 
Storung, namlich um eine mehr oder weniger zerstreute Hyper- 
trophie und Hyperplasie in der Neuroglia handeln, mit anderen 
Worten um eine gliomatose Bildung, deren Aetiologie hochst 
wahrscheinlich in der Anwesenheit von Entziindungsprozessen der 
Meningen zu suchen ware. 

Die Annahme, dass die Sclerosis tuberosa als eine Neoplasie 
zu betrachten ist, die besonders in embryonal kranken Ge- 
hirnen auftritt, im Sinne einer Heterotopie, ist wohl gerechtfertigt. 
Die Anordnung in der Lagerung der Nervenzellen in der grauen 
Substanz ist die einzige konstante Entwicklungsstorung, die bei 
der Sclerosis tuberosa tatsachlich nachgewiesen ist, und hierin 
stimme ich vollstandig mit Pellizzi iiberein, der schon seit 1901 
behauptete, „dass die Anomalien so wohl der Lagerung wie der 
Orientierung als eine primare, mit einer histologischen Entwick- 
lungsanomalie der Nervenelemente zusammenhangende Erschei- 
nung zu betrachten seien" 1 ), und mit Perusini, welcher die Prioritat 
des Prozesses in den Nervenzellen gegeniiber der Neurogliawuche- 
rung behauptet 2 ). 

Die Aetiologie und die Diagnose der Sclerosis tuberosa sind 
noch sehr dunkel. Pellizzi hat sowohl die eine wie die andere 
eingehend behandelt, und nach ihm haben fast alle Forscher mehr 
oder weniger ausfiihrlich die Frage erortert, ohne jedoch irgend- 
welche neue, wirklich wichtige Tatsache hinzuzufiigen. Aeussere 
Ursachen scheinen weder auf die Entstehung noch auf die weitere 
Entwicklung einen Einfluss zu haben. Die Reizerscheinungen 
der Meningen hatten nach Pellizzi gar keinen Einfluss und waren 
nichts anderes als eine nicht haufige Begleiterscheinung. Heftige 
Gemiitserregungen der Mutter wahrend der Schwangerschaft sind 
vielleicht, da sie in fast alien Fallen verzeichnet sind, von Bedeu- 
tung. 

Was die Diagnose intra vitam betrifft, so sind die Schwierig- 
keiten sehr gross. Pellizzi gelang es nur in einem einzigen seiner 
Falle, eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose intra vitam zu stellen. 

*) Pellizzi, Studi clinici ed anatomopatologici suli'idiozia. Torino 1901. 
p. 184. 

*) Perusini , Q Ueber einen Fall von Sclerosis tuberosa hypertrophica 
(Istioatipia corticale disseminata von Pellizzi ). Monatsschr. f. Psych, u. 
Neurol. 1905. Bd. XVII. 


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,\fonatsschnJ PsycftuiOie u Xmroloyie, Bd XXUf. 



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B o n f i g 1 i, Ueber tuberose Sklerose. 


413 


Auch Vogt 1 - 2 ) hat in seinen letzten Arbeiten versucht, diagnostische 
Regeln fiir die Sclerosis tuberosa aufzustellen, und schliesst mit 
der Bemerkung, dass, wenn wir einen Kranken vor uns haben, 
der psychische Symptome (Idiotie leichteren oder schwereren 
Grades u.s.w.) sowie nervose (Konvulsionen, Kontrakturen u.s.w.) 
vereinigt mit Veranderungen der inneren Organe oder mit Haut- 
geschwiilsten, besonders des Gesichts (Adenoma sebaceum), auf- 
weist, die Diagnose auf Sclerosis tuberosa mit ziemlicher Gewiss- 
heit gestellt werden kann. In meinen beiden Fallen war erbliche 
Belastung sicher festgestellt, die Tumoren der inneren Organe 
(Nieren) wurden intra vitam nicht diagnostiziert, da sie weder 
subjektive noch objektiv nachweisbare Symptome hervorgerufen 
hatten, und die Haut des Gesichtes wie des ganzen Korpers 
zeigte nicht diejenigen Veranderungen, die nach Vogt fast ein 
pathognomonisches Symptom der Sclerosis tuberosa darstellen. 
Die Diagnose war folglich in meinen beiden Fallen intra vitam 
vielleicht unmoglich, und bisher fehlt es uns noch an sicheren 
Merkmalen, die uns gestatten, eine andere Diagnose zu stellen 
als die allgemeine auf Idiotie, wahrend auf dem Sektionstische 
die schweren Veranderungen der Sclerosis hypertrophica gefunden 
werden. 


Erklarung der Abbildungen auf Tat. XXV—XXVI. 

Fig. 1. Weigerta che Neurogliafarbung. Zeiss 1,30. Homogene Im¬ 
mersion. 

Himrinde im Bereich einer sklerotischen Zone. Atypische Zelle. Die 
Neurogliafasem treten nicht in Verbindung mit dem Zellkorper. 

Fig. 2. Gleiche Farbung und Vergrosserung. Riesenzelle derselben 
sklerotischen Zone. 

Fig. 3. Gleiche Farbung. Kleinhirn. Teilweise Verdickung der 
subpialen Schicht der Neuroglia. 

Fig. 4. Weigertaehe Neurogliafarbung (modifiziert). Hirnrinde: skle- 
rotische Zone. Neurogliawucherung. Biischel- und pinselformige Anord- 
nung der Fibrillen. 

Fig. 5. DD. Zeiss. Sklerotische Zone der Himrinde. Riesenzelle. 

Fig. 0. Biel&chowsJcyache Farbung. Homogene Immersion. Zeiss 1,30. 

Kleinhirn. Atypische Zellen in sklerotischen Zonen. 

Fig. 7. Bielschowskysche Farbung. Homogene Immersion. Zeiss 1,30. 

Kleinhirn. Purlcinje sche Zellen in einer sklerotischen Zone. Man 
sieht nur in den Auslaufern erhaltene Fibrillen. Im Zellkorper sind sie in 
feine Komer zerfallen. Grosser, intensiv gefarbter Kern. 

Fig. 8. DD. Zeiss. Sklerotische Zone der Hirnrinde. Atypische Zelle. 

Fig. 9. Rehm&che Farbung. Zeiss 1,30. Homogene Immersion. Skle¬ 
rotische Zone im Kleinhirn. Unter den normalen Komem bemerkt man 
eine aus grosseren und weniger intensiv gefarbten Komem bestehende 
Gmppe. Die Purkinje sche Zelle zeigt eine totale Chromolyse und Schwund 
der Auslaufer. 


Vogt , H ., Zur Diag^nostik der tuberosen Sklerose. Zeitschr. f. die 
Erforsch. u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns. 1908. Bd. II. H. 2. 

*) Vogt , /f., Zur Pathologic und pathologischen Anatomic der ver- 
schiedenen Idiotieformen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. August 1908. 
Bd. XXIV. H. 2. 


28 * 


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414 Kafka, Ueber Techiiik und Bedeutuiu/ <ler cytologischen 


Fig. 10. a) Ni88l &che Farbung. DD. Zeiss. Himrinde eines Embryos 
vom dritten Monat. Neuroblasten. 

b) Kresylviolettfarbung. DD. Zeiss. Himrinde. Atypische Zelle 
(sklerotische Zone). 

c) Toluidinblaufarbung. DD. Zeiss. Himrinde. Neurogliazellen 
(sklerotische Zone). 


(Aus der deutschen psychiatrischen Universitats-Klinik in Prag 

[Prof. A . Pick]). 

t)ber Technik und Bedeutung der cytologisehen Unter- 
suchung des Liquor cerebrospinalis. 

Von 

Dr. VICTOR KAFKA, 

klinischem Assistenten. 

Die zytologische Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ge- 
winnt in theoretischer und praktischer Hinsicht immer mehr an 
Bedeutung. Um nur Beispiele dafiir beizubringen, wie sehr sich 
dieses Gebiet erweitert und welche Ausblicke es eroffnet, mochten 
wir der bei postdiphtherischen Lahmungen [Romheld (1)] konsta- 
tierten Zellbefunde Erwahnung tun, sowie der Untersuchungen 
von Ferrand (2), der feststellte, dass bei Dermatitiden des frfihen 
Kindesalters Zellvermehrung im Liquor vorkommt. Auf die prak- 
tischen Vorziige brauchen wir bei der Menge der diesbeziiglichen 
Arbeiten an diesem Orte vorlaufig nicht einzugehen. 

Damit aber die Neurologie und Psychiatrie die sich hier er- 
gebenden Resultate auch voll ausniitzen konnen, ist es notig, dass 
bezfiglich gewisser Fragen eine Einigung erzielt wird. Es sind 
dies besonders die Fragen nach der Art der Zellen , die im Liquor 
vorkommen, sowie nach der Methodik der Farbung und Zahlung 
derselben, Fragen, die, wie wir weiter unten des genaueren aus- 
fiihren wollen, in ihrer Beantwortung jetzt noch betrachtlich 
divergieren. 

Eine kurze Uebersicht fiber die bis jetzt gefibten Methodea 
soil uns dies illustrieren. 

Von den Begrtindem der „Zytodiagnostik“, Widal, Sicard und 
Ravawt (3), sta inm t die auch heute noch meist gebrauchte, wenn 
auch viel getadelte Methodik. 

Es wird nicht unangebracht sein, dieselbe, die jetzt allgemein 
als die ,,franzosische“ xat’ bezeichnet wird, nach dem Ori- 

ginale darzustellen. Vor allem wird davor gewamt, den Liquor 
aus einem Gefasse ins andere zu fibertragen. Drei bis ffinf Kubik- 
zentimeter werden in ein sterilisiertes Zentrifugierglas aufgenom- 
men, zentrifugiert durch 10 Minuten mit einer Zentrifuge ,,a tours 


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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


415 


Tapides“. Dann ward der Liquor sorgfaltig abgegosaen, indem man 
das Glaschen umkehrt und den Liquor so weit als moglich heraus- 
tropfen lasst; hierauf wird eine Kapillarpipette senkrecht einge- 
fiihrt und der ,,unsichtbare“ Ruckstand aufgenommen, indem 
man mit der Pipette bis auf den Grand geht. Es wird dann trotz 
der scheinbaren ,,Austrocknung“ des Glases eine gewisse Menge 
Liquor in die Pipette treten, die ohne Aspiration mit dem Munde 
lediglich durch die Kapillaritat in die Pipette gekommen ist. 
Dieser Ruckstand wird mit der Pipette auf drei oder vier Objekt- 
trager verteilt in der Form von Tropfchen, die nicht grosser sein 
diirfen als 2—3 mm s , dann an der Luft oder bei 37° getrocknet, 
mit Aether-Alkohol fixiert, mit Eosin-Hamatoxylin, Thionin, 
Unnas Methylenblau oder mit Ehrlichs T riazid gefarbt, 

So gestaltet sich die Methodik, die mit geringen Abande- 
rungen von den meisten franzosischen Autoren beibehalten wird. 

Nur Laignel-Lavastine (4) engt zuerst durch Zentrifugierang 
ein und zahlt dann in der Zahlkammer. 


Als die Zytodiagnostik in Deutschland bekannt wurde — es 
ist dies in erster Linie Demux (5) und Schoenborn (6) zu danken —, 
wurde die franzosische Methodik aufgenommen und nur wenig 
modifiziert. Ntssl (7) wandte sie auch an, obzwar er selbst auf 
ihre Nachteile aufmerksam machte; er verfertigte sich die Zentri- 
fugierglaser und Pipetten, die nur einmal gebraucht werden, selbst, 
verwendete eine Zentrifuge von 17—1800 Umdrehungen, zentri- 
fugierte % Stunden, blies das von der Kapillarpipette Angesaugte 
wieder aus imd lies dann wieder aufsaugen, folgte aber sonst voll- 
kommen den franzosischen Angaben. Auch E. Meyer (8) bedidnte 
sich der Methode in der urspriinglichen Form, nur gab er den Rat, 
man moge mit der Pipette die Spitze des Glases gewissermassen 
abreiben. Aus einer zweiten Publikation desselben Autors (9) geht 
hervor, dass er auch an ungefarbten Praparaten untersucht hat. 
Merzbacher (10) verwendete ein zu einer kleinen Kugel umgeschmol- 
zenes Kapillarrohrchen zur besseren Verteilung des Tropfens. 

Fuchs und Rosenthal (11) suchten die Fehler der franzosischen 
Methode dadurch gut zu machen, dass sie eine quantitative Me¬ 
thode erdachten. Es wird mit dem Thoma-Zeissschen Melangeur 
fur weisse Blutkorperchen bis zur Marke 1 eine Farbungsfliissigkeit 
(Methylviolett 0,10, Aqu. dest. 50,00, Acid. acet. glac. 2,00), bis 
zur Marke 11 der Liquor angesaugt, dann 5 Minuten gemischt und 
in einer geraumigeren Zahlkammer, deren Quadratseite 4 mm und 
Tiefe 0,2 mm messen, gezahlt. Es ist dann, wenn man die ganze 
Kammer auszahlt und die Verdiinnung einrechnet, die Anzahl der 

weissen Zellen im crnm = , w'enn a die Zahl 


10 • 3.2 


32 


der gezahlten Zellen darstellt. 

Jones (12) zentrifugiert nicht, sondern zahlt in Fallen mit 
starker Zellvermehrang die Zellen in y 2 ccm mit Hiilfe der Zahl¬ 
kammer; in Fallen mit geringer Zellvermehrang zentrifugiert er 


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416 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 

in einem Glaschen, dessen unterster anf 1 ccm graduierter Teil 
in 10 Teile geteilt ist, giesst dann bis zu einem bestimmten Teil- 
strich ab, schiittelt um und zalilt in der Zahlkammer; er engt 
also ein und rechnet dann auf 1 ccm. 

Rous (13) verwendet den Melangeur und saugt uxisserige 
Methylviolettlosung, dann Liquor auf. 

Alzheimer (14) fangt 3 bis 4 ccm des Liquor in 96 prozent. 
Alkohol auf, zentrifugiert und erhalt so ein Koagulum, das je 
nach dem Eiweissgehalt des Liquors eine verschiedene Dicke 
besitzt; es wird dann der 96 prozent. Alkohol abgegossen und 
durch absoluten, dann durch Aetheralkohol, schliesslich Aether 
ersetzt. Hierauf wird das Koagulum aus dem Gefasse ge- 
nommen und in Zelloidin eingebettet, schliesshch auf einen 
Klotz aufgeklebt und geschnitten. Die Farbung kann mit Unna- 
Pappenheim- Methyligriin Pyronin oder mit Unnas polychrom- 
saurem Methylenblau erfolgen. Chotzen (15) entnimmt 0,2 ccm, 
streicht auf vier Deckglaser auf, farbt und zahlt mit Ehrlichs 
Zahlokular. In neuester Zeit publizierte Szecsi (58) folgende Me- 
thode: Er nahm 2 ccm Liquor, zentrifugierte 10 Minuten lang in 
einer Zentrifuge mit 2—3000 Umdrehungen; er entnahm dann den 
,,hangenden“ Tropfen und machte ein Strichpraparat; hierauf 
wurde dasselbe in den Thermostaten (37°) gegeben, dann auf die 
Kowarskysche Kupferplatte fixiert und nun in Formalindampfen 
weiter fixiert. 

Um die Methoden einer kritischen Beleuchtung zu unterziehen, 
so ist, was die franzosische Methode betrifft, eine solche Skepsis, 
wie sie z. B. Nissl (7) aussert, denn doch nicht ganz berechtigt. 
Es muss nicht, wie Meyer (8. 9) sagt, jeder Untersucher jedes 
seiner Instrumente austitrieren, sondern es miissen bestimmte 
Faktoren fur alle Untersucher festgelegt werden. Weiss ich z. B., 
dass fur alle Untersuchungen die Gesamtzellenzahl, die in 3 ccm 
Liquor vorkommt, allgemein angenommen ist, so muss ich nur 
meine Zentrifuge austitrieren, d. h. ich muss sehen, in welcher Zeit 
ich bei bestimmter Umdrehungszeit die Flussigkeit zellfrei be- 
komme. Diese Zeit wird natiirlich fiir verschiedene Zentrifugen ver- 
schieden sein, und es hat daher keinen Sinn, wenn von dem einen 
Autor eine lange, von dem anderen eine kurze Zeit empfohlen wird. 
Natiirlich muss vorausgesetzt werden, dass, was weiter unten zu 
besprechen ist, eben die Zellen gegen die zellgiftige Wirkung des 
Liquors wie auch gegen die Schadigungen beim Austrocknen und 
Zentrifugieren geschiitzt werden. Von Widal wird gefordert, man 
miisse beim Umkehren des Zentrifugierrohrchens den Liquor so- 
weit als moglich austreten lassen. Es wird dies deshalb empfohlen, 
weil sonst bei dieser ,,Tropfenmethode“ Tropfchen zur Zahlung 
mitverwendet werden, die weniger oder gar keine Zellen enthalten. 
Durch Nissls Empfehlungen, den Ruckstand noch einmal anzu- 
saugen, durch Meyers Abreiben des Glases mit der Pipette ist 
hier schon ein Fortschritt zu verzeichnen. Fehlerhaft aber muss 
diese Methode immer bleiben. solange man mit der sich selbst 


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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


417 


biidenden Einheit von Tropfen hantiert [deren Grosse natiirlich 
wie auch Rehtn (57) hervorhebt, bei verschiedener Menge des Sedi¬ 
ments variiert], die dann zur Durchschnittszahlung verwendet 
werden und in denen noch dazu die Zellen im Tropfen ungleich 
verteilt sind. Wir miissen vielmehr fordern, dass die game Menge 
des Sediments, welches die gesamte Zellzahl einer immer gleich 
gross genommenen Liquormenge enthalt, gleichmdssig auf immer 
gleich bleibende Flachen verteilt wird. 

Beziiglich der Farbung muss noch bemerkt werden, dass M. 
Pappenheim (16) betont hat, dass zur Farbung der Liquorzellen 
eine andere Konzentration der gebrauchlichen Farbstoffe not- 
wendig J ) ist. lch habe gefunden, dass in der Literatur viel zu 
wenig Gewicht darauf gelegt wird. Vielleicht ist auch dies mit 
ein Grund dafiir, dass von den Autoren so verschiedenartige Zell- 
bilder beschrieben werden. Wenn Schoenborn (17) mit der May- 
Griinwald&claen Kombination gute Farbungen gesehen, so konnen 
wir von solch guten Erfahrungen mit dieser Farbung nicht be- 
richten. Wir haben das gewohnliche Gemenge verwendet, wir 
haben aber auch andere Mischungsverhaltnisse angewendet, nie 
aber bei dieser sonst so bequemen Methode geniigend deutliche 
Farbung erzielen konnen. 

Die Fuchs- Rosenthalsche Methode wird weiter unten ausfuhr- 
licher besprochen, der Laignel-Lavastine schen haften natiirlich die 
Fehlerquellen beider Methoden an, die Alzheimersche ist wegen 
ihrer Kompliziertheit und langen Dauer fur praktische Zwecke 
umstandlich, und wenn Rous (i3) durch Auslassen der Essigsaure 
und dadurch unterlassener Zerstorung der roten Blutkorperchen 
die quantitative Schatzung der weissen Zellen in der Zahlkammer 
richtiger zu machen glaubt, so ergibt sich von selbst, dass der 
Autor eine sehr kleine Fehlerquelle durch viel grossere ersetzt. 

Ein Nachteil, der alien Methoden anhaftet, ist die schon oben 
erwahnte Zellgiftigkeit des Liquor, sowie die Labilitat der Liquor¬ 
zellen, die durch alle andere Manipulationen geschadigt werden. 
Diese Fehlerquellen, auf welche zuerst O. Fischer (18) hinwies, 
werden am besten durch sofortigen Formolzusatz zum frischen 
Liquor beseitigt, nicht aber durch Formalindampfe nach der 
Fixierung, wie Szicsi (58) es tut, da dann natiirlich die Zellen 
schon schwer geschadigt sind und die Formalindampfe auf die schon 
fixierten Zellen keinerlei Wirkung ausiiben. 

Wir gehen nun an die Schilderung unserer Technik. Zu Be- 
ginn unserer Untersuchungen verfuhren wir ganz nach den An- 
gaben von Fuchs und Rosenthal (11); da zeigten sich nun auch, 
wenn die Zahlkammerzahlungen sobald als moglich nach der 
Punktion gemacht wurden, in vielen Fallen auffallende Differenzen 
zwischen dieser und der weiter unten zu schildernden Zahlung im 
gefarbten Praparate. Es zeigte sich, dass die Zeit, die zwischen 

') Eigeatlich sollte man fiir jeden Liquor sich erst die Farbstoff- 
konzentration und Zusanunenstellung konstruieren. 


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418 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


Punktion bzw. Fixierung und Verdiinnung der Liquorzellen im 
Melangeur besonders bei mehreren Punktionen verstreicht, gross 
genug ist, um die zelltotenden Eigenschaften des Liquors wirken 
zu lassen. 

Tabelle I. 


Name 

Aeltere Zahl- 
kammermethode 

Neue Zahl- 
kammermethode 

Trockenpraparat 

B. 

24 

50 

50—42 

C. | 

1 8 

48 

24 

K. 

I 1 

26 

9—3 

8. I 

I 3 

28 1 

12—12 


Ausserdem zeigte sich aber auch folgendes: in Tabelle T sind 
einige Zahlresultate nach der urspriinglichen Fuchs- Rosenthalschen 
Methode (2. Rubrik), und zwar genau nach den Angaben der Ver- 
fasser und ,,so rasch als moglich“ nach der Punktion und die in 
unserer sofort zu besprechenden Modifikation (3. Rubrik) ange- 
geben. 

Ein Blick auf die Tabelle zeigt uns nun die Differenzen zwi- 
schen beiden Methoden, die grosser sind, als man sonst Zellschwan- 
kungen bei der Paralyse zu sehen gewohnt ist, und zum Teil schon 
in den negativen Befund hiniiberspielen, besonders auffallend auch 
im Vergleiche zu den Resultaten der Praparatenzahlung (4. Rubrik). 

Wir wandten daher folgende einfache Modifikationen an: 

Ausgehend von der Tatsache, dass die Essigsaure ja auf die 
Kerne der weissen Zellen fixierend wirkt, ohne ihre Farbbarkeit 
zu beeinflussen, setzten wir zu 10 Tropfen des Liquors einen gleich 
grossen Tropfen der Essigsaure-Methylviolettlosung zu und schiit- 
telten langere Zeit. So ersparen wir uns auch die immerhin miih- 
selige Arbeit mit dem Melangeur. 

Beziiglcih des Verdiinnungsmittels mussten wir konstatieren, 
dass die von Fuchs und Rosenthal (4) angegebene 4 proz. Essig- 
saurelosung mit Methylviolett in vielen Fallen nicht geniigend 
ist, um die roten Zellen, die sich noch im Liquor befinden, zum 
Verschwinden zu bringen. Dies ist ein' Nachteil, der, was noch 
naher zu besprechen ist, die Methode natiirlich noch unzuver- 
lassiger macht. Welche Griinde es sind, die diese ganze ver- 
schiedene Reaktion der roten Blutzellen im Liquor im Vergleiche 
zu denen im Blute veranlassen, wurde von uns nicht nachgepriift. 

Unsere Modifikation wird also folgendermassen aussehen: 
Wir lassen 10 Tropfen Liquor aus der Nadel in ein Spitzglaschen 
fliessen, fiigen einen gleich grossen Tropfen, 2—1—5 oder mehr 
proz. mit Methylviolett gefiirbter Essigsaure hinzu und schiitteln. 
Wir wenden die iibliche Blutzahlkammer nach Elzholz an, deren 
Tiefe Vio mm > deren Quadratseite 3 mm. so dass der Rauminhalt 
0,9 mm s betragt. Rechnen wir nun noch die Verdiinnung ein. so 
erhalten wir, wenn a die gezahlte Zellzahl bedeutet, fiir den Kubik- 


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Unfcersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


419 


millimeter die Anzahl X = 


a x 11 11 a 


Die Zahlung kann 


10 x 0,9 9 

nun wenn immer erfolgen, sie ergibt dann, wie wir gepriift haben, 
immer die gleichen Resultate, nur kommt es manchmal vor, dass 
bei zu langem Stehenlassen des mit der Farbungsfliissigkeit ver- 
sehenen Liquors sich auch die nicht aufgelosten Blutkorperchen 
blau far ben. 

Die Zahlung im gefdrbten Trockenpraparate, die wir in den 
meisten unserer Falle zugleich mit der Zahlkammermethode an- 
wandten, sei nun geschildert; sie ist erwahnt bei O. Fischer (19) 
und Kafka (20); zu diesem Zwecke bedienen wir uns kleiner Spitz- 
glaschen, die in vollkommen gleiche Spitzen ausgehen und die fur 
die Menge von 3 ccm eine Marke haben. Wir lassen nun den 
Liquor bis zu dieser eintreten und setzen sofort 3 Tropfen fil- 
trierten Formols (Schering) zu. Es wird dann 20—30 Minuten 
zentrifugiert, dann der obenstehende Liquor abgegossen und bei 
verkehrt gehaltenem Glaschen der in der Spitze enthaltene Riick- 
stand mit einer Kapillarpipette gut durchgeriihrt und angesaugt. 
Diese Menge wird mm in gleichen Teilen auf zwei Deckglaschen 
gestrichen, und zwar auf jedes in der Flache eines Quadratzenti- 
meters. Wir haben dann immer die gleiche Menge Liquor in der 
gleichen Verteilung auf der gleichen Flache. Nun werden die Pra- 
parate lufttrocken gemacht, mit Methylalkohol fixiert und am 
besten mit Hamatoxylin Delafield gefarbt, mit Salzsaurealkohol 
(70 proz. Alkohol, 1 pCt. Salzsaure) leicht entfarbt (die Salzsaure 
wird deswegen angewendet, weil nicht nur der Kern, sondern auch 
das Plasma das Hamatoxylin stark aufnehmen und aus dem letz- 
teren der Farbstoff durch den Salzsaurealkohol wieder entfernt 
werden muss); dann wird mit Eosin nachgefarbt; eine etwaige 
Ueberfarbung mit letzterem kann durch alkalischen Alkohol wieder 
beseitigt werden. Man zahlt dann eine bestimmte Anzahl von 
Gesichtsfeldern der Immersion V 12 , die man, um der Autosug¬ 
gestion zu entgehen, mit freiem Auge einstellt, und findet dann 
die durchschnittliche Zellzahl, indem man die Zellen der einzelnen 
Gesichtsfelder addiert und durch die Anzahl der gezahlten Ge- 
sichtsfelder dividiert. Nachher nimmt man zur Kontrolle noch 
eine Durchsicht des ganzen Praparates vor. 

Auf diese Weise erhalten wir nun zwei Zahlungsresultate, das 
der Kammerzahlung und das der Zahlung im gefarbten Praparate, 
und der Vergleich beider miteinander fiihrt uns zur weiteren Kritik 
beider Methoden. 

Bei der ersten Methode, der Zahlkammerzahlung, sind die 
Fehlerquellen sohon angedeutet worden [wenn freilich auch ein so 
scharfer Tadel, wie ihn Schoenborn (17) ausspricht, vielleicht nicht 
gerechtfertigt ist]. Oft farben sich die weissen Zellen schlecht; 
da nun im Liquor gewohnlich viele kleine Lymphozyten enthalten 
sind, kann man sie oft selbst bei grosser Uebung von roten Blut¬ 
korperchen schwer unterscheiden. Von den letzteren gilt das schon 
oben Gesagte, dass namlich die im Liquor befindlichen roten Zellen 


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420 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologiachen 

oft sehr widerstandsfahig sind, ja selbst den blauen Farbstoff an- 
nehmen und daher wieder weisse Zellen vortauschen konnen; dass 
aber, wie Rehm (57) sagt, die Zellbilder bei der Fuchs-Rosenthal- 
schen Methode „unvergleichlich“ viel besser ala bei den Trocken- 
praparatmethoden sein sollen, ist uns nicht verstandlich und viel- 
leicht nur dadurch erklarlich, dass der Verfasser fiir das Trocken- 
praparat die alte franzosische Methode angewendet hat. 

Die friiher geschilderten Fehlerquellen der Farbemethode sind 
hingegen, wenn man, wie oben geschildert, verfahrt, so weit als 
moglich ausgeschaltet. 

Wir haben mm, um vor allem die durch die beiden Methoden 
erhaltenen Resultate vergleichen zu konnen, sie in einer Tabelle (II) 
getrennt zusammengestellt, wobei wir auch aus spater zu erortem- 
den Griinden die nach dem Tode vorgenommenen Punktionen ge- 
sondert setzten. Bevor wir auf den Inhalt der Tabelle eingehen, 
bediirfen die dort gebrauchten Zeichen einer Erklarung. Bei diesem 
Anlasse muss gleich fixiert werden, wie sich die Ansichten der 
Autoren beziiglich der positiven und negativen Zellbefunde stellen. 

(Hier folgt nebenstehende Tabelle II.) 

Um nur einiges beziiglich der franzosischen Methode heraus- 
zuheben, unterschied Ravaut (21) eine ,,reaction grosse“ bei 150 bis 
20 Zellen im Immersionsgesichtsfelde, eine ,,reaction moyenne“ 
mit 20—7, eine ,,reaction discrete 14 mit 4—6 und eine ,,reaction 
nulle“ bei 2—3—6 Zellen. Sicard (21) nahm als obere Grenze der 
Norm 3—4 Lymphozyten in dem Gesichtsfelde der Vergrosserung 
400—450 an. Nissl (7) spricht nur von einem positiven Befund 
mit wenigen, aber sicher vermehrten Zellen und einem negativen. 
E. Meyer (9) gibt ungenaue Angaben und betont, es sei der Ueber- 
blick iiber das ganze Praparat die Hauptsache. Schoenborn (17) 
nimmt einen pathologischen Liquorbefund an, wenn bei 400facher 
Vergrosserung 4 und mehr Zellen zu sehen sind. Niedner und Mam- 
lock (22) halten bis 5 Zellen fiir normal, hohere Zahlen fiir patho- 
logisch. 

Aehnlich differieren auch die Meinungen fiber normalen und 
pathologischen Befund bei der Fuchs-Rosenthahchen Methode. 
Diese Autoren fanden nach ihrer Methode nur 0—2Zellen im Kubik- 
millimeter in normalen Fallen, in pathologischen fanden sie immer 
iiber 10 Zellen. Rehm (23, 57) glaubt, der Befund von 1—5 sei 
normal, 6—10 Zellen seien Grenzbefunde. Da er Werte in dieser 
Breite aber bei Kranken findet, bei denen Lues vorangegangen ist, 
so miissen diese Zahlen schon als pathologische gelten und 5 die 
eigentliche Grenzzahl sein. Nach Hough (24) enthalt normaler 
Liquor nicht mehr als 5 Zellen pro Kubikmillimeter. 

Nach unseren Erfahrungen konnen wir bei der Zahlung in der 
Zahlkammer 5 Zellen als Grenzwert, was in der Tabelle mit ± be- 
zeichnet, annehmen, was dariiber bezeichneten wir mit +, was 
darunter mit —. Mit w bezeichneten wir jene Falle, die bei 
verschiedenen Punktionen wechselnde Resultate ergaben, mit 
f jene, deren Resultate aus irgend einem Grunde fraglich waren. 


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Zahlkammer- und Praparatenzahlung. 


Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 421 



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422 Kafka, Ueber Technik and Bedeutung der oytologisohen 

Fur die Praparatzahlung gilt uns die Zahl 2 ala ±, was dariiber. 
als +, was darunter, als —; unter Anz. steht in jeder Kolonne 
die Anzahl der auf diese Weise untersuchten Falle. 

Was das Material betrifft, so ergibt sich aus dieser Tabelle, 
dass wir 234 Falle pupktierten und etwa 410 Einzeluntersuchungen 
vomahmen. (Hinzugefiigt sei, dass 64 Falle auch pathologisch- 
anatomisoh untersucht werden konnten.) Von diesen waren 118 
klinisch sichere Paralysen (von denen aber 16 nur nach dem Tode 
punktiert wurden), 5 klinisch fraglich (1 nur postmortal), 5 juvenile 
Paralysen (1 nur postmortal), 7 Taboparalysen (2 nur postmortal), 
3 Tabesfalle, 12 luische Cerebralerkrankungen (3 nur postmortal), 
3 Falle von ArgyU-Robertson ohne sonstige Symptome von seiten 
des Zentralnervensystems, 1 Fall von fehlenden Patellarreflexen 
ohne sonstige tabische Symptome, 5 Falle von Lues ohne luische 
Erkrankung des Zentralnervensystems, 5 Falle von Hirntumor 
(1 nur postmortal), 2 Falle von Verdacht auf Hirntumor, 8 nicht 
luische Meningitiden, 8 Arteriosklerosen, 2 Falle von Herpes zoster. 

8 genuine Epilepsien, 9 sonstige organische Nervenkrankheiten 
(2 nur postmortal), 11 senile Demenzen mit Einschluss der Pres- 
byophrenien (davon 1 nur postmortal), 4 Falle von Alkoholismus 
mit Einschluss des Delirium tremens, 9 Dementia praecox-Falle, 

9 sonstige Psychosen. 

Betrachten wir nun die in der Tabelle II angefiihrten Resul- 
tate, und zwar vorlaufig nur der intravitalen Punktionen, so finden 
wir fast in alien Rubriken in der Praparatzahlung die Zahl der 
negativen Resultate grosser, in der Kammerzahlung die der posi- 
tiven; grosse Unterschiede sind freilich nirgends zu entdecken. 
Wenn wir dann die Falle, die sich so different verhalten, in den 
Protokollen nachsehen, so finden wir fiir gewohnlich die Bemer- 
kung Blutbeimengungen; ausserdem sind uns Resultate, wie z. B. 
bei Epilepsie (es waren lauter genuine, in keinem Falle Lues nach- 
zuweisen), 15 pCt. + der Kammerzahlung, gegen 0 pCt. + der 
Praparatzahlung, sehr auffallig, etwas Aehniiches zeigen uns auch 
die Zahlen fiir Arteriosklerosen. Wenn nun auch die Differenzen, 
wie gesagt, keine grossen sind, so diirften sie doch wohl in manchen 
Fallen Anlass zu diagnostischen Irrtiimern geben, und es ist daher 
nicht zu empfehlen, wie es von anderer Seite geschah, die Kammer¬ 
zahlung allein zu benutzen, sondern beide Methoden, zumindest 
aber die Praparatzahlung. 

Da die Falle der ersten und zweiten Rubrik der Tabelle II 
nicht vollstandig die gleichen sind, war es notwendig, zur Zusam- 
menziehung der Resultate zwecks Erlangung praktisch brauch- 
barer eine andere Tabelle aufzustellen (Tabelle III). In dieser 
sind die intravitalen Resultate der Kammer- und Praparatenzah- 
lung zusammengezogen. Vorausgeschickt muss werden, dass auch 
in dieser Tabelle die Zeichen ahnlich gebraucht werden wie in 
Tabelle II, nur sei erwahnt, dass in der Nebeneinanderstellung 
zuerst das Resultat der Kammer, dann der Praparatzahlung 
kommt; z. B. 1 -|-heisst ein Fall, der positiv bei Kammerzah¬ 

lung, negativ in der Praparatzahlung war. 


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Tabelle III. 

Zusammenfassung der intravitalen Resultate der Kammer- und Praparatenzahlung. 


Untersuchung des Liquor cerebrospinalis, 


423 


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424 


Kafka 


Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


425 


Das Vorzeichen hinter w bedeutet, mit welchem Vorzeichen 
+ wechselt, z. B. (w —) heisst: der Fall hat bald ein positives, 
bald ein negatives Zellbild gezeigt, 4- (w db) heisst: der Fall war 
in der Kammerzahlung positiv, nur in der Praparatenzahlung wech- 
selte + und ±. 

Betrachten wir nun diese Tabelle, so finden wir fur die pro¬ 
gressive Paralyse kaum 1 pCt. rein negative Resultate (1 von 
112 Fallen); zur Betrachtung der positiven Falle miissen wir erst 
die in den weiteren Rubriken enthaltenen Falle untersuchen; vor 
allem konnen wir nach dem oben Gesagten alle Falle, die bei der 
Praparatzahlung + waren, zu den positiven zahlen; es kommen 

also zu den 95 + noch 1-j- und 1 (w —) +, ebenso konnen 

wir die 4 + (w +) als positive rechnen, auch die 2 + ±, sowie 
die 2 -f (w —); desgleichen miissen wir den 1 (w —) (w —) eher 
zu den positiven rechnen, da ja auch beiderseits positive mit 

negativen Vorzeichen gewechselt haben, und nur die 3 -|-und 

1-f- Falle werden wir als wahrscheinlich negativ, d. h. fraglich, 

hinzustellen haben, so dass sich also in Wirklichkeit in 107 von 112 
positive Resultate finden, d. h. 95 pCt. positive, kaum 1 pCt. rein 
negative und etwa 3 pCt. fragliche, aber wahrscheinlich negative 
ergebey. Es zeigen uns diese Falle, dass ein Wechsel zwischen 
positiven und negativen Resultaten gar nicht so selten ist und 
daher eine einmalige Punktion zur sicheren Behauptung eines 
negativen Befundes eigentlich nicht geniigt. Bei den fraglichen 
Paralysen finden wir einen negativen Fall, bei den juvenilen alle 
positiv. Bei den Taboparalysen sind nur 3 rein positiv, wahrend 
auch 1 + ± und 1 + (w —) wohl als positiv gelten diirften. Bei 
den luetischen Cerebralerkrankungen zeigen sich 2 rein negative 

Falle, zu den 6 + zahlen wir 1-1->1 + ±,1 + (w —), so dass 

wir prozentuell die folgenden Resultate haben: 75 pCt. +, 17pCt. 
rein negativ, 8 pCt. fraglich, wahrscheinlich negativ. Beide Falle 
von Pupillenstarre ohne sonstige Symptome zeigen positiven Zell- 
befund, der Fall mit fehlenden Patellarreflexen negativ. Lues 
ohne luische Cerebralerkrankung ergibt 2 rein negative Falle, d. s. 
40 pCt.; zu dem 1 rein positiven Fall muss wohl auch 1 + ± ge- 
zahlt werden, so dass sich auch 40 pCt. positive Falle zeigen. 

Die Hirntumoren zeigen 60 pCt. positive, 20 pCt. negative und 
20 pCt. fragliche Befunde, die beiden Falle von Stauungspapille sind 
negativ. Alle Meningitiden zeigen positiven Befund, die Arterios- 
klerosen zur Halfte positiven, zur Halfte negativen. Bei Herpes 
zoster zeigt sich uns 1 Fall fraglich (es wurde leider nur in der 
Rammer gezahlt und es ergab sich dort der Grenzwert). Die genuinen 
Epilepsien weisen 1 positiven Fall auf (= 12 pCt.), sonstige orga- 

nische Nervenkrankheiten zeigen (wenn 1-f- zu + zugezahlt wird) 

62 pCt. positive, 38 pCt. negative Resultate. Die senile Demenz 
bleibt negativ, ebenso die Alkoholismusjdlle (2 Falle). Auch in der 
Dementia praecoa--Rubrik sehen wir 2 — 28 pCt. positive Resul¬ 
tate, wahrend die sonstigen Psychosen alle negativ bleiben. Gehen 


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426 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


wir nun auf die einzelnen Gruppen und deren Besonderheiten ein, 
so ergibt sich folgendes: 

In der Gruppe der klinisch sicheren Paralysen waxen die Zell- 
zahlen haufig uber 50, nicht selten aber auch viel weniger im 
Kubikmillimeter; hier sind es vor allem die negativen Falle, die 
unser naheres Interesse hervoiTufen. Auf die statistische Zu- 
sammenstellung iiberstandener Lues und Schmierkur wollen wir 
bier verzichten, da ja einerseits die Angaben des Geisteskranken 
dariiber recht unsicher sind, andererseits aber es heute wohl all- 
gemein angenommen ist, dass ohne Lues keine Paralyse vorkommt 
und dass z. B. das Trauma — wir hatten unter unseren Paralysen 
eine ganze Reihe mit Trauma in der Anamnese, das von An- 
gehorigen zum Teil atiologisch gedeutet wurde und die alle Zellen 
im Liquor zeigten — nur eine auslosende Rolle spielt. Um also auf 
das rein Klinische der negativen bezw. wahrscheinlich negativen 
Falle einzugehen, so sei vor allem erwahnt, dass es sich in keinem 
der Falle etwa um eine Remission im Krankheitsbilde handelt. 
Der rein negative Fall zeigte bis auf eine, vielleicht etwas abnorm, 
lange Dauer keine Besonderheiten, auch die fraglichen, aber wahr¬ 
scheinlich negativen Falle schlossen sich ganz den gewohnlichen 
Typen der progressiven Paralyse an, doch muss hervorgehoben 
werden, dass der rein negative Fall nur einmal punktiert wurde, 
ebenso wie drei von den fraglichen Fallen, so dass diese Befunde 
nach dem oben Gesagten nicht als ganz sicher angesehen werden 
konnen. 

Auf das Schwanlcen zwischen negativem und positivem Befunde 
bei mehreren Punktionen in einigen Fallen ist schon oben hinge- 
wiesen worden. Es sei hier aus bestimmten Griinden betont, dass 
sich im klinischen Krankheitsbilde keinerlei den Zellzahlschwan- 
kungen parallel gehender Wechsel in den Symptomen konstatieren 
liess. Ueber die ad sectionem gekommenen Falle bezw. die post- 
mortalen Punktionen wird weiter unten berichtet werden. 

In der Gruppe der fraglichen Paralysen kamen zur Unter- 
suchung: 1. ein Fall mit einem katatonischen Zustande, der aber 
die korperlichen Zeichen der progressiven Paralyse aufwies und 
positiven Zellbefund hatte; 2. ein Fall mit sicherer Lues in der 
Anamnese, der nach einem Affekt in einem Ganser- ahnlichen Zu¬ 
stande auf die Klinik kam, bei dem aber der leere Gesichtsaus- 
druck und die schlecht reagierenden Pupillen an Paralyse denken 
liessen; der Liquor hatte positiven Zellbefund, Wassermann im 
Liquor war negativ; 3. ein Fall mit rechtsseitigen Krampfanfalien, 
Pupillendifferenz, leichter Sprachstorung, geringer Euphorie, bei 
dem die gut erhaltenen Manieren, die wenig vertiefte und nicht 
progrediente Demenz und das Bestehenbleiben der Herdsymptome 
uns an einen luischen Herd denken liessen; auch dieser reagierte 
zytologisch positiv; 4. ein Fall von schwerem chronischen Alko- 
holismus, der in einem deliranten Erregungszustand auf die Klinik 
gebracht wurde, dessen weitere Beobachtung doch trotz des nega¬ 
tiven Zellbefundes im Liquor die Diagnose progressive Paralyse 


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Untersuchung dee Liquor cerebrospinalis. 


427 


wahrscheinlich machte; 5. ein Fall, von dem im allgemeinen das- 
selbe wie im dritten zu sagen ware, nur dass die noch langere 
Dauer dieses Falles und die noch grossere Konstanz der Sym- 
ptome noch mehr fiir luische Herzerkrankung spricht. Auch dieser 
Fall war bei alien Punktionen zytologisch positiv. 

Ueber die juvenilen Paralysen, die alle positiven Zellbefund 
zeigten, ist nichts Besonderes in dieser Hinsicht zu sagen. 

Von den Taboparcdysen zeigte eine, die schon sehr lange be- 
stand, bei einer Punktion gegeniiber den sonstigen Befunden nega¬ 
tive Zellzabl; bei einer zweiten, die eine Zeitlang als Korsakoic 
und Polyneuritis aufgefasst wurde, wies schon der starke Zell¬ 
befund auf Paralyse, was sich bei der weiteren klinischen Beobach- 
tung und der Autopsie bestatigte; ein Fall war durch eine Quet- 
schung der Cauda equina kompliziert, das Resultat eines Fallen, 
der bei starkem Zellbefund in der Kammer im Praparate nur den 
Grenzwert aufwies, beruht auf einem technischen Fehler.. 

In der Tabesgruppe baben wir einen ganz initialen Fall unter- 
sucht, der Pupillenstorungen, fehlende P. S. R. und lanzinierende 
Schmerzen aufwies, er war — wenn auch schwach — positiv, ein 
Fall, der mit Alkoholismus verbunden war, zeigte keine Zellen. 

Ein Fall wurde nur postmortal punktiert, soil daher hier noch 
nicht angeffihrt werden. 

Angeschlossen seien bier gleicb die Falle mit PupiUenstarre, 
von denen einer ohne sonstige Symptome positiven Zellbefund 
hatte, ein zweiter, mit Atrophie der Sehnerven verknupft, ebcn- 
falls positiv reagierte, sowie ein alter Fall von Dementia praecox 
mit vollstandig feblenden P. S. R., der negativen Zellbefund im 
Liquor aufwies. 

Gehen wir nun zur Gruppe der luischen Cerebralerkrankungen 
fiber, so hatten wir da von den positiven Fallen 2 Falle von 
Meningitis basilaris gummosa, 2 luische Herde, einen Heubner, 
eine Meningoencephalitis luica, eine postluische Demenz, positiv 
war auch ein Fall mit einem paralyseahnlichen Krankheitsbild und 
Stauungspapille, der nach Schmierkur bedeutend gebessert nach 
Hause ging, bei dem es sich also wahrscheinlich um eine gummose 
Erkrankung gehandelt hatte, wahrend zwei der luischen Herde 
und eine auf Lues beruhende Pseudobulbarparalyse negativen Zell¬ 
befund zeigten. 

Von Fallen mit sicher iiberstandener Lues ohne luische Cerebraf- 
erkrankung punktierten wir einen Fall von manisch-depressivem 
Irresein und eine schwere Neurasthenic mit positivem , eine Melan- 
cholie mit fraglichem, aber wahrscheinlich negativem und eine 
Haftpsychose und eine Dementia praecox mit sicher negativem 
Bef und. 

In der Gruppe der Tumoren zeigten starken Zellbefund ein 
diffuses sekundares Melanosarkom der Meningen (freilich haupt- 
sachlich Tumorzellen), ein Cysticercus, schwacheren ein Tumor des 
linken Stimhirns und ein Kleinhirnbrfickenwinkeltumor. negativen 

.VonaUschrlft fdr Psychiatric und Xeurologie. Bd. XXVII. Heft 20 


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428 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 

ein Gliom. Bei alien diesen Fallen war Lues unwahrscheinlich, 
aber nicht sicher auszuschliessen. 

Von den Fallen von StauungspapiUe war der eine mit einem 
Basedow kompliziert und zeigt, wie der zweite, einen Hydro¬ 
cephalus, negativen Zellbefund. 

Unter den nicht luischen Meningitiden, die alle positiven Zell¬ 
befund zeigten, waren vier eitrige, zwei tuberkulose Meningitiden, 
eine Tuberculosis meningum und eine initiale tuberkulose 
Meningitis. 

Von sonstigen organischen Nervenkrankheiten punktierten wir 
mit positivem Zellbefund einen Erweichungsherd, zwei cerebrale 
Kinderlahmungen, eine Haemorrhagia cerebri, eine multiple Skle- 
rose, kompliziert mit Dementia praecox (hier waren die Zellbe- 
funde schon hart am Grenzwert); mit negativem Befunde einen 
Fall von progressivem Kemschwund (kompliziert mit Zwangsvor- 
stellungen), eine Idiotie und einen Fall von hereditarer Lues, dessen 
Vater an Paralyse litt, sowie einen Erweichungsherd. Ueber durch- 
gemachte Lues liess sich in diesen Fallen nur soviel feststellen, 
dass sie in den beiden Fallen von cerebraler Kinderlahmung, bei 
der multiplen Sklerose und bei dem progressiven Kernschwund 
mit grosser Wahrscheinlichkeit auszuschliessen war. 

In der Gruppe der genuinen Epilepsie fallt uns ein positiver 
Befund auf. Es war dies ein Kind, dessen Mutter, die auch Epi- 
leptica war, dem Kinde in der Anstalt das Leben geschenkt hatte. 
Das Kind war seit der Geburt epileptisch, wies aber keine Zeichen 
von hereditarer Lues auf. 

Von der senilen Demenz wollen wir an dieser Stelle nur zwei 
in Beriicksichtigung ziehen, da die anderen nur postmortal punk- 
tiert worden waren, beide Falle reagierten negativ. 

Von den vier hier zu erwahnenden Arteriosklerosen zeigten 
zwei positiven, zwei negativen Zellbefund. 

Zwei Falle, von denen der eine — mit manisch-depressivem 
Irresein kombiniert — wahrend eines Herpes zoster, der andere 
— mit Dementia senilis kombiniert — nach Ablauf eines solchen 
punktiert wurden, wiesen im ersten Falle rein negativen Zellbe¬ 
fund, im zweiten fraglichen, doch wohl auch negativen auf. 

Zwei Falle von Alkoholismus — die beiden anderen waren nur 
postmortal punktiert — zeigten negativen Befund. 

In der Dementia praecox-Gruppe ragen 2 Falle durch positiven 
Zellbefund hervor; beide wiesen im Krankheitsbilde keine Be- 
sonderheiten auf; Lues war bei beiden nicht wahrscheinlich, konnte 
aber nicht sicher negiert werden. 

Die sonstigen punktierten Psychosen, zu denen — es werden 
die nur postmortal punktierten hier nicht erwahnt — ein Delirium 
acutum, eine Dementia paranoides, zwei Manien, eine Imbecillitat, 
eine Demenz, deren Anamnese unbekannt, gehorten, zeigten alle 
negativen Zellbefund. 

Vergleichen wir nun unsere Resultate mit den in der Literatur 
enthaltenen: 


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Untersuchung dee Liquor cerebrospinalia. 


429 


Positive Zellbefunde finden wir bei progressiver Paralyse, 
Taboparalyse und Tabes, bei den luischen Erkrankungen des Zen- 
tralnervensystems, bei Lues in alien Stadien ohne Beteiligung des 
Zentralnervensystems, bei Lues hereditaria [Havant (31)], bei Lues 
hereditaria tarda [Kretschmer (30)], bei alien Arten von Menin- 
gitiden, bei Herpes zoster [Abadie (25), Achard und Loeper (26), 
Achard, Loeper und Laubry (27), Chauffard und Boidin (28), Griffon 
(29)], bei Erweichungsherden, Apoplekia sanguinea, multipler Skle- 
rose, Hirn- und Riickenmarkstumoren, Hitzschlag [Dopier (32)], 
Tetanus [Niedner und Mamlock (22)], Arteriosklerose, Trigeminus- 
neuralgien [Sicard (33)], Pellagra [Noica (34)], Purpura rheumat. 
[Grenet (35)], Keuchhusten mit meningitischen Erscheinungen 
[Bertolotti (36)], bei Schlafkrankheit [Hough (24)], bei Hautaffek- 
tionen des Kindesalters [Ferrand (2)], postdiphtheritischen Lah- 
mungen (1), bei Landryscher Paralyse [Armand-Delille und Dene- 
cheau (37)]. 

Beziiglich der Epilepsie, Dementia praecox, des Alkoholismus 
bestehen Meinungsdifferenzen der Autoren, die wir weiter unten des 
Ausfuhrlicheren besprechen wollen. Die Befunde von Balogh (38), 
der bei Melancholie, Dementia senilis und Dementia praecox 
in der Halfte der Falle ohne Lues Lymphozyten fand und daraus 
auch theoretische Schliisse zieht, sind wohl mit grosser Reserve 
aufzunehmen. Desgleichen die Resultate von Yoanitsescu und 
Galanescu (39), die bei einfachen Fallen von Gonorrhoe negativen, 
bei komplizierten Fallen positiven Liquorbefund konstatierten. 

Beziiglich der Haufigkeit des Vorkommens von Pleozytose, 
besonders bei einigen der geschilderten Krankheiten, ist nach den 
Angaben der Autoren noch nichts Feststehendes zu berichten. 
Wahrend Merzbacher (40) z. B. in einem Referate iiber die Arbeit 
von Pegna negative Resultate bei sicheren Paralysen einfach 
leugnet und bei negativem Resultate eine Paralyse ausschliesst, 
sind anderen Autoren [Nissl (7), Meyer (9), 0. Fischer (10), Rehm 
(57) u. A.] negative Falle nicht fremd, und man kennt sichere 
negative Paralysen, wie auch solche, die nur bei einzelnen Punk- 
tionen negativ sind. Dafiir geben auch unsere negativen Paralyse- 
falle einen neuerlichen Beweis. Bei den luischen Erkrankungen 
des Zentralnervensystems fand Apelt (41) unter 8 Fallen 5 -{-,3 —, 
Babinski und Negeotte (43) finden dabei stets deutliche Pleozytose, 
Frankel (42) nimmt das gleiche an, ebenso Henkel (44), Nissl (7) 
sah von 2 Fallen in dem einen negativen, in dem anderen zwi- 
schen + und — wechselnden Befund, Schoenborn (1) konnte unter 
31 Fallen von luischen Erkrankungen des Zentralnervensystems 
16 positive, 12 negative und 3 Grenzbefunde konstatieren; das 
ergibt 50—80 pCt. positive Resultate, Rehm (57) fand bei cere- 
brospinaler Lues 83 pCt. positive Befunde. 

Bei der Tabes wird von einigen Autoren Pleozytose so haufig 
wie bei der Paralyse gefunden, von anderen weniger haufig. Erb 
(45) glaubt bei vorhandener reflektorischer Pupillenstarre aus 

29* 


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430 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


positivem oder negativem Zellbefund eine kommende Tabes vor- 
aussagen oder negieren zu konnen. 

Bei Lues, ohne Erkrankung des Zentralnervensystems, fand 
Ravaut (21) 65,88pCt. + -Resultate im sekundaren Stadium, Beletre 
(46) fand 6 positive Befunde unter 13, Meyer (9) 50 pCt. positive, 
Rehm (57) 28 pCt. positive, Kretschmer (30) 50 pCt. positive Resul¬ 
tate bei Lues hereditaria tarda; bei Hirntumoren wurde in der 
Mehrzahl der Falle Pleozytose gefunden, ebenso bei Erweichungs- 
herden, wo sich dieselbe nach manchen Autoren durch luische 
Genese des Herdes erklart, was z. B. Niedner und Mamlock (22) 
nicht bestatigen. Bei multipier Sklerose fand Nonne (59) 25 pCt. 
positiver Befunde, andere geringere Prozentzahlen. Abgesehen von 
Krankheiten, bei denen Einzelbefunde von Pleozytose veroffent- 
licht sind, wiesen hier noch die Befunde bei Epilepsie und Dementia 
praecox zu streifen. Merzbacher (47) hat unter 12 Epilepsien 
8 positive Zellbefunde gehabt, auch einige andere Autoren bringen 
ahnliche Befunde, wobei sie freilich die Frage nach vorangegangener 
Lues offen lassen [Nageotte und James (48), Pomeroy (49)], andere 
wieder bestreiten das Vorkommen bei Epilepsie entschieden. 

Einer eben erschienenen Arbeit ( Wada und Matoumoto, Liquor 
cerebrospinalis bei Geisteskrankheiten, Jahrbiicher fur Psychatrie, 
XXX. Bd.) ist zu entnehmen, dass die Autoren auch positive 
Zellbefunde bei Epilepsie hatten. 

Bei Dementia praecox wurden speziell in katatonen Stadien 
positive Befunde konstatiert, so von Hough (24) [die postmortalen 
Befunde Henkels (44) konnen hier aus spater zu erwahnenden 
Griinden nicht herangezogen werden], Meyer (9), Jack (50) u. A., 
und fiber die Befunde bei Alkoholismus finden wir wieder in der 
franzosischen Literatur manche Meinungsdifferenzen. Unsere Re¬ 
sultate weichen im grossen ganzen nicht von denen der Lite¬ 
ratur ab. 

Ueber die negativen Paralysefalle ist oben gesprochen worden. 
Bei den fraglichen Fallen bildete uns der zytologische Befund, der 
in 80 pCt. positiv, in 20 pCt. negativ war, keine besondere Stiitze 
zur Differentialdiagnose. Denn wenn auch der negative Fall hochst 
wahrscheinlich keine Paralyse ist, so befinden sich auch unter 
den positiven Fallen solche, die, wir ihr jetzt weiter beobachteter 
Verlauf lehrt, keine Paralysen sein diirften. Der geringe Prozent- 
satz positiver Befunde fur unsere Tabesfalle sagt nichts, da wir 
nur 2 punktiert haben. Die beiden Falle von Pupillenstarre wiir- 
den im Erbschen Sinne durch ihren positiven Befund einer zu- 
kiinftigen Tabes verdachtig sein, wahrend in dem Falle mit fehlen- 
den Patellarreflexen uns der negative Befund in unserer Annahme 
bestarkte, dass es sich hier nicht um einen Westphal durch Tabes 
handele. 

Die luischen Cerebralerkrankungen weisen im Einklange mit 
der Literatur 75 pCt. positive Resultate auf, ebenso die Falle mit 
vorausgegangener Lues ohne Ergriffensein des Zentralnerven- 
systems mit 40 pCt.; das gleiche gilt von unseren Befunden bei 


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Untereuchung dee Liquor cerebrospinalis. 


431 


Hirntumoren; die negativen Reaultate in beiden Fallen von 
StauungspapiUe haben uns bei unserer vorher erwahnten Diagnose 
nicht iiberrascht. 

Erwahnenswert ist noch, dass wir bei organischen Himerkran- 
kungen (mit Ausschluss der sonst in der Tabelle angefuhrten) 
65 pCt. positive Resultate hatten, speziell in den zwei Fallen 
von cerebraler Kinderlahmung sogar (bei wahrscheirdich anszu- 
8chiie88ender Lucs) ziemlich starke. Aehnliche Befunde [Henkel# 
(44) Falle sind negativ] habe ich in der Literatur nicht gefunden. 

Der eine positive Befund unter den Epilepsien kann, wie 
schon friiher erwahnt, nicht als ganz bestimmt verwertet werden, 
da nur die Kammerzahlung gemacht wurde und diese schwaoh 
positiv war (bei Blutbeimengung). Dagegen haben wir zwei sicher 
positive Befunde in der Dementia praecox-Gruppe. 

Es soli hier nicht auf die Aufstellung von Hypothesen iiber 
die Ursache dieser seltenen Liquorbefunde eingegangen werden. 
Ein grosseres Material auch solcher Falle, speziell aber autoptische 
Befunde, werden uns dariiber erst Klarheit bringen. 

Gehen wir nun zur Besprechung der Art der im Liquor vor- 
kommenden Zellen vor, so finden wir in diesem Punkte wohl noch 
grossere Differenzen in der Meinung der Autoren als beziiglich 
der Farbemethoden. Diese Verschiedenheit in der Auffassung ist 
wohl darin begriindet, dass in den meisten Kliniken, in welchen die 
franzosische bezw. die iVT«sZ-Methode verwendet wird, von einem 
Zusatz von Formol zum Liquor vor Herstellung der Praparate 
abgesehen wird, so dass selbst, wenn die Farbung sehr bald nach 
der Liquorentnabme erfolgt, die labilen Zellen doch durch das 
Zentrifugieren, ja sogar durch das Austrocknen [Fischer (19)] stark 
gelitten haben, und es bewahrheitet sich dann Nissls Wort, der 
von einem jammervollen Zustande der Zellen spricht und ein 
naheres Studium derselben fur eigentlich unmoglich halt. 

Es sei gestattet, hier nur kurz auf die Literatur einzugehen. 
Eine ausfiihrliche diesbezugliche Uebersicht verbietet sich bei dem 
hier besonders massenhaft aufgespeicherten und so ganz diver- 
gierenden Materiale ja von selbst. 

Die Franzcsen finden [Widal, Sicard und Ravaut (3)] kleine 
mononukleare, auch grosse, oft endothelartige, manchmal poly- 
nukleare Zellen, Meyer (8, 9) unterscheidet Lymphozyten, kleine 
einkernige Leukozyten, polynukleare Leukozyten und Mastzellen. 

Schoenborn (17) spricht von sogenannten Endothelzellen, roten 
Blutkorperchen, „sogenannten“ Lymphozyten, „sogenannten“ 
Leukozyten und Tumorzellen. 

Apelt (41) unterscheidet nur kleinere oder grossere, heller oder 
dunkler gefarbte, anscheinend einkernige Elemente und grossere, 
blass gefarbte und unregelmassig konstruierte Zellen, sogenannte 
Endothelien. 

Abraham und Ziegenhagen (51) sehen Endothelzellen, Fett- 
komchenzellen, freie Fettkomer, Kristalle, Eve (52) sich bewegende 


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432 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


fadenartige Gebilde oder auch kugelformige Korper, die mit sich 
bewegenden Faden versehen sind. Henckel (44) fand einkemigo 
Zeilen mit schmalem roten Rande, grossere mit rand3tandigem 
Kem imd rosarotem Plasma (Triacid), polynukleare, dann fein 
granulierte Zellea, die er noch genauer beschreibt imd als De- 
generationsformen erkennt, Kronig (53) fand sogar myelinhaltige 
Nervenfasern, Myelin- und Blutkristalle, Sameh (54) findet bei 
chronischen Meningitiden grosse Elemente mit unregelmassigem 
Kem und deutet sie als Uebergangsformen endothelialer Natur, 
Rehm (57) hat in der Zahlkammer unterschieden: 1. kleine Lympho- 
zyten, 2. grosse Lymphozyten, 3. Zeilen mit reichlichem Plasma, 
4. Gitterzellen, 5. (polynukleare) Leukozyten, 6. Erythrozyten. 

Durch die Alzheimer&cho Methode dacbte man mehr iiber die 
Zellart zu erfahren. Ob sich das erfiillt, kann man noch nicht 
entscheiden. 

Es fanden Cotton und Ayer (56) nach dieser Methode: 
1. Lymphozyten, 2. Endothelzellen, 3. Phagozyten von endo- 
thelialem Ursprung imd „phogocytic chiefly for lymphocytes 41 , 
4. Plasmazellen, 5. Komchenzellen, 6. polymorphkernige Leuko¬ 
zyten, 7. undifferenzierbare Zeilen. 

Hough (24) sah und zeichnete: 1. Lymphozyten, 2. polymorph- 
kemige Leukozyten (Mentschikoff), 3. Komchenzellen, 4. Plasma¬ 
zellen, 5. Endothelzellen, 6. Fibroblasten, 7. Ependymalzellen (!), 
8. Desintegration granules. Nonne (55) spricht von kleinen 
Lymphozyten und gelapptkernigen Leukozyten bei der Lues 
cerebrospinalis, von kleinen und grossen Lymphozyten, lymphoiden 
Elementen, plasmoiden und Plasmazellen, Gitterzellen, vakuolen- 
haltigen Zeilen mit und ohne Fremdkorper-Einschliissen, Makro- 
phagen, Fibroblasten usw. Aehnlich Rehm (57). 

Geht man aber nach den von uns geschilderten Prinzipien 
vor, so kann man im allgemeinen die drei Zellarten konstatieren, 
die in O. Fischers Arbeit (19) geschildert wurden (freilich finden 
sich hie und da auch in unseren Praparaten degenerierte Zeilen, 
aber in sehr geringer Menge und als solche deutlich erkennbar). 
Wir haben diese Zeilen auch seither in alien gut fixierten Fallen 
wiederfinden konnen und sei daher hier mit geringen Verande- 
rungen das dort Gesagte wiederholt. 

Die erste Zellart, die sich gewohnlich am reichsten findet (die 
naheren diesbeziiglichen Verhaltnisse siehe weiter unten), sind die 
jetzt wohl allgemein anerkannten Lymphozyten, und zwar kleine 
Zeilen mit scharf begrenztem, stark farbbarem Kern und sehr 
geringem, oft ganz fehlendem Protoplasma-Saum; es konnen auch 
grossere Formen, jedoch viel seltener, vorkommen, die dann auch 
einen breiteren Plasmasaum haben. 

Schlechtere Farbbarkeit des Kemes, unregelmassig gestalteten 
Plasmaleib u. s. w. findet man gewohnlich nur bei den Zeilen von 
Praparaten, die nicht gut fixiert, und sie sind besonders gut zu 
beobachten in Praparaten postmortaler Punktion, wo immer 
degenerierte Zeilen in Menge vorkommen. _ J 


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Unterauchung der Liquor cerebrospinalis. 


433 


Die zweite Zellart, die von Fischer den in den Meningen vor- 
kommenden Plasmazellen gleichgestellt und auch so benannt war¬ 
den, sind Zellen, die bedeutend grosser als die kleinen Lympho- 
zyten erscheinen und alle Arten Von Formen darbieten, die sich 
alle durch mehr oder weniger grossen, stets deutlich ausgespro- 
chenen Plasmaleib auszeichnen, welcher sich bei der Hamatoxylin- 
Eosinfarbung rosa bis yiolett farbt, und durch einen meist unregel- 
massig gestalteten, sich nicht so intensiv wie bei den Lymphozyten 
farbenden Kern, mit meist deutlicher Kernmembran ohne aus- 
gesprochene Kemstruktur. 

Die dritte Zellart ist den polynuklearen Leukozyten des Blutes 
gleichzustellen, und zwar entspricht die Form des Kernes gewohn- 
Uch dem der sonstigen polymorphkornigen Leukozyten. Auffallend 
ist die starke Eosinphilie, die der Zellkorper oft in seiner Ganze, 
oft nur im zentralen Anted aufweist und die von der Bluteosino- 
philie verschieden ist. 

Dies sind die typischen Zellformen, wie wir sie im gut fixierten 
Praparate jederzeit nachweisen konnen. Genaueres uber ihre 
Gleichstellung mit meningealen Zellen werden erst genaue Ver- 
gleiche von gewohnlichen Trockenpraparaten, Alzheimerschen Pra- 
paraten und Praparaten der Meningen derselben Fade ergeben. Fiir 
unsere in erster Linie praktischen Zwecke geniigt das oben Gesagte. 

Es wurden nun bei alien Untersuchungen diese drei Zellarten 
gesondert gezahlt, so dass wir auch uber deren relatives nume- 
risches Verhaltnis Erfahrungen gesammelt haben. 

Es fand sich, dass unter 219 intravitalen Untersuchungen in 
108 Fallen die Anzahl der Lymphozyten die der Plasmazellen 
uberragte, in 83 Fallen mehr Plasmazellen vorhanden waren und 
in 19 Fallert die Anzahl der Lymphozyten und Plasmazellen un- 
gefahr die gleiche war. Dabei muss betont werden, dass das Ver¬ 
haltnis der einzelnen Zellarten zueinander bei den verschiedenen 
Punktionen desselben Falles wechseln kann, worauf schon Fischer 
(1. c.) aufmerksam gemacht hat und wofiir Tabelle V charakte- 
ristische Beispiele zeigt. 

Tabelle V. 


Fall 

Datum 

Verhaltnis des Ly. 
zu Plasmazellen 

32 V 

20. IX. 1907 

15 : 20 


22. X. 1907 

3 : 2 


2. XI. 1907 

5 : 5 


5. IV. 1908 

12 : 13 

116 B 

7. IX. 1908 

21 : 12 


| 16. XI. 1908 

107 : 24 


hier sind die 

14 : 4 

46 V 

Daten verloren 

1 : 1 

l 

| gegangen 

7 : 12 

73 B 

i 30. VII. 1908 

7 : 15 

1 

1 4. IX. 1908 

19 : 6 


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434 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen 


Es braucht wohl nicht besonders erwahnt zu werden, dass 
diese Schwankungen ebenfalls nicht mit irgendwelchen Aende- 
rungen im Krankheitsbilde zusammenfalien. 

Die Leukozyten sind gewohnlich im Liquor in geringer Menge 
vertreten, 1—5—10 pCt. ist das Gewohnliche. Doch findet man 
— und wir sehen hier von nicht luischen Meningitiden ab — 
manchmal speziell in Paralysefallen plotzlich ein sehr starkes An- 
sfeigen der Leukozytenzahl imd ein ebenso schnelles Abflauen. 
Dieses Phanomen war bei uns nur ein einziges Mai an einen Anfall 
gekniipft, ging aber sonst mit keinerlei Exazerbationen im Krank- 
heitsprozesse, keiner Temperatursteigerung parallel. Hiei sei gleich 
angeschlossen, dass wir in einer grossen Anzahl von Fallen nach 
oder im paralytischen Anfalle punktierten, aber bis auf den oben 
erwahnten einzigen Fall von leichter Leukozytenvermehrung nie 
eine wesentliche Veranderung der Zellen konstatieren konnten. 
An der Hand eines sehr charakteristischen Falles soli iibrigens die 
Bedeutung der Liquorleukozytose demnachst noch gewiirdigt 
werden. 

Neben den drei eben geschilderten Zellarten fallen manchmal 
im Liquor grosse blasige, mit stark granuhertem Kerne versehene 
Zellen auf, die von den Franzosen als Endothelien gedeutet wurden. 

O. Fischer nahm in der oben zitierten Arbeit an, dass es sich 
um Degenerationsprodukte handle, da er diese Zellen in gut 
fixierten Praparaten nie fand. 

Auch bei der Durchsicht unserer Praparate fanden wir mehr- 
rnals endothelzellenartige Gebilde. Wir finden sie aber gewohnlich 
nur bei verspatetem Formolzusatz, oder wenn wir den Liquor, 
der mit Formol versetzt war, mehrere Tage stehen liessen; gewohn¬ 
lich war auch starkere Blutbeimengung da, nur in einem Falle 
fanden wir sie in einem normal behandelten Liquor ohne Blut¬ 
beimengung. Die Tatsache, dass sie so haufig mit Blutbeimengung 
parallel gehen, wiirde vielleicht fiir ihre Endothelnatur sprechen, 
dagegen aber spricht, dass sie sich besonders haufig in zu spat 
mit Formol versetzten Liquores fanden, femer in sclchen, die man 
lange stehen liess, und schliesslich sahen wir anlasslich zytolytischer 
Versuche, dass bei langerem Stehen ohne Formolzusatz sich ihre 
Menge kolossal vermehrt; wir werden sie eben doch als degene- 
rierte Zellen ansehen miissen. Der eine Fall spricht nicht dagegen, 
denn es diirfte sich um einen sehr stark zellgiftigen Liquor ge- 
handelt haben, bei dem schon die Manipulation vor dem Formol¬ 
zusatz geniigte, um Zellen zur Degeneration zu bringen, wie unsere 
anderwarts zu veroffentlichenden Versuche gezeigt haben, dass ver- 
schiedene Liquors in Bezug auf ihre zytolytische Kraft sich ganz 
verschieden verhalten konnen. 

Von sonstigen Zellformen finden wir hier und da degenerierte 
Zellformen aller Art, aber in gut fixierten Praparaten und in sehr 
geringer Zahl. Ein Fall, der Tumorzellen enthielt, wird ander¬ 
warts ausfiihrlich publiziert werden. 


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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


435 


Einer besonderen Besprechung bediirfen hier einige der nicht 
luischen Meningitiden. 

Die eiterigen Meningitiden zeigten fast nur polynukleiireLeuko- 
zyten. Bei den vier tuberkulosen Meningitiden zeigten sich im 
ersten (einem Tabesfalle mit Delir) fast nnr Lymphozyten, ebenso 
beim zweiten, der mit einem schweren Delir und auch korperlichen 
Zeichen der Meningitis; der dritte, ein deliranter Zustand bei Lungen- 
tuberkulose mit den somatischen Zeichen einer Meningitis, ergab den 
Befund: Verhaltnis der Lymphozyten zu PlasmazeUen zu Leuko- 
zyten wie 4:3:6, eine auffailend grosse Anzahl von polynuklearen 
Leukozyten, wie sie aber auch bei tuberkulosen Meningitiden nicht 
allzu selten beobachtet wird. Sehr interessant ist auch der vierte 
Fall. Es handelte sich um einen jungen Mann mit negativer Anam- 
nese auf Lues. Er war schwer tuberkulos, kurz vor der Aufnahme 
in un3ere Klinik hatte er liber starke Kopfschmerzen geklagt, hatte 
deliriert und eine leichte Sprachstorung in Form einer amnesti- 
schen Aphasie dargeboten. Auf der Klinik weilte er nur einige 
Tage, da er in hausliche Pflege genommen wurde. Er zeigte bei 
uns besonders abends die oben geschilderten Symptome, und 
der Verdacht einer initialen Meningitis bzw. Tuberculosis menin- 
gum liess uns zur Lumbalpunktion greifen, die Pleozytose zeigte, 
und zwar war das Verhaltnis der kleinen Lymphozyten zu Plasma- 
zellen und zu Leukozyten wie 29 : 10 : 1. Eine weitere Beobach- 
tung war leider nicht moglich. 

Wie Henkel (44) und Hough (24) haben auch wir in einer 
grossen Anzahl von Fallen nach dem Tode, und zwar meist kurze 
Zeit nach demselben, Punktionen gemacht. Die Resultate der- 
selben, und zwar getrennt die der Kammer- und Praparatenzah- 
lung, sind in der Tabelle II verzeichnet. Hier findet sich fast 
in alien Fallen, wo iiberhaupt postmortale Punktionen gemacht 
wurden, 100 pCt., mindestens aber 66 pCt. positiver Resultate; 
besonders hervor3techend sind diese Ergebnisse bei der Dementia 
praecox, beim Alkoholismus und bei der Dementia senilis gegen- 
iiber den intravitalen Punktionsresultaten, was sich besonders 
schon aus Vergleich der Tabelle III (nur intravitale) und Tabelle IV 
(nur po3tmortale) Punktionen ergibt. 

Dabei sind die Zellzahlen gewohnlich atich grosser; es muss 
aber hier beriicksichtigt werden, dass die oben geschilderte Blau- 
farbung der roten Blutkorperchen bei der Kammerzahlung beson¬ 
ders haufig im postmortalen Liquor aufzutreten scheint; da man 
nun bei postmortalen Punktionen sehr haufig blutig tingierten 
Liquor erhalt, muss auf diese Fehlerquellen bei der Kammerzah¬ 
lung besonders aufmerksam gemacht werden. Es fanden sich hier 
vorwiegend degenerierte Elemente aller Art, am besten erhalten 
waren die kleinen Lymphozyten. Die oben geschilderten Resultate 
der postmortalen Punktion beweisen zur Geniige, dass man sie 
nicht, wie Henkel ( 24) sagt, als Ersatz fur einen Obduktionsbefund 
ansehen kann. 


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•^36 Kafka, Ueber Technik imd Bedeutung der cytologischen 


Zum Schlusse seien noch einmal unsere praktischen Erfah- 
rungen kurz zusammengefasst: 

1. Die besten Zahlresultate gibt die Zahlung im gefarbten 
Praparate, vorausgesetzt, dass gleich nach der Liquorentnahme 
Formol zugesetzt und nach der oben geschilderten Methode vor- 
gegangen wird. In zweiter Linie ist die Fuchs-Rosenthalsche Me¬ 
thode zu nennen, bei der mit Ausschaltung des Melangeurs durch 
sofortigen Zusatz der Verdiinnungsfliissigkeit zum Liquor im 
gleichen Verhaltnis eine sehr schnelle und bequeme Methode ge- 
schaffen ist. 

2. Als Grenzwerte zwischen normalen und pathologischen 
Zellzahlen gelten uns ca. 2 Zellen fur die erste, ca. 5 fur die zweite 
Methode. 

3. Auch bei den progressiven Paralysen kommen negative 
Zellbefunde vor. Da aber die Zellzahl bei dieser Erkrankung (wie 
auch nicht selten bei anderen Erkrankungen, die mit Pleozytose 
einhergehen) oft grossen Schwankungen unterworfen ist, die mit 
dem Krankheitsbilde in keinerlei Parallismus stehen, lasst sich 
aus einer einzelnen Punktion noch kein bindender Schluss auf 
negativen Befund geben. 

4. Nicht ganz so selten kommen auch bei organischen Nerven- 
erkrankungen ohne irgendwie nachweisbare Lues Zellen im Liquor 
vor, sehr selten auch bei Dementia praecox und Epilepsie. 

5. Exazerbationen im paralytischen Krankheitsbilde sind nur 
selten von einer Liquorleukozytose gefolgt oder begleitet; und die 
letztere kommt haufig vor, ohne dass sich irgend eine Verande- 
rung im Krankheitsbilde zeigt.- 

6. Postmortal tritt eine Zellvermehrung auch in intravital 
zellfreien Liquores mit schweren Degenerationserscheinungen der 
Zellen ein. 

7. Zur Differentialdiagnose lasst sich in Bezug auf die Para¬ 
lyse nur ein (mehrmals gefundener) negativer Befund verwerten, 
freilich sprechen hohe positive Zellbefunde fiir Paralyse; zur Be- 
stimmung, ob ein organisches Hirnleiden auf luischer Basis beruht, 
wird uns ein positives Resultat gute Dienste leisten. 

Prag, Ende Oktober 1909. 

Literatur-Verzeichnis. 

1. Rdmhdd , Zur Klinik postdiphtherischer Pseudotabes. Deutsche med. 

Wochenschr. 1909. No. 15. 

2. Ferrand , Gazette des hopitaux. 1908. No. 129. 

8. Widal , Sicard und Ravaut , A propos du cytodiagnostic du tabes. Rev. 

neurol. 1903. No. G. p. 289. 

4. Laignel-Lavastine , Procede de la numeration apres centrif. des 616ments 

cellulaires du liquide cephaio-rachidien. Soc. de biol. 1901. 13. Mai. 

5. Devau.r . La ponction lombaire et le cytodiagnostic. Centralbl. f. Nerven- 

heilk. u. Psychiatrie. XXVI. p. 384. 

G. Schoefiborn, Die Zvtodiagnostik des Liquor cerebrospinal is. Neurol. 

Centralbl. 1903.* 


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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 


437 


7. Nissl, Die Bedeutung der Lumbalpunktion fiir die Psychiatrie. Central - 

blatt f. Nervenheilk. u. Psych. Bd. XXVII. p. 225. 

8. E. Meyer , Ueber zytodiagnostische Untersuchung des Liquor cere¬ 

brospinalis. Berl. klin. Wochenschr. 1904. No. 5. 

9. E. Meyer , Untersuehungen des Liquor cerebrospinalis bei Geistes- und 

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438 


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rosis multiplex und Lues cerebrospinalis auf Grund der zytologischen 
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Psych, u. Neurol. 1909. Bd. XXVI. Heft 4. 

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Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc. 


439 


(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz. 
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.) 

Experimentelle Untersuchungen iiber die Grundlagen der 
sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 

Von 

Dr. OTHMAR ALBRECHT, 

k. und k. Reglraentsarrt. 

(Fortsetzung.) 

Versuch 7. 


Versuchsperson Dr. O. A., kein Shunt. 


A. Formalinfinger, Ruhestellung 

0,85 rot 


Reiz: Pinael am Ohr 

0,9 



Ruhestellung 

0,85 



Reiz: Schuss 

0,9 

>> 


Ruhestellung 

0.8 

>> 


B. Nicht-formalinisierte Finger, Ruhestellung 

6,0 

schwarz 

Reiz: Nadelstich 


1,6 


Ruhestellung 


5,18 

>> 

Reiz: Schuss 


4,3 

» 


Wahrend dieser Verauche waren in der aussersten vom For¬ 
malin gebeizten Schicht der Finger bereita einige Spriinge ein- 
getreten, die formaliniaierten Finger waren auch nicht mehr von 
alien Verunreinigungen geachiitzt geweaen. Trotzdem waren die 
eraten Ausschlage, welche 8ich nach dem Aufatecken der Elektroden 
auf die Finger zeigten, nicht weaentlich grosser ala die am Vor- 
mittage, die auf die Reize folgenden Veranderungen betrugen nicht 
einmal y 2 mm der Skala (= 1 • 10 -9 Amp.), wahrend die Ver- 
gleichsverauche mit den nicht formahniaierten Fingem groaae Aus¬ 
schlage, lebhafte Reaktionen zeigten. Wir aind demnach berechtigt, 
anzunehmen, daaa dem Schweisae eine groaae, wenn nicht die 
hauptsachlichste Bedeutung fur daa Zuatandekommen der hier 
unterauchten Strome beim Menachen zukommt. Wir sagen aus- 
driicklich: beim Menachen, denn die Eracheinungen de8 psycho- 
galvanischen Reflexes lasaen sich auch an nicht achwitzenden 
Tieren demonstrieren. 

Versuch 8. 

Versuchsobjekt 4 Jahre alter Foxterrier, S. W. 100 Ohm. Vor- 
derpfoten grundlich mit Seife gewaschen, kommen in Glaagefasse 
mit lauem destilliertem Wasser, in welches Zinkatabe, durch Glas 


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440 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die 

geschiitzt, tauchen. Ruhestellung bei 9,3, nach einem Schuss auf 
10,3, stutzt darauf und schnuppert: 12,1. Auf die dem Hunde 
bekannte Frage: Magst ein Wiirstel ? erfolgt ein Ausschlag bis 28,0. 

Ob die wasserloslichen Bestandteile der Hautsekrete in diesen 
Fallen die Bedeutung des Schweisses haben, muss vorlaufig dahin- 
gestellt bleiben. 

Knauer hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass sich zwischen 
dem Schweisse und der Gewebsflussigkeit elektrische Potential- 
differenzen bilden konnen. Es ist nur sehr die Frage, ob wir uns 
die Sache so einfach vorstellen diirfen, wie er sie darstellt; denn 
die Gewebsflussigkeit, welche zwischen der einen Beruhrungsflache, 
sagen wir der einen Hand, und der anderen Beruhrungsflache, 
z. B. der anderen Hand, liegt, ist sicher nicht als eine Einheit auf- 
zufassen, sondem als eine Reihe von Losungen und Pseudolosungen 
verschiedener physikalischer und chemischer Konstitution, zwischen 
denen es gewiss an mehr als einer Stelle osmotische Druckunter- 
schiede und im Sinne der galvanischen Kette Potentialdifferenzen 
geben kann. 

Galeotti 1 ) sagt, indem er von der Leitfahigkeit der Organe 
spricht, ,,e8 handle sich darum, die Leitfahigkeit nicht homogener- 
Systeme zu bestimmen, die aus (kolloidalen) Pseud olosungen be- 
standen, die Elektrolyten enthielten und voneinander durch 
Scheidewande verschiedener Natur getrennt waren, die fur die 
Elektrolyten selbst auf verschiedene Weise permeabel waren. 
Dies sei in der Tat die ideale Vorstellung, die wir uns von einem 
organischen Gewebe hinsichtlich seiner Leitfahigkeit machen 
konnten; daraus ersehe man, dass letztere die Resultante von 
Faktoren sei, die einzeln nicht bestimmt werden konnten“. 

,,Es zeigt sich auch klar,“ sagt der Autor, ,,dass die spezifische 
elektrische Leitfahigkeit eines Organs keinen festen und kon- 
stanten Wert haben kann, und man sieht ein, dass er innerhalb 
ziemlich weiter Grenzen schwanken kann. Derartige Schwankungen 
hangen hauptsachlich ab vom Zustande des Protoplasmas, von der 
Zahl der Elektrolyten, die es enthalt, von den Verbindungen, die 
zwischen diesen Elektrolyten und den kolloidalen Molekiilen be- 
stehen konnen, von der Zahl, Dichtigkeit, Lage und Permeabilitat 
der Scheidewande, die an der Zusammensetzung des Gewebes be- 
teiligt und zwischen den Elektrolyten eingeschaltet sind.“ 

Wir werden uns deshalb richtiger vorzustellen haben, dass 
von der einen Elektrode bis zu der andem eine Konzentration s- 
kette liegt, deren Glieder durch die physiologischen Vorgange 
Schwankungen unterworfen sind. Die fur uns bedeutendsten der- 
selben sind wahrscheinlich die Schwankimgen der Schweiss- 
sekretion. Diesbezuglich haben wir uns noch vor Augen zu halten, 
dass die Schweisssekretion an symmetrischen Korperstellen — und 


') Zit. nach Bottazzi in Koranyi-Richter: Physikalische Chomie und 
Medizin. 1. Bd. Seite 545. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 441 


das ist die gewohnlichste Form der Versuchsanordnung — nicht nur 
quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden sein kann 1 2 3 ). Es 
ist eine Beobachtung, der man im allgemeinen wenig Bedeutung 
beimisst, dass die Schweisssekretion in der rechten und linken 
Korperhalfte bei vielen Menschen qualitativ verschieden ist, ohne 
dass man deshalb von einer pathologischen Hemi-Hyperhydrose 
oder Hypohydrose sprechen miisste. Nach den Versuchen von 
Arloing *) wissen wir, dass der Schweiss, welcher anfangs stets 
saure Reaktion zeigt, nach etwa 10 Minuten dauemdem starkem 
Schwitzen alkalisch wird. Benedikt*) hat gezeigt, dass die Stick- 
stoffausscheidung im Schweisse bei ruhenden Menschen im Tage 
0,071 g, bei Arbeitenden 0,13 resp. 0,22 g in der Stunde betragt. 

Schon solche Versuche sind uns ein Fingerzeig, dass die 
chemische Qualitat des Schweisses Veranderungen unterworfen 
ist, die fiir unsere Experimente von Bedeutung sein konnen. Be- 
denkt man weiter noch, dass die Innervation der beiden Korper- 
halften mehr minder getrennt erfolgt, so erscheint es keineswegs 
unwahrscheinlich, dass wir an symmetrischen Korperstellen, z. B. 
den beiden Handen, einer chemisch qualitativ verschiedenen 
Schweisssekretion begegnen, welche um so eher Schwankungen 
unterworfen sein kann, als die letzteren mit quantitativen Aende- 
rungen in einem gewissen engen Zusammenhange stehen. 

Der Schweiss, oder sagen wir die Hautsekrete, sind gewiss in 
erster Linie die chemischen Agentien, welche auf die beiden Metall- 
elektroden in dem Sinne einwirken, dass aus denselben ein Element 
gebildet wird. 

Wenn wir uns also vorstellen, dass die beiden Elektroden 
(welche selbst aus gleichem Metalle hergestellt Potentialdifferenzen 
liefem konnen) die Pole eines Elementes sind, dessen Kette durch 
die Veranderung zweier sich ungleich andemder Glieder (der 
Sekrete an den beiden wirksamen Hautstellen) fortwahrenden 
Schwankungen unterworfen ist, so werden wir eine ganze Reihe 
von Erfahrungstatsachen verstehen lemen. Stellt man die Extremi- 
taten in Gefasse mit destilliertem Wasser, in welche gleichzeitig 
die Metallelektroden tauchen, so entsteht sofort ein Strom und 
lassen sich mit dieser Versuchsanordnung ebenso die bekannten 
Stromschwankungen darstellen. Die gleichen Resultate sind er- 
zielbar, wenn man z. B. statt des Wassers bei den Zinkstaben 
1 proz. Zinksulfatlosung verwendet. Ich habe in einzelnen Ex- 
perimenten die Metallelektrode mit einer Tonschicht umhiillt, 
welche von einer Salzlosung entsprechend durchfeuchtet war, ohne 


1 ) Veraguth hat auf die Moglichkeit der Qualitatsdifferenzen zwischen 
Hand- und Fussschweiss hingewiesen. 

2 ) Arloing , Reaktion des menschlichen Schweisses etc. Lyon m6d. 

1896. 

3 ) Benedikt , Ausscheidung stickstoffhaltigen Materials durch die 
Haut. Journ. of biol. Chera. I. Zit. nach Maly. 1906. 


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442 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die 


eine Aenderung der Erscheinungen wahmehmen zu konnen. Ebenso 
ist die Anwendung von Tonzellen, wie Knauer sie vorgenommen 
hat, irrelevant, weil hier, wie in den zuletzt erwahnten Fallen, ein- 
fach eine Fliissigkeitsschicht bezw. eine Salzlosung mehr in die 
Kette eingeschaltet ist, wobei nur die Wirksamkeit der Haut- 
sekrete nicht direkt auf das Metall, sondem auf eine andere da- 
zwischen liegende Flussigkeit zustande kommt, welche ihrerseits 
erst zur Potentialdifferenz gegen das Metall gelangen kann. Die 
Besultate bei Anwendung unpolarisierbarer Elektroden eind in 
gleicher Weise verstandlich. 

Verwenden wir andererseits an beiden Elektroden verschiedene 
Metalle, wie Sommer, Fiirstenau und Knauer dies getan haben, so 
miissen sich selbstverstandlich bedeutende Spannungsdifferenzen 
zeigen. Sie sind um so grosser, je weiter die beiden Metalle in der 
Spannungsreihe auseinander liegen, denn bekanntlich ist die 
Spannungsdifferenz zwischen zwei Metallen, welche durch ein 
Zwischenghed in leitende Verbindung gesetzt werden, dieselbe, wie 
wenn sie einander unmittelbar beriihrten. 

Diese Auffassung der chemischen Wirksamkeit des Schweisses, 
besonders bei Beriicksichtigung der Moglichkeit, dass der Schweiss 
an verschiedenen Stellen chemisch qualitativ verschieden ist, 
fiihrt auch zur Moglichkeit des Verstandnisses einiger anderer 
bisher nicht aufgeklarter Erscheinungen. Es kommt, wie man 
weiss, ofters vor, dass die Stromrichtung ohne eine ausserlich 
erkennbare Ursache vollstandig umschlagt. Zuweilen vollzieht 
sich dieser Vorgang in der Folge von kontrollierbaren Vor- 
kommnissen. 

Aber auch auf Reize, wie sie in diesen Versuchen gebrauchlich 
sind, kommen Galvanometerbewegungen geringeren Grades vor, 
welche gleichsam die Vorlaufer der Stromumkehr darstellen. Wir 
kennen die „negativen Schwankungen“ Stickers und die „diphasi- 
schen Reaktionen“ Veraguths. Von ihnen bis zur vollkommenen 
Umkehr der Stromrichtung gibt es Uebergange. Nach unseren 
Beobachtungen haben diese Erscheinungen gewisse gemeinsame 
Eigentiimlichkeiten, auf welche an anderem Orte eingegangen 
werden wird. 

Im folgenden sollen aus den Versuchsprotokollen nur einige 
Beispiele angefiihrt werden, ohne vorlaufig iiber den Zusammen- 
hang der tatsachlichen Erscheinungen an den Kurven mit den 
gesetzten Reizen und deren Folgen (inklusive psychologischen) 
eine Deutung anzustreben. 

Zuerst moge ein Hinweis auf den Versuch 7 gestattet sein, 
wo nach beiden Reizen derartige absteigende Bewegungen zustande 
kommen. Aus der Ruhestellung in Schwarz 6,0 geht die Kurve 
nach dem Nadelstich auf Schwarz 1,6 hinab, stellt sich danach 
wieder auf 5,8 ein und geht nach dem Schuss auf 4,3 herunter. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 443 


Versuch 10. 

Versuchsperson Issy M., 19 Jahre alt, Nickelhandelektroden, 
S. W. 80 Ohm. 

Ruhestellung S. 8,8 
Spontan 6,2 


Was haben Sie sich gedacht? 13,3 

Sagen Sie es! 9,7 (verlegen): Das 

kann ich nicht. 


Versuch 9 . 


Versuchsperson Johann M., 24 Jahre alt. Nickelhandelektroden, 
S. W. 140 Ohm. Wahrend einer langeren Versuchsreihe von etwas liber 
einer halben Stunde hatten die Galvanometerausschlage zwischen R. 2,5 
und R. 9.0 geschwankt. Zum Schlusse war der letztgenannte Punkt der 
Skala liingere Zeit eingestellt geblieben. Nachdem ich die Versuchsperson. 
wie sich nachtraglich herausstellte, ungerechtfertigterweise plotzlich heftig 
zurechtgewiesen, anderte sich der Ausschlag von R. gegen S. in einem Aus* 
ma&se, dass die Skala aus dem Bilde verschwand und erst nach einiger Zeit, 
allmahlich, stellte sich auf S. 24,0 cine Ruhelage ein. 

Diese Umkehrung der Stromrichtung ware vollkommen erklart, wenn 
sich nachweisen liesse, dass die chemische Qualitiit des Schweisses in solchen 
Momenten eine plotzlich geanderte ist. Derartige chemische Untersuchungen 
des Sch weisses scheinen noch nicht gemacht worden zu sein. Ich konnt 
wenigstens in der bezuglichen Literatur dariiber nichts finden. 


Versuch 11. 

Dieselbe Anordnung wie vorher: 

Ruhestellung S. 5,9 

(Lauter Ruf) Ha! ^9 

4k 

Erklart, danach zusammengefahren zu sein und sich unangenehm 
beriihrt gefiihlt zu haben. 

Versuch 12. 

Dieselbe Anordnung wie vorher: 

Ruhestellung S. 4,5 

39 +22? 


57 + 28 ? 


5,5 

3^9 

I 

2,3 

I 

3,9 


61 ! 


85! 


178 — 91 ? 

Rot 

Monatsschrift ftir Psychlatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 5 

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0,4 

3J5 

| Das ist ekelhaft! 

0,7 87! 

30 

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444 Albrecht, Experimentelle Untereuchungen ilber die 


Wahrend verschiedener weiterer Fragen Ansteigen auf Rot 4,0. 

Im weiteren Verlaufe, nach verschiedenen Reizen, Strom- 
wendung etc., war eine Ruhestellung eingetreten bei 

Schwarz 17,5 

Schuss! ! 

16,5 

I 

18,5. 

Versuch 13. 

Versuchsperson Dr. A. Elektroden Zn in lproz. Zn SO«-L6sung. 
S. W. 90 Ohm. 

Nach dem Eintauchen der Hande langsames Aufsteigen bis 
S,5. Nach einem Reizworte Absinken auf 6,5 und zuriick auf 8,0. 

Versuchsperson gab an, dass sie durch das Reizwort, eine An- 
spielung auf eine diskrete Angelegenheit, peinlich beriihrt wurde, 
weil noch eine dritte Person anwesend war und der Zusammenhang 
moglicherweise verstandlich sein konnte. 

Wie im Vereuche 7 B (Nadelstich, Schuss) ist die Wirkung 
eines sensoriellen Reizes (Schrei) im Versuch 10 eine solche, dass 
eine absteigende Kurve resultiert. In den Versuchen 10 und 13 
kommt hingegen dasselbe auf Assoziationen hin zustande, welche, 
wie berichtet, andersartig gefiihlsbetont waren. 

ImVersuche 12 folgt eine Reihe von Rechenaufgaben einander, 
und wir sehen, wie die Aufmerksamkeitsleistung wahrend des 
Rechnens mit einem jedesmaligen Ansteigen des Ausschlages ver- 
bunden ist, auf welches ein Herabsinken unter dem Ausgangspunkt 
der Kurve folgt, in der Art, dass nach der dritten Rechenaufgabe 
die Richtung von Schwarz nach Rot umschlagt. Bei dem eng an- 
schliessenden mehrmaligen Wechseln der Elektroden in den Handen 
treten starke Schwankungen zuerst von Rot 4,0 iiber Schwarz 30,0, 
dann innerhalb der schwarzen Skala auf. 

Diese absteigenden Kurven liessen vielleicht daran denken, 
dass es sich dabei um Kontaktanderungen handeln konnte, die 
durch ein unwillkiirliches Lockerlassen hervorgerufen werden. Wir 
sind damit eigentlich schon in das Thema des nachsten Abschnittes 
geraten. Hier soil nur hervorgehoben werden, dass dagegen Ver¬ 
such 13 spricht, bei welchem die Hande in Fliissigkeit getaucht 
waren. Auch da konnten durch unwillkiirliches Herausziehen der 
Hande Verminderungen der Stromintensitat bewirkt werden. Allein 
die durch das ruhige Aufheben der Hande verursachte Aenderung 
betrug bei mehreren Versuchen mit absichtlichen Bewegungen in 
einem Ausmasse, welches das der unwillkiirlichen Bewegungen bei 
ruhiger Haltung weit iiberschritt (bis zu mehreren Zentimetem), 
nur Millimeter der Skala, wahrend Fingerbewegungen stets ein 
lebhaftes Ansteigen der Skala hervorriefen 1 ). 

l ) Die Versuche von Sidis und Kalmua stehen mit der letzterwahnten 
Beobachtung in Widerspruch, die Autoren erhielten beim Umriihren der 
Fliissigkeit (stirring the electrode liquid violently) mit einer geschionten 
und an den Handgelonken paraffinierten Hand keine Galvanometerschwan- 
kung; vermutlich, woil sic konzentrierte NaCl-Losung verwendeten. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 445 


Stellen wir uns aber vor, dass die Stromrichtung und -Intensitat 
von chemischen Qualitaten des Schweisses zum grossen Teile ab- 
hangen, so ist es einleuchtend, dass merkliche chemische Aende- 
rungen ein Schwanken des Stromes auch im Sinne einer Strom- 
intensitatsverminderung hervorzurufen vermogen. 

Der Beweis fiir die Richtigkeit dieser Annahme steht noch 
aus. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass in den Fallen der 
Stromintensitatssteigerung — ceteris paribus — die elektromoto- 
rische Kraft durch Vermehrung der (chemisch den vorhandenen 
gleichsinnig wirkenden) Sekrete vergrossert, bei Stromintensitats- 
verminderung durch entsprechende chemische Aendenmg der 
Sekrete verkleinert wird. Wieviel neben den so postulierten Aende- 
rungen der elektromotorischen Kraft die Widerstandsanderungen 
im Korper an diesen Vorgangen Anteil haben, wird noch besprochen 
werden. Es wird mein Bemiihen sein, den Gedanken, welcher sich 
aus dem Vorstehenden, speziell den Variationen der Strominten- 
sitatsanderungen, ergeben hat, dass dieselben chemische Qualitats- 
unterschiede der Hautsekretion zur Grundlage haben, welche 
durch zentrifugale nervose Vorgange erzeugt werden, weiter zu 
verfolgen. 

Ob und inwieweit die Gewebsfliissigkeiten als Glieder einer 
Konzentrationskette oder nur als Leiter in Betracht kommen, wird 
vorlaufig wohl nur schwer zu entscheiden sein. 

Ware das erstere der Fall, dann hatten wir es mit einer endo- 
somatischen Stromquelle bedingungsweise dann zu tun, wenn die 
Potentialdifferenzen in der Konzentrationskette innerhalb des 
Korpers grosser sind als die Potentialdifferenzen zwischen den 
Elektroden. Das Eintreten solcher Verhaltnisse ist kaum zu ver- 
muten. 

Beaehten wir aber die chemische Dignitat, welche den Metallen 
zukommt, die wir als Elektroden verwenden, so erscheint es ver- 
standlich, dass die Zersetzlichkeit der Oberflache bezw. ihre ver- 
schiedene Widerstandskraft gegeniiber den Einfliissen der Elektro- 
lyten zur Geltung kommen muss. 

Darin scheint der Unterschied begriindet, den die Zink- und 
Aluminium-Elektroden z. B. beim Wechseln in den Handen (Ver- 
such 4) gegeniiber den Nickel- und Goldelektroden zeigen. 

Zusammenfassend konnen wir also sagen, dass als Quelle der 
elektromotorischen Kraft die chemische Different der Metallelektroden 
und die Wirksamkeit der Hautsekrete . vor allem des Schweisses, in 
dieser Kette anzunehmen ist. 

III. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren? 

Die Stromschwankungen, welche sich in den Ruhekurven, in 
den Reiz- und Assoziationskurven in regelmassig wiederkehrender 
Form zeigen, konnen bedingt sein durch Veranderungen des Wider- 
standes oder durch Veranderung der elektromotorischen Kraft 
oder durch beides zusammen. 

30* 


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446 Albrecht, Experimentelle Untersuclningen iiber die 


Die Widerstandsverdnderungen konnen im Korper selbst und 
an den KontaktsteUen zustande kommen und aus einer grossen 
Beihe von verschiedenartigen Ursachen entstanden gedacht werden. 
Der Druck an den Elektroden bewirkt eine Vergrosserung der Ober- 
flache und vor allem eine Veranderung der Intensitat des Kon- 
taktes; durch den Schweiss erfolgt eine Durchfeuchtung der Haut- 
oberflache, welche die Leitung verbessert. Schliesslich' kommen 
nocb vasomotorische Vorgange, Aenderungen der Blutfiillung, 
Muskelinnervationen u. s. w. in Betracht. 

Die Veranderungen der eleletromotorischen Kraft konnen durch 
chemische und thermische Schwankungen hervorgerufen werden. 

Sommer hat bekanntlich das Hauptgewicht auf die Verande¬ 
rung des Widerstandes gelegt, welchen die unwillkiir lichen Be- 
wegungen der Finger und der Hand an den Elektroden bewirken 
sollen. 

Man ist imstande, durch willkiirlichen Druck, durch ausgiebige 
Bewegungen der Hande Veranderungen im Ausschlage zu erzielen 
(vergl. Versuch 2, p. 12). Diese Ausschlage sind aber oft lange 
nicht so gross wie die bei bewusstermassen locker gehaltenen 
Elektroden infolge eines sensoriellen Reizes entstandenen. Wie 
sollen da unwillkiirliche und unbewusste minimale Bewegungen 
einen grosseren Effekt zustande bringen, als in anderen Fallen aus¬ 
giebige Bewegungen, die mit Anstrengung verbunden sind? 

Sommers Annahme schien deshalb a priori bedenklich. Vera- 
guth hat durch die Anwendung von Plattenelektroden in der Hohl- 
hand, von Fingerhutelektroden, dann durch Kontrolle mittels einer 
Mareyschen Trommel den Einfluss von durch Druckschwankungen 
erzeugten Widerstandsanderungen ausgeschlossen. 

Um die Frage, ob es sich in den Stromschwankungen etwa 
nur um Widerstandsanderungen handle, ziffemmassig beant- 
worten zu konnen, wurde folgender Versuch gemacht. 

Versuch 14. 

Es wurde zuerst der Korperwiderstand mehrerer Versuchs- 
personen mittels der Wheatstone schen Briicke und Telephon ge- 
messen, und zwar unter Anwendung derselben Nickelgriffelek- 
troden wie bei den sonstigen Versuchen. 

Dabei fand sich: 

Versuchsperson Dr. A. 

bei warmen Elektroden und etwas schweissfeuchten 

Handen 1000—1500 Ohm 

bei lockerem Halten 5000 Ohm 

bei abgekuhlten Elektroden, trockenen, abge- 
kiihlten(blassen, kalten) Handen, nicht ganz 
sicher, aber bestimmt unter 10000 Ohm 

Versuchsperson Dr. R. 

bei normal warmen Handen 1500 Ohm 


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Grundlagen der sogenannten galvaniachen Hautelektrizitat. 447 

Gleich darauf wurde Dr. R. als Versuchsperson in den Galvano- 
meterkreis eingeschaltet, gleichzeitig in direkter Schaltung ein 
Widerstand von 500 000 Ohm. Dazu wurde ein Megohm-Rheostat 
von Carpentier in Paris mit Stopselung fur je 100 000 Ohm ver- 
wendet. Das Galvanometer zeigte einen Ausschlag von 7 cm, 
welcher gleichmassig ruhig bheb. Nach vier Minuten dreimaliges 
Handeklatschen. Zwei Sekunden darauf ein Ausschlag auf 8 cm, 
welcher allmahlich zuriickging. Es zeigten sich also die typischen 
Erscheinungen der Reizkurve. 

Der Ausschlag des Galvanometers in der Kurve betrug ein 
Siebentel des urspriinglichen Ausschlages. Ware diese Verande- 
rung des Ausschlages durch eine Widerstandsveranderung hervor- 
gerufen worden, so hatte dieselbe mehr als 70 000 Ohm betragen 
miissen. Dass diese Aenderung des Leitungswiderstandes in einem 
Korper, welcher nur wenige Tausend Ohm Eigenwiderstand be- 
sitzt, unmoghch ist, braucht nicht erlautert zu werden. Ebenso- 
wenig lasst sich nach dem Vorstehenden annehmen, dass die Aende¬ 
rung des Leitungswiderstandes iiberhaupt als das Wesentlichste 
fiir das Zustandekommen der Ausschlagsanderung unter Voraus- 
setzung der normalen Versuchsanordnung angesehen werden kann. 
Dass sich Widerstandsanderungen im Korper abspielen und dass 
diese auch in den psychogalvanischen Kurven zum Ausdruck 
kommen, braucht deshalb noch keineswegs angezweifelt werden. 

Damit fallt zunachst die Annahme Sommers. Es erscheint 
iiberhaupt zweifelhaft, ob sich eine Methode finden lasst, welche 
geeignet ware, in dieser Art galvanometrisch Ausdrucksbewegungen 
zu registrieren. Denn die anderen Ursachen der Stromschwankungen 
werden niemals so weit auszuschalten sein, dass man einen Schluss 
auf die eventuell auch wirksam gewesenen Ausdrucksbewegungen 
vomehmen konnte. Wir konnen im Gegenteil fiir eine grossere 
Exaktheit der Versuche in anderer Richtung dadurch sorgen, dass 
wir den Einfluss aller Ausdrucksbewegungen durch Anwendung ge- 
eigneter Elektroden moglichst ausschliessen. 

Es entstand nun die Frage, wieviel Widerstandsdnderung und 
wieviel Aenderung der elektromotorischen Kraft gleichzeitig in diesen 
Erscheinungen wirksam wird und in welchem Verhdlinisse diese zu- 
einander stehen. 

Hatten wir es mit der Berechnung zweier unveranderlicher 
Unbekannter zu tun, so ware die Beantwortung dieser Frage ver- 
haltnismassig einfach. Es wiirde sich darum handeln, durch be- 
stimmte Veranderungen in der Versuchsanordnung (z. B. Ein- 
schaltung verschiedener Widerstande) Zahlen zu gewinnen, welche 
uns die Aufstellung zweier Gleichungen, in denen beide Unbekannte 
enthalten sind, ermoglichen. Aus diesen Gleichungen liessen sich 
dann die beiden Unbekannten berechnen. Im vorliegenden Fall 
ist die gestellte Aufgabe aber dadurch hochst kompliziert, dass 
nicht nur die Grosse des Korperwiderstandes und die Grosse der 
elektromotorischen Kraft unbekannt ist, sondem dass sich auch 


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448 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

Schwankungen im Widerstande und in der elektromotorischen 
Kraft fortwahrend abspielen konnen und dass der Ablauf dieser 
Aenderungen sich in verhaltnismassig kurzer Zeit vollzieht. 

Es war deshalb notig, eine Versuchsanordnung zustande zu 
bringen, in welcher zwei Forderungen realisiert werden. Eine zu 
einem bestimmten Zeitpunkte vorhandene elektromotorische Kraft 
muss gleichzeitig in zwei Galvanometerkreisen, in welche ver- 
schiedene Widerstande eingeschaltet werden, zur Wirkung kommen 
konnen, und diese Verhaltnisse miissen nicht nur fiir einen be¬ 
stimmten Zeitpunkt bestehen, sondem durch langere Zeit erhalten 
bleiben 1 ). 

Zu diesem Zwecke wurde ein Stromwender hergestellt 1 ), 
welcher im wesentlichen folgendermassen konstruiert ist: 

Zwei Zahnrader aus Messing von 20 cm Durchmesser sind auf einer 
Achse isoliert befestigt. Zwischen denselben befindet sich eine Ebonitplatte, 
ai 1 welche sie derart angelehnt fixiert sind, dass aus den drei Teilen eine Art 
schmaler Trommel entsteht. Die Zahne der Rader (54 an jedem) sind soweit 
abgeschliffen, dass sie mehrere Quadratmillimeter grosse Flachen tragen, 
und derart gestellt, dass alternierend ein Zahn des einen Rades in der Hohe 
der Liicke des anderen steht und das Inter vail beinalie ausfiillt. 

Die Zuleitung des Stromes geschieht durch einen Schleifkontakt am 
Trommelrand, der so eingerichtet ist, dass er niemals gleichzeitig beide 
Rader beruhrt. Die Abteilung erfolgt durch Schleifkontakte an den Achsen 
der Rader in zwei Bahnen, in welche verschiedene Widerstande und Galvano¬ 
meter eingeschaltet werden. Schon bei langsamer Rotation der Trommel 
(eine Drehung in der Sekunde) sind die kleinen Unterbrechungen in den 
Galvanometern nicht mehr fvihlbar. Zur Erzielung eines gleichmassigen 
Tempos im Drehen ist an der Achse ausser der Kurbel ein Transmissionsrad 
angebracht, um die Bewegung von einem Motor iibertragen zu konnen. 
Die Gleichmassigkeit des Tempos ist deshalb von Wichtigkeit, weil durch 
plotzliche Beschleunigung Widerstandsiinderungen verursacht werden 
konnen, welche nach der Art der Versuchsanordnung nur in dem einen 
Galvanometer zum Ausdruck kommen und dadurch Fehler erzeugen konnten. 

Die Versuchsanordnung war demnach folgende (Fig. 1): 

Von der Elektrode H 2 fuhrt die Leitung zum Gleitkontakt des 
Stromwenders (SW). Von dem einen Zahnrad geht sie zum 
Megohmkasten (M. O.), von dort zum Galvanometer A und zuriick 
zu Elektrode H x (Stromkreis I). Von dem anderen Zahnrad geht 
die Leitung durch das Galvanometer B ohne Passieren eines weiteren 
Widerstandes zur Elektrode Hj (Stromkreis II). 

Fiir die Versuchsanordnung nach Veraguth wurde in den Strom¬ 
kreis eine Batterie von 1 oder 2 Leclanche-Elementen (Fig. 2 L) 
eingeschaltet und fiir das Galvanometer ohne direkte Widerstands- 
schaltung ein Shunt (NS)verwendet. Das Galvanometer B ist eben- 
falls ein Spiegelgalvanometer von Eddmann in Miinchen mit einem 

*) Herr Dr. Rozic, dessen wertvolier Unterstiitzung ich mich bei den 
folgenden Versuchen erfreute, hat der Akademie der Wissenschaften in 
Wien durch Herrn Hofrat Pfaundler eine Abhandlung iiber die Methode 
dieser Versuche vorgelegt, welche den Titel fuhrt: ,,Ueber eine Methode 
der gleichzeitigen Messung von elektromotorischen Kraften und inneren 
Widerstanden bei gleichzeitigen beliebigen kontinuierlichen Aenderungen 
derselben". 

*) Ausgefiihrt von Mechaniker Jersche-Graz, Attemsgasse. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 449 


Widerstand des beweglichen Systems von 9,4 Ohm und einer 
Empfindlichkeit von 1 mm = 7 • 10~ 8 Amp. bei 2 m Skalen- 
distanz. Dieses Galvanometer wurde, wie aus der Figur 2 ersicht- 
lich, bei den Untersuchungen nach den Anordnungen Veragutks 
in den Stromkreis I geschaltet, wahrend das Galvanometer A im 
Stromkreis II verwendet wurde. Letzteres ist namlich so empfind- 
lich, dass es bei diesem Versuche trotz Einschaltung von 1 Million 
Ohm einen Spiegelausschlag iiber das Ende der Skala erlitt. Im 
andem Kreise war es aber durch einen Nebenschluss von 0,1 bis 
1.0 Ohm verwendbar. 

Der Widerstand, welcher bei der Schaltung ohne korper- 
iremde Stromquelle eingeschaltet wurde, betrug meist 100 000 Ohm, 
der Widerstand bei der Anordnung Veraguth^OQ 000—1000 000 Ohm. 

Die Ablesung erfolgte in einer verhaltnismassig primitiven 
Art. Ein Metronom, welches auf 40 Schlage in der Minute einge- 
stellt war, also alle 1 y 2 Sekimden schlug, gab den tux den Fern- 
rohren Sitzenden denRhythmus an, inwelchem zwei neben denBeob- 
achtern sitzenden Personen diktiert wurde. Anfangs machte diese, 
von zahlreichen subjektiven Momenten abhangige Methode des 
Registrierens etwas Schwierigkeiten. Bald jedoch waren die Be- 
teiligten so eingeiibt, dass die Aufschreibungen als sehr verlasslich 
angesehen werden konnten imd ein nachtragliches Konstruieren 
von Kurven erlaubten. Ein Erperimentator und die Versuchs- 
person befanden sich im Nebenraum. Der Augenblick des Reizes 
wurde durch einen elektrischen Brummer angezeigt. 



H, X t X., Ji L 

Fig. 1. Fig. 2. 

A = hoehempfindliche8 Galvanometer. B = weniger empfindliches Gal¬ 
vanometer. MO = Megohmkasten. N S = Nebenschlusswiderstandskasten. 
S W = Stromwender. H = Elektroden. L = Elemente. 

Bevor eine Bewertung der mit dieser Versuchsanordnung er- 
haltenen Resultate vorgenommen werden konnte, war eine Eichung 


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450 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 


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des Apparatus an Ort und Stelle, eine Berechnung der Galvan o- 
meterkonstanten notwendig. 

Dieselbe wurde derart durchgefuhrt, dass an den Apparat in 
der Anordnung, wie sie Fig. 2 zeigt, eine elektromotorische Kraft 
nnd ein Widerstand, welche beide den durchschnittlichen Verhalt- 
nissen der Versuche mit Menschen entsprechen, angeschlossen 
wurden. Dies geschah folgendermassen: 


0 J 



— 

r 


s 


X V* - 

1 

« _ 

ft .— 

X 

i 


s 

A- 

0i 


I_J 

Fig. 3. 

Ein Akkumulator von 1,9 Volt Spannung, Fig. 3, K, wurde 
in direkter Schaltung mit einem Widerstand 1 und einem zweiten 2 
verbunden, welch letzterem im Nebenschluss der Apparat in der 
bekannten Anordnung, nur durch einen Widerstand 3, welcher 
dem des menschlichen Korpers entspricht, vermehrt, angeschlossen 
war. Der Widerstand 1 diente der Abschwachung bezw. Regulie- 
rung der Stromintensitat im ersten Kreise. 

Es wurden nun eingeschaltet bei 

1 1 000 Ohm 

2 33 „ 

3 5 000 „ 

4 100 000 „ 

5 6 „ 

Die Widerstande der Galvanometer sind: 

A = 740 Ohm 
B = 9,4 „ 

Die Bestimmung des Widerstandes x zwischen den Klemmen a 
und p ergibt sich mit Riicksicht auf den Galvanometerkreis B 
[K — 1 — p — o — Kund K — 1 — p — SW — 4 — B—3—a—K]. 
aus folgendem: 

Zwischen a und p steht ein Widerstand des Kastens 2, welchen 
wir nennen Wj = 33 Ohm, dann der Widerstand W 2 des ange- 
fiihrten Kreises im Nebenschluss, bestehend aus 
Widerstand 3 5 000 Ohm 

„ 4 100 000 

„ B 9,4 „ 

W 2 = 105 009,4 Ohm. 

11 1 W, • W 2 _ 33 • 105009,4 

x “ Wj + W 2 X _ Wj + W 2 _ 105 042,4 

x = 32,99. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 451 


TJnter Vernachlaasigung des ausserordentlich kleinen inneren 
Widerstandes im Akkumulator ist die Stromintensitat i x im Kreise 
K — 1 — 2 — K entsprechend der e. m. Kraft des Accumulators 
(E k ) und dem Widerstand des Kreises (W), welcher sich zusammen- 
setzt aus dem Widerstand in 1 und dem eben berechneten x 

. E k 1,9 

11 W “ 1032,99 

Dasselbe Verhaltnis muss bestehen zwischen einer unbe- 
kannten e. m. Kraft (e), welche zwischen a und p wirksamist, und 
dem Widerstand dieser Strecke (x). Demnach ist 

1,9 • 32,99 . A/tnnn TT 1. 

6 ~ 1032,99 “ 0,06079 Vo t ‘ 

Die Stromintensitat (i 2 ), welche wir am Galvanometer B ab- 
lesen, konnen wir nunmehr berechnen: 

- w ,- S - °' 0000006778 *■*»• 

Dies entsprach einem Ausschlage von 37,5 mm, woraus sich 
ergibt, dass [bei der Skalendistanz von 2 m] 

1 mm entspricht 0,00000001541, d. i. 1510~® Amp. 

Fur den Stromkreis, der durch das Galvanometer A geschlossen 

A 

/\ 

wird [K—1—p—a —K und K — 1 —p—S W —8— y — 3 —a —K] 
ergibt die Berechnung des Widerstande x t zwischen a und (3 : 

1 _ 1 1 W 3 = Widerstand von Kasten 3 + a 

x l Wj W 3 a = Widerstand zwischen y und 8 


_ W x • W 3 1 _ 1 1 v = Widerstand im Kasten 5 

' 1 — Wj + W 3 a ~ v ' v* v' == Widerstand im Galvanometer A 

x. = 32 • 783 a = V ' v< - = 5,952 Ohm 

v + v‘ 

W 3 = 5005,9 Ohm. 

Die Stromintensitat (j x ) im Kreise K — 1 — p — a — K ist 
diesmal: 

E k 1,9 

Jl = lOOO + Xj = 1032,78 

und dieses Verhaltnis muss wieder entsprechen dem Verhaltnisse 
einer unbekannten e. m. Kraft (e x ) zwischen a und (3 zu dem Wider¬ 
stande x x derselben Strecke. Daraus ergibt sich: 

Die Differenz zwischen e und e x erklart sich dadurch, dass die 
Klemmspannung bei Elementen sich mit dem eingeschalteten 
Widerstande andert. Sie wird um so grosser, je grosser der ein- 
geschaltete Widerstand ist. Bei offener Kette ist die e. m. Kraft 
am grossten. 


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452 


Albrecht, Experimentelle Untersuchiingen iiber die 


= 0,0000717 Volt. 


Nennen wir e 2 die e. m. Kraft zwischen 7 und 6 , so ist 

e 2 _ e t _ 0,06031 • 5,95 

a “ W; “ 5005,9 

Die Stromintensitat j 2 , welche wir am Galvanometer A al>- 
lesen, ist demnach: 

j 8 = = 0,0000000969 Ampere. 


Da dies 24 mm der Skala entsprach, so ist (bei 2 m Skalen- 
distanz) 1 mm = 0,000000004038 oder 410 —19 Ampere. 

Diese Berechnungen wurden durch Aenderungen von Wider- 
standen und durch Stromwendung kontrolliert. So wurde in 1 
statt 1000 der Widerstand 500 gesetzt und der den Korperwider- 
stand darstollende Kasten 3 nacheinander mit 10 000, 6000, 3000 
und 2000 gestopselt. 

Nehmen wir die Versuchsanordnung nach Fig. 1 auf und 
schalten wir eine Versuchsperson dadurch ein, dass sie die Elek- 
troden ergreift (der Stromwender befindet sich in regel massiger 
Bewegung), so bekommen wir in den beiden Galvanometem Aus- 
schlage, welche uns in einem bestimmten Zeitpunkte folgende Be- 
rechnung gestatten: 

Bezeichnen wir den Stromkreis, welcher durch das Galvano¬ 
meter A geschlossen ist, als Stromkreis I, jenen, welcher durch das 
Galvanometer B geschlossen ist, als Stromkreis II. 

E z sei die unbekannte elektromotorische Kraft, 

W x der unbekannte Korperwiderstand, 

Wj der Widerstand im Stromkreis I, 

Wj der Widerstand im Stromkreis II, 

Wj = W + 7 „ wobei W den Widerstand im Megohmkasten, 7 , den 

Widerstand des Galvanometers A bedeutet, 

W, = 7 b, das heisst dem Widerstande des Galvanometers B. 
i 2 sei die Stromintensitat im Stromkreise I, 
a t der Ausschlag des Galvanometers A, 

C» die Galvanometerkonstante des Galvanometers A. 
i 2 die Stromintensitat des Stromkreises II, 
a 2 der Ausschlag des Galvanometers B, 

C’b die Galvanometerkonstante des Galvanometers B. 


ii = C, • 
i, = r b • a.. 


E 

Nach der Ohmschen Formel I = ... ist nun 

vv 


ll = 


K* 


W, -f W x 


( 1 ) 

( 2 ) 


(3) 


i ^ 

2 W 2 + W x 

Da W 2 = 7 b und letzteres nur 9,4 Ohm ist, kann diese gegen 
W x verschwindend kleine Grosse vernachlassigt werden, und w f ir 
erhalten die Vereinfachung 


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Grundlagen der sogenannten galvaniachen Hautelektrizitat. 453 


la — 


E x 

w. 


(4) 


Durch Division von Gleichung 3 und 4 ergibt sich: 


= E x 
W x 
W, 
VV v 


W, + w x 

E x “ 


= - Wl +l 

w x ^ 


4i-i 

i. 




w x = T 


Wx ix 


(5) 


Aus Gleichung 4 erhalt man 

E* = W x • i, = W x • Cb • a 2 .(6) 

Setzt man in Gleichung 5 die Werte von Gleichung 1 und 2 
ein, so wird 

W t • C a • a t 


W x = „ 

Cb * — C a * 

und da bei unseren Galvanometem 

Ca = 4 • 10- 8 
Cb = 15- 10- 9 , 

so ergibt sich 

W, • 4 • Wj-a, 


0) 


W x = 


( 8 ) 


15a 2 4a L 3,75 a^ 1- aj 

Bei der Versuchsanordnung nach Fig. 2 geht der Stromkreis I 
durch den Megohmkasten und Galvanometer B. Hier ist also 

Wx = W + Tb , 

wobei f b vemachlassigt werden kann, 

11 = C b • a 2 .(9) 

Der Stromkreis II hingegen wird bei N S gespalten und geht 

zum Teil durch den Nebenschlusswiderstand W n , zum Teil durch 
das Galvanometer A. Bezeichnen wir den ersteren Teil mit i n , den 
letzteren mit i a , so ist 

1 2 = i* + in.(10) 

Nach dem Gesetze der Stromteilung ist 

u Wn 

7» 


*a 

in 


In = 


la * 7a 

w n 


Setzt man diese Formel in Gleichung 10 ein, dann erhalt man: 

= u ( 1 + wj 

• W„ + 7a 
*’ W„ 


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454 Albrecht, Experimentellc Untersuchungen fiber die 


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Analog den Gleiehungen 1 und 2 ist hier i a = C a . a l9 daher 
i, = C.a,. W “ + 1 > 


Fasst man 


C.- 


W„ 
W„ + 7a 

w n 


als eine fiir jeden Versuch bestimmbare Konstante heraus und 
bezeichnet diese mit C a ’ so ist 

i 2 = <V ai . (11) 

Setzt man nun in Gleichung 5 die Werte von Gleichung 9 
und 11 ein, so erhalt man 

W « = W -C.“a^-V ! _.< 12 > 

Fiir die Verhaltnisse unserer Galvanometer und die in den 
folgenden Versuchen verwendete Grosse von W n = 1 lasst sich 
berechnen: 

CV = C a • Ta = 4 • - 1 - + . 740 • 10 - 9 


W„ 

Ca' = 2964 • 10 - B . 
Aus Gleichung 12: 

W x = W, • - 


1 


15 a. 


(13) 


2964 a t — 15 a 2 

und bei Vernachlassigung von 15 a 2 im Nenner: 

w 1** ‘ a 2 n • a 2 

Wx = 2964 = °' 00 ^ 06 ^ • • 

Will man die Ungenauigkeit, welche durch Vernachlassigung 
des kleinen Faktors Cb - a 2 im Nenner der Gleichung 12 entstunde, 
verringern, so kann man eben mit Rucksicht auf diese Kleinheit 
des Wertes die Gleichung 12 umwandeln in 

W « = W ''§|( 1+ S'al) • • ' ' > 14 > 

und erhalt durch Einsetzen der oben angefiihrten Werte und von 

Wj = 600 000 


W x = 3040 ^ (l + 0,005 


Setzt man in Gleichung 6 die Werte von Gleichung 14 und 
Gleichung 11 ein, so erhalt man 

E, = W,. Ct .a i (l-^“;) .... (15) 

und nach Einsetzen der fiir die folgenden Yersuche geltenden Ver¬ 
haltnisse 

Ex — 0,009 a., | 1 !- 0,005 - 2 ) 


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Grundlagen der sogenamiten galvanischen Hautelektrizitat. 455 

Die Anwendung dieser Formeln 8toast aber noch auf gewisse 
Schwierigkeiten, welehe wir am beaten erkennen, wenn wir einen 
Versuch analysieren wollen. 

Die iolgende Figur 4 stellt, wie alle weiteren, zwei Kurven 
dar, welehe dadurch erhalten worden sind, dass die in der vorhin 
(S. 27) angegebenen Art an beiden Instrumenten gleichzeitig ab- 

Versuch 15. 

13- 


11 - 


10 - 



Fig. 4. 


gelesenen Galvanometeraussch 1 age auf Millimeterpapier aufge- 
tragen werden. Die Abbildungen sind auf die Halfte verkleinert. 
Die unten fortlaufenden Marken bedeuten die Absatze von je 
iy 2 Sekunden. An der linken Seite sind in der Ordinate die 
Skalenzentimeter angegeben, wenn keine getrennte Notierung er- 
folgt, fiir beide Kurven gemeinsam. 

Versuchspereon Eman. K., 14 Jahre alt, Goldelektroden in 
den Handen. Galvanometer A (liniierte Kurve), mit 100 000 Ohm, 
direkt geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Shunt, 
also Anordnung nach Figur 1. Eine Beizmarke fehlt in diesem 
Falle, weil die Kurve folgendermassen entstand :,Nach einer langeren 
Reihe von Versuchen mit stets wechselnden Reizen wurde wieder 
ein Versuch eingeleitet. Die Versuchspereon wurde, wie sie nach- 
traglich angab, durch ein Gerausch im Neben- (Experimentier-) 
Zimmer aufmerksam, dass nun wieder ein Reiz folgen wiirde. Im 
Zusammenhange damit entstand der Ausschlag in den Galvano- 
metern. 

Betrachten wir zunachst die beiden Kurven. Sie sind nur ein 
Abschnitt aus einem grosseren Bilde, dessen Darstellung zwecklos 
ware, weil die punktierte und die liniierte Kurve vorher 
und nachher durch langere Zeit ohne wesentliche Schwankungen 
in annahernd gleicher Entfernung voneinander verlaufen. Wir er¬ 
halten also den im Beginn des Vereuches durchschnittlich gultigen 
Wert von E und W, wenn wir die Ausschlagsgrossen des (unten 


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456 Albrecht, Experimented Untersuchungen iiber die 


ziffemmassig bezeichneten) Punktes 1 der Berechnung durch die 
Formeln 6 und 8 (S. 31 u. 32) zugrunde legen. Das ergibt: 

W = 12826 Ohm 1 ) E = 0,016353 Volt 1 ). 

Es ware nun sehr naheliegend, nach denselben Formeln die 
weiteren Punkte 2 bis 14 zu berechnen und aus den absoluten 
Zahlen Kurven zu konstruieren, welche uns die graphische Dar- 
stellung der tatsachlich in der angegebenen Zeit vor sich gegangenen 
Veranderungen der beiden Variablen E und W ergaben. Das geht 
aber leider nicht. Es ware in dem Falle moglich, wenn der Galvano- 
meterausschlag in jedem Augenblicke der im gleichen Zeitpunkte 
bestehenden Grosse von J entsprechen wiirde. Konstruiert man 
sich aber Kurven, indem man bei einer Versuchsanordnung, wie 
in Fig. 3, aus einer Ruhelage plotzlich eine einmabge Veranderung 
der elektromotorischen Kraft oder des Widerstandes vornimmt, 
so sieht man sogleich deutlich die Wirkung zweier bisher unberiick- 
sichtigter Galvanometerkonstanten: Der Schwingungsdauer und 
des Dampfungsquotienten. 

Das Galvanometer A braucht, um aus der ersten Ruhelage, nachdem 
eine einmalige plotzliche Stromanderung wirksam geworden war, eine 
zweite Ruhelage zu finden, 20 Sekunden und macht diesen Weg in Form 
einer verschieden steilen, gegen Ende allmahlich in einen flachen Bogen 
iibergehenden Kurve. Es geht also aperiodisch in die zweite Ruhelage, 
und zwar bei einer Schwingungsdauer von 20 Sekunden. Das Galvanometer 
B hingegen schwingt unter gleichen Verhaltnissen iiber die zu erreichende 
zweite Ruhelage hinaus und gelangt in dieselbe erst, nachdem es mehrmals 
in immer kleineren Strecken um dieselbe gependelt hat. Aus dem Verhalt- 
nisse dieser Strecken zueinander berechnen wir den Dampfungsquotienten 
= 4. Die Schwingungsdauer des Galvanometers ist 22—30 Sekunden, je 
nach der Grosse des Ausschlages. Die Kurven, welche wir derart erhalten 
haben, sind also bei den uns zur Verfiigung stehenden Galvanometern nicht 
nur ungleich, entsprechend der Verschiedenheit im Baue der Instrumente, 
sondern sie steilen iiberhaupt etwas dar, was sich nicht in direkten Zusammen- 
hang mit Stromanderungen bringen lasst, namlich die Wirkung der Strom- 
ander ungen auf das Galvanometer. Wir sind gewohnt, aus der Grosse des 
Galvanometerausschlages die Stromintensitat schlechtweg abzulesen. Das 
gilt bei solchen Galvanometern fur die Ruhelage, aber nicht fur die einzelnen 
Punkte der Kurve. Denn das, was sich bei einer einfachen Stromanderung 
aus den Endpunkten solcher Ausschlagsbewegungen (der zweiten Ruhelage) 
berechnen lasst, hat sich tatsachlich schon im Beginne des Ausschlages voll- 


1 ) Die Berechnung des Punktes 1 vollzieht sich folgendermassen: 


Wx = 


W, a t 

3,75 a, — a x 


Wx = 


100 740. 36 _ 3 626 640 

~ 3.75.85—36 “ 282,75 

= Wx . C b . a, 

= 12 826. 15. 10-9. 85 
= 1 635 3150. 10-9 


W 100 000 
?a 740 
= 100 740 Ohm 
= 36 mm 
= 85 mm 

1 = 12 826 Ohm 


= 0,016353 Volt. 

Die zwei letzten Dezimalstellen konnen hier wie in den folgenden 
Zahlen nicht als genau angesehen werden, man liat also mit rund 12 800 Ohm 
und 0,0163 Volt zu rechnen. 



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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 457 


zogen. Alias, was dazwischen. liegt, ist nur eine Folge der Eigentiimlichkeit 
des Instruments. Um diese moglichst auszuschalten, ist es notig, bei unseren 
Versuchen Galvanometer zu verwenden, deren Spiegel sozusagen unmittel- 
bar den Aenderungen der Stromintensitat folgen; also aperiodiseh mit einer 
Schwingungsdauer tunlichst = 0. Sind beide Galvanometer vollkommen 
gleich konstruiert, so sind jene Voraussetzungen gegeben, unter denen man 
eine detaillierte Berechnung der dann zu erhaltenden Kurven vornehmen 
kann. Ich werde mich bemiihen, eine solche Versuchsanordnimg mit Saiten- 
galvanometern zustande zu bringen 1 ). 

Bei der Bewertung unserer bisherigen Resultate werden wir 
unter Anwendung der eben gegebenen Ueberlegungen demnach 
eine grosse Vorsicht walten lassen miissen. 

Betrachten wir uns die Kurven der Figur 4, so konnen wir 
folgendes feststellen: 

Von P. 2 an beginnt in der liniierten Kurve ein Anstieg, welcher 
in P. 6 seine Hohe erreicht hat. Im Verlaufe dieses Anstieges sind 
Ungleichheiten zu verzeichnen, denen mit Riicksicht auf die Art 
der Ablesung eine genaue Bewertung nicht zuteil werden kann. 
Nach P. 6 folgt ein Abfall auf eine durchschnittliche Hohe wie 
zwischen P. 9 und 12, der weitere Verlauf der Kurve vollzieht sich 
also auf einer hoheren Lime als vor Beginn des Ausschlages. 

In der punktiertenKurve beginnt ebenfalls inP. 2 einAusschlag, 
welcher nach P. 5 flacher wird, einige nicht zu bewertende Schwan- 
kungen passiert und im P. 8 von einem deutlichen Abfall abge- 
lost wird. Der weitere Verlauf der Kurve erfolgt wieder, etwa von 
P. 12 an, in einer hoheren Linie als vor Eintritt des Ausschlages. 

Der im Stromkreis I (G. M. A, liniierte Kurve) eingeschaltete 
Widerstand von 100 000 Ohm ist so bedeutend, dass Schwankungen 
im Korperwiderstande, den wir fiir P. 1 mit ca. 13 000 Ohm be- 
rechnet haben, nicht zur Geltung kommen konnen, zum mindesten 
nicht in einem Masse, dass ein Ausschlag bis 60 mm, wie in P. 6, 
resultieren konnte. Wir konnen daher mit Sicherheit sagen, dass 
in P. 2 eine Aenderung der elektromotorischen Kraft eingesetzt 
hat. Um dieselbe zu berechnen, haben wir wieder je einen Punkt 
der liniierten und der punktierten Kurve zueinander in Beziehung 
zu bringen. Die liniierte Kurve entspricht dem aperiodischen 
Galvanometer A. Der hochste Punkt derselben liegt 4 Zeitmarken, 
also 6 Sekunden vom Beginne des Ausschlages entfernt. Aus 
unseren Kontrollversuchen wissen wir, dass bei einfachen Strom- 
intensitatsanderungen nach 6" die Hohe der 2. Ruhelage noch 


*) Bei den zahlreichen Versuchen, einwandfreie ziffernmassige Ana- 
lysen der Kurven durchzufiihren, war es mir gelungen, aus einer grosseren 
Reihe von Experimenten und den entsprechenden Berechnungen zu kon- 
statieren, dass die Tangente des Ausschlagswinkels in der Kurve unter Be- 
riicksichtigung gewissor Konstanten den Stromintensitatsanderungen pro¬ 
portional ist. Diese Konstanten liessen sich fiir die aufsteigenden und die 
absteigenden Schenkel der Kurven fiir jedes Galvanometer feststellen. Eine 
praktische Verwertung dieser Methode war aber nicht moglich, weil die 
Messung der Winkel in den Versuchskurven viel zu unsichere Zahlen ergab 
und, wie Kontrollversuche bewiesen, grosse Ungenauigkeiten zutage 
forderte. 


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458 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die 


nicht erreicht ist, dass der Fehler an dieser Stelle etwa 33 pCt. aus- 
raacht. Wenn wir also den P. 6 der Berechnung zugrunde legen, 
so haben wir noch einDrittel derAusschlagsgrosse hinzuzurechnen 
und mit einer supponierten Hohe von 68 mm weiter zu rechnen. 
Die punktierte Kurve entspricht dem Galvanometer B, welches 
einen Dampfungsquotienten = 4 besitzt und in der 6. Sekunde 
des AusschJages die Hohe der nachsten Ruhelage erreicht hat. Die 
hochsten Punkte der Kurve diirften also der intendierten Ruhelage 
entsprechen, und wir konnen die Hohe von 134 mm ala durchschnitt- 
liches Mass der Ausschlagsgrosse in Rechnung ziehen. Daraus 
erhalten wir 

W = 15766 Ohm E = 0,03169 Volt. 

Das bedeutet eine Zunahme der elektromotorischen Kraft um fast 
100 pCt., wahrend gleichzeitig eine Zunahme des Widerstandes 
um etwa 25 pCt. zu verzeichnen ist. Ob diese Aenderungen sich 
als einmalige im Momente des Beginnes des Ausschlages (P. 2) voll- 
zogen haben oder allmahlich entstanden sind, lasst sich nicht be- 
stimmt aussprechen. Nach der Form der Kurven bezw. ihrer Aehn- 
lichkeit mit den betreffenden Vergleichskurven, ist das erstere zu 
vermuten. 

Fast ebenso plotzlich wie in P. 2 der Anstieg, erfolgt in P. 6 
ein Abfall der liniierten Kurve. Wir konnen daraus auf eine Ver- 
minderung der elektromotorischen Kraft schliessen. In der punk- 
tierten Kurve erfolgt der Abfall erst zwei Zeitmarken spater. Wir 
wollen auf diese Differenz gegeniiber der liniierten Kurve hier nicht 
eingehen, sondern begniigen uns, die Werte fur W und E nach Er- 
reichung einer gleichmassigen Hohe in P. 14 zu berechnen. Wir 
erhalten dabei 

W = 11710 Ohm E = 0,01844 Volt. 

Vergleichen wir diese Zahlen mit den fur die Punkte vor Beginn 
des Ausschlages berechneten, so finden wir, dass nach dem letzteren 
eine geringe Vermehrung der elektromotorischen Kraft und eine 
ebenfalls geringe Verminderung des Widerstandes bestehen bleiben. 

Andere Verhaltnisse finden wir inVersuchl6 (siehe S. 459). 

Versuchsperson Sophie H., 18 Jahre alt. Nickelhandelek- 
troden. Galvanometer A (Uniierte Kurve), mit 100 000 Ohm direkt 
geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Widerstand. 
In R. der Reiz: Schuss aus einer Kinderpistole. 

Hier tritt im Augenblick des Reizes, bezw. knapp nach dem- 
selben, ein starker Anstieg der punktierten Kurve ein, wahrend 
die liniierte annahernd in gleicher Hohe bleibt. Das sagt uns, dass 
hier keine Veranderung der elektromotorischen Kraft, sondern eine 
solche des Widerstandes, und zwar eine bedeutende Abnahme des- 
selben vor sich gegangen ist. Erst im P. 5, also 6 Sekunden nach 
dem Reiz tritt ein lebhafter Anstieg der liniierten Kurve ein, es 
vollzieht sich also eine Vermehrung der elektromotorischen Kraft. 
Eine solche sollte ebenfalls zu einem Anstiege der punktierten 


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Grundlagen der sogenannten galvaiuschen Hautelektrizitat. 459 


Ver&uch 16. 

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Fig. 5. 

Kurve fiihren. Wir sehen aber eigentiimlicherweise im Gegenteil 
gleichzeitig eine Abflachung und den Beginn eines Abfalles der 
punktierten Kurve, was uns schliessen lasst, dass mit der Ver- 
mehrung der elektromotorischen Kraft eine Vermehrung des 
Widerstandes eingesetzt hat. Der weitere Verlauf der liniierten 
Kurve halt sich, wenn wir von kleinen Schwankungen, die wir 
ausserhalb unserer Bechnungen lassen mussen, absehen, in beilaufig 
gleicher Hohe, wahrend in der punktierten Kurve noch lebhafte 
Bewegungen erkennbar sind, welche wir als Ausdruck von Aende- 
rungen des Widerstandes auffassen mussen. 

Zur Berechnung konnen wir folgende Punkte wahlen: P. 1 
gibt uns den Zustand vor Eintritt der Beizwirkimg an. Wenn wir 
auf die Dampfungsverhaltnisse des Galvanometers B Riicksicht 
nehmen, werden wir ebenfalls die Ausschlagsgrosse aus der in der 
6. Sekunde erreichten Hohe bemessen und demnach die Verande- 
rung, welche sich zwischen P. 1 und P. 5 vollzogen hat, am besten 
aus P. 5 berechnen. Die Zahlen fiir die Aenderung, welche in P. 5 
einsetzt, sind schwer zu berechnen. Die Steilheit der liniierten 
Kurve zwischen P. 5 und P. 6 lasst annehmen, dass die im P. 5 
einsetzende Veranderung so gross war, dass sie einen dem Aus- 
schlagwinkel entsprechenden, noch weit hoheren Anstieg der 
Kurve verursacht hatte, wenn nicht in P. 6 schon wieder eine 

MoutaMinlft tflr P»ychl»trie and nwmdoglc. Bd. XXVII. Halt 6. 31 


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460 


Albrecht, Experiinentelle Untersuchungen etc. 


Aenderung einsetzen wiirde, deren Resultante der relativ gleich- 
massige weitere Verlauf der liniierten Linie ist. In der punktierten 
Kurve hingegen beginnt schon im P. 5 die Wirkung einer Abwarts- 
bewegung, welche bis P. 12 weitergeht, so dass wir liir alle da- 
zwischen liegenden Punkte keine korrespondierenden Werte der 
beiden Kurven annehmen konnen. Es wird also erst P. 12 eine 
Stelle darstellen konnen, welche eine ziffernmassige Beurteilung 
gestattet. 

Wir erhalten dabei: 

Punkt W E 
1 19 454 0,05865 

5 11 815 0,05582 

12 17 806 0,06544 

Diese Zahlen unterscheiden sich einigermassen von denen im 
vorigen Versuche. Der Korperwiderstand ist hier unbedeutend 
grosser (12 000—19 000 gegen 12 000—16 000 Ohm), wesentlich 
grosser ist aber die elektromotorische Kraft in diesem Versuche 
gegen den vorigen (0,056—0,065 gegen 0,016—0,032 Volt). Die 
Verminderung des Widerstandes zwischen P. 1 und P. 5 betragt 
37 pCt., die Vermehrung der elektromotorischen Kraft zwischen 
P. 5 und P. 12: 17 pCt. Die Zahlen bestatigen uns weiter die Tat- 
sache, dass mit der Vermehrung der elektromotorischen Kraft 
eine Vermehrung des Widerstandes einhergeht und umgekehrt, 
eine Tatsache, welche wir schon aus der blossen Betrachtung der 
Kurven zum Teil erkennen konnten. Zu ihrer weiteren Ulustrie- 
rung diene noch folgende Ueberlegung: 

Wir sehen zwischen P. 1 und P. 5 ein leichtes Ansteigen der 
liniierten Kurve. Fiir den P. 1 haben wir einen Korperwiderstand 
von 19454 Ohm berechnet, der Apparatwiderstand im Stromkreis I 
betragt 100 740 Ohm, also der Gesamtwiderstand imP. 1 1200000hm. 
Im P. 5 haben wir einen Widerstand des Korpers von 12000 Ohm, 

7 1 

also eine Verminderung des Gesamtwiderstandes um 

Diese Aenderung miisste ein Ansteigen der liniierten Kurve um 
7 mm bewirken, wenn nur eine Verminderung des Widerstandes, 
keine Veranderung der elektromotorischen Kraft vor sich geht. 
Die Dampfung des Galvanometers verhindert allerdings, dass inner- 
halb 6 Sekunden die Bewegung restlos durchgefiihrt ist. Allein 
diese Hemmung kommt dem gegenuber gar nicht in Betracht, 
dass in der angegebenen Zeit nur eine Steigerung von 3 mm und 
in den letzten 1% Sekunden sogar ein Zuriickgehen um 1 mm beob- 
achtet wird. Wir konnen also schon aus dem Verlauf der Kurven 
auf den Zusammenhang zwischen den Aenderungen von Wider¬ 
stand und elektromotorischer Kraft schliessen. 

(Schluss im nachsten Heft.) 


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Breso wsky , Leber die Beziehungen etc. 


461 


(Aus der psyohiatrisohen Klinik der kgl. Charit4 
[Geh. Rat Prof. Ziehen ] in Berlin.) 

Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallueinatoria 
(Westphal) zur Amentia (Meynert). 

Von 

Dr. M. BRESO WSKY 

in Jurjew (Dorpat). 

(Forteetzung.) 

Eigene Beobachtungen. 

I. M. Te., 20 Jahre, Paranoia acuta hallueinatoria. 

Keine Hereditat, Entwicklung normal, Ehe seit 1908, am 20. II. 
kiinstliche Friihgeburt, vaginaler Raise rschnitt. Patientin soli von jeher 
etwas still und hypochondrisch gewesen sein. Sohwangersohaftsnephritis, 
vor 2 Jahren herzkrank in der Charity. 

II. III. 1909. Keine Spontanausserungen, antwortet kaum auf Fragen, 
Aufforderungen werden langsam, aber meist riohtig befolgt. 

12. III. Auf Fragen zun&chst keine Ant wort, dann werden vor- 
gezeigte Schliissel naeh vielen abortiven Mundbewegungen schliesslich 
riohtig bezeiohnet. 

13. III. Eingenasst. Dasselbe Verhalten. 

15. III. Entlassen (auf Wunsch der Angehorigen). 

Nach der Entlassung derselbe Zustand wie im Krankenhause — lag 
zu Bett, sprach kein Wort — hochstens Nicken — verunreinigte sich. Kraf- 
tigte sich, Appetit befriedigend. 

10. IV. Seit einer Woche ausserte sie fortwahrend Verfolgungs- 
ideen: „Wer singe denn da, alles korarae hinter ihr her, wenn sie die Schub- 
lade aufziehe, springe ihr alles entgegen.“ Schlug ofter nach dem Mann. 
Vor 3 Tagen ging sie mit der Sohwester aus; unterwegs behauptete sie, alle 
Leute sahen sie an, lachten iiber sie, zeigten auf sie. Zu Hause erzahlte sie, 
in der Elektrischen hatte ein Pferd gesessen; als derWagen der Strassenbahn 
voriiber fuhr, sagte sie: da singen sio schon wieder, Grabgesange, der Sarg 
sei zu klein, bis hierher (auf den Hals zeigend) miisse die Gurgel weg. Gestem 
abend rief sie: ,,Schlagt mich doch tot‘\ als sie von ihren Verwandten fest- 
gehalten wurde, weil sie allerlei entzwei schlug. Sie hatte sich dariiber ge- 
argert, dass die andem iiber ihre wirren Reden lachten. 

Behauptet, sie sei in ihrer Wohnung von Kutschem mit Peitschen ge- 
schlagen und mit Presskohlen beworfen worden, auch von zwei ihr bekannten 
Frauen bespuckt worden. Gestern vormittag ergriff die Pat. ein Messer 
und fiihrte es an den Hals. Aeusserte gestern: ,,Hier muss die Gurgel durch, 
der Sarg ist zu klein. “ Gegen Mittag zorbrach sie eine Tasse und steckte 
eine Scherbe in den Mimd und zerbiss sie. Seit gestem motorische Unruhe, 
Zerstorungsdrang. Erzahlte, sie wollte Petroleum auf den Tisch giessen und 
anstecken, weil alle sie mit ihren Handen angefasst hatten. 

Pat. erweist sich als orientiert, gibt an, sie habe sich verfolgt geftihlt — 
fortwahrend habe ein Phonograph gesungen: ,,l)a bist du ja“, die Pflege- 
frau habe gesungen: ,,Die Eltem stehen am Grabe tk u.s. w., die Leute hatten 
gepfiffen, Leierkasten, Harmonikas, Geigen und Mandolinen gespielt, 
ausserdem hatte sie Stimmen gehort, in der Nacht und am Tage. Manchmal 
sei ihr ganz klar gewesen, dann aber hatten plotzlich die Stimmen dazwischen 
gesprochen, dann hatte sie sich geargert. Beim Waschen hatte das Wasser, 
die Soda, das Feuer gesungen. Auf der S trasse hatten die Leute iiber sie gelacht, 
hatten sie festgehalten, um ihr Kleid zu zerreissen (Angst ?) ,, Ja, die Stimmen 
sagen: ,Ich habe sie zersagen lassen und von ihren Knochen gegessen, nun 
sei die ganze Welt in Aufruhr. Sie hatte viel gelogen." Pat. halt sioh fiir 
krank, halt die Stimmen fiir krankhaft, erinnert^sich genau der Suicid- 

31* 


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462 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


versuche, meint, sie hatte sich geargert. (Waruin die Kehle durchschneiden 
wollen?) „Die Stimmen hatten immer gesungen: der Sarg ist viel zu klein, 
als sie nach dem Trauerzuge habe sehen wollen, sei er schon weg gewesen. 
Da habe sie gesagt, man solle ihr nur die Kehle durchschneiden, damit der 
Sarg passe. Auch die Arme soil ten abgeschnitten werden. 44 Status corporis: 
Unbefriedigender Emahrungszustand, sonst kein Befund. 

13. IV. (Hier schon Stimmen ?),, Ja, es wurde fortwahrend gesungen, 
die Warterinnen und Kranken haben alle gesungen. “ Dauemd ruhiges Ver- 
halten. Beim Besuch bricht sie plotzlich ab: ..Das Bild sagt, ich soli nicht 
sprechen und nicht essen. 44 Die Vogel sangen, die Siindflut kame iiber sie, 
sie fiihle sich von den anderen ausgelacht, sie habe Angst, weil aUes an ihr 
vorbeirenne. Personenverwechslungen, haufig Eigenbeziehungen. 

15. IV. Sehr angstlich. Gestem sei eine Tante dagewesen, von deren 
Tod sie schon zu Hause eine Anzeige erhalten habe. Wiederholt die gestrigen 
Voretellungen. Orientiert. Personenverwechselung. 

16. IV. „Es kommt ja doch bald die Siindflut oder ein Erdbeben. 
Auch die Bilder alle deuten das. Und auch zu Hause haben wir immer die 
Wasserleitung aufgedreht und das Wasser ist immer unter den Betten weg- 
geflossen. Alles hat sich gedreht. 44 Behauptet, auf dem Korridor fahren 
Maschinen und summen Drahte. ,,Es ist, als wenn alles voll Elektrizitat 
ware, als wenn ich elektrisch aufgezogen bin. 44 

(Konnte das nicht Einbildung undKrankheit sein ?) ,,Nein, ich denke^ 
es ist keine Krankheit. 44 — Menses. 

18. IV. Pat. verunreinigt sich mit Stuhlgang. Hehauptet: „Sie 
spucken alle fiber das Bett, werfen die Lappen heriiber. Alles singt, alle sind 
weggelaufen. “ Wiederholt die alten Wahnvorstellungen. 

19. IV. Heute viel ausser Bett. Behauptet, alles renne an ihrem Bett 
vorbei, sie hatten gesagt, sie diirfe nicht bleiben, miisse fort,, daher miisse 
sie aufstehen. (Warum aufstehen ?) „Sielaufen alle fort und singen. 44 (Waa 
denn ?) ,,Weisst du, wie viel Bliimchen stehen, 44 alles dreht sich um, von 
mir weg, alles lauft weg, und ich bleibe hier allein, dann giessen sie immer mit 
Eimem, fortwahrend wird gewischt. Dann wird immer gerufen, wir sind 
steinreich. Ich habe niemals gesagt, dass wir reich sind (weint). (Pat. am 
andem Ende des Saales haben in der Unterhaltung ,,steinreich 44 gesagt.) 
[Warum weinen ?] ,,Weil alles weglauft, da wollte ich hinterher, da sind sie 
erst recht weggelaufen, fingen an, zu husten und zu schnauben . . . Die 
Kranken beobachten alles ... Es sei ihr so, als ob der ganze Saal tanze, 
auch das Bett werde viel geriickt, alles gehe hoch und herunter. [Auch nachts 
bemerkt ?] „Ja, da ging es immer so, als ob ich im Schiff bin, schaukeln.“ 
[Krank ?] „Ich fiihle mich nicht krank, aber bestandig verfolgt. Ich weiss 
gar nicht, was das bedeuten soli. 44 — Orientiert. 

21. IV. Weint, es gehe ihr gar nicht gut, sie sehe Bilder. ,, Jetzt singen 
alle, da wird wohl niemand mehr kommen, der mich holt. 44 Orientiertheit 
vollstandig intakt. 

25. IV. Weint, es sei wieder alles so fortgelaufen und aufgesprungen, 
so dass sie doch gedacht habe, die Siindflut komme, sie glaube aber mcht 
daran. 

26. IV. [Krank?] ,,Nein. 44 Vielfach Eigenbeziehungen. 

28. IV. Pat. weint heute. Die Eier seien so gezahlt worden, als ob 
sie gestohlen hatte. Im Garten habe alles nach oben gesehen, nun glaube sie 
doch, dass die Siindflut komme. Alles hatte vom Schinken gesungen, den 
sie ihrem Vater weggegessen hatte. Verweigert die Nahrung, weil sie doch 
nichts gestohlen habe. Ihr sei vorgeworfen worden, sie habe im Zoologischen 
Garten zwei Baren gegessen (gestem im Bilderbuch gesehen). 

29. IV. Sagt heute selbst: ,,Ich beziehe alles auf mich. 44 Alle sangen. 

30. IV. ,,Alle singen immer, dass ich gestohlen habe, dass ich den 
Kaiser beleidigt habe; mir wird immer angstlich, wenn alles singt . . . 4t 
[Was sagen sie wortlich ?] „Frl. Schmidt soli die Franzosenkonigin sein und 
soli sich nicht von mir erschiessen lassen (lacht dabei); als ich heute auf stand, 
da war es ganz heiss hinter mir, da war ein Berg, und alles bewegte sich. Wo 
ich hinging, da kam der Berg mit. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


463 


4. V. Wieder Stimmen und Bilder. 

7. V. Pat. meint, sie achte gar nicht darauf, wenn sie etwas singen 
hore. Keine Stimmen. 

11. V. Pat. sagt, es komme ihr so vor, als wenn alie sie verfolgten, 
aie hatten alle an ihr etwas auszusetzen. Fugt selbst hinzu, sie bilde sich das 
nur ein. 

21. V. Zunehmende Besserung, keine Angst, nur ab und zu ein wenig: 
,,Wenn alle im Garten durcheinander liefen. Aber ich habe mich immer 
wieder iiberzeugt, dass alles auf ganz natiirliche Weise zuging. 44 

24. V. Pat. fuhlt sich sehr wohl, negiert jede Angst und Wahnvor- 
stellung. Orientiert. Lacht iiber ihre friiheren Gedanken von Sundfiut, 
iiber das Sehen von Gestalten. 

Retrospektive Angaben am 12. VI. 

1. Aufnahme. Pat. war anfangs mutistisch, weil sie durch die grosse 
Zahl der Aerzte verangstigt war, war iiber Zeit und Ort orientiert. Bei der 
Fahrt nach Hause mit dem Krankenwagen war es ihr, als ob allerhand mit- 
liefe. Schon vorher hatte sie ein unbestimmtes Angstgefuhi. Zu Hause war 
es, als ob die Gardinen brannten, dann hat sie lautcr Kutschen fahren sehen, 
ihr Mann sei mit anderen in eine Droschke gestiegen. Dabei Stimmen: 
„Mein Mann verheiratet sich noch einmal.“ ,,Manchmal war mir, als ob ich 
nicht zu Hause ware, sondern auf dem Wasser; manchmal glaubte ich auf 
dem Kirchhof zu sein, namentlich am Abend/' Dann habe sie Menschen 
schlachten sehen, hauptsachiich Kinder, glaubte. sie sollte auch geschlachtet 
werden. ,,Dann war es mir, als ob ich auf einem Geriist bin und falle plotzlich 
so tief. Dann war mir so, als ob ich den Kaiser beleidigt hatte und sollte 
deswegen hingerichtet werden; dann wurde ich so angstlich, das muss alles 
die Angst gemacht haben. 44 — ,,Manchmal horte ich lachen, schreien, als ob 
sie alle iiber mich lachen; es war mir so. als ob alle von mir weichen.und dann 
habe ich mir eingebildet, sie spuckten einen an . . . es war mir, als ob sich 
alles bewegte, das Wasser, die Schiisseln . . . mir ist gewesen, als ob 
ich meine Geschwister essen sollte, als ob, weil ich nicht hingerichtet bin, sie 
dafiir hingerichtet werden sollen . . . ich bildete mir ein, das Essen ware 
vergiftet, habe es weggeworfen, aber auch gegessen, die Angst war ganz 
schrecklich; wenn ich morgens aufwachte, habe ich mich gewundert, dass ich 
noch lebe/ 4 

Aus einem am 7. VI. selbst verfassten Krankheitsbericht iiber die 
Entbindung (Operation) und den spateren Verlauf: 

. . . bald damach kam ich nach Station 31, mich iiberfiel ein furcht- 
bares Angstgefuhi, das Geschrei der Kranken flosste mir noch mehr Angst 
ein. Ich wurde von einem Saal zum andern befordert . . ., wusste daher 
gar nicht, auf welcher Station ich mich befinde. Dann kam ich auch . . . 
zum Operationssaal, als ich mich wieder umsah, lag ich in der Station, wo 
ich vorher gelegen hatte. Von da an hatte ich stets Angst, und es war mir, 
als hatte ich etwas Sehlechtes getan und werde deshalb verfolgt und beob- 
achtet. Ich wurde dann in einem Krankenwagen nach Hause gebracht, alles 
um mich her schaukelte, auch horte [ich] iinmer Wasserrauschen und 
Stimmen, teils waren es ganz bekaimte und teils auch ganz unbekannte. 
Manchmal bekam ich dann eine grosse Erschutterung, als fiele ich von einer 
gewissen Hohe plotzlich in die Tiefe . . . Ich war ganz klar, ich horte nur 
noch diese Stimmen, und als ich aufstehen wollte, drehte sich alles um mich. 
Die Bilder an den Wanden kamen mir vor [als] hatten sie Leben bekommen; 
auch bildete ich mir ein, alles ware vergiftet, und wollte nicht essen, doch auf 
vieles Zureden ass ich und wimderte mich nur, dass ich immer noch lebte. 
Als ich nun endlieh einmal aufstand, wurden mir alle Schliissel versteckt, 
und alles kam mir vor, als lebte und bewegte es sich, Schranke, wde Tisch und 
Stiihle. Meine Schwester kam, und ich ging mit ihr spazieren, es war, als 
guckten mirLeute nach und als ob sich alles von mir unterhielt; fortwahrend 
horte ich einen Phonographen spielen. Dann w r urde ich eines Abends von 
meinem Mann und Vater in die Charity gebracht. Erst hatte ich grosse Angst, 
weil es in dem Saal sehr laut zuging; ich bezog alles, was gesprochen wurde, auf 
mioh, und da ich fortwahrend Wasserrauschen horte, bildete ich mir ein. 


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464 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


es ware Weltuntergang und gross© Siindflut. Dann kam ich in den Saal*. 
wo ich mich auch noch befinde, hier trat von Tag zu Tag Besserung ein, und 
ich wurde mir bald klar, dass ich mir alles eingebildet hatte und alles krank- 
haft war . . . 

Aug.-Sept. Pat. befindet sich in befriedigendem Gesundheitezustande. 

EptJerise. Im vorliegenden Fall ist eine akute Psychos© zu verzeichnen^ 
deren Entstehung auf den Erschopfungszustand infolge der Graviditat (mit 
Nephritis) und die sich anschliessende Operation zuruckzufuhrenist. Zunachst 
stellt sich ein akuter Erschopfungszustand ein, aus der retrospektiven 
Anamnese der Patientin entnehmen wir, dass sie schon damals sich verfolgt 
und beobachtet glaubte und Angst hatte. Dieser Erschopfungszustand 
geht allmahlich in die vollentwickelte Psychose iiber, deren Symptom© 
Akoasmen und Visionen, Beeintrachtigungs-, Beziehungs- und Verfolgungs- 
wahn bei primarem unbestimmtem Angstgefiihl sind. Indessen erschemt 
die Angst zum Teil auch alsFolge derHalluzinationen und Wahnvorstellungen. 
Die Orientiertheit bleibt dauemd erhalten. Die Sinnestauschungen und 
Wahnvorstellungen behalten fast durchweg denselben ziemlich einformigen 
Inhalt, ©8 kommt nicht zur Bildung eines geschlossenen Systems. Ab- 
gesehen von im Beginn der Psychose festgestellten Hemmungen, werden 
keine Storungen im Tempo des Assoziationsablaufs beobachtet, Inkoharenz 
tritt nicht auf, doch weisen immerhin die auffallenden, durch Affekte hervor- 
gerufenen Handlungen, femer die spater auftretenden Verunreinigungen 
u. s. w. auf einen weitgehenden Ausfall von Vorstellungsverbindungen hin, 
der sonst fiir die Inkoharenz charakteristisch ist. Die Affektlage bleibt 
dauemd deprimiert. Die stark© Abhangigkeit der Wahnvorstellungen von 
den Halluzinationen tritt mehrfach deutlich zutage, in gleicher Weise aber^ 
auch bei zunehmender Beruhigung die illusionare Verfalschung der Wahr- 
nehmungen im Sinn der deprimierten Affektlage. Bemerkenswert ist die 
hin und wieder auftretende Krankheitseinsicht. Die Prognose ist giinstig, 
die Patientin verliess die Klinik nahezu genesen. 

Die Diagnose ist zweifellos: Paranoia acuta hallucinatoria. Eine 
Wemickesche Halluzinose kann wegen der vielfachen primaren Wahnvor¬ 
stellungen nicht in Betracht kommen, auch nicht die inkoharente Form 
der akuten halluzinatorischen Paranoia, da der Vorstellungsablauf nicht 
inkoharent, die Orientiertheit erhalten war, selbst in der Zeit der grossten 
Intensitat der Krankheit. Auch spricht der Umstand, dass gewisse Wahn¬ 
vorstellungen (Verfolgungsideen, Siindflut) sich durch den ganzen Verlauf 
der Krankheit hindurch erhielten, sowie class die Patientin schliesslich im- 
stande war, einen befriedigenden retrospektiven Bericht iiber den Gesamt- 
verlauf der Krankheit zu geben, durchaus gegen eine Amentia. Trotzdem 
ist die nahe Verwandtschaft zu letzterer ganz unverkennbar, Aetiologie r 
Entwicklung und Verlauf des Falles entsprechen durchaus der Amentia. 

2. G. Sch., Naherin, 18 Jahre alt. Amentia. 

Keine Hereditat, normale Entwicklung. Pat. hatte in der letzten 
Zeit sehr angestrengt gearbeitet und machte am 22. VI. eine Reise nach 
Kiel. Am 23. VI. sah sie vom Fenster aus in einer anderen Wohnung einen 
Herm am Fenster sitzen, behauptete, es sei P. S. (ihr Brautigam, der vor 
einigen Monaten nach Amerika ausgewandert war), es ware ihr nicht die 
Wahrheit gesagt worden, er ware gar nicht in Amerika, er liesso sich nur 
nicht vor ihr sehen. Pat. zeigte ein aufgeregtes Wesen, iiberzeugte sich 
iibrigens, dass es ein fremder Herr gewesen war. Am 21. VI. stellte ein Arzt 
Verfolgungsvorstellungen fest. Nach Hause zuriickgekehrt, zeigt Pat. keine 
besondere Veranderung. 

Am 17. VII. wollte Pat. nicht aufstehen, sprach und sang viel, auch 
am 18. Pat. lag den ganzen Tag im Bett, war unruhig, warf die Betten durch- 
einander, redete immerzu, lachte und weinte viel, ausserte: ,,Warum muse 
ich denn eine Stiefmutter haben,“ schimpfte dazwischen, sagte, die Mutter 
solle sie erlosen, sie hatte Angst, schrie: ,,Ach Gott, erlost mir, erlost mir!** 
Am 19. zeigte die Pat. ein zartliches Vorlialten, sang viel, liess sich nicht 
ankleiden. Pat. soli Schlangen gesehen haben, hat auch von einem Lowen 
gesprochen. Schlug nach der Mutter, als diese versuchte, sie zu beruhigen. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


465 


19. VII. 1909. Pat. tanzt bei der Aufnahme im Saal umher, singt, 
macht lebhafte Gesten, alis ob sie schauspielere, deutet an die Decke, ale 
ob sie dort etwas hore. Pat. ist orientiert, gibt ziemlich ausfiihrlieh Aus- 
kunft iiber sioh, erzahlt, sie sei hergebracht worden, weil sie getobt habe. 
[Warum getobt ?] „Weil bei uns eine war, und da habe ich mich entgegen- 
geetellt.** Pat. vermag keine nahere Auskunft dariiber zu geben. Pat. gibt 
femer an, ihren Brautigam in K. gesehen zu haben. Pat. gibt weiter an, 
sie habe getobt, ,,weil mich andere Leute immer schlecht gemacht haben‘\ 
falache Leute, friihere Nachbam, sie hatten sie immer betrogen, hatten immer 
geklatscht, schon seit dem 14. Lebensjahre der Pat. Pat. gibt an, man hatte 
sie verfiihren wollen, sie liesse sich aber nicht verfiihren, will Stimmen gehort 
haben. Eine geordnete Exploration ist nicht moglich, da Pat. nur ganz vor- 
iibergehend von ihren Vorstellungen abzubringen ist. 

„ . . . und ich wusste es besser — und dafiir hab ich mich gerettet, 
nicht fur meinen Vater zum Sterben—und weii ich’s nicht bekomraen hab von 
meiner Mutter, so hab ich es vergeben — und in den Abgrund haben sie mich 
nicht getreten — da soil man nur in die Holle rein — aber nun halt fest und 
sei zufrieden — Falschheit ist List, und List hab ich noch — ich hab gedacht, 
wenn du erst grosser bist — Riesenschlange — kannst ruhig zugucken, so 

hatte es rneine Mutter gewollt, Papa-sie muss es besser wissen, besser 

wissen als meine rechte Hand, als meine rechte Hand — warum denn hier 
so gepiekt — darum, Klapperschlange, du hast es nicht anders gewollt* 1 — 
u. s. w. u. s. w. Alle diese Aeusserungen werden von lebhaften Gesten be- 
gleitet, die dem Inhalt der Aeusserungen entsprechen. Pat. spricht mit einer 
imaginaren Gestalt, behauptet, im Garten ihre Eltem zu sehen, spricht 
unaufhorlich, dazwischen Zomausbriiche und Singen. 

21. VII. Dasselbe Verhalten. Gegen Nadelstiche erhebliche Herab- 
setzung der Schmerzreaktion. 

23. VII. Pat. kramt ihr ganzes Bett aus, fahrt damit in der Zelle 
umher, springt umher, schlagt an die Wand, wirft das Bettzeug umher, 
schiebt sioh mit dem Riicken an der Wand entlang, dreht die Haare zum 
Knauel zusammen, gibt sie dem Arzt und sagt: ,,Hier, halte fest, das ist die 
Spinne . . ., haben Gift uns eingegeben, damit wir sollten sterben — haltet 
fest an eurem Namen, es wird schon wieder gut, — so wie du mir, so ich dir“ 
— gibt dem Arzt einen zweiten Knauel, sagt: „Hier, ich will alle Beweise 
bringen, was das fur Hexen sind; Schlange, die du bist, ich kann dasselbe 
tun — Herr Doktor kommen Sie mal schnell her u. s. w. u. s. w. Pfeift 
zwischendurch. 

24. VII. Fortgesetzt unruhig. 

27. VII. Beruhigung. Orientiert. Sagt selbst, sie habe getobt. 

4. VHI. Verhalten vollkommen ruhig und geordnet. Pat. ist vollig 

klar. 

7. VIII. Wieder erregt, spricht fortwahrend vor sich hin, fangt jede 
Bemerkung anderer Kranken auf und kniipft daran an. [Warum erregt ?] 
„Na, die Falschheit der Menschen, wenn ein anstandiges Madchen sioh 
aufrappelt — ich habe langst vergeben und vergessen, aber nicht in meinem 
Herzen. “ [Konnen Sie sich zusammennehmen ? ] „Ja, ich will nicht, ich 
brauch nicht; hier sehen Sie sich meine Finger an, wenn ich daran drehe, 
kommt alles heraus, warum musste ich diese Nacht in dies Bett“ u. s. w^ 

8. VIII. Stimmung stets wechselnd, bald weinend,* bald lachend. 

10. VHI. Pat. ist sehr unruhig, viel ausser Bett, spricht unauf- 

horlioh. 

13. VIII. Stimmung wechselnd. „Ja, ja, die Schuhe, hatte ich bloss 
die Schuhe nicht angezogen — die Frau Wilhelm und die Frau Wilhelm, die 
so energisch war, war weise, was die fur Kinder hat — ich kriege kein Kind, 
auf deine Liebe scheiss ich — reden Sie mal, ich muss mich erst besinnen^ 
mein Kopf — Trude hat er zu mir gesagt, mein Brautigam — ich bin nicht 
verriickt, ich bin nur so — und die arme Schneiderschere, ich hab Schneidem 
gelemt, und er war in Amerika, die Schwalbe hat es ihm gesagt — ich bin 
kein Schwein, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun — 


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466 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


recht so, immer feste auf die Weste, Ohrringe von seiner Mutter“ u. s. w. 
Pat spricht deutlich, ziemlich langsam. 

17. VIII. Beruhigung. 

20. VIII. Pat. gibt eine etwas inkoharente retrospektive Anamnese, 
aus welcher zunachst hervorgeht, dass sie stets nervos gewesen ist. Im 
Friihjahr hatte die Pat. einen Prozess gegen eine Nachbarin wegen iibler 
Nachrede angestrengt und wurde kostenpflichtig abgewiesen (wahrscheinlich 
wegen mangelnden Beweises). Dieser Ausgang des Prozesses erschutterte 
die Pat. sehr, die Familie der Pat. verzog daraufhin in eine andere Wohnung, 
konnte sich liber diesen Ausgang nicht beruhigen. glaubte stets die Fem- 
wirkung der Verleumdung zu spiiren, hatte iibertriebene Vorstellimgen von 
der Bedeutung der iiblen Nachrede. Pat. selbst glaubte, dass die ehemalige 
Nachbarin irgend jemand anstiften wolle, urn sie, die Pat., zu verfiihren oder 
zu vergewaltigen. Pat. berichtet von ihrer Reise nach K.: „Ain ersten Tage 
sah ich einen Bekannten im Hause gegeniiber, sagte aber niemand etwas 
davon. In den nachsten Tagen sah ich ihn ebenso am Fenster, ausserdem 
meinen Bruder und seinen Freund. Ich dachte mir, sie waren nachgekommen, 
um zu sehen, wie ich mich in Kiel amiisiere, anders konnte ich es mir nicht 
auslegen. Dann erzahlte ich meiner Tante davon, sie meinte, es sei ein Ar- 
beiter; ich gab mich ausserlich zufrieden, glaubte aber nicht daran. Am 
24. VI. erzahlte ich meinem Onkel viel von unserer Familie. In der Nacht 
horte ich poltern, als ob jemand an der Wand arbeite, da wurde ich angstlich, 
dachte, dass jemand einbricht, rief meinen Onkel, verlangte Licht; als er 
sich weigerte, stand ich ohne Licht auf undkonnte auch im Dunkeln sehen, 
dass die Wand anders war als am Tage vorher; ich sagte auch dem Onkel, 
dass am Tage eine Tapete dagewesen ware und jetzt in Her Nacht eine 
Kalkwand — der Onkel aber meinte, ich ware verriickt. Als nun schliesslich 
der Onkel doch mit Licht kam, iiberzeugte ich mich, dass es doch an dem 
war, dass es kein Traum gewesen war. Ich legte mich wieder hin, war aber 
fast ganz angekleidet, schlief auch nicht ein; ich war aufgeregt, ich hatte 
sehr mit meinem Herzen zu kampfen, es war mir so dumpf im Kopf. Ich hatte 
auch die ganze Zeit Angst, furchtete, dass jemand einbrechen konnte, wenn 
kein Licht im Zimmer ist. 

Am nachsten Morgen bildete ich mir ein, dass meine Mutter nebenan 
liege und im Sterben liege (auf dem Hof brachten die Kinder mit einem 
Spielzeug einen winselnden Ton hervor). Ich sprang auf und sagte meinem 
Onkel, ich miisse dahin, da seien meine Eltem, ich mlisse mich iiberzeugen. 
Er lachte mich aus und sagte, dort wohnen fremde Leute. Da wollte ich den 
Ofen einschlagen, lun durch die Wand in den Nebenraum zu kommon, ich 
wurde aber zuriickgehalten; da weinte ich und sagte, ich wollte nach Hause. 
Bald darauf hatte ich mir einen Hammer besorgt und wollte den Ofen ein¬ 
schlagen, er wurde mir aber entwunden, da ging ich hinaus und weinte. — 
Sie schrieben unterdossen einen Brief an meine Eltern, sie sollten mich ab- 
holen, sagten mir aber nichts davon. Spater, als niemand im Zimmer war, 
wollte ich mich iiberzeugen, was vorliege, und riss die Tapete an der Wand 
ein und sah, dass unter der Tapete eine Kalkwand war. Ich war iiberzeugt 
davon, dass mein Onkel mit mir einen Ulk gemacht hatte, den ganzen Tag 
habe ich geweint, weil ich nach Hause wollte. Am Abend kam meine Mutter 
an. Anfangs war ich aufgeregt, aber dann fuhr ich mit nach Berlin. “ Pat. 
berichtet ferner, dass sio sich nicht beruhigen konnte; die Eltern wandten 
sich an einen Arzt, der neben Arznei Bettruhe empfahl. Pat. wurde aber 
bald sehr unruhig, schrie, warf die Betten herum, wollte nicht im Bett bleiben: 
,, . . . ich habe gar nicht gewusst, wo ich war; ich dachte, ich bin nur zum 
Schein hereingekommen. “ Am Morgen Beruhigung, „ich fand aber nirgends 
Ruhe, konnte nicht arbeiten.* 6 Schliesslich fuhr Pat. zu Bekannten nach 
Kloster L. Hier kam der Pat. alles verdachtig vor, sie vermutete uberall 
eine gelieime Bedeutung oder Anzeichen einer ihr drohenden Gefahr, sah 
z. B. eine Frau, die sie nicht kannte, und machte sich Gedanken dariiber, 
merkte auf einem Spaziergang, dass sie belauert wurde. Am Abend war Pat. 
unruhig, „ich dachte immer, es ist alles vergiftet; ich fiihlte mich nicht sicher, 
konnte nicht schlafen. In der Nacht wurde ich sehr angstlich, bat die Frau, 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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sie solle mit mir be ten, solle gleich die Lampe anstecken und mich gleich 
fortlaasen. Schliesslich ging ich zu meinem Bruder (der nebenan schlief), 
weil ich vor der Frau Angst kriegte, und krallte mich an seinem Hemde fest. 
Ich sagte ihm: ,,Halt dich fest,“ ich sah Wolfe, Baren, Schlangen und wurde 
immer mehr aufgeregt, es war mir immer so, als ob mir etwas angetan 
wurde. “ Pat. gibt weiter an, dass sie sich schliesslich beruhigte. Im Laufe 
des nachsten Tages redete sie einen ihr unbekannten Mann mit ,,Guten Tag, 
Gro8Svater“ an und nannte ihn wiederholt Grossvater. Pat. vermag jetzt 
nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob sie den Mann tatsachlich fiir ihren 
langst verstorbenen Grossvater gehalten hat oder ob sie ihn nur wegen 
seiner Aehnlichkeit mit dem Grossvater so genannt hat. Am folgenden Tag© 
musste Pat. nach Berlin zuriickreisen und wurde gleich darauf in die Charite 
gebracht. 

21. VIII. Pat. schlief viel, traumte, dass sie gebunden ware. 

23. VIII. Pat. verlangte von der Mutter, dass ihr das Essen klein 
geschnitten wiirde. 

24. VIII. Pat. schrie viel, schlief nicht in der Nacht. 

25. VIII. Pat. sprach fortwahrend, schimpfte auf die Mutter. 

26. VIII. Pat. verhielt sich ruhig. 

27. VTII. Wieder Schreien. .Pat. warf die Betten durcheinander, 
„ich kann mir nicht helfen, ich hab solche Wut“, riss mit den Fingem an 
den Genitalien. 

28., 29. VIII. Fortwahrendes Schreien und Schimpfen, dazwischen 
Weinen. ,,Hier sind lauter Stecknadeln, da piekt es schon wieder“, riss sich 
an den Haaren. 

30. VIII. Bei der Aufnahme sehr unnihig, spricht schnell zusammen- 
hangslos vor sich hin, fortwahrend ausser Bett, tanzt im Korridor umher, 
ab und zu Weinen, kramt das Bett auseinander. 

1. IX. Pat. ist sehr unruhig, zerreisst den Kittel. [Warum ?] ,,Ich 
will meine Eltem retten.“ [Wie kommen Sie darauf ?] „Ja, weil ich eine 
Stief mutter habe. ‘ ‘ Menses. 

3. IX. Fortgesetzt unruhig. Pat. hat samtliches Bettzeug aufein- 
andergetiirmt und steht darauf. [Warum machen Sie das ?] ,,Ich muss 
die Suhne fur die Siinden meiner Mutter auf mich nehmen, ich muss allee 
wieder gut machen. “ 

9. IX. Pat. hat sich beruhigt, antwortet auf Befragen, lacht viel. 

10. IX. Auch heute ganz ruhig, gibt geordnete Antworten. 

13. IX. Gross© motorische Unruhe, larmt, schimpft. Menses. Fahrt 
mit dem Bett im Zimmer hin und her. 

14. IX. U. a.: „Ich habe einen goldenen Wagen geschoben.“ 

16. IX. Fortgesetzt unruhig. Dazwischen aber auch ruhige Stunden 
und Tage. 

28. IX. Beruhigung, Gibt an, keine Stimmen oder Bilder wahr- 
genommen zu haben. Motiviert die Aeusserung vom goldenen Wagen damit, 
dass die Messingfiisse ihres Bettes damals blank geputzt wurden, behauptet, 
auch damals nicht im Ernst gedacht zu haben, dass die Rader von Gold 
waren. In der Nacht wieder heftige Unruhe. 

29. IX. ,,Loschblatt 1, 2, 3, 4, morgen kornmt der Unteroffizier 41 usw. 

1. X. Pat. fiihrt Klagen gegen die Warterinnen. 

4. X. Beruhigung. Auf Wunsch der Angehorigen entlassen. 

Im vorliegenden Fall, der in vielen Beziehungen dem vorigen ahnelt, 
ist eine subakute Entwicklung festzustellen. Als atiologische Moment© 
kommen in Betracht die Ueberanstrengung und die fortwahrenden Gomiits- 
bewegungen, deren Inhalt ja auch im Wahn der Patientin weiter fortgebildet 
erscheint. Die psychische Erkrankung tritt auf als Verfolgungswahn mit 
Angst, Personenverkennung, Halluzinationen und Beziehungswalin; es 
bildet sich ein nur sehr diirftig ausgebildetes System. Pat. lebt in einer 
wahnhaften Situation, die allerdings nur kurze Zeit anhalt. In den mit 
motorischer Unruhe komplizierten Hohepunkten der Krankheit ist die Orien- 
tiertheit verloren gegangen und stellt sich Inkoharenz des Gedankenganges 
ein; fiir die Zeit der Inkoharenz fehlt der Pat. die sonst ziemlich genaue 


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468 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


Erinnerung. Die Inkoharenz ist sicher wenigstens zuin Teil eine primare^ 
schon vor ihrem Eintritt macht sich eine weitgehende Lockerung des Ge- 
dankenganges bemerkbar, in dessen Vordergrund die paranoischen Ge- 
danken der Pat. stehen. Die Halluzinationen spielen eine ganz untergeordnete 
Rolle. Mit der Stoning der Ideenassoziation lauft die motorische Erregung 
parallel, ohne wesentliche priraare Beteiligung der Affekte; Angst finden 
wir nur im Eingajigsstadium verzeichnet. Die Hohepunkte der Inkoharenz 
fallen haufig in die Zeit kurz vor den Menses, die Inkoharenz, wie auch der 
Verlust der Orientiertheit sind nur kurz dauemd. Es handelt sich zweifel- 
los um eine akute halluzinatorische Paranoia mit Inkoharenz, um eine 
Amentia im Sinne Meynerts. Wir sehen, dass in dem unzweifelhaft para¬ 
noischen Krankheitsbilde die Inkoharenz voriibergehend als Ausdruck 
grosseror Intensitat der krankhaften Vorgange vorkommt. Es ware aber 
ganz unmoglich, auf Grund etwa der Inkoharenz diesen Fall von dem vorher- 
gehenden zu trennen: sie gehoren zu einer Form, auch hier ist das Leitmotiv 
der psychischen Storungen eine paranoische Idee: der Verfolgungs- und 
Beziehungswahn. 

Es ware hier noch die Frage zu erwahnen, ob der Fall nicht auch als 
das Initialstadium einer Dementia hebephrenica aufgefasst werden konnte. 
Es sprechen dagegen sehr gewichtige Bmstande: vor alien Dingen kann von 
einem Intelligenzdefekt bei der Patientin nicht die Rede sein, trotz der nun 
schon drei Monate wahrenden Beobachtung; ferner ist von den Angehorigen 
der Pat. keinerlei hebephrene Veranderung des Wesens oder Benehmens 
bemerkt worden. Schliesslich ist weder wahrend der Erregungszustande noch 
in den Zwischenzeiten bei der Kranken eine Abschwachung oder Aenderung 
der begleitenden Gefiihlstdne festgestellt worden. 

3. F. F., aufgenommen am 16. V. 1909, Dienstmadchen. Akute 
puerperale Paranoia. 

Keine Hereditat, Entwicklung normal. 

Von Beruf Dienstmadchen, erst auf dem Lande, seit 2 Jahren in der 
Stadt. Machte vor 2 Jahren eine normale Entbindung durch, das Kind 
starb, einige Wochen alt, aus unbekannter Ursache. Zweite Entbindung 
vor 4 Wochen, am 4. IV. 1909, ebenfalls normal, das Kind lebt. Keine 
Aborte. 

14 Tage bach der Entbindung wurde die Pat. aus dem Krankenhause 
entlassen. Ende April nahm sie eme Stelle als Dienstmadchen an. Nach 
Aussage der Dienstherrin erwies sie sich von Anfang an als vergesslich, 
konnte nicht einkaufen, nicht rechnen. Am 10. V. bekam sie eine Vorladung 
von der Polizei, war sehr erregt. Am 11. V. war sie noch mehr erregt; sie 
wurde zum Einholen in ein bestimmtes Geschaft geschickt, brachte daa 
Gewiinschte aus einem andem und meinte, sie finde das Geschaft nicht. 
Sie erklarte, Besorgungen in mehreren Geschaften konne sie nicht machen, 
wenn sie in einem gewesen sei, habe sie schon die Strasse vergessen, auf der 
das andere sein soUte. Pat. war von Anfang an etwas argwohnisch. Am 
11. fand Pat. einen Groschen auf der Diele, sie gab ihn ruhig der Herrin, 
spater sagte sie: „Hier ist es imheimlich, wie kommt der Groschen dahin ?“ 
Als der Hund ihren Schuh angenagt hatte, sagte sie: „Wie kommt bloss der 
Hund in mein Zimmer, das sei unheimlich. “ Als sie am nachsten Tage unter 
der Schuhsohle einen kleinen angeklebten Papierschnitzel fand, lief sie hochst 
aufgeregt zur Herrin, kiindigte, sagte, es sei unheimlich, es sei alles so merk- 
wiirdig, es ist kein Fertigwerden, man muss Hand in Hand arbeiten. Be- 
hauptete, den Schnitzel hatte jemand unter den Stiefel angesteckt. Friiher 
schon hatte sie einmal ein Streichholz auf dem Kopfkissen gefunden, sie 
regte sich dariiber auf, das sei unheimlich, sie wolle deswegen zur Polizei 
gehen. Vorgestem abend legte sie sich zu Bett, liess alles brennen, schloss 
die Tiir nicht ab, ohne das alles zu motivieren. Gestern offnete sie nicht die 
Wohnung, trotzdem bestandig geklingelt wurde. Kochte keinen Kaffee, 
trotzdem sie sich alles zurecht gemacht hatte. Als man heute in ihr Zimmer 
trat, stand sie zum Ausgehen angekleidet, sagte: „Ich gehe jetzt spazieren; 
ich halte es nicht mehr aus.“ Es sei unheimlich, des Nachte sei ein Mann 
in die Toilette gegangen und nicht wieder herausgekommen, es hatten 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


46 * 


Schwerter geklungen — gesehen habe sie niemand, nur gehort. Das Haua 
sei ein Kupplerhaus. — Schliesslich musste man sie gehen lassen, sie wurde 
draussen unruhig: sie ginge nicht wieder hinauf, oben werde man nicht 
fertig. Liess sich ruhig in die Charity bringen. 

16. V. 1909. Vollstandig orientiert, ruhig, isst und trinkt, schlaft 
bald ein. 

17. V. [Weshalb gekommen ?] — „Ich bin ganz verdreht geworden, 
ich konnte da nicht bleiben.** 

[Weshalb nicht?] — „Es ist ein ganz verkuppeltes Haus.“ Pat. er- 
zahlt weiter: In den ersten Tagen ihres Dienstes fiel ihr nichts besonderes 
auf. Dann schenkte ihr ihre Herrin einen weissen Shawl, bemerkte aber 
dazu, sie solle der Reinmachefrau, die zur Aushiilfe da war, nichts davon 
sagen. Das fiel der Pat. auf, imd sie glaubte seitdem, dass die Frau sie ver- 
kuppeln wollte. Alles war ihr verdachtig, z. B. dass sie schwarze, weisse und 
gelbe Stiefel mit verschiedener Wichse zu putzen hatte, dass die Herrin sie 
wegen jeder Kleinigkeit in ein anderes Geschaft schickte. Pat. fiihlte sich- 
in ihrer Stellung zu sehr angestrengt, auch war ihr alles in dem Hause 
unheimlich. — Die iibrigen Angaben der Pat. erweisen sich als richtig, die 
Pat. glaubt aber, dass die Dienstherrin etwas Besonderee mit ihr vorhabe, 
kann aber nicht sagen, was. ,,Man ist da wie verkauft.** 

Ferner gibt die Pat. an, dass sie seit der Entbindung immer angstliclv 
sei. Pat. hat vor den Mannem Angst, und zwar vor alien. Pat. macht einen 
ziemlich aufgeregten Eindruck. Sie fasst die Fragen richtig auf, zogert aber 
oft mit der Antwort. Bisweilen unmotiviertes Lachen. Pat. meint, in letzter 
Zeit (nach der Entbindung) habe das Gedachtnis nachgelassen. Sie vergasa 
Auftrage und verlegte Sachen. Wenn sie zum Einholen fortgeschickt wurde, 
so wurde ihr jedesmal ganz schwindlig, und es flimmerte ihr vor den Augen, 
sie ging aber trotzdem weiter. Nachher wusste sie dann gar nicht, wo sie 
war, und musste sich zurechtfragen. 

Status corporis: ohne Besonderheit. Status nervorum: ohne Besonder- 
heit. Intelligenzpriifung: Kein Defekt. 

20. V. Pat. leugnet alle Halluzinationen. 

21. V. Halt an ihren wahnhaften Auffassungen fest. — [Verfolgt ?] 
,.Nein.“ [Angst ?] „Nein.“ 

22. V. Behauptet, dass vor ihr ausgespien werde, bald laufen die 
Leute hierher, bald dorthin, bald zupfen sie sie am Haar. 

24. V. Pat. bezieht alles, was um sie herum vorgeht, auf sich, z. B. 
auch das Schelten einer Nachbarin. Weint, sie hatte hier solche Angst, 
sie traue sich nicht richtig zu essen Oder sich zu waschen, ihr sei immer, als 
ob sie ihr alles nachmachten. 

27. V. Klagt iiber Flimmem vor den Augen. [Angst?] „Nein.‘* 
[Misstrauen ?] „Nein.“ ,,So richtig fiihle ich mich aber nicht.** 

2. VI. Pat. bleibt dabei, dass die Dienstherrin ihr absichtlich den 
Papierschnitzel imter die Sohle getan habe. [Weshalb ?] „Ich habe mir ge- 
dacht, ich sollte ausgehen und mir neue Stiefel kaufen, weil der Absatz 
schief war.** [Warum nicht direkt gesagt ?] ,,Ich weiss nicht.“—Pat. glaubt 
jetzt, die Geschichte sei wohl nur Einbildung. 

15. VI. Pat. gibt an, dass sie den Argwohn wegen dee Groschens auf 
der Diele, des geschenkten Shawls, des Hundes, des Streichholzes, dee- 
Papierschnitzels gehabt habe, weil sie iiberhaupt ein unbestimmtes Gefiihl 
von Angst vorher hatte, obschon gegen keine bestimmte Person. Nur bei 
dem Vorfall mit der Toilette hatte sie allerdings gefiirchtet, der Mann wolle 
sie abmurksen. — Pat. scheint ihren fortdauemden Glauben an ihre Ideen- 
zu dissimulieren. 

23. VI. Grosse Unruhe in der Nacht, dauemd ausserhalb des Bettes. 
,,Es war so, als ob der Teufel und der Satan in mir sassen.** Auf alle Fragen 
nach Halluzinationen und Wahnvorstellungen keine Antwort. Bedeckt das- 
Gesicht mit den Handen. Erwartet die Menses. 

24. VI. Pat. gibt an, Stimmen gehort zu haben: „Dich sollen die 
Raupen fressen.** Seither unbestimmte Angst, Kribbeln, hat das Ge¬ 
fiihl, als sasse ihr ein Frosch im Halse, der herausspringen mochte. Hat in 


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470 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


der Nacht den Teufel und Gespenster fliegen sehen. Am Tage vorher hatte 
die Pat. eine Ansichtskarte mit Negem gesehen, diese Neger erschienen ihr 
in der Nacht. Behauptet, sie habe sich aufgeregt, weil das Unwohlsein aus- 
geblieben sei. Am Nachmittag ging die Pat. aus dem Bett, schrie: „Da ist er, 
halt ihn, halt ihn.“ Weigert sich, die Arznei zu nehmen, behauptet. es sei 
Gift. 

25. VI. Weigert sich, die Arznei zu nehmen: Man solle sie nicht ver- 
giften. Am Abend heftige Unruhe. 

26. VI. „Ich mochte doch hier oben bleiben, ich mochte doch nicht 
geschlachtet werden.“ 

29. VI. Allmahliche Beruhigung. Bestreitet, Halluzinationen zu 
haben. 

1. VII. Komische Geriiche, Gift oder Eau de Cologne. [Angst ?] Nach 
langem Stocken: ,,Ja, so ein Zittem.“ [Wovor?] Keine Antwort. [Kommt 
Ihnen etwas unheimlich vor?] „Ja.“ [Was?] „Ich weiss nicht, wie ich es 
ausdriicken soil. 4 ‘ 

3. VII. Heute wieder Geruch nach Gift und nach Parfiim. 

9. VII. Pat. hat sich im Verhalten geandert, liegt still mit gerotetem 
Gesicht im Bett, lasst sich bedienen, was friiher nicht der Fall war. 

14. VII. Pat. ist wieder heiter geworden, bestreitet, irgend welche 
Stimmen zu horen oder gehort zu haben; es sei in ihrem Innem so gewesen, 
als habe in ihrem Innern jemand gesagt: Du sollst das machen, z. B. Herum- 
tanzen. [Stimme wirklich gehort?] „Ich konnte mich halt nicht halten. 44 
[Stimmen wirklich dagewesen ?] ,,Ich hab mir halt eingebildet, dass hier 
alle auf mich falsch seien; die Frau St. (Mitpatientin) muss falsch auf mich 
gewesen sein ... sie hat vor mir ausgespuckt, und da war ich wie behext, 
ich konnte mir nicht mehr helfen.“ [Frau St. hat Sie doch nicht verhext ? ] 
Achselzucken: ,,Na, ich weiss nicht.“ 

19. VII. Pat. macht einen freieren Eindruck. 

9. VIII. Pat. ist ruhig, hat gestem, als Klavier gespielt wurde, 
vergniigt getanzt. 

16. VIII. Auf Wunsch geheilt entlassen. 

Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine akut nach einer Ent- 
bindung sich entwickelnde Psychose, deren Ausbruch vielleicht den Ge- 
miitsbewegungen der Pat. in ihrer neuen Umgebimg zuzuschreiben ist. 
Wir verzeichnen aus einem Misstrauen und dem Gefuhl der Unheimlichkeit 
heraus sich entwickelnde Verfolgungs- und Beziehungsvorstellungen. Die 
Halluzinationen treten vollstandig in den Hintergrund, die Ordnung der 
Gedanken, die Besonnenheit ist vollstandig erhalten. auch sehen wir keinen 
Wechsel der Objekte des Verfolgungs- und Beziehimgswahnes, das Bild der 
Erkrankung ahnelt insofern sehr dem der chronischen systematisierenden 
Paranoia. Berner kens wert ist das Zusammenf alien der Halluzinationen 
mit dem Beginn der Menses. Bemerkenswert sind femer die initialen Asso- 
ziationsstdrungen. 

Der Fall ist als akute Paranoia mit vereinzelten Halluzinationen an- 
zusehen. Es ist fraglich, ob man den Fall auch als Amentia Meynert be- 
trachten kann. Er geht zwar auch auf eine cercbrale Erschopfung zuriick 
(Verhalten der Pat. auf ihrer neuen S telle!), lasst aber die aus jener hervor- 
gehende Verwirrtheit vermissen, von der ,,Bewusstseinstrubung“, die die 
Amentia von der Paranoia scheidet, kann keine Rede sein. Andererseits 
ist die klinisehe Stellung des Falles sicher keine andere als die der vorher 
angefiihrten Falle, trotz der Abwesenheit von Inkohiirenz und motorischen 
Symptomen, trotz der Verschiebung des ganzen Krankheitsbildes in der 
Richtung zur Paranoia simplex. 

Auch in diesem Fall konnte differentialdiagnostisch noch die Dementia 
hehephrenica in Betracht kornmen, doch lasst sie sich wegen des Fehlens 
des charakteristischen Intelligonzdefektes imd der anderen charakteristischen 
Anzeichen diesor Psychose (affektive Verblodung) ausschliessen. 

4 . Fr. R., 42 Jahre, 21. XI. 1906—5. II. 1907. Amentia. 

Keine Belastung, normale Entwicklung. Ehe mit 26 Jahren. Pat. ist 
verwitwet und|geniesst eine Armenunterstiitzung, ,.schlagt sich durch", 

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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


471 


soli iiberanstrengt sein, auch liegt angeblich ungeniigende Nahrungsaufnahme 
vor. In der letzten Zeit fiihrte Pat. einen Prozess gegen ihren Cruder, der 
sie verklagt hatte. Pat. gewann den Prozess am 9. XI. 1906, hatte dabei 
einen Eid zu leisten. 

Pat. ist seit dem Tode ihres Mannes (Sept. 1905) sehr aufgeregt, hat 
sich leicht geargert. Durch den Prozess Zunahme der Erregung, sie war 
zum erstenmal vor Gericht. sprach auch nach dem 9. XI. andauemd von 
dem Prozess, erwartete noch eine Aufforderung vom Gericht. 

Seit dem 20. XI. Veranderung: War bei der Schwester zum Besuch, 
hat nicht mehr ganz richtig geantwortet, immer vor sich hin gestarrt. In 
der Nacht plotzlich sehr erregt, schrie laut, sprach vom Prozess. Seitdem 
nicht mehr beruhigt. Wurde verwirrt, argerlich, zitterte am ganzen Korper. 
y ,Alles, was sie sprach, bezog sich auf den Prozess. “ Fing an zu singen: ,Jch 
habe nur die Wahrheit gesagt, der Zuchthausler muss wieder hin, wo er 
gewesen ist. 44 Keine Personenverkennung, keine Halluzinationen oder 
Illusionen, Orientiertheit erhalten, keine Wahn- (Verfolgungs-) Vorstellungen. 
In den letzten 14 Tagen ganz ungeniigender Schlaf, geringe Nahrungs¬ 
aufnahme. 

22. XI. Pat. ist orientiert, gibt eine vollig ausreichende Anamnese, 
will noch am 20. XI. gearbeitet haben. Erzahlt. dass sie sich liber einen 
anonymen Brief sehr geargert habe, und dass sie fiirchte, durch weitere 
Briefe dieses anonymen Schreibers, in dem sie ihre verfeindete Schwagerin 
vermutet, an die Behorden noch ihre Armenunterstiitzung verlieren zu 
konnen. Pat. meint selbst, sie sei unniitz aufgeregt gewesen und habe schon 
vor dem Brief „einige Sachen durcheinander 44 gesprochen. 

Heute habe jemand gesagt, sie Bolle gekopft werden, sie weiss aber 
nicht, wo. [Aengstlich ?] „Gar nicht, ich habe doch nichts getan. Man 
bildet sich allerlei dumme Ideen ein, ich dachte, ich werde tiefsinnig werden,. 
und das bin ich doch nicht/ 4 „Ich darf nicht viel griibeln. 44 [StimmenT] 
„Ich horte einmal: das darf die Selma nicht wissen/ 4 Pat. behauptet, nicht 
krank, nur aufgeregt gewesen zu sein, „ich habe wirres Zeug gesprochen/ 4 — 
Pat. fangt im Saal an, auf die Reden der im Nebenzimmer schimpfenden 
Frau B. zu antworten. 

Abends Zunahme der Erregung und Verwirrtheit. Spontan: „Ich 
wusste nicht, was sie wollten, das waren meine Kinder beide, die wollten es 
nicht glauben, sie werden wahnsinnig werden — Hier waren sie drin, wie 
sie geschossen haben — da war ich auch verriickt — drum haben sie mich 
beschimpft, ich weiss nicht, was sie wollten — hier haben sie so gespielt, 
getanzt. 

23. XI. Unverandert unstet. „Sie haben sich gestritten, dass ich 
ein altes Frauenzimmer ware, ich bin noch gar nicht so alt . . „Weil 
ich doch die Frau bin, weil ich doch die Kinder habe, ich bin Frau R., ge- 
boren 1864. 44 Will immer etwas erzahlen, bringt es aber nicht zustande. 

24. XI. Aufgeregt, spricht viel, bezieht das Selbstgesprach einer er- 
regten Mitpatientin auf sich, antwortet darauf. ,, . . . ich bin die Tante 
und die Nichte, und Friedchen wird ein guter Junge werden — Drei Briider 
habe ich doch, der Spitzbube hat damals schon solche Sachen gemacht — 
ich habe Georg und Franz und Friedchen, meine drei Kinder — nein, ich 
bin auch keine freche Person — da giessen sie mir noch Gift ein — ich 
habe meinen Prozess schon langst gewonnen — richtig, ich bin die Frau 
von meinem Mann . . .“ [Wo?] „Charit6,“ dann ,,Moabit, im Kranken- 
haus. 44 [Jahr?] „1907. 44 [Monat ?] ,,Buss- imd Bettag, im Dezember. 4 * 
Besinnt sich stets lange, wiederholt die Frage einige Male. [Wie lange hier ?] 
„Ich weiss ja gar nichts davon, ich habe nur gesagt, warum sperren Sie mich 
ein, ich habe doch nichts getan. 44 

25. XI. Sitzt im Bett, manchmal mit lachelndem Gesicht, spricht 
laut vor sich hin: „Herr Zimmermann hat nur die Halfte Geld gegeben, 
den Erdmann wurde ich im ganzen Leben nicht nehmen, der will lieber die 
Cacilie nehmen. Die Toilettenfrau hat so geredet, Fritzchen war eigensinnig, 
meine Kinder haben noch nicht gestohlen . . .“ Kniipft an alles an, was 


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472 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


dm Zimmer gesproohen wird, antwortet aber auf Fragen so gut wie gar 
nicht. 

26. XI. Zunehmende Unruhe, fortwahrendes Schwatzen, vollig 
heiser. T. 38°. Beginnende Parotitis. 

27. XI. Aeussert nur abgerissene Wort© ohne Satzkonstruktion; 
„Mein — auch das — die Frau — hat ja schon — wie das Klosett — war 
auch nicht — auch — nein — die Frau, die hat gefragt — die hat das gesagt. “ 

28. XI. 1st fast vollig verstummt (Heiserkeit). Sehr unruhig, lauft 
im Zimmer hin und her. Temperatur 39,5°. 

29. XI. Starke Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Parotis 1. 

31. XI. Temperatur 38,0°. Parotitis in gleicher Weise. Motorische 

Unruhe, lauft angstlich umher, ist nicht im Bett zu halten. Sprachliche 
Aeusserungen gering, meist inkoharent. 

1. XJI. [Wo hier?] ,,Krankenhospital Moabit.“ Sprache sehr 

schwer verstandlich, kaum zum Antworten zu bewegen. 

4. XII. Kramt sinnlos im Bett herum. Spontan: „Eine halbe 
Zitrone — alles kreuz und quer — und alles geknickt und gebrochen.“ 
Auf Fragen keine Antwort, auf Zurufe keine Reaktion., „Vergraben 99 mai 
gestampft mit Sauerkohl, weiss ich wohl — mir nie und nimmer — ja — 
ich weiss es ganz genau, der ist der Nachtwachter, isst Honig und Kuchen —, 
dass sie im Hemd, Natalie, jawohl — das ist Blut in Russland und 
2 mal in — da soli ich mir die 13 Lause auf . . .“ 

5. XII. Stets aufrecht im Bett, angstlicher Gesichtsausdruck, Angst- 
bewegungen, keine sprachlichen Aeusserungen. Temperatur abgefalien. 

7. XIL Vollig benommener Gesichtsausdruck. Stiert ratios umher. 
Nur einige nestelnde Bewegungen an Kleidungsstiicken. Nahrungsaufnahme 
sehr schlecht. Sondenfiitterung. 

12. XII. Sondenfiitterung heute ausgesetzt, da Pat. heute spontan 
isst und trinkt. 

13. XII. Etwasfreier. [Krank ?] „Ja.“ [Was ?] ,,Ohrenschmerzen.“ 
{Was wollen Sie?] ,,Nach Hause.“ [Wo wohnen Sie?] „In . . . 

14. XII. Weinerlich. „Ich habe doch nichts getan.“ [Was vorge- 
worfen?] „Unser Friedchen ist so verlogen.“ Wemt, antwortet nicht. 
[Monat ?] Januar. [Jahr?] ,,1880 und . . . ich weiss es nicht mehr . . . 
1915.“ Wahrend des Sprechens noch viele Lippen- und Kieferbewegungen, 
ebenso in den Pausen. 

15. XII. Wird heute zu den ruhigen Kranken gefiihrt, musste wieder 
zuriickverlegt werden, sie strebte fortwahrend durch die Tiir. 

17. XII. [Warum nicht driiben geblieben ?] „Ich hatte solche Angst. 
Die haben alle geschrieen.“ 

18. XII. Nachts unstet. Hat ihre Kinder schreien horen, das Bett ver- 
lassen. Pat. ist orientiert. 

21. XII. Verlangt weinerlich nach ihren Kindem. [Wie lange hier ?] 
„4 Wochen.“ [Was gefehlt?] ,.Ich war nervenkrank, nicht ganz klar im 
Kopf.“ — Schlaft auch am Tage viel. 

24. XII. Vollig orientiert. Erzahlt, dass sie sich iiber die Klage des 
Bruders geargert habe. Erzahlt den Prozess ubereinstimmend mit ihren 
anfanglichen Angaben. Leugnet, jemals Akoasmen oder Visionen gehabt 
zu haben. rWoran gedacht, als die Angst da war ?] „An gar nichts, ich war 
bloss nervos.“ 

28. XII. Sitzt abends weinend mit angstlichem Gesichtsausdruck im 
Bett. Behauptet, die Stimmen ihrer Kinder gehort zu haben, „da oben, 
wo die Klappen sind.“ Verlangt weinend, dass man ihre Kinder kommen 
lasse. 

29. XII. Hort keine Stimmen mehr. 

2. I. [Ganzklar?] „Ja.“ [Stimmen?] „Nein.“ 

6. I. „Ich hore raanchmal sprechen und kann nicht verstehen. 
Nebenan sagte man: meine Kinder haben Ringe genommen.“ [Tauschung ?] 
„Ich weiss nicht. “ 

8. I. Einmal ihren Namen gehort., weiter nichts. 


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hallucinatoria (Weetphal) zur Amentia (Meynert). 


473 


19. I. Hort nur noch undeutliches Gemurmel, einzelne Laute, ver- 
bindet keinen Sinn damit. 

22. I. Pat. gibt an, keine Stimmen mehr zu horen. [Gesund ?] „Ja, 
es geht schon, ich denke, ich kann noch Hause.“ 

24. I. Weint, glaubt, dass eine Mitpatientin hinter ihrem Rue ken auf 
sie schimpfe. 

26. I. [Stimmen ?1 „Ich hore manchmal murmeln.“ 

2. II. Pat. hat nichts mehr gehort. 

21. II. Entlassen. 

Im vorliegenden Fall haben wir als atiologische Momenta Erschopfung, 
mit hervorgerufen durch mangelhafte Nahrungsaufnahme und ungenugenden 
Schlaf, sowie eine starke Gemiitsbewegung zu verzeichnen, auch ist wohl 
eine allgemeine Disposition nicht unerwahnt zu lassen. Wir beobachten 
eine akute Entwicklung der Psychose mit Erregung und leichter inter- 
kurrenter Verwirrtheit. Im weiteren Verlauf steigert sich die Verwirrtheit, 
es stellen sich Illusionen ein, die Inkoharenz hebt selbst den Satzzusammen- 
hang auf und lasst die sprachlichen Aeusserungen schliesslich als einzeln 
aneinander gereihte Worte auftreten. Gleichzeitig entwickelt sich vollstandige 
motorische Inkoharenz, die Affektlage ist vorwiegend angstlich und geht m 
Ratlosigkeit iiber. Es handelt sich urn einen typischen Fall von Amentia 
„ohne cerebrale Reizerscheinungen“ (Meynert), das wesentliche Krankheits- 
zeichen ist die Inkoharenz. In seiner Entwicklung und in seinem Verlauf 
schliesst sich der Fall eng an die oben beschriebenen Fa lie der akuten hallu- 
zinatorischen Paranoia an; es ist aber in diesem Krankheitsbilde die primare 
Inkoharenz auch der Dauer nach an erster Stelle zu verzeichnen, wahrend 
sie bei jenen nur voriibergehend eintrat oder gar nicht einmal erreicht wurde. 
Den Hohepunkt der Entwicklung der Psychose bezeichnet der Zustand 
volliger Ratlosigkeit, fehlender sprachlicher und anderer als elementarster 
Bewegungsausserungen. Die allgemeine Besserung des Zustandes kiindigt 
sich u. a. durch Illusionen und depressiven Gemiitszustand an, auch tritt 
leichter Beziehungs- und Beeintrachtigungswahn auf. 

5. R. H., 46 Jahre, 18. II.—29. VI. 1909. Amentia. 

Die Mutter der Pat. starb durch Suicid. Pat. entwickelte sich normal, 
leidet aber seit vielen Jahren an einem Frauenleiden und ist magenkrank; 
war wegen Magenleidens ein halhes Jahr (1895) im Krankenhaus, 1904 
gynakologische Operation — 4 Wochen im Krankenhause, seitdem stets 
unterleibs- und magenkrank. In der letzten Zeit verschlimmerte sich das 
(gynakologische) Leiden, die Pat. sollte am 11. d. Mts. operiert werden, 
fing an zu toben und irre zu reden; glaubte, nachts Gestaiten zu sehen, 
die Kirchenglocken zu horen, wusste die Tageszeit nicht mehr, glaubte, vom 
Hause fortgegangen zu sein. Die Pat. soil iiberhaupt vergesslich geworden 
sein, leidet an Schwindelanfallen, Erbrechen und Magenschmerzen, soil 
langsam nach und nach abgenommen haben, wiegt nur noch 70 Pfund. 

19. II. Pat. ist sehr laut, spricht fort wahrend vor sich hin, geht aus 
dem Bett, macht einen sehr erschopften Eindruck. Die Exploration ge- 
staltet sich sehr schwierig, weil die Pat. die Fragen entweder gar nicht oder 
nur unvollkommen auffasst, z. B.: [Wo hier?] Keine Ant wort. [Haus?] 
fasst sich an den Kopf. [Jahr?] Keine Ant wort. [Monat?] Dorastr. 12 — 
dannrichtig. [Wochentag ?] Seufzt. [Krank ?] Nicht; gibt dann auf eindring- 
liches Fragen leidliche Auskunft: sie hatte operiert werden sollen, sei aber 
vorher fortgegangen. [Wariun?] ,,Ich wollte doch nicht.“ [Warum ?] „Ich 
dachte, mir wiirde der Kopf abgehauen.“ [Warum sollte man das tun?] 
Keine Antwort, dann: ,,Das habe ich mir wohl eingebildet.“ [Angst?] 
„Nicht, dass man den Kopf abnehmen konnte.“ [Wie darauf gekommen ?] 
,,Weil ich so kopfschwach bin, wenn ich liege, kommt mir so viel ein, wenn 
ich aufstehe, dann ist mir besser, dann remit das Blut auch nicht so.“ (Pat. 
hat tatsachlich blutigen Ausfluss.) Die Pat. berichtet femer, sie argere sich 
leicht, sei nachts of ter vor Schreck aufgewacht, habe geschrieen und auf die 
Nachbarin geschimpft. Es wird der Pat. die Frage aufgeschrieben, sie best 
sie nicht, spricht nur die einzelnen Buchstaben aus. — Als der Arzt an einem 
anderen Bette sitzt, tritt Pat. plotzlich auf ihn zu und sagt, sie wolle sich 


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474 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

wie ein Hund benehmen; ins Bett zuriickgebracht, liegt sie einen Augenblick 
ruhig, walzt sich dann aus dem Bett, kriecht auf alien Vieren im Saale umlier, 
murmelt dabei: „Wie ein Hund benehmen.* 4 Ins Bett zuriickgebracht* 
murmelt sie noch lange: ,,Wie ein Hund 44 . Abends zerreisst sie mit den 
Zahnen das Kissen, lost sich das Haar auf, blickt verstandnislos umher* 
antwortet auf alle Fragen verstandnislos Ja oder Nein, spielt hin und wieder 
verstandnislos vor sich hin, verlangte zu arbeiten, sie konne nicht so im Bett 
liegen. 

Die korperliche Untersuchung ergibt einen sehr schlechten Emahrungs- 
zustand, femer eine eitrige Cystitis. 

20. II. Stumme motorische Unruhe. Befragt, aussert sie einformige 
Klagen liber ihre Nachbarin, glaubt sich in der Frauenklinik, ist kaum 
zeitfich orientiert, wiederholt stets dieselben Worte: Nachttopf, abge- 
schossen. 

21. II. Sprachliche Aeusserungen sparlich, auf Fragen keine Ant wort, 
Aufforderungen nicht befolgt, motorische Unruhe; presst einen Finger gegen 
die Zahne, die Stellung kann nur schwer geandert werden. 

22. II. Keine spachlichen Aeusserungen, versucht, aus dem Bett 
zu gehen, nimmt stereotype Stellungen ein: Knieellenbogenlage, Grimassen- 
schneiden, Kopfstehen u. s. w. — Muss gefiittert werden. Halt sich mit 
beiden Handen die Jack© so fest um den Hals, dass sie ganz blau im Gesicht 
wird. 

23. II. Auf Fragen keine Ant wort, sieht nur den Arzt starr an* 
katatonische Stellung: Zunge weit aus dem Munde vorgestreckt, offene 
Augen. Stirn gerunzelt; dann fasst Pat. mit der linken Hand die Zunge und 
halt sie starr fest. Auch noch andere katatonische Stellungen. 

24. II. Aeusserungen sparlich, noch immer katatonische Stellungen. 
Steckt den Finger in den After und dann in den Mund. 

27. II. Zustand unverandert. Pat. liegt mit gespanntem Oesichts- 
ausdruck stohnend im Bett . Aufforderung, die Zunge zu zeigen, schliesslich 
doch befolgt. [Krank?] „Ja.“ [Schmerzen?] ,,Nein.“ Weiter keine 
verstandliche Antwort. 

1. III. Halt den vierten Finger im Munde, so dass tiefe Furchen 
entstehen Sehr angstlicher Gesichtsausdruck. 

3. III. [Wo hier ?] Stohnt dauemd vor sich hin. — Keine Antwort^ 
[Wer ich?l Zeigt die Zunge. Keine sprachliche Aeusserung. 

8. III. Fortgesetzt weinerliches Verhalten, stosst jammemde Laute 
hervor. Einnassen. 

14. III. In der Nacht fortgesetzt unruhiges Verhalten. Pat. hockt 
im Bett, sieht mit schmerzlich verzogenem Gesicht unruhig umher, stohnt 
und seufzt. 

17. III. Strebt aus dem Bett, fortgesetztes lautes Stohnen. 

19. III. Keine stereotypen Stellungen. Vielfach weinerlich, ge- 
legentlich auch Lachen, bezeichnet heute eine neue Pat. bei ihrem Eintritt 
als „alte Sau 44 . 

20. III. Gelegentliches Lachen, aussert dabei: „Es tut mir leid.‘ c 
Keine Aufklarung. 

23. III. Pat. behalt die Bissen lange im Mund. Vereinzelte sprach¬ 
liche Aeusserungen, z. B. ,,es bleibt immer so im Halse stecken 44 . 

27. III. Pat. ist sehr erregt, raumt das Bett aus, ruft: „Schlachtet 
mich,“ das Herz solle ihr herausgeschnitten werden, sie wolle sterben. 
„Ich bin ein Bar, 44 of ter wiederholt. •- 

29. III. Stohnt und jarnmert viel. Auf Fragen keine Antwort. 
Aufforderungen werden nicht befolgt. 

30. III. Spuckt viel. Verunreinigung. 

1. IV. In der Nacht lautes Schreien: Schlachten liesse sie sich nicht* 
auch nicht verbrennen, die Polizei solle kommen, sie habe kein Geld und 
konne daher nichts machen. Bei Annaherung des Personals aggressiv: 
kratzt und beisst. 

Auf einfache Fragen bewegt Pat. die Lippen, bringt aber keinen Ton 
hervor. Die Auffordervmg, die Hand zu geben, wird befolgt. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


475 


8. IV. Kniet nieder, hat den Kopf maximal nach hinten gebeugt, 
blickt nach oben wie znm Gebet. Angeredet, bringt die Pat. eine Reihe 
unverstandlicher Laute hervor. 

14. IV. Standig grosse Angst. Nachts steht sie aufrecht im Bett 
und wimmert laut. Keine sprachlichen Aeusserungen. Rief am Morgen 
fortwahrend nach der Feuerwehr. Weint laut ohne Tranen, murmelt fort¬ 
wahrend vor sich hin, meist unverstandliche Worte. „Bin ich denn so ver- 
wurzelt . . . ich weiss ja gar nicht, was ich bin . . . ich weiss gar nicht, 
was ich machen soU . . . [Angst?] „Ja.“ [Wovor?] Keine Antwort. 
Aufgefordert, die Hand zu geben, bewegt die Pat. langsam die Hand in der 
Richtung auf die dargebotene Hand, bleibt aber mitten in der Bewegung 
stecken. 

16. IV. Jammert viel, keine verstandlichen sprachlichen Aeusserungen. 

21. IV. Unruhig, zerreisst die Decke, verkannte eine Pflegerin. 

Fortwahrendes Jammem, liess Kot unter sich, wiederholte heute standig 
das Wort Feuerwehr. 

26. IV. Sondenfutterung. 

I. V. Aengstlich und schmerzvoll verzogenes Gesicht, viel Seufzen, 
will aus dem Bett, Einnassen, keine sprachlichen Aeusserungen. 

7. V. Steht aufrecht im Bett, wimmert mit gramvoll angstlieh vor- 
zerrtem Gesicht. 

10. V. Sehr unruhig, wimmert, spuckt. Orientierungsfragen werden 
nicht beantwortet. 

II. V. Dasselbe Verhalten. Am Abend stosst die Pat. plotzlich eine 
Reihe unartikulierter Laute aus, etwa wie: pi, pa, po klingend. — Durchfalle. 

17. V. Heute wieder wie ein Hund gebellt. Unregelmassiger Stuhlgang. 

25. V. Ausgesprochene Zitterbewegungen im ganzen Korper, dabei 

lautes Stohnen. 

5. VI. Sitzt zusammengekauert in ihrem Bett, redet nicht, reagiert 
auf keinen Anruf. 

7. VI. Pat. hat heute gelacht; sagt zu einem Besucher: „Junger 
Mann, mit Ihnen habe ich noch zu sprechen, 44 erzahlt von Westpreussen: 
„Sie waren dort tot. 44 [Wer ?] Die Schwester, ,,dass es sich darum handelt, 
habe ich nicht gewusst. 44 [Um was?] Keine Antwort. 

11. VI. War in der Nacht sehr unruhig, zog sich fortwahrend nackt 
aus; sagte zur War ter in, sie solle ihr das Kopf kissen nicht so ,,rumschmeissen‘ 4 , 
verlangte nachHause, zeigte auf dieFenster und meinte, sie waren so schwarz: 
„Da sieht man doch keinen Menschen. 44 Heute morgen wieder aufrecht im 
Bett, weinend und monoton stohnend. Bisweilen murmelt sie unverstandliche 
Worte vor sich hin. Auf Fragen keine Antwort. Verlasst plotzlich das Bett 
und lauft ziellos im Zimmer auf und ab. 

12. VI. Vorwiegend stumme Erregung, spricht- zum Arzt unter 
grinsendem Lachen einige unverstandliche Worte. 

14. VI. Weint und jammert bestandig. Seit zwei Tagen keine 
sprachlichen Aeusserungen. 

15. VI. TWarum jammern ?] Pat. fangt Satze an, bringt sie aber nicht 
zu Ende. Einzelne Worte kaum verstandlich. 

18. VI. Hat heute morgen zum erstenmal sich selbst gewaschen und 
zurechtgemacht. Isst gierig. nimmt die Schiissel mit Reis und verschlingt 
ihn, ohne den Loffel zu benutzen.— Fortgesetztes Jammern und Weinen, auf 
Fragen unverstandliches Gemurmel. 

19. VI. Keine Durchfalle mehr. 

21. VI. „Wo bin ich denn hier, bin ich denn im Siechenhause, ich 
will raus. 44 

23. VI. Vereinzelte artikulierte, aber unverstandliche Laute. 

24. VI. Verhalten unverandert. Wieder Durchfall. 

27. VI. Fasst sich heute unter windenden Bewegungen krampfhaft 
in den Riicken und jammert dabei unartikuliert. 

Pat. wird nach B. ubergefuhrt. 

Der vorliegende Fall gehort zu den echten Erschopfungspsychosen, 
auch ist als atiologisehes Moment die Gennitsbewegung (Furcht vor der 
Operation) nicht zu iibersehen. Im Verlauf ist bemerkenswert, dass das 

Monatsschrift fiir Psychiatric und Xcuroloaie. Bd. XXVII. Heft .5. 32 


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476 


S a n o , Beitrag zur vergleiohenden Anatomie 


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paranoisch inkoharente erste Stadium allmahlich in ein depressiv inko- 
harentes iibergeht. Als femerhin fortwirkendes erechopfendes Moment 
treten Darmstorimgen (Durchfalle) auf. 

Ausser der Depression, die sich im Gebahren der Patientin, weniger 
in klaren Vorstellungen aussert, ausser der Inkoharenz, die ebenfalls sich 
am auffallendsten im motorischen Verhalten der Pat. aussert, konstatieren 
wir neu auftretende fliichtige Wahnvorstellungen und Halluzinationen. 

Es handelt sich um einen Fall von Amentia im Sinn Meynerts , der 
der inkoharenten Varietat der akuten Paranoia im Sinne Ziehens durchaus 
entspricht. Die Prognose hangt wohl in erster Linie von dem zugrunde 
liegenden Erschopfungszustande ab. (Fortsetzung im nachsten Heft.) 


(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven- 
klinik der Charity Geh. Rat Prof. Ziehen .) 

Beitrag zur vergleiohenden Anatomie der Substantia nigra, 
des Corpus Luysii und der Zona incerta. 

Von 

Dr. TORATA SANO. 

(Hierau Taf. XXVII—XXIX.) 

(Fortsetzung.) 


4. Katze. 

Der Schnitt 112 2 (vergl. Fig. 21) schneidet ventral das vordere 
Briickenfiinftel. 

Die Substantia nigra ist bereits seit wenigstens 20 Objekt- 
tragem in ihren allerersten Anfangen sichtbar. Sie entwickelt sich 
ganz unabhangig vom Briickengrau, aber in engem Zusammen- 
hang mit dem Grau, in welches die laterale Schleife eingebettet 
ist. Sie stellt sich als ein ventromedialer Fortsatz dieses Graues 
dar und liegt zwischen der medialen Schleife und den bei der Katze 
sehr gut entwickelten Sukkursbiindeln der Briicke zur medialen 
Schleife. Auf dem Objekttrager 112 reicht die Substantia nigra 
als schmaler retikulierter Korper bereits bis etwas zur Halfte des 
lateralen Areals der medialen Schleife. Ihre Dicke betragt 0,1 m. 
Ihr Grau hangt mit dem Grau der Haube vermittelst der den 
Lemniscus medialis quer durchsetzenden Streifen grauer Substanz 
zusammen (Vgr). 

Das auf der Figur mit mm Sch bezeichnete Areal verhalt sich 
ganz ahnlich wie bei Lemur. Es ist auf dem Objekttrager 73 schon 
ganz deutlich zu sehen, auf dem Objekttrager 85 findet es sich ganz 
in der Nahe der Pyramide. Verfolgt man es cerebralwarts, so ergibt 
sich, dass ein ventrolateraler Teil seiner Biindel in seiner Lage 
bleibt und schliesslich dem Fusse einverleibt wird, also im Sinne 
der Fasciculi pontini mediates, wahrend der Hauptteil des medialen 
Areals immer weiter dorsal riickt und auf dem Objekttrager 124 
schon von dem Fuss durch einen grauen Streifen (s. unten) ge- 
trennt wird. 


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der Substantia nigra, dee Corpus Luysii und der Zona incerta. 477 


Die auf Fig. 21 mit Fpl bezeichnete Bundelgruppe findet rich 
auf dem Objekttrager 103 noch ganz im Bereich des lateralen Areale 
der medialen Schleife. Sie grenzt sich dadurch ab, dass Balken 
grauer Substanz einzelne Bundelquerschnitte des lateralen Areals 
der medialen Schleife abschniiren. Cerebralwarts trennt sie sich 
vollstandig vom lateralen Areal der medialen Schleife und wird 
dem Fusse einverleibt. Es handelt sich also um die Fasciculi 
pontini laterales. 

Was die Schicht S des Macacus anlangt, so ergibt sich bei der 
Katze folgendes. Die mediale Schleife zerfallt auch hier in zwei 
Areale, das laterals Areal der medialen Schleife lm Sch und das 
mediale Areal der medialen Schleife mm Sch, die in distaleren 
Ebenen durch eine breite Briicke verbunden sind. Cerebralwarts 
wird dieser Verbindungsstreifen S allmahlich faserarmer, so dass 
er z. B. auf Objekttrager 105 fast ganz auf einige transversal ver- 
laufende Biindel beschrankt ist. Auf den folgenden Schnitten sieht 
man deutlich, dass die Fasern des Verbindungsstreifens sioh 
grosstenteils der Vordervierhiigelschleife zugesellen. Dahingestellt 
muss bleiben, ob einige Biindelchen ahnlich wie bei dem Macacus 
an Ort und Stelle bleiben, bezw. ventral sich verschieben und in 
das Fussareal gelangen. 

Das Feld M ist nicht deutlich abzugrenzen. Die Fasern 
bei LI scheinen Nachzugler der lateralen Schleife zu sein, welche 
sich der medialen Schleife zugesellen. 

Der Schnitt \2A x (vergl. Fig. 22) schneidet ventral das vordere 
Briickensiebentel. 

Die Substantia nigra ist grosser geworden, ihre Dicke betragt 
0,7 mm; sie erstreckt sich jetzt als ein schmaler Nahtstreifen 
am ventralen Rande der medialen Schleife entlang und iiber diese 
hinweg bis zur Substantia perforata posterior. 

Im einzelnen ist hier noch folgendes zu bemerken. Schon 
auf dem Objekttrager 104 hat der mediale Briickenzapfen nach 
beiden Seiten einen dorsolateralen grauen Fortsatz ausgeschickt. 
der als schmaler Nahtstreifen anfangs undeutlich, spater sehr 
deutlich sich zwischen den medialen Teil der medialen Schleife 
und das sich formierende Fussareal sowie die in diesem ver- 
laufenden Bruckenfasem einschiebt. Dieser Nahtstreifen hangt 
urspriinglich mit der Substantia nigra nicht zusammen. Erst auf 
Objekttrager 120 setzt er sich mit der Substantia nigra in Ver- 
bindung und kann nunmehr als ein integrierender Ted derselben 
betrachtet werden. Noch auf Objekttrager 124 (Fig. 22) ist die 
Zusammensetzung der Substantia nigra aus diesen beiden Bestand- 
teilen leicht zu erkennen, da das Grau der Substantia nigra an der 
Stelle, wo die Verbindung der beiden Abschnitte erfolgt ist, noch 
sehr schmachtig ist. Auf der Figur ist diese Stelle durch zwei 
Kreuze bezeichnet. Der mediale Nahtstreifen ist mit Mn be- 
zeichnet. 

Eine weitere, ebenso wichtige Beziehung der Substantia nigra 
ergibt sich aus der folgenden Beobachtung. Wahrend auf Objekt¬ 
trager 112 innerhalb des gesamten Areals der medialen Schleife 

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478 Saup, Beitrag zur vergleichenden Anatomie 

fast keine graue Substanz eingestreut war, hat sich dies auf den 
folgenden Schnitten geandert. Schon auf Objekttrager 113 sieht 
man zahlreiche Balken grauer Substanz, welche aus der Substantia 
nigra entspringen, das laterale Gebiet der medialen Schleife und 
die Verbindungsbriicke S der beiden Areale der medialen Schleife 
durcbsetzen und in das Grau der Haube dorsal von der medialen 
Schleife einmiinden. Besonders stark sind diese grauen Balken 
auf Objekttrager 124 im Bereich der ehemaligen Verbindungs- 
briicke der beiden Areale der medialen Schleife. Sie stehen hier 
mit einer machtigen grauen Masse in Verbindung, die unmittelbar 
dorsal vom lateralen Areal der medialen Schleife gelegen ist und 
wahrscheinlich zu dem Kern der medialen Schleife zu rechnen ist, 
wie ihn Ziehen 1 ) z. B. fur den Igel beschrieben hat (Nucleus lemnisci 
mediahs). Durch dieses dichte Balkenwerk werden die iibrig 
bleibenden Biindel des Mittelteils der medialen Schleife geradezu 
abgeschniirt und in graue Substanz eingebettet. Es handelt sich 
dabei um dieselben Biindel, von welchen oben angegeben wurde, 
dass sie grosstenteils der Vordervierhiigelschleife nachziehen. 

Der dorsale Abschnitt der Substantia nigra besteht im wesent- 
lichen aus kompakter grauer Substanz; der ventrale Abschnitt, 
insbesondere die laterale Partie desselben, zeigt viele quergetroffene 
Biindel, so dass man schon hier die Zona compacta substantiae 
nigrae und die Zona reticulata substantiae nigrae ziemhch gut 
unterscheiden kann. Uebrigens sieht man auch in der Zona com¬ 
pacta ziemlich zahlreiche kleine, schraggeschnittene Biindelchen, 
die in ihrem weiteren Verlaufe sich der Vordervierhiigelschleife 
zugesellen. Verfolgt man die Serie in spinaler Richtung, so wird es 
sehr wahrscheinlich, dass diese Biindelchen das Gebiet der Sub¬ 
stantia nigra durchsetzen und schliesshch spinalwarts samtlich 
oder grosstenteils in das Fuss- bezw. Briickenareal iibergehen. 
Sie bieten insofern grosses Interesse, als bei niederen Saugem diese 
zerstreuten Biindelchen zu einem machtigen, von Ziehen genauer 
beschriebenen Faserzug vereinigt sind. 

Im Bereich des Feldes M zeigt sich hier eine langliche Vor- 
wblbung M'. Sie ist vom Fuss durch eine Einschniirung getrennt 2 ). 
Man sieht eine ziemlich machtige Gruppe von Biindelquerschnitten 
innerhalb dieses Korpers, die auf der Figur mit Fpl’ bezeichnet ist. 
Diese Biindelgruppe stammt ebenso wie die lateralen pontinen 
Biindel aus dem lateralen Areal der medialen Schleife und wird 
schliesshch weiter cerebralwarts dem Fuss einverleibt, aber sie 
bleibt immer von den lateralen pontinen Biindeln und dem Fuss 
ganz getrennt; cerebralwarts riickt sie mehr und mehr medialwarts 
und bleibt stets weit dorsal von den lateralen pontinen Biindeln zu 
sehen (vergl. die folgenden Figuren). 

Dorsal von M' findet sich ein grosses graues Feld, welches 
wohl noch dem Feld M entspricht. Dieses Feld geht allmahlich 


•) Ziehen, Th., Das Zcntralnervensystem der Monotrernen und Marsu- 
pialier. 4. Band. S. 9UG. 

*) Die Beziehung zu dem Corpus parabigenum wird spater erdrtert 
werden. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 479 

in das diffuse Grau der dorsolateralen Haubenpartie xiber. Die 
Substantia nigra hangt mit M' und M zusammen. 

Der Schnitt 134 (vergl. Fig. 23) schneidet ventral die Bindearm- 
kreuzung und den vorderen Ponsrand. 

Die Substantia nigra hat sich noch weiter medial ausgedehnt; 
ihre Dicke betragt 2,2 mm; sie hangt mit der Substantia perforata 
posterior bezw. dem hier bereits eben unterscheidbarenPedamentum 
laterale unterhalb des Pedunculus corporis mamillaris zusammen. 
Lateral ist sie breiter als medial. 

Die Zona compacta nimmt jetzt die ganze Breite der dorsalen 
Partie der Substantia nigra und ungefahr die medialen zwei Drittel 
der iibrigen Partien der Substantia nigra ein. Aus der medialen 
Partie, und zwar dem dorsalen Teil, biegen zahlreiche Fasem in das 
Feld des Pedunculus corporis mamillaris ein. Sie stellen das Biindel 
der Substantia nigra 1 ) zum Pedunculus corporis mamillaris dar. 
Die Fasergeflechte, die den Geflechten D 1 und D m der anderen 
Tiere entsprechen, sind deuthch differenziert. Das Geflecht D' 
zeigt sich schon auf dem Objekttrager 126, das Geflecht D m erst 
auf diesem Schnitte. Die Fibrae efferentes tecti dringen massenhaft 
in die Substantia nigra ein, ein Teil derselben gelangt bis zum 
Fuss, wahrend ein anderer Teil sich schon innerhalb der Zona 
compacta substantiae nigrae zu verlieren scheint; ein Zusammen- 
hang dieser efferenten Fasem mit den Geflechten D 1 und D m ist 
wahrscheinlich. 

Die ventrale Partie der Substantia nigra, die noch deutlicher 
retikuliert erscheint als friiher, zeigt zwei abgrenzbare Biindel- 
gmppen: die lateralen pontinen Biindel und die auf der Figur mit 
C bezeichnete Gruppe. 

Die Biindelgruppe Fpl’ ist viel medialer geriickt, so dass sie 
dem Geflecht D 1 benachbart ist. 

Das Pedamentum laterale ist von der Substantia nigra nicht 
scharf zu trennen. 

Lateral von dem kaum noch erkennbaren Feld M findet sich 
ein ovales Feld von Biindelquerschnitten, welches wohl schon fast 
ganz dem Brachium quadrigeminum posterius angehort. Die Vor- 
wolbung am Rand ist hier wohl sicher als Corpus parabigeminumauf- 
zufassen. Es ist nicht uninteressant, seine Fasem zu verfolgen. Auf 
distaleren Ebenen, z. B. auf Objekttrager 114, ist der von Hatschek 2 ) 
beschriebene Faserzug v nach den Briickenkemen ziemlich deuthch 
zu sehen. Cerebralwarts sind die Faserziige d und m desselben 
Autors deutlich zu sehen, der erstere z. B. auf Objekttrager 124 
und der letztere z. B. auf Objekttrager 130, 134, wenn beide auch 
nicht so machtig entwickelt sind, wie der genannte Autor sie fur 
das Schwein abgebildet hat. 

Der Schnitt 146 (vergl. Fig. 24) trifft ventral den roten Kern 
in seiner vollen Entwicklung. 

*) Damit soli durchaus nicht etwa schon gesagt sein, dass das Biindel 
in der Substantia nigra enispringt. 

*) HaUchek,R .,Bemerkungen iiber das ventraleHaubenfeld, die mediale 
Schleife und den Aufbau der Briicke. Arbeiten aus dem neurologischen 
fnstitut der Wiener Universitat. 1904. Bd. XI. S. 141—144. 


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480 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic 

Die Substantia nigra hat sich noch mehr verbreitert. Ihre 
Dicke betragt 2,8 mm. 

Die Zona compacta zeigt das machtiger entwickelte Geflecht 
DJ. Das Geflecht D m zeigt mehr dorsoventral verlaufende, deuthch 
aus der Haube stammende Fasem. Beide Geflechte sind nicht 
scharf getrennt. Der Zusammenhang des Geflechtes D 1 mit den 
Fibrae efferentes tecti ist auch hier deuthch. 

Das Bundel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis 
mamillari8 ist bereits viel schwacher geworden. Ein Zusammen¬ 
hang mit den Fibrae efferentes tecti ist fur die Katze schwer nach- 
zuweisen. 

Man sieht auf diesem Schnitt viele Fibrae efferentes tecti 
und vielleicht auch Fasern aus dem roten Kern in den medialen 
und mittleren Fussteil eintreten; einzelne dieser Fasem erinnern 
an das Biischel K von Lemur. Die GanglienzeUansammlung K' von 
Lemur ist nicht sicher nachzuweisen. 

Der laterale Teil des Fusses ist im Vergleich zu Macacus 
und Lemur relativ schwach entwickelt. Dementsprechend ist der 
Prooessus lateralis substantia nigrae kaum zu sehen. 

Das Pedamentum laterale ist viel breiter geworden. 

Das Corpus parabigeminum hat sich inzwischen erheblich 
ventralwarts verschoben, so dass es jetzt der ventralen Flache 
des lateralen Fussfiinftels angelagert ist. Es besteht nur noch aus 
sparlicher grauer Substanz, die allenthalben von dorsalwarts auf- 
strebenden Fasern umgeben ist. Man sieht diese letzteren sich 
schliesslich cerebralwarts in der Nische sammeln, welche zwischen 
dem Corpus geniculatum mediate und dem Fuss liegt und friiher 
von dem Corpus parabigeminum eingenommen wurde. und deren 
Grau wir kurz provisorisch als Nischenfeld bezeichnen wollen 1 ). 

Die Biindelgruppe Fpl' steht zu diesem Feld nicht mehr in 
Beziehung. Sie ist bereits fast durch die halbe Breite der Sub¬ 
stantia nigra von ihm getrennt. Hingegen sieht man noch immer 
einzelne Bundel aus der Zona reticulata substantiae nigrae dem 
Nischenfeld zustreben. 

Schnitt 159 2 (nicht abgebildet) schneidet ventral die Wurzel- 
biindel des Oculomotorius und den roten Kern. Die Substantia 
nigra ist noch grosser geworden. Ihre Dicke betragt 3,8 mm. 
Sie stbs8t an das sehr breite Pedamentum laterale. Die Grenze 
zwischen beiden ist ganz unscharf. Die Zona compacta ist sehr 
breit, sie nimmt fast vier Funftel der Substantia nigra ein. Das 
Geflecht D 1 ist noch machtig, wahrend das Geflecht D m sich nicht 
mehr deutlich abhebt. Die Zona compacta zeigt in ihrer lateralen 
Partie Fasern in grosserer Anzahl, welche anscheinend aus dem 
Geflecht D 1 durch den Fuss ziehen, um sich in der Nahe des 
Spitzkaschen Biindels zu verlieren. 

Im allgemeinen ist die Substantia nigra faserarmer. In der 
lateralen Partie dorsal vom Geflecht D 1 sieht man eine Gruppe 
schief oder quer getroffener Bundel, die mit P bezeichnet werden 
soil. Diese Biindelgruppe, deren Zugehorigkeit nicht klar ist, 

*) Die in Betracht kommende 8 telle ist schon hier mit Nf bezeichnet. 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 481 

entspricht wohl nicht dem Biindel Q der seither besprochenen 
Tiere. A us der Verfolgung der vorhergegangenen Schnitte ergibfc 
sich vielmehr folgendes. Diese Biindelgruppe wird zuerst sicht- 
bar auf Objekttrager 150. Sie zweigt sich hier lateralwarts von dem 
lateralen Areal der medialen Schleife ab und gelangt in die Nahe 
des Feldes M. Viel schwieriger ist die Verfolgung der Biindel 
in cerebraler Richtung. Es scheint, dass sie sich dem sparlichen 
Faserreste des Hintervierhiigelarms anschliessen, welcher zwischen 
der Haube und dem Corpus geniculatum mediale noch eingekeilt ist. 
Ich kann jedoch nicht ausschliessen, dass die Fasern hier samtlicli 
oder teilweise zunachst eine Unterbrechung in Ganglienzellen er- 
fahren. 

Die Biindelgruppe Fpl' findet sich jetzt ventral von D 1 und 
fast in der Mitte der lateralen Partie der Substantia nigra. 

Ventral vom roten Kern sieht man erst hier eine schmale Zone 
von dorsolateral verlaufenden Fasern, die der halbmondformigen 
Schicht der bisher besprochenen Tiere entspricht. 

Ein Faserzug, der dem friiher beschriebenen Zug B entspricht, 
ist nicht isoliert zu sehen. 

Eine zellarme Schicht ventral von der halbmondformigen 
Schicht, die der zellarmen Schicht der anderen Tiere entspricht, 
ist vorhanden. 

Die Zona reticulata substantiae nigrae tritt ganz zuriick. Der 
Processus lateralis ist hier ziemlich gut entwickelt. 

Das Spitzkasche Biindel ist machtig entwickelt. 

Das Corpus parabigeminum ist zuletzt auf Objekttrager 153 
zu sehen gewesen und war bis zum Verechwinden stets der ven- 
tralen Flache des lateralen Fussteils angelagert. Inzwischen sind 
in dem ,,Nischenfeld“ bemerkenswerte Veranderungen eingetreten. 
Aus den Fasern, welche das Corpus parabigeminum dorsalwarts 
sendet, zum Teil wohl auch aus Fasern, die aus der Substantia 
nigra stammen, hat sich ein Faserareal formiert, welches sich dem 
lateralen Pol des Fusses dorsolateral anschliesst, aber von ihm 
durch graue Substanz getrennt wird, welche z. T. als Substantia 
reticulata lateralis pedis aufzufassen ist, z. T. au6h zu dem 
noch zu besprechenden Feld F gehort. Die Substantia reticulata 
lateralis pedis hangt hier unmittelbar mit der Substantia nigra 
zusammen. Dieses neue Faserareal soli auch weiter noch als 
Nischenfeld bezeichnet werden. Dorsal grenzt es unmittelbar an 
das Corpus geniculatum mediale. 

Das Feld M lasst sich weder gegen die Substantia reticulata 
lateralis pedis noch gegen die Substantia nigra scharf abgrenzen. 

Von der Substantia reticulata lateralis pedis mochte ich noch 
ein grosses Feld F abtrennen, das eng mit der Substantia reticulata 
lateralis pedis zusammenhangt. Es wird ventrolateral vom Spitzka- 
schen Biindel und medial vom Fuss begrenzt und geht ohne scharfe 
Grenze in die Substantia reticulata lateralis pedis iiber. Wenn 
man dieses Feld spinalwarts verfolgt, so ergibt sich, dass es etwa 
auf Objekttrager 140 zuerst auftritt, und zwar in Verbindung 
einerseits mit dem Processus lateralis substantiae nigrae und 


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482 


Sano, Beitrag zur vergieichenden Anatomie 


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andererseits mit dem Corpus parabigeminum. Je mehr letzteres sich 
ventromedial verschiebt und je zahlreicher die Fasem des Spitzka- 
schen Biindels werden, umsomehr trennt das Feld F sich vom 
Corpus parabigeminum. Auch von dem Processus lateralis sub¬ 
stantia nigrae sondert es sich nach und nach ab, indem ein Teil 
des Fussareals sich zwischen beiden einschiebt. 

Der Schnitt 171 2 (vergl. Fig. 25), welcher ventral das cerebrale 
Drittel des roten Kerns schneidet, veranschaulicht alle diese Ver- 
haltnisse. 

Die Substantia nigra hat sich im lateralen Teil stark aus- 
gedehnt, zugleich ist die mediale Schleife stark dorsalwarts geriickt. 
Die Dicke der Substantia nigra betragt 2,7 mm. 

Die Zona reticulata substantiae nigrae tritt etwas zuriick. 
Der Processus lateralis ist angedeutet. Die Biindelgruppe Fpl ist 
stark reduziert und zum Teil dem Fuss einverleibt. Hingegen zeigt 
die Biindelgruppe Fpl’ eine kompaktere Anordnung. Sie liegt 
noch ganz im Bereich der Zona compacta substantiae nigrae, 
ist aber dem Fuss naher geriickt. 

Von der Gegend ventral vom roten Kern zieht ein schwacher 
Faserzug (zuerst auf Objekttrager 165) lateralwarts bis zur Gegend 
des Geflechtes D 1 . Auf der Figur ist er mit dem Buchstaben Y 
bezeichnet. 

Ein anderer, etwas schwacherer Faserzug T, der in Bezug auf 
die Lage und Richtung einem schon bei den seither besprochenen 
Tieren beschriebenen, und zwar beim Menschen am machtigsten 
entwickelten Faserzug entspricht, zweigt sich ventrolateral im 
spitzen Winkel anscheinend von Y ab. 

Ein ausserst unscharf begrenztes Feld Zi dorsolateral von 
diesem letzteren Faserzug ist wohl als Vorlaufer der Zona incerta 
aufzufassen und entspricht dem dorsalen Abschnitt des haken- 
formigen Feldes der seither besprochenen Tiere. 

Uebrigens zeigt die laterale Partie der Substantia nigra jetzt 
einen starkenFaserreichtum,namentlich haben die oben erwahnten, 
in den Hirnschenkelfuss fast senkrecht eindringenden und in die 
Nahe des Spitzkaschen Biindels gelangenden Fasem noch sehr an 
Zahl zugenommen. 

Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis 
mamillaris ist verschwunden, der Pedunculus corporis mamillaris 
ist auf dem Maximum seiner Entwicklung. Das Pedamentum 
laterale tritt etwas zuriick. 

Die halbmondformige Schicht ist breiter geworden, ihre Fasem 
ziehen anscheinend zum Teil in die Hatscheksche Kreuzung. 

An der medialen Seite des Fusses ziehen die Fasem des Tractus 
peduncularis transversus zwischen der medialsten Partie des Fusses 
und dem Pedamentum laterale hindurch, um sich in der Zona 
compacta zu verlieren. Dazu gesellen sich Fasem, die aus dem Pe¬ 
damentum laterale stammen. Die ersten Fasem des Tractus 
peduncularis transversus werden auf Objekttrager 166 sichtbar. 

Das graue Feld F hat an Ausdehnung zugenommen. Dorsal 
geht es noch immer in die Substantia reticulata lateralis pedis iiber, 


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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inci-rta. 483 


lateral wird es jetzt nicht nur von dem Spitzkaschen Biindel, 
sondern auch von einem Teil des Fusses begrenzt, der sich all- 
mahlich zwischen das Feld F und das Spitzkasche Biindel einge- 
schoben hat. Das Nischenfeld ist jetzt mit diesem lateral vom Feld F 
gelegenen Fussabschnitt verschmolzen. 

Die Substantia reticulata lateralis pedis findet sich wie friiher 
dorsal vom Feld F. Die eben erwahnten beiden Areale werden von 
Fasem aus der Gegend der medialen Markkapsel des Corpus 
geniculatum mediale 1 ) und von Fasem des Faserzugs T durchsetzt, 
die sich in der Nahe des Spitzkaschen Biindels verlieren. 

Das Feld M ist seit Objekttrager 164 vollkommen ver- 
schwunden. 

Der Schnitt 176 (vergl. Fig. 26) schneidet ventral den spinalsten 
Teil des Fasciculus retroflexus. 

Die Substantia nigra ist etwas kleiner geworden. Ihre Dicke 
betragt 2,2 mm. Die Zona compacta ist in der lateralen Partie 
schon kaum mehr zu erkennen, in der medialen Partie hingegen 
noch ziemlich gut entwickelt. 

Der Tractus peduncularis transversus ist sehr faserarm ge¬ 
worden. In proximaleren Ebenen sieht man seine Fasem langs- 
getroffen ventral vom Spitzkaschen Biindel liegen und strecken- 
weise mit ihm verlaufen. 

Der Faserzug Y ist machtiger geworden. Er besteht jetzt 
zum Teil aus Fasem der halbmondformigen Schicht. Der Faserzug T 
ist jetzt ebenso machtig als Y. Seine Fasern ziehen in das Feld F 
und die lateral davon gelegene Fusspartie. 

Ein Faserzug aus dem Corpus geniculatum mediale gesellt sich 
anscheinend demFaserzugT in seinem dorsalen Teile zu. Die Fasem 
dieses Zuges, den ich als T' bezeichnen will, ziehen weiterhin dem 
Zug Y parallel und entziehen sich der Verfolgung. 

Die Fasem, die friiher in grosser Anzahl von der Gegend des 
Geflechtes D 1 her den Fuss senkrecht durchbrachen, sind jetzt 
grosstenteils medialwarts geriickt und stellen jetzt einen Faserzug 
dar, der wieder an das Biischel K erinnert. Die Fasern hangen 
sicherwenigstens teihveise mitdenFibrae efferentes tecti zusammen. 
Trotz der machtigen Entwicklung des Biischels K ist es schwer, 
die Ganglienzellenansammlung, K' der anderen Tiere, zu finden. 
Man sieht ferner auch, dass wenigstens ein Teil dieser Fasern 
aus dem roten Kern stammt. Das Feld O ist hier wie auch schon 
auf der letzten Figur gut ausgepragt, allerdings aber von K schwer 
zu trennen. 

In der Zona reticulata sieht man den Processus lateralis noch 
undeutlicher als im vorigen Schnitte. Die Biindelgruppe Fpl ; ist 
noch kompakter als friiher und liegt jetzt unmittelbar dorsal vom 
Fuss neben dem kleinen Rest der Biindelgruppe Fpl, d. h. den 
lateralen pontinen Biindeln. 

Die Zerblatterung des mittleren Teils des Fusses, die sich schon 
auf Objekttrager 174 bemerkbar machte, ist auf diesem Schnitt(l 76* 

l ) Von dem Corpus geniculatum mediale ist bei Cgm nur eben die 
medioventrale Ecke noch getroffen. 


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484 Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie 

noch deutlicher geworden. Die A-Felder sind zwischen den Biindeln 
des Fusses zu sehen. Sie stellen streifige Felder ventral vom 
Processus lateralis dar und hangen mit dessen Grau zusammen. 

Das graue Feld F geht jetzt einerseits in das Grau der Sub¬ 
stantia nigra, andererseits in das Grau dorsal vom lateralsten 
Fussteil iiber. Letzteres ist nicht zur Substantia nigra zu rechnen, 
sondern stellt eine graue Verbindungsstrasse zwischen der Sub¬ 
stantia nigra und dem Corpus geniculatum mediale dar. Spinal- 
warts verschmilzt es ganz mit dem Corpus geniculatum mediale, 
cerebralwarts geht es in das Grau der Gitterschicht iiber. Die 
Substantia reticulata lateralis pedis ist, wenn man das Feld F 
nicht zu ihr rechnet, mit Schnitt 175 verschwunden. 

Der Schnitt 181 2 (vergl. Fig. 27) schneidet die Commissura 
posterior und das Meynerts che Biindel. 

Die Substantia nigra ist kleiner geworden. Ihre Dicke betragt 
2,0 mm. Die Zona reticulata tritt stark zuriick. Die Biindelgruppe C 
ist nicht mehr zu erkennen. Die lateralen pontinen Biindel sind 
dem Fuss fast ganz einverleibt. Die jetzt ausserst kompakte Biindel- 
gruppe Fpl' ist nun ebenfalls im Begriff, in den Fuss einzutreten. 
Die Zerblatterung der mittleren Fusspartie und die A-Felder 
verhalten sich wie friiher. 

Die Zona incerta hat sich jetzt vergrossert. Sie wird durch 
den Faserzug T von der Substantia nigra und durch den Faserzug T' 
vom ventralen Grau des Corpus geniculatum mediale, an dessen 
Stelle spater der ventrale Thalamuskern tritt, getrennt. 

Man sieht deutlich, dass die Fasem des Feldes Y in grosser 
Zahl durch die halbmondformige Schicht ziehen oder in ihr enden. 

Der Tractus peduncularis transversus ist nur an dem 
medialsten Fussrand andeutungsweisc zu sehen. 

Das graue Feld F, das etwas kleiner geworden ist und wie 
immer im Bereich der grossen Kerbe des ventralen Fussrandes 
liegt, geht in das Grenzgebiet, wo die Zona incerta und die Gitter- 
schicht mit einander zusammenfliessen, iiber. 

Das Pedamentum laterale ist noch ziemhch breit. 

Auf Schnitt 186 1 (nicht abgebildet), der ventral den spinalsten 
Teil des Corpus mamillare schneidet, ist die Substantia nigra medial 
noch ziemhch breit; im Bereich des mittleren Fussteils hingegen. 
der auffalhg breit sich ventral und dorsahvarts vorwolbt, ist sie 
sehr schmal; die lateralste Partie der Substantia nigra ist schon 
verschwunden. Ihre Dicke betragt 1,6 mm. Eine Zona compacta 
und eine Zona reticulata lassen sich kaum mehr unterscheiden, 
nur in der medialsten Partie kann man noch einen Rest der friiheren 
Retikulation sehen. 

Die lateralen pontinen Biindel sind ganz mit dem Fuss ver- 
schmolzen. Von der Biindelgruppe Fpl' bleiben noch 1—2 Biindel, 
die im Begriff sind, ebenfalls in den Fuss einzutreten. 

Das Feld Y hat sich mehr und mehr verdichtet und liegt der 
Gitterschicht ventral an. Es enthalt: 

1. Fasem der medialen Schleife, 

2. Stabkranzfasern des Corpus geniculatum mediale, 


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des Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 485 

3. Fasem des hinteren Vierhiigels. 

4. Fasem der halbmondformigen Schicht. 

Die Faserzxige T und T\ welch letzterer jetzt aus dem sich 
spa ter zur Gitterschicht umgestalteten Feld medialwarts zieht, 
ziehen in transversaler Richtung und stellen jetzt die dorsale Be- 
grenzung der Substantia nigra dar. 

Das Feld H von Ford ist lateral vom roten Kern eben bereits 
zu erkennen. Ventral vom roten Kern sieht man die Zona transitoria 
als ein kleines Feld. 

Der Schnitt 198 2 (vergl. Fig. 28) schneidet ventral das eben aus- 
tretende Vicq d'Azyrsche Biindel. 

Die Substantia nigra ist noch mehr reduziert. Sie zeigt Biindel- 
querschnitte und langsgeschnittene, in ihr Maschenwerk eindrin- 
gende gewundene Fasern, die zum Teil deutlich in den Fuss ziehen. 
Monakow beschreibt dieses Feld fur das Hundehim als Corpus 
Luysii 1 ). Indessen sprechen dafiir, dass es sich um die Substantia 
nigra handelt, folgende Momente: erstens das durch die Biindel- 
querschnitte bedingte retikulierte Aussehen, zweitens die zwischen 
den Bun4eln ziehenden, gewundenen, in verschiedenen Richtungen 
verlaufenden Fasem, die im Corpus Luysii bei anderen Tieren nicht 
vorkommen und gerade an die gewundenen Fasern der Ge- 
flechte D' und D m oder eines Teiles des Biischels K in der Sub¬ 
stantia nigra erinnern. Die Dicke der Substantia nigra betragt 
1,1 mm. 

Das Corpus Luysii ist vielleicht schon auf dem Schnitt 192 
ungefahr zu erkennen, woselbst die Zone zwischen dem Feld H- 
und den Faserziigen T und T' viel breiter ist und wohl nur der 
unscharf begrenzte kleinere ventrale Teil derselben als Corpus 
Luysii aufzufassen ist. Auf dem Schnitt 198 ist es als ganz schmaler, 
langlich-spindelformiger Korper zu sehen. Seine Dicke betragt 
1,3 mm. Die dorsale Markkapsel wird hauptsachlich von Fasern 
des Feldes H- gebildet. Die unmittelbar dorsal vom Fuss liegende 
ventrale Markkapsel ist etwas schwacher als die dorsale. 

Die Zona incerta ist hier deutlich zu sehen und ziemlich breit. 
Sie wird vom dorsolateralen Fortsatz des Feldes H 2 unvollkommen 
in zwei Teile getrennt, einen kleineren ventrolateralen und einen 
grosseren dorsomedialen. zwischen H 1 und H 2 liegenden. 

Das Feld H 1 , welches auf Objekttrager 191 schon deutlich 
auftritt, ist auf diesem Schnitt ziemlich machtig entwickelt. Das 
Feld H 2 wird auf Objekttrager 191 zuerst sichtbar. 

Das kleine Areal der Zona transitoria ventral vom Rest des 
roten Kerns ist von der Hauptmasse der Zona incerta durch die 
Fasem des Feldes H 2 unvollkommen getrennt. 

Das Feld F ist noch deutlich zu sehen. 

Die A-Felder sind viel ventraler geriickt. Gleichzeitig ent- 
wickeln sich graue Felder ventral vom Feld F, die auf der Figur 


') Monakow ,1 Experiinentelle und pathologisch-anatomische Unter- 
suehungen iiber die Haubenregion, den S^hhiigel und die Regio subthalamica, 
nebst Beitragen zur Kenntnis friih erworbener Gross- und Kleinhirndefekte. 
Arch. f. Psych. Bd. 27. S. 13. 44. 


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4St) Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie 

mit A' bezeichnet sind. Sie tauclien zuerst auf Objekttrager 1S9 
auf, und zwar zunachst ohne Zusammenhang mit derGitterschicht. 

Das basale Langsbiindel ist ziemlich schwach entwickelt. 

Der Schnitt 200 2 (vergl. Fig. 29) schneidet ventral das Vicq 
d'Azyrsche Biindel bei seinem Austritt aus dem Corpus mamillare. 

Die Dicke der Substantia nigra betragt 1,2 mm. 

Die wichtigste Umgestaltung auf diesem Schnitt gegeniiber 
dem vorigen Schnitte besteht in der scharferen Begrenzung des 
Corpus Luysii. Das Corpus Luysii zeichnet sich durch sein helleres 
Aussehen entsprechend seiner relativen Faserarmut aus. Seine 
Dicke betragt 0,3mm. Die Fasem der dorsalenMarkkapsel, die fast 
ausschliesslich von Fasem des Feldes H 2 gebildet wird, biegen deut- 
lich in den Fuss ein. Die ventrale Markkapsel ist faserreicher ge- 
worden. 

Ob das ventral vom Corpus Luysii und dorsal von der Sub¬ 
stantia nigra gelegene Gebiet als accessorischer Luysscher Korper 
im Sinne von Ramon y Cajal aufzufassen ist, muss dahingestellt 
bleiben 1 ). Forel schreibt, dass das Corpus Luysii des Hundes un- 
scharf begrenzt ist 2 ), nach Kolliker hingegen ist es scharf begrenzt 3 ). 
Der Grund dieses Meinungsunterschiedes liegt vielleicht darin, 
dass das Corpus Luysii nur streckenweise wie auf Fig. 29 scharf 
und sonst nur sehr unscharf begrenzt ist. 

Die Zona transitoria ist ganz verschwunden. Die Zona incerta 
(lateraler Abschnitt) ist jetzt breit und geht direkt in die Gitter- 
schicht iiber. Der mediale Abschnitt der Zona incerta ist unver- 
andert gebheben. 

Das basale Langsbiindel, das bei der Katze iiberhaupt schwach 
entwickelt ist, ist hier relativ deutlich zu sehen. 

Der Schnitt 204 (vergl. Fig. 30) schneidet ventral noch den 
Fasciculus mamillaris princeps bei seinem Austritt aus dem Corpus 
mamillare. 

Die Substantia nigra ist sehr klein, aber noch immer deutlich 
retikuliert. Ihre Dicke betragt 0,8 mm. 

Das friihere Feld des roten Kerns zeigt im dorsomedialen Ab¬ 
schnitt jetzt weniger Biindelquerschnitte, vielmehr hauptsachlich 
die diffusen Fasem des Feldes H 1 , wahrend die ventrolaterale 
Partie zu Bundeln angeordnete Fasern in grosser Zahl enthalt. 
Lateral ziehen die Fasern des Feldes H 1 in die Lamina medullaris 
lateralis. Die Fasern des Feldes H 2 ziehen zu einem grossen Teil 
auch in die Gitterschicht. Ein kleiner Teil biegt wohl auch in 
die Lamina medullaris lateralis, ein anderer in das Fussfeld ein. 

Das Corpus Luysii ist wieder als nur ganz unscharf begrenzte 
Zone zu erkennen. Es findet sich in seiner friiheren Lage. Nament- 
lich von der Zona incerta ist es nur schwer zu trennen. Seine Dicke 
betragt ungefahr 0,2 mm. Die dorsale Markkapsel wird wegen der 
Zerstreuung der Fasern des Feldes H 2 undeutlich. Die ventrale 


') liamon y Cajal, Textura del sistema nervioso del humbre y de los 
vertebrados. 1904. K. 713. 

2 ) Forel . A., Untorsuehungen iiber die Haubenregion und ihre oberen 
Verkniipfungen ini Gehirne des Menschen und einiger Sivugetiere, mit Bei- 
triigen zu den Methoden der Gehirnuntersuchungcn. Arch. f. Psych. 1877. 

Rd. 7. S. 474. Zeile 3. 

3 ) Kolliker, A., Handbueh der Gewebelehre des Menschen. 1894. Bd. II. 

S. 400—464. 

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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 487 


Markkapsel hat erheblich an Machtigkeit abgenommen. Der 
accessorische Luyssche Korper ist nicht mehr zu erkennen. 
Am lateralen Ende des Corpus Luysii dringt ein dreieckiger Fort- 
satz grauer Substanz, der auf der Figur mit N bezeichnet ist. 
in das Fussfeld ein, um sich durch feme graue Balken mit den 
A-Feldem in Verbindung zu setzen. 

Die Zona incerta wird von den Fasern des Feldes H 2 wegen 
ihrer zunehmenden Zerstreuung nicht mehr in zwei Teile getrennt. 

Die A-Felder, die immer ventraler riicken, verbinden sich jetzt 
netzformig miteinander und stehen mit grauen Feldern, die sich 
zwischen die Meynerts che Kommissur und den Fuss einschieben, 
in Verbindung. So entsteht eine zusammenhangende graue Masse 
an der ventralen Flache des lateralen Fussabschnittes. 

Im medialen Fussteil sieht man streifige dunklere und hellere 
Felder. Es handelt sich bei den helleren Feldern zum Teil gar nicht 
um graue Substanz, vielmehr kommt derFarbenunterschied dadurch 
zustande, dass die Fasern des Fusses felderweise langsgeschnitten 
und quergeschnitten erscheinen. 

Der Schnitt 208 (vergl. Fig. 31) schneidet ventral den Fasciculus 
mamillaris princeps kurz nach seinem Austritt aus dem Corpus 
mamillare. 

Die Substantia nigra ist kaum noch zu erkennen. Das Corpus 
Luysii ist ausserst unscharf begrenzt. Der Fortsatz N ist noch tiefer 
geriickt. 

Der dorsale Teil des friiheren Feldes des roten Kernes zeigt 
jetzt fast nur noch langsgetroffene Fasern und zwar hauptsachlich 
oder ausschhesslich solche des Feldes H 1 . Das Feld H 2 zeigt noch 
immer vorwiegend Anordnung in Bundeln, doch erscheinen diese 
Biindel jetzt nicht mehr rein quergetroffen, sondem kurz schrag- 
getroffen. 

Ventrolateral von dem biindelformig angeordneten Feld H- 
sieht man ein Feld V von diffusen quergeschnittenen Fasern. 
Das Feld V gibt sowohl in dorsolateraler Richtung wie in ventro- 
medialer Fasern ab; die ersteren nehmen die Verlaufsrichtung des 
Feldes H 2 , die letzteren (V') wenden sich dem Corpus mamillare zu. 
Es erheben sich nun folgende Fragen: Gehort dieses Feld V zum 
Gebiete des roten Kerns ? Ist der dorsolateral von V aufsteigende 
Faserzug als H 2 und der ventromedial absteigende Faserzug 
als der Fortsatz x von Kolliker 1 ) aufzufassen ? 

Wenn man das Feld V spinalwarts verfolgt, so sieht man, 
dass dieses Feld allmahlich mit dem roten Kern zusammenfliesst; 
es scheint daher in der Tat zum Gebiete des roten Kerns zu gehoren. 
Dass das ventromedial absteigende Faserbiindel als der Fortsatz x 
von Kolliker aufzufassen ist, scheint daraus sicher hervorzugehen, 
dass es cerebralwarts mit dem allmahlichen Verschwinden des 
Corpus Luysii allmahlich starker wird {Kolliker, S. 455) und sich. 
lateral vom Vicq rf’Azt/rschen Biindel verlaufend, dem Faserzug 
an der medialen Seite der Columna fornicis anschliesst. 

Ob die ganze dorsolateral von V aufsteigende Fasermasse 
mit H 2 identisch ist, ist fraglich. Es ist aber fast sicher, dass auch 
H 2 Fasern in dieser Fasermasse enthalten sind, weil wenigstens 
einzelne Fasern in den Fuss einzubiegen oder in die Gitterschicht zu 

l ) Kolliker, Handbuch der Gewebelehre des Menschen. S. 454—455, 
Fig. 604, S. 518, Fig. 646, S. 520, Fig. 647, 648. 


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488 Tageageechichtlichee. — Personalien. 

gelangen scheinen; die grossere Zahl der Fasem des Feldes V scheint 
allerdings sich weiterhin cerebral zum Feld H 1 zu wenden. 

Die Zona incerta liegt jetzt unmittelbar ventral von H 1 . 

Die Fasern von H 2 ziehen teils ventral von der Zona incerta, 
teils durchbrechen sie dieselbe. 

Das Feld F ist viel kleiner geworden. 

Im medialen Abschnitt des Fusses finden sich ausser dem Rest 
der Substantia nigra im dorsalen Teil jetzt auch zahlreiche netz- 
formig angeordnete Balken unzweifelhaft grauer Substanz im 
ventralen Teil. 

Der Schnitt 211 2 (vergl. Fig. 32) schneidet ventral noch den 
Rest des Fasciculus mamillaris princeps. 

Die Substantia nigra ist seit Objekttrager 209 fast vollstandig 
verschwunden. Die retikulierte graue Substanz im ventralen Teil 
des medialen Fussabschnittes ist jetzt mit einer ahnlich retikulierten 
Substanz im dorsalen Teil des Fussabschnittes und mit dem Rest 
der A-Felder in Verbindung getreten. Man kann daher hier wieder 
von einer Substantia reticulata medialis pedis sprechen. 

Das Corpus Luysii ist ebenfalls verschwunden. 

Das Feld H 1 ist noch ziemlich machtig. Die Fasern des Feldes 
H 2 gesellen sich jetzt den Fasern aus dem Feld V zu und ziehen 
als ein machtiges Biindel V" dorsolateral gegeri das Feld H 1 , so dass 
die Zona incerta hier wieder vollstandig in zwei Teile getrennt wird; 
die kleinere mediale ovale Abteilung ist ganz von dem Feld H 1 tind 
dem eben besprochenen Faserbiindel eingeschlossen, die laterale 
breitere geht in die Gitterschicht fiber. 

Einzelne Fasem des Feldes H 2 ziehen auch durch den Fuss 
oder in die Gitterschicht. 

Ein Feld dorsomedial vom roten Kern, das auf der Figur mit Z 
bezeichnet ist, tritt schon auf Objekttrager 20 auf. Es hangt mit 
dem roten Kern zusammen und zeigt viele quergeschnittene Fasern. 
Es enthalt spater den Nucleus ventralis lateralis. 

Die A-Felder sind ganz mit den A'-Feldern verschmolzen imd 
bilden eine graue ventrale Leiste, welche die Meynerts che 
Kommissur vom Fusse trennt; die A-Felder gehen spater in den 
Globus pallidus iiber. (Fortsetzung folgt.) 


Tagesgeschichtliches. 

Die Wdnderversammlung der sudwestdeutschen Neurologen und Irren - 
drzte tagt am 28.—30. V. in Baden-Baden. VortYage sind bis zum 15. V. 
bei Prof. Wollenberg -Strassburg oder Prof. Laque r-Frankfurt a. M. anzu- 
melden. 


Personalien. 

In Parma wurde der a. o. Prof. Dr. L. Roncoroni zum ordentlichen 
Professor der Neurologic und Psychiatrie ernannt. 

Privatdozent Dr. A. Heveroch in Prag wurde zum a. o. Professor der 
Psychiatrie an der tschechisehen med. Fakultat ernannt. 


Prof. Franz Windscheid in Leipzig ist gestorben. Die deutsche Neuro- 
pathologie verliert in ihm einen ausgezeichneten Kenner der traumatischen 
Erkrankungen des Nervensystems, welche er als leitender Arzt des Hermann- 
Hauses in Stotteritz zu beobachtcn ausgezeichnete Gelegenheit hatte. 
Auch zahlreiche andere Arbeiten auf dem Gebiet der Ner\’enheilkunde 
sichem ihm bleibendes Andenken. 


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Monatsschrift fiir Psychiai 


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(Aus der psychiatrisehen und Nerven-Klinik der Kgl. Charite.) 

[Direktor: Geh. Med.-Hat Prof. Th . Ziehen.] 

Die Sensibilitatsstorungen bei derFriedreichschen Krankheit. 

Von 

l)r. KURT SINGER 

Volontarassistent der psych, u. Nerven-Klinik der kgl. Charit6. 

1. Historisches und Statistisches fiber die Sensibilitatsstorungen bei 
der Friedreichschen Krankheit. 

Seit Friedreich im Jahre 1863 mit seiner Arbeit fiber „degene- 
rative Atropine der spinalen Hinterstrange“ zum erstenmal auf den 
Symptomenkomplex hinwies, der spater seinen Namen erhalten 
sollte, hat das Thema der Friedreichschen Krankheit nicht auf- 
gehort, aktuell zu sein. Lebhafte Kontroversen wurden geffihrt, 
die auch heute noch nicht ganz beigelegt sind. Man lernte bald 
neben „klassischen“ Symptomen auch nebensachlichere, neben 
standigen, immer wiederkehrenden auch seltenere und vereinzelt 
auftretende Symptome kennen. Dadurch wurde das Krankheits- 
bild, das Friedreich streng umgrenzt hatte, erweitert, seine Diagnose 
aber erschvvert. Denn man sah nun eine ganze Anzahl von Er- 
scheinungen, die ftir andere Erkrankungen des Zentral-Nerven- 
systems charakteristisch, ja in ihrer Summation pathognomonisch 
waren, auch bei der Friedreichschen Krankheit auftreten. Ver- 
wechslungen (besonders mit Tabes und multipler Sklerose) waren 
also leicht moglich. Und in der Tat finden sich in der Literatur 
eine ganze Reihe von Fallen, die sicher der Friedreichschen Krank¬ 
heit nicht zugehoren, und andere Falle, besonders die sogenannten 
„Uebergangsformen“ von Friedreichscher Krankheit zu Tabes oder 
multipler Sklerose, deren Zugehorigkeit zur „hereditaren Ataxie“ 
mehr als zweifelhaft ist. Besonders in England wird die Diagnose 
heute tiberaus haufiggestellt, wobei allerdings die Moglichkeit bestehen 
bleibt, dass die Krankheit wirklich bei uns in Deutschland seltener 
ist. Stintzing spricht jedoch wohl mit Recht von der geradezu 
„naiven Bestimmtheit, mit welcher manche Autoren Krankheiten 
unter diesen Begriff subsumieren, die sich in vielen wesentlichen 
Punkten mit der hereditaren Ataxie nicht decken“. 

Nur vorfibergehend ist man bisher auf die Sensibilitats¬ 
storungen bei der Friedreichschen Krankheit aufmerksam geworden. 

Monatmchrift filr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 6. 33 


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Singer, Die Sensibilitatsstorungen 


Wenn allerdings auch gerade in neuerer Zeit des ofteren zu dieser 
Frage Stellung genommen wurde, so liegt doch eine einheitliche 
Untersuchnng an einem grosseren Material noch nicht vor. Die 
Meinungen iiber das Vorhandensein, die Ausdehnung, den Grad, 
die Qualitat der Sensibilitatsstorungen bei der Friedreichschen 
Krankheit und ihre etwaige diagnostische Bedeutung sind auch 
heute noch sehr sch wank end. Ich habe deshalb spezielle Unter- 
suchungen in dieser Hinsicht bei reinen und sicheren Fallen 
Friedreichscher Krankheit angestellt. Zum Verglich zog ich 
auch Falle der Marieschen Krankheit (d. h. der hereditaren 
Kleinhimataxie) heran. 

In seiner eingangs erwahnten Arbeit spricht sich Friedreich 
iiber die Sensibilitat bei dem ersten der von ihnx beschriebenen 
Falle folgendermassen aus: ,,Die Sensibilitat der Haut bot in keiner 
Weise und an keiner Stelle des Korpers eine bemerkenswerte 
Storung. Sowohl Nadelstiche wurden iiberall in normaler Weise 
gefiihlt, ebenso wie die leisesten Beriihrungen der Haut.“ Der 
zweite Patient zeigte ebenfalls vollkommen normale Haut-, Muskel- 
und Gelenk-Empfindungen. Bei dem dritten ergab dieUntersuchung 
in dieser Hinsicht zunachst einen von der Norm nicht abweichenden 
Befund; bei einer spateren Untersuchung aber stellte sich eine 
deutliche Abstumpfung der Perzeptionsfahigkeit der Haut an 
Bauch, Riicken und unteren Extremitaten heraus. Daher musste 
sich Friedreich selbst noch zu der Einschrankung bekehren, ein 
Hauptsymptom der Falle von hereditarer Ataxie sei teils der vollige 
Mangel, teds das „erst spat und in untergeordnetem Grade Hinzu- 
treten von Storungen im Bereich der Sensibilitat, sowohl des 
Tast-, als Druck- und Temperatursinns.“ 

Die Beobachtungen von Sensibilitatsstorungen hauften sich 
dann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer mehr. 
Trotzdem erklarte noch Bemabei im Jahre 1889, man konne die 
hereditare Ataxie auch bezeichnen als ,,infantile Tabes ohne 
Sensibilitatsstorungen 41 . Ladame halt in seiner 1890 erschienenen 
Monographic die „Integritat der Sensibilitat nach alien Richtungen“ 
hin fur ein Kardinalsymptom der hereditaren Ataxie. SchuUze 
nennt 1898 unter den charakteristischen Symptomen auch ,,das 
Fehlen jeglicher Sensibilitatsstorungen . . . Parasthesien und 
Schmerzen 44 . Und ganz systematisch eliminiert Stscherbak die 
Empfindungsstorungen aus demKomplex derFriedreich-Symptome, 
indem er Tabes eine ,,Ataxie + Sensibilitatsstorungen 44 , die 
Friedreich&che Krankheit aber eine „Ataxie ohne Sensibilitats¬ 
storungen 44 nennt. 

Dabei hatte Rutimeyer unter 21 Fallen von Friedreich keinen 
einzigen frei von Empfindungsstorungen befunden, Socd unter 
69 Fallen nur 48. 

Es ist hier nicht moglich, aus der iibergrossen Menge von 
Fallen der Friedreichschen Krankheit auch nur einen Teil 
mit genauer Beriicksichtigung ihrer Sensibilitatsstorungen auf- 
zuzahlen. Die folgenden numerischen Angaben werden fiir sich 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


491 


sprechen. Wahrend bis zum Jahre 1885 (nach Smith) 57, bis 1887 
(nach RiUimeyer) 96, bis 1888 (nach Griffith) 143, bis 1890 (nach 
Ladame) 165, bis 1901 (nach Schdnbom) 200Falle von Friedreichscher 
Krankheit in der Literatur zu finden waren, habe ich aus der 
Gesamtliteratur bis zum Jahre 1909 (exkl.) 401 Falle zusammen- 
stellen konnen (siehe Tabelle am Schjuss der Arbeit). Dabei musste 
ich in deutschen, franzosischen und englischen Axbeiten, die ich 
im Original durchlesen konnte, eine kleine Zahl von Fallen elimi- 
nieren, die sicher anderen Krankheitsgruppen zuzurechnen sind, 
besonders solche, die zu den zuerat von Nonne beschriebenen 
Formen der ,,Hereditar-ataktischen“ gehoren, femer aUe sicheren 
Falle vom Typus Pierre Marie und die als sogenannte ,,Uebergangs- 
formen“ publizierten Falle. In einem anderen Teile der Falle 
konnte ich, teils weil ich des Originals nicht habhaft wurde, 
teils weil auf die Priifung der Empfindungsqualitaten nicht 
geniigend oder gar kein Wert gelegt war, bestimmte, geschweige 
denn genaue Angaben liber SensibUitatsstorungen nicht festlegen. 
Dazu kommt eine ganze Anzahl Falle, die in Zeitschriften nur 
kurz kasuistisch berichtet sind oder nur in Sitzungen kurz vor- 
gestellt waren. Im ganzen sind das 95 Falle. Von den iibrigbleiben- 
den 306 Fallen zeigten 143 Storungen der Sensibilitat, 163 waren 
frei. Das bedeutet: 35,7 pCt. aller bekannten Falle von Friedreich- 
Krankheit zeigen Sensibilitatsstorungen (40,6 pCt. nicht). Und 
wenn ich annehme, dass alle die Patienten, bei denen der Sen- 
sibilitatsstorung als solcher keine Erwahnung geschieht, auch 
ganz frei von derartigen Storungen waren, d. h. dass von den 
401 Fallen der Literatur 163 + 95, also 258 Falle frei waren, so 
bedeutet auch das fur eben diese Falle nur einen Prozentsatz von 
b4,3 (siehe Tabelle II). 

Am seltensten fand ich subjektive Storungen, insbesondere 
Eeizsymptome der Nerven verzeichnet, wahrend z. B. Griffith 
Schmerzen in 22 von 99 Fallen fand. Es werden voriibergehende, 
dumpfe Schmerzen oder Parasthesien in Form einesAbgestorben- 
seins der Fiisse nur gelegentlich beschrieben. Bhtzartigen Schmerz 
in den Beinen vor Ausbruch der Krankheit oder wahrend ihrer 
Entwicklung fand ich nur in einem Fall Dejerines und in je einem 
von Bonnus, Brown, Schidtze, Verhoogen berichtet. Friedreich selbst 
beobachtete auch einmal herumziehende, reissende Schmerzen 
in den unteren Extremitaten, die im Anfang der Krankheit auf- 
traten, spater aber wieder vollkommen verschwanden. Sonst 
werden die Sensationen von den Patienten gewohnlich als 
,,Kriebeln“, ,,Pelzigsein“, ,,Taubheit“ geschildert. Die Par¬ 
asthesien sind charakteristischerweise nie von langer Dauer oder 
schwinden, um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen. Bevorzugt 
sind die unteren Extremitaten, an diesen wieder Unterschenkel 
und Zehen. Seltener sind Finger, Rumpf, Bauch in Mitleidenschaft 
gezogen. Gurtelgefiihl ist nur in 3 Fallen beschrieben ( Midler, 
Ormerod, Bonnus). 

Was die objektiv nachweisbaren Storungen der Empfindungen 

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492 


Singer, Die Sensibilitatestorungen 


anbelangt, so hatte Friedreich bereits in 3 seiner zuerst publizierten 
Falle erkannt, dass bei sonst ganz intakter Sensibilitat doch die 
elektromuskulare Sensibilitat merklich vermindert war; „selbst 
sehr starke elektrische (primare) Strome, die von Gesunden kaum 
ertragen werden, wurden von dem Patienten nicht besonders 
schmerzhaft gefiihlt“. Dieser Befund ist auch von spateren Be- 
obachtem erhoben worden (bregmann z. B. erwahnt bei seinem 
Friedreich-Kranken die Herabsetzung der elektrischen Sen¬ 
sibilitat). Es wird aber im allgemeinen auf diese Storung, wenn sie 
isoliert auftritt, zu grosser Wert nicht gelegt werden konnen, da 
wohl die Grenze zwischen normaler und pathologischer Perzeption 
auf diesem Empfindungsgebiet schwer zu ziehen ist. Ueber das 
sogen. ..faradische Intervall“ werde ich kurz an anderer Stelle. 
(gelegentlich des von mir untersuchten Patienten C.) berichten. 

Die objektiven Storungen verteilen sich in den verschiedenen 
Fallen auf verschiedene Qualitaten und auf alle Korpergegenden. 
Dabei kehren jedoch bestimmte Pradilektionsstellen mit unver- 
kennbarer Regelmassigkeit wieder. Fast immer sind namlich die 
unteren Extremitaten in erster Linie Sitz der Storung, sodann der 
Rumpf, schliesslich Arme und Bauch. Speziell die Fusssohlen waren 
nicht haufig alteriert. 

An und fur sich liegt natiirlich die Frage nahe, ob nicht in 
vielen dieser Falle neben der organischen Krankheit noch ein 
funktionelles Leiden im Sinne der Hysterie bestand. Diese Frage 
konnte ich aber fiir alle ausfiihrhcher besprochenen FaUe der 
Literatur ziemlich sicher verneinen. Nur Magnus-Levy erwahnt 
einen vielleicht hierher gehorigen Fall, bei dem die Hautsensibilitat 
am ganzen Korper herabgesetzt war. 

Qualitativ zeigen die einzelnen Storungen eine verschiedene 
Frequenz. Sicher am haufigsten findet sich Herabsetzung der 
Beruhrungsempfindlichkeit; an zweiter Stelle Herabsetzung des 
Lagegefiihls. Viel seltener sind Storungen der Schmerz- und 
Temperatur-Empfindlichkeit. Stereognosie, Vibrations-Gefiihl und 
Gewichtsempfindung bleiben meistens frei von Veranderung. Die 
Lokalisationsfehler halten sich in normalen Grenzen. Ueber 
Sensibilitatsstorungen im Gebiet der Schleimhaute, der Hoden, 
des Periosts und des Kehlkopfs existieren nur sparliche Berichte. 
Mingazzini schildert eine Anaesthesia trachealis und testicularis bei 
einem Friedreich-Kranken. Dabei war die Hautempfindung normal. 
Mingazzini glaubt, dass gerade der Kontrast zwischen intakter 
Oberflachen- und gestorter Tiefensensibilitat von differential- 
diagnostischer Wichtigkeit sei oder einmal werden konne. Jedoch 
ist auf diese Angabe bisher noch kein grosses Gewicht gelegt worden. 

Auch quantitativ ist das Bild der Storungen sehr wechselvoll. 
Lazarus berichtet in Evlenburgs Real-Enzyklopadie von einem 
Mann, bei dem die Vibrations-Anasthesie von den Fusssohlen bis 
hinauf zu den Darmbeinkammen die einzige Storung der Sen¬ 
sibilitat darstellte. Als Gegenstiick zu diesem Beispiel diene ein Fall, 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


493 


deesen Stoning Dejerine als komplette sensible Paraplegie be* 
zeichnet. Oder ein Fall von Muller, bei dem ausser Gurtelgefuhl 
folgender Sensibilitatsfcefund erhoben wurde: Am Rumpf Sen- 
sibilitat normal bis auf einen handtellergrossen, fiir Beriihrung, 
Schmerz, Kalte, sowie leichten Druck vollig unempfindlichen 
Bezirk. Obere Grenze: Oberer Band der 6. Rippe. Linke Grenze: 
linke Mamillarlinie; rechte: linke Stemallinie. Von hier aus zogen 
giirtelformig hypasthetische Streifen nach lateral und hinten bis 
zur Hohe des 7. Brustwirbels. Oberhalb der ganzlich anasthetischen 
Zone fand sich ein Bezirk, in dem die Empfindungen abgestumpft 
waren (also beinah das Bild Hitzig&cher Zonen!). Henry Broum 
beobachtete bei einem Patienten taubes Gefiihl der Hande, Ameisen- 
kriechen in den unteren Extremitaten; nach einigen Jahren ^raten 
hinzu Anasthesie der Schenkel, Hyperasthesie der Fusssohlen, 
Herabsetzung des Gewichts- und Distanzgefiihls. Lunz priifte 
seine Patienten sehr haufig und sehr exakt, und er fand dabei an 
den unteren Extremitaten Herabsetzung der Beriihrungs-, Schmerz- 
und Temperatur-Empfindlichkeit, Herabsetzung des Muskel- und 
Distanzgefiihls. Gnizetti beobachtete Herabsetzung der Beriihrungs- 
empfindlichkeit an alien vier Extremitaten und daneben Verlang- 
samung der Schmerzleitung. Andere fanden wieder nur das Lage- 
gefiihl der Hande gestort, wie Krafft-Ebing und P. Cohn ; Oder allein 
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit, wie Winkler und Jacobi. 
Rossi konstatierte bei einem 13jahrigen Madchen an der Innen- 
flache der Oberarme und Oberschenkel taktile und thermische 
Anasthesie sowie Analgesie. Besold beschrieb einen Fall, bei dem 
sich Storungen der Sensibilitat an Kopf, Hals, Rumpf, Schulter, 
Becken, unteren Extremitaten vorfanden. 

Im grossen ganzen ist die Intensitat der Storungen eine geringe 
oder mittelstarke. Doch fehlt es nicht an Beispielen, wo die 
Empfindungsanomalien den Storungen bei Tabes nicht nachstehen 
(Dejerine , Bdumlin). Es ist nicht selten (und sogar vielleicht 
charakteristisch), dass Sensibilitatsstorungen auftreten, nach 
Monaten wieder verschwinden und, eventuell mit einer Ver- 
schlimmerung des Leidens, abermals nach Wochen oder Monaten 
in gesteigertem Masse zutage treten. Man erhalt in solchen Fallen 
also an sich schon, da die Friedreichsche Krankheit sich iiber viele 
Jahre hinzieht, in den einzelnen Phasen verschiedene Priifungs- 
resultate. Bei einer einmaligen Prufung ohne haufige Kontrolle 
ist man daher zuweilen, besonders bei negativem Befund, leicht 
einer Tauschung ausgesetzt. 

Im Beginn der Krankheit und im Anfang ihrer vollen Ent- 
wicklung sollen nach dem Urteil der meisten Lehrbvicher Sen- 
sibilitatsstorungen immer fehlen, erst in den allerspatesten Stadien 
sollen sie beobachtet werden. Nach den zahlreichenBeobachtungen, 
die ich aus der Literatur schopfte, kann ich nur feststellen, dass 
auf der Hohe der Erkrankung die Sensibilitatsstorungen zwar meist 
am ausgepragtesten sind, dass sie aber sich nicht selten schon 
zeigen, bevor die Ataxie bis zu dem Endstadium fortgeschritten ist. 


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494 


Singer, Die Sensibilitatsstorungen 


Charakteristisch scheint nach den Angaben der Literatur auch, 
dass sich die Storungen nie nach dem Ausbreitungsbezirk be- 
stimmter Nervenwurzeln abgrenzen (wie etwa die Hitzigschen 
Zonen), sondem dass sie meist fleck- oder herdweise angeordnet 
sind oder sich auf ganze Extremitaten oder Abschnitte derselben 
erstrecken. Die distalen Partien sind dabei haufiger und starker 
befallen als die proximalen. Bezeichnend fur die unscharfe Be- 
grenzung der Storungen der Sensibilitat ist der Befund bei einem 
Patienten Cassirers und bei dem zweiten Patienten Bdumlins. 
Letzterer zeigte an den unteren Extremitaten bis zu den Malleolen 
normales Verhalten aller Empfindungsqualitaten; von hier an war 
an beiden Unterschenkeln das Gefiihl fiir Beriihrung, fiir Spitz und 
Stumpf, fiir Kalt und Warm herabgesetzt. 

Theoretisch hat man versucht, die Storungen der Empfindung 
bei Erkrankungen des Rvickenmarks mit der Ataxie in inneren 
Zusammenhang zu bringen. Diese viel erorterte und bekannte 
Frage muss hier kurz gestreift werden, weil gerade die Sensibilitats- 
stbrungen bei der Friedreichschen Krankheit den Streit um die 
beiden wichtigsten Theorien der Ataxie erneuerten. Duchenne 
hatte es zuerst ausgesprochen, dass die Regulation und das ko- 
ordinierte Zusammenspiel der Muskeln an zentrale Mechanismen 
gebunden sei, die ihrerseits wieder mit den motorischen Rinden- 
gebieten und mit der Peripherie in Verbindung standen. Bei dieser 
spater modifizierten, sogen. ,,zentralen Ataxie“ werden die hypo- 
thetischenKoordinations-Mechanismen von den einzelnen Forschern 
entweder in das Riickenmark oder in das Grosshirn oder in das 
Kleinhirn verlegt. 

In Gegensatz zu dieser Theorie stellte sich die Dehre von der 
„sensorischen Ataxie“ von Leyden, der die Ataxie auf die Sen¬ 
sibilitatsstorungen zuriickfiihrt. Da Friedreich die Integritat der 
Beriihrungs- und Lage-Empfindungen als ein Merkmal der von 
ihm beschriebenen Krankheit hinstellte, war es nur folgerichtig, 
dass er sich gegen die Theorie der ,,sensorischen Ataxie“ zur Wehr 
setzte. Friedreich und Erh formulierten daher die Theorie der 
sogenannten ,,motorischen Ataxie“ und behaupteten: Das Riicken- 
mark ist zwar selbst kein Zentrum der Koordination; aber es 
enthalt Bahnen, auf denen die Einfliisse der Koordinationszentren 
(Grosshimrinde, Kleinhirn) zu den motorischen Zentren bezw. 
Bahnen hingeleitet werden; die Ataxie, die bei Storung dieser 
Bahnen zutage tritt, ist eine motorische. 

Die Verfechter dieser letzten Theorie fiihrten gegen die Lehre 
von der ,,sensorischen Ataxie“ u. A. besonders die Fafle von Ataxie 
ins Feld, bei denen absolut keine Empfindungsstorungen bestanden, 
also in erster Linie gerade die Falle der Friedreichschen Krankheit. 
Insofern bietet also jedenfalls die Frage, ob bei der Friedreichschen 
Krankheit Sensibilitatsstorungen ganz fehlen, bzw. bis zu welchem 
Grade sie vorhanden sind, auch ein grosses theoretisches Interesse. 

Wenn wir nun nach den anatomischen Grundlagen der 
Friedreichschen Krankheit im Hinblick auf die Sensibilitats- 


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bei tier Friedreichschen Krankheit. 


495 


storungen fragen, so konnen wir, indem wir die Sektionsbefunde 
von 33 Autopsien 1 ) mit einander vergleichen, folgendes zusammen- 
fassen: Regelmassig findet sich eine Degeneration der Hinter- 
strange, worauf schon der Entdecker der Krankheit aufmerksam 
gemacht hat. Friedreich erwahnte aber auch ein gelegentliches 
Uebergreifen auf den Seitenstrang sowie Atrophie der hinteren 
Wurzeln und Leptomeningitis chronica. Schvitze erganzte den 
Behind durch den Nachweis, dass auch die Clarke schen Saulen, 
die Kleinhirn-Seitenstrangbahnen, die Pyramiden-Seitenstrang- 
bahnen und die Vorderstrange degenerieren konnen. Senator 
betonte besonders die Atrophie des Kleinhirns. Von spateren 
Autoren wurden dann noch gelegentlich auch die Beteiligung der 
GWersschen Biindel, selten der Hinter- und Vorderhorner, sowie 
Degeneration der peripherischen Nerven und Spinalganglien 
erwahnt. 

Sehr interessant und bedeutungsvoll sind auch die leider 
sparlichen Untersuchungen des Grosshirnes. Es scheint mir nicht 
unmoglich, dass auch die cerebralen Veranderungen eine gewisse 
Rolle bei den Sensibilitatsstorungen spielen konnten. Bdundin 
schon hatte eine massige, graurote Verfarbung der Rinde kon- 
statiert, Bonnamour zwei Erweichungsherde, Erlicki - Rybalkin 
Hyperamie der Rinde. Auch sonst finden sich in der Literatur 
kurze Angaben tiber Verschmalerung der Windungen, Klaffen der 
Furchen, Anomalien der Gefasse, Festhaften der Pia. Wladialaus 
Muller hat in neuerer Zeit beeonders auf diese Befunde auf¬ 
merksam gemacht und dieselben durch eine eigene Untersuchung 
erganzt und erweitert. Er fand das Grosshirn stark. verkleinert, 
volliges Fehlen der Markscheiden und betrachtliche sekundare 
Gliose. Muller fasst in diesem Fall sogar die Degeneration der 
Pyramidenbahnen als sekundaren, die Erkrankung der Zentral- 
windungen als primaren Erkrankungsprozess auf. 

Ueber die Beziehung aller dieser pathologisch-anatomischen 
Befunde zu den gelegentlich festgestellten Sensibilitatsstorungen 
der Friedreichschen Krankheit findet man in der Literatur nur 
unbefriedigende Auskunft. Dejerine hat die sehr haufige In- 
kongruenz zwischen Stoning der Koordination und den Sen¬ 
sibilitatsstorungen aus dem verschiedenen Verhalten der Hinter- 
strange und der Hinterwurzeln zu erklaren versucht. Wahrend die 
Hinterstrangserkrankung sehr betrachtlich ist, ist die Degeneration 
der hinteren Wurzeln (im Gegensatz zur Tabes) nur massig. Er 
betrachtet deshalb sogar die Falle mit erheblicherer Storung der 
Sensibilitat, bei denen er haufig auch amyotrophische Prozesse 
fand, als eine besondere Abart der Friedreichschen Krankheit. 
Nach Schmaus (Lehrbuch der pathol. Anatomie) gehort indes 

l ) Friedreich 4, Mingazzini-Perusini 2, je eine von Smith, Schultze, 
Pitt, Pick, Brotuee, Erlicki - Rybalkin, Oowers, Letulle - Vagues, Blocq- 
Marineacu, Menzel, Auscher, Guizetti, Riltimeyer, Simon, Mockay, Greenlees- 
Purvis, Clarke, Burr, Mir to, Dana, Whyte, Meyer, Pic - Bonnamour, 
Lannoi8-Paviot, Lhermitte, Dejerine et Thomas, 


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Singer, Die Sensibilitatsstorungen 


eine hochgradige Degeneration der hinteren Wurzeln sehr haufig 
zum vollstandigen Bild der Erkrankung. Trotzdem fuhrt auch 
E. Muller wie Dtjerine die Seltenheit der Parasthesien auf die 
geringe Beeintrachtigung der peripheren Nerven und hinteren 
Wurzeln zuriick. Am beweiskraftigsten fiir die tatsachliche Be- 
teiligung der hinteren Wurzeln sind ein Sektionsbefund von 
Friedreich Belbst und die beiden Falle von LetuUe-Vaquez und 
Blocq-Marine8cu. 

Da die Lissauersche Randzone fast stets intakt befunden 
wurde, so scheint sie fiir Empfindungsstorungen sicher nicht in 
Erage zu kommen. Dahingegen miisste auf die Untersuchung der 
peripherischen Nerven bei spateren Obduktionsfallen mehr Gewicht 
gelegt werden. Biitimeyer fand in einem Fall, der in vivo Herab- 
setzung der taktilen Sensibilitat an Armen und Beinen gezeigt 
hatte, zweifellos degenerative Prozesse im N. medianus und im 
N. ischiadicus, und zwar Schwund der Nervenfasern, Ersatz durch 
Bindegewebe, Wucherung der interfaszikularen Bindegewebs- 
substanz und Vermehrung der Kerne. Ein Schuler Dejerines, 
Auscher, fand in den peripheren Nerven zwar keine Atrophien 
und Degenerationen, aber sehr viele marklose Nervenfasern von 
embryonalem Charakter. Auch Guizetti betont die Atrophie der 
sensiblen Nerven als autoptischen Nebenbefund. . 

Jedenfalls geniigen aber, wenn man von diesen Befunaen ab- 
sieht, die Veranderungen in den Hinter- und Seitenstrdngen, am 
die gelegentlichen Sensibilitatsstorungen zu erklaren, wenn wir auch 
meist nicht in der Lage sind, jede einzelne Sensibilitatsstorung mit 
Sicherheit auf den Ausfall einer bestimmten Bahn zu beziehen. 

2. Eigene Untersuchungen. 

Ich beginne nunmehr mit der Beschreibung von 9 Fallen Fried- 
reichscher Krankheit und einem Fall vom Typus Pierre Marie , 
die in der Nervenklinik der Charite zur Beobachtung kamen und 
die zum Teil in verschiedenen Stadien der Krankheit untersucht 
werden konnten. Ich gehe nur auf die Sensibilitatsbefunde aus- 
fiihrlicher ein. Zur Feststellung der Sensibilitat sind seit 1904 auch 
die von Professor Ziehen ‘) angegebenen feineren Untersuchungs- 
methoden zur Anwendung gelangt. 

Fall 1 . Joseph M., 24 J., Schuhmacher. 

A. Erste Aufnahme in der Charity am 2. VII. 1901. 

Die Eltern des Patienten sind gesund. Er hat noch 4 Geschwister, 
von welchen 3 gesund sind. Der letzte, ein 19 jahriger Bruder, leidet an 
derselben Krankheit wie Patient selbst: er hat einen taumelnden, wack- 
ligen Gang, kann nicht einmal so weit gehen wie Patient. 

Anavmese: Als Patient im Alter von 13 Jahren den Arzt zu seinem 
Bruder (s. o.) rufen wollte, sagte der Arzt ihm, er bekame dieselbe Krankheit 
wie der Bruder. Kinderkrankheiten hat er nicht durchgemacht. Als Kind 
schon war er sehr ungeschickt imManipulieren. sodass ihm einmal die Suppen- 
schus8el „iiber den Kopf fiel“. Patient bemerkte, dass er beim Tumen 

') Vgl. Ziehen, Medizin. Klinik 1910. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


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nicht auf ©inem Bein stehen konnte. Der Zustand verochlimmerte sich 
durch korperliche Arbeit. Bis zura 14. Lebensjahr besuchte er die Schule, 
dann lemte ©r in einer Ziegelei. Wegen der beginnenden Krankheit gab 
©r diese Arbeit auf und wurde Schuster. Damals sehon Unsicherheit. Un¬ 
geschicklichkeit, Schwanken und Taumeln beim Gehen. Seit einigen Jahren 
blitzartige Schmerzen in den Beinen. Kein Gurtelgefuhl. Schon friih 
(mit 14 Jahren) bemerkt© Patient, dass die Gehstbrung im Dunkeln zunahm. 
Sprache seit dem 16. Jahre schlechter. verwaschener. Schreiben ist moglich, 
aber nur mit Zittem der Hand. Die Aerzte nahmen Veitstanz an. Das 
Schwanken war oft so hochgradig, dass man den Patienten fiir betrunken 
hielt. Er klagt bei der Aufnahme 

1. liber Gehstdrung, 

2. iiber Unsicherheit und Ungeschicklichkeit anderer Bewegungen, 

3. liber Verlangsamung der Spracbe. 

Statu* praesens: Ausser einer Kyphoskoliose der Wirbelsaule bietet 
der Korper keine ausseren Besonderheiten dar. Herz. Lunge, Bauchorgane 
sind normal; die Himnerven sind samtlich intakt. Die Pupillen reagieren 
prompt und ergiebig auf Licht und Konvergenz. Die Zunge wird zwar 
gerade vorgestreckt, aber nicht ruhig gehalten. Die Intelligenz ist normal, 
doch fallt eine Neigung zum Lachen auf. 

Obere Extremitdt: Die grobe motorische Kraft ist gut, nur in den 
Fingem leicht herabgesetzt. Triceps- und Radius-Periostreflexe gleich und 
symmetrisch. Bei intendierten Bewegungen starke Ungeschicklichkeit 
und Ausfahren, kein eigentliches Zittem. In den Handen zuweilen unwill- 
kiirliche Bewegungen. Die Sensibilitat ist intakt fvielleicht leichte Hyper¬ 
algesia). 

Rumpf: Patient kann sich ohne Hiilfe der Arme aus liegender Position 
aufrichten. Bauchreflexe vorhanden. 

Untere Extremitaten: Aktive Bewegungen liberal 1 moglich. dabei aber 
standig stark ausfahrende Bewegungen. Patellarreflexe auch mit Jen - 
drassiks Kunstgriff nicht erhaltlich. Achillessehnenreflexe beiderseits vor¬ 
handen. Kremasterreflexe vorhanden. Grobe Kraft normal. Stehen un- 
moglich. Patient schwankt. sofort und droht umzufallen. Der Gang ist 
stark ataktisch. breitbeinig. Patient muss dauernd seine Bewegungen 
mit dem Auge kontrollieren. Bei Augenschluss Schwanken erheblicher. 
Im Gehstuhl etwas mehr Sicherheit. Sensibilitat intakt. 

B . Zweite Aufnahme am 16. V. 1903. 

Zwischenanamnese: Patient kann nicht mehr allein gehen. Das Taumeln 
hat in der Zwischenzeit erheblich zugenommen. Ebenso die Unsicherheit 
in der Sprache und in den Handen. Bei Kalte und schlechtem Wetter 
lancinierende Schmerzen in den Beinen. 

Status praesens: Leichtes Hin- und Herschwanken des Kopfes. Skan- 
dierende Sprache. Ataxie der Zunge. Sonst wie oben. 

Obere Extremitdten: Bei einfachen Bewegungen deutliche Unsicher¬ 
heit und Danebenfahren. Zunahme bei lokomotorischer Innervation. 
Sehnen- und Radiusperiostreflexe erloschen. Leichte Storung des stereo- 
gnostischen Sinnes. 

Rumpf: Lasst man Patient mit untergeschlagenen Beinen auf dem 
Boden sitzen und die Arme kreuzen, so gerat er ins Schwanken und fallt 
riicklings um. 

Untere Extremitdten: Die Fiisse, besonders aber die grosse Zehe, sind 
beiderseits plantarflektiert, links mehr als rechts. Beiderseits ausgesprochene 
Inkoordination aktiver Bewegungen, bei Augenschluss zunehmend. Patellar¬ 
reflexe beiderseits erloschen. Ebenso die Achillessehnenreflexe. Babinski 
beiderseits positiv (ohne Plantarflexion der ubrigen Zehen). Der Gang 
ist stark schleudernd und ausfahrend. Stellt man den Patienten auf die 
Beine, so kann er sich mit Hiilfe der Augen kurze Zeit aufrechthalten, 
bei Augenschluss fallt er um. Die Sensibilitat fiir Beriihrung ist stellen- 
weise herabgesetzt. Die Knochensensibilitat ist bedeutend herabgesetzt. 


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Singer, Die Sensibilitatsstorungen 


C. Dritte Aufnahme am 22. III. 1904. 

Beschwerden wie friiher. 

Die Kyphoskoliose im Dorsal toil der Wirbelsaule ist ausgesprochen. 
Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt aber motorische Unruhe, 
ahnlich der choreatischen; keine Atrophie. 

Das Lagegefuhl in der grossen Zehe ist gestort. Romberg ist hoch- 
gradig positiv. Der Gang ist stampfend. Die taktile Sensibilitat in den 
distalen Partien der oberen und unteren Extremitaten erscheint unsicher. 
Im iibrigen ist der Befund dersell>e wie unter B und A . 

D . Vierte Aufnahme am 20. III. 1908. 

Patient klagt iiber Schmerzen in alien Gliedern, bald hier, bald dort. 

Obere Extremitaten: Die Pro- und Supination dbr Hande geschieht 
sehr langsam, die Faust kann nur langsam geoffnet werden, das Spiel der 
Finger ist langsam. 

Bumpf: Aufsitzen ohne Unterstiitzung der Arme unmoglich. 

Untere Extremitaten: Beim Heben der Beine lebhafte Schleuder- 
bewegungen. Schmerzen, wenn das Bein in der Hiifte hoher als 30 cm 
gehoben wird. Die Dorsalflexion der Fiisse geschieht kraftlos. Plantarflexion 
kraftig. Geringe Hypotonie im Knie. Passive Beweglichkeit normal. Das 
Lagegefuhl in der grossen Zehe ist deutlich gestort. Nadelknopf und Spitze 
werden an der Fusssohle oft mit einander verwechselt. Stiche sind hier 
sehr schmerzhaft, der Temperatursinn intakt. Bei der Leube-Stems chen 
Probe werden viele Fehler gemacht (Fussriicken), 2 Monate spater sogar 
bei Strichen bis zu 5 cm Lange. 

E. Fiinfte Aufnahme im Februar 1909. 

Beschwerden wie oben. Innere Organe und Himnerven wie oben. 

Obere Extremitaten: Muskeltonus beiderseits herabgesetzt, Reflexe 
erloschen. Pronation und Supination ungeschickt, langsam. Kein Ruhe- 
tremor der Hande. Koordination schlecht. Auffallendes Danebenfahren 
mit dem Finger, bei offenen und bei geschlossenen Augen. Stereognos© 
gut. Nur ein kleiner Kamm wird beiderseits als solcher nicht erkannt, 
wohl aber Wiirfel, Kugel, Schliissel. 

Bumpf s. oben. 

Untere Extremitaten: Das Erheben des Beines geht mit starken 
Schleuderbewegungen vor sich. Der rechte Unterschenkel kann bei fest- 
liegendem Oberschenkel noch um ca. 5 cm gehoben werden. Motorische 
Kraft beinahe normal. Dorsalflexion des Fusses herabgesetzt. Zehenspiel 
langsam. ungeschickt. Bei Stehversuchen sofortiges Hinfallen. Gehversuch 
scheitert. Beim Gehen mit Unterstiitzung beiderseits ist die ataktisclie 
Komponente gering, aber die Vorwiirtsbewegung ist nur durch Vorschleifen 
des Fusses moglich. Patient steht dabei auf den Fussballen mit vorniiber- 
geneigtem Oberkorper. Die Fiisse werden oft gekreuzt. Patellarreflex© 
und Achillesreflexe fehlen beiderseits, Babinski ist beiderseits positiv, 
Fussklonus fehlt. Laseg uesches Symptom ist beiderseits stark positiv, 
die Nervenstamme sind nicht druckempfindlich. 

Sensibilitat: Das Lagegefuhl in den Fingem uud im Fussgelenk, so wie 
in der grossen Zehe ist deutlich gestort, im Knie- und Handgelenk gut. 
Temperatursinn intakt, ebenso stereognostischer Sinn und Distanzgefiihl. 
Lokalisationsfehler fiir Beriihrungen mittelgross. Taktile Hypasthesie bei 
Pinselberuhrimgen beider Oberschenkel, vorn bis handbreit iiber der Sym- 
physe, hinten ungefahr bis zur Glutaealfalte. Bei Prufung mittelst Head - 
scher Stichreihen wird konstant dieselbe Grenze gefunden. Hypasthesie 
in der Bauohgegend dicht unterhalb des Nabels, doch ist diese inkonstant. 
Bei tiefem Druck und bei Nadelstichen richtige Empfindung, aber langsam 
und abcreschwaeht gegeniiber Druck und Sticli an anderen Korpergegenden. 
An Unterschenkeln und Fussriicken totale Vibrationsanasthesie (in der 
oberen Korperhalfte intakt). Gelegentlich Beriihrungsanasthesie (inkonstant). 
Gute Lokalisation. Temperatursinn ungestort. 

Fall 2. Klara D.. 19 Jahre. 

A. Erste Aufnahme im Juli 1902. 

Anamnese: Ein Bruder der Patientin ist gesund. Ebenso die Eltern. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


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Die Schwester (s. unten) leidet seit der Jugend an derselben Krankheit. 
Seit dem 15. Lebensjahr fiihlt Patientin eine Mattigkeit in den Beinen, 
schon naeh den geringsten Anstrengungen. Keine Arbeit im Geschaft ist 
ihr daher moglich, da die Beine dimmer anschwellen“. Der ZuBtand besserte 
sich voriibergehend und verschlimmerte sich schnell wieder. Patientin 
hat keine Schmerzen, hin und wieder ein eigenartiges Kitzelgefiihl am 
Knochel. Kein luetischer Infekt nachweisbar. 

Status praesens: Keine Besonderheiten der ausseren Korperbildung. 
Das Riickgrat ist gerade, nirgends druckempfindlich. Herz, Lunge und 
Bauchorgane sind normal. Die Himnerven samtlieh normal, die Sprache 
etwas langsam, leicht skandierend. Intelligenz intakt. 

Obere Extremitdten: Aktive und passive Bewegungen frei. Keine 
Spasmen, grobe Kraft gut, die Reflexe sind vorhanden. Fingemasenversuch 
mit deutlichem Danebenfahren. Besonders tritt die Unsicherheit hervor 
beim Zielen des Fingers nach einem bestimmten vorgehaltenen Gegen- 
stand. Die Sensibilitat ist intakt fur alle Qualitaten. 

Rumpf: Aufsetzen aus liegender Position ohne Hiilfe der Arme gut 
imd sicher moglich. Beim Sitzen mit geschlossenen Augen Unsicherheit, 
bei erhobenen Airmen deutliches Schwanken und rasch eintretendes Schwindel- 
gefiihl. Bauchreflexe beiderseits vorhanden, Sensibilitat fiir alle Qualitaten 
intakt. 

U ntere E xtremitdten: Gang sehr unsicher, etwas stamp fend, die Fiisse 
werden oft fiber- und voreinander gesetzt, sodass Patientin iiber die eigenen 
Fiisse stolpert. Sie tritt mit der Hacke zuerst auf. Romberg ist stark 
positiv. Dabei kein Spielen der Muskulatur. Die Patellarreflexe und Achilles- 
sehnenreflexe fehlen beiderseits. Babinskisches Phanomen beiderseits 
angedeutet. Plantarflexion tritt nie ein, wohl aber werden haufig mit der 
grossen Zehe auch die iibrigen Zehen dorsalflektiert. Beim Zielen des Beines 
nach einem vorgehaltenen Gegenstande starkes Danebenfahren. Sensi¬ 
bilitat intakt fur alle Qualitaten. Einen Monat spater: Feinste Pinsel- 
beriihrungen werden prompt angegeben. Spitz und Stumpf an den Unter- 
schenkeln zuweilen verwechselt. Schmerzempfindung herabgesetzt. 

B. Zweite Aufnahme im Mai 1909. 

Zurischenanamnese: Nach ihrer Entlassung 1902 fiihlte sich Patientin 
sehr wohl. Ihr Zustand war gebessert, der Gang allerdings immer noch 
unsicher. Vor 4 Jahren wurde sie durch den Tod der Mutter gezwungen, 
sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie musste sehr viel arbeiten. 
Im Winter 1905 hatte sie eine starke Erkaltung und Halsentziindung. 
Danach Verschlimmerung ihres Leidens. Unsicherheit besonders stark 
in den Armen, weniger in den Beinen. Vor 3 Wochen ohne jeglichen ausseren 
Anlass erhebliche Verschlechterung des Ganges, Unsicherheit in den Handen. 

Status praesens: Als Degenerationszeichen fallen angewachsene Ohr- 
lappchen auf. Ueber samtlichen Ostien des Herzens, besonders im 3. Inter- 
costalraum links, lautes systolisches Gerausch. Im iibrigen ist der Befund 
der inneren Organe wie unter A . Die Himnerven zeigen ebenfalls gegen A 
keine Veranderung; nur ist ein Nystagmus deutlich, der allerdings nach 
einigen Schlagen verschwindet. 

Obere Extremitdten: Motorische Kraft gut erhalten. Die Triceps- 
und Radius-Periost-Reflexe fehlen beiderseits. Der Fingemasenversuch 
erfolgt in pendelnden, ruckweisen Absatzen. Die Sensibilitat ist fiir alle 
Qualitaten intakt. 

Rumpf: s. o. 

XJntere Extremitdten: Grosszehe links in dauemder Dorsalflexion. Beim 
Kniehackenversuch probes Danebenfahren, Schwanken in der Luft. Lage- 
gefiihl in Hiifte, Knie, Fuss richtig, in Zehen ofters falsch. 

Sensibilitat: Zarte Beriihrungen an Unterschenkeln und Fiissen 
wiederholt ausgelassen. Auf dem Fussriicken Nadelspitze und -kopf oft 
verwechselt, warm und Kalt ebenfalls, aber seltener. An den Unter- und 
Oberschenkeln werden 2 Nadelspitzen erst in einer Entfernung von 12—15 cm 
als zwei erkannt. Bei der Leube-Stemsehen Probe kommen an Fuss- und 


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Singer, Die Sensibilitatsstorungen 

Handriicken selbst bei Strichen von l** cm Irrtiimer vor. Das Lagegefuhl 
ist intakt. 

Pall 3. Clara L., 17 J., aufgenommen am 16. IX. 1908. 

Anamnese: Der Vater der Patientin war Oheim der Mutter. Bei Ge- 
burt der Patientin war der Vater 53 J., die Mutter 35 J. Mit 14 Jahren 
wurde bei der Patientin eine Unsicherheit auf den Beinen beim Gehen und 
Stehen bemerkt. Schwanken und Einknicken in den Knieen, Stolpem. 
Im Dunkeln war der Gang noch imsicherer. Gefuhl der Lahmheit von den 
Fusssohlen bis hinauf zu den Knien. Im Dunkeln ist ein Gehen ohne Unter- 
stiitzung nicht moglich. Seit einigen Wochen auch Wackeln mit dem Kopf. 
Keine Schmerzen. Ungeschicklichkeit auch im Manipulieren mit denHanden. 
In der letzten Zeit fielen der Patientin die „knimmen Zehen“ auf. Keine 
Infektion. 

Status praesens: Ohrlappchen rechts angewaehsen, links durch eine 
Furche gespalten. Leichte Struma. Herz, Lunge, Bauchorgane ohne Be- 
sonderheiten. Die Himnerven sind vollig intakt. Beim Sprechen werden 
die Konsonanten langgezogen. Brissaud&cher Fuss. 

Obere Extremitdten: Die Motilitat ist gut erhalten, aber die Einzel- 
bewegungen der Finger ungeschickt. Die dynamometrische Kraft ist rechts 
gleich 60, links 40. Die Triceps- und Radiusperiostreflexe fehlen beider- 
seits. Beim Fingemasenversuch standig Danebenfahren. Lagegefuhl im 
kleinen Finger gestort. Sensibilitat fiir Pinsel und Nadelstiche, sowie fur 
Warm und Kalt intakt. 

Rumpf: Aufrichten des Korpers ohne Hiilfe der Hande unmoglich. 
Bauchreflexe vorhanden. 

Untere Extremitdten: Die Motilitat ist gut, das Zehenspiel wenig aus- 
giebig. Die Planta pedis zeigt typische Hohlfussbildung, die Zehen sind 
dauemd dorsalflektiert. Der Pateilarreflex fehlt rechts, links ist er spur- 
weise vorhanden. Die Achillessehnenreflexe fehlen beiderseits. Babin&ki• 
sches Phanomen ist zweifelhaft. Die Dorsalbewegung der grossen Zehe 
geschieht fluchtartig. Oppenheims Unterschenkelreflex ist links positiv. 
rechts fehlt er. Mendel-Bechterexvs cher Reflex: beiderseits Dorsalflexion. 
Lagegefuhl in der grossen Zehe gestort. Knie - Hacken - Versuch links 
etwas ataktisch, rechts kaum. Die Sensibilitat fiir Beruhrung und Stiche 
ist intakt. Bei spaterer Untersuchung werden Beriihrungen an beiden 
Unterschenkeln verschiedentlich ausgelassen. Lasegue sches Phanomen 
beiderseits negativ. Romberg stark positiv. Der Gang ist ausgesprocfien 
ataktisch, an den cerebellaren erinnemd. Die Grimdphalangen der Fiisse 
stehen in Hyperextension, die Mittelphalangen in leichter Flexion, die 
Endphalangen in Mittelstellung. 

Januar 1908. 

Sensibilitat (nach 8 Monaten): Lagegefuhl in der grossen Zehe beider¬ 
seits stark gestort. An beiden Unterschenkeln und auf den Fussriicken 
werden ab und zu Beriihrungen ausgelassen, am konstantesten an der Vorder- 
flache beider Tibien. Bei der Leube-Sternsekiexi Probe andauernd falsche 
Angaben bei Strichen von 1 cm und etwas dariiber. Langere Striche an 
den Armen richtig, an den Beinen faisch angegeben. 

Fall 4, Johanna La., 23 J., aufgenommen im Januar 1908. 

Anamnese: Vater Potator. Ob er Lues gehabt hat, ist ungewiss. Die 
Geschwister sind an unbekannter Krankheit gestorben. Mutter hatte keine 
Aborte. Die Patientin hat. soiange ihre Erinnerung reicht, ein Bein immer 
„nachgeschleppt“. Nachdem sie bereits laufen gelemt hatte, verlemte 
sie es ein viertel Jahr lang wieder ohne nachweisbaren Grund. Seit dem 
3. Lebensjahr unsicheres Gehen, Zittem in den Knieen. Seit mehreren 
Jahren ruckweise Schmerzen in Beinen und Armen, Unsicherheit in den 
Handen beim Greifen. Vor 3 Jahren wurden ihr plotzlich iiber Nacht die 
„Glieder steif“; sie konnte Arme und Beine nicht mehr bewegen. Bei 
passiven Bewegungen hatte sie starke Schmerzen. Seit 2 Jahren leidet 
sie an epileptischen Krampfanfallen. Kein Infekt. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


501 


Status praesens: Rechts und links Andeutung von Klumpfuss. Die 
Wirbelsaule ist verbogen im Sinne einer allgemeinen, fast gradlinigen 
Rechtsabweichung des oberen und mittleren Drittels. Herz, Lunge und 
Bauchorgane sind ohne Besonderheiten. Beim Zahnefletschen bleibt der 
rechte Mundwinkel spurweise zuriick. Die rechte Pupille ist weiter als 
ciie linke. Beim Blick nach rechts deutlicher Nystagmus, nach links nur 
spurweise. Die Zunge zeigt leichte Unruhe. Die Worte werden verwaschen 
ausgesprochen. 

Obere Extremitdten: Handedruck rechts schwacher als links. Der 
Fingemasenversuch fallt nicht nennenswert ataktisch aus. Auch statisch 
keine Ataxie. 

Rumpf: Ohne Besonderheiten. Reflexe vorhanden. 

Untere Extremitdten: Motorische Kraft gut erhalten. Nervenstamme 
auf Druck nicht empfindlich. Zxzs&guesches Phanomen ist negativ. Patellar- 
reflexe Vorhanden, Achillesreflexe fehlen; Babinskisches Phanomen fehlt. 
Beim Gehen lebhaftes, unregel massiges Schwanken, bei Augenschluss 
starkes Abweichen von der Geraden, bald nach rechts, bald nach links. 
Die Sensibilitat fiir Beriihrung und Temperatur ist intakt. Nadelstiche 
werden zuweilen Unks, zuweilen rechts starker empfunden (sehr ungenaue 
Angaben). An den oberen Extremitaten ist die taktile Sensibilitat intakt, 
ebenso das Lagegefiihl und der Temperatursinn. Stereognose: Ein Streich- 
holz wird erst fiir eine Nadel, dann fiir einen „stumpfen Gegenstand“ ge- 
halten. Schliissel, Geld, Uhrkette werden richtig erkannt. 

Fall 5, Pauline R., 35 J., aufgenommen am 7. IV. 1905. 

Anamnese: Der Vater der Patientin ist an Paralyse gestorben. Die 
Mutter soil geistesgestdrt sein. 3 Stiefgeschwister sind gesund. Vor 4 Jahren 
wurde Patientin darauf aufmerksam gemacht, dass sie einen ,,torkligen % ‘, 
unsicheren Gang habe. Sie selbst bemerkte nur seit mehreren Jahren eine 
geringe Unsicherheit und Ungeschicklichkeit in den Bewegungen, besonders 
m den Handen, so dass sie stets fiirchtete, Gegenstande fallen zu lassen. 
Eine Infektion wird absolut bestritten. Potus ist nicht vorhanden. Blase 
und Mastdarm sind intakt. Keine sonstigen Beschwerden. In ihrer Kind- 
heit soil Patientin stets ganz gesund gewesen sein. 

Status praesens: Herz, Lunge. Bauchorgane ohne Besonderheiten. 
Die linke Pupille ist etwas weiter als die rechte. Beim Blick nach rechts 
langsamer Nystagmus. Der Mundfacialis wird rechts besser innerviert als 
links. Die Zunge weicht etwas nach rechts ab. Bei schnellem Sprechen 
leichte Hesitation. Im iibrigen zeigen die Hirnnerven keine Besonder¬ 
heiten. Die Intelligenz ist intakt. Psychisch Euphorie. 

Obere Extremitdten: Nur das Oppositionsspiel der Finger rechts und 
links ist unbeholfen, trage. Sonst ohne Besonderheiten. Reflexe vorhanden. 

Rumpf: Aufrichten gut ohne Hiinde moglich. Bauchreflexe vorhanden. 

TJntere Extremitdten: Die grobe Kraft ist gut erhalten. Keine Ataxie,. 
keine Spasmen, Atrophien oder Paresen. Patellarreflexe und Achilles- 
sehnenreflexe fehlen, Babinskisches Phanomen fehlt. Keine Ataxie beim 
Kniehaekenversuch. Gang unsicher, taumelnd, bald nach links, bald nach 
rechts abweichend. Patientin iibertritt sich, indem sie den einen Fuss 
beim Gehen iiber den andem setzt. Bei Augenschluss Schwanken, bald 
nach rechts, bald nach links. Beim Gang mit geschlossenen Augen sehr 
starkes Schwanken, Zickzackgang vorzugsweise nach rechts. Sensibilitat: 
sehr starke Lagegefiihlsstorung in der grossen Zehe. Leichte Beriihrungen 
werden an beiden Beinen nicht gefiihlt. Warm wird zuweilen als kalt be- 
zeiehnet. Die Hypasthesie geht teilweise auch auf die seitlichen Teile des 
Abdomens iiber. Am starksten ist die Storung an den Unterschenkeln. 

Fall 6, Marg. E., 13 J., aufgenommen am 25 I. 1907. 

Anamnese: Keine erbliche Belastung. Keine ahnliche Krankheit in 
der Familie. Patientin lief stets unsicher. Im 8. Lebensjahr fiel es auf, 
dass sie „krumm“ ging. Sie war ungeschickt und langsam in den Beinen, 
konnte nicht wie die Geschwister laufen, nicht klettern. Im letzten Jahre 
verschlimmerte sich das Leiden, trotz arztlich-orthopadischer Behandlung. 


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502 


Singer, Die Sensibilitatsstorungen 


Das Befinden wurde so schlimm, dass der Schnlbesuch eingesfcellt- werden 
musste. Auch die Arme wurden allmahlich unsicher. Beim Herunter- 
steigen einer Treppe muss Patientin sich, um nicht zu fallen, stets fest- 
halten. Auch sonst stolpert sie zuweilen auf ebener Erde. 

Status praesens: Starke Skoliose der Wirbelsaule nach rechts, am 
weitesten in der Hohe der rechten Spina scapulae, in der unteren Lenden- 
wirbelsaule ist dies© nach links ausgebuchtet. Herz, Lunge, Bauchorgane 
sind ohne Besonderheiten. Die Himnerven sind intakt. Nur fallt zuweilen 
beim Sprechen ein Versetzen von Konsonanten auf. Die Intelligenz ist 
ungestort. 

Obere Extremitdten: Die aktive und passive Beweglichkeit ist normal, 
die motoiische Kraft gut. Die Triceps- und Radiusperiostreflexe fehlen, 
beim Fingernasenversuch beiderseits deutliches Danebenfahren. Das Lage- 
gefiihl ist intakt. 

Rumpf: Aufsitzen ohne Ataxie, ohne Benutzung der Hand© gut 
moglich. Die Bauchreflexe sind erhalten. 

Untere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Die 
rechte gross© Zehe steht dauerad, die linke hie und da inBabinski-Stellung. 
Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen. Babinskisches Phanomen nur 
rechts vorhanden, auch hier nicht regelmassig. Beim Kniehackenversuch 
Danebenfahren, bei offenen und bei geschlossenen Augen. Beim Gehen 
starkes Schwanken (nicht nach einer bestimmten Seite hin), dabei auch 
schwankende Bewegung des Rumpfes. Bei geschlossenen Augen nur geringe 
Zunahme der Unsicherheit. Auf dem Fussriicken und an den Unterschenkem 
werden Beruhrimgen zuweilen ausgelassen. 1 % Monate spater klagt 
Patientin liber ausserordentlich heftige Schmerzen in den Bemen. Feine 
Beruhrimgen werden auf der linken Bauchseite gelegenthch ausgelassen. 

Fall 7, Kind St.. 9 J., aufgenommen am 10. I. 1907. 

Anamnese: Ein Bruder des Kindes ist an Krampfen gestorben. Lue- 
tische Erkrankung des Vaters ist mit Sicherheit nicht auszuschliessen. 
Das Kind kann seit dem zweiten Lebensjahr nicht gut laufen. 

Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind ohne Besonder¬ 
heiten. Kein Klumpfuss, keine Skoliose der Wirbelsaule. 

Obere Extremitdten: Die grobe motorische Kraft ist gut erhalten. Die 
passive Beweglichkeit nicht gesteigert. Beim Fingernasenversuch deut¬ 
liches Zittem und Danebenfahren. Kein statischer oder lokomotorischer 
Tremor. Die Tricepsreflexe sind beiderseits sehr schwach, die Radius¬ 
periostreflexe erloschen. 

Rumpf: ohne Besonderheiten. Bauchreflexe vorhanden. 

Untere Extremitdten: Die passive Beweglichkeit ist normal, die grobe 
motorische Kraft gut erhalten. Patellarreflexe und Achillessehnenreflexe 
fehlen beiderseits, Babinskisches Phanomen beiderseits positiv. Beim 
Kniehackenversuch deutliche Ataxie. Schon beim Stehen mit offenen 
Augen Schwanken des Korpers. Der Gang ist breitbeinig-ataktisch, die 
Fiisse werden stampfend und mit einem Ruck aufgesetzt. Bewegungen 
der grossen Zehe werden hin und wieder falsch angegeben. Nadelstiche 
an den unteren Extremitaten werden wenig schmerzhaft empfunden. 
Beruhrimgen zuweilen ausgelassen. 

Fall 8. Elisabeth D., 21 J., aufgenommen am 6. VII. 1907. 

Anamnese: Die Schwester der Patientin (Fall 2) leidet an derselben 
Krankheit. Mit 12 Jahren soil die Patientin kurze Zeit an „Chorea“ ge- 
litten haben. Mit 16 Jahren noch einmal, diesmal % Jahr lang. Mit 
17% Jahren war sie wegen eines Magenulcus zur Behandlung im Kranken- 
haus. Mit 18 Jahren bekam sie eine gross© Miidigkeit in den Beinen, das 
Gehen wurde schlecht und immer schlechter. Auch eine Schwache in den 
Beinen und Handen fiihlte sie, sodass ihr Gegenstande oft aus der Hand 
fielen. Voriibergehend besserte sich der Zustand manchmal. Jetzt ist 
Patientin sehr unsicher und ungeschickt im Gebrauch der Hande, sehr 
ungeschickt beim Laufen. Patientin ist einigemal, wahrend sie ruhig sass. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


503 


aus dem Bett gefallen. Zuweilen schlafen ihr Halide und Fiisse ein. Eine 
Infektion hat nicht stattgefunden, kein Trauma. Potus ist nicht vorhanden. 

Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind gesund. Die 
rechte Gesichtshalfte wird schlechter innerviert als die linke. Die Zunge 
weicht etwas nach rechts ab. Grobschlagige Zitterbewegungen des Kopfes, 
die beim Liegen aufhoren. Sprache schleppend, stammelnd. 

Obere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Die Triceps- 
und Radiusperiostreflexe fehlen. Beim Fingemasenversuch tritt starkes 
Zittem und Schwanken ein. Kein statischer oder lokomotorischer Tremor. 

Rump): Aufsitzen ohne Zuhiilfenahme der Hande moglich. Die 
Bauchreflexe sind vorhanden, aber schwach. 

Untere Extremitdten: Die motorische Kraft ist herabgesetzt, die 
passive Beweglichkeit in aUen Gliedern gesteigert. Spiel der Zehen langsam, 
aber symmetrisch. Beim Kniehackenversuch starkes Danebenfahren, 
rechts starker als links. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen. 
Babinskiachea Phanomen positiv, hin und wieder Neigung zu spontaner 
dauernder Dorsalflexion der grossen Zehe. Gehen ist ohne Unterstiitzung 
unmoglich. Gestiitzt, geht Patientin breitbeinig, schleudert- die Beine weit. 
Die Fussspitzen bleiben leicht am Boden kleben. Patientin schwankt nach 
rechts, bei Augenschluss ein wenig mehr. Kein Rombergsches Schwanken. 
Die Sensibilitat ist fiir alle Qualitaten intakt, doch werden Quer- und 
Langsstriche von 2 y 2 cm au * den Unterschenkeln fast stets verwechselt. 

Fall 9, Otto Co., Topfer, 34 J., aufgenommen Oktober 1909. 

Anamnese: In der Familie sind keine Nerven- oder Geisteskrankheiten. 
Vater und Mutter waren Cousin und Cousine. Der Bruder des Vaters ist 
durch Selbstmord gestorben (angeblich Geldverluste). Ein Vetter miitter- 
licherseits ist Potator. Die Entwicklung des Patienten war eine normale. 
Ein luetischer Infekt oder Potatorium liegen nicht vor. Patient konnte 
als Kind stets gut tumen. Wurde mit 9 Jahren von einem Kameraden ins 
Wasser gestossen; damals hatte er noch keine Schwache in Armen und 
Beinen. Im 15. Lebensjahr merkte er allmahlich ein Nachlassen der ,,Kraft“ 
in beiden Armen, besonders nach langerer Tatigkeit. Als er zum Militar 
kommen sollte, bemerkte er eine Schwache in den Beinen, d. h. Unsicherheit 
beim Gehen. In geringem Masse soli eine gewisse Mattigkeit auch in den 
Beinen schon seitdem 15. Jahr bestanden haben. Das ,,Riickenmark wurde 
galvanisiert". Keine Besserung. Patient konnte aber noch allein gehen, 
nach iy 2 Jahren jedoch nur noch mit Unterstiitzung von Vater und Mutter. 
Er wurde nochmals % Jahr behandelt. Keine Besserung, sondem an- 
dauemd Verschlimmerung. Patient konnte sich allein nicht mehr halten. 
Nach „Einspritzungen“, die ihm ein Chemiker machte, soli eine Lahmung 


Anmerkung: Ich nahm Gelegenheit, bei diesem Patienten das von 
Lowenthal sogenannte „faradische In ter vail “ (Abstand zwischen der Schwelle 
fiir Beriihrungs- und fiir Schmerzempfindung bei Induktionsstromen, zu 
bestimmen. Bei der Versuchsanordnung war der Eisenkem vollstandig 
in die primare Rolle eingefiigt. Die sekundare Rolle wurde langsam iiber 
die primare gefiihrt. Es waren 30 Widerstande eingeschaltet; benutzt 
warden runde, gleiche Elektroden (15 cm), die eine auf den Oberschenkel, 
die andere auf die Gegend des M. tib. anticus aufgesetzt. Notiert wurde bei 
Empfindung am Unterschenkel. Es ergab sich als Intervall (und zwar bei 
mehrfacher Priifung gleich) 3,0. Das Intervall, unter genau denselben 
Bedingungen gepriift, ergab bei einem Normalen 2,4; bei einem Fall von 
arteriosklerotischer Himthrombose: 2,2; bei einem Tabiker 2,4. 

Unter den gleichen Bedingungen wurde das Intervall fiir den Fuss- 
riicken bestimmt (andere Elektrode auf M. tib. anticus). Notiert wurde 
bei Empfindung am Fussriicken. Es ergab sich als Intervall bei Friedreich- 
scher Krankheit: 4,2, beim Normalen 1,6, Himthrombose 1,7, Tabes 2,6. 

Das entspricht ganz den auch in dieser Arbeit niedergelegten An- 
schauungen iiber den Grad der Sensibilitatsstorungen an proximalen und 
distalen Partien des Korpers bei Friedreichschev Krankheit. 


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504 


S i n g e r , Die Sensibilitatsstorungen 


der Fiisse eingetreten sein, die links starker war als rechts. Die Unsicherheit 
verschlechterte sich so sehr, dass die Zehen nicht mehr bewegungsfahig 
waren, die Finger zum Schreiben unfahig wurden. Er hatte auch ofters 
in Waden und Fingern Zuckungen. Patient konnte sich nicht gerade auf- 
richten, Schmerzen traten nicht auf. Kein Schwindel. Die Potenz ist seit 
4 Jahren erloschen, die Blase intakt. Oefters Ameisenlaufen auf der Kopf- 
haut. zuweilen auch in den Beinen. Die Sprache hat sich nicht verandert. 
Seit 3 Jahren kann Patient nicht mehr stehen. 

Status praesens: Grosser, starker Mann in gutem Emahrungszustand. 
Lungen und Bauchorgane normal. Am Herzen ein systolisches Spitzen- 
gerausch. Als Stigmata degenerationis sind vielleicht aufzufassen: sehr 
Weiner Penis, ausgesprochene Hypospadie, abnorme Implantation der 
Stirnhaare. Links ist Brissaudsche Fussbildung angedeutet. Die Grund- 
phalange dergrossenZehe steht hyperextendiert,dieEndphalanx in stumpfem 
Winkel zur Grundphalanx flektiert. Perubalsam wird links starker ge- 
rochen als rechts. Lidspalte links enger als rechts. Pupillen gleich weit, 
Licht- und Konvergenzreaktion beiderseits gut; beim Blick nach rechts, 
links, oben, unten grobschlagiger Nystagmus. Rinne beiderseits negativ. 
Leicht naselnde, langsame Sprache (soli stets so gewesen sein). 

Obere Extremitdten: Der Tonus ist rechts und links herabgesetzt. 
Triceps- und Radiusperiostreflex nicht sicher auslosbar. Die motorische 
Kraft in Schulter. Ellenbogen imd Hand gut erhalten. Von den Finger- 
bewegungen ist nur die Oppositionsbewegung des Daumens schwach, 
namentlich links. Die Nervenstammo sind nicht druckempfindlich. Beim 
Fingemasenvarsuch bedeutende Ataxie und Danebenfahren. Beiderseits 
statische und lokomotorisehe Ataxie. In den gespreizten Fingern choreiforme 
Instabilitat. 

Rumpf: Aufrichten ohne Arme moglich. Die Reflexe sind vorhanden. 
lebhaft. 

Untere Extremitdten: Beide Fiisse sind kalt, blaulich, der Tonus ist 
rechts und links, besonders im Fussgelenk. herabgesetzt. Die Patellar- 
und Achillesreflexe fehlen beiderseits. Plantarreflex beiderseits vollig 
erloschen. Beim Kniehackenversuch massige Ataxie. Die grobe Kraft 
im Fussgelenk ist schwach, Zehenbewegungen sind fast unmoglich. Schon 
im Sitzen ist liambergsches Schwanken angedeutet. Gehen ist nur mit 
Hiilfe von 2 Wiirtern moglich. Hochgradige Ataxie. Typische Demarche 
tab^to-cerebelleuse. 

Die Sensibilitiit ist fur alle Qualitaten an den oberen Extremitaten 
intakt. Bei der Zjeube-Steni&chen Probe nur gelegentlich leichte Irrtumer. 
Von der Mitte beider Untersehenkel nach abwarts Hypaesthesie fiir Be- 
riihrung und Thermhypaesthesie. Lagegefuhl im Grosszehengelenk hoch- 
gradig gestort, im Fussgelenk intakt. Schinerzempfindlichkeit auf dem 
Fussriicken herabgesetzt. Leube-Sle rnsche Probe: Striche von 2— 2 1 / 2 cm 
auf dem Fussriicken fast regelmassig angegeben. Herabsetzung der testi- 
kularen, keine Herabsetzung der trachealen Sensibiiitat. 

Fall 10 (Mari esc he Krankheit), Albertine Z., 52 J., aufgenommen 
September 1909. 

Anamnese: In der Familie sind keine ahnlichen Krankheiten, keine 
Krampfe. keine Geisteskrankheiten. Lues des Vaters ist nicht vorhanden. 
Vor 8 Jahren bemerkte Patientin beim Gehen Unsicherheit. die ganz all- 
mahlich schlimnier wurde. Bei Ermiidung und in der Dunkelheit nimmt 
diese Unsicherheit nicht zu. Vor 4 Jahren gesellte sich dazu eine Unsicher* 
heit und Ungeschicklichkeit in den Handen, sowie eine Erschwerung der 
Sprache. Die Hande zittern, die Schrift wird undeutlich. Jetzt ist Gehen 
nur mit Unterstutzung auf einer Seite moglich. Patientin kann nahen und 
schreiben. Sie sieht seit 20 Jahren schlecht, mit Brille besser. Zuweilen 
hat sie Kopfschmerzen und Schwindel (keine echte Vertigo). Patientin 
hat eine Zeit lang mit Blei zu tun gehabt (sie war Sehriftsetzerin). Keine 
Bleikoliken. 

Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind normal. Die 
Zunge weicht etwas nach rechts ab, ist diinn, zeigt fibrilliire Zuckungen. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


505 


Die Sprache ist angestrengt, langsam; die einzelnen Silben werden ge- 
waltsam herausgepresst. 

Obere Extremitdten: Grobe motorische Kraft ist gut erhalten. Hande- 
schiitteln geschieht sehr langsam und sehr ungeschickt. Bei wagerecht vor- 
gestreckten Armen geraten dies© in ein Wackeln, das bis zu Exkureionen 
von 5 cm allmahlich anwachst. Beim Fingemasenvereuch rechts wackelnde 
Bewegung vor der Erreichung des Ziels, beiderseits nach Erreichung des 
Ziels grober Tremor. 

Rumpf: Ohne Hiilfe der Arme Aufsitzen moglich. Bauchreflexe sind 
vorhanden. 

Untere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Bei 
passiven Bewegungen im Kniegelenk starker muskularer Widerstand. 
Patellarreflexe beiderseits klonisch gesteigert, rechts anhaltender Patellar- 
klonus. Achillesreflexe klonisch gesteigert, beiderseits unerschopflich. 
Babinski beiderseits negativ. Beim Kniehackenversuch wackelnde Be- 
wegung. namentlich rechts; geringes Danebenfahren. Im gestreckten Bein 
geringer Tremor. Zehenspiel langsam. Stehen ist mit einseitiger, leichter 
Unterstiitzimg moglich. Dabei wird ein Zittem, bald im Kopf, bald in den 
Armen, bemerkbar. Romberffechea Phanomen positiv, Zunahme des Zitterns, 
Neigung zum Hinteniiberfallen. Gang ohne Hiilfe unmoglich, breitbeinig, 
schwankend. Beine im Knie steif, Aufsetzen stampfend. Bei geschlossenen 
Augen Zunahme des Schwankens. Sensibilitat: bei der Leube-Stemschen 
Probe Fehler in ca. 30 pCt. aller Falle an den Fingern (bei einwandfreier 
Aufmerksamkeit). In der grossen Zehe werden links bei Untersuchung 
des Lagegefiihls sehr haufig Fehler gemacht. 

Fassen wir den Befund der Sensibilitatsstorungen bei vor- 
stehenden 9 Fallen von Friedreichscher Krankheit zusammen, so 
ergibt sich, dass 7 Patienten deutliche, zum Teil erhebliche Sensi¬ 
bilitatsstorungen, eine Patientin (4) intakte Sensibilitat, dabei 
aber seit Jahren lancinierende Schinerzen in Armen und Beinen, 
ein Patient (8) nur zweifelhafte Storungen aufweist. Bei 
5 Patienten fand sich Stoning des Lagegefiihls (1, 3, 5, 6, 9), 
bei 7 Storung der taktilen Sensibilitat (1, 2, 3, 5, 6, 8, 9), 
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit bei 4 Pat. (1, 2, 7, 9), 
bei 2 und 7 nicht regelmassig. 4 mal waren Schmerzen oder 
Parasthesien aufgetreten (1, 4, 6, 8). Temperatursinnstorung 
wTirde bei Patienten 2 und 5 sehr unsicher, bei Patient 9 sehr 
ausgesprochen gefunden. Bei Patient 1 wurde Vibrationsan- 
asthesie und leichte Storung der stereognostischen Empfindung 
konstatiert; Storung bei Priifung nach der Leube-Sternschen 
Methode bei 1, 2, 3, 8 und 9. Bei 1 und 3 fand sich auch eine 
Sensibilitatsstorung im Bereich der oberen Extremitaten. Die 
Arme waren in diesen beiden Fallen besonders stark ataktisch. 
In den iibrigen Fallen fehlte eine irgend erheblichere Storung der 
Empfindung in den oberen Extremitaten, obschon Ataxie vor¬ 
handen war. 

Eine Korrespondenz zwischen dem Grad der Ataxie und dem 
Grad der Empfindungsstorungen konnte ich nicht feststellen. 
Auch viele Beispiele der Literatur sind in diesem Sinne zu ver- 
werten. Rennie erwahnt einen Fall von Friedreich mit autoptischem 
Befund. Trotz hochgradiger Degeneration der Hinterstrange in 
ganzer Ausdehnung und trotz Degeneration der hinteren Wurzel- 
fasera war intra vitam bei erhebhcher Ataxie nicht die geringste 
Monatsachritt f(lr Psychlatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft a. 34 


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506 


Singer, Die Sensibilitatsstomngen 


Sensibilitatsstorung zu finden gewesen. Der schwerste Ataktische 
von Besolds 4 Frieareichfallen zeigte intakte Sensibilitat. Rumpf 
hebt einen Fall hervor, in dem bei betrachtlicher Herabsetzung 
des Gefiihls fur Lageveranderungen der Gelenke jede Ataxie fehlte. 
In dem bekannten Fall von Niemeyer-Spdth-Schuppel war trotz 
formlicher Hohlenbildung im Bereich der Hinterstrange die 
Koordination der Bewegungen vollkommen normal. Abgesehen 
von dem fast durchweg negativen Befund an den oberen Ex- 
tremitaten, konnte ich die Inkongruenz zwischen Ataxie und 
Sensibilitatsstorung auch besonders deutlich bei Patientin 4 
und 8 konstatieren. Bei ersterer fanden sich bei hochgradiger 
Storung der Koordination und bei ausgesprochen ataktischem Gang 
nur leichte Reizerscheinungen von seiten der sensiblen Nerven. 
In Fall 8 war das Alleingehen wegen der Inkoordination der in- 
tendierten Bewegungen ganz unmoglich geworden, und trotzdem 
war nur bei der subtilsten Priifung nach Leube-Stern eine minimale 
Storung im Bereich der Empfindungsqualitaten vorhanden. 

Was den Sitz und die Qualitat der Sensibilitatsstorungen 
anlangt, so kann ich zusammenfassend folgendes sagen: Sie bevor- 
zugten in unseren Fallen die distalen Partien. Das Grosszehen- 
gelenk war fur das Lagegefiihl, der Fussriicken und die Vorder- 
flache der Unterschenkel fiir die taktile Sensibilitat Lieblingssitz 
der Storung. Dem Verlauf bestimmter Nerven, Wurzeln oder 
Segmente oder der Abgrenzung von Korpergliedem folgte die 
Storting niemals. Vielmehr hatten Grenze und Ausdehnung an- 
scheinend mehr oder weniger etwas Willktirliches. Auch in der 
Literatur findet sich wie in unseren Fallen ein Vorherrschen der 
Lagegefuhlsstorungen. Schmerz- und Temperatursinnstorungen 
sind sehr seiten. Die Haufigkeit der Storungen der Beriihrungs- 
empfindlichkeit (bei uns in 7 von 9 Fallen) ward in der Literatur 
wohl zu knapp bemessen. Abgesehen davon, dass haufig Angaben 
iiber die Priifung der Sensibilitat iiberhaupt fehlen oder nur sehr 
ungenau und fliichtig sind (s. Statistik), glaube ich auch, dass 
mit Htilfe der feinsten Methoden (wie der Probe von Leube-Stern) 
noch viel haufiger Empfindungsstorungen im Sinne von sensiblen 
Ausfallserscheinungen sich finden werden. 

Zeitlich verhielten sich die Storungen folgendermassen: Bei 
den Kranken, die Jahre hindurch in Beobachtung blieben, liess 
sich eine unzweifelhafte Progression der Erscheinungen von seiten 
der Sensibilitat konstatieren (s. Tabelle). M., Patient 1, hatte im 
11. Jahre seiner Erkrankung nur eine leichte Hyperalgesie der 
Hande (bei ausgesprochener Ataxie in Handen und Beinen), im 
19. Jahre der Krankheit die schwersten Storungen der taktilen, 
Lage- und Vibrationsempfindung. Ebenso waren bei der Kranken 2, 
bei der im 4. Jahr der Erkrankung nur leichte Hypalgesie vor¬ 
handen war, nach 7 Jahren die Storungen ganz erheblich ge- 
wachsen. Diese Beobachtung erinnert an den Fall von Burr, der 
erst nach 7 Jahren bei seinem Patienten Verspatung der Emp- 
findung uud Herabsetzung derselben an den Beinen fand. Oder 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


507 


an einen Fall (2) von E. Muller, der erst 10 Jahre nach dem 
ersten Auftreten der Krankheit Storungen der Sensibilitat nach- 
wies. Wenn Friedreich und viele seiner Nachfolger erklarten, 
dass erst im Endstadium der hereditaren Ataxie iiberhaupt Sto¬ 
rungen der Sensibilitat auftreten, so lasst sich das nach den Ge- 
samtbeobachtungen heute nicht mehr anerkennen, wiewohl der 
progrediente Charakter mir erwiesen scheint. Es werden zuweilen 
Storungen der Sensibilitat, und zwar gerade auch sensible Aus- 
fallserscheinungen, schon in den ersten Stadien der Krankheit 
konstatiert. Allerdings entgehen in friiher Zeit die Storungen zu¬ 
weilen unserer Beobachtung; denn erstens sind die Angaben von 
Kindem bei subtileren Priifungen oft sehr mangelhaft und un- 
zuverlassig; zw’eitens wechseln die Erscheinungen, wovon ich 
mich selbst wiederholt iiberzeugen konnte, recht oft, so dass ein 
augenblickliches Fehlen von Storungen noch nicht ganz sicher 
den Schluss zulasst, dass Storungen auch friiher nie vorhanden 
waren. 

Bei unsem Patienten 1, 2 und 3, die mehrere Jahre hindurch 
beobachtet werden konnten, schien die Progredienz der ataktischen 
Symptome mit einer gewissen Progredienz der sensiblen Erschei¬ 
nungen parallel zu gehen. Wir konnen trotzdem den inneren Zu- 
sammenhang der beidenPhanomene hierdurch fiir die Friedreichache 
Krankheit nicht fiir erwiesen halten. Denn die Storungen der 
Empfindung bezogen sich nicht immer genau auf die Glieder, 
welche die Koordinationsstorung aufwiesen. Die oberen Ex- 
tremitaten waren z. B. fast stets sehr ataktisch und dabei frei 
von sensiblen Ausfalls- und Beizerscheinungen. Auch schien uns 
der hohe Grad der Ataxie, der oft das Gehen vollkommen un- 
moglich machte, nicht der relativ geringen Sensibilitatsstorung 
an den Beinen zu entsprechen. Dass wir bei unseren Beobachtungen 
relativ haufig Storungen der Lage- und Beruhrungsempfindlichkeit 
konstatierten, und dass diese Storung auch am haufigsten in den 
Befunden der Literatur wiederkehrt, entspricht anatomisch sehr 
gut der regelmassig gefundenen Degeneration der Hinterstrange 
und Seitenstrange. 

Die subjektiven und objektiven Storungen der Empfindung 
sind jedenfalls bei der Friedreichschen Krankheit viel haufiger, 
als gemeinhin angenommen wird. Man wird in Zukunft den Satz 
von der Integritat der Empfindung bei der Friedreichschen Krank¬ 
heit korrigieren und einschranken miissen, wie man schon so 
manchen Punkt im Symptomenbild derselben Krankheit modi- 
fiziert hat. Jedenfalls kann es schon heute nicht mehr erlaubt 
sein, die Friedreichache Krankheit auf Grand des angeblich 
vollkommenen Mangels aller sensiblen Storungen differential- 
diagnostisch etwa von der juvenilen Tabes zu trennen. Wenn 
auch bei der Tabes die Sensibilitatsstorungen durchweg viel aus- 
gepragter sind und namentlich friiher auftreten, so kommen doch 
auch einzelne Falle der Friedreichschen Krankheit vor, in denen 
die Sensibilitatsstorungen fast ebenso erheblich sind und ebenfalls 

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508 


Singer, Die Sensibilitatestdrungen 


recht friih erscheinen. Vielleicht konnte eher das relative Intakt- 
bleiben der Schmerzempfindlichkeit bei der Friedreichschen Krank- 
heit gegeniiber der juvenilen Tabes diagnostisch verwertet werden. 

Die Patientin 10, die dem fliichtigen ausseren Aspekt nach 
das Bild der Friedreichschen Krankheit darbietet, erweist sich 
bei sorgfaltiger Untersuchung als ein Fall von Mariescher Krank¬ 
heit. J)i e Sensibilitat ist hier nur wenig gestort. Einzelne 
Beobachter wiesen u. a. besonders darauf hin, dass, im Gegensatz 
zur Friedreichschen Krankheit, bei der ,,hereditaren Kleinhirn- 
ataxie“ die Sensibilitat meist erhebhcher gestort ist. Schon ein 
Vergleich unseres Falles 10 etwa mit Fall 1 lehrt freilich, wie un- 
sicher dieses differentialdiagnostische Kriterium ist. 

Ich gelange also zu folgenden Schlusssatzen: 

1. In ca. 35 pCt. aller bisher veroffentlichten Falle von Fried- 
reichscher Krankheit finden sich Storungen der Sensibilitat. 
Nach meinen Beobachtungen sind sie noch wesentlich haufiger. 

2. Sensibihtatsstorungen treten in jedem Stadium der Krank¬ 
heit zuweilen auf; jedoch sind sie im Beginn seltener. 

3. Die haufigsten Storungen sind die Storungen der Lage- 
und der Beriilirungsempfindlichkeit. Reizerscheinungen sind 
weniger haufig als Ausfallserscheinungen. 

4. Die unteren Extremitaten sind als Sitz der Storung bevor- 
zugt, und zwar hier wieder die distalen Partien. 

5. Die Ausbreitung der Storungen entspricht nicht den Aus- 
breitungbezirken von Nerven oder Hinterwurzeln. 

6. In den Storungen konnen Remissionen eintreten. Im all- 
gemeinen aber sind die Storungen leicht progressiv. 

7. Zwischen der Sensibilitatsstorung und der Ataxie besteht 
kein Parallelismus. 

8. Die Sensibihtatsstorungen ermoghchen keinen differential- 
diagnostischen Schluss gegeniiber der juvenilen Tabes; nur die 
relative Seltenheit von Hypalgesien und Schmerzen konnte diffe- 
rentialdiagnostisch vielleicht verwertet werden. 

Nachtrag. 

Nach Schluss meiner Arbeit ist mir noch eine Publikation 
zu Handen gekommen, liber die ich hier anhangsweise referiere: 

Noika (Revue neurolog. 1908, S. 93) fand bei 2 Patienten, 
die an Friedreichscher Krankheit litten, die SensibUitat fiir Be- 
riihrung, Schmerz und Temperatur normal. Nur schien die Emp- 
findung distal etwas besser zu sein als proximal an den Extremi¬ 
taten. An den oberen Extremitaten wurden bei Patient 1 die 
Spitzen des Tasterzirkels in einer Distanz von 13 cm als 2 emp- 
funden, an den unteren in einer Entfernung von 25 cm. Bei 
Patient 2 wurden sie an den Armen in einer Entfernung von 9 cm 
doppelt gefiihlt, an den Beinen, wenn man eine Spitze auf eine 
Zehe, die andere auf das untere Ende des Oberschenkels setzte. 


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bei der Friedreichschen Kranklieit, 


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Erkldrungen: In der Rubrlk „subjektive Schmerzen oder Parasthesien“ heisst -f- vorhanden, — fehlend. Sonst heisst 
+ regelmassig: „normal“, — M gestort“. O. = Obere Extremitaten. U. — Untere Extremitiiten. At. = Ataxie. Ru. = Rumpf. 
S. St. = Sensibilitatsstorung. 













510 


Singer, Die Sensibilitatastorungen 


Tabelle II. 

Sdmtliche FaUe von Friedreichscher Ataxie bis zum Jahre 1908 1 ). 


Afflek 2 
Aubertin 1 
Auscher 1 + 
Aus8et 1 
Auster 1 

Badri an 1 

Barjon et Cade 1 

Batten 1 + 

Bailly 1 
Baldwin 1 
Beauregard, 

. Melot de 1 + 
Baumlin 2 -f- 
Bayet 1 -f 
Beco 2 
Berdez 1 
Besold 4 (2 +) 
Best 1 
Bing 1 + 

Biro 5 (1 +) 
Blocq 1 
Bonnus 1 + 
Bomikoel 3 
Bouchaud 2 + 
Bowes 2 (1 +) 
Bramwell 3 + 
Braun 2 + 
Bregman 1 + 
Brousse 2 (1 +) 
Brown 1 + 
Burnet 1 
Burr 1 + 

Bury 2 (1 +) 

Carenville 1 
Carpenter 2 (1 +) 
Cassirer 1 + 
Caton 3 


Cerletti 2 
Charcot 1 
Chiadini 1 
Clarke 5 (2 +) 
Cohn 2 + 

Collins 7 
Cousot 4 
Crispolti 1 

Dalche 1 -f- 
Degenkolb 1 + 
Dejerine 2 + 
Demoulin 1 
Descroizilles 1 
Destr^e 1 

Dreschfeld 5 (3 +) 
Dugge 2 + 

Edleston 1 
Egger 1 
Erhcki 1 + 

Ewald 1 

Ferenczi 1 + 
Ferrier 1 + 
Fornario 3 + 
Forster 1 + 
Friedreich 9 (3 +) 
Friedenreich 1 
Furatner 3 (2 +) 

Gadner-Chiadini 1 
Gaussel 2 
Ghilarducci 1 + 
Gibb 1 + 
Gladstone 2 (1 +) 
Glorieux 1 
Gowers 4 (3 +) 
Greenlees- 
Purvis 2 + 


Griffith 8 (3 -f*) 
Guizetti 1 + 
Guthrie 2 

Hall 2 + 

Hammond 5 (2 +) 
His 5 

Hochhaus 1 
Hodge 3 (2 +) 
Hoffmann 2 
Hotsch 3 
Hunter 1 

Jacoby 1 + 

James 1 
Jauer 1 
Jendr&ssik 1 
Joffroy 1 

Katz 1 + 
Kaufmann 1 + 
Kellog 2 
Kloft 2 + 
Kopczynski 3 (1 +) 
Krafft-Ebing2(l +) 
Krause 1 + 

Ladame 1 
Leegaard 4 
Lenoble 2 
Letulle 1 
Liebmann 2 
Lunz 1 + 

Liithje 3 (1 ■(■) 

Mackay 1 
Magnus 2 + 
Marguhes 1 
Martin 1 
Mastin 6 


') Ohne Anspruch darauf machen zu konnen, auch nicht einen einzigen 
Fall von Friedreichscher Krankeit in der gewaltigen Literatur iibersehen zu 
haben, glaube ich doch, dass es sich bei den fehlenden, nicht registrierten 
Fallen um eine sehr kleine Zahl handelt. 

Die dem Automamen beigesetzte Zahl bedeutet die Anzahl der von 
ihm publizierten Falle. Das -f-Zeichen bedeutet, dass in diesen Fallen 
irgendwelche Sensibilitatsstbrungen bestanden haben. 

Leider waren mir relativ viele Falle nicht im Original zuganglich. 


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bei der Friedreichschen Krankheit. 


511 


Mendel, F., 1 
Mendel, Kurt, 4 
Menzel 1 

Mingazzini 2 (1 +) 
Moravcsik 3 
Muller 3 + 

Murray 1 
Musso 6 

Nammack 1 
Neff 1 + 

New 2 

Nolan 3 (2 +) 

Oberthiir 2 
Oppenheim 3 
Ormerod 8 (1 +) 
Ottersbach 1 + 

Palmer 1 
Paravicini 1 
Pauly-Dreyfuss 1 + 
Pearce 1 
Peck 1 
Peiper 2 
Pernet 3 
Pfaundler 1 
Philipp 1 
Pitt 1 

Pic-Bon namour 1 — 
Potts ,1 + 

Power 1 + 

Prayez 1 + 
Pribram 1 + 
Prince 1 


Pritzsche 2 (1 +) 
Putnam 1 

Quincke 2 

Rankin 3 
Raymond 3 
Rennie 1 + 

Robins 1 + 
Rosenbaum 2 
Rosenberg 3 
Rosenstein 1 
Rosenstein 2 
Rossi 2 + 

Rumpf 3 + 
Riitimeyer 11 + 

Sainsbury 2 + 
Schaffer 1 
Schmidt 2 
Schonborn 4 
Schultze 3 (1 -f) 
Schwarz 1 
Seeligmiiller 2(1+) 
Seguin 2 
Seiffer 7 (1 +) 
Semmerlin 3 
Senator 1 
Shattuck 3 + 
Shaw 1 
Simon 1 + 

Sinkler 2 
Small-Sidney 4 
Smith 6 (1 +) 
Starr 3 (2 +) 


Stein 1 + 

Stem 1 + 

Stintzing 4 (2 +) 
Striimpell 1 
Symes 1 
Szczypiorski 1 

Taylor 1 
Teissier 1 

Thalwitzer 2 (1 +) 
Thistle 1 

Thomas-Roux 1 + 
Tresidder 3 (1 +) 

Veraguth 1 
Verhoogen 1 + 
Vincelet 1 
Voelker 1 

WaU 2 
Wallace 2 
Walle 2 
Wart 1 
Weber 3 
Wille 2 
Wernicke 2 + 
Whyte 4 (2 +) 
Wichmann 1 + 
Williams 3 + 
Wilson 1 + 

Wickel 1 
Winkler 1 + 

Zabludowski 1 
Zappert 1 


Bei 1 war der Gelenksinn in Fingern, Handgelenk, Ellen- 
' beugen, Zehen, Knochelgelenk gestort, bei 2 in den Fingern (weniger 
im Handgelenk, sehr wenig in Ellenbogen), Fussgelenk, Zehen. 

Es resultierte aus beiden Storungen eine erhebliche Herab- 
setzung respektive Aufhebung des stereognostischen Sinns bei 
beiden Patienten. 

An den Extremitaten ist auch der Drucksinn herabgesetzt. 

Bei beiden ist ausserdem die Knochensensibilitat gestort, 
besonders distalwarts an den Gliedem. Sie ist auf dem Hiiftbein, 
dem Kreuzbein, der Wirbelsaule gleich Null. Vom III. Hals- 
wirbel an aufwarts wird sie wieder normal. 


Zum Schluss erlaube ich mir, Herm Geheimrat Ziehen, meinem 
hochverehrten Chef und Lehrer, fiir die Anregung zu dieser Arbeit 
und fiir die Ueberlassung des klinischen Materials verbindlichst 
zu danken. 


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Grundlag® 

. h( . r . t» ie anatonuache 

p i s c n ? r * 

• 1__ .* o 



(Auh der deutschen psychiatrischen Universitats-KIinik in 
[Prof. Dr. .4. Pick.)] 

Die anatomische Grundlage 
der cerebrospinalen Pleocytose 1 ). 

V T on 

Priv.-Doz. Dr. OSKAR FISCHER. 


Die Cytodiagnose der durch die Lumbalpunktion gewonnenen 
Cerebronpinalflussigkeit hat seit den vor wenigen Jahren bekannt 
gewordenen Untersuchungen Widals eine grosse Bedeutung fur 
die Diagnostik der verschiedensten Erkrankungen des Zentral- 
nervensystems gewonnen, da es sich herausstellte, dass der unter 
normalen Yerhaltnissen beinahe zellfreie Liquor bei Krankheiten, 
welche mit einer Affektion der Meningen einhergehen, eine mebr 

*) Anszugsweise vorgetragen in der Biologisehen Sektion des .,Lotos‘ c 
in Prag am 26. X. 1909. 


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dur uerebrospinalen Pleocytose. 


513 


oder weniger starke Vermehrung der zelligen Elemente aufweist. 
Fur ein so wichtiges diagnostisches Symptom ist aber auch die 
Erkenntnis, welcher anatomischen Veranderung die Zellver- 
mehrung des Liquor entspricht, von besonderer Bedeutung. Die 
urspriingliche Ansicht der franzosischen Autoren, dass die Zell- 
vermehrung aus den entziindeten Meningen stammt, fand bei 
Nisfl 1 ) und Merzbacher 2 ) starken Widerspruch, welche diesen 
Zusammenhang verneinten und die Frage nach der Herkunft 
der Zellen often liessen. Eine Entscheidung konnte nur eine ge- 
nauere anatomische Untersuchung von kurz vor dem Tode punk- 
tierten Fallen geben; dahin gerichtete Untersuchungen wurden 
von mir angestellt. Ich 3 ) bin von folgenden Ueberlegungen aus- 
gegangen: Die Zellvermehrung im Liquor kommt im allgemeinen 
bei Krankheiten vor, welche mit einer Erkrankung der Meningen 
einhergehen; bei akuten mit einer starkeren entziindlichen Affektion 
einhergehenden Meningitiden finden sich viel mehr Zellen im 
Liquor als bei chronischen Meningitiden; nun sind aber die Meningen 
ein sehr ausgedehntes „Organ“ und wir entnehmen und unter- 
suchen nur den kleinen Teil des Liquor, der sich im untersten 
Blindsacke des Duralsackes ansammelt; bei diesem Sachverhalt 
fragt es sich, wie eine Meningealerkrankung beschaffen und lokali- 
siert sein muss, um zu einer Pleocytose des durch die Lumbal- 
punktion entleerten Liquor zu fiihren. Zur Losung dieser Frage 
war der einzuschlagende Weg ganz selbstverstandlich. Es musste 
bei einer grosseren Reihe von Fallen verschiedener Art kurz vor 
dem Tode der Grad der cerebrospinalen Pleocytose bestimmt und 
dann eine genaue Untersuchung der Meningen dieser Falle vor- 
genommen werden. Die Untersuchung des Liquor musste kurz 
vor dem Tode geschehen; denn die Starke der Pleocytose wechselt, 
wie ich ebenfalls nachgewiesen habe, in ganz kurzen Abstanden, 
so dass langere Zeit vor dem Tode vorgenommene Punktionen 
iiber den Zustand der Meningen im Tode nichts aussagen konnen: 
dann musste eine Methode gefunden werden, welche die Unter¬ 
suchung der Zellen in etwas besserer Weise ermoglichte als es bis 
dato geschah. Die L T ntersuchungen wurden meist so ausgefiihrt 
(franzosische Methode), dass der Liquor nach Zentrifugierung 
abgegossen und der aus den Liquorzellen bestehende Bodensatz 
mittels Capillare auf ein Deckglas ubertragen, getrocknet, fixiert 
und gefarbt wurde. Derartige Praparate konnten nun iiber die 
Art der Zellen gar keine Auskunft geben, da man statt gut er- 
haltener Zellen nur kaum erkennbare und klassifizierbare, ge- 
schrumpfte oder gequollene Zelltriimmer vorfand, die zwar zur 
einfachen Zahlung verwendet werden konnten, bei denen es aber 
gar nicht moglich war, die Zellart naher zu bestimmen. Die Ur- 
sachen liegeri darin, dass der Liquor als solcher die Zellen schadigt. 
zur Quellung bringt und bei langerem Stehen auch die Zellzahl 

1 ) Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 190-1. 

*) Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1900. 

*) Jahrbiieher fiir Psych. 190(5. Bd. XXVII. 


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514 


Fischer, Die anatomische Grundlagc 


zu reduzieren imstande ist. Ich schlug deswegen vor, dem Liquor 
sofort nach der Entnahme etwas Formol zuzusetzen, wodurch die 
Zellen fixiert wurden; und tatsachlich konnte man dann im Liquor 
auch die einzelnen Zeilarten sehr schon voneinander unterscheiden, 
indem 3 Arten von Zellen erkennbar waxen: kleine einkernige 
Lymphozyten, polynukleare Leukozyten und dann grosse plasma- 
reiche Zellen mit blaschenformigen Kemen. 

Mein anatomisches Material beatand aus 20 Fallen. Darunter 
waren 17 Paralysen mit grossen Differenzen in der Zcllzabl im 
Liquor. Die grosste Zahl betrug 64 im Gesichtafelde der Immersion, 
die geringste 2 Zellen. Es stellte sich nun heraua, dass die Starke 
der Pleocytose parallel ging mit dem Steigen der Infiltration der 
Meningen der untersten Riickenmarkabschnitte; es waren zwar 
bei den Paralysen die Meningen des ganzen Riickenmarkes und 
ebenso die Gehimmeningen infiltriert aber in sehr wechselnder 
Starke, wogegen nur die Starke der Affektion der untersten 
Meningealabschnitte dem Zellgehalt der Lumbalfliissigkeit ent- 
sprach; dieses illustrierten noch besonders schon folgende 2 Falle: 
Eine an akuter Verwirrtheit erkrankte Patientin hatte Pleocytose 
von 12 Zellen. Die mikroskopische Untersuchung zeigte das 
Gehim und Riickenmark sowie die Meningen intakt, nur im 
IV. Sakralsegment fand sich ein kleiner myelitischer Herd, und 
in derselben Hohe waren die Meningen leicht entziindlich infiltriert. 
Der 2. Fall betraf einen Solitartuberkel des Gehims, in dessen 
Umgebung die Meningen sehr stark entziindlich infiltriert waren. 
Die Meningen der anderen Teile des Grosshirns und des Riicken- 
marks waren nicht infiltriert und dementsprechend der Liquor 
auch beinahe zellfrei. 

Ausser dieser Uebereinstimmung in der Zahl der Zellen zeigt 
sich auch eine grosse Uebereinstimmung in der Art der Zellen. 
In den Fallen, welche im Liquor nur Lymphozyten aufwiesen, 
fanden sich in den Meningen ebenfalls beinahe nur Lymphozyten; 
fanden sich aber in einem Liquor auch die grossen plasmareicben 
Zellen in grosserer Zahl, so waren in den Meningen neben den 
Lymphozyten auch grossere Mengen von histologisch gut charak- 
terisierten Plasmazellen. Daraus war also der Schluss zu ziehen, 
dass die grossen plasmareichen Zellen des Liquor ebenfalls Plasma¬ 
zellen sind, die aber durch den Liquor resp. (lurch die andersartige 
histologische Verarbeitung nicht die sonst in histologischen Pra- 
paraten gewohnte Gestalt und Farbreaktion aufweisen, was ja 
nicht weiter befremdend sein kann. 

Ich schloss aus diesen Beobachtungen, dass die Pleocytose 
nichts anderes als den Grad der Infiltration der Meningen des 
untersten Riickenmarkabschnittes anzeigt. Dieser Umstand konnte 
ebenfalls im Experiment erwiesen werden, wie dies friiher bereits 
Sicard 1 ) getan, dessen Versuche ich dann im Anschluss an meine 
Befunde in etwas modifizierter Weise wiederholt hatte. 

l ) Les injectionos sousaraehnoidiennes et le liquide ccphalorachidien. 
Paris 1900. 


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der cerebrospinalen Pleocytose. 


515 


Die Experimente wurden derart angestellt, dass man Hunden 
sterilisierte Tusche subdural in diverse Gegenden des Gehirns und 
Riickenmarks injizierte; die Tiere wurden nach verschieden langer 
Zeit getotet, das Zentralnervensystem histologisch und die aus dem 
untersten Duralsack entnommene Cerebrospinalfliissigkeit cyto- 
logisch untersucht. Es fand sich nun folgendes: 

1. Die Tusche verursacht sehr bald eine Exsudation von 
Leukozyten, die sich mit Tuschpartikelchen beladen und die Tusche 
nach alien Richtungen weiter schaffen, so dass sich die urspriinglich 
ganz lokalisierte Schwarzung allmahlich ausbreitet und lichter wird. 

2. In die arachnoidealen Maschen der Lumbalgegend injizierte 
Tusche erscheint schon in einigen Stunden in den Meningen des 
Halsmarkes, um sich von da bis an die Basis des Gehirns zu ver- 
breitern; spater erscheint sie auch in den Ventrikeln; an die Kon- 
vexitat des Gehirns gelangen nur Spuren von Tusche. Die Meningen 
der unteren Ruckenmarkabschnitte sind am starksten mit Tusche 
infiltriert, und die Lumbalflussigkeit enthalt sehr viele mit Tusch- 
partikeln beladene Zellen. 

3. Wird die Injektion in der Hohe des Halsmarkes gemacht, 
dann breitet sich die Tusche sowohl gegen das Gehim als auch 
nach unten hin aus. Die Tuschinfiltration der untersten Rucken¬ 
markabschnitte ist geringer und dementsprechend auch der 
Tuschgehalt des untersten Liquor. 

4. Nach subduraler Injektion von Tusche iiber der Konvexitat 
des. Gehirns kriecht die Tusche sehr langsam, erscheint erst nach 
24—30 Stunden an der Hirnbasis und nur wenige Kornchen ge¬ 
langen bis zum Halsmark; die untersten Ruckenmarkabschnitte 
bleiben tuschfrei, und ebenso die Lumbalflussigkeit. 

5. Wird statt einfacher Tusche ein Gemisch von Tusche und 
Aleuronat injiziert, dann entsteht eine viel stiirmischere Exsudation 
von Leuzyten und die Folge davon ist, dass die Tusche mit grosserer 
Schnelligkeit und auch viel weiter befordert wird als sonst. 

6. Nach Injektion unter die Dura des Riickenmarks breitet 
sich die Tusche immer auch entlang der Riickenmarkwurzeln aus, 
und zwar ist die Schwarzung der Nervenwurzeln an den Stellen 
der Injektion am starksten. Mikroskopisch sitzen die Leukozyten 
immer um die Gefasse herum. 

Wenn nun, wie diese Beobachtungen es erweisen, der Zell- 
gehalt der Cerebrospinalfliissigkeit vornehmlich von der Be- 
schaffenheit der Meningen der untersten Ruckenmarkabschnitte 
abhangig ist, dann sind wir auch nicht imstande, aus der Beschaffen- 
heit der durch die Lumbalpunktion gewonnenen Cerebrospinal- 
fliissigkeit etwas Naheres iiber die Meningen des Gehirns zu er- 
schliessen. Diese fiir den Diagnostiker doch sehr wichtige Beweis- 
fuhrung fand aber in der Literatur wenig Widerhall; man glaubte 
die Befunde und deswegen auch die Erklarungen nicht, Unter- 
suchungen einschlagiger Art blieben aber aus. Nur Nonne 1 ) ver- 

‘) Syphilis und Nervensystem. II. Auflage. Berlin 1909. S. Karger. 


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516 


F i s c h e r , Die anatomisehe Grundlage 


suchte meine Ansicht mit Argumenten. auf die ich hier etwas ein- 
gehen muss, zu bekampfen. 

Im Kapitel iiber C'ytodiagnostik schildert Nonne (Beobachtung 
409) einen Fall, der unter dem Verdachte einer Pachymeningitis 
haemorrhagica interna eingebracht wurde, und bei dem die Lumbal- 
punktion 60—100 Rundzellen im cmm ergab. 8 Tage nachher starb 
der Kranke und bei der Sektion ergab sich eine isolierte Meningitis 
purulenta iiber der linken Hemisphere. 

Wieso der Fall gegen meine Ansicht spricht, ist mir nicht 
recht erklarlich: denn sollte der Fall uberhaupt etwas in dieser 
Richtung aussagen, so hatte man kurz vor dem Tode eine Lumbal - 
punktion ausfiihren miissen, und dann hat-ten sowohl Gehirn wie 
Riickenmark einer genauen histologischen Untersuchung unter- 
zogen werden miissen. Dies ist aber nicht geschehen. Dadurch ist 
der Fall als ungeniigend untersucht auch vollkommen wertlos. 

Dann polemisiert Nonne noch weiter wortlich: ,,Ein ein- 
gehenderes Studium seiner (das heisst meiner) Krankengeschichten 
lasst auch erkennen, dass in den Fallen I, II, V, VI, VII und XI 
die Intensitat in den Meningen des Cervikalmarkes teils ebenso 
intensiv gewesen ist. wie in denen des Lumbalteiles. Fischer gibt 
selbst zu, dass bei Untersuchungen von Liquor und Meningen auf 
Zellgehalt und bei einem Vergleich zwischen der Starke der In¬ 
filtration in den Meningen und der Vermehrung der Zellen im 
Liquor Fehler bis zu 50 pCt. unterlaufen konnen. Bis auf weiteres 
bin ich daher der Ansicht, dass das Ergebnis der lumbalen Liquor- 
untersuchung uns iiber den pathologischen Zustand des gesamten 
Liquor zu orientieren vermag.“ 

Darauf habe ich zu erwidern: Ich habe wiederholt darauf 
hingewiesen. dass auch an anderen Stellen der Meningen Infil- 
trationen vorkommen (ich kenne auch Fa lie. in denen die Meningen 
in alien Hohen des Ruckenmarks ziemlich gleich infiltriert waren), 
aber ich habe immer betont, dass sich regelmassig und ohne Aus- 
nahme eine Parallele nur mit der Infiltration der Meningen der 
untersten Riickenmarkabschnitte konstatieren lasst; denn es gibt 
Falle mit Pleocytose, wo nur die untersten Meningen infiltriert 
sind, und solche wo bei Infiltration der Cervikalmeningen und 
Fehlen der Infiltration in den untersten Meningen der Liquor 
zellfrei blieb. Meine Aeusserung iiber die 50 pCt. Fehler hat Nonne 
missverstanden, weswegen ich meine damalige Aeusserung wortlich 
anfiihren will. Ich sehilderte eine Anzahl von Fallen mit ver- 
schieden starker Pleocytose, die von 2 Zellen bis 64 im Gesichts- 
felde wechselte. ,,Dabei besteht die Parallele nicht nur beziiglich 
des Grades der Infiltration, sondern auch beziiglich der Art der die 
Infiltration zusammensetzenden Zellarten. indem das Verhaltnis 
der Lymphozyten und Plasmazellen der Meningen wenigstens im 
Groben ein ahnliches war wie das der Lymphozyten und der 
grossen Plasmazellen im Liquor. — ich sagte eben, dass es sich 
nur um eine Uebereinstimmung im Groben handelt. Das kann 


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der cerebrospinalen Pleoeytose. 


517 


den Wert dieser Befunde aber in keiner Weise beeintrachtigen. 
Denn wenn auch zugegeben werden muss, dass trotz der gleich- 
artigen Untersuchung sowohl der Zellen im Liquor, als auch des 
Infiltrationszustandes der Meningen grossere Fehler unterlaufen 
konnen, so wird man sie selbst unter den ungiinstigsten Verhalt- 
nissen nicht holier als 50 pCt. taxieren miissen. Aber auch dieser 
so hoch gegriffene Fehler kann die Resultate der Falle mit grossen 
Differenzen wie I (46 Zellen), IV (18 Zellen) und VII (2 Zellen) 
nicht andern; diese Differenzen sind so gross, dass auch die 
schlechteste Methode sie nicht uberbriicken konnte“. 

Ich gab also gar nicht zu, dass Fehler von 50 pCt. unterlaufen 
konnen — fur so eine Annahme hatte ich absolut keinen sioheren 
Anhaltspunkt — ich wollte nur sagen, dass, wenn man auch die 
ungiinstigsten Verhaltnisse annimmt, also schatzungsweise 50 pCt., 
man sich bei Fallen dieser Differenz nicht auf die ungeniigende 
Feinheit dsr Methodik berufen kann. Wenn also Nonne weiter 
sagt, er sei bis auf weiteres der Ansicht, dass das Ergebnis der 
lumbalen Liquoruntersuchung uns iiber den pathologischen Zustand 
des gesamten Liquor zu orientieren vermag, so hat er es nicht 
unterlassen sollen, uns auch positive Be weise fur seine Ansicht 
zu bringen, denn solche finden sich weder in seinem Buch, noch 
anderswo in der Literatur. 

Ich bleibe also bei meiner friiheren Anschauung, fur deren 
Begriindung ich schon damals gewisse anatomische Anhaltspunkte 
hatte. Aber, wie ich schon betonte, war mein Material doch noch 
etwas gering, weswegen das Thema noch weiterer Bearbeitung 
bedurfte. Aus der Literatur ist mir nichts Einschlagiges bekannt 
geworden. Ich habe nun seit der Zeit alles einschlagige Material 
gesammelt, das heute, die bereits publizierten Falle nicht ein- 
gerechnet, die Zahl 50 iibersteigt und das in jeder Hinsicht meine 
friiheren Befunde und Schlusse bestatigt und vielfach erganzt. 
Gegeniiber friiher ist aber meine Technik jetzt eine etwas ge- 
anderte. Seit 4 Jahren wird in unserem Laboratorium die Fixierung 
des Zentralnervensy.stems in der Leiche derart durchgefiihrt, dass 
kurz nach dem Tode eine Lumbalpunktion ausgefiihrt und dann 
sofort 10 pCt. wasserige Formollosung in den Vertebralkanal 
injiziert wird. Die Punktion selber geht sehr gut von statten, nur 
muss man die Leichen in sitzender Stellung punktieren, da der 
Liquordruck bei der liegenden Leiche beinahe gleich Null ist. 
Zur Punktion werden Nadeln verwendet, an die eine mit einem 
Schlauch verbundene Hollanderschraube angeschraubt werden 
kann. Der Schlauch ist mit einer mit Formollosung gefiillten und 
graduierten Wulffschen Flasche verbunden, aus der das Formol 
mittels Kautschukgeblase in den Subarachoidealraum getrieben 
werden kann. 

Bereits nach einigen Stunden sind das Riickenmark, die 
Spinalwurzeln, die Hirnbasis und das Kleinhirn sehr schon an- 
fixiert, und bei geniigender Formolmenge (meist geniigen 200 bis 
300 ccm) wird auch die Hirnkonvexitat mitfixiert. 


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518 Fischer, Die anatomische Grandlage 

Diese Methode hat den Vorteil, dass erstens das Zentral- 
nervensystem in fixiertem Zustande herausgenommen, seine ur- 
spriingliche Form weiter behalt und zweitens es nicht so leicht zu 
Quetschungen und Kunstprodukten kommt. 

Da also alle Falle post mortem punktiert wurden, konnte 
man bei dem Gros der Falle aus naheliegenden Griinden Punktionen 
intra vitam vermeiden; dementsprechend anderte sich jetzt die 
Untersuchung derart, dass der Beurteilung und dem Vergleich 
der Falle durchwegs die Untersuchungen des post mortem ent- 
leerten Liquor zugrunde gelegt wurden; es sind zwar — wir 
werden spater noch darauf zuriickkommen — die Zellen post mortal 
gegeniiber der intra vital entleerten Fliissigkeiten immer etwas 
vermehrt, doch ist dieser Umstand, da es sich doch nur um Ver- 
gleichswerte handelt, gleichgiiltig. Bedingung ist nur, dass das 
ganze Material in vollkommen gleicher Art verarbeitet wurde. 

Die Zahlung der Zellen geschah durchwegs nach einer Modi- 
fikation der Fuchs-Rosenthals chen und nach der von mir an- 
gegebenen Methode 1 ). In den Tabellen sind iiberall aber nur die 
Zahlresultate meiner Methode angefiihrt, weil, wie schon Kafka 1 ) 
gezeigt hat, dies viel sichere Resultate gibt als die Kammerzahl- 
methode. Das Zentralnervensystem wurde in alien Fallen mikro- 
skopisch in verschiedenen Hohen untersucht, wobei besonders 
auf die Meningen geachtet wurde. 

In der Tabelle I sind 21 Paralysen zusammengestellt. Hier 
ist die Anzahl der im Immersionsgesichtsfelde durchschnittlich 
gefundenen Zellen angefiihrt; dann das Verhaltnis der Lympho- 
zyten zu den Plasmazellen, wobei die erste Zahl sich auf die 
Lymphozyten bezieht, und schliesslich die Zahl der Leukozyten in 
Prozenten. 

(Siehe die Tabellen auf S. 619—521.) 

Ich habe davon abgesehen, die in dieser Tabelle enthaltenen 
Falle noch einzeln cytologisch und histologisch genauer zu schildem, 
da letzteres viel Raum und zahlreiche Abbildungen beanspruchen 
wiirde; fur die Illustration des Verhaltnisses von Meningen und 
Pleocytose geniigt ja die kurze tabellarische Zusammenstellung. 

Wir haben hier bei diesen neuen 21 Fallen ein Material, in 
dem sowohl die Gesamtzahl der Liquorzellen, als auch das Ver¬ 
haltnis der einzelnen Zellarten stark wechselt, und die histologische 
Untersuchung der Meningen ergibt, wie in meinem friiheren 
Materiale, ein ahnliches parallel gehendes Verhalten der Meningen 
der untersten Riickenmarkabschnitte. 

W r enn wir z. B. die Falle 3, 6, 8, 12, 13 und 19, bei denen sich 
die Zellzahl von 100 bis 400 bewegt, den Fallen 1, 16, 20 gegeniiber- 
stellen, bei denen nur 10 bis 25 Zellen gefunden wurden, und wenn 


*) Technik siehe bei Kafka: Ueber Technik und Bedeutung der cytolo- 
gischen Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. Monatschr. f. Psych, dieser 
Band. H. 5. 

J. c. 


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tier cerubrospinalen Pleocytosx*. 

Tabdle I. 


519 



! 

Wie lange 

5J? post mortem 
punktiert 

Pleocytose 

Verhaltais 

von 

Lympho- 
zyten und 
Plasma- 
zellen 

Zahlder 
Leuko- 
zyten 
in pCt. 

Ergebnis der histologischen 
Untersuchung 

i 

1. 

i 

B c?" 

V. 

i 

! 

j 

10 

i 

i 

20 : 1 

12 

Gehirn: sehr geringe Infiltration der 
Meningen. 

Riickenmark: Meningen leicht ver- 
dickt, geringer Zellgehalt, beinahe 
lauter Lymphozyten, in alien Hohen 
ziemlich gleich. 

2. 

c s 

1 

i i 

i 

i 

50 

1 : 2 

— 

DieZahl undArtderZellenentsprechend 
der Veranderung der Meningen 

3. 

F cT 


120 

7 : 1 


Riickenmarkmeningen wenig verdickt 
mit starker Infiltration, wobei die 
Lymphozyten iiberragen 

4 - I 

1 

F ? 

I 

i 

, 

i 

i 

i 

| 

25 

4 : 1 

3 

1 

Riickenmarkmeningen sind leicht binde- 
gewebig verdickt, enthalten ziemlich 
viel Zellen, von denen eine grosse Zahl, 
der Schatzung nach die Halfte Plasma- 
zellen sind 

- 1 

0. ! 

i H ^ 

1 ! 

63 

i 

1 : 1 

1 

Paralyse mit gummaartigem Destruk- 
tionsherd imMittelhirn stark plastischer 
Meningitis an der Basis cerebri. Im 
Riickenmark Tabes, leichte Verdickung 
der Meningen, mittelstarke Infiltration 
mit starkem Pravalieren der Plasma- 
zellen, dabei keine Unterschiede in den 
verschiedenen Hohen 

6. 

| J cT 

1 

V« 

1 

400 

| 

i 

1 

! 2:1 


Tabes und Paralysis progress, die 
Meningen des Riickenmarks sehr diinn 
und stark infiltriert mit sehr vielen bei¬ 
nahe iiberwiegenden Plasmazellen 

7. 

j J ^ 

\ 

\ 

! 

i 

1 

i 

i 

i 

| 

15 

2 : 3 


Riickenmarkmeningen stark binde- 
gewebig verdickt; die Infiltration im 
Lumbalmark gering, danmter sehr viel 
Plasmazellen; nach oben nimmt die 
Infiltration standig ab; im Gehirn die 
Infiltration wieder starker 

8. 

| K 

! 

!4 j 

100 

i 

i 3:1 

;l 

1 

Die Riickenmarkmeningen sehr diinn, 
stark infiltriert, mit sehr vielen Plasma¬ 
zellen 


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520 


Fischer, Die anatomisehe Grundlage 


1 

m £ 

| ,St 
s S-2 

I 

Verhaltnis 

von 

Zahl der 


1 



Lympho- 

> Leuko- 1 

Ergebnis der histologisehen 

1 

l! 

— 

• s 

> 8,- 

c 

O 

S 

zyten und 
Plasma- 
zellen 

zyten i 
in pCt. ' 

Untersuchung 

1 

1 

St. 





9. K ? 

| 

l: 


68 

i 

1 : e 

2 

I 

1 

Lumbalmark hat mittelstarke, beinahe 
aus lauter Lymphozyten bestehende 
Infiltration, im Cervikalmark die In¬ 
filtration viel geringer, ebenso eine sehr 
geringe Infiltration in den Meningen 
des Gehirns; hier auch Plasmazellen 
in grosserer Menge vorhanden 

10. |i K $ 

i 

1 

*/4 

! 

40 

4 : 1 

i 


Im Lumbalmark geringe Infiltration, 
dabei die Lymphozyten stark pra- 
valierend, im unteren Dorsalmark 
Wurzeltabes mit starker Infiltration 
der Meningen, die besonders in der 
dorsalen Peripherie vortritt ; dabei pra- 
valieren die Plasmazellen wesentlich 
iiber die Lymphozyten; im Cervikal¬ 
mark wieder ganz minimale 
’ Infiltration 

11. K cT 

'\ 

| 

r 2 

28 

i 

5 : 1 

— 

Riickenmarkmeningen wenig verdickt, 
mit mittlerer Anzahl von Zellen, Pra- 
valieren der Lymphozyten 

12. K cT 

i* 

i 


100 

1 

5 : 1 

1 

Riickenmark: diinne stark infiltrierte 
Meningen mit ziemlich vielen Plasma¬ 
zellen, wenn auch deren Zahl die Zahl 
) der Lymphozyten nicht erreicht. Im 
Gehirn sehr starke Infiltration 

13. |i L cT ! 

if 

i 

1 

! 

i' 

i 

iv* : 

1 

200 

i 

3 : 1 

1 

Lumbosakralmeningen sehr stark 
zellig infiltriert mit vielen Plasmazellen, 
die Infiltration im Dorsalmark noch 
viel starker wogegen im Cervikalmark 
die Infiltration auf ein Minimum herab- 
sinkt. Gehirnmeningen von mittlerer 
Infiltrationsstarke 

14. ( M > 

8 ! 

i 

90 

2 : 1 

— 

Im Lumbosakralmark mittelstarke 
Infiltration mit sehr vielen Plasma- 


zellen, im Dorsalmark ist die In- 
! filtration geringer, wogegen sie im 
I Cervikalmark wieder viel starker ist 


als in den untersten Abschnitten 


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der cerebrospinalen Pleocytoae. 


521 




ill 

;i| 

Utl 

e* 

St. 

s 

1 

s 

Verhaltnis 

von 

Lympho- 
zyten und 
Plaeraa- 
zellen 

Z&hl der 
Leuko- 
zyten 
| in pCt. 

Ergebnis der histologischen 
Untersuchung 

15. 

N ? 

i 

i 

i 

. 

; 

i 

i 

52 

3 : 1 

7 

lm Lumbosakralmark mittelstarke In¬ 
filtration mit iiberwiegenden Lympho- 
zyten. In den oberen Segmenten und 
im Gehirn ist die Infiltration viel 
geringer 

16. 

S d* 


22 

2 : 1 


Im Riickenmark sehr stark plastische 
Meningitis mit mittelstarker Infil¬ 
tration, wobei sehr viel Plasmazellen 
sind; in den oberen Absohnitten ist die 
Infiltration geringer 

17. 

S <j" 

2 

400 



Gehirn stark verdickt und stark infil- 
trierte Meningen; in der Oblongata 
geringere Verdickung der Meningen mit 
starker Infiltration. Im Riickenmark 
durchwegs geringe Verdickung der 
Meningen mit sehr starker Infiltration 

18. 

Sch cf" 

ft 

52 

l 

5 : 2 


Die Meningen des Riickenmarks nicht 
verdickt und ziemlich stark infiltriert, 
die Infiltrate zum grossen Teil aus 
Lymphozyten und wenig Plasmazellen 
bestehend 

l‘>. 

j 

Sch (f 

4 

1 

300 

'l 

1 

2 : 1 

1 

Das Gehirn zeigt starke Infiltration. 
Die Riickenmarkmeningen sehr wenig 
verdickt. 

Im Lumbosakralteil und Cervikalmark 
sehr starke Infiltration, im Dorsal- 
mark viel schwacher. Die Zellen zum 
grossen Teil auch Plasmazellen. 

20. 

V c / 

% 

i 

25 

2 : 1 

5 

Riickenmark: Mittelstarke Infiltration 
mit vielen Plasmazellen bei starker 
Verdickung des Bindegewebes 

21. 

1 

' i 

V d" 

V* 

1 

i 

110 

3 : 1 

-- 

Die Meningen des Riickenmarks 
stark infiltriert mit sehr vielen Plasma¬ 
zellen 


Monataschrift ftir Psychiatric und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 6. 35 


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522 


Fischer, Die anatomische Grundlage 


wir die Resultate mit der histologischen Untersuchung der Meningen 
vergleichen, so sehen wir, dass bei der ersten Gruppe iiberall stark 
infiltrierte Meningen gefunden wurden, wogegen bei der 2. iiberall 
verdickte und wenig infiltrierte Meningen vorkamen. Wir be- 
merken weiter, dass nicht nur die in einem Querschnitte der 
Meningen befindliche Anzahl der Zellen in der ersten Gruppe viel 
grosser ist, sondem dass auch das Verhaltnis der Zellzahl zur Dicke 
der Meningen, also die Dichte der Infiltration in der ersten Gruppe 
eine viel grossere ist. Weiter finden sich auch hier grosse Differenzen 
in den einzelnen Zellarten. So iiberwiegen in den Fallen 1, 3, 9, 10, 
11, 12 die Lymphozyten im Liquor um ein Vielfaches iiber die 
Plasmazellen, wogegen sich das Verhaltnis in den Fallen 5, 6, 7, 
14, 16 vielmehr zugunsten der Plasmazellen neigt; und auch hier 
entspricht der Befund vollkommen meinen friiheren Angaben: 
in den Fallen der Gruppe, wo die Lymphozyten numerisch vielfach 
iiberwiegen, iiberwiegen dieselben auch in den Meningen, im Falle 9. 
wo nur Lymphozyten im Liquor sich fanden, gab es auch in den 
Meningen beinahe lauter Lymphozyten; dagegen in den Fallen, 
bei denen die Plasmazellen in starkerer Verhaltniszahl im Liquor 
sich fanden, waren dieselben auch in den Meningen in viel starkerer 
Anzahl vorhanden. 

Nun habe ich darauf hingewiesen, dass sich dieses konstante 
Verhaltnis eigentlich nur auf die Meningen der untersten Riicken- 
markabschnitte bezieht und nicht auf die oberen Segmente. 
Es ist zwar wie aus dem friiheren Material, so auch aus diesen 
Fallen ersichtlich, dass in den meisten Fallen die Meningen in alien 
Hohen eigentlich annahernd gleich verandert sind; aber es finden 
sich doch mehrere Falle, welche in dieser Hinsicht abweichen 
(Fall 10, 13, 15, 16) und in diesen Fallen stimmt mit der Zellzahl 
im Liquor nur der Infiltrationszustand der untersten Riicken- 
markhaute. 

Sehr bemerkenswert ist Fall 13 mit einer Pleocytose von 200; 
dieser Zellzahl entspricht auch der Infiltrationsgrad des Lumbo- 
sacralabschnittes; die Infiltration wird im Dorsalmark viel dichter, 
fallt aber im Cervikalmark auf ein Minimum, wogegen die Gehirn- 
meningen wieder starke Zellvermehrung aufweisen. Als von be- 
sonderer Beweiskraft mochte ich den Fall 10 anfiihren; hier ist 
die Zellzahl im Liquor 40, mit dem Verhaltnis 4: 1. Im Lumbal- 
mark ist die Infiltration der Zahl entsprechend, die Lymphozyten 
pravalieren. Im untersten Dorsalmark aber, wo sich eine Wurzel- 
tabes entwickelt hatte, ist die Infiltration viel starker und auch 
das Verhaltnis der Zellen ein ganz anderes, indem hier wieder die 
Plasmazellen pravalieren; im Cervikalmark findet sich nur eine 
ganz schwache Infiltration. 

Das was fur die einzelnen Hohen des Riickenmarkes gesagt 
wurde, gilt auch fur das Verhalten der cerebralen Meningen; diese 
sind zwar bei alien Fallen ebenfalls infiltriert, in manchen differiert 
aber die Infiltrationsstarke von dem Infiltrationszustande der 
Riickenmarkmeningen, und in diesen Fallen entspricht der Starke 


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der cerebrospinalen Pleocytose. 


523 


der Pleocytose auch nur der Infiltrationsgrad der untersten Riicken- 
markabschnitte. Ich habe in einigen Fallen auch postmortal 
den cerebralen Liquor entnommen; die Zellzahl schwankte zwischen 
50 und 300, die Zellen waren beinahe durchwegs Lymphozyten 
und Plasmazellen, und Zellzahl und Zellenverhaltnis entsprach 
dem Infiltrationszustande der Meningen. 

Ausser den angefiihrten Paralysen wurden in derselben Weise 
auch noch andere Psychosen untersucht. Die hier gefundenen 
Resultate zeigt Tabelle II, die nur die Starke der postmortal 
gefundenen Pleocytose angibt. 


Tabelle II. 


1. 

M. 

? 

fAmentia 

0 

2. 

K. 

d" 

Senile Demenz 

0 

3. 

S. 

? 

Presbyophrenie 

1 

4. 

F. 

? 


1 

5. 

M. 

d' 

Chorea Huntington 

3 

6. 

P. 

? 

Presbyophrenie 

3 

7. 

H. 

? 

Idiotie + Porencephal. 

4 

8. 

M. 

d" 

Amentia 

7 

9. 

P. 

$ 

Presbyophrenie | 

7 

10. 

F. 

cT 

1 

) > 

9 

11. 

T. 

c f 

»J | 

9 

12. 

M. 


Senile Demenz 

10 

13. 

K. 

d " 

Presbyophrenie | 

15 

14. 

St. 

? 

Tabes + Demenz j 

i 15 

15. 

F. 

? 

„ ' 1 

! 158 


Der Vergleich der Meningen dieser Falle mit der im Liquor 
gefundenen Zellzahl hat in gleicher Weise vollkommen iiberein- 
gestimmt wie bei den Paralysen, wobei als besonders guter Mass- 
stab die Falle dienen konnten, deren Liquor zellfrei war. Bei den 
ersten 2 Fallen fanden sich leicht verdickte Meningen mit einem 
normalen Zellstand, bei den anderen Senilen eine Vermehrung 
der zelligen Elemente der Meningen, und bei den 2 letzten Fallen 
ganz ahnliche Verhaltnisse wie bei den Paralysen. 

Bei den Fallen 1—13 der Tabelle II wurde die Mehrzahl der 
Zellen durch Lymphozyten gebildet. In wechselnder Menge fanden 
sich aber auch Zellen, welche eine gewisse Aehnlichkeit mit den 
bei der Paralyse und Tabes im Liquor vorkommenden Plasma¬ 
zellen hatten. Es sind das Zellen mit einem grosseren Plasmaleib 
und blaschenformigen Kernen; der Zelleib behalt aber die Farbe 
des Hamatoxylins meist nicht so intensiv wie bei den Plasmazellen, 
und der Kern ist starker aufgeblaht, schwacher tingierbar, und 
haufig gelappt. Sichere polynukleare Leukozyten wurden vermisst. 

In dten Meningen dieser Falle fanden sich ebenfalls 2 Arten 
von Zellen: erstens gewohnliche Lymphozyten, die meist um Ge- 
fasse oder auch in den Lymphraumen, selten ganz frei im Binde- 

35* 


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524 


Fischer, Die anatomische Grundlage 


gewebe sassen; dann, abgesehen von den gewohnlichen Kemen 
des Bindegewebes, grosse plasmareiche Zellen, mit blaschen- 
formigen Kernen. Gegeniiber den Kemen der Plasmazellen sind 
die Kerne dieser Zellen, viel schwacher tingiert, auch die Rand- 
zahnelung fehlt, und bei Farbung mit Thionin oder Methylenblau 
nimmt der Plasmaleib nur einen ganz leichten blaulichen Schimmer 
an; nie erhalt man die fur die Plasmazellen charakteristische 
metachromatische Plasmazellenfarbung. 

Also genau so wie bei den Paralysen stimmen auch hier die 
Zellarten in Zahl und Qualitat mit den Zellarten in den Meningen 
iiberein. Welcher Art diese grosseren Zellen in den Meningen der 
Senilen sind, kann ich nicht entscheiden, ich wurde sie fiir Ab- 
ko mmling e des Bindegewebes halten. 

Diese grossen Zellen, von denen hier die Rede war, lassen sich 
im Liquorzahlpraparate nicht ohne weiteres von Plasmazellen 
unterscheiden. Bei der Paralyse kommen in den Meningen Zellen 
von derselben Art vor, wie die grossen Meningealzellen der 
Senilen, wenn sie auch im Verhaltnis zu den anderen Infiltrations- 
zellen viel sparlicher sind. Deswegen muss man jetzt schhessen, 
dass nicht alle grossen plasmareichen Zellen des Liquor bei der 
Paralyse den Plasmazellen entstammen, sondern dass sie auch von 
den eben geschilderten Meningealzellen herriihren konnten. Jeden- 
falls sind aber in den Meningen bei der Paralyse die Plasmazellen 
numerisch weit iiberlegen. 

Wir haben im obigen durch eine Reihe sich erganzender Be- 
funde darzulegen versucht, dass die Zellzahl im mittels Lumbal- 
punktion gewonnenen Liquor durch die Infiltration der Meningen 
der untersten Riickenmarkabschnitte bedingt ist. Dies ist derart 
zu verstehen, dass die meningealen Infiltratzellen immer wieder 
aus den Meningen austreten und in den Liquor iibergehen. Nun 
ist wiederholt erwahnt worden, dass die Meningen des Riicken- 
marks bei vielen Fallen verschieden stark infiltriert sind; daraus 
miisste man folgern, dass, falls die obigen Behauptungen richtig 
sind, aucb der Liquor in verschiedenen Hohen verschieden und der 
Infiltration der Meningen entsprechend zellreich sein miisste. 
Damit war eine neue Untersuchungsreihe gegeben, in einzelnen 
Fallen (selbstverstandlich nur an der Leiche) den Liquor aus ver¬ 
schiedenen Hohen zu entnehmen und dessen Pleocytose mit der 
meningealen Infiltration zu vergleichen. 

Die Versuche wurden auf folgende Weise angestellt: Kurz nach 
dem Tode wurde in sitzender Stellung der Leiche in der Hohe des 
7. Halswirbels und in der Mitte der Brustwirbelsaule die Haut und 
Muskulatur durchtrennt, die Bogen von 2 Wirbeln abgetragen, 
dann wurde zuerst im Halsteil mit einer gebogenen Kanxile die Dura 
angestochen und 3 ccm Cerebrospinalfliissigkeit abfliessen gelassen, 
nachher in Dorsalhohe in gleicher Weise punktiert, worauf eine 
gewohnliche Lumbalpunktion angeschlossen wurde. * Auf diese 
Art wurden 3 Falle untersucht. 


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der cerebroBpinalen Pleocytose. 


525 


I. '52j. {j* progressive Paralyse, 2 Stunden post mortem: 

Liquor in Cervicalhohe enthalt 1600 Zellen; 

„ „ Dorsalhohe ,, 800 „ 

„ der Lumbalpunktion „ 400 „ 

Die mikroskopische Untersuchung ergab: 

Qehirn: Typische paralytische Veranderung; die Meningen 
stark verdickt und sehr stark infiltriert. 

Oblongata: Meningen nur wenig verdickt und sehr stark in¬ 
filtriert. 

Riickenmark: Die Meningen kaum verdickt, aber sehr stark 
infiltriert, wobei die Infiltration im Cervikalmark am starksten 
ist, derart, dass die Infiltration stellenweise einen beinahe knotchen- 
artigen Charakter bekommt. 

II. 45j. <y, progressive Paralyse: 15 Minuten post mortem. 

Liquor in Cervikalhohe enthalt 1000 Zellen: 

„ ,, Dorsalhohe „ 600 ,, 

„ der Lumbalpunktion „ 110 ,, 

Die mikroskopische Untersuchung ergab: 

Gehim: Typische Paralyse, leichte Meningealverdickung, 
mit geringer Infiltration der Meningen; 

Cervikalmark: Die Meningen sehr diinn, mit sehr starker, 
stellenweise bis knotchenformiger Infiltration; 

Dorsalmark: Veranderung ahnlich wie im Cervikalmark, nur 
ohne Knotchenbildung; 

Lumbosabralmark: Ziemlich starke Verdickung der Meningen 
mit mittelstarker Infiltration. 

II. 48j. cf, progressive Paralyse, 15 Minuten post mortem: 

Liquor in Cervicalhohe 300 Zellen; 

„ ,, Dorsalhohe 250 „ 

,, der Lumbalpunktion 450 „ 

Die mikroskopische Untersuchung ergab im Gehirn typische 
Paralyse, im Riickenmark Tabes, mit sehr diinnen und ziemlich 
stark infiltrierten Meningen, wobei die Infiltration im Lumbosakral- 
mark durchwegs starker war als in den oberen Abscbnitten. 

Auch diese Untersuchungsreihe erganzt die friiheren Befunde 
und Sehliisse in ganz eindeutiger Art; es erwies sich hier dasPostulat 
als ganz richtig, dass der Liquor in verschiedenen Hohen seine 
Zelizahl variiert, und dass diesem Variieren auch eine Differenz 
der Infiltration der entsprechenden Hohen entspricht. 

Ich habe noch eine grossere Anzahl von Fallen in solcher Weise 
punktiert, doch gelang die Operation nicht immer; einigemal kam 
es vor, dass blutiger Liquor sich entleerte, die meisten Falle ver- 
sagten aber dadurch, dass in sitzender Lage das Halsmark ganz 
trocken lag, dass sich manchmal auch noch in Dorsalhohe nur 
Spuren von Fliissigkeit befanden, wogegen der unterste Duralsack 
ziemlich ausgedehnt und mit Liquor vollgefiillt war; diese Falle 
mussten fur diese Frage selbstveretandlich wegfallen. 


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526 


Fischer, Die anatomische Grundlage 


Doch mochte ich noch mehr der Beweise anfiihren, *welche 
durch viel einfacher auszufuhrende Untersuchungen erbracht 
werden konnen. Bei der Untersuchung der Meningen von Para- 
lytikem fallt es namlich, abgesehen von den bereits erwahnten 
Hohenunterschieden, auf, dass die Infiltration sich nur auf den 
meningealen Ueberzug des Riickenmarkes beschrankt und dass 
die Nervenwurzeln in der Regel ganz frei von entziindlichen 
Infiltrationen sind. Nur bei sehr starker Infiltration finden sich 
auch in den Wurzeln Anhaufungen von Infiltratzellen, aber hier 
meist nur in den perivaskularen Lymphraumen. Die Stelle der 
Lumbalpunktion, die ja gewohnlich zwischen IV. und V. Lenden- 
wirbel ausgefiihrt wird, ist aber ziemlich weit entfernt von dem 
tiefsten Punkte des Riickenmarkes, also auch von der Quelle der 
austretenden Zellen, deswegen muss man sich fragen, ob der Liquor 
je naher dem Conus terminalis entnommen, nicht auch desto zell- 
reicher wird. Diese Frage ist umso leichter zu losen, als die Lumbal¬ 
punktion in der ganzen Hohe der Lumbalwirbelsaule leicht aus- 
gefuhrt werden kann. Zuerst an 3 Leichen von Paralytikern, 
dann an 4 lebenden Paralytikern wurde zwischen dem ersten und 
zweiten Lendenwirbel eingestochen imd 3 ccm Cerebrospinal- 
fliissigkeit entleert; dann wurde sofort mit einer zweiten Nadel 
die Punktion in der Hohe zwischen 4. und 5. Lendenwirbel an- 
geschlossen. Die Resultate bringt Tabelle III und IV. 


Tabelle III. Postmortale Punktionen. 



Wie lange i 

Pleocytose zwischen 


post mortem ! 

I. u. II. 

IV. u. V. 


punktiert 

Lendenwirbel 

Lendenwirbel 

K. 

Vt St. i 

140 

100 

L. 

1V 2 St. 

400 

200 

K. ? | 

V* St. il 

80 

40 


Tabelle IV. Intravitale Punktionen. 



Pleocytose zwischen 


! I. u. II. 

IV. u. V. 


Lendenwirbel 

Lendenwirbel 

P. ? 

12 

9 

Sch. cT 

24 

13 

V. <? 

125 

100 

H. o" 

24 

12 


Also in alien 7 Fallen, sowohl bei postmortalen als intravitalen 
Punktionen, differiert die Pleocytose in den genannten Hohen, 
immer ist oben der Liquor zellreicher, gleichgiiltig, ob es sich um 
eine an und fiir sich starkere oder schwachere Zellvermehrung 
handelt. Die Differenz schwankt von 25—100 pCt. 


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der cerebrospinalen Pleocytose. 


527 


Diese je nach der Hohe variierende Beschaffenheit des Liquor 
kann man an der Leiche noch viel einfacher erweisen. Wenn man 
sich bei der Punktion nicht mit einer geringen Menge von Flfissig- 
keit begniigt, sondern soviel Liquor auslaufen lasst, als uberhaupt 
erreichbar ist, so fliessen selbstverstandlich zuerst nur der unterste 
Liquor ab und dann immer schichtweise die zu den hoheren Rficken- 
markabschnitten gehorenden Liquorportionen. 

Bei einer derartigen postmortalen Punktion eines Paralytikers 
ergab sich folgendes: Die zuerst ausfliessenden 3 ccm wurden 
in ein Glaschen aufgefangen, die zweite Portion von 3 ccm kam 
in ein zweites Glaschen, dann liess man 20 ccm Liquor auslaufen 
und die nachste Portion wurde wieder separat aufgefangen. Dabei 
fiel schon beim Punktieren die makroskopische Differenz der ersten 
und letzten Portion auf; die erste war vollkommen klar, die letzte 
war feinst getriibt. 

Die Zahlung ergab in der 

I. Portion 53 Zellen, 

II. „ 110 „ 

III. 600 

Ein ahnliches Verhalten konnte icli bei mehreren Fallen schon 
makroskopisch sehen. 

Bei dieser Gelegenheit mochte ich noch einen hergehorenden, 
sehr interessanten Fall erwahnen, der auch von diagnostischem 
Interesse ist: Ein an Delirium tremens erkrankter Potator geht 
plotzlich zugrunde; er war tagstiber sehr geschaftig, ziemhch 
unruhig, wurde dann nachts etwas stiller, gegen friih wieder 
lebhafter; vormittag Mar er still, legte sich, wie M'enn er schlafen 
wollte, nieder, und einige Minuten nachher konnte schon der Tod 
konstatiert werden. y 4 Stunde nach dem Tode M'urde die Punktion 
gemacht. Die erste Portion des Liquor war ganz klar; aber nachdem 
etwa 25—30 ccm ausgeflossen waren (es ist dies nur eine Schatzung, 
denn der Liquor wurde nicht gemessen) wnrde der Liquor gelb und 
triib, wie bei frischer Blutbeimengung. 

Die cytologische Untersuchung erwies die erste Portion 
zellfrei, die letzte Portion als durch Beimischung von frischem 
Blut verandert. Da w r ahrend der Punktion mit der Nadel nicht 
gertihrt wurde, auch sonst kein Anhaltspunkt fur eine wahrend 
der Punktion entstandene Gefassverletzung M r ar, musste man an- 
nehmen, dass das Blut von weiter oben stammt, und eine Blutung 
in den hoher gelegenen Meningen diagnostizieren. Die Sektion 
erwies eine ausgebreitete ganz frische Blutung fiber den beiden 
Hemispharen und in der Mitte des Dorsalmarkes eine etwa 3 cm* 
grosse Blutung der Meningen, deren Alter nur auf einige Stunden 
zu schatzen war. 

Das Blut aus den Meningen des Dorsalmarkes diffundierte 
also in den Liquor, gelangte aber nicht bis in die' untersten 
Partien des Liquor. Dadurch blieb der duroh die gewohnliohe 
Lumbalpunktion erreichbare Liquor rein und erst nachdem eine 


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528 


Fischer, Die anatoroische Grundlage 

grossere Menge ausgeflossen war, kam der blutige Liquor an die 
Reihe. 

Nach all dem oben Mitgeteilfcen kann es wohl gar keinem 
Zweifel unterliegen, dass die Liquorzellen im allgemeinen nur den 
Infiltratzellen der Meningen entstammen; jede starker infiltrierte 
. Stelle der Meningen sendet auch viel mehr Zellen in den Liquor; 
in diesem Falle wird dann der Liquor in verschiedenen Hohen 
verschieden zellreich angetroffen, ein Umstand, der ein eigen- 
artiges Licht auf die Zirkulation des Liquor wirft. 

Es liesse sich noch manches Interessante aus diesen Befunden 
beziiglich der Zirkulation des Liquor erschliessen, doch will ich 
dies noch unterlassen und auf eine spater erscheinende Arbeit 
iiber die Zirkulation des Liquor verweisen. Hier sollen einstweilen 
nur die Befunde registriert werden. 

Noch einen Umstand muss ich kurz streifen. Wir haben gleich 
zu Anfang bei Erwahnung der postmortalen Punktion^n bemerkt, 
dass, wie schon mehrmals in der Literatur vermerkt ist, die Zell- 
zahl post mortem steigt. Ich habe friiher Steigerungen um 15 bis 
20 pCt. beobachtet, Henkel 1 ) und Kafka 2 ) berichten ebenfalls iiber 
"Vermehrung der Zellzahl im Liquor auch bei Krankheiten, welche 
sonst im aUgemeinen keine Pleocytose haben, und Hough 2 ) teilt 
2 Untersuchungen mit, wo bei Paralysen, je spater post mortem 
punktiert, desto mehr Zellen im Liquor sich fanden. Pur meine 
jetzigen Untersuchungen hat es sich nun darum gehandelt, diese 
Differenzen auch an einer grosseren Anzahl zu verfolgen; zu dem 
Zwecke wurden mehrere Falle kurz vor dem Tcde und nach dem 
Tode punktiert und die Pleocytose verglichen. Die Resultate 
ergibt Tabelle V. 

(Siehe nebenstehende Tabelle V.) 

Wir sehen hier in den ersten 3 Fallen ein Gleichbleiben der 
Pleocytose, in den Fallen 4—6 ein Steigen der Zellzahl um 25, 
40 und 100 pCt. Im Falle 7 stieg die Zellzahl aufs 10 fache. Der 
Fall 8 kommt hier eigentlich nicht in Betracht, indem sich die 
Steigerung der Zellzahl auf eine Aenderung der anatomischen 
Bedingungen zuriickfiihren liess; es entstand an der Innenflache 
der Dura mater eine kleine Pachymeningitis traumatica, ver- 
ursacht durch die erste Punktion und bedingte die hochgradige 
Steigerung der Zellzahl. Wodurch die Steigerung der Zellzahl in 
den anderen Fallen veranlasst ist, lasst sich schwer entscheiden. 
Jedenfalls ist die Steigerung in der Mehrzahl der Falle (1—5) nur 
gering. Im Falle 6 aber schon betrachtlich, trotzdem die Zwischen- 
zeit zwischen den Punktionen recht gering war. Dagegen kann die 
Ursache der sehr hohen postmortalen Steigerung der Zellzahl 
im Falle 7 dadurch bedingt sein, dass die Zeitdifferenz 11 Tage 
betragt, in welchem Zeitraum sich die entziindliehe Infiltration 

1 ) Arch. f. Psych. 1907. 

•) 1. c. 

*) Bull. I. of the Government Hosp. for the insane. Washington. 1909. 


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tier oerebrospinalen Pleocytose. 529 


Tabelle V. 




Wie la 

vor dem 
Tode 
punktiert 

nge 

nach dem 
Tode 
punktiert 

Zellzahl 

intra- 

vitalen 

Punktion 

bei der 

post¬ 

mortalen 

Punktion 

1. 

c. ? 

Paralyse 

! 5 St. 

1 St. 

f 50 ’ 

1 

50 

2. 

K. ? 

Paralyse 

12 St. 

y 4 st. - 

; go 

00 

3. 

V. cT 

Paralyse 

b Tage 

y 4 st. 

100 

100 

4. 

V. " c" 

Paralyse 

13 Tage 

1 St. 

15 

25 

5. 

K. ‘ d* 

Paralyse 

10 Tage 

y> St. 

75 

100 

6. 

P. ‘ ? 

Paralyse 

5 St. 

1 st. 

i 

24 | 

50 

7. 

Sch. 

Paralyse 

11 Tage 

4 St. j 

27 

300 

8. 

B. ? 

Presbyophrenie 

0 

— » i 

4 St. | 

1 

00 


geandert haben kann. Es entsprach ja auch der Zellgehalt der 
Meningen dem Grade der postmortalen Pleocytose, denn alle diese 
Falle sind auch in der Tabelle I angefuhrt. Nach Hough\) steigt die 
Pleocytose desLiquor nach dem Tode desto mehr, je spater punktiert 
wird. Fiir unsere Veigleiche hat aber dieser Umstand keine grosse 
Bedeutung, da beinahe alle Falle ganz kurz post mortem (y 4 bis 
2 Stunden) punktiert wurden; und wenn auch dadurch Fehler ent- 
stehen sollten, so konnten sie eben nicht so gross sein, um einige 
der so hochgradigen Zahlendifferenzen zu iiberbriicken. 

Wir haben bei der anatomischen Untersuchung immer nur 
von Lymphozyten und Plasmazellen gesprochen und nirgends der 
dritten Zellart Erwahnung getan, die im Liquor ebenfalls vorkommt, 
namlich der Leukozyten. Ich habe in meiner friiheren Publikation 
bereits erwahnt, dass auch in den Fallen, welche Leukozyten im 
Liquor hatten, nur sehr sparliche polynukleare Leukozyten in den 
Meningen auffindbar waren, dagegen fanden sich in den Meningen 
dieser Falle plasmareiche Zellen mit gelappten Kernen, die vielleicht 
in genetische Beziehung dazu gebracht werden konnten. 

Auch in dem vorliegenden Materiale finden sich einige Falle 
mit wenn auch nur wenig vermehrten Leukozyten; es sind das 
die Falle 1, 15, 20 der Tabelle I; die anderen enthalten entweder 
keine Oder nur sehr zuriicktretende Mengen von Leukozyten. 
Auch in den Meningen dieser 3 Falle waren nur hochst sparliche 

*) 1. c. 


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530 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

sichere polynukleare Leukozyten auffindbar, jedenfalls viel spar- 
licher als dem Prozentsatz entsprach, und dies auch nur in den 
grosseren meningealen Saftraumen. Dagegen unterschieden sich 
die Meningen dieser Falle von den anderen dadurch, dass auch 
hier Zellen vorhanden waren, welche in einem grosseren Plasmaleib 
einen meist mehrfach gelappten Kern enthielten. 

Wenn also die Parallele mit den Lymphozyten und Plasma- 
zellen stimmt, miisste man auch die Leukozyten des Liquors mit 
diesen Zellen in Zusammenhang bringen; nun ist gerade fur die 
Leukozyten der hamatogene Ursprung erwiesen, und ein derartiger 
Vergleich ware darnach unstatthaft, es miissten denn die in den 
Meningen gefundenen, eben geschilderten Zellen eine morpholo- 
gische Zwischenform darstellen. 

Also zu einem definitiven Schluss kommt man da einstweilen 
nicht, weswegen ich die Frage der Leukozyten noch offen lassen 
muss. 

Nachtrag bei der Korrektur. 

Inzwischen erschien in den Jahrbiichem f. Psych, u. Neur- 
Bd. 30 die Arbeit: Chemische, zytologische, hamatologische und 
histologi8che Studien iiber den Liquor cerebrospinalis bei Geistes- 
kranken von Wada und Matsumoto. Die Autoren kommen darin 
bei der Frage der Herkunft der zelligen Bestandteile des Liquor 
zu entgegengesetzten Resultaten als ich. Die Ursache dieser 
Differenz liegt aber m. E. nur in der zu geringen Anzahl von 
untersuchten Fallen; zwei Paralysen, eine Dem. praec. und eine 
Dem. paranoid, sind doch ein zu geringes Material zur Klarung 
dieser nicht gar so einfach liegenden Verhaltnisse. Wenn sich 
die Autoren mit der von mir seinerzeit angeschnittenen Frage 
beschaftigt haben, hatten sie auch meine Arbeit im Original 
beriicksichtigen und sich nicht auf ein zu kurzes Referat eines 
Vortrages beschranken sollen. Dann waren sie sicher zu anderen 
Resultaten gekommen. 


(Aub der psychiatrischen Klinik der kgl. Charit6 
[Geh. Rat Prof. Ziehen] in Berlin.) 

Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallucinatoria 
(Westphal) zur Amentia (Meynert). 

Von 

Dr. M. BRESOWSKY 

in Jurjew (Dorpat). 

(Forteetzung.) 

6. Frau St.. 38 Jahre alt. Akute halluzinatorische Paranoia. 
Entwicklung normal, letzt© Geburt im Februar 1905, hat das Kind, 
bis vor 2 Wochen genahrt, befindet sich im letzten Stadium der Graviditat 
Seit 3 Wochen soli Pat. etwas vergesslich sein, weiss manchmal nicht, was 


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hallucinatoria (West-phal) zur Amentia (Meynert). 


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man ihr gesagt hat, war aber sonst bis vor 3 Tagen geistig unverandert. 
Vor 3 Tagen glaubte sie, man wolle sie ermorden. Wenn es klingelte, sagte 
si©: ,,Jetzt kommt derSchutzmann mich holen, und ich werde umgebracht. 44 
Fiihlte sich von ihrem Brnder verfolgt. glaubte, er wolle sie erschlagen, hat 
angstlich geschrien. Schrie zum Fenster hinaus: „Schutzmann, Rettung. 44 
Rief dann wieder nach einer Hebamme, das Kind miisse komraen. War sehr 
angstlich. wollte in der Xacht hinaus auf die Strasse, ist einmal im Hemde 
fortgelaufen. Glaubte, dass man ihren Mann und ihr Kind ermordet habe. 
Wenn die Tiir aufging, lief sie fort und schrie. man wolle sie holen. Hat seit 
3 Tagen niehts gegessen, weil sie Gift im Essen vermutete, nahm auch von 
ihrem Mann kein Essen. In den beiden let z ten Tagen hat sie die Wirtschaft 
nicht mehr besorgt. lief halb bekleidet im Zimmer lunher, warf Mobel und 
Bettzeug durcheinander, straubte sich, wenn man sie halten wollte. Hat 
sich gestern auf demHof ausziehen wollen. glaubte. sie sei in derStube, sagte 
zu ihrem Mann: ,,Du bist nicht mein Mann. 44 

10. VIII. 1906. Pat. ist sehr unruhig, zieht sich vollstandig aus, geht aus 
dem Bett, wirft Bettstiicke hinaus, geht zu den anderen Kranken, straubt 
sich, wenn sie verhindert wird. Versucht, sich durch die Fensterspalte hin- 
durchzuzwangen. Wenig sprachliche Aeusserungen: ..Ich muss zu der Toten, 44 
meint damit eine Mitpatientin. Pat. vermag nicht zusammenhangend zu 
erzahlen. [Krank ?] ,,Gibt’s denn keine Sickingenstrasse, da ist ein Mord ge- 
schehen; lieber, guter Mann, du bist es wirklich nicht, ich werde wohl noch 
erlost werden. 44 [Wovon?] ,,Von der Charite, mein guter Gott, wie lange 
dauert denn das, der Tod erlost doch schneller. 44 [Aengstlich ? ] ,,Mein 
guter Gott, das ist wirklich wahr, noch mehr wie wahr. 1 * [Was ist wahr ?] 
,,Ich glaube ja noch an Gott. Mein Mann ist es nicht gewesen, das war noch 
mehr wie ein Traum. was ich durchgemacht habe. das ist iiberhaupt im 
Leben noch nicht vorgekommen. Kein Firmament gibt es nicht. Geben 
Sie mir Gift, damit ich vom Leiden erlost w r erde. Frau B. hat mir gesagt, 
Frau K. hat Schlechtigkeiten mit Ihnen vor, der Schutzmann und alles 
ist da. 44 [Was wollte der Schutzmann ?] ,.Es hiess immer: der Mord muss 
erst geschehen, iiberall. wo ich hinkam. hiess es: Der Mord muss erst ge¬ 
schehen. 44 [Wer gesagt?] ,,Der Schutzmann. den Wagen habe ich noch 
fahren horen. Ich habe niernandem was getan: mein Kind wollten sie morden, 
ich bin zum Fenster herausgesprungen. 44 [Wer wollte es morden ?] ,,Meinem 
Mann sein Bruder, der ist irre. 44 (Pat. zerpfliiekt ihr Butterbrot in ganz kleine 
Stucke und wirft damit) ,, . . . Kinder, ich hore alles. ach Gott, es gibt 
keine Erlosung. 44 [Was horen Sie ?] ,,Ich hore nur. dass ich unter Geistem 
bin. Eine kalte Hand fiihle ich. Ich kann doch iiberhaupt nicht mehr 
sprechen. Ich will nur mein Kind, das lebt nicht mehr . . . Es gibt einen 
Christus, der gekreuzigt worden ist; ich hab viel gelitten. 44 [Was gelitten ?] 
,,Meine Mutter ist in meinen Armen gestorben, mein Leben ist bloss ein 
Traum. Ich kann nicht reden, ich bin doch kein Mensch. ich bin noch nicht 
begraben. Kinder, ist denn kein Erloser da. die Verbrecher laufen all© 
herum auf Erden. Ich war auf der Polizei. der Mord muss erst geschehen, 
dann wird erst ein Mensch. Er kann morden, kein Zeuge braucht nicht zu 
sein. O, guter Gott, keinen Gott gibt es nicht, mich kann keiner erlosen. 
Die Welt hat keinen Anfang, kein Ende. Mein guter Gott, ich hore nur 
Klopfen, o, Gott, hatte ich nur w*enigstens meinem Mann Adieu gesagt. 
Menschen konnen nicht sagen was ich durchgemacht habe. Menschen sind 
selber Teufel, ich kann nicht sprechen, ich bin verw'iinscht. Da hangt die 
Uhr 44 (zeigt die Tiir). [Sehen Sie eine ?] ,,Ja. 44 [Wie spat ist es ?] „12. 44 
[Hangt sie noch da ?] „Ja, sie ist aus Holz. 44 [Bilder gesehen ? ] „Ich hab 
schwarze Manner imd Schutzleute gesehen. Ich hab horen lauten und alles. 44 
[Mit offenen Augen ?] „Ja.“ [Stimmen?] „Ja.“ [Was gesagt?] „Gift 

gibt’s nicht. Mein Mann hat's gut gemeint. Ich bin iiberhaupt nicht unter 
Menschen . . . Gemordet bin ich. 44 

Pat. halt sich fur verwiinscht, ist aber sonst ortlich und zeitlich voll- 
kommen orientiert. Schlagt plotzhch um sich. „weil Sie mich morden 
wollen. 44 Die Aeusserungen der Pat. werden oft ohne Affekt und.motorische 
Unruhe mit gleichgiiltigem Gesicht vorgebracht. — Nachmittags unruhig,. 


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532 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

hat eingenasst, beschmutzt sich und andere Pat. mit Stuhl, zieht sich aus, 
zerreisst die Sachen. 

14. VIII. Sehr unsauber, schmiert mit Kot; weinerlich, wimmert 
fortwahyend, sprachliche Aeusserungen wie oben . . . „Ach Gott, ich bin 
hypnotisiert worden. Es ist eine Verwechslung geschehen. Ich bin in der 
Charity und liege auf dem Operationstisch. Ich habe mein eigenes Todes- 
urteil unterschrieben (tappt nach den Schliisseln der Pflegerin), das sind 
Schliissel. Mein Gott, ich bin bei der Operation gestorben . . Klopft an 
die Seitenwand des Bettes. [Warum?] „Weil ich hypnotisiert bin. 4 

16. VIII. Motorische Unruhe. „Ich bin hingerichtet worden, die 
Hinrichtung ist leicht, ich bin wirklich hingerichtet worden, ich kann nicht 
mehr sprechen, wo kann heutigen Tages nur so etwas passieren, wo kann 
nur so ein Irrtum geschehen. Schnell (16 mal wiederholt), sie denkt. sie liegt 
auf dem Operationssaal, ich liege nicht auf dem Operationssaal, ich bin in 
Wirklichkeit hingerichtet worden, ich bin vergiftet worden, eine Kinder- 
morderin haben sie mir gesagt. O, mir friert. Der Tod ist leicht. 44 [Wo hier ?] 
,.Ich kann nicht sprechen, ich bin hingerichtet worden. 44 [Sind Sie tot ?] 
„Erlost bin ich und hingerichtet. Noch mehr wie verriickt . . . Angespuckt 
haben sie mich. Wo kann denn so ein Irrtum geschehen im heutigen Jahr- 
himdert. 44 [Angst ?] ,,Nein, ich bin hingerichtet, ich kann nicht mehr 
sprechen, mit offenen Augen (offnet die Augen mit der Hand), die Zunge 
(steckt die Zunge heraus), hypnotisiert, ich hore nur noch Schweineschlachten, 
das ist ein Fall, der noch nie dagewesen ist, ich hore nur noch Holzhacken . .“ 
u. s. w., kommt immer wieder darauf zuriick, dass sie hypnotisiert sei. 

25. VIII. Zustand unverandert, immer unstet und angstlich, immer 
weinerlich, wiederholt unzahlige Male: ,,Ich bin Frau St., Sickingenstrasse 3. 44 
[Wo hier?] „Laborium. 44 [Monat?] „Februar.“ 

29. VIII. Sehr imruhig, lasst sich nicht im Bett halten. . . . ..Mein 
Gott, ich bin doch verbrannt . . 

5. IX. Wenig produktiv. „Das wird keiner glauben, dass ich Frau 
Anna St. bin. Ich bin doch Frau Anna St. Ich bin immer und ein Schlangen- 
weib, verbrannt, verbrannt. Ich bin doch kein Teufelsweib. 44 

11. IX. ,,Wie komme ich denn hierher ? Ich weiss nicht, wo ich hier 
bin. 44 Behauptet, den Arzt zum erstenmal zu sehen, auch Prof. H. Bestreitet, 
im Krankenhaus Oder der Charity zu sein. ,,Ich bin doch verbrannt. 44 Wieder¬ 
holt immer: ,,Mein Gott, wo bin ich denn? 44 Bezeichnet vorgehaltene 
Gegenstande richtig. 

16. IX. Entbindung. 

20. IX. „Heute geht es mirbesser. 4 [Wie lange seit der Entbindung ? ] 
„Ja, nun, ich bin doch gerichtet. — Ich denke, ich bin in derKgl. Charite, 
ist das richtig? 44 [Ja.] „Das ist nicht wahr. 44 — „Was soli ich denn nun 
sagen . . ., nun bin ich doch tot. — Nim bin ich doch gerichtet. 44 [Wer, 
ich?] ,,Rich ter. 44 [Wer liegt im Bette nebenan ?] „Da liegt mein eigenes 
Kind. 44 [Wie alt?] „5 Jahre, imd ich bin die Frau Anna St. und bin 
40 Jahre. 44 — „K. W. 44 , (Kalt — Warm) ,,das soil ein Leichenstein sein, 
mich haben sie zu Tode gerichtet, was haben sie schon mit mir angegeben. 
ich soil Geld gestohlen haben. 44 [Wem Geld gestohlen?] „Dem Kaiser. — 
Ich habe doch nicht gestohlen. 44 

23. IX. ,,Ach Gott, es ist alles falsch, wie komme ich nur hierher 
in die Charit6 . . .“ Alles ist verloren, alles verbrannt. 44 Durchfalle. 

28. IX. [Wissen Sie, wer ich?] „Nein. 44 [Noch nie gesehen?] 
,,Nein.“ [Wo hier?] „Ich bin im Bett eingeschlossen. 44 Pat. ist bei jeder 
Frage ganz hiilflos, ringt die Hande, ruft immer wieder: ,,Ach Gott, ach 
Gott. 44 

8. X. Pat. ist unruhig, ratios, jammert viel. 

10. X. [Wie geht es Ihnen?] ,,Mir geht es ganz gut. in Berlin, 
Sickingenstrasse 3, ich will nur nach Hause, weiter will ich ja nichts, ich hab 
doch nichts getan. 44 [Warum hier?] ,,Ich, ich weiss nicht, jetzt bin ich 
nicht zu Hause. 44 [Entbunden?] ,,Nein, nein. 44 [Waren Sie schwanger?] 
,,Nein, nein. 44 Pat. wiederholt auch weiter ,,nein, nein 44 . [Monat?] ,,Ach 
Gott, ich kann nicht, ich weiss nicht 44 u. s. w. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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15. X. Sehr gierig, nimmt andem das Essen weg. Hat gestern 
zum Mann manches Vemiinftige geaussert. 

21. X. Temperatur 40°. Verhalten wie friiher, strebt aus dem Bett. 
,,Ach Gott, ich weiss nicht, wie ich hierher gekommen bin." [Wo hier?] 
„Augenblicklich weiss ich’s nicht", dann richtig bezeichnet. Antwortet auf 
alle Fragen: „Weg, weg,“ straubt sich gegen jede Beriihrung, schlagt plotz- 
lich auf den befragenden Arzt ein. 

31. X. Pat. jammert und weint noch iramer viel, wiederholt: „Ich 
weiss nicht, wo ich bin," ist oft ganz ratios. Temperatur erhoht. 

2. XI. Temperatur 38,1°. Das rechte Kniegelenk geschwollen. 

6. XI. „Ich weiss nicht, bin ich oben, bin ich unten. Ich weiss 
wirklich nicht, was sie machen. Wo korame ich demi jetzt hin ? Bin ich in 
der Kgl. Charity, das glaube ich selbst nicht. Von den Herren kenne ich 
keinen einzigen. Das ist ja alles verdreht." Nasst noch immer ein. Be- 
zweifelt, dass die Aerzte Aerzte sind. Betrachtet misstrauisch ihre eigenen 
Hande. Temperatur erhoht. 

10. XI. Pat. ist sehr unruhig, jammert und stohnt laut, kratzt sich 
verzweifelt die Kopfhaut. „Ich bin ja ganz zerrissen, ich bin ja gar kein 
Mensch mehr, Mopskasten.“ [Was ist Mopskasten ?] ,,Ich weiss nicht." 
„Ich weiss nicht, wo ich bin." 

15. XI. Wirft mit einem Essnapf. Nach dem Grunde befragt, be- 
streitet sie, geworfen zu haben. 

21. XI. Noch immer bestandig, Tag und Nacht, imreinlich. [Wunsch ? ] 
„Zu Hause. Ich bin Frau Anna St." 

29. XI. [Warum schreien Sie so ?] „Ich bin niedergeschossen worden. " 
— Fragt mit weinerlicher Stimme: ,,Wo bin ich, wo bin ich.“ Gott, ich bin 
Frau Anna St., Sickingenstrasse 3.“ 

4. XII. „Mir geht es ganz gut, ich weiss nicht, wo ich bin." 

8. XII. [Wie geht es Ihnen?] (Weinerlich): „Mir geht es gut, mein 
Gott, Berlin, Sickingenstrasse 3.“ [Warum jammem Sie ?] (Jammemd): „Ich 
jammere doch nicht, Anna St., Berlin, Sickingenstrasse 3.“ [Was mochten 
Sie ?] Wie oben. [Sind Sie krank ?] „Mein Gott, ach Gott, ich weiss nicht. 
wo ich bin, Anna St., Sickingenstrasse 3 wohn* ich.“ 

14. XII. Dauemd klagliches Jammem. „Mein Gott, ich weiss ja 
gar nicht, wo ich bin." 

23. XII. Noch immer unreinlich. Das Kniegelenk noch immer ge¬ 
schwollen und schmerzhaft. Temperatur erhoht. 

7. I. Stets weinerlich, isst noch immer sehr stark, nimmt trotzdem 
fortgesetzt ab. Erkennt ihre Angehorigen stets. 

10. I. [Wie geht es Ihnen ?] „Besser, nur mein Knie tut noch weh.** 
Bittet, der Doktor solle etwas verschreiben, dass sie gleich tot sei. 

12. I. Hat heute gestrickt. „Ich mochte lieber sterben, der Schmerz 
ist doch zu gross am Knie.“ 

15. I. Jammert. ,,Die Menschen zerschleissen einen ja. Ich bin Frau 
Anna St., Sickingenstrasse 3.“ 

21. I. Schlagt nach der Warterin, versucht, den Arzt zu kratzen. 

24. I. Schlagt um sich, wirft mit Geechirr nach den Warterinnen. 
Verunreinigt sich mit Kot. — Bestreitet stets, was sie getan hat. 

31. I. Schimpft in unanstandigen Ausdriicken, schlagt nach den 
Warterinnen. Fortgesetzt unsauber. 

5. II. Nicht mehr gewinselt, aber sehr unruhig, schimpft, schlagt um 
sich, wirft mit Gegenstanden. 

18. II. Pat. stohnt fortwahrend. [Wie geht es Ihnen?] „Gut.“ 
[Weshalb stohnen Sie ?] ,,Meine Kniee tun mir weh. Mein Gott, was machen 
Sie bloss mit mir.“ [Warum weinen Sie ?] „Ich weine doch nicht." [Warum 
stohnen Sie?] ,,Ich stohne doch nicht." — Durchfalle. 

2. III. [Wo hier?] „Im Krankenhaus." [Wielange?] „Weiss ich 
ich nicht, nicht lange." [Jahr?] „Weiss ich nicht." [Mich gesehen ?] „Nein. 4t 
Pat. lasst alles unter sich, bestreitet es auf Vorhalt. Kommt bei der 
Exploration ins Jammem, wird gereizt imd schlagt um sich. 


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534 Bresowsky. Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

9. III. „Ich weiss nicht, wie bin ich hier hereingekommen ?“ [Wo 
hier?] Richtig beantwortet. [Jahr?] „Weiss ich nicht.“ [Sommer oder 
Winter?] „Sommer.“ 

Pat. wird nach D. ubergefuhrt, stirbt am 3. IV. 1907. 

Im vorliegenden Falle kommen als atiologische Momente Erschopfung 
infolge lange fortgesetzter Laktation und Graviditat inBetracht. Die Psychose 
bricht akut mit Wahnvorstellungen, Angst affek ten, vereinzelten Hallu- 
zinationen und verkehrten Handlungen a us, trotzdem bleibt die Orientiert- 
heit erhalten. Imweiteren Verlauf steht der depressive Wahnim Vordergrunde, 
schliesslich, nachdem noch als weiteres erschopfendes Moment die Ent- 
bindimg hinzugetreten ist, stellt sich Ratlosigkeit bei fortbestehender 
depressiver Grimdstimmung ein. Eigentliche Inkoharenz der sprachlichen 
Aeusserungen ist nicht zu verzeichnen. wohl aber Einformigkeit; ferner 
treten teils dauernd (Kotschmieren), teils impulsiv verkehrte Handlungen 
ohne Motivierung auf. Beziiglich der Prognose ist wohl an und fiir sich an- 
zunehmen, dass sie nicht ungiinstig ist, indes ist sie von den besonderen Um- 
standen des Verlaufes in direkte Abhangigkeit zu setzen. Dies© Umstande 

— Puerperium, AbszessbiIdung mit Neigung zu Rezidiven — bedingen eine 
weitere Erschopfung und schieben eine zu erwartende Besserung hinaus, 
verschlimmem den Allgemeinzustand, bis schliesslich der Exitus erfolgt. 
Die Diagnose ist: akute halluzinatorische Paranoia mit vorwiegender Wahn- 
bildung. Ob der Fall einer echten Amentia Meynerts entspricht, ist fraglich; 
im ersten Stadium ist die WahnbiIdung zu sehr von rein paranoischem 
Charakter, dagegen entspricht der Zustand in der Folge allerdings einer 
Amentia ,,ohne cerebral© Reizsymptome“, es handelt sich urn einen infolge 
von fortdauemden erschopfenden Ursachen supraponierten Zustand. 
Dieser Uebergang ist von besonderem Interesse: einerseits zeigt er die nahe 
Verwandtschaft der paranoischen und amenten Krankheitsbilder, und 
andererseits zeigt er die Verschiebung des Krankheitsbildes zur Amentia 
hin unter dem Einfluss der Erschopfung — ganz im Sinne Meynerts . 

7. Fr. F., 34 Jahre alt, Amentia. 

Entwicklung normal, seit Miirz 1906 Tumor, der sich als inoperables 
Leberkarzinom erwies. Pat. weiss nicht, dass sie an Karzinom leidet, glaubt 
durch die Operation (zu diagnostischen Zwecken) gesund zu sein. 

Seit 14 Tagen ist Pat. leicht erregbar, aussert Eifersuchtsideen. Be- 
hauptete auch von den Nachbarsleuten, die sie haufiger besuchten, sie 
kamen nur, um sie schlecht zu machen, sie soliten machen, dass sie fortkamen 
imd nicht mehr wiederkommen u. s. w. Fiihrte die Wirtschaft ordentlich 
bis zum 2. XII. Seither unruhig, schlief schlecht. In der Nacht vom 5. auf 
den 6. XII. sah sie Schlangen, die aus dem Ofen kamen, sprach viel vor sich 
hin, die Nachbarn soliten fortgehen, sie wolle mit ihrem Mann allein bleiben, 
schlief nicht, erzahlte, sie habe getraumt. sie besasse viel Gold und Silber, 
es liege hinter dem Ofen versteckt. Stiess ihren Mann fort, er habe ihr nichts 
mehr zu sagen. Antwortete teils richtig. teils verwirrt. 

6. XXL 1906. Bei der Untersuchung antwortet Pat. in gereiztem 
Tone, spricht viel von einem Bilde, das unter ihrer Uhr hange, durch das 
sie bezeugen konne, dass sie die alteste sei. Erzahlt, ihr Bruder habe heute 
*Hochzeit, zu der der Kaiser imd das ganze Kaiserhaus komnje. Gibt sonst 
ausreichende Auskunft, doch ganz unzusammenhangend. Glaubt, dass sie 
hergekommen sei, weil ihr Mann trinke, ihr nichts zu essen gebe, um hier 
ordentlich verpflegt zu werden. Glaubt, dass ihr Mann sie betriige, mit 
anderen Frauen verkehre, dass die Nachbarn ihr nichts gonnten. 

7. XII. Spontan: ,,Ne, du brauchst mir nicht wieder dumm zu 
machen, du bist der Karl imd ich die alteste, die Karoline. — Und die weisse 
Peitsche, die haben sie auch wieder verkehrt aufgehangt — aber, Georg, 
nimm dich in acht, wenn du mir so wiederkommst, dann sollst du mal sehen 

— und der Teufel kam aus dem Ofen heraus — ich will die Anna nicht sein. 
ich bin die Karoline — und wenn erst das Bild kommt, das ist schon, das 
hat einen schwarzen Rahmen, das ist mein Totenbrief — ich will keine 
Schweineschiissel sein, auch kein Spucknapf — und wenn das Wasser kommt, 
dann ist es bald vorbei, mir haben sie schon so ausgesogen, dass bald das 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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Blut kommt — so will ich das, das habe ich Konigliche Hoheit auch schon 
gesagt — und Bhunen und Rosinen und Kaffee ist aus den Tapeten heraus- 
gekommen, daher ist wohl auch alles so teuer, das weiss Konigliche Hoheit 
auch — und die Grossmutter, wie hat die gehandelt ? Schlecht hat sie ge- 
handelt — Sie Schulze, nein, ich bin die Anna gewesen. — Und sie haben 
mir betrogen, und die Kiihe, und die Pferde, und der Mist, da liegt der 
Pferdemist, schamen Sie sich denn gar nicht — 44 u. s. w. [Krank ?1 ..Nein. 
ich bin ganz gesund, ich bin im Krankenhaus gewesen, da hat der Stabsarzt 
meine Rechnimg aufgeschrieben und das soil jetzt wieder so kommen.“ [Wes- 
halb schreien ? I ,,Weil mirjalles heute soil so passieren. und das verlange ich 
nicht. 44 [Zomig ?| ,,Ja, weil sie mir alle geargerthaben. 44 [Aengstlich ?] ..Nein. 
ich hab meinen klaren Verstand und heute will ich nach Hause. 44 [Traurig ?] 
..Nein, warum wohl, lauter Kdnigskuchen und Pflaumenkuchen und 
Quatsch mit Sauce, alles durcheinander. 44 [Visionen?] „Nein, hier nicht. 
aber zu Haus, da kamen lauter Schlangen und Eidechsen aus dem Ofen. 
Und dann alle der Kuchen. 44 [Stimmen?] „Nein.“ Pat. spricht laut, 
schreiend, als ob sie sich verteidigen wollte. Zurufe [Mops] „ Jawohl, Mops, 
ein schoner Mops im Leichenwagen mit weisser Peitsche. 44 [Tisch] ,,Ja, 
Tisch sagen Sie nun wieder, alles Quatsch mit Sauce. 44 [Feuer] ,,Das ist 
die Flamme und der Rauch, das ist fur Zigarren, und dann kommen die 
Wolken, und aus diesen all die Schlangen und Eidechsen. 44 [Sterben ?] ,.Ja. 
nun sterben, aber das wissen Sie nicht, nur Konigliche Hoheit weiss das.“ 

[Wo?] „Krankenhaus. 44 [Wielange?] ,.Seit gestern. 44 [Datum?] 
,.1896, Dezember. 44 Wird plotzlich sehr erregt, will dem Arzt die Bouillon 
liber den Kopf giessen, wirft den Napf mit der Stulle ins Zimmer, schreit: 
,.Ich esse nicht aus dem Spucknapf. 44 Pat. schreit am Abend vor sich hin: 
..Mein Mann soli doch kommen, und der Naturarzt Schwarz, und das Talg- 
licht — das ist doch Georg (zu einem hereintretenden Arzt) — oder 
Zylinder — das ist ja mein Mann mit die Auguste — geborene — der schwarze 
Zylinder — das Talglicht — Talglicht — Auguste — der Ernst — das Blut 
ist doch weiss — und die Sterne ist das Talglicht — ist die Hexe Siinde — 
die Sterne — Rummelsburger Strasse — der Ofen, das ist das Talglicht — 
der Zylinder ist das Blut u. s. w. Haufig schmatzende und kauende Be- 
wegungen. Verunreinigt sich mit Stuhlgang im Wachen. 

8. XII. Dasselbe Verhalten, doch scheint Pat. mehr zu halluzinieren, 
motori8ches Verhalten ruhiger. Pat. zeigt nach dem Fenster: „Das ist der 
Teufel da. 44 [Traumen Sie ? ] ..Nein, ich traume nicht. 44 [Wo hier?] „Im 
Krankenhaus, das ist das schwarze Schloss, und da kommt jetzt der Teufel. 44 
[Warum streichen Sie sich die Haare ins Gesicht?] „Weil ich der Teufel 
bin. 44 Pat. spricht femer in Wiederholungen von Naturarzt, Raben, Eisen- 
stangen, glaubt, sie vor sich zu sehen, macht mit den Handen kreisende 
Bewegungen, die den Flug der Raben andeuten sollen, zeigt die Eisenstange, 
antwortet auf alle Fragen im Sinn der Halluzinationen und Wahnvor- 
stellungen, ltisst sich einen Taler in die Hand suggerieren, gibt ilm wieder 
zuriick. „Lauter Pferdemist ist hier unten. 44 [Wo ?] ,,Unten in der Erde. 44 
[Riechen Sie ihn?] ..Nein. Soviel Pferde iiberall, das sollen die ganzen 
Sterne im Himmel sein (zeigt auf die gegeniiberliogende Wand), das ist eine 
Uhr, imd die ist eins und da ist noch eine Uhr, die ist zwei, (fasst mit der 
linken Hand an den Zeigefinger der rechten), das ist mein Bruder hier. 44 
[Wo?] „Draussen. 44 [Horen Sie ihn sprechen ? ] „Nein.“ 

12. XII. [Jahr?] Singt unverstandliche Worte und klatscht in die 
Hande, dann: „Meine liebe Gertrud. 44 [Wo?] „Auf dem Reisekorb. 44 
Dann singend: ..Die Liebe ist doch hier bei mir, die kann doch was. Ganz 
gleich. 44 Hantiert den ganzen Tag mit den Haaren und der Bettdecke. 
Zieht den Zopf durch den Mund und die Hande. Liegt oft mit unbedeckten 
Beinen. Die einmal gefundenen Bewegungsformen werden 5—6 mal 
wiederholt. 

13. XII. Monotones Singen. Dreht dabei den Haarzopf: .,Hier sind 
die schone — imd auf die Dame — wer die Dame ist gewesen — nein, das 
bin ich doch nicht 44 — u. s. w. Klatscht dabei in die Hande. Lasst sich 
(lurch Fragen nicht aus dem Singen bringen. Der Inhalt ist der gleiche wie 


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536 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


in den letzten Tagen. Zieht den Zopf durch den Mund, beleckt ihn mit 
weit vorgestreckter Zunge. 

18. XII. 1st verstummt, unzuganglich. 

20. XII. Fangt wieder an zu sprechen, aber so undeutlich, dass 
man nur wenig versteht. „Meine Gertrud und mein Karl haben mich 
wollen ermorden/ 4 [Wo hier?] „Ich weiss ja noch nicht. “ Wechselnder 
Gesichtsausdruck, bald angstlich weinerlich. bald lachend; spricht viel vor 
sich hin, geht aus dem Bett zu den anderen Kranken, halt eine Mitpatientin 
fur ihre Schwester, den Arzt fur einen Bekannten, Herm Sch. 

4. I. Verstummt und unzuganglich. 

6. I. Schwatzt wieder viel, oft lachend. Lucider Gesichtsausdruck. 
[Wo?] ,,Afrika und Amerika.“ [Jahr?] „Sie wohnen dort unten bei 
Lubelski . . .“ u. s. w. 

Im vorliegenden Fall haben wir die psychische Erkrankung auf die 
toils erschopfende, teils vergiftende Wirkung des karzinomatosen Leidens 
der Pat. zu beziehen. Wir beobachten eine subakute Entwicklung mit Wahn- 
vorstellungen, zu denen im Verlauf der Krankheit Halluzinationen und 
schliesslich Inkoharenz hinzutreten. Der Zustand entspricht dem, was man 
dem Wortlaute nach als halluzinatorische Verwirrtheit bezeichnen kann; es ist 
im besonderen der von den franzosischen Psychiatern als Delire onirique auf- 
gefasste und benannte Zustand einer narkoseartigen Beeinflussung des 
zentralen Nervensysterns, durch welche das psychische Leben in einen 
deliranten Traumzustand iibergeht, als pathologische Abart des Tramnlebens 
verlauft. Im Stadium der vollen Krankheitsentwicklimg sind Auffassung 
und Besonnenheit aufgehoben, wechselnde Halluzinationen, Illusionen, 
Wahnvorstelhmgen, allerlei abgerissene Reminiszenzen aus dem Leben der 
Pat. und Neigung zu einformigen Bewegungen, Singen u. dergl. m. bilden 
das psychische Leben der Kranken. Die Inkoharenz ist eine primare. Pat. 
zeigt keine gesteigerten Affekte. 

Der Fall ist der inkoharenten Varietat der akuten halluzinatorischen 
Paranoia zuzuzahlen, ebenso gehort er in die Amentia Meynerts hinein. 
Es ist aber nicht nur die cerebrale Erschopfung. sondern wohl haupt- 
sachlich die cerebrale Vergiftimg, die das Krankheitsbild hervorruft und 
ihm das besondere Geprage der traumhaften Verwirrtheit verleiht. Infolge- 
dessen zeigt er eine gewisse symptomatologische Verschiedenheit von den 
oben angefiihrten Fallen der akuten halluzinatorischen Paranoia; durch die 
fortdauemde Ursache ist eine Aenderimg des Zustandes, somit eine Ent¬ 
wicklung und ein Abklingen der Krankheitserscheinungen ausgeschlossen. 
Es kame noch in Betracht, was als die Ursache der autotoxischen traum¬ 
haften Verwirrtheit anzusehen ist: die gestdrte Funktion der Leber oder der 
durch das Karzinom gestorte oder beeinflusste Stoffwechsel. Von einem 
besonderen, nur bei gestorter Leberfimktion beobachteten Typus der Ver¬ 
wirrtheit, wie ihn Klippel und andere franzosische Autoren beschreiben, 
ist im vorhegenden Fall nichts zu konstatieren, es bliobe also nur diejenige 
Form der psychischen Storung bei gestorter Leberfunktion als in Betracht 
kommend zuriick, die sich als gewohnliche Confusion mentale aussert, d. h. 
sich nicht von der Form unterscheidet, die wir uns auch als durch das 
Karzinom bedingt vorstellen konnen. Letztere Ursache hat ohnehin die 
grossere Wahrscheinlichkeit fur sich, urn so mehr, als sonstige, speziell 
korperliche Anzeichen der gestorten Lebertatigkeit nicht beobachtet 
worden sind. 

8 . K. A., 36 Jahre alt, Kutscher, kein Alkoholismus. Akute hallu¬ 
zinatorische Paranoia. 

Entwicklung normal, 1903 Lungenentziindung. 

Pat. wurde am 5. I. 1907 wegen fieberhafter Erkrankung (Lungen- 
entziindung) der Charit6 iiberwiesen. Am 8. I. kam der Kranke plotzlich 
lieim, ohne Hut und Ueberzieher, offenbar in einem Zustande akuter Geistes- 
storung, mit Verfolgungswahn. In den letzten Tagen hatte Pat. wenig ge- 
schlafen, fiel dadurch auf, dass er viel von einem Hausklatsch sprach imd 
immer dieselben Worte wiederholte. Er glaubte, es sei gegen ihn ein Komplott 
geschmiedet. „Alle stecken unter einer Decke, alle seien gegen ihn auf- 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


537 


fallend freundlich, damit er nicht merken solle, dass ihm von seiner Herr- 
schaft gekiindigt werden werde. — In der Charity redete Pat. einen alten 
Mitpatienten mit „Vater 44 an, behauptete, als er aus der Charity zuriick- 
kehrte, sein Vater sei nicht gestorben. Dasselbe behauptete er von seiner 
Schwiegermutter, die auch 1 angst tot ist. Pat. hat Selbstmordideen: er 
wolite ins Wasser gehon; Pat. glaubt, dass Leute aus seinem Bekannten- 
und Verwandtenkreise inn ihn seien. 

11. I. 1907. Pat. wurde um 9 Uhr abends aufgenommen (10. I.), 
liess sich ruhig ausziehen, sprach nichts. Im Lauf der Nacht hob Pat. einen 
Arm ofters hoch und hielt ihn in derselben Stellung langere Zeit hindurch. 
Auf Fragen gab er keine Antwort. Schlief nicht. 

[Wo hier?] „Im Marstall. 44 [Welches Jahr?] „ Weiss ich nicht. 44 
[Welcher Monat?] ,.Weiss ich nicht. 44 [Welcher Wochentag?] ,,Weiss ich 
nicht. 44 [Weshalb halten Sie den Arm in die Hohe ?] Antwortet nicht, senkt 
den Arm etwas und richtet die Spitze des rechten Zeigefingers auf das Auge 
des Arztes. Wiederholt dann dieselben Bewegungen. [Weshalb tun Sie das ?] 
„Das ist meine Sache, das sag ich nicht. 44 [Habe ich Ihnen etwas getan?] 
„Sehr viel. 44 [Was denn 7] „Sie wollten mir mein Leben rauben 44 (in weiner- 
lichem Ton). [Womit?] „Dass Sie mir mit Frau und Kind wollten hin- 
morden. 44 [Wer bin ich?] „Das weiss ich nicht, 44 spater ,,Sie sind ein 
Morder. 44 — [Wie geht es ?] „Nicht gut. 44 [Warum nicht ?] ..Weil ich ver- 
giftetbin. 44 —Die korperliche Untersuchung ergibt abnorme Atemgerausche 
liber der rechten Lunge, femer eine starke Herabsetzung der Schmerz- 
empfindlichkeit. — Am Abend ist Pat. sehr abweisend, antwortet fast nur: 
,,Das ist meine Sache. 44 [Was hatte der Finger zu bedeuten ?] „Dass der 
der Morder ist, der eben gesprochen hat. 44 [Wen habe ich gemordet?] 
„Sich selbst und viele andere. 44 Auf die Frage des Warters: Warum so 
grob gegen den Professor? antwortet Pat.: .,Der hat mir 3 Mk. gestolilen. 44 
[Wann ?] „Als er mit mir zusammen in Stellung wax; ich war Kutscher und 
er Expedient, er heisst Sommer. 44 [„Aber der Professor heisst Se. 44 ] ,,Ja, 
als Oberarzt heisst er Se., als Expedient hiess er So., ich habe ihn ja 
beim Kunden getroffen. 44 

12. I. In der Nacht hob Pat. den Arm wieder in die Hohe, nach der 
Decke deutend. Auf mehrfaches Befragen antwortete er, seine 4 Briider 
und er wiirden von einem gewissen Sommer umgebracht. Aeussert femer 
dieselben Ideen iiber Prof. S. Am Nachmittag sitzt Pat. mit ausgestreckten 
Armen im Bett und hat die Hands wie zum Beten gefaltet, blickt starr vor 
sich hin. Spater streckt Pat. den rechten Arm in die Hohe mit ausgestrecktem 
Zeigefinger, er beschreibt damit in der Luft Kreise. Weitere Personen- 
verkennung. 

13. I. Negativismus, keine Echokinese, keine Befehlsautomatie. 
Abends sehr unruhig. 

14. I. Pat. droht dem Arzt mit der Faust, beschreibt dabei sonder- 
bare Bewegungen mit der Faust. Unruhig, zerriss zwei Heraden, riss aus der 
Matratze den Werg heraus. 

15. I. Negativismus, Unruhe. Weist ofters mit dem Zeigefinger nach 
der Decke, halt den Arm minutenlang in derselben Stellung. Sitzt in 
Hockstellung auf dem Bettrande. 

16. I. Wieder katatonische Stellungen. Pat. glaubt unter den 

Wartem friihere Bekannte zu erkennen. 

17. I. Sitzt zusammengekrummt in einer Bettecke, gibt keine Ant¬ 
wort, hat ins Bett uriniert. Temperatur 40,1° in recto. 

18. I. Pat. bezeichnet noch immer Prof. Z. als Direktor Frank, 

Prof. S.als Sommer. Liegt im Bett in derHaltungdes ,,sterbenden Kriegers 44 . 
Pat. murmelt vor sich hin: ,,Mutter, Lieschen. 44 [Wo ist Ihre Mutter?] 
,,Auf der Wand, mein Vater auch. 44 [Nur Einbildung ?] ,,Nein, das ist keine 
Einbildung. 44 Pat; hat Bulbus-Halluzinationen ohne Suggestion. [Was 
sehen Sie?] ,,Einen Hund 44 ; mit Suggestion [eine elektrische ? ] ,,Ja.“ 

[Linie ?] „Prinzenstrasse. 44 [Hinter der Elektrischen eine Dame?] ,.Ja. 4 “ 
Pat. fangt an zu weinen. [Warum weinen?] „Weil das meine Frau ist. 44 

Monatsechrift ftlr Psyohiatrle and Nearologie. Bd. XXVIb Heft 6. 36 


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538 Bres o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

29. I. Als Pat. heute morgen zum Waschbecken gebracht wurde, 
legte er den Kopf auf den Rand desselben, steckte die Hande ins Wasser, 
der iibrige Korper lag ausgestreckt schrag vor der Wascheinrichtung. Auf 
Anruf richtete sich Pat. auf, stemmte die rechte Hand in die Hiifte und 
blickte geradeaus. Keine Echokinese. Pat. nimmt verschiedene sonderbare 
Stellungen ein, die er einige Minuten einhalt, urn langsam zu einer andem 
iiberzugehen, z. B.: Pat. steht mit gebeugten Knien da, ebenso im Hiift- 
gelenk gebeugt, spreizt die Finger der linken Hand, fuihrt dieselbe lang¬ 
sam vor das Gesicht. Dann lasst Pat. den linken Arm schlaff herabfallen 
und ihn hin- und herpendeln. Bleibt in dieser Stellung stehen. Dann greift 
Pat. langsam mit der rechten Hand nach der linken Schulter und versucht, 
sein Hemd herunterzustreifen, lasst darauf den rechten Arm wieder sinken, 
da das Hemd nicht nachgibt. Er wendet den Oberkorper nach rechts und 
fasst mit der linken Hand nach der rechten Schulter. Die Beine sind ge- 
kreuzt, der Blick nach rechts gerichtet. Der linke Arm sinkt bis zur Beuge- 
stellimg im rechten Winkel herab, und die linke Hand macht rotierende 
Zitter bewegungen, wobei die Finger leicht gespreizt gehalten werden. Pat. 
wendet den Oberkorper in die normale Stellung, der Kopf sinkt auf die Brust 
herab, und Pat. blickt auf seine rechte Brustwarze u. s. w. u. s. w. Wahrend 
dieser Stellungen ist Pat. auf demselben Fleck stehen geblieben, spricht kein 
Wort. Aufgefordert, ins Bett zu gehen, kommt Pat. dieser Aufforderung 
nach, nimmt im Bett die Ruckenlage ein, hebt das rechte Bein hoch und 
halt die Zehen stark dorsal flektiert, die Hande sind zu Fausten geballt, 
der Blick auf seine Brust gerichtet. Dann wieder sitzt Pat. im Bett, halt die 
zu Fausten geballten Hande vor die Stim. dann folgen taktmassige Be- 
wegungen mit den Fausten, die Augen sind geschlossen. Plotzlich ruft Pat.: 
„Eva. u [Wer ist Eva?] Keine Antwort. Pat. fiihrt ferner mit den Armen 
und Handen noch mannigfache komplizierte Bewegungen aus, viele der 
Stellungen haben ein theatralisches Aussehen. Am Nachmittag sitzt Pat. 
vollig nackt im Bett. Zwischen dern rechten Daumen und Zeigefinger halt 
er einen weissen Faden und betrachtet ihn aufmerksam. Sein Hemd hat er 
zerrissen. Ungeniigende Nahrungsaufnahme. Temperatur 39,3\ 

20. I. ,,Ich bin gehauen worden. Jeder einzige hat auf mir eingehauen. 
Ich denke immer, dass ich einen guten Freund hier habe, aber jeder haut mich 
mit Schliis8eln und Riemen, bis ich im Bett liege und nicht mehr kann. 44 

21. I. Ganz ruhiges Verhalten. [Wie geht es ?] „Gut, Herr Doktor. 44 

23. I. Pat. flihlt sich heute etwas wohler. [Glauben Sie noch, dass 

Prof. Z. ein Morder ist ?] ,,Nein, ich war damals zu erregt. 44 [ Wami Vater 
gestorben ?] ,,1897. 44 [Also lebt er nicht mehr ?] „Wenn’s nach dem Rechten * 
geht, muss ich wohl glauben, dass er tot ist. Ich war ja selbst zur Beerdigung. 44 

27. I. Pat. verhalt sich ruhig. 

30. I. Pat. ist ruhig und schlaft viel. Er kann aus seiner Erinnerung 
ausser dem Fingerzeigen nichts mehr nennen. 

8. II. Pat. verhalt sich dauemd ruhig. 

12. II. [Bin ich ein Morder?] Pat. gibt an, er habe es doch schon 
zuriickgenommen. [Wie darauf gekommen?] „Kann ich nicht sagen, es 
tut mir leid, ich weiss nicht, wie ich darauf gekommen bin. 44 

Gebessert entlassen. 

Als Ursache des vorliegenden Falles ist die Einwirkung der akuten 
fieberhaften Krankheit anzusehen. Der vorliegende Fall bietet ein besonderes 
Interesse dadurch, dass er als typische akute halluzinatorische Paranoia 
im Gefolge einer akuten Infektionskrankheit auftritt und zu gleicher Zeit 
katatonische Erscheinungen aufweist. Man kann zwar von einzelnen der 
in Frage kommenden Stellungen und Bewegungen annehmen, dass es sich 
um symbolische, jedenfalls bewusste, d. h. beabsichtigte, zweckmassig sein 
sollende Bewegungen handelt, aber es handelt sich im grossen und ganzen 
um Erscheinungen, die im Verlauf einer Woche auftraten und nicht nur den 
Oharakter einer einfachen Ausdrucksbewegimg trugen, sondem echte Be- 
wegungs- imd Haltimgsstereotypien vorstellen. Der akut ausbrechende 
Verfolgimgswahn und die Halluzinationen. die Aetiologie und der Verlauf 
reihen diesen Fall unzweifelhaft an die typischen Falle der akuten hailu- 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


539 


zinatorischen Paranoia, der Hohepunkt der Erkrankung ist durch die 
katatonischen Erscheinungen ausgezeichnet. Die Halluzinationen spielen 
eine verhaltnismassig geringe Rolle, Inkoharenz wnrde nicht beobachtet. 

Es handelt sich sonach um eine akute halluzinatorische Paranoia. 
Da man den Fall wohl mit Recht auf ,,cerebrale Erschopfung“ zuriick- 
fiihren kann, wiirde er zwar die Aetiologie der Amentia Meynert# aufweisen, 
aber das Hauptsymptom der Amentia* die Verwirrtheit, fehlt. Die kat¬ 
atonischen Symptome geben dem Fall ein so eigenartiges Geprage, dass man 
ihn als katatonische Varietiit der akuten halluzinatorischen Paranoia auf- 
fassen kann. Von einer Dementia hebephrenica kann keine Rede sein: 
nicht nur fehlt der Intelligenzdefekt, sondem der Verlauf der Psychose* 
der Einflu8s der akuten lnfektionskrankheit sind charakteristisch fiir eine 
akute halluzinatorische Paranoia. 

9. M. G.* 14. VI.—17. VII. 1900. 33 Jahre alt. Akute halluzinatorische 
Paranoia. 

Normale Entwicklung, war Dienstmadchen und hatte sexuellen V T erkehr 
mit ihrem Dienstherrn, was sie sich sehr zu Herzen nahm. Sie wurde immer 
trauriger imd verschlossener und weinte oft viele St unden lang* wurde 
schliesslich entlassen. Seither wechselte sie alle 1 V 2 Jahre etwa die Stellen, war 
sehr reizbar und empfindlich, ,,liess sich nichts sagen“. War bis zum 33. Jahre 
geistig ganz gesund. 1900 (9 Jahre darauf) hatte sie eine Stelle* wo sie sich 
sehr gut mit der Herrschaft stand. Da wurde ein Fraulein angenommen, 
und ernes Tages glaubte sie zu horen, dass das Fraulein mit der Herrin iiber 
sie sprach. Sie vermutete sogleich, dass sie iiber ihren Fall sprachen und 
regte sich sehr auf, war sehr unruhig, genierte sich, fragte die Herrin immer 
wieder, ob das Fraulein schlecht von ihr gesprochen hatte, obwohl die Herrin 
versicherte. dass niemand schlecht iiber sie gesprochen habe. Zu gleicher Zeit 
war sie etwas iiberanstrengt. Zu ihrer Erholung nahm die Herrschaft sie 
mit nach Thiiringen. Dort steigerte sich ihre Unruhe, sie horte schimpfende 
Stimmen, glaubte immer, dass Leute hinter ihr her waren. Setzte durch, 
dass sie wieder nach Berlin durfte. Hier irrte sie durch die Strassen, voller 
Unruhe und Angst, fiirchtete, dass sie keine Arbeit mehr bekommen werde, 
dass alle Welt sie verfluche, horte Schimpfworte: „Hure, gemeines Aas“ 
u. s. w., „schlagt sie tot.“ Sprang in den Fluss, wurde herausgefischt 
und in die Charite gebracht. 

7. VI. 1900. Pat. ist orientiert, macht einen deprimierten Eindruck. 
Als Grimd fur den Selbstmordversuch fiihrt Pat. an, dass sie durch das 
fortwahrende Reden der Leute iiber sie und die fortwahrenden Anspielungen 
auf ihre befleckte Vergangenheit zum Lebensiiberdrusse gebracht worden 
sei. Seitdem sie einmal die Frau ihres Dienstherrn iiber sich habe reden 
horen, habe sie auf die Leute geachtet und bemerkt, dass man sie verspotte 
und beschimpfe. 

8. VI. Pat. ist von der Grundlosigkeit ihres Argwohns nicht zu iiber- 
zeugen; sie fiirchtet, als offentiiche Dime unter polizeiliche Kontrolle ge- 
stellt zu werden. 

13. VI. Pat. deutet sich die Tatsache, dass eine von ihr iibrig gelassene 
Schrippe ihr hinter das Kopfkissen gesteckt worden war, als ein Zeichen aus, 
dass sie so heruntergekommen sei, sich mit einem jeden abzugeben. 

14. VI. Pat. glaubt sich von den Warterinnen beobachtet: man passe 
auf, wer sich nach ihr auf ihren Stuhl setze, daraus wolle man auf ihre Ver¬ 
gangenheit schliessen und sie dann der Schande preisgeben. 

18. VI. Pat. glaubt, dass alle im Saal befindlichen Kranken ihr 
nachschauen und sich dann verstandnisvoll anblicken. Pat. beschaftigt sich 
dazwischen mit Handarbeit. 

20. VI. In ihrer letzten Stellung will sie gehort haben, dass eine Frau 
der anderen gesagt habe, mit ihrer Vergangenheit musse es einen Haken 
haben. Sie glaube, dass auf einer, die mit einem Ehemann verkehrt habe, 
ein Fluch ruhe. 

14. VII. Pat weint* dass sie beobachtet werde, dass gesprochen 
werde, sie sei eine schlechte Dime: das entepreche den Tatsachen. Klinische 
Demonstration: Paranoia combinatoria. 

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540 Bree owsky , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 


Pat. wurde in die Irrenanstalt D. verlegt, im Sept. 1900 in die Irren- 
anstalt N.-R. Pat. erwies sich als vollstandig orientiert. 

21. IX. [Sind Sie traurig?] „ . . . ich wiirde sofort wieder ina 
Wasser gehen ...» ich bin eine aus der Gesellschaft Ausgestossene . . .“ 

[Werden Sie verfolgt?] „Ich hatte gesagt, dass mich die Polizei 
verfolgte. Ich hatte mir eingebildet, dass ich offentlich sollte werden. “ 

[Werden Sie verspottet?] „Hier nicht, aber in der Charity dadurch, 
dass meine Gedanken verraten werden. Sie gaben mir dort rotes Wasser 
zum Gurgeln, als ob sie dadurch die freie Liebe andeuten wollten. Sie 
sahen sich immer an und gaben sich Zeichen und haben wohl Schlechtes 
von mir gesagt. “ „ . . . ich glaube, dass Frau L. mich immer hort . . . 

was ich im Stillen denke, ohne dass das ausgesprochen wird. Meine 
Gedanken werden verraten/* 

Sept. Verhalt sich ruhig, weint sehr viel. 

Okt. Fleissig im Nahsaal, gedriickte Stimmung, halt an ihren Wahn- 
vorstellungen fest. 

Nov.-Dez. Unverandert, ausserlich geordnet, beschaftigt sich regel- 
massig. Zuweilen, wenn sie sich allein glaubt, Weinen, gestorter Schlaf, 
drangt each Hause. Oft jaher Stimmungswechsel. 

Jan. 1901. Abweisendes Verhalten, iibertriebener Fleiss. 

16. HI. Zankte mit einer harmlosen Mitkranken: jene ziele mit 
ihren Reden auf sie, sie solle es doch lieber of fen sagen, dass sie sie meine. 

17. HI. Heftige Erregung. 

August 1901. Voriibergehend kurze Verstimmungsperiodenjmit Wein- 
anfallen. Dauernd beschaftigt. Keine Krankheitseinsicht. 

Dez. 1901. Drangt nach Hause, hat an all© moglichen Verwandten 
geschrieben, um Unterkunft zu finden. Eigentliche Krankheitseinsicht nicht 
vorhanden. Entlassen. 

1906. Stellen gewechselt. Nahm zuletzt eine Stelle als Kochin in 
einem Restaurant an, war schon etwas erregt und nervos, weil sie nicht 
sogleich eine neue Stellung gefunden hatte. Keine Unannehmlichkeitem 
keme Ueberanstrengung, trotzdem seit 14 Tagen zerstreut, begriff die ein- 
fachsten Dinge nicht. Seit der Zeit horte sie von innen heraus Stimmen, 
welche ihr sagten, sie solle sich mit der Ehefrau ihres ehemaligen Verfuhrers 
aussohnen, solle ihr sagen, dass sie sich versiindigt habe. Wort© hat Pat. 
nicht gehort. Bezog Aeusserungen der anderen Madchen auf sich, glaubte 
von ihnen Zeichen zu erhalten, dass sie nichts mehr zu essen bekommen 
solle. Musste viel griibeln, gab ihre Stelle am 27. XI. 1906 auf. Unruhig,. 
schlechter Schlaf, betete viel. Verbrachte die letzte Nacht bei Bekannten, 
weil sie sich nicht getraute, allein zu sein, sie fiirchtete, totgeschlagen 
zu werden. 

29. XI. [Stimmen ?] , Jch hore nichts, aber sie kommen aus dem 
Gewissen.** [Visionen?] ,,Es war so, als ob ein Prediger zu mir sproch. 44 
[Traurig ?] „ Ja, sehr.“ [Warum ?] ,,Immer der Zustand, als wenn icn sollte 
totgeschlagen werden von Dimen und Zuhaltem. 44 Die Stimmen von 
innen sagten ihr, sie werde vertrocknen, sie habe sich versundigt. [Selbst- 
mordideen ?] „In den letzten Tagen wieder daran gedacht.** Pat. ist voll¬ 
standig orientiert. 

1. XII. Stimmen von innen heraus, „es ist mein Gewissen, das zu mir 
spricht.** Hort die Stimmen deutlich, fortwahrend; teils Manner-, teils 
Frauenstimmen, teils einzelne Worte, teils zusammenhangende Satze, z. B.: 
Du hattest zu der Dame gehen sollen, als deino Gnadenzeit noch war, jetzt 
bist du verfallen, das ist der Fluch der Siinde. — Du darfst die Hande nicht 
falten, nicht beten, mit dir ist es vorbei, jetzt fahrst du zum Teufel. — Du 
bist so schlecht, du hast wieder einen Mann angesehen. „Mir ist, als wenn 
mich einer hort, wenn ich etwas Schlechtes oder Gutes denke. Die ganze Welt 
hort es. Es ist ja unmoglich, aber ich konnte beinahe darauf schworen. 4 * 

2. XII. [Krank?] ,,Nein, traurig, mir fehlt die Arbeit, ich mochte 
geistig arbeiten. 4 * 

4. XII. Schwer deprimiert, verlangt immer nach Arbeit. Weint 
verzweifelt, ungeniigende Nahrungsaufnahme. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


541 


5. XII. Hat Prof. H. im Geist an ihrem Bett sitzen sehen, mit 
offenen Augen, wusste aber, dass es eine Phantasie war. Nicht greifbar, 
„als wenn es so Gestalten sind, die gleich wieder verschwinden“. Hat auch 
die Schwester aus N.-R. an ihrem Bett sitzen sehen. „Jedesinal, wenn mir 
der Gedanke kam an die nnd die, ist es mir, als wenn die das merkte und sich 
zu mir kehrte. 44 Sieht die Gestalten nicht kommen, sie sind plotzlich da. 
Sie sprechen mit ihr, aber sie hort es nicht mit den Ohren, sondem innerlich. 
Inhalt: sie diirfe nicht auf die Strasse gehen, da werde sie totgeschlagen. 
Sie solle zum Abendmahl gehen. 

8. XII. „Ich denke ich bin ein schlechtes Madchen, ich beflecke alles, 
ich bin obdachlos. Ich bilde mir ein, alle bewerfen mich mit Kot. Wenn ich 
auf die Strasse komme, werde ich geschlagen. 44 

11. XII. Hort dieselbe Stimme und dieselben Schimpfworter wie 
friiher. Aeussert den Wunsch, aufstehen zu diirfen, „mir ist ganz wirr im 
Kopf, und dann kommen mir die aiten Gedanken und Stimmen. 44 „Wenn 
ich auf bin, verfalle ich in Triibsinn, es mnnachtet sich mein Geist, ich denke 
immer: nun ist es aus mit dir, du bist ein gefallenes Madchen. 44 

14. XII. Sieht Personen wie friiher, neuerdings auch Clowns und Seil- 
tanzer, wie Kinderspielzeug, vor ihrem Bett auf- und absteigen. Fiir Augen- 
blicke auch ein schwarzes Herz. Visionen verschwinden nicht, wenn sie 
die Augen schliesst. 

15. XII. Nachte sehr unruhig. Bezeichnet als Ausgangsort der Stimme 
das linke Hypochondrium: „Aus dem Herzen kommt der Ruf. 44 Auf Auf- 
forderung, zu horchen, hort sie: „Dummes Madel, sei still . . . Hure . . . 
bist ja keine . . .“ 

17. XII. ,,Die grossten Gemeinheiten hore ich von den Stimmen. 
Lieder, als wenn ganze Mannerschwarme mitsingen. 44 

18. XII. „Ich werde wohl ins Zuchthaus kommen. Mir ist, als 
ob ich verhort werde. Ich habe gehort, dass mich Scharfrichter Reindel 
hinrichten wird. Ich bin so erregt, ich kann nicht mehr weiter. 44 

27. XII. Mir geht es sehr schlecht, ich beleidige alle Leute, ich mochte 
gem tot sein. 44 

31. XII. „Ich bin ja so faul, ich bin ein altes Faultier. 44 

3. I. „Herr Professor, wollen Sie mich nicht tot machen? 44 

9. I.—16. I. Innere Stimmen, Schimpfworter, Drohungen, Be- 
fiirchtungen wie friiher. Glaubt, dass andere Leute das horen, was sie iiber 
sie denkt. Wenn sie an Leute denkt, sieht sie deren Gesicht deutlich 
vor Augen. 

7. II. Pat. behauptet, niemals Stimmen gehort zu haben. „Nur 
alle horen meine Stimme. Die Patienten reden alles durcheinander, weil 
ichhierbin. Es ist, als ob ich ein Bauchredner ware. Jeder spricht verkehrt 
hier durch mich. 44 

19. n. „Ich bildete mir ein, dass die anderen die Stimmen, die ich 
hore, auch horen. 44 

26. II. [Stimmen?] „Nein. 44 [Seit wann nicht?] „Seit ein paar 
Wochen. 44 [Krank gewesen?] „Ja.“ 

17. III. Keine Stimmen bis jetzt wieder gehort. 

3. IV. Halt sich fiir vollkommen gesund. Die Krankheit ware wohl 
durch Ueberarbeitung gekommen; es ware ein ahnlicher Zustand gewesen 
wie vor 6 Jahren. „Erst waren die Stimmen, dann begriff ich es erst, was 
das heissen sollte. 44 Erklart die Stimmen jetzt fur Tauschungen. Jetzt keine 
Angst, keine Stimmen. Macht einen vollig freien Eindruck. 

16. IV. Pat. hort in der Nacht die Stimme des Professors. „Mir war 
ee so, als ob Gedichte gemacht werden in meinem Leibe, ein Gesang von 
Mannem. 44 [Schimpfreden ?] ,,Ja: Du bist zu faul, zu schlecht, Diebin, 
Verbrecherin u. s. w. 44 [Traum?] ,,Nein.“ 

21. IV. Verspurt noch manchmal eine voriibergehende innerliche 
Unruhe, „als ob sich jemand innerlich mit ihr unterhalt. 4 Keine Stimmen. 

16. V. Lauft noch immer viel ruhelos umher. 

4. VI. Voriibergehender Angstzustand. 

10. VII. Versichert immer wieder, dass sie gesund sei. 


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042 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

17. VIII. Pat. sieht sehr wohl aus, zeigt keine Spur von Depression, 
macht einen vollig freien und gesunden Eindruck. Fiihlt sich seit 3 Monaten 
vollig wohl, keine Stimmen, keine Gestalten. 

Retrospektive Anamnese. Schon 3—4 Wochen, bevor Pat. hier auf- 
genommen wurde. horte sie wieder Stimmen bei der Arbeit, in der Nacht, 
war miide, hatte sch lech ten Schlaf, konnte ihre Arbeit nicht tun. Sie weiss, 
dass sie in der Charite beschimpft wurde, fur schlecht gehalten wurde, 
weil sie den Verkehr gehabt hatte. Sie horte die Stimmen immer leise und 
heimlich. ,,Ich glaubo, ich habe gedacht, sie wollten mich einsperren.“ 
Die Besserung ging nur allmahlich vor sich. Pat. glaubte schliesslich, dass 
sie deshalb nicht schlecht sein konne, weil sie doch stets von ihren Ver- 
wandten besucht wiirde, die Interesse und Mitgefiihl fur sie hatten, dadurch 
sei sie auf das Wahnhafte ihrer Ideen aufmerksam geworden; daran schloss 
sich der Gedanke, dass die Stimmen wohl auch krankhaft sein konnten; 
sie horte nicht mehr auf die Stimmen, die dann allmahlich verechwanden. 

19. VIII. Geheilt entlassen. 

Der vorliegende Fall ist durch die dauemde primare traurige Ver- 
stimmung ausgezeichnet, parallel mit der Verstimmung treten die Hallu- 
zinationen und Wahnvorstellungen auf. Von der Ursache des Krankheits- 
ausbruches ist uns nichts oder nur sehr wenig bekannt, inwiefem Ueber- 
anstrengung oder Gemiitsbewegungen als ursachliche Momente in Frage 
kommen, liisst sich kaum bestimmen. jedenfalls ist ein unzweifelhafter 
Zusammenhang nicht festzustellen. Der Fall gehort sicher nicht zur 
Amentia Meyneris , die Orientierung und Ordnung der Gedanken blieb stets 
erhalten; der Ausgang in Heilung, das Rezidiv mit dem Ausgang in Heilung 
stellen den Fall in die Nahe der Melancholie in ihrer halluzinatorischen 
Varietat. Wahrend des Verlaufes wurde Inkoharenz nicht beobachtet. 

Der Fall gehort zur depressiven Varietat der akuten halluzinatorischen 
Paranoia. In differentialdiagnostischer Beziehung kommt namentlich 
die Melancholie in Betracht, doch stellen di9 primaren Halluzinationen und 
Wahnvorstellungen, femer die charakteristischen Assoziationsstorungen 
(,,begriff die einfachsten Dinge nicht“, Nov. 1906), sowie der ebenso 
charakteristische Beziehimgswahn den Fall unzweifelhaft in die halluzina- 
tor is che I^aranoia 

10. A. H., geb. 1875, 2. II. 1903—7. III. 1903. Amentia ini Rezidiv. 

Normale Entwicklung. Keine Hereditat. Ehe seit 1898, erste Ent- 
bindung 1899, zweite 1900. 

1903. Beginn der Erkrankung am 30.1.1903 friih: fing piotzlich an zu 
weinen, gab an, dass sie iiber ihren Bruder bekiimmert sei, der verhaftet sei. 
Ging am 30. friih mit ihrem Jimgen auf den Bahnhof G, hat dort herum- 
gestanden, bis am Abend der Mann kam. Aeusserte, als ihr Mann kam, 
dass sie verfolgt wiirde. Am niichsten Tage zeigte sie ein aufgeregtes Wesen, 
sang im Bett, rief in einem fort nach ihrem Mann. Die letzte Nacht nahm 
ihre Aufgeregtheit noch zu, abwechselnd sang und weinte sie. Auf Fragen 
ging die Pat. nicht ein, sie weinte vor sich hin imd rief: „Vater, hilf mir.“ 
Auf die Frage, ob sie ihren Mann oder ihren Jungen kenne, blickte sie starr 
vor sich hin und brach dann in lautes Weinen aus. 

3. II. Pat., die gestem bei ihrer Aufnahme sehr erregt war und viel 
sprach, stosst heute nur imartikulierte Laute aus und fasst auch anscheinend 
gar nicht auf, macht einen angstlichen Eindruck. Kommt energischen 
Aufforderungen nach, stohnt leise vor sich hin. 

Das Essen wurde gleich wieder ausgespuckt. — Macht stammelnde 
Sprechversuche, nur auf energische Aufforderung spricht sie einige Wort© 
richtig nach. Passive gegebene Haltimgen werden beibehalten. 

4. II. Erst nach Hyoscin geschlafcn. V r iel gesungen. Gibt auf Fragen. 
keine sinngemassen Antworten, bczeichnet vorgehaltene Gegen stand© 
nicht, fasst dagegen einzelne Aufforderungen auf, z. B. Zunge vorstrecken. 
Arm hocliheben. Zeigt hinsichtlich des Affektes eine eigentiimliche Mischung 
zwischen Aengstlichkeit und Heiterkeit, zeigt bald lachenden, bald angst- 
lichen, verzweifelnden Gesichtsausdruck. Bringt jammemde Tone hervor. 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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die in Singen iibergehen. Beim Waschen, Anziehen, Essen stark wider- 
strebend. Einnassen. 

6. II. Verlasst das Bett, lauft angstlich umher. Keine sinngemassen 
Antworten, Aeusserungen sinnlos, abgerissen, z. B.: .JMamala, gehen Sie 
fort, lessen Sie mich doch“ — spricht vieles so imdeutlich, dass man es nicht 
versteht. Macht manchmal eigenartige Mundbewegungen, z. B. stammelnde, 
schnappende, hauchende. Bewegt sich viel. 

7. II. Nachts sehr unruhig, viel gesprochen, viel herumgelaufen, 
kramt mit den Bettstiicken. Gibt an, dass sie nicht krank sei. Redet den 
Arzt Doktor an; sie sei beim Herm Jesu, sei in der Kirche, sei magenleidend 
und habe iiberall Schmerzen. — Spricht unzusammenhangend vor sich hin. 

16. II. Andeutung von Katalepsie, Echopraxie, strebt viel aus dem 
Bett, kramt viel im Bett, dazwischen deutliche angstliche Affekte. Sprach- 
liche Aeusserungen nur gelegentlich, oft unartikulierte Laute, muss ge- 
fiittert werden, planlose Unruhe. 

21. II. Vollig amentes Wesen, keine ausgesprochenen Angstaffekte. 
Zeigt kein Widerstreben, muss gefiittert werden, nasst ein. Sprachliche 
Aeusserimgen sehr gering, vorgehaltene Gegenstande werden nicht be- 
zeichnet. 

28. II. Abnahme der motorischen Unruhe, aber noch vollig ament. 

5. III. Im ganzen etwas ruhiger, lauft zuweilen irniher, ist noch sehr 
verwirrt. Hochgradige Denkerschwerung. Weiss, dass sie im Krankenhause 
ist, kann aber keine zeitlichen Angaben machen. Aeusserimgen vollig 
inhaltslos, phrasenhaft. 

Pat. verliess die Klinik, verbrachte 14 Tage zu Hause, keine Aenderung 
des Zustandes, musste nach D. gebracht werden. 

1. IV. 1909. Pat. verbrachte 2*4 Monate in D. imd gewann spater 
ihre Gesundheit wieder, war normal bis vor 14 Tagen, leitete ihren Haus- 
stand allein; alles war in Ordnung. Arbeitete 1907 in einer Fabrik. 

Vor 14 Tagen Beginn mit Weinen, schrie nach ihrem Mann, der vor 
6 Monaten verstorben ist. Beruhigte sich dann wieder. Nachts schlaflos, 
Kopfschmerzen. Am 2. Tag noch ausser Bett, sass aber schon teilnahmlos 
herum. Am 3. Tag blieb sie im Bett, war apathiseh, mit geschlossenen Augen, 
stohnte vor sich hin, beantwortete Fragen nicht, musste gefiittert werden. 
Nachts meist schlaflos. Am 4. Tag zog sie sich die Striimpfe des verstorbenen 
Mannes an und sagte, sie suche den, von dem sie die Striimpfe anhabe; 
weinte heftig dabei, riss die Tiir auf, rief: „Emil, Emil,“ Liess sich beruhigen. 
Motorische Unruhe: zog sich wiederholt aus und an. — Aehnlich ging es bis 
gestern. Wurde gewalttiitig, schlug eine Fensterscheibe entzwei und sagte 
dabei: ,,Warum muss ich so leiden?“ Schlug die Mutter, beruhigte sich 
schnell. Sah eine weisse Gestalt fiber dem Gartenzaun stehen. Unterhielt 
sich, als ob sie telephonierte: ,,Anna, bist du da, bin, bin, ab, ab.“ So stunden- 
lang. Liess ihren kleinen Sohn einriegeln, glaubte, die Mutter wollte sie ver- 
giften. Wusste vor 8 Tagen ihren Namen nicht, konnte nur bis 3 zahlen; 
zog zwei Kleider iibereinander an, machte sie falsch zu. Stand in der Nacht 
auf und befiihlte die Gesichter. Hielt den Arzt fur ihren Bruder. Verhielt 
sich im allgemeinen still, meist Weinen, dazwischen gezwungenes Lacheln. 

2. IV. Pat. benimmt sich bei der Aufnahme laut. Stosst in der Nacht 
haufig laute Schreie aus. Am Morgen viel aus dem Bett, reisst an den Tiiren, 
will bei der Hausarbeit helfen. Pat. ist zeitlich nicht ganz orientiert, halt sich 
fiir gesund, gibt ganz richtig an, wie lange und wo sie die Zeit von 1903 bis 
jetzt verbracht hat. Pat. ist durch die Fragestellung und durch Aeusserimgen 
von Mitkranken nicht zu beeinflussen, sagt spontan kaum ein Wort, fasst 
viele Fragen gar nicht auf, wiederholt haufig die Fragen statt zu antworten, 
antwortet haufig ausweichend, z. B.: fW T erden Sie verfolgt ?] ,,Wer soli mich 
verfolgen ?‘ fc [Gehen die Gedanken schnell oder langsam ?] „Gedanken hab 
ich bis jetzt gar nicht.“ [Gedachtnisabnahme ?] ,,Es kann sein.“ — [Seit 
wann ?J ,,Fragen Sie meine Geschwister.“ [ Woran gemerkt ? ] Keine Ant- 
wort. Pat. begleitet die Exploration mit einem Lacheln, gibt zuweilen 
schnippische Antworten, fixiert vorgehaltene Gegenstande, spricht mitteb 


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544 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

schnell, in zusammenhangenden Satzen. Verkennt Personen. Die Intelligenz- 
priifung ergibt nichts Abnormes. Status corporis ohne Befund. 

Wahrend der Untersuchung jammert Pat. immer vor sich hin. [Haben 
Sie Angst ?] „Ja. 44 [Wovor ?1 „Dass Sie mir in die Augen stechen. 44 Halt 
die Volontararztin fiir ihre Fre undin T. 

3. IV. Seit heute friih Kramen im Bett mit geschlossenen Augen. 
Leichte Katalepsie. Keine sprachlichen Aeusserungen. Viel ausser Bett 
mit geschlossenen Augen. [Warum Augen geschlossen ?] , ,Ich mochte nicht 
mehr weinen, ich mochte nicht hier bJeiben. 44 [Monat ?] „Marz.“ Erkennt 
den Arzt. [Wo hier ?] „Bitte sagen Sie es mir. 44 [Sind Sie krank ?] „Krank- 
lich mag ich sein, aber nicht im Kopf. 44 

4. IV. Pat. unterhalt sich freundlich mit ihren Angehorigen, fragte 
auch nach ihrem Jungen. 

5. IV. [Wo hier ?] „Ich habe es gelesen . . . 4 ‘ Als ihr gesagt wird, 
hier sei ein Krankenhaus, fragt sie: ,,Warum bin ich denn hier? 44 Weiss, 
dass sie gestern Besuch von ihren Angehorigen gehabt hat, spricht langsam, 
zogerod, auch ihre Bewegungen sind langsam. 

6. IV. Weinerlich, kriecht auf alien Vieren umher, keine sprachlichen 
Aeusserungen, meist mit geschlossenen Augen im Bett. 

10. IV. Nahrungsaidnahme schlecht, nur Fliissiges, lasst vieles zurnck- 
laufen; blickt oft ins Leere, Gesichtsaudruck nicht angstlich, aber gleich- 
giiltig. — Schlagt der Warterin plotzlich den Napf aus der Hand. Muss 
gefiittert werden. 

15. IV. Trotzdem sie eben zum Abort gefiihrt worden war, setzt sie 
sich auf den Bettrand und lasst Urin. Viel ausser Bett, versteckt sich 
hinter anderen Betten, krallt sich an den Kleidem fest. Keine Spontan- 
ausserungen. Personenverkennungen. 

16. IV. Heute sehr ablehnend. Schimpft, dass sie nicht ihre Ordnung 
habe, zu Hause sei alles besser. Auf Vorhalt, weshalb sie sich heute morgen 
entkleidet, meint sie: „Ich wollte doch sehen, ob ich mein weibliches Ge- 
schlecht noch habe. 44 [Krank?] „Ich bin nicht krank. 44 [Angst?] ,,Fiir 
was denn Angst? 44 [Datum?] „Weiss ich nicht so genau. 44 [Monat?] 
„April.“ [Jahr?] „1910.“ 

18. IV. Steht plotzlich auf, ruft mit befehlender Stimme: ..Steli 
auf, steh auf!“ Bleibt wie angewurzelt stehen. Sinnestausch ungen werden 
negiert. [Traurig?] „Nein.“ [Angst?] „Nein. 44 

20. IV. Pat. liegt im Bett mit geschlossenen Augen und stosst 
in best i mm ten kurzen Intervallen jammemde Laute aus, Gibt keine Aus- 
kunft. Weint mit Tranen. Spontanea Jammern: ,,Wer hat dir weg- 
genommen ? 44 Dann wieder Wimmera. 

21. IV. Fasst plotzlich den Arzt am Arm: ..Ich hore was. 44 [Was 
horen Sie?] ,,Hier ist Gott. 44 [Was sagt er?] Keine Antwort. [Hat der 
liebe Gott zu Ihnen gesprochen ?] „Bild ich mir ein. 44 [Was hat er gesagt ?] 
„Weiss ich nicht mehr. 44 (Es bleibt ungewiss, ob die Pat. die Stimme einer 
Mitpatientin, die im Nebenzimmer laut ist, gemeint hat.) 

23. IV. Ist aggressiv. Nimmt liingere Zeit hindurch eigentumliche 
Stellungen ein. [Hat das jemand befohlen ?] ,,Nein. 44 

25. IV. Hockt meist stumm im Bett. haufig mit geschlossenen Augen, 
nur, wenn die anderen laut werden, schreit sie mit. 

27. IV. Oefter Scheinschlaf, auf Klatschen leichtes Blinzeln. Zu- 
weilen plotzlich ausser Bett, tanzt dann mehrere Male mit geschlossenen 
Augen herum, indem sie sich um sich selbst dreht. Geht dann allein wieder 
ins Bett. Gesichtsausdruck teilnahmlos. Auf Zurufe keine Reaktion. 

29. IV. Vorgehaltene Gegenstande werden erst nach einiger Zeit 
fixiert. ,,Wariun geben Sie mir das Stuck ?“ (Uhr.) [Was ist das fiir ein 
Stuck ?] ,,Runder Gegenstand. 44 [Wie nennt man das ?] ,,Wie nennt man 
das ?“ Spricht die Worte des Arztes nach. 

3. V. Springt.. wenn sie sich imbeobachtet glaubt, aus dem Bett und 
versteckt sich. fWarum?] Bestreitet es. 

13. V. Ruhiges Verhalten, keine spontanen sprachlicheu Aeussi>- 
rungen. [Jahr?] ,,1904. 44 [Krank?] ,.Ich bin krank. 44 


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15. V. Zieht sich die Jack© verkehrt an. 

17. V. Ging ans dem Bett und legte sich in das Bett einer anderen 
Pat. Auf Vorhalt Lachen. 2 Pfund an Gewicht zugenommen. 

22. V. Hat sich mit einer anderen Pat. ganz vemiinftig unterhalten. 

24. V. Erhielt ein Strickzeng, strickte richtig. 

28. V. [Wie geht es Ihnen ?] ,,Geht’s besser schon.“ [Woran denken 
Si©?] „Ich denke dariiber nach, class die kleinen Kinderchen jetzt so viel 
lemen mussen. <( Die Antworten erfolgen langsam und immer erst nach einer 
kleinen Pause, oft etwas stockend. Stets dabei dir gleiehe, unbewegte 
G esich tsausdruck. 

3. VI. Kennt den Namen einzelner Mitpatienten. 

6. VI. Erhielt Besuche, sprach wenig, aber verstandig. 

10. VI. Pat. sitzt meist aufrecht im Bett, blickt teilnahmlos, starr 
vor sich hin, Spontanausserungen sind selten. (Warum blicken Sie immer 
so vor sich hin?] Keine Ant wort. [Sehen Sie etwas?] Keine Antwort. 
[Horen Sie etwas ?] Keine Antwort. [Woran denken Sie ?] ,,Ich denke an 
die Kinder. “ [An welche Kinder ?] ,,An die Kinder, die mein Mann irgend- 
wo gelassen hat.“ [Machen Sie sich Sorgen dariiber?] ..Das sind so meine 
Gedanken. li Auf weitere Fragen reagiert Pat. nicht mehr, samtliche Ant¬ 
worten warden erst auf eindringliches Fragen gegeben, ohne den Arzt an- 
zusehen, ohne den Blick zu verandem. [2+2 ?] 4. [2+6 ?] 24; 48. [2+6 ?] 8. 
[2+10?] 48. 

12. VI. Pat. weint, regt sich auf, ,,weil ein kleiner Knabe geschlagen 
worden sei“. 

15. VI. Gibt das Datum fast richtig an. Pat. gibt an. sie habe sich 
iiber ihren Bruder gegramt: „Ich horte sein Schreien und konnte ihm 
nicht helfen.“ 

19. VI. Erzahlt, sie sei im Winter mit ihrem Kinde in einem grossen 
Warenhaus gewesen, da habe das Kind viele Tier© gesehen. und nun denke 
sie, das Kind konne dadurch nervenkrank geworden sein. 

21. VI. Unterhielt sich freundlich und verstandig mit ihrem Sohn. 

# Juli. Pat. ist noch immer sehr langsam in ihren Antworten und Be- 
wegungen, zeigt wenig Interesse fur ihre Umgebung, ist aber orientiert. 
Allmahlich stellt sich mehr Teilnahme ein. Pat. besucht gern den Garten, 
unterhalt sich mit ihrer Xachbarin. 

Aug. Auf Wunsch der Angehorigen gebessert entlassen. 

16. X. Retrospektive Anamnese. ,,Die Krankheit fing mit 
Schmerzen im Riicken und Kreuz an, ich glaubte, ich hatte mir Schaden 
getan; die Schmerzen verschlimmerten sich, zogen sich nach der Lunge, 
dem Genick und dem Kopf; ich wurde auch ohnmachtig. es war vor mir 
a lies verschwunden. Ich gramte mich auch sehr, weil mein Mann gestorben 
war. Ich wurde in die Klinik gebracht. ich habe vergessen, weswegen, ich 
kann von alleine nichts sagen, es ist mir entfallen . . . Ich hatte Phanta- 
sien, auch am Tage, ich horte meines Mannes Stimme, er klagte mir seine 
Krankheit, es war mir so, als sollte ich ihn pflegen, aber ich konnte nicht 
herankommen. 

In der Klinik hatte ich immer die Einbildung. wir hatten Krieg, und 
meine Verwandten waren beteiligt; ich hatte Angst, dass etwas passiert, 
dass einer totgeschlagenwird,dass wir erschossen werden. wenn wir ims nicht 
selbst schiitzen. Ich habe auch die erste Zeit Stimmen gehort: meines 
Bruders Stimme. Es war mir, als ob ich in einem liohen Hause wohnte, und 
als ob mein Bruder mir zurief, ich sollte herunterkommen. Gestalten habe 
ich nicht gesehen. Die erste Zeit wusste ich nicht, wo ich war, wusste auch die 
Zeit nicht. “ Pat. kann spontan keine weiteren Angaben machen, erinnert 
sich der Zeit der Krankheit fast gar nicht. Die Schwester der Pat. gibt 
an, letztere habe tatsachlieh weder Zeit noch Ort gewusst. auch z. B. nicht 
gewusst, dass es ilir Geburtstag war, an dem sie einmal von ihren Verwandten 
besucht wurde, letztere soli sie immer erkannt haben. Sie soli auch gesagt 
haben, ihr Mann lebe noch. er sei beim Kaiser gut angeschrieben gewesen 
und jetzt bloss versteckt. Auch soil sie einmal die Schwester gebeten haben, 
ihrMannerkleidung zu besorgen, sie wolle sich verkleiden und dann fortgehen. 


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546 B r e s o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

Jetzt soil Pat. im Kopfe klar, aber in ihrem Gehaben langsam geworden 
sein, sie kann nicht mehr ganz selbstandig leben, wiirde unter fremden 
Leuten sich nicht zurecht finden. 

Im August war Pat. noch immer sehr angstlich. wollte a us dem Hause 
fort, wieder zuriick in die Charity. Allmahlich trat Beruhigung ein, jetzt 
ist Pat. heiter, weint nicht mehr. 

Im vorliegenden Fall haben wir ausser Gemiitsbewegungen keine 
atiologischen Momente. Es handelt sich um ein Rezidiv einer Amentia; das 
Rezidiv ist durch eine subakute Entwicklung mit Depression und verein- 
zelten Halluzinationen ausgezeichnet. Auch treten Wahnvorstellungen, 
Personenverkennungen und verkehrte Handlimgen auf. Unbestiramte 
Angst, Wahnvorstellungen und Ratlosigkeit noben anscheinend unmoti- 
vierten Handlungen bezeichnen den Hohepunkt der Psychose. Die Inko- 
harenz aussert sich in mangelnder Verkniipfung der Empfindungen imd der 
sich an die Empfindungen anschliessenden ersten Vorstellungen, sowie der 
Erinnerungsbilder imtereinander: Pat. wird schwerbesinnlich. findet die 
Worte nicht mehr, kann die einfachsten Fragen nicht begreifen, verstummt 
schliesslich; ist toils affektlos, teils deprimiert. Die motorischen Aeusse- 
rungen der Pat. sind ganz unsinnig, inkoharent, ebenso plotzlich und unver- 
mittelt sind die Affektausserungen und auch die Halluzinationen. 

Auch dieser Fall gehort zur Amentia im Sinne Meynerts ; als Spezial- 
fall der Paranoia aufgefasst, stellt er die inkoharente Form der akuten hallu- 
zinatorischen Paranoia mit einer Verschiebung zur Stupiditat vor. Im vor¬ 
liegenden Fall ist die mangelhafte Erinnerung an die Zeit der Krankheit 
bemerkenswert, wie sie in der retrospektiven Anamnese zutage tritt; es 
handelt sich um eine Storung der Merkfahigkeit, welche fur die Psychose 
insofern charakteristisch genannt werden kann, als sie von der Erschwerung 
der Ideenassoziation, die neben anderen Symptomen dem Fall zugrunde 
liegt, in Abhangigkeit gebracht werden kann. 

11. E. T., 24 Jahre, ideenfliichtige Amentia, doppelschlagiger Verlauf. 

Keine Hereditat, normale Entwicklung, 1907—1908 Gelenkrheuma- 
t ism us, 1908 verlobt. In der letzten Zeit aufgeregt iiber die ungliickliche 
Ehe ihrer Schwester, die mit ihrem kleinen Kinde bei den Eltern wohnt. 

Am 14. II., abends, vor dem Schlafengehen machte die Pat. einen 
,,komischen“ Eindruck, fing plotzlich an, mit lauterStimme vom Brautigam 
zu erzahlen, schlug mit der Hand auf den Tisch, sagte, sie hatte ihren 
Schwager gesehen, an jeder Ecke, wollte nicht mit ihm zusammentreffen. 
Pat. beruhigte sich darauf. Ging am nachstenTage inBegleitung der Mutter 
aus. da sie fiirchtete. es konne ihr etwas zustossen. Am 16. II. sprach sie 
sehr laut, glaubte, plotzlich den Schwager unten vorbeifahren zu sehen, 
lief hinunter, um nachzusehen, wo er geblieben sei, fragte dieHausbewohner, 
wo er sei, suchte ihn in einer Kneipe, in einemGriinkramladen. sah dort im 
Spind nach, suchte dort ihren Brautigam, den ganzen Tag iiber sprach sie 
laut; wenn sie ein Gerausch horte, sagte sie: ,.Da kommt mein Richard**; in der 
Nacht stand sie plotzlich auf, ging zum Fenster. zog die Rouleaux auf und 
wollte zum Fenster hinaus. Die ganze Nacht iiber sprach sie laut, schlief 
nicht. 

Auf dem Wege in die Klinik glaubte Pat., ihre Direktrice vom Geschaft 
zu sehen, sagte ihrer Schwester, sie solle aussteigen, und die Direktrice solle 
sich zu ihr setzen. 

17. II. Beim Eintritt tiefe Verbeugung, bctet dann ein Vaterunser, 
verkennt Personen, ist orientiert. Pat. gibt an, sie werde seit zwei Tagen 
von ihrem Schwager verfolgt, sie habe Angst, ,,w f eil ich immer glaubte, alle 
Menschen seien meine Feinde.* 4 Sie here Stimmen, es werde ,,Emma“ ge- 
rufen. allerdings sehr undeutlich und leise. es seien mehrere Stimmen, 
auch habe sie nachts eine verkriippelte Frau mit weissen Zahnen gesehen. 
Pat. spricht laut und pathetisch, nimmt auf alle Fragen Bezug. antwortet, 
wenn sie Stimmen aus dem Nebenzimmer hort; glaubt, es seien Bekannte. 
Starke Logorrhoe. bringt belanglose Reminiszenzen aus dem Familienleben. 

19. II. Vol 1 standig orientiert. [Krank ?] ,,Nein, ich werde verriickt 
gemacht.** [Von wem ? | ..Ich hore eine Stimme.** 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 547 

20. II. [Wo hier ?] ,,Wo ich bin, in Dalldorf“, lacht dabei. [Warum 

in Dalldorf ?] „Weil sie denken, ich bin verriickt, erst rechts, dann links . . .“ % 
[Gift ?] „Weiss ich nicht, ich bin noch so jung, erst 24 Jahre, aber im 25. 
will ich (singt) tip tip tip macht meine Schreibmaschine. Kleinigkeit. “ 
[Angst ?] „Ja, furs Heiraten, so wars friiher, aber es kann anders werden.“ 
[Angst ?] „Nein . . ., komm doch her, und lege dich an meine rechte Seite.“ 
[Stimmen gehort ?] „ Ja, immerzu in der Nacht — aber Trudchen ist gut, 
hip hip hurra — da fehlt wat — sonst warst du nicht naeh Amerika ge- 
gangen — aber auch nicht nach Treptow — rechts herum, links herum, 
immer geradeaus.“ [Jahr ?] ,,Warum denn willst du das wissen, 1908, 

wenn du kieken willst, musst du die Brille aufsetzen.“ [Krank ?] ,,Nein.“ 
[Gesund?] „Nein, weil ich meinen Richard nicht habe; bin ich gesund 
oder nicht ? Selbsterkenntnis ist der erste Schritt. Artur, zieh deine Uhr 
richtig auf.“ (Singt) „Wir halten fest und treu zusammen . . .“ u. s. w. 

21. —22. II. Verweigert die Nahrung. Spricht rasch, in ununter- 
brochener Bewegung. Auf Fragen keine diesbeziiglichen Antworten. 

25. II. Noch immer motorische Unruhe, Entblossen, lautes Singen 
und Reden, Nahrungsverweigerung. Spontan: „OHes Schaf, Adolf, bist du 
Adolf, biste Bedolf, bist ein Schaf. Emmi, unsere Emma, jetzt kommt es 
aber raus, jetzt kannst du loofen, loofe weiter, Lothar. aber nicht p p, 
Anna weiss ich, ist ja alles Quatsch, aber Adolf, Lothar, warst du verriickt, 
a, a, b oder p, p, hebe mal hoch, aber Adolf, bitte raus, Martin Luther, biste 
verriickt, wer hat recht, hat er nicht recht . . .“ Pat. spricht ziemlich leise, 
oft unverstandlich fliistemd. 

26. II. „Lebe wohl, Punktum, jetzt muss ich lachen, ein kleener, 
ganz kleener, ganz kleen, aha, jetzt reden die Juden, o, ei, einmal, warste, 
warste besoffen du, lebe wohl, Punktum, lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl, 
liebes Heimatland, lebe wohl, haste B gesagt, na dann biste doch, bist ein 
Luder und hast A gesagt. lebe wohl, ihr Luder, lieber Muttel, Muttel — lebe 
hoch, Robert lebe ganz wohl oder wie ist — jetzt komme ich dran, aber nicht 
hoch, dazu bin ich zu besoffen, aber richtig — Schaf, Schaf lebe wohl, lebe 
wohl, du mein Heimatland . . Pat. schliesst dabei die Augen halb oder 
ganz, lasst sich durch Zurufe nicht ablenken, verweigert die Nahrungs- 
aufnahme. 

3. III. Noch immer keine spontane Nahrungsaufnahme. Motorisch 
sehr erregt, stark© Logorrhoe. Ringt die Hande: ,,Herr Jesu, dein Wille, 
Wille, Wille . . ., bin ich bose gewesen, boser Ludwig, hoher, hoher, hdher.“ 
Zurufe (Treue ?] ,,Treue Liebe, geh zu Grabe“; [Essen]: ,,Essen ohne Liebe, 
aber nicht fressen“; [Hochzeit]: „Hochzeit machen, das ist wunderschon“ 
u. s. w. u. s. w. 

10. III. Meist weinerlich, Redevfeise unverandert. Die Untersuchimg 
der Gehorgange ergibt eine beiderseitige akute Mittelohrentziindung. 

17. III. Beiderseitige Antrum operation in Chloroformnarkose. 

20. III. Sprachliche Aeusserungen noch immer inkoharent, lacht 
gelegentlich, weint zuweilen. meist hyperthymisch und Logorrhoe. 

23. III. Pat. hat eingenasst. Komplizierte Bewegungen. auf Fragen 
keine Antwort. 

26. III. [Jahr ?] ,,Mir geht alles so im Kopf herum, ich weiss nicht.“ 
Eingenasst. 

28. III. Pat. benimmt sich fortgesetzt geordnet, ist vollig orientiert, 
freut sich auf Besuch. 

9. IV. Dauernd geordnetes Verhalten. orientiert, Erinnerung an 
die Rrankheit gering, weiss nur, dass sie nichts essen wollte, will nicht 
glauben, was ihr die Verwandten von ihrem Verhalten zu Hause erzahlten. 

21. IV. Pat. ist sehr erregt, weint. Schon gestem hat sie viel gelacht, 
mischte sich in die Unterhaltung anderer Pat. Spricht vor sich hin: ,,Dahin 
schicken und dahin schicken, na, nicken Sie noch einmal, und wenn Frau 
Dubitz auch noch so grosse Aehnlichkeit hat, ais echte Berlinerin soil man 
sich nichts gefallen lassen. — Soli ich erst toben. — Meinen Brautigam 
krieg ich doch, und wenn sie sich auf den Kopf stellen. — Muss man nun erst 
einen Trager oder eine Schwester kommen lassen, verriickt bin ich nicht, 


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548 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

ich bin evangelisch erzogen und bei Pfarrer A. eingesegnet. Einer sagt so, und 
9 einer sagt so, dann kriegt der mal wieder einen anderen Namen, dann wird 
man mit Annachen und dann mit Berta angeredet, dann kommen sie wieder 
mit dern Verlobungsring. Ich habe ihn immer in Ehren gehalten (lacht), 
und wenn ich 36 Manner kiissen sollte ... da sollen sich mal die unter- 
suohen lassen. die das angezettelt haben . . .“ u. s. w. Pat. kaut und spricht 
zu gleicher Zeit, mischt sich in die Aeusserungen der Mitkranken. verlangt, 
auf ihre Virginitat untersucht zu werden. 

22.—25. IV. Noch immer sehr erregt, fortwahrend ausser Bett, da- 
bei gelegentlich weinerlich, spricht unaufhorlich in zusammenhangenden 
Satzen, schimpft. Einnassen. 

26. IV. Pat. ist sehr weinerlich, bittet den Arzt mu Verzeihung. 
spricht mit tonloser Stimme. 

27. IV. „M. M. so kehrt man die Saohe um — ich bin still, Krieg 
oder Frieden. — Verheiratet oder verlobt.“ 

28. IV. Spontan: ,,Ich fiihle mich stets v r erfolgt, ich habe aber keine 
Angst. Immer sagen sie, ich bin ein Esel oder Ochs, ich weiss gar nicht, 
was ich bin, ich bitte fiir euchalle, pfui . . .“ 

29. IV. Erregung, Gestikulationen. ,,Ist ja Familienbad. schadet 
ja uns nichts. — Treibt uns nicht zum Wahnsinn — das war die Verfolgung, 
seht ihr — das ist das Wasser, oder der Tod.“ Dreht die Hande umeinander, 
schlagt die Hand auf den Mittelkopf, streckt oft den Zeigefinger gebieterisch 
vor sich hin. ..Dann ziehe ich euch die Schuhe an, dann seid ihr lange genug 
Wolf gewesen oder Windhund — mein Bandwurm kann die Schnauze doch 
nicht halten.“ Starke Inkoharenz von Satz zu Satz. 

30. IV. Ausgesprochen heiter, lacht laut. 

1. V. Zomige Erregung, schlagt um sich: ,,Lasst euch mal erst ein 
Bein abhauen, ich lass mir keins abhauen. Hier wohnt der Deubel (zeigt 
auf das eine Bein), hier wohnt die Zigarrenkiste (das andere), und das war 
der Deubel (nimmt beide gross© Zehen in die Hand), der sollte erst von 
seinem Suff kuriert werden. Amine, Russland, Deutschland, aus einer 
Appelsine, da baut man erst das Deutsche Reich daraus. — Der Papst 
hat gesagt: Nimm dir keine Bauemmagd. — Da lebte Jule. da lebte Spule, 
da lebte auch mein Meineid“ u. s. w. Drehen, Handeklatschen, Klopfen, 
Wischen. 

2. —10. V. Gleiches Verhalten. Stimmimgslage vorwiegend heiter. 
Standige Logorrhoe. Nicht orientiert. 

11. V. Benimmt sich ruhiger, keine Logorrhoe, orientiert, weiss, dass 
sie gestem den Arzt als Vetter bezeichnet hat, nimmt es zuriick. 

13. V. Pat. gibt selbst an. sie fiihle sich klarer und ruhiger, korrektes, 
ruhiges Benehmen. * 

15. V. Pat. entsinnt sich, dass sie viel gelacht und gesprochen habe, 
weiss keinen Grund fiir ihre Bewegungen. 

28. V. Pat. benimmt sich vollig geordnet, fiihlt sich vollkommen 
gesund. 

17. VI. Entlassen. 

13. X. Retrospektive Ana nine,se. ,.Meine Krankheit ist von Ueber- 
arbeitung entstanden. weil ich viel genaht hatte. Ich hatte nur sehr wenig 
getrunken, gegessen absolut nichts, hatte keinen Appetit, schon drei Woe hen 
vorher, ich konnte nicht. mir wurde alles viel inehr im Munde. Wenn ich 
genaht hatte, stach es mir in die Finger; ich dachte, es ist Ueberarbeitung. 
Die Krankheit fing mit Angst an. Ich hatte vom Messerstecher gelesen, und 
dann hatte ich sofort Angst. Ich wurde aufgeregt und habe furchtbar viel 
gesprochen, alles durcheinander. Am Xachmittag ging ich zum Onkel, 
wir sprachen liber den Geschaftskauf. mein Brautigam war auch da, das 
regte mich noch mehr auf. Die Nacht darauf horte ich ein paar Mal klingeln, 
sprang immer aus dem Bett, habe das Rouleaux im Schlafzimmer hoch- 
gezogen und gesagt: ,.Dort geht mein Weg lang.“ Was das bedeutet, weiss 
ich selbst nicht. Am Dienstag[16. II.] gingen wir [die Arbeit ab-] liefem. 
Ich wollte die Mutter nicht allein gehen lassen, weil ich dachte. ihr passiert 
was. Auch sah ich ii be rail einen mir bekannten Schutzmann, ich dachte, 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


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ioh werde verfolgt. An demselben Tage wollte ich eine Tante, die damals 
operiert worden war, besuchen und sagte unzahlige Male, bei jeder Ge- 
legenheit: Wir gehen zu Tante Berta. Dann habe ich aus dem Fenster ge- 
sehen und sah dort iramer meinen Schwager; einmal stand er auf einem 
Rollwagen, einmal kam er iiber den Darara, einmal stand er driiben auf der 
anderen Seite. Ich lief auch hinunter in einen Griinkramladen, um ihn dort 
zu suchen, ging dort bis ins letzte Zimmer, sah dort auch im Spind nach; 
ich hatte eine Stimme gehort, wusste aber nicht, ob es meines Schwagers 
oder meines Brautigams Stimme war. — Als ich gar nicht aufhorte, tele- 
phonierten sie nach meinem Brautigam, er kam, und dann habe ich mich 
beruhigt. Am Abend und in der Nacht habe ich noch viel phantasiert 
und bin immer aus dem Bett gegangen. Es kam dann ein Arzt in der Nacht, 
und ich bekara Tropfen ein und bin eingeschlafen, aber spater wurde ich 
wieder unruhig, ich horte singen und klingeln. Am Morgen kam der Arzt 
wieder, und ich wurde in die Charity gebracht. — In der Charity habe ich im 
Fieber geredet, in der Zelle gelegen und im Tobsaal, ich weiss es. Ich habe 
viele Betten inne gehabt. (Pat. gibt genau an, in welchen Zimmem sie ge- 
we8en ist.) Ich habe viele Stimmen gehort, aber nur Stimmen von Ver- 
wandten, ich glaube nicht, dass ioh ihnen geantwortet habe, denn ich habe 
niemand gesehen, wenn ich mich umdrehte. Ich dachte immer, ich muss 
sterben, imd sagte oft den Aerzten, wenn sie hereinkamen: Da kommen die 
Leichenbeschauer. Die erste Zeit wusste ioh nicht, wo ioh war, ich habe 
immer gefragt, ob ich im Zuchthaus bin oder im Irrenhaus; ich habe mir 
viele Gedanken dariiber gemacht. Ich hatte mir auch eingebildet, dass ich 
hier bin, weil bei uns alles abgebrannt ist: in der Fabrik nebenan hat es schon 
wirklich ein paar Mai gebrannt . . .“ Pat. berichtet femer, dass die Be- 
ruhigung und Erholung allmahlich fortgeschritten sei, und dass sie seit 
dem August wieder ihre gewohnte Beschaftigung aufgenommen habe. 

Im vorliegenden Fall ist uns von atiologischen Momenten nichts be- 
kannt, die Gemutsbewegungen der Pat. vor Ausbruch der schweren Er- 
scheinungen sind wohl als Prodrome aufzufassen. Der Fall selbst schliesst 
sich eng an die Manie in ihrer halluzinatorischen Varietat an. er geht rasch in 
eine ideenfluchtige inkoharente Form iiber. Die im Verlauf der Psychose zu- 
fallig hinzutretende Mittelohrentzundimg bedingt keine Aenderung des 
Verhaltens oder des Allgemeinzustandes. Halluzinationen und Wahn- 
vorstellungen sind sparlich vorhanden; die Inkohekrenz macht anfangs den 
Eindruck einer sekundaren, einer ideenfliichtigen, erst spaterhin lasst sich 
eine Ideenflucht nicht mehr nachweisen. Die Inkoharenz ist als voriiber- 
gehende, den Hohepunkt der Krankheitserscheinungen vorstellende Er- 
scheinung anzusehen, sie umfasst auch das motorische Gebiet. Die nahe 
Verwandtschaft mit der Manie einerseits und mit der akuten halluzina¬ 
torischen Paranoia andererseits ist ganz unverkennbar. 

12, M. W., ideenfluchtige Amentia. 

Schwester der Grossmutter „tiefsinnig“. Entwicklung normal, im 
15. Lebensjahre hatte Pat. einen Anfall von „Tiefsinn“. Im 24. Lebensjahre 
(1900) wiederholte sich der Anfall, Pat. wurde einige Tage in der Charity 
beobachtet: sie beschuldigte sich selbst; rang die Hande; sagte, sie sei 
verloren, zeigte kataleptische Erscheinungen, machte einen gehemmten 
Einduck. Vollige gesund bis 1902, Erkrankung an Manie. 

Juli 1902. Pat. macht einen vollig luciden Eindruck, Aeusserungen 
ideenfliichtig, ringt, sohimpft, gebraucht unanstandige Ausdriicke. Gegen 
Ende des Monats leichte Beruhigung, aber zusammenhangloses Schwatzen, 
dazwischen anfallsweise schwere Erregung. 

Aug. Dauemd im Zustande zomiger Erregung, kaum zu fixieren, 
singt, lauft umher, ist gewalttatig. 

Okt. Erregung in letzter Zeit starker. Pat. ist ausserst beweglich, 
springt und tumt viel umher, wird plotzlich bosartig, schlagt imerwartet. 
Schmiert mit Urin und Kot. Grosse Gefrassigkeit, Schlingen. Reisst sich 
massenhaft die Haare aus. Zeitweilig hochgradig ideenfliichtiges Schwatzen. 
Oertlich orientiert, zeitlich anscheinend nicht. Vielfach Selbstbeschadigung. 


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550 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta 

— Hat erotische Neigungen, behauptet, nur Weiber zu Feinden zu haben. 
Lacht viel, leichter Stimmungswechsel. 

Nov. Beruhigung. Gibt lappische Antworten. [Jahr?] ,,2000.“ 
[Monat?] „Mai“; verlangt, dass man ihr mehr Respekt entgegenbringe. 
Stets unzufrieden. 

Dez. Rasch zunehmende Hemmung, spricht fast gar nicht, bald 
ausgesprochene Katalepsie und Echopraxie. 

17. XII. Zeitlich und ortlich orientiert, Krankheitseinsicht. Er- 
innert sich an Einzelheiten ihres Verhaltens wahrend ihres Erregungs- 
zustandes. Habe sich selbst beschadigt, weil sie keinen Besuch erhalten 
habe. Habe viele Stimmen von draussen und unten gehort. Habe Elektri- 
zitat auf dem Korper gefiihlt als Druck ,,von oben“. Sei kataleptisch ge- 
wesen, weil sie fur jede Bewegung geschlagen worden ware. 

19. XII. Heftiger Erregungszustand, schreit, lauft umher, behauptet. 
Gestalten gesehen zu haben. 

24. XII. Gebessert entlassen. 

Nach der Entlassimg war Pat. ganz vemiinftig, ist Verkauferin. 
Seit Anfang Juni 1909 unruhig, hatte Unannehmlichkeiten im Geschaft 
gehabt. Behauptete am 15. VI., die Wirtschafterin habe Gift in den Tee 
getan, ass und trank nicht, weil sie meinte, sie wiirde vergiftet. Am 16. VI. 
sprach Pat. viel durcheinander, dass sie vergiftet wiirde. Die Unruhe 
steigerte sich, Pat. weinte, betete das Vaterunser. 

17. VI. Bei der Aufnahme heiter, freundlich, wirft dem Arzt eine 
Kusshand zu. Spontanausserungen: ,,Wenn das meine Eltem wiissten, 
der Olle, der wiirde mich ja sehr — der kann doch nicht die Baume in den 
Himmel wachsen lessen — man kann ja auch Ballon fahren, Hergesell ist 
untergegangen — ich kann doch nicht das Geld immer stehlen — da stehen 
die Miillkasten, wieder nicht ausgeleert, alte Schweineblase — meine 
Striimpfe kosten ja 1,25 Mk. —na, so’n Saustiick — der Olle halt sich bloss 
immer die Biichsen. geh doch zu deine 011e“ u. s. w. u. s. w. [Traurig oder 
lustig ?] ,,Immer lustig und vergniigt, bis der Arsch im Sarge liegt.“ [Seit 
wann so lustig ?] Pat. gerat insWeinerliche, spricht sehr schnell. [Viel oder 
wenig Gedanken?] .,Ich hab 1000 Gedanken in Scheiss.“ [Woran?] ,.An 
gar nichts, an den heben Gott, an den Brautigam, den ich noch nicht habe — 
nicht einfach im Standesamt so zusammenlaufen — die Katholischen sind 
alle so hinterhstig . . .‘4 u. s. w. u. s. w. Pat geht im Bett hin und her, 
spuckt ab und zu, spricht sehr ausdrucksvoll. Alimahlich geht die heitere 
Stimmung in Zorn iiber. Pat. schreit, gestikuliert. Plotzlich schlagt der 
Zorn in jammemdes Weinen um: ,,. . . wie kann man bloss Biisten der 
Kaiserin hinstelien. na, wartet doch ab, bis sie tot ist, dann stellt sie hin. 
Soil man bloss sitzen und auf die Banke poussieren, na pfui . . .“ Pat. ist 
vollkommen ortlich und zeitlich orientiert, halt den Unterarzt fur den 
Brautigam der Pflegerin, auch sonst Neigung, erotische Dinge zu besprechen. 
reichlicher Gebrauch von unanstandigen Worten. 

18. VI. Vergnugte Stimmung, verunreinigt die Zelle mit Kot, 
zertritt diesen mit den Fiissen. 

23. VI. Pat. muss gefiittert werden. Spontanes bestandiges 
Schwatzen: ,,Mein Gott, mein Gott, vergib mir meine Siinden — das ist 
eine so saubere Frau — mein Gott, das habe ich doch damals vor 7 Jahren, 
ich werde nicht verriickt — kann ich denn das wissen, dass es Aerzte gibt — 
der ist doch Hoflieferant geworden, vom Konig von Spanien — der hat sich 
damals schon erbarmt, meine rechte Hand . . . die Schutzmanner sind 
alle Sozialdemokraten, ich bin die grosste, das haben sie mir alle gesagt. . 
u. s. w. [Wo hier?] ,,Eingesperrt, ich bin kein Maurer. “ [Jahr?] 
,,1909.“ [Monat?] „Juni.“ [Werich?] ,, Ich weiss doch nicht, ein Irrenarzt 
jedenfalls, es kann doch nicht stimmen, sind Sie ein Prinz ?“ [Krank ?] 
„Nein.“ [Weshalb hier?] „Ich tobe bloss manchmal, ich bin machtig 
krank. mit mir ist was los . .. sind Sie nicht mehr geistesgestort, Sie sind 
ein Prinz. “ Pat. fangt plotzlich an zu singen: „Ueb immer Treu und 
Redlichkeit.“ [Halten Sie den Unterarzt fur einen Prinz ?] „Nein. aber ich 
denke. er ist einer.“ [Wie kommt ein Prinz hierher ?] „Kaiser Wilhelm II., 
der soli leben!“ 


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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 


551 


30. VI. Dasselbe Verhalten. Spricht sehr viel. singt, aussert sexuello 
Vorstellungen. Beim Besuch der Angehorigen unterhalt sie sich wenig. 
erkannte aber alle, weinte auch. 

I. VII. Vorzugsweise Gestikulationen, ausdrucksvolles Mienenspiel. 
umklammert den Arzt, singt. 

4. VII. Pat. kniet im Bett, das Gesicht nach der Wand hin, und 

singt langsam das Alphabet herunter; Stimmung weineriich.nicht 

vome lecken und hinten kratzen — ich krame ja wieder. der Schutzmann — 
die Bachlein von den Bergen springen (singt 2 Verse richtig). dann: Mir nach. 
spricht Christus, unser Held (einVers) — vorne lecken und hinten kratzen — 
pfui Deubel — Maikatze — weil ich unter Gottes Schutze schwebe — 
gleiches vergelte ich nicht mit gleichem, nein, nein, nein — darf ich raus- 
koramen, wenn Sie erlauben, nein ? — na, dann bleib ich hier — (singt ) 
Martha. Martha, du entschwandest u. s. w. — eine Schwalbe macht noch 
keinen Sommer — a, b, c, d, e, f, g, h — Charlottcnburger Ufer 6 — konnen 
Sie mich ansehen, ja bitte. bitte, das ist nett von Ihnen — Preisend mit viel 
schonen Keden (zwei Verse richtig aufgesagt), bitte, sagen Sie, mein Vater 
war Pionier, der hat es gut mit mir gemeint — nein, nicht heute — Morgenrot, 
leuchtest mir zum friihen Tod (ein Vers) — Kronprinzessin Cacilie die erste 

— geboren 1. VII. 1871 — der kam zu spat, das ist doch mein linkes Ohr — 
jetzt knixen schon wieder meine Fiisse — ich bin klein, mein Herz ist (Pause) 

— alles neu macht der Mai 4 * u. s. w. u. s. w. Pat. kriecht im Bett herum, 
lehnt sich iiber den Rand, spricht alles langsam mit lauter, halb singender 
Stimme. 

II. VII. Dasselbe Verhalten, Reden und Gesang wie friiher. Wird 
unruhig, schlagt mit den Fausten um sich, iiberfallt die Pflegerin, sehr 
abweisend. 

15. VII. Pat. grimassiert fortwahrend, steckt die Zunge heraus, 
lehnt sich iiber das Bett, den Kopf tief nach unten gesenkt, mit den Handen 
die Zopfe tief nach unten ziehend, nimmt verschiedene Stellungen ein, 
keine sprachlichen Aeusserungen. 

22. VII. Etwas ruhiger, sparliche Aeusserungen, lauft umher, 

singt. 

24. VII. Wieder sehr erregt, zerreisst das Bett, kneift den Arzt, 
die Pflegerin, wird wiitend, schimpft, „ich bin nicht verriickt**, behauptet. 
an der Wand seien Teufelskopfe angemalt. 

27. VII. Legt sich auf den Boden, bellt wie ein Hund, raumt das Bett 
aus, schimpft und schlagt, starke Erregimg. Pat. spricht so laut und so 
schnell, dass sie ausser Atem kommt, agiert mit den Handen, Droh- 
bewegungen. 

10. VIII. Bisweilen sehr erregt, schlagt und beisst, verunreinigt 
oft die Zelle, fortgesetzt inkoharentes Schwatzen. 

Aug. Wechsel zwischen starker Erregung und ruhigeren Perioden. 
Haufig unreinlich. 

Sept. Leichte Beruhigung. Pat. schlaft fast den ganzen Tag, ist auch 
in der Nacht ruhig, dazwischen aber starke Erregung, Neigung zu aggressivem 
Vorgehen, Unsauberkeit; verunreinigt dazwischen das Zimmer mit Kot. 

30. IX. (ausserordentlich rasch, u. a.): „ . . . ich will nicht nieder- 
geschossen werden, haute vol6e, haute Wolle, na ja, franzosisch Heirat. 
manage, english spoken . . . die 3 Finger sind ausgebrochen** (deutet auf 
die Finger der linken Hand) . . . u. s. w. 

4. X. Im ganzen herrschen Zorn und Heiterkeit vor, hin und wieder 
jedoch auch ausdrucksvolles Jammem; in den letzten Wochen keine 
stereotypen Stellungen. Wiederholt haufig 10—15mal: „Herr Gott, Herr 
Gott“, oder: „Mein lieber guter Herr Oberleutnant**, jedoch stets mit aus- 
druck8voller Betonung. 

5. X. Pat. versucht of ter, ihren eigenen Urin zu trinken und ihren 
Kot zu essen. 

6. X. Pat. singt mit geschlossenen Augen: „0, Tannenbaum. 
o, Tannenbaum** u.s. w., spater ,,Raum ist in der kleinsten Hiitte fiir ein 
gliicklich liebend Paar.“ Spontan: , f O, Berlinerstrasse, Oberleutnant, ich 


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552 Albrecht, Experimentalle Untersuchungen liber die 


weiss ja selbst nicht, ob er Oberleutnant ist — Frauen geb ich nicht die Hand 
— Mein Grossvater hat immer gesagt, wenn man einen an den groasen Zeh 
fasst, dann phantasiert er — Steine fressen geht man beim Ritterguts- 
besitzer . . .“ 

11. X. Zuweilen plotzlich aggressiv, trotz ruhigen Verhaltens. 
Haufig Weinen und Schluchzen, sogar Heulen, dabei rascher Stimmungs- 
wechsel. 

25. X. Verhalten unverandert. 

Im vorliegenden Fall, der seiner Entwicklung nach durchaus auf dem 
Boden der affektiven Psychosen steht, ist ein Fortschreiten der Dauer und 
Schwere der Erregungszustande zu konstatieren. Die Inkoharenz stempelt 
den Fall zur „verworrenen“ Manie Wernickes . Die Prognose verschlechtert 
sich, und es steht zu erwarten, dass bei folgenden Rezidiven sich ein 
psychischer Defekt der Erregung anschliessen wird. Der jetzige Anfall hat 
anscheinend eine grosse Aehnlichkeit mit dem im Jahre 1902 beobachteten, 
auch damals wurde die stark erotische Farbung des Krankheitsbildes be- 
obachtet, doch war die Verwirrtheit nicht so lange anhaltend wie jetzt. 
Auch scheinen damals die Affekte lebhafter gewesen zu sein. Auch in diesem 
Falle ist keinerlei Aetiologie zu verzeichnen. 

13. T. A., 35 Jahre alt. Uebergangsform zwischen Manie und akuter 
halluzinatorischer Paranoia. 

Keine erhebliche Belastung (Vater aufgeregter Mensch, Onkel Trinker), 
normals Entwicklung. Pat. war aber nicht besonders begabt. Pat. erkrankte 
psychisch zum ersten Male 1898, war einige Monate in einer Privatirren- 
anstalt. 

2. XI. 1898. Starrer, angstlicher Gesichtsausdruck, weint still vor 
sich hin. Halt den Arzt fur den Staatsanwalt, gibt aber schliesslich zu, 
dass sie im Krankenhause ist. Pat. antwortet nur miihsam, gibt Namen, 
Alter u. s. w. zogemd, aber richtig an. 

4. XI. Pat. ist angstlich, straubt sich beim Essen, will keinen Urin 
lassen. Schlaf unbefriedigend. 

10. XI. Etwas ruhiger, sonst dasselbe Verhalten. Pat. ist orientiert. 

15. XI. Weitere Beruhigung. Pat. ist nicht ganz orientiert iiber Ort 
und Zeit, halt den Krankensaal fiir eine Kirche. Pat. antwortet schwer- 
fallig, sagt, sie wiisste nicht, wie die sie besuchenden Verwandten heissen. 

18. XL Einen Brief ihres Brautigams liest sie nicht, weiss nicht an- 
zugeben, von wem er ist, dreht ihn ratios hin und her, dabei kein sicht- 
barer Affekt. (Fortsetzung folgt.) 


(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz. 
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.) 

Experimentelle Untersuchungen fiber die Grundlagen der 
sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 

Von 

Dr. OTHMAR ALBRECHT, 

k. und k. Regimentsarzt. 

(Schluss.) 

Versuch 17. 

Versuchsperson Frau G. A., 62 Jahre alt, Nickelhandelek- 
troden. Galvanometer A (liniierte Kurve), mit 100 000 Ohm, direkt 
geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Widerstand. 
In R. der Reiz: kalte Metallplatte an der Stirn. 


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Gruiuilagen tier .sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 553 


Die Kurven dieses Versuches sind flach, wenig scharf begrenzt. 
Wir haben hier eine neue Schwierigkeit, die sich aus unserer Ver- 
suchsanordnung ergibt. Es treten namlich wahrscheinlich Aende- 
rungen der Stromintensitat auf, bevor die Bewegung der Galvano¬ 
meter nach den vorausgegangenen Impnlsen ihr Ende erreicht 
hat. Dadurch wird das ganze Bild etwas verandert, und die Kurven 

5 - . 


l—l—I—t—I_1—1—I—I_I—I_I_1—1_i_i_L_i_i—i_1—1—1_i_i—i 

1 i 3 b 3 t, 7 e 9 'll 

!i Fig. 6. 

werden, besonders wenn sich Bewegungen entgegengesetzter Rich- 
tung ablosen, flacher. Wir erhalten dadurch also nirgends die 
maximalen Grossen. Je flacher abei die Kurven sind, desto ge- 
ringer sind die beziiglichen Fehler, und wir werden am ehesten im- 
stande sein, die korrespondierenden Punkte der beiden Kurven 
zurBerechnung zu verwenden, wobei wir uns stets vor Augen halten 
miissen, dass die erhaltenen Zahlen nicht fiir den betreffenden 
durch die Zeitmarke bestimmten Punkt gelten konnen, sondern 
fiir einen etwas vorausliegenden. 

Die Berechnung von 4 Punkten ergibt: 

Punkt W E 
1 19 190 0,01439 

3 15 824 0,01305 

5 16 385 0,01498 

10 15 498 0,01395 

Diese Zahlen entsprechen im allgemeinen den Verhaltnissen 
in den zwei vorhergehenden Versuchen. Auch hier folgt, wie in 
Versuch 16, auf den Reiz zuerst eine starkere Verminderung des 
Wideretandes (um etwa 16 pCt.) und dieser erst eine Zunahme der 
elektromotorischen Kraft (um etwa 14 pCt.). Den Veranderungen 
der Zahlen fiir W folgen gleichmassig die Veranderungen der Zahlen 
fiir E, der Verminderung des Widerstandes entspricht eine gleich- 
zeitige Verminderung der elektromotorischen Kraft etc. 

Versuch 18. 



13 - 

:z r 


L-j.-l 1 1—I-1 .1 I l 1 1_1—1—1 i—i_1 1 1 1 L 1—i- 

1 l 3 M 5 t> 7 a 9 to tl ’,z 13 1 *» 


; Fig. 7. 

Monatsschrift fiir Psychiatrie und Neuroloifie. Bd XXVII. Heft 6. 


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554 Albrecht, Experiraentelle Untersuchungen iiber die 

Versuchsperson Sophie H., 18 Jahre alt, Nickelhandelek- 
troden. Ein Leclanchl-Element als korperfremde Stromquelle. 
Galvanometer B mit 600 000 Ohm direkt geschaltet (liniierte 
Kurve). Galvanometer A mit 1,0 Ohm. Nebenschlusswiderstand 
(punktierte Kurve). Reiz: Einatmen von Ammoniak. 

Die Berechnung des P. 1 nach den Formeln 14 und 15 (S. 33) 
ergibt: W = 2806 Ohm und E = 1,329 Volt, wahrend die Be- 

rechnung nach den vereinfachten Formeln W = 3040 — und 

a i 

E = 0,009a 2 ergibt: W = 2793 Ohm und E = 1,323 Volt. Die 
Fehler sind also nicht sehr gross, so dass man mit Rucksicht auf 
die sonstige Genauigkeit der Messung die vereinfachte Berechnung 
gelten lassen kann. Nach derselben ergeben sich folgende Zahlen: 


Punkt 

W 

E 

1 

2793 

1,323 

5 

3367 

1,296 

7 

3554 

1,368 

8 

3392 

1,386 

14 

3648 

1,350 


Die Zahlen von P. 1 bezeichnen uns die Verhaltnisse vor Auf- 
treten des Reizes. Wir finden vorerst einen sehr geringen Korper- 
widerstand im Vergleiche zu den friiheren Versuchen — ca. 3000 
gegen 15 000 Ohm — welcher im Verlauf der Kurven, abgesehen 
von einer Riickbewegung im P. 7, fast stetig zunimmt, im ganzen 
um etwa 27 pCt. Die Zahlen fiir E setzen sich zusammen aus zwei 
Grossen, namlich der elektromotorischen Kraft des Elementes, 
vermehrt oder vermindert um die gleich- oder entgegengerichtete 
elektromotorische Kraft des Korpers. Diese wieder besteht zweifel- 
los aus Stromen analog jenen, welche wir in der Anordnung ohne 
korperfremde Stromquelle kennen gelernt haben, und aus Polari- 
sationsstromen, welche durch die korperfremde Stromquelle er- 
zeugt werden. Fiir die Annahme anderer Stromquellen fehlen uns 
die Anhaltspunkte. Durch ein Versehen wurde das verwendete 
Element zwischen andere gestellt und dadurch unkenntlich ge- 
macht, bevor die voltmetrische Bestimmung desselben durch- 
gefiihrt werden konnte. Die Messung mehrerer Elemente aus der¬ 
selben Gruppe ergab stets 1,2—1,26 Volt, so dass wir diese Gioese 
der Spannung fiir das verwendete Element in Rechnung ziehen 
konnen. Wir werden deshalb nicht fehlen, wenn wir annehmen, 
dass sich im P. 1 ein dem Strome des Leclanch6-Elementes gleich- 
gerichteter ,,K6rperstrom“ zeigt, dass auch in den weiteren Zahlen 
keine Umkehr, sondern nur Veranderungen im gleichsinnigen 
Strome zum Ausdrucke kommen. Diese Zahlen zeigen uns Diffe- 
renzen anderer Grossenordnung — wesentlich grossere — als in 
den friiheren Versuchen. Ueberlegen wir weiter, dass der Wider- 
stand des Korpers bei derselben Versuchsperson in Versuch 16 
etwa 5—6 mal grosser war als in diesem Versuche, so ist die An¬ 
nahme gerechtfertigt, dass durch die Einschaltung einer korper- 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat 555 


fremden Stromquelle in jeder Richtung undere Verhaltnisse geschaffen 
werden konnen : Wir jinden kleineren Kdr perwiderstand, grossere 
elektromotorische Kraft. Ein Zueammenhang zwischen Zu- und 
Abnahme von E und W ist nicht erkennbar. 

Versuch 19. 



l i i 1 1 l 1 i 1 1 l 1 J L-l I I L-J 1 1—1- i 1 1—1—1—* 

t i 3 4 5 6 7 6 9 ?0 71 li 15 IV :o 17 11 19 

1 

K 

Fig. 8. 

Versuchsperson Sophie H., 18 Jahrealt. Nickelhandelektroden. 
Ein Leclanch^-Element als korperfremde Stromquelle. Galvano¬ 
meter B mit 600 000 Ohm direkt geschaltet (hniierte Kurve). 
Galvanometei A mit 1,0 Ohm Nebenschlusswiderstand (punk- 
tierte Kurve). Reiz: Stich in den Riicken. 

Nach denselben For mein wie im vorigen Vereuohe berechnet, 
erhalt man fiir 

Punkt 1 W = 2837 E = 1,260. 

Diese Werte entsprechen natiirlich wieder den durchschnitt- 
lichen Verhaltnissen vor dem Reize. Im Punkte 1, das heisst 
knapp nach dem Reize, beginnt ein Ansteigen der punktierten 
Kurve, eine Verminderung des Widerstandes. Erst im P. 3 macht 
sich ein Ansteigen der liniierten Kurve bemerkbar, eine Vermehrung 
der Stromspannung. Die Bedeutung dieser ganzen Aenderung 
konnen wir aus P. 9 berechnen. Wir erhalten: 

Punkt 9 W = 2718 E = 1,368. 

Danach tolgt ein langerer gleichmassiger Abfall beider Kurven, 
bis in P. 16 eine stationare Hohe erreicht ist. Wir berechnen fiir 

’ Punkt 16 W = 2667 E = 1,287. 

Es zeigt sich also eine Abnahme des Widerstandes im ganzen 
um 6 pCt. Wenn wir bemerken, dass der Widerstand in P. 9 
grosser ist als in P. 16, wahrend man nach der Form der punk¬ 
tierten Kurve das Entgegengesetzte verwerten konnte, wird die 
Wirkung der elektromotorischen Kraft bei der Entstehung der 
punktierten Kurve klar. Wir sehen in der punktierten Kurve eine 
Wiederholung der liniierten Kurve, welche lediglich durch die 

37* 


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556 Albrecht, Experimentelle Untersuehungen iiber die 

Wirkung der elektromotorischen Kraft entsteht, modifiziert durch 
die Wirkungen der Widerstandsanderungen. Auf diesen beruhen 
z. B. die unregelmassigen Gipfel der punktierten Kurve, welche 
wir einer Berechnung nicht unterziehen. 

Wie im vorigen Versuche, finden sich auch hier auffallend 
grosse Veranderungen der elektromotorischon Kraft, welche wir 
zwar nicht hinsichtlich der — sit venia verbo — vom Korper 
stammenden elektromotorischen Kraft prozentual ausdriicken 
konnen, welche aber in dem Vergleich zu den Verhaltnissen in den 
Versuchen ohne korperfremde Stromquelle bedeutend iiberwiegen. 

Die Beziehungen zwischen Vermehrung und Verminderung 
von E und W sind nicht deutlich. Wahrend zwischen P. 1 und P. 9 
zweifellos eine stetige Vermehrung von E stattgefunden hat, voll- 
zieht sich als Resultante scheinbar widerstreitender Impulse eine 
Verminderung von W. In der zweiten Halfte der Kurve gehen 
Verminderung von E und W zusammen. (Figur 9.) 

Versuchsperson Dr. R., 26 Jahre alt, Elektroden: Zinkstabe, 
welche in 1 proz. Zinksulfatlosung tauchen, Hande in die Fliissig- 
keit. Galvanometer A mit 20 000 Ohm direkt geschaltet (liniierte 
Kurve). Galvanometer B ohne Shunt (punktierte Kurve). Reiz: 
Schuss. 

Versuch 20. 

11 - 
12 - 
11 - 


TO - 



L L 1—I—I I I l I i 1 1 I—I—l—I—I—i—i—4—i—i—I—1 

i 2 3* 5 6 7 8 9 10 H II 13 1* 15 H JT if 

i 

* 

Fig. 9. 

Die Berechnung von P. 1, also des Zustandes vor Eintritt des 
Reizes, ergibt nach den Formeln 6 und 8 (S. 000) — wir haben hier 
wieder die Versuchsanordnung nach Fig. 1 —: 

Punkt 1 W = 7863 E = 0,01144. 

Hier muss bereits auffallen, dass sowohl der Widerstand des 
Korpers wie die elektromotorische Kraft geringer sind als in den 
anderen Versuchen ohne korperfremde Stromquelle. Im Punkte 1 
setzt bei leichtem Fallen der punktierten ein Ansteigen der liniierten 
Kurve ein, das wir aus P. 4 berechnen konnen. Es ergibt sich: 
Punkt 4 W = 9023 E = 0,01285. 

Wahrend der weitere Verlauf der liniierten Kurve auf an- 
nahernd gleicher Hohe bleibt, setzt in P. 4 eine starke Aufwarts- 
bewegung der punktierten Kurve ein. Aus P. 11 erhalten wir: 
Punkt 11 W = 5408 E = 0,01145. 


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Grundlagen der sogenannten galvanischeu Hautelektrizitat. 557 


Mit Punkt 11 beginnt ein Abfall der punktierten Kurve. Nach 
Vollendung der Bewegung haben wir, berechnet aus 

Punkt 18 W = 6838 E = 0,01169. 

Wir finden also knapp nach dem Reize eine Vermehrung der 
elektromotorischen Kraft (um etwa 12 pCt.) und eine Vermehrung 
des Widerstandes (um etwa 15 pCt.). Nach 6 Sekunden setzt eine 
bedeutende Verminderung des Widerstandes ein (um 40 pCt.), 
wahrend die elektromotorische Kraft auf das urspriingliche Maas 
zuriickgeht. Mit einer leichten Vermehrung des Widerstandes 
gegen Ende der Kurve ist auch eine geringe Zunahme der elektro¬ 
motorischen Kraft verbunden. 

In diesem Versuche zeigt sich ein Einfluss der Widerstands- 
anderungen auf die Form der liniierten Kurven. Wir sehen z. B. 
zwischen P. 11 und P. 18 eine Vermehrung der elektromotorischen 
Kraft, aber trotzdem ein Fallen der liniierten Kurve. Das kommt 
daher, dass die gleichzeitige Zunahme des Korperwiderstandes um 
1400 Ohm bei einer Einschaltung von 20 000 Ohm Apparatwider- 
stand eine Veriinderung von 7 pCt. bedeutet, also in der liniierten 
Kurve sehr zur Geltung kommen kann. 

Auch in diesem Versuche ist, wie in den anderen, ohne korper- 
fremde Stromquelle die Gleichsinnigkeit der Veranderungen von 
Korperwiderstand und Stromspannung zu beobachten. 

Die vorstehenden Versuche sind aus einer grosseren Reihe 
gleichartiger Experiments herausgegriffen. Einige Versuche, welche 
einer Nachpriifung bediirfen oder wegen der Art der Anordnung 
Ungenauigkeiten ergaben, habe ich nicht angefiihrt, mochte aber 
darauf hinweisen, um weitere Versuche anzuregen. 

Hierher gehoren vor allenx die Experiments mit Druck- 
messung am Dynamometer. 

Die Anordnung war derart getroffen worden, dass die Ver- 
suchsperson in jede Hand ein vernickeltes Dynamometer (Stern¬ 
berg) bekam, welches als Elektrode ohne korperfremde Strom¬ 
quelle in den Kreis fiihrte. Nun wurde erst mit einer, dann mit der 
anderen, schliesslich mit beiden Handen gedriickt. Die Resultate, 
welche in den Einzelheiten nicht genau sind, aber im ganzen eine 
Beurteilung erlauben, waren: Bei dem ersten Druck fiel die liniierts 
Kurve (eingeschaltet waren 100 000 Ohm) bis zum 0-Punkt, wahrend 
die punktierte Kurve ebenso rasch anstieg, um, wie die liniierts, gleich 
wieder auf die fruhere Linie zuriickzukehren. Bei dem zweiten 
Druck stiegen beide Kurven an, um allmahlich zu fallen. Beim 
Druck mit beiden Handen erfolgte eine Umkehr der Stromrichtung. 

Bei der Versuchsanordnung nach Veraguth mit fliissigen Elek- 
troden mussten in den Widerstandskreis (Stromkreis I, Fig. 2) 
eine Million Ohm geschaltet werden, das andere Galvanometer in 
einem Nebenschluss zu 0,1 Ohm stehen, und die Kurven, welche 
resultierten, waren ganz flach und fast gleichlaufend, wahrschein- 
lich, weil wegen des kleinen Nebenschlusswiderstandes die an sich 
geringen Schwankungen nicht zur Geltung kamen. 


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558 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die 

In zahlreichen Assoziationsversuchen gingen beide Kurven 
ebenfalls einander annahernd parallel, was auf eine geringe Be- 
teiligung der Wideretandsunterschiede achliesaen laaat. 

Ergebnis. 

Wir konnen nunmehr die Reaultate, welche wir aus den vor- 
atehend geachilderten Verauchen, inabesondere durch die Analyse 
der Kurven, erhalten haben, uberblicken. 

Fiir8 erst© aind wir im8tande, die einganga geatellte Frage im 
allgemeinen dahin zu beantworten, class die Stromschvxmkungen in 
jeder Art der Versuchsanordnung sowohl durch Aenderungen des 
Widerstandes als auch durch Aenderungen der elektromotorischen 
Kraft entstehen. 

Dieae Aenderungen driicken aich der Verauchsanordnung ent- 
sprechend in beiden Kurven verechieden au8. In den punktierten 
Kurven kommen die Schwankungen von Widerstand und elek- 
tromotorischer Kraft vollinhaltlich zur Geltung, indem sie aich 
im entgegengeseizten Sinne beeinfluasen. Das heiaat, eine Verminde- 
rung des Widerstandes bewirkt ein Ansteigen, eine Verminderung 
der elektromotorischen Kraft ein Fallen der Kurve. Was die Form 
der punktierten Kurven anlangt, haben wir eine Eracheinung zu 
registrieren, welche sie von den liniierten Kurven erheblich unter- 
scheidet. Wir sehen namlich meistens nach dem Heiz acheinbar 
sofort eine deutliche Schwankung in der punktierten Kurve ein- 
aetzen, sei es im Sinne dea Anatiegea (Fig. 5, 6, 8), sei es im Sinne 
des Abfalles (Fig. 7, 9). Wir miissen sagen scheinbar, denn die 
Kurven entaprechen den tatsachlichen Verhaltnissen nicht absolut 
genau, weil aie konstruiert aind und weil von einer Marke bis zur 
nachsten iy 2 Sekunden vergangen aind, innerhalb welches Zeit- 
raumes der Beginn der Bewegung fallt. Ziehen wir die Zahlen zum 
Vergleiche heran, so sehen wir mehrfach die rasch nach dem Reize 
einaetzende Schwankung der punktierten Kurve in Aenderungen 
des Widerstandes begriindet, welcher den gleichzeitigen Aende¬ 
rungen der elektromotorischen Kraft gegeniiber im Uebergewicht 
erscheint. Am deutlichaten iat dies wohl in Vereuch 16 zwischen 
P. 1 und P. 5. 

In den liniierten Kurven kommen die Aenderungen dea Wider¬ 
standes nicht oder in bedeutend vermindertem Masse zur Geltung 
(auszunehmen iat bloas Verauch 20), so dass uns dieae Kurven 
weaentlich nur die Aenderungen der elektromotorischen Kraft dar- 
stellen. Sie bilden neben den punktierten gleichsam einen Indikator 
fiir einen der beiden Faktoren, welche gleichzeitig in den roten 
Kurven wirksam werden. Die deutlichsten Ausschlage in den 
liniierten Kurven setzen ofters um mehrere Sekunden, wahrend 
welcher nur kleine Schwankungen zu verzeichnen sind, spater als 
die der punktierten Kurven bezw. nach dem Reize ein (Fig. 5, 7, 8). 
Auch diese Tatsache konnen wir in ihrer Beziehung zu den Aende¬ 
rungen der elektromotorischen Kraft in den Zahlen bestatigt finden. 


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Grundl&gen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 559 

Die Widerstandsanderungen, welche wir derart graphisch und 
zahlenmassig darstellen, konnen auf verschiedene Art zustande 
kommen: am Korper und im Korper. 

Wir haben iiber die mechanischen Ursachen derselben bereits 
am Anfange dieses Abschnittes gesprochen. Durch Bewegung her- 
vorgerufene Aenderungen der Kontaktflachengrosse oder Aende- 
rungen der Innigkeit des Kontaktes sind kontrollierbare Momente 
und durften wohl nur in einzelnen Fallen emstlich zu beriick- 
sichtigen sein. 

Weit wichtiger sind andere physikalische Aenderungen, welche 
infolge physiologischer Vorgange an der Korperoberflache zustande 
kommen. Es sind dies die Wirkungen der Sekretion. Die Ansamm- 
lung von fliissigem Sekrete in den Ausfiihrungsgangen der Driisen, 
der feuchte Ueberzug iiber die Kontaktflachen, die Durchfeuch- 
tung der obersten Hautschichten sind Momente, welche eine Ver- 
minderung des Leitungswiderstandes der Haut herbeizufiihren im- 
stande sind. Ja, wir werden daran denken konnen, dass auch die 
chemisch-qualitative Aenderung der Sekrete unter Umstanden fur die 
Widerstandsanderungen Bedeutung zu gewinnen vermag. 

Schliesslich haben wir mit Widerstandsanderungen, welche 
sich im Korper vollziehen, zu rechnen. Auch hier taucht die Frage 
nach dem elektrischen Leitungswiderstand des lebenden Korpers 
auf, deren Beantwortung durch die physikalischen Chemiker wir 
erst abwarten miissen. Sie steht im engsten Zusammenhange mit 
den Vorgangen im tatigen Organe. 

Botazzi (loc. cit.) gibt an, dass in den Organen wahrend deren 
Funktion eine Zunahme des osmotischen Druckes eintritt, aber der 
Unterschied des osmotischen Druckes wird sofort ausgeglichen, 
wenn der Blutkreislauf in den Organen ein normaler ist. ,,Die 
Steigerungen des osmotischen Druckes, die die spezifischen Funk- 
tionen in den verschiedenen Organen begleiten und sogleich aus¬ 
geglichen werden, veranlassen und unterhalten notwendigerweise 
einen osmotischen Strom von Wasser von den Fliissigkeiten des 
Organismus zu den lebenden Zellen. Schon Ranke konstatierte, 
dass der in Funktion befindliche Muskel der Umgebung Wasser 
entzieht, und Cl. Bernard beobachtete eine ahnliche Erscheinung 
in den Muskeln und Driisen. Ich habe nachgewiesen — sagt er —, 
dass das von einem in Tatigkeit befindlichen Muskel abfliessende 
Blut nicht reicher an Wasser ist als das in ihn eintretende, ja haufiger 
zeigt sich sogar das Gegenteil. Ausserdem habe ich darauf hinge- 
wiesen, dass das von einer in der Absonderung begriffenen Druse 
abfliessende Blut armer an Wasser ist, als das in sie eindringende 
und dass die Differenz genau dargestellt wird durch die Menge 
des in der abgesonderten Flussigkeit enthaltenen Wassers. 

Wie wiirde nun aber jemals das Wasser in die absondernde 
Druse eindringen, um sie mit dem Sekrete zu verlassen, wenn der 
intrazellulare, osmotische Druck nicht wahrend der Funktions- 
tatigkeit zunahme. Man kann jedoch nicht sagen, dass diese Zu¬ 
nahme durch Freiwerden von Elektrolyten durch Erzeugung freier 


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660 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

Ionen veranlasat wird, solange nur die Unterauchungen Galeottis 
iiber die elektrische Leitfahigkeit der Gewebe und Organe im Ruhe- 
zustand und nach der Funktionstatigkeit vorliegen. Diesen Unter- 
suchungen zufolge ware eine Abnahme der spezifischen elektrischen 
Leitfahigkeit in den durch ubermassige Arbeit ermiideten Muskeln 
zu konatatieren.“ 

Das 1st noch sehr wenig. Zumal Galeottis Unterauchungen sick 
grosstenteils (oder nur ?) auf herauageschnittene Gewebaatiicke er- 
atreckten. Jedenfalls fiihrt ea una aber darauf hin, dass dera Blut- 
kreislauf eine grosse Rolle beziiglich der elektrischen Leitfahigkeit 
der Organe zukommt, undwirwerden uns daran erinnern, dass achon 
Tarclianoff und apater Sticker auf plethyamographische Unter- 
suchungen — eraterer auf die Arbeiten von Mosso und Francois 
Frank, letzterer auf die von Hallion und Comte — aufmerksam ge- 
macht haben. 

Beziiglich der Schuankungen der elektromotorischen Kraft moge 
hier ein Hinweis auf Abschnitt II gestattet sein und an die Be- 
deutung, welche der Sekretion der Hautdriisen fur die Entstehung 
der unterauchten Erscheinungen zukommt, erinnert werden. Auch 
die liniierten Kurven, welche wir ala graphische Darstellung der 
Aenderungen der elektromotorischen Kraft ansehen konnen, geben 
una Anhaltspunkte im erwahnten Sinne. Zwei Tatsachen sind vor 
allem anzufhhren. Die erste ist das Bestehen einer Latenzperiode 
zwiachen dem Reiz und dem deutlichen Anstieg der liniierten 
Kurve (im Gegenaatze zum Fehlen deraelben bei den Widerstands- 
achwankungen knapp nach dem Reiz). Sie fallt zuweilen durch 
ihre Dauer auf, dauert ungleich lange, zuweilen bis zu mehreren 
Sekunden (Fig. 5, 7, 8). Die zweite Beobacktung, welche wir fast 
regelmassig machen konnen, ist folgende: Nachdem die liniierte 
Kurve einen Kulminationspunkt erreicht hat, folgt ein Abfall, der 
geringer iat ala der Anstieg, so dass der weitere Verlauf der Kurve 
auf einer hoheren Linie erfolgt (Fig. 4, 5, 7, 8). Beide Erscheinungen 
lassen sick ohne Zwang durch die Anrtahme erklaren, dass die in 
ihnen zum Ausdruck kommende Zunahme der elektromotorischen 
Kraft durch die Sekretionsvariationen bedingt ist. 

Eine Beteiligung endosomatischer Stromquellen von unter- 
geordneter Bedeutung konnen wir nicht ausschliessen, haben aber 
aua alien bisherigen Beobachtungen keinen Anhaltspunkt dafiir, 
dass bei den in Rede stehenden Erscheinungen endosomatiache 
Stromquellen wirkaam werden. Es ware ja prinzipiell mog- 
lich, daas die Stromschwankungen durch das Hinzutreten von 
vorderhand noch unbekannten endosomatiachen Quellen elektro- 
motoriacher Kraft hervorgerufen werden. Dagegen sprechen aber 
zwei Ueberlegungen. Erstens ware es unverstandlich, w r arum der 
durch dieae endoaomatische elektromotoriscke Kraft entstandene 
Strom in der Regel so gerichtet sein soli, dass seine Wirkung sick 
zu der des urspriinglichen Stromes addiert. Zweitena miissten wir, 
wenn wir die Stromschwankungen ala Effekt einer hypothetischen 
endosomatisch entstandenen elektromotorischen Kraft ansehen, 


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Grundlagen der sogenanntcn galvaiilsciien Hautelektrizitiit. 561 


gleichzeitig annehmen, dass die Wirkung der durch Aenderung 
der physikalischen und chemischen Bedingungen notwendigerweise 
entstelienden Schwankungen der elektromotorischen Kraft des ur- 
spriinglichen Stromes ausbleibt. 

Der Leichenversuch Veraguths (Monographie, p. 161) und sein 
Zweifingerversuch (1. c., p. 177) zeigen, dass auch mit Ausschluss 
der Lebensvorgange im Korper und mit Ausschluss des grossten 
Teiles des (lebenden) Korpers Strome bezw. Stromschwankungen 
darstellbar sind. 

In keiner Richtung beweisend ist aber der Nadelversuch des- 
selben Autors. Wenn wir eine Nadel unter die Haut der Hand 
stechen, eine Platte auf die Haut legen, so ist diese Nadel das 
zweite Metall des Elementes, dessen Kette durch die Elektrolyten 
der Haut geschlossen wird. Man sieht daraus hochstens, dass der 
Versuch auch ohne Mitwirkung tieferer endosomatischer Krafte 
gelingt, was von vornherein nicht zu bezweifeln war. Vemguth 
schliesst aber daraus: 

,,1. dass die Haut (der Palma manus) Antwortorgan des 
psychogalvanischen Reflexes ist, und zwar ohne Mithilfe der 
darunter liegenden Organe; 

2. dass das Phanomen sowohl (bei Vorhandesein einer exo- 
somatischen Stromquelle) in einer Variation der Leitfahigkeit, als 
auch (besonders bei Fehlen einer exosomatischen Stromquelle) in 
einer Variation in der Haut lokalisierter elektromotorischer Kraft 
begriindet sein muss.“ 

Dass wir diese Auffassung nicht teilen konnen, geht aus den 
bislierigen Ausfiihrungen hervor. Veraguth fasst eben die Tatig- 
keit der Haut im Sinne Fiirstenaus und Sommers auf, er nimmt 
an, dass sie an der Strombildung aktiv wie ein Metall beteiligt ist. 
Wir mussten diese Annahme fallen lassen (vergl. Abschnitt I). 
Damit andert sich auch die Schlussfolgerung aus dem Nadelversuch. 

DerVergleich der Hand- und Fussflache des Menschen mit dem 
elektrischen Organ gewisser Fische, den Veraguth anstellt, erscheint 
gewagt, seine Behauptung, diese Korperpartien seien ,,in bevor- 
zugtem Masse das elektrische Organ des Menschen", kanu undis- 
kutiert bleiben. 

Bei der Besprechung der nach der Anordnung Tarchanoff er- 
haltenen Kurven ist bereits bemerkt worden, dass ein Zusammen- 
hang zwischen den Aenderungen von Widerstand und elektromotori¬ 
scher Kraft besteht. Wenn wir die Zahlen der Versuche 15, 16, 17 
und 20 uberblicken, konnen wir konstatieren, dass regelmassig 
neben einer Zunahme des Widerstandes eine Zunahme der elektro- 
motorischen Kraft, dass neben einer Abnahme der elektromotori- 
schen Kraft eine Abnahme des Widerstandes nachzuweisen ist, 
dass sich also Zunahme und Abnahme in den grossen Ziigen gleich- 
sinnig andern. Nur das Qantum der Aenderung steht vielfach 
in keinem Zusammenhange zu einander. So finden wir im Ver¬ 
suche 15 (Fig. 4) zwischen P. 1 und P. 6 eine Zunahme der elektro- 


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562 


Albrecht, Experimentelle Untorsuchimgen iiber die 


motorischen Kraft um fast 100 pCt., wahrend die gleichzeitige 
gleichsinnige Aenderung des Widerstandes nur 25 pCt. betragt. 
Aehnliche Berechnungen lassen sich wiederholen. 

Es fragt sich nun, was wir in dieser Regelmassigkeit als das 
Primare anzusehen haben, was als das Sekundare. 1st die Aende¬ 
rung von W eine Folge der Aenderung von E oder umgekehrt ? 
Vielleicht ist das Abhangigkeitsverhaltnis bis zu einem gewissen 
Grade ein gegenseitiges ? Wahrend wir namlich, wie gerade er- 
wahnt, z. B. in Versuch 15 (Fig. 4), zwischen P. 1 und P. 6 ein 
wesentliches Ueberwiegen der Aenderung der elektromotorischen 
Kraft finden, sehen wir andererseits z. B. in Versuch 16 (Fig. 5) 
zwischen P. 1 und P. 5 eine Abnahme des Widerstandes um 37 pCt. 
und gleichzeitig eine Abnahme der elektromotorischen Kraft um 
nur 5 pCt., in Versuch 20 (Fig. 9) zwischen P. 11 und P. 18 eine Zu- 
nahme des Widerstandes um 27 pCt. und gleichzeitig eine Zunahme 
der elektromotorischen Kraft um nur 2 pCt. u. s. w. 

Man kann sich aber auch vorstellen, dass Widerstandsande- 
rungen in Abhangigkeit von Aenderungen der elektromotorischen 
Kraft stehen und dass die starken Differenzen dadurch zustande 
kommen, dass sich nebenbei durch Korpervorgange, welche auf 
die elektromotorische Kraft keinen oder unwesenthchen Einfluss 
haben, Widerstandsanderungen bilden. Diese wiirden natiirlich 
unabhangig von den ersterwahnten Widerstandsanderungen ent- 
stehen und miissten mit denselben galvanometrisch zu Interferenzen 
fiihren. 

Diese Vorstellung wird durch folgende Ueberlegung gestiitzt: 
Wir wissen, dass den Aenderungen der elektromotorischen Kraft 
in den Kurven vielfach eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt, 
wahrend die Aenderungen des Widerstandes neben ihnen als das 
Untergeordnete erscheinen. Wir wissen aber auch, dass, wie schon 
angefuhrt wurde, vielfach Aenderungen des Widerstandes ungleich- 
zeitig neben den Aenderungen der elektromotorischen Kraft auftreten. 
Ja, sie kommen vorwiegend dort merklich in Erscheinung, wo 
sie sich unabhangig von den Aenderungen der elektromotorischen 
Kraft ent wick ein, z. B. im Beginne der Kurve (Fig. 5, 7, 8). Das 
lasst uns annehmen, dass verschiedenartige Ursachen ungleich- 
zeitig zur Entstehung der Galvanometerschwankungen beitragen. 
Auf die vasomotorischen Aenderungen neben den sekretorischen 
ist schon hingewiesen worden. Und da die Auslosung nicht zeitlich 
so verschieden sein diirfte wie die Erscheinung, konnen wir an¬ 
nehmen, dass die zentrifugalen Bahnen verschiedene Endorgane 
des neurovegetativen Organapparates in Tatigkeit setzen, welche 
nach- und nebeneinander ihre Wirkung auf das Galvanometer ent- 
falten. Die Galvanometerschwankung, durch welche der psycho- 
galvanische Reflex zum Ausdruck gebracht wird, ist eine summa- 
rische Darstellung einer Reihe von Folge-Erscheinungen der ner- 
vosen V r organge bezw. ihres zentrifugalen Effektes; denn durch 
den nervosen Reflexvorgang im Sinne Veraguths (Kassoicitz, 
Schrader, H. Munk) werden periphere (Blutgefasse, Driisen etc.) 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 563 


Erfolgsorgane in Zustande versetzt, welche hinsichtlich ihrer Wir- 
kung auf die elektromotorische Kraft und den Widerstand des 
Stromkreises von differenter Bedeutung sind, wahrend diese Wir- 
kungen im Ansdruck der Galvanometerkurven zu einer einheit- 
lichen Linie verschmolzen erscheinen. 

Wir haben gelegentlich der Eichung unseres Apparates Ge- 
legenheit gehabt, zu bemerken, dass die Polklemmenspannung eines 
Elementes je nach dem im ausseren Kreise eingeschalteten Wider¬ 
stand wechselt (vergl. S. 30). Es ist deshalb nicbt von der Hand 
zu weisen, dass auch innerhalb eines Elementes derartige Be- 
ziehungen zwischen elektromotorischer Kraft und Widerstand be- 
stehen, und wir konnen uns denken, dass in einem Elemente, wie 
dem in unseren Versucben (Elektrode-Korper-Elektrode), in 
welchem der innere Widerstand ein ungewohnlich grosser ist, diese 
Beziehungen um so mehr zur Geltung kommen. 

Finden wir nun in unseren Versuchen einen innigen Zusammen- 
hang zwiscben den Aenderungen des Widerstandes und der elektro- 
motorischen Kraft, so diirfen wir vermuten, dass diese Aenderungen 
des Widerstandes von der Genese und den Schwankungen der elek- 
tromotorischen Kraft abhangen, so dass sie als eine Folge der 
Existenz und der Eigentiimlichkeit des Stromes erscheinen. Im 
Gegensatze zu jenen Aenderungen, welche, offenbar zentral aus- 
gelost, direkt entstehen, werden sie indirekt, wir diirfen schlecht- 
weg sagen: durch den Strom bewirkt. 

Dass die Stromspannung von Einfluss auf die Leitfabigkeit 
der Haut ist, hat Veraguth gezeigt 1 ). Unsere Versuche lehren, 
dass bei Anwendurig einer korperfremden Stromquelle, aber auch 
beziighch der elektromotorischen Kraft, vollkommen geanderte 
Verhaltnisse entstehen. 

Die nebenstehendeTabelle gibt eine Uebersicht iiber die aus den 
vorhin analysierten Versuchen gewonnenen Zablen. Schon ein 
fliichtiger Ueberbbck zeigt, dass in den Versuchen 18 und 19, 
welche in der Anordnung Veraguth$ ausgefiihrt w'urden, die Wider- 
standszahlen wesentlich kleiner sind als in den iibrigen Versuchen, 
ja selbst kleiner als im Versuch 20, in welchem durch die fliissigen 
Elektroden besonders giinstige Verhaltnisse fur den Widerstand 
geschaffen wurden. 

Ebenso ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Zahlen, welche 
die nicht aus der korperfremden Stromquelle stammende elektro¬ 
motorische Kraft angeben. grosser sein miissen, als die Zahlen in 
den iibrigen Versuchen. 

Untersuchen wir die Grasse.n der Aenderung des Widerstandes 


x ) Jahresversammlung der (iesellschalt Deutscher Xervenarzte 1908. 
Monographic, p. 165 u. ff. — Es ist fraglich. ob das, was der Autor als zweite 
Abweichung von der d'Armanschen Regel bezeiohnet (I. c., p. 168) nur eine 
temporare Erhohung der Leitfahigkeit an der Palma man us ist. Wir konnen 
vermuten, dass da auch Aenderungen von elektromotorischer Kraft mit- 
spielen. 


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564 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 


and der elektromotorischen Kraft, so finden wir als Durchschnitt 
aus den hier vorliegenden Zahlen 

in der Anordnung Veraguihs 

Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft (ein- 

schliessl. der der Elemente) 

21 pCt. 4 pCt. 

in den anderen Versuchen 

Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft 

24 pCt. 7 pCt. 

Diese Zahlen wiirden die Behauptung Veraguths, dass das 
psychogalvanische Phanomen in seiner Versuchsanordnung ein Aus- 
druck der Widerstandsvariationen der Haut sei, zwar nicht be- 
statigen, aber doch den Widerstandsvariationen gegeniiber den 
Schwankungen der elektromotorischen Kraft einUebergewicht ein- 
raumen. Nun sind in dieser Berechnung die Schwankungen der 
elektromotorischen Kraft mit Riicksicht auf die gesamte, im Strom- 
kreise vorhandene elektromotorische Kraft, d. h. einschliesslich der 
von der exosomatischen Quelle, dem Elemente, stammenden, 
prozentual ausgedriickt. Subtrahieren wir von denselben Zahlen 
die Grosse von 1,2 Volt und stellen wir dann die Berechnung mit 
Riicksicht auf die nicht vom Elemente stammende elektromoto¬ 
rische Kraft an, so erhalten wir fur die Anordnung Veraguihs 

Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft (aus- 

schliessl. der der Elemente) 

21 pCt. 59 pCt. 

Diese letzte Zahl hat nur einen approximativen Wert, weil 
die Grosse von 1,2 Volt fiir die elektromotorische Kraft des Ele- 
mentes, wie oben (S. 41) erwahnt, nicht verlasslich ist, aber wir 
werden nicht fehlen, wenn wir sagen, dass die Schwankungen der 
nicht vom Elemente stammenden elektromotorischen Kraft weitaus 
bedeutender sind als in den iibrigen Versuchsanordnungen. 

Je grosser die elektromotorische Kraft der Elemente ist, desto 
mehr miissen natiirlich die Schwankungen der iibrigen elektro¬ 
motorischen Kraft hinsichtlich ihrer Bedeutung in der OAmschen 
Formel zuriicktreten. Dass die Schwankungen der elektromotori¬ 
schen Kraft aber auch trotz Anwendung von Elementen gegeniiber 
denen des Widerstandes als ausschlaggebend zur Geltung kommen, 
lehrt Versuch 19. In diesem Versuche sehen wir das Beispiel der 
typischen Veraguthschen Kurve, und die Zahlen sagen uns, dass die 
Schwankungen der elektromotorischen Kraft (8 und 6 pCt.) wesent- 
lich die des Widerstandes (4 und 2 pCt.) iibertreffen. In Versuch 18 
haben wir ganz andere Verhaltnisse. Es sind in diesem Versuche 
aber jene Ersclieinungen erkennbar, welche Veraguth als diphasische 
Reaktion bezeichnet und die er fiir eine Seltenheit in seiner Ver¬ 
suchsanordnung halt. Ihre Besprechung soli einem spateren Zeit- 
punkte vorbehalten bleiben. 

Es fallt weiterhin bei einem Vergleich der Differenzenkolonnen 
auf, dass in den Versuchen 18 und 19 (nach Anordnung Veraguth) 


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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 565 


Versuch 

|j 

! Berech- 



Elektromotorische 

Widerstand 



und 

1 neter 

", 


Kraft 

Figur 

1 Punkt 

Absolute 

Differenz 

Absolute 

1 Differenz 

1 

| Zahl 

in °/ 0 

!j Zahl 

! in % 


1 

1 12 82b 


0,01635 ‘ 

1 

Versuch 15 



+ 23 


+ 94 

Figur 4 

6 

15 766 

— 25 

0,03169 

— 41 


14 

11 710 


0,01844 



1 1 

19 454 


0,05865 

j 

Vtrench 16 



— 39 


— 4 

Figur 5 

5 

11 815 

i 

+ 50 

0,05582 

+ 17 


12 

17 806 

1 

0,06544 



1 

' 19190 

— 17 

0,01439 

— 9 

Versuch 17 

3 

15 824 


i 0,01305 


Figur 6 

5 

16 385 

+ 3 

0,01498 

+ 15 




— 5 


— 7 


10 

15 798 


0,01395 



1 

2 793 


1,323 



& 

+ 20 


— 2 


5 

3 367 


\ 1,296 


Versuch 18 



+ 5 


+ 5 

Figur 7 

7 

3 554 

- 4 

1,368 

+ 1 


8 

3 392 

\ 

+ 7 

1,386 

— 2 


14 

3 648 


| 1,350 



1 

2 837 


1,260 


Versuch 19 



— 4 


+ 8 

Figur 8 

9 

2 718 

_ 2 

1,368 

— 6 


16 

2 667 


1,287 



ii 

1 

7 863 

+ 15 

0,01144 

+ 12 

Vtrmch 20 

4 

9 023 ! 


0,01285 


Figur 9 

11 

5 408 

— 40 : 

0,01145 

— 11 


j 


+ 26 


+ 2 

ii 

18 | 

6 838 


0,01169 



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566 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die 

die Gleichsinnigkeit der Vorzeichen, welche in alien anderen Ver- 
suchen besteht, fehlt. 

Im ganzen konnen wir sagen, dass durch die Anwendung einer 
korperfremden Stromquelle Verhaltnisse geschaffen werden, welche 
sich mehrfach von den bei der Anordnung Tarchanoff und ihren 
Modifikationen bestehenden unterscheiden und welche geeignet 
sind, die Schwankungen der elektromotorischen Kraft zu ver- 
grossern, so dass sie gegeniiber denen des Widerstandes in den 
Vordergrund zu treten vermogen. 

Schlussbemerkungen. 

Die Beobachtung, dass von den schweissdriisenreichen Haut- 
stellen des menschlichen Korpers unter Anwendung der verschieden- 
artigsten Elektroden (unpolarisierbarer, trockener metallischer, 
flussiger etc.) elektrische Strome ableitbar sind, welche nach sen- 
sorieller oder psychischer Reizung der Versuchsperson regelmassige 
Schwankungen aufweisen, hat das Interesse aller mit dem vor- 
liegenden Thema beschaftigten Autoren fur die Genese der er- 
wahnten Erscheinungen wachgerufen. In letzter Zeit wurden 
durch die wertvollen Untersuchungen Veraguths auf diesem Gebiete 
neue Perspektiven eroffnet und Anregungen gegeben, welche 
verscliiedene Autoren besonders zu umstandlichen experimentell- 
psychologischen Arbeiten veranlassten. 

Wir haben das Problem des Ursprunges der Erscheinungen 
aufgenommen und versucht, seiner Losung unter Zugrundelegung 
dreier Fragen naherzukommen: 1. Wo ist der Sitz der elektro- 
motorischen Kraft ? 2. Welches ist die Quelle der elektromotori- 
schen Kraft? 3. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren ? 

Die Beantwortung der ersten Frage (wo ist der Sitz der elektro- 
motorischen Kraft?) wurde durch eine Reihe von Versuchen an- 
gestrebt, aus welchen hervorging, dass bei der angewendeten Ver- 
suchsanordnung (ohne korperfremde Stromquelle) die Wirksam- 
keit endosomatischer Stromquellen nicht anzunehmen ist. Der 
Sitz der elektromotorischen Kraft muss demnach an den Kontakt- 
stellen gelegen sein. Die Versuche Fiirstenaus, nach welchen sich 
an den Kontaktstellen dadurch, dass der Haut die Bedeutung eines 
Metalls beizumessen ware, zwei Elemente mit einander entgegen- 
gesetzter Stromwirkung bilden, wurden einer Nachpriifung unter- 
zogen, welche dazu fiihrte, diese Annahme fallen zu lassen. Es 
erscheinen vielmehr die beiden Metallelektroden als die Pole eines 
Elementes, dessen Zusammensetzung durch die Elektrolyten am 
und im Korper vervollstandigt wird. 

Die Quelle der elektromotorischen Kraft (zweite Frage) ist 
nach den weiteren Versuchen in den Potentialdifferenzen zwischen 
den Metallelektroden zu suchen. Die Bedeutung eventuell ent- 
stehender Thermostrome ist zu vernachlassigen, hingegen ist die 
chemische Wirksamkeit des Schweisses bezw. der Hautsekrete be¬ 
sonders zu wiirdigen. Ob die Elektrolyten innerhalb des Korpers 


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Grundlagen der sogenannten galvanlschen Hautelektrizitdt. 567 


in diesen Versuclien durch Bildung von Konzentrationsketten unter 
bestimmten Verlialtnissen zur Entstehung endosomatischer Strom- 
quellen fiihren, kann nicht bestimmt werden, erscheint aber, so- 
weit sich diese Frage mit der hier beniitzten Methodik beantworten 
lasst, nicht wahrscheinlich. 

Zur Beantwortung der dritten Frage (Wie sind die Strom- 
schwankungen zu erklaren ?) wurde eine eigene neuartige Versuchs- 
anordnung hergestellt, in welcher das Prinzip realisiert erscheint, 
dass dieselbe elektromotorische Kraft in zwei Stromkreisen gleich- 
zeitig wirksam wird. Durch Einschaltung verschiedener Wider- 
stande in diese Stromkreise ergab sich die Moglichkeit der Be- 
rechnung des Korperwiderstandes, der elektromotorischen Kraft, 
sowie der Veranderungen jeder der beiden Unbekannten. Die Er- 
gebnisse aus diesen Versuchen sind verschiedenartige. Es ist vor 
allem erwiesen, dass in jeder Art von Versuchsanordnung die 
Stromschwankungen durch Veranderungen des Widerstandes und 
der elektromotorischen Kraft entstehen. Die Veranderungen dieser 
zwei Grossen vollziehen sich teils gleichzeitig, teils ungleichzeitig, 
teils gleichsinnig, teils in der Wirkung gegeneinander gerichtet. 
Daraus lassen sich Vermutungen auf den heterogenen Ursprung 
der Komponenten entwickeln, welche in der Galvanometerkurve 
der Autoren zu einer Einheit verschmolzen sind. 

Es eroffnet sich die Moglichkeit, auf den eingeschlagenen Ver- 
suchswegen Untersuchungen im Gebiete der Physiologic des Nerven- 
systems zu unternehmen, und die Vervollkommnung der heutigen 
Methoden lasst in weiterer Folge auch fur die Pathologie und viel- 
leicht die Klinik brauchbare Resultate erwarten. 

Die aus den geschilderten Versuchen gewonnenen Kenntnisse 
konnen wir zusammenfassen in folgende 

Schlusssatze. 

1. Der ohne Einschaltung einer korperfremden Stromquelle von 
der Korperobeiflache ableitbare elektrische Strom enlsteht bet unserer 
Versuchsanordnung an den Elektroden bezw. an der Kontaktstelle. 

2. Die elektromotorische Kraft mrd geliefert von den chemisch, 
wenn auch nur in geringem Masse differenten Metallelektroden im 
Vereine mit den Elektrolyten am und im Korper, deren wesentliche 
Bestandteile (Hautsekrete etc.) Schivankungen in ihrer Zusammen- 
setzung unterworfen sind. Hierbei ist es vom physikalischen Stand - 
punkte aus gleichgiiltig, ob die Elektroden direkt dem Korper auf- 
liegen oder durch ein chcmisches Ztcischenglied ( Fliissigkeit , Ton- 
zelle etc.) mit ihm in Beruhrung gesetzt werden. 

3. Wie weit die Elektrolyten des Korpers als Konzentrations- 
kette an der Strombildung mitbeteiligt sind, ware erst mit anderen 
Methoden zu ermitteln, da die vorliegenden Versuche keine Anhalts- 
punlcte fur das Vorhandensein einer auf diesem Wege entstandenen 
nennenswerten Strombildung geliefert, vielmehr das Fehlen einer 
solchen nahegelegt hdben. 


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568 


Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc. 


4. Die Stromschwankungen, welche nach den bekannten Reizen 
auftreten , beruhen auf Aenderungen des Widerstandes und auf Aende- 
rungen der elektromotorischen Kraft. 

5. Die Aenderungen des Widerstandes kommen unabhangig von 
den Aenderungen der elelctromotorischen Kraft oder im Zusammen- 
hange mit denselben vor. 

6. Die W iderstandsanderungen konnen einerseits dutch den 
Strom selbst entstehen , anderseits durch Verdnderungen , welche 
die geseizten Reize im Kbrper , besonders an den Erfolgsorganen des 
neurovegetativen Apparates hervorrufen. 

7. Bei Zunahme der elektromotorischen Kraft entsteht in der 
Regel eine Zunahme des Widerstandes , bei Abnahme der ersteren 
eine Verminderung des letzteren. 

8. Mehrere Momente sprechen dafiir. dass die Zunahme der 
elektromotorischen Kraft in erster Linie von der Sekretion der Haul - 
driisen abhangig ist. 

9. Bei Anwendung einer korperfremden Strotnquelle ist der 
Widerstand wesentlich kleiner , die elektromotorische Kraft und ihre 
Schwankungen wesentlich grosser , so dass die beziiglichen Kurven 
hdufig hauptsdchlich die Aenderungen der letzteren zur Anschauung 
bring en. 

Literature Verzeichnis. 

Arloing, Reaktion des menschlichen Schweisses etc. Lyon med. 1896. Zit. 
nach Maly, Jahresber. Tierchemie. 

Benedikt , Ausscheidung stickstoffhaltigen Materials durch die Haut. Jourm 
of biol. Chem. I. Zit. nach Maly, Jahresber. Tierchemie. 
Biedermann, Elektrophysiologie. 

Binswanger , L ., Ueber das Verhalten des psychogalvanischen Phanomens 
imAssoziationsexperiment. Inaug.-Diss. Zurich 1907 (Leipzig, Barth). 
FM, Note sur des modifications de la r6sistance 61ectrique sous l’influenco 
des excitations sensorielles et des emotions. Comptes rendus de la 
Soci£t6 de Biologie. VIII. s6rie. 5. 1888. 

Fiir8tenau, Die Stellung der menschlichen Haut in der elektrisehen Span- 
nungsreihe. Centralbl. f. Physiol. 1906. 

Hallion und Comte, Recherches sur la circulation capillaire etc. Arch, de 
Physiol. 1894. 

Dieselben, Sur les reflexes vasomoteurs buibo-m£dullaires dans quelques 
maladies nerveuses. Arch, de Physiol. 1895. 

Knauer , Ueber den Einfluss von Ausdrucksbewegungen auf das elektrische 
Potential und die Leitungsfahigkeit etc. Klinik f. psych, u. nerv. 
Krankheiten. III. No. 1. 1908. 

Koranyi und Richter , Physikalische Chemie und Medizin. Ein Handbuch. 
Peterson und Jung , Psychophysical investigations etc. Brain. Juli 1907. 
Ricksher und Jung, Nouvelles recherches etc. Ref. Revue Neurologique. 
1908. p. 750. 

Sidis und Kalmtis, A study of galvanometric deflection due to psycho- 
physiological process. The Psychological Review. Vol. XV. No. 6. 
1908. 

Sommer , Zur Messung elektromotorischer Vorgange an den Fingern. Bei- 
trage zur psychiatr. Klinik. I. p. 157. 

Derselbe. Die Natur der elektrisehen Vorgange an der Haut. Munch, med. 
Wochenschr. 1905. No. 51. 

Derselbo, Boziehungen des menschlichen Korpers zu den elektromotorischen 
Vorgangan. Vortr. Giessen 1907. Centralbl. f. Xervenheilk. 1907. 
p. 987. 


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Buchanzeigen. 


569 


Sommer und Furstenau , Die elektrischen Vorgange an der numschlichim 
Haut. Klinik f. psych, u. nerv. Krankheiten. I. Heft 3. 

Sticker , Ueber Versuche einer objektiven Darstellung von Sensibilitats- 
storungen. Wiener klin. Rundschau. 1897. No. 30, 31. 

I )erselbe. In: Comptes rendusdesstances du II. Congr&sinternat. d’6lectrologie 
etc. Bern 1902. 

Tarchanoff , Ueber die galvanischen Erscheinungen in der Haut des Men- 
schen bei Reizungen der Sinnesorgane etc. Pfliigers Arch. Bd. 46. 
1890. p. 46. 

Veraguth, Ueber den galvanischen psychophysischen Reflex. Ber. fiber den 
II. Kongress f. experiment. Psychologic. Wurzburg 1906. 

Derselbe, Le reflex psycho-galvanique et son application k l’^tude objective 
des troubles de la sensibilite. Revue Neurol. XV. 1907. p. 522. 

Veraguth und Cloetta , Klinische und experimentelle Betrachtungen an einem 
Fall von trauinatischer Lasion des rechten Stirnhirns. Deutsche Zeit- 
schrift f. Nervenheilk. XXXII. 1907. p. 407. 

Veraguth , Ueber die Bedeutung des psychogalvanischen Reflexes. Verhandl. 
d. Geseilsch. Deutscher Nervenarzte. 1907. p. 68. 

Derselbe, Zur Frage nach dem Leitungswiderstand der menschlichen Haut. 
Verhandl d. Geseilsch. Deutscher Nervenarzte. 1908. p. 172. 

Derselbe, Das psychogalvanische Reflexphanomen. Berlin 1909. S. Karger 
u. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXI u. XXIII. 


Buehanzeigen. 


Die Funktionen der Nervencentra. Prof. Dr. W. von Bechterew. Jena 1908. 

Gustav Fischer. 691 Seiten. 

Das vorliegende erste Heft bringt den allgemeinen Teil, das Riicken- 
mark und verlangerte Mark. Im allgemeinen Teil wird eine Uebereicht fiber 
die verschiedenen Untersuchungsmethoden gebracht, an die sich eine Dar¬ 
stellung der allgemeinen anatomischen und physiologischen Fundamental- 
Tatsachen anschliesst. Auch prazisiert Verfasser hier seine Stellung zur 
Neuronenlehre und den neueren Forschungsergebnissen fiber die Fibrillen. 
Im speziellen Teil wird in ausfiihrlicher Weise mit reichlicher Literatur- 
angabe die Bedeutung der einzelnen Zentren klargelegt. Eine ausffihrliche 
Besprechung erfahren die Reflexe in dem Abschnitt iiber das Riickenmark 
al8 Zentralorgan der Sensibilitat und Motilitat. In dem Kapitel fiber die 
Zentren des verlangerten Markes findet besonders die spinal-bulbare ana- 
tongische Innervation der inneren Organe eine ausffihrliche Darstellung, 
bei der die eigenen Untersuchungen und Ansichten des Verfassers besonders 
zur Geltung kommen die nicht fiberall auf allgemeine Anerkennung rechnen 
diirften. Besonderes Interesse beansprucht das Kapitel iiber die metabolisch 
thermotaktischen Funktionen, in der die Vorgange der Warmebildung und 
Warmeregulierung besprochen werden. Das letzte Kapitel behandelt die 
Leitungsbahnen des Rfickenmarks. Dem Buch ist eine Reihe von schema- 
tischen Zeichnungen beigegeben. 

Bei der bekannten Autoritat des Verfassers ist es selbstverstandlich, 
dass das gross angelegte Werk in weitestem Masse das Interesse und Studium 
aller Fachgenossen finden muss. Weder der Neurophysiologe noch der 
Neuropathologe wird es unberiicksichtigt lassen konnen—wenn auch manche 
Ansichten des Verfassers zu Widerspruch gelegentlich reizen werden. 

Forster . 

J. Dejerine und Andrd-Thomas y Maladies de la moelle epiniire . Paris 1909. 

Bailliere et Fils. 839 Seiten. 420 Figg. 

Das vorliegende Handbuch bildet einen Band des Nouveau traits 
de m6decine et de thdrapeutique, der von Gilbert und T hoi not heraus- 

Jfonateschrlft fttr Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 6. 33 


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570 


Buchanzoigen. 


gegeben wird. Es ist zweifellos den bisher erschienenen Lehrbiichem der 
Riickenmarkskrankheiten weit iiberlegen. Von der anatomischen und 
physiologischen Einleitung gilt dies alleixiings weniger als von dem klinischen 
und pathologisch-anatomischen Teil. Die Riickenmarkskrankheiten werden 
eingeteilt in „Affections secondaires 44 (Accidents medullaires au cours des 
traumatismes de la colonne vertebrate, Compression de la moelle, Mai. de 
Pott) und ,,Affections primitives 44 . Die letzteren zerfallen in Affections 
non systematises 4 4 (My61omalacie, Hematomyelie, My^lite aigue. Syphilis 
m&lullaire, Polyomy61ites anterieures aigues et subaigues, Maladie de Landry, 
Absces, Sclerose en plaques. Syringomyelic. Tumeurs, Maladie de Little) 
und ,, Affections syst&natisees 44 (Poliomy&ite anterieure cbronique, Scterose 
lat&rale amyotropbique, Tabes, Scleroses combinees etc.). Ein sehr inter- 
essanter Abschnitt ist dann noch den Lesions de la moelle dans les nevrites 44 
und den „Maladies des racines et des ganglions rachidiens 44 (Rhizopathies) 
gewidmet. Die gewahlte Einteilung hat natiirlicli auch ihre Nachteile. 
Es werden z. B. die iiberhaupt etwas stiefmiitterlich behandelten Tumoren 
des Riickenmarks, je nachdem sie extra- oder intramedullar sind, weit 
auseinandergerissen. Indessen wird es schwer sein, eine ganz nachteil- 
und einwandfreie Einteilung zu finden. Warum die Verfasser die Littles che 
Krankheit nicht wenigstens, insoweit es sich urn eine Entwicklungshemmung 
der Pyramidenbahn handelt, zu den systematisierten Erkrankungen rechnen, 
ist mir unverstandlich. Hier racht sich die von Freud u. A. inaugurierte 
Zusammenwerfung aller „Diplegien 44 ohne Riicksicht auf den pathologisch- 
anatomischen Befund auf Grund einer vermeintlich „klinischen 44 , ober- 
flachlichen Achnlichkeit des Krankheitsbildes. Die meisten Krankheits- 
bilder sind meisterhaft gezeichnet. Ungemein zahlreiche Originalfiguren, 
die fast ausnahmslos gut gelungen sind, lllustrieren allenthalben den Text. 
Natiirlicli kommen auch zahlreiche Satze und Anschauungen vor, die im 
einzelnen wohl beanstandet werden konnten. Hier ist nicht der geeignete 
Ort, auf solche strittigen Punkte einzugehen. Wir konnen den Verfassem 
an dieser Stelle nur dankbar sein, dass sie ein Werk geschaffen haben, 
welches fiir langere Zeit sehr wohl als Basis fur die Lehre von den Riicken- 
markskrankheiten gelten kann. Z. 

Arbeiten aus dem Neurologischen Institut aus der Wiener Universitat. Heraus- 
gegeben von H. Obersteiner. Bd. 18. Heft 1. 

Besonders bemerkenswert sind die Arbeiten von Yoshimura iiber das 
histochemische Verhalten des menschlichen Plexus chorioideus und von Casa- 
major iiber die Histochemie der Rindenganglienzellen. Yoshimura findet 
u. a., dass einzelne Plexuszellen auch Glykogen entlialten. Die Sekrettropfen 
■der Plexuszellen gelangen bald in Form kleinster Kiigelchen, bald in grossen 
blasigen Massen zur Ausscheidung. Sie enthalten meist an der Wand de- 
ponierte albuminoide oder lipoide Substanzen. Die Pigmentkomchen der 
Plexuszellen kommen dem Lecithin am nachsten. Casamajor findet in der 
Himrinde, abgesehen von den Albuminoidsubstanzen des Plasmas, Glykogen 
intra- und extrazellular (auch ohne manifesten Diabetes), im hellgelben 
Pigment einen dem Fett nahestehenden Korper (vielleicht ein Zwischen- 
produkt zwischen Fett und Lecithin) und schliesslich gleichfalls im Pigment 
eine dem Fibrin nahestehende Substanz. Einen ausgezeichneten Beitrag zur 
vergleichenden Anatomie liefert die Arbeit Zuckerkandls iiber die Oberflachen- 
modellierung des Atelesgehims und die Arbeit von Yoshimura iiber die 
untere Olive der Vogel. Biach kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis, 
dass die aussere Kornerschicht des Kleinhirns im Wurm friiher verschwindet 
als in den Hemispharen. Ihre Reste lassen sich selten iiber den 9. Lebens- 
monat hinaus verfolgen. In Fallen von Entwicklungshemmungen findet 
man eine pathologisch ausgebildete aussere Kornerschicht. Weitere Beitrage 
haben Lutz, Bien und Toyofuku geliefert. Z. 


Tagegge scMeh tliehfls. 

Der Allgemeine Fiirsorge-Erziehungstag findet in diesem Jahre vom 
27.—30. Juni in Rostock statt. U. a. halt Dir. Kluge- Potsdam einen 
Vortrag iiber die Behandlung der schwer erziehbaren Fiirsorge-Zoglinge 
vom psychiatrischen Standpunkt. Eine Beteiligung der Psychiater an dem 
Kongress ist dringend erwiinscht. Anmeldung bei dem Zentralausschuss 
liostock. 


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