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EX LIBRIS
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MEDICAL CENTER LIBRARY
SAN FRANCISCO
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,Monatssehrift
fur
Psycbiatrie nod Nenrologie.
Herausgegeben von
Th. Ziehen.
Band XXVII.
Mit zahlreichen Abbildungen im Text und 29 Tafelo.
BERLIN 1910
VERLAG VON S. KARGER
KARLSTRASSE 15.
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Alle Reohto vorbehalten
Gedruckt bei 1 mb erg A Lefson In Berlin W. 9.
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Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
Ein kasuistischer Beitrag
von
Prof. Dr. BUCHHOLZ,
Oberorst, Hamburg-Friedrichsberg.
(Hierzu Taf. I—II.)
Obgleich die vielumstrittene Lues-Paralvse-Frage ihre Losung
gefunden haben diirfte, tritt auch jetzt noch oftmals die Frage
an uns heran, ob neben der den Boden fiir diese Erkrankung des
Zentralnervensystems vorbereitenden Infektion nicht noch andere
Ursachen fiir denAusbruch dieses Leidens verantwortlich zu mac hen
sind. Vor allem gilt dies von den Erkrankungen an Paralyse,
die sich im Anschluss an Traumen entwickeln. Auf der anderen
Seite konnen, wie wir wissen, das Nervensystem treffende Traumen
neben den akut und direkt durch die Traumen bedingten Schadi-
gungen auch chronische Veranderungen auslosen. Allerdings sind
unsere Kenntnisse von diesen Vorgangen noch sehr wenig umfang-
reich; um so mehr wird es unser Bestreben sein miissen, diese
Erkrankungen in ihren klinischen und anatomischen Eigenschaften
zu durchforschen. Bei einer Anzahl dieser Erkrankungen, die
gewisse Ziige mit der Dementia paralytica gemeinsam haben, wird
es darauf ankommen, sie gegen dieses Leiden abzugrenzen. Dass
dies, abgesehen vondem wissenschaftlichen Interesse, auch in prak-
tischerBeziehung, vor allem in Hinblick auf unsere sozialen Gesetze,
oft von der allergrossten Bedeutung ist, braucht nicht we iter aus-
gefiihrt zu werden. Klarheit auf diesem schwierig zu bearbeitenden
Gebiete wird nur durch die Untersuchung einer grosseren Zahl ein-
schlagiger Falle zu gewinnen sein. Diese werden zudem eine bis
ins Detail gehende Schilderung erfahren miissen, damit sie nicht
nur einer kritischen Wurdigung zuganglich sind, sondern auch
einer weiteren zusamraenfassenden Bearbeitung dieses The mas
zur Unterlage dienen konnen. Einen Beitrag zu diesen Unter-
suchungen zu liefern, erschien mir das nachstehende Gutachten
geeignet.
Dem Ersuchen der Konigl. Eisenbahndirektion vora 22. \ .
d. Js. um Erstattung eines Gutachtens iiber die Erkrankung des
am 12. III. 1909 in der hiesigen Anstalt verstorbenen Arbeiters
B. beehre ich mich hiermit nachzukommen. Mein Gutachten soil
Mon&taachrift fiir Psychlatrie and Neurologie. Bd. XXVII. Heft 1. 1
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2 Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
sich dariiber aussern, ob der B. an den Folgen des am 22./23. XII.
1900 beim Eisenbahnbetrieb erlittenen Unfalles verstorben ist.
bezw. ob dies mit grosser, an Gewissheit grenzender Wahrschein-
lichkeit angenommen werden kann.
B. erlitt in der Nacht vom 22./23. XII. 1900 dadurch einen Betriebs-
unfall, dass er, iiber eine Ladepritsche riickwarts gehend, ca. 2*4 m tief auf
den Erdboden herabrutschte. Naheres iiber die Art des Sturzes, speziell
dariiber, ob er mit dem Kopfe aufgeschlagen ist, ist aus den Akten nicht
ereichtlich. Irgend eine offene Wunde scheint er bei dem Unfalle nicht
davongetragen zu haben, es ist wenigstens in dem Berichte iiber den Unfall
nifchts davon gesagt und auch nicht erwahnt, dass er geblutet hatte. Nach
den Angaben des Lademeisters F. und des Arbeiters K. wurde B. von den
Mitarbeitern aufgehoben imd in die Ar bei terstu be veibracht. Wie lange er
bewusstlos gewesen ist, ist nicht angegeben. Nachdem B. sich erholt hatte,
klagte er iiber Kopfschmerzen, nahm aber die Arbeit wieder auf und erschien
auch am nachsten Tage wieder zur Arbeit. Seiner eigenen Angabe nach
ist B. am 25. XII. nach Hamburg abgereist, wo er 14 Tage lang bei seiner
Mutter krank darniederlag. Er war darauf vom 23. I. 1901 bis zum 31. V.
1902 bei einer hiesigen Fiima beschaftigt, konnte aber nur leichte Arbeiten
vefrichten. Seitdem war er arbeitsunfahig. Unter dem 8. VII. 1902 wurde
ein Antrag auf Bewdlligung einer Rente gestellt, eine Anzeige war seinerzeit
von dem Unfall nicht gernacht worden.
Der Bahnarzt Herr Dr. W. ausserte sich in seinem Gutachten vom
6. VIII. 1902 im wesentlichen in nachstehender Weise: KJagen iiber Kopf¬
schmerzen und Sehwindel. Magerer, etwas schwerhoriger Mann. Gang lang-
sam, breitbeinig, etwas schwankend. Stehen bei geschlossenen Augen nicht
unsicher. Reflexe etwas gesteigert. Pupillen gut lichtempfindlich. Zunge
nicht zitternd und gerade liegend. Wirbelsaule und Kopf nicht empfindlich.
Beschrankung der Ei werbsfahigkeit == 75 pCt. Voraussichtlich dauernd
tell weise erwerbsunfahig.
Der Herr Sachverstandige stellte zugleich anheim, von den beiden
Krankenhausern, in welchen B. sich inzwischen aufgehalten hatte, Ausse-
rungen iiber die dort gemachten Beobacht ungen einzuziehen.
Das Hafenkrankenhaus berichtete, dass B. als Arrestant vom 18. bis
20. VI. 1902 zur Beobaehtiing dort gewesen und entlassen sei, da sich Zeichen
einer Geistesstorung bei ihm nicht bemerkbar gemaclit batten. Er hatte
angegeben, dass er infolge eines Unfalles im Jahre 1900 haufig an Kopf¬
schmerzen und Sehwindel leide. Naheres sei iiber die Unfallfolgen nicht
bekannt.
Von dem Allg. Krankenhause St. Georg konnten Angaben iiber den
Unfall und dessen event. Folgen nicht gemaeht werden. Der damals iiber
B. gefiihrten Krankengeschichte inoge lolgendes entnommen werden. Auf-
nahme 25. II. 1901: B. gab an, dass er nach dem Unfall 2 Stunden bewusst¬
los dagelegen habe. Er hatte Riickenschmerzen gehabt, eine bestimmte
Stelle hatte nicht geschinerzt, der Ko])f hatte nicht geschmerzt. Der Unfall
sei die Ursache auch seines jetzigen Leidens. Seit 14 Tagen sei er schwindlig,
matt in den Beinen. Schmerzen in der linken Seite. Reflexe gesteigert,
leichter Patellar- und Fussklonus. Riicken links unten druckempfindlich.
Unter dem 5. II. heisst os: Schmerzen in der linken Seite geringer, zeitweise
vollig geschwunden. Sehwindel besteht noch fort. 14. III.: Sehwindel und
Brustschmerzen verschwunden; geheilt entlassen. Diagnose: Neurasthenie.
Es wuide darauf das von Herrn Dr. L. unter dem 11. X. 1902 erstattete
Gutachten eingezogen. Nach demselben hat B. wahrend seines ersten Auf-
enthaltes im Hafenkrankenhause (18.—20. VI. 1902) bis auf einen etwas
langsam ablaufenden Gcdankengang etwas Krankhaftes in seinem Geistes-
zustande nicht dargeboten. Die erneute Beohachtung vom 7.—12. X. 1902
ergab im wesi*ntlichen: Magerer Mann, der langsam und zogernd spricht.
auch langsam denkt, aber sonst klar ist. Breitbeiniger, unsicherer Gang.
Unfahigkeit zur Ausfuhrimg militarischer Wendungen. Starker Romberg,
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Buchholz , Zur Beurt-eilung der Psychosen nach Unfall.
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Pupillen gleichweit, trage reagierend. Herabsetzung der Horfahigkeit, links
alte Tronunelfelldurchbohrung. Keine Narbe oder sonstige Zeichen von
Verletzungen am Kopfe. Vasomot-orisches Nachroten. Druckempfindlich-
keit der Wirbelsaule in der Gegend des 9. Brustwirbels. Heiabsetzung der
groben Kraft der Beine. Lebhaftc Kniescheibenreflexe. Keine Storungen
der Sensibilitat.
,,-Das Ergebnis unserer Untersuchung und Beobachtung lasst sich
dahin zusammenfassen, dass noch Folgen der am 22./2 3. XII. 1900 er-
littenen V T erletzung vorhanden sind, in Gestalt einer erheblichen Schwdche
der Beine, verbunden mit einer Steigerung bestiminter Reflexe und einer
umschriebenen Schmerzhaftigkeit des Riickens. Durch diese Folgen der er-
littenen Verletzung wird, da B. imstande ist, Arbeiten im Siizen zu verrichten,
seine Erwerbsfiihigkeit jetzt um 75 pCt. beeintrachtigt. 44
1903 wurde eine weitere Begutachtung des B. durch Herrn Dr. L.
herbeigefuhrt, der sich dahin ausserte, dass sich der Zustand des B. ver-
sehlechtert hat, insofern als die Schwache der Beine zugenommen, und eine
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit, sowie ein Schwund der Seh-
nerven hinzugetreten ist. Es handele sich um ein fortschreitendes Nerven-
leiden; B. sei vollig erwerbsunfahig.
Im iibrigen moge aus diesem Gutachten hier angefiihrt werden: Klagen
liber Kopfschmerzen und ein lastiges Gefiihl, als wolle oben aus dem Kopfe
etwas herausdriingen, Ruckenschrnerzen, Schwindel. Pupillen mittelweit,
r. weiter als die 1. Reaktion normal. Zunge zittert nicht, weicht etwas nach
links ab. Klopfempfindliehkeit des Kopfes. Sprache langsam, unbeholfen,
zuweilen wie abgebrochen. Romberg. Patellarsehnenreflexe verstarkt,
Achillessehnenreflexe vorhanden, rechts Fussklonus. Deutlich ausgepragter
Schwachsinn.
Es wmrde dem B. eine Vollrente zugesprochen.
Am 28. XI. 1903 liess sich B. in dem Allg. Krankenhaus Eppendorf
aufnehmen. ZurAnamnese gab er unter anderem an: Er stamme aus gesunder
Familie und sei nie ernstlich krank gewesen. Getrunken habo er fiir 10 bis
20Pfg.Schnaps. 1893 Erkrankung an Tripper. 1882 hatte er einGeschwiir am
After gehabt; er hatte damals haufiger mit Knechten im Stroh zusammen
geschlafen, moglichorweise seien ihm dabei von den Knechten die Hosen
ausgezogen und er geschlechtlich missbraucht. Beim Tragen hatte er liber
Rlicken- und Kopfschmerzen zu klagen.
Schadcl auf der linken Seite klopfeinpfindlich und hyperasthetisch
auf Nadelstiche. Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur, Augenbewegungen
frei. Pupillen gleichweit, mittelweit, reagieren piompt auf Lichteinfall und
Konvergenz. Linke Pupille etwas entrundet. Zimge zittert beim Hervor-
strecken. Armreflexe normal, Patellarsehnenreflexe sehr lebhaft, Achilles-
sehnenreflexe gesteigert, Fussklonus beiderseits angedeutet. Tremor in den
Handen und Beinen. Romberg sclies Symptom. Sensibilitat soheinbar
normal. Sprache sehr verwaschen. Silbenstolpern. Er sprach davon, dass
seine Frau in Braunschweig Hofopernsangerin sei. 9. XII. 1903 Verlegung
in die hiesige Anstait.
Ergebnis der korperlichen Untersuchung: In der Mitte des linken
Schei tel heir res eine ca. 3 cm lange, nicht mit dem Knochen verwachsene
Narbe; der Knochen ist daselbst etwas eingedriickt. Die Stelle ist hochgradig
hyper algetisch. 3 cm ab warts davon eine kleine, auf Druck gleichfalls, aber
weniger, empfindliche Stelle. Eine weitere Narbe 5 cm iiber dem rechten
Warzenfortsatz. Der Schiidel ist in totoerheblich druck- und klopfeinpfindlich.
Starres. ausdrucksloses Gesicht. R. Pupille weiter als 1., beide Pupillen nicht
garxz kreisrund. Augenbewegungen frei. R. Faciaiisgebiet weniger gut
innerviert als das I. Zunge weicht nach r. ab. Miissig v'iel Hals- und Nacken-,
keine Leistendrusenhyj>erplasien. Hypospadie; die Harmohre miindet am
proximalen Drittel des Penisschaftes. Pupillen-Reaktion ausgiebig auf Licht¬
einfall und Akkommodation. Hautreflexe und Cremasterreflexe prompt.
Pateliarsehnen-Reflexe gesteigert, Achilles-elmen-Reflexe vorhanden, rechts
lebhnfter als links. Tricepsreflex lebhaft. Deutlicher Romberg. Gang un-
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Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen. nach Unfall.
sicher, spastisch und ataktisch. Sensibilitatsstorungen nicht nachweisbar.
Periphere Arterien zum Teil geschlangelt und rigide. Sprache hasitierend
und artikulatorisch gestort. Schrift etwas unsicher und^zittrig.
B. erschien geistig geschwacht und vor allem sehr gehemmt, er war
ruhig und sauber, aber sehr indifferent. Rechnen schwach, konnte vor allem
keine eingekleideten Aufgaben losen. Er wusste nicht, wie lange er im Eppen-
dorfer Krankenhaus gewesen war, noch weswegen seine Frau in r Braun¬
schweig zuruckgeblieben war.
Auch in der Folge war er sehr apathisch, er klagte viel liber" Scheitel-
kopfschmerzen, die auf Druck zunahmen. AIs er im Januar das Bett ver-
lassen durfte, war er sehr unsicher auf den Fiissen und klagte viel fiber
Riickenschmerzen, vor allem bei Druck auf die Weichteile links neben dem
unteren Abschnitte der Brustwirbelsaule. Er war andauernd indifferenter
Stimmung, apathisch, unfahig zu irgend einer Beschiiftigung.
Eine Unteisuchung am 18. VI. 1904 ergab: Befund am Schadel und
Riicken unverandert. Gang sehr unsicher, langsam, spastisch, gelegentlich
hochgradig ataktische Bewegungen und Taumeln. Allgenieine Hypalgesie.
Pupillen-Reaktion prompt auf Licht und Akkommodation. Patellar- und
Achillessehnen-Reflexe gesteigert. Sprache schleppend und verwaschen,
aber nicht eigentlich artikulatorisch gestort. Augenluntergrund: Venen links
starker gefiillt als rechts. Beidereits Arterien vielleicht eine Spur enger als
in der Norm. Papillen graurotlich, kein Farbenunterschied zwischen rechts
und links.
B. hatte ein deutliches Krankheitsgefiihl, seine Apathie war etwas
zuriickgegangen, er beschaftigte sich ein wenig mit Unterhaltungsspielen
imd unterhielt sich auch einmal mit den anderen Kranken. Er hielt sich
fiir arbeitsunfahig, war andauernd ruhig und geordnet. Am 12. IX. 1904
wurde er entlassen.
Am 4. I. 1907 wurde B. wiederum der hiesigen Anstalt zugefiihrt.
Ueber sein Ergehen in derZwischenzeit ist nichts bekannt. Den Polizeiakten
ist zu entnehmen, dass er sich von seinem Vater ernahren liess und sich bis
auf die letzte Zeit im allgemeinen ruhig verhalten hat, dann aber erregt
wurde.
Status somaticus: Hinfalliger, schlecht genahrter Mann, Facialis-
f ebiet schlaff innerviert. Beide Pupiilen verzogen, etwas zogernd einsetzende
ichtreaktion. R. Pupille weiter als die linke. Triceps- und Achillessehnen-
Reflexe lebliaft, Patellarsehnen-Reflexe sehr gesteigert. Keine Blasen- und
Mastdarmstorungen. Allgemeine Schmerzunterempfindlichkeit. Gang
spastisch, breitbeinig, kann kaum allein gehen. Sprache verwaschen, aber
frei von eigentlichen artikulatorischen Storungen; Testworte werden gut
nachgesprochen. Schrift unsicher, zittrig.
Dementer, leidender Gesiclitsausdruck. B. war iiber Ort und Zeit
orientiert, er wusste, dass er bereits einmal hier gewesen war, konnte sich
aber der Namen nicht mehr eriimern. ,,Er fiihle sich seit Jahren krank.
hatte unfahig zur Arbeit zu Hause gesessen, sein Vater hatte ihn schon
Weilinachten gesund machen sollen, wie dies auf seinem Konfirmations-
schein geschrieben stande; da dies nicht geschehen sei, hatte er seine Uin-
gebung ofters mit Schlagen bedioht.* 4 Er w T ar apathisch, sein Gesichtskreis
sehr eingeschrankt, starke Apathie. B. ist ausserordentlich ermiidbar; so
ist seine Merkfahigkeit zuerst ganz gut, bald aber kann er nicht mehr aui-
passen, fasst nicht mehr auf und begimit zu faseln.
Gegeh Ende Januar 1907 zeigte er voriibergehend eine Gehstorung
vollkommen funktionellen Charakters (Abasie, Astasie). Auch seine Sprach-
storung hatte insofem eine funktionelle Farbung, als er voriibergehend
ganz gut sprach.
In der Folge keine nennenswerte Aendertmg des Verhaltens. Friihjahr
1907 fiihrte B. zeitweise unsinnige Selbstgesprache und war hin und wiedcr
erregt; er schrie dann, zerrLss seine Bettwiische und trommelte mit seinen
Fiissen gegen das Fussbrett seines Bettes*
Die Inteliigenzstorung nahm im Laufe der Zeit zu, meist vei stand er
gar nicht mehr die an ihn gerichteten Fragen; seine Stimmung war dabt»i
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B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
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andauernd heiter, voi fiber gehend war er euegt und schrie sinnlos vor sich
hin. Der Kraftezustand ging langsam zurfick, er wurde allmahlich ganz
hfilflos und schliesslieh vollkommen unsauber bei seinen Bcdurfnissen.
Ebenso versehlechterte sich seine Sprache.
Ini Anfange des Jahres 1909 nahm der Verfall einen schnelleren Fort-
gang. B. hustete viel, er nahm andauernd ab; es stellte sich ein Blasen-
katarrh ein, Schluckbeschwerden traten ein, die Nahrungsaufnahme wurde
ungenugend. In den Beinen bildeten sich Kontrakturen aus, sodass die
Kniee hoch am Korper emporgezogen wurden; er verblodete vollig, so dass
es schliesslich nicht mehr moglich war, mit ihm in einen geistigen Konnex
zu treten. Meist war er ruhig und heiter, vorlibergehend stiess er unartiku-
lierte Laute aus.
Marz 1909 begann B. starker zu husten; eine Untersuchung war nicht
moglich, da B. sofort unsinnig zu schreien begann. Am 12. III. 1909 trat
-der Tod ein.
Von dem Ergebnisse der am 13. III. vorgenommenen Sektion moge hier
angefiihrt werden:
Hochgradig abgemagerte Leiche. Riickenmarkshaute zart, kaum
verdickt. Hinterstrange vielleicht ein wenig verfarbt. Schadel von ge-
wohnlicher Grosse. Diploe geschwunden, Dura blass, keine Pachymenin¬
gitis, weiche Haute diffus weisslich verfarbt und verdickt. Gefasse der Basis
zart. Im Gebiet der linken Zentralwindungen und an der linken oberen
Sehiafenwindung eystische Einsenkungen. Seitenventrikel nicht erweitert.
Ependvm glatt. Im IV. Ventrikel eine Spur von Ependymitis. Gehirngewicht
unzerschriitten 1250. zerschnitten 1220 g.
Herz von normaler Grosse, in der Aorta Spur von Atheromatose.
In der Spitze der linken Lunge eine kleine Narbe, im Unterlappen diffuse
kilsige Herde. Der Oberlappen der rechten Lunge ist mit kasigen Herden
durchsetzt, die iibrigen Lappen weniger stark erkrankt.
Frontalschnitte durch das Gehirn zeigen, dass die Rinde des Stirnhims
nicht wesentlich verschmalert ist, wenngleich die einzelnen Gyri nicht ganz
so breit sind, wie normal.
Ergebnis der mikroskopischen Untersuchung:
Ruckenmark: Die weichen Haute sind in geringem Grade verdickt.
Zwischen ihren bindegewebigen Zfigeri finden sich an einzelnen, nicht gerade
zahlreichen Stellen teils in der Xahe von Gefassen, toils in deren adven-
titiellen Geweben, teils aber auch ohne einen derartigen Zusaminenhang
Ansammlungen von Zellen, die zu einem kleinen Teile den Charakter von
Plasmazellen an sich tragen. Xirgends prasentieren sich Bilder, wie sie bei
der sogenannten kleinzelligen Infiltration anzutreffen sind. Die Gefasse
weisen auch sonst nur sehr geringe Veranderungen auf. Nur an sehr wenigen
Stellen, so in der Arter. spin. ant., ist auf kurze Streeken. eine immer aber nur
mini male Verdickung der Intima festzustellen. Die Wandungen einzelner
Gefasse zeigen die Erscheinungen der hyalinen Degeneration, ein Gefass
war sogar vollkommen hyalin degeneriert, sein Lumen war geschwunden.
seine Wandungen in gleichmassige, konzentrisch angeordnete hyaline
Masson umgewandelt.
Li den IPen/err-Praparaten fallt ohne weiteres eine starke Degeneration
in dem Gobiete der Vorder-Soitenstrtinge auf. Wahrend die Hinterstrange
tiefschwarz erscheinen, ist das ganze Gebiet der Yorder-Soft oust range etwas
hell und in ihm das Areal der Pyramiden-Seitenstrange, ho wie die Kandzone
von den Hinterwurzeln an bis fiber das Gebiet des Tract, spino-cerebellar.
ant. hinaus fast lveiss. Dabei spring! die Degeneration in dem Rayon des
Tract, spino-cerebellar. ant. nach dem Zentrum zu vor, so dass diese Strange
in ihrer ganzen Ausdehnung erkrankt erscheinen. (Fig. 1 und 2.)
Van G ieson- Pr a par ate zeigen. dass an dieser so ausgedehnten De¬
generation zwei Prozesse beteiligt sind. die an ihren Grenzen allerdings in-
einander iiberfliessen. Einmal handelt es sich um eine Randgliose, die im
Gebiet der Hinterstrange sehr gering ist, zentralwarts von den Hinterwurzeln
sehr machtig wird, um dann waiter nach der vorderen Riickenmarksspalte
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t> Buchholz, Zur Beurteilung dcr Psychosen nach Unfall.
zu beinahe vollstandig zu schwinden. Da, wo diese Randgliose einiger-
massen stark entwickelt ist, findet sich ein dichtes Netz von derben Glia-
fasern. welchem Kerne nur in geringer Zahl angelagert sind. In diesem
Netze sind nur noch vereinzelte Nervenfasern aufzufinden. Wie iminer
in derartigen Fallen, ist die Wucherung der Glia an der Peripherie am
starksten und dringt von ihr aus in Pyramidenform an den einzelnen Septen
entlang nach dem Zentrum des Riickenmarks vor. Schwer verstandlich ist es
dass dieser Prozess irn Gebiet des Tract, spino-cerebellar. ant. so weit zentral-
warts vorgeschritten ist, so dass man auf den ersten Blick eine primare De¬
generation dieses Stranges vor sich zu haben glaubt. Gegen die Annahine
einer Strangdegeneration spricht aber einmal die Art der Gliawucher ungen,
dann aber auch der Umstand, dass auch hier die Starke der Gliawucherung
von der Peripherie nach dem Zentrum an Intensitat abnimmt. Es diirfte
sich also auch hier nur um eine Randgliose handeln, die, ebenso wie den
Tract, spino-cerebellar. ant., auch den Tract, spino-cerebellar. poster. — die
Kleinhirnseitenstrangbahnen — zui Degeneiation gebracht hat.
Die Erkrankung im Areal der Pyr. S. St. bietet dagegen das Bild
jenes Degenerationsvorganges, in welchem, wie z. B. bei den absteigenden
Degenerationen, die Veranderung der Nervenfasern das Primare und die
Gliawucherung das Sekundare ist. So ist im Gebiet e der Pyr. S. St. die Glia
allerdings auch gewuchert, sie erscheint jedoeh nicht annahernd so derb
wie in der Randgliose und enthalt reichiich Kerne. Vielfach trifft man hier
auf junge, wuchernde Gliazellen. Die Nervenfasern sind hier zum Teil bereits
vollkommen zugrunde gegangen, zum Teil sind ihre Markscheiden und
Achsenzylinder gequollen oder lassen sonstige Erscheinungen des Zei falls
erkennen. (Schlangelung der Achsenzylinder, korniger Zerfall der Aehsen-
zylinder, Hineinwuchein von Gliazellen in den Raum der Markscheide etc.)
Die Lichtung in den iibrigen Gebieten der Vorder-Seitenstrange ist,
wie die van Qwson -Praparate gleichfalls zeigen, darauf zuriickzufuhren,
dass zerstreut Fasern zugrunde gegangen oder in Entartung begriffen
sind und sich eine geringe Vermehrung der Glia entwickelt hat.
Mit am auffallendsten sind in den van 6'ieson-Praparaten die Yer-
anderungen an den Gefassen. Die Wandimgen beinahe samtlicher Gefasse
sind in mehr oder minder starkem Grade verdiekt, wodurch die Gefasse
scharf hervortreten. Infolge dieser Wandverdickung heben sich auch die
kleineren Gefasse scharf von ihrer Umgebung ab, sodass es den Anschein
gewinnt, als ob auf den einzelnen R. M.-Querschnitten viel mehr Gefasse
als in der Norm vorhanden sind. Diese Zunahme der WancLstarke ist dabei
nicht sowohl durch Wucher ungen der Intima und Adventitia als vielmehr
durch eine Dickenzunahme der Muscularis bedingt. Diese hebt sich zudeni
dadurch scharf ab, dass sie den der hyalinen Degeneration eigenen Glanz
erkennen lasst. Vereinzelt liegen mehrere Gefassquerschnitte, teils als
Ringe, teils als mehr oder minder langliche Ellipsen, hart nebeneinander
und sind von einer gemeinsamen verdiehteten Gliahiille umgeben. Es kann
sich bei diesem Befunde nur darum handeln. dass die Gefasse sich aufge-
knauelt haben und so mehrfach auf den Querschnitten erscheinen. Dieselbo
Erscheinung ist im Gehirn, und zwftr viel haufiger und in ausgedehnterer
Weise zu beobachten, worauf hier gleich hingewiesen werden mag. In der
Umgebung der im allgemeinen mit Blut stark angefiillten Gefasse sind
wohl ofters mehr Zellen als in der Norm anzutreffen, nirgends aber bietet
sich ein der kleinzelligen Infiltration ahnliches Bild dar.
Dagegen finden sich an nicht zahlreichenStellen zerstreut in der weissen
und grauen SubstanzAnsammlungen von meist elliptischen oder auch runden
Kernen, die sich tief dunkelblau far ben. Diese Kerne liegen nicht dicht
beieinander, sondern sind meist durch schmale Briicken nicht weiter ver-
anderten Gewebes voneinander getrennt, so dass sie lockere Haufen bilden.
Entsprechende Kernsammlungen sind im Gehirn und auch im Kleingehirn
anzutreffen; ich werde spater naher auf dieselben eingehen. (Fig. 3 graue
Substanz des r. Vorderhorns. Van Gic^on-Pra[>arat.)
Gehirn: Die weichen Haute bieten im wesentlichen den gleichen Be¬
hind wie die Haute des Riickenmarks. Sie zeigen eine gewissc Verdiekung
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B u c h h o 1 z , Zur Beurt ©iking der Psychosen imcli Unfall. 7
und sind an den verschiedensten Stellt n von Ansnmmlungen von bald me hr
runden, bald inehr kubischen oder langlichen Zellen durchsefczt, von welehen
eine gewisse Zahl bei geeigneter Farbung die Charakteristika der Plasma-
zellen aufweist. Zu betonen ware bier, dass sich eine miissige Anhaufung
von Zellen oder gar eine sogenannte kleinzellige Infiltration nirgends findet,
und dass die pathologisehen Veranderungen iiber dem Stirnhirn erheblich
schwacher sind als iiber dein hinteren Teile des Hirns und speziell iiber
den Hiiiterhauptslappen. Ebenso zeigten auch die Gefiisse im wesentlichen
dassell>e Bild wje die Gefasse der Kiickenmarkshaute. auch hier fand sieh
eine Zahl mehr oder minder stark hyalin entarteter Arterien.
JFeiVjrert-Praparat© liessen einen iiber den ganzen Hirnmantel - es
wurden Stuck© aus dem Stirnhirn, den Zentralwindungen und Hinterhaupts-
lappen untersueht •— ausgebreiteten geringen Aunfall von markhaltigen
Nervenfaaem erkennen, der besonders das intra- und supra-radiare Netz
l>etraf, wahrend die Tangentialfasem relativ gut erhalten waren. Hervor-
gehoben soi dass auch im Stirnhirn Gyr. rect. I. Frontalwindung, Stirn-
pol — von einein erheblichen Faserschwunde nichts zu erkennen war. Ebenso
war ein nennenswerter Ausfall von Fasern im Markweiss nicht zu kon-
statieren, wenngieich die Markstrahlung in einzelnen Windungen nicht so
dicht war wie ini normalen Gehirn. Ein zirkumskriptei starker Ausfall
von Nervenfasern war dagegen im 1. Hinterhauptslappen aufzufinden. Auf
Schnitten, die den 1. Hinterhauptslap|>en senkrecht durchsetzten, hob sich
nach aussen und dicht neben dem hier nur noch spaltformigen End© des
Hinterhorns, ahnlich gebogen wie dieses, ein heller Streif ab, der somit im
wesentlichen in das Gebiet der Kadiat. occipito-thalamic. imd vieileicht
auch noch zum Teil in das des Fasc. longitudinal, inferior hineinfiel.
An dieser Stelle, die auch am geharteten Piaparat auffallend weich
war, hatte sich, wie dies van 6te*on-Praparate zeigten, ein schwerer Krank-
heitsprozess abgespielt. Die Nervenfasern waren hier zum grossten Teil zu-
grunde gegangen, das gauze Gebiet war von grossen. zum Teil rundlichen,
zum Teil unregehnassig gestaJteten Zellen eingenommen. Diese Zellen
hatten me 1st einen sehr grossen Kern. Ein Teil von ihnen wies regressive
Veranderungen auf, ihr Protoplasma hatte sich nicht mehr gut gefarbt,
erschien nicht gleichmassig, vielfach sogar kriimelig; ihre Kerne waren blass,
manchmal nicht mehr scharf begrenzt. In der Mehrzahl der Zellen handelte
es sich sicher uin gewueherte Gliazellen, hatten sie doch auch zum Teil das
Aussehen der sogenarmten Gitterzellen. Eine Keihe dieser iiberaus zahl-
reichen Zellen mag wohl auch von einer Proliferation der Zellen der
adventitiellen Scheiden herriihren. Gerade in dieser zirkumskript erkrank-
ten Zone waren vielfach Gefasse aufzufinden, deren Scheiden sozusagen
mit Zellen austapeziert waren; an so manchen Stellen liess sich sogar
erkennen, dass einzelne der wuchernden Zellen noch mit dem Bindegewebe
der Gefassscheide in Verbindung standen. An einzelnen Stellen innerhalb
dieser Partie war eine Struktur des Gewebes iiberhaupt nicht mehr zu er¬
kennen, es war das Gewebe hier zerfallen, erweicht.
Im iibrigen zeigten auch die van Gieson- Praparate, dass der ganze
Gehimmantel krankhaft affiziert war. Es handelte sich uberall um den
gleichen Prozess. der aber in den verschioctenen Gegenden eine verscliieden
starke Intensitiit aufwies. und — es entspricht dies vollkommen dem an
den IFettferf-Praparaten erhobenen Befunde — im Hinterhauptslappen
starker entwickelt war, als iiber dein Stirnhirn.
Ueberall war es zu einer Wucherung des Stiitzgewebes gekommen, die
sich, wie auch sonst bei ahnlichen Prozessen, besonders in der obersten
Hindenschicht am stiirksten bemerkbar machte. Hand in Hand mit dieser
Wucherung der Glia ging eine Vennehrung der Gefiisse. Es liess sich mit
Leichtigkeit in den Schnitten eine Neubildung von Gefassen in der be-
kannten Sprossen- und Schlingenbildung nachweisen. Auch sonst waren
die Gefiisse in ihrer Mehrzahl pathologisch veriindert. Im wesentlichen
handelte es sich um die gleichen Piozesse wie bei den Gefassen des Riieken-
inarks, es zeigte jedoch im Gehirn die Muscularis der Gefiisse nicht an-
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8 Buchliolz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
nahernd so stark die Neigung zu hyalinen Veranderungen. Sehr zahlreich
war im Gehirn die bei der Beschreibung des Riickenmarks erwahnte Knaue-
lung der Gefasse. Eine grosse Zahl von Gefassen wies auch insofern Veran¬
derungen aul, als ihr ardventitielles Gewebe Wucherungsvorgange erkennen
liess und von einer bald grosseren, bald kleineien Zahl von Zellen durch-
setzt war, von welchen eine gewisse Menge die Merkmale der Plasmazellen
an sich trug. Nicht selten war auch die Umgebung der Gefasse mit Zellen
durchsetzt. Immer aber erreichten diese Zellwucherungen nieraals einen be-
sonders hohen Grad. (Fig. 4 Gyr. rectus. Fig. 5, Sehrinde. Van Gieson-
Farbung).
Ebenso wie in derRinde, war auch in dem Markweiss eine Wucherung
dei Glia nicht zu verkennen, es fanden sich hier alle die verschiedenenUeber-
gange von jungen, noch mehr rundlichen Exemplaren von Gliazellen bis zu
den Formen der friiher als Spinnenzellen ganz treffend bezeichneten Gebilde.
Die Gefasse des Markweisses zeigten, wenn auch im schwacheren Masse,
die den Veranderungen der Rindengefasse entsprechenden Prozesse.
Liessen bereits die van Gieson -Piaparate erkennen, dass es zu einer
weitverbreiteten Erkiankung der Nervenzellen gekommen war, so zeigten
dies noch deutlicher die Nissl- Piaparate. In diesen liess sich nachweisen,
dass nur eine kleine Zahl von Zellen vollkommen der Norm entsprach,
wahrend das Gros der Zellen allerlei Veranderungen aufwies, auf die hier
nicht naher einzugehen sein diirfte — Verwaschung der typisehen Zeichnung.
Kornelung. Sklerosierung - -. Zu einem vollkommenen Untergange und
Schwunde von Rindenzellen ist es jedoch sicherlich nur in sehr beschranktem
Masse gekommen, da von einer Verodung der Rinde von Zellen nichts wahr-
zunehmen war. Vor allem aber konnte in den Nissl -Praparaten nach-
gewiesen werden, dass die Anordnimg und Lagerung der Zellen irgend welche
besonderen Storungen nicht erfaliren hatte. Es wiesen vielmehr die Zellen
iiberall — ich botne dies besonders fiir das Stirnhirn — die der Norm eigen-
tiimliche Anordnung in Zellen- re-p.Reihenform auf. (Fig. 6, Gyr. frontalis I.
Fig. 7, Sehrinde.)
Wie bereits erwahnt, finden sich auch im Gehirn jene eigenartigen
Ansammlungen von Keinen reap. Zellen, und zwar sehr viel haufiger im
Mark weiss als in der Rinde. Ein Teil dieser Zellen war rundlich, mit grossem.
bald mehr, bald weniger tiefdunkel gefarbtem, manchmal etwas gelapptein
Kern, so dass sieeineAehnlichkeit mit ausgewanderten weissenBlutkorperchen
hatten. Bei einer Reihe anderer Zellen handelte sich es um grosse Zellen
mit reichlichen Protoplasma, allem Anschein nach also um wuehernde
Gliazellen reap. Abkdmmlinge mesodermalen Gewebes, also der Gefass-
scheiden, Einzelne, aber immer nur eine beschrankte Zahl dieser Zellen
eiwiesen sich bei geeigneter Farbung als Plasmazellen. Im allgemeinen
liess sich eine Beziehung dieser locker aneinander gelagerten Zell-Ansamm-
lungen zu den Gefassen nicht herausfinden; sie waren nur selten in derNahe
grosserer Gefasse anzutreffen. Viele waren, wie dies bei ihrer Ausdehnung
nicht anders zu eiwarten ist, zwar von Kapillaren durchzogen oder lagen
in der Nahe von Capillaren oder kleineien Gefassen, es liess sich aber auch hier
ein Zusammenhang zwischen diesen und den Zell-Ansammlungen nicht
entdecken. «
Ueber das Ergebnis der Untersuchung des Kleinhirns kaim ich mich
ganz kurz fassen. Es fanden sich im wesentlichen normal© Verhaltnisse vor,
aber auch hier waren im Markweiss jene eigenartigen Zellansaminlungen
zu konstatieren, einmal wurde auch eine derartige Zellanhaufung in der
obersten Rindenschicht des Kleinhirns aufgefunden.
Ueber das Ergehen und den Gesundheitszustand des B. vor
dem Unfalle ist nichts bekannt. Ob er syphilitisch infiziert war,
wissen wir nicht. Seiner etwas phantastischen Angabe, dass er als
Junge im Jahre 1882 — geboren 1867 — bei paderastischen Akten
infiziert worden sein konnte, mochte ich eine Bedeutung nicht bei-
legen, zumal er. als er diese Angabe machte —1903—. geistig bereits
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!5 it <• h li o 1 z . Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 9
geschwacht war, so dass er bei einer etwas energischen Aufnahme
der Anamnese sehr leicht zu einer derartigen Aeusserung kommen
konnte. Aus der Kinderlosigkeit seiner Ehe konnen irgendvvelche
Schliisse nicht hergeleitet werden. da sie ohne weiteres auf die
Missbildung seines Penis zuriickgefiihrt werden kann. Es bleibt
daher die Frage offen, ob B. syphilitisch infiziert gewesen ist. Die
neuerdings bekannt gewordenen Untersuchungsmethoden (Wasser-
manwsche Reaktion) zum Nachweis einer derartigen Infektion
konnten bei B. noch nicht herangezogen werden.
Auch liber den Unfall ist nur wenig bekannt. Wir wissen nur,
dass B. ca. 2 1 * hinabgestiirzt und bewusstlos gew r esen ist. Wie
lange die Bewusstlosigkeit angehalten hat, ist unbekannt; seiner
Angabe nach ware er 2 Stunden bewusstlos gewesen. Jedenfalls
hat er. da die Bewusstlosigkeit eine geraume Zeit angehalten hat,
eine Hirnerschiitterung erlitten. Aeussere Verletzungen hat B. bei
dem Sturze allem Anscheine nach nicht davongetragen. Aufzu-
klaren war nicht. wo und wann er die Kopfverletzungen erlitten
hat. deren Folgen in der Gestalt von Narben hier in der Anstalt zu
konstatieren w'aren. Wenn nicht, was kaum anzunehmen ist, die
Narben bei der Untersuchung im Hafenkrankenhaus (Gutachten
vom 11. X. 1902) ubersehen worden sind, miisste B. in der Zeit
zwischen seiner Aufnahme in das Hafenkrankenhaus und in die
hiesige Anstalt — 9. XII. 1903 — diese Verletzungen davongetragen
haben. Als ein ursachliches Moment fur die Erkrankung des B.
konnen sie nicht in Betracht kommen, da die ersten Axizeichen
seiner zum Tode fiihrenden Erkrankung bereits vorher konstatiert
w'aren.
Die Symptome eines schweren Nervenleidens haben sich bei B.
schleichend entwickelt, sie setzten alsbald nach dem Unfall ein und
nahmen langsam, aber stetig an Intensitat und Umfang zu.
Am Tage nach dem Unfall nahm B. die Arbeit wieder auf,
arbeitete nur kurze Zeit, ging dann zu seiner Erholung zu seinen
Kltern, um dann nach mehreren Wochen von neuem mit der Arbeit
anzufangen: er konnte aber nur leichte Arbeiten verrichten;
ca. 17 Monate nach dem Unfall wurde er arbeitsunfahig. In dieser
Zeit war er voriibergehend in dem Hafenkrankenhause und dem
Allg. Krankenhause St. Georg. In den Krankenhausern hat er be¬
reits angegeben, dass er infolge eines Unfalles erkrankt sei, und
hat u. a. iiber Schmerzen und Schwindel, sowie iiber Schwache in
den Beinen geklagt. Damals wurde bereits eine Steigerung der
Reflexe an den Unterextremitaten und ein Patellar- und Fussklonus
konstatiert; Erscheinungen, welche auf eine Affektion der Seiten-
strange des Riickenmarks hinw'eisen. Da damals ein Antrag auf
Rente noch nicht vorlag. erscheint es ausgeschlossen, dass B.
simuliert oder seine Leiden iibertrieben hatte.
Von dem mit der Untersuchung des B. beauftragten Herrn
Dr. W. wurde gleichfalls eine Reihe von Svmptomen festgestellt.
die auf eine Affektion des Nervensystems hinwiesen.
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10 B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung <ler Psyehosen nacli Unt'all.
In dem vonHerrnDr. L. imOktoberl902 erstatteten Gutachten
wird bereits eine Storung der psychischen Funktionen erwahnt
und bemerkt, dass bei B. schon im Juni 1902, also vor der Stellung
des Antrages auf Rente, eine Verlangsamung des Gedankenablaufes
aufgefallen sei. In dem Gutachten des Herrn Dr. L. ist dann
bereits eine Reihe ganz ausgesprochener Symptome einer organi-
schen Erkrankung des Zentralnervensystems angefiihrt: Druck-
empfindlichkeit der Wirbelsaule, Herabsetzung der Kraft der
Beine, Unsicherheit des Ganges und bei Ausfiihrung schneller
und exakter Bewegungen, Steigerung der Patellarsehnenreflexe,
Rombergsches Symptom, Tragheit der Pupillenreaktion, keine
S ensibilitdtsstdrungen.
Eine Zunahme und das Hinzutreten einiger weiterer Krank-
heitssymptome — Erkrankung der Sehnerven — konnte Herr
Dr. L. im nachsten Jahre konstatieren. Von dem sonstigen da-
maligen Befunde mag hier nosh erwahnt werden: Klagen fiber
Kopfschmerzen, eigenartiges Gefiihl im Kopfe, Schwindel, Klopf-
empfindlichkeit des Kopfes.
Der im November 1903 in dem Allg. Krankenhause Eppendorf
erhobeneBefund deckt sich im wesentlichen mit dem in der hiesigen
Anstalt gewonnenenUntersuchungsresultate: Hyperalgesie iiber dem
linken Scheitelbein, Druck- und Klopfempfindlichkeit des ganzen
Schadels, Gesicht ausdruckslos, Verschiedenheit in der Weite der
Pupillen, Schwache im rechten Facialisgebiet, Steigerung der
Patellarsehnenreflexe, Rombergsches Symptom, Sprache gestort.
Schrift zittrig, Gang unsicher, spastisch, atrophische Prozesse
an den Sehnerven. RensihilUdtsstdrungen nicht nachiveisbar .
Diese somatisehen Krankheitserscheinungen haben im Laute
der Zeit stetig zugenommen. 1907 war B. ein hinfalliger Mann.
Sein Gesiehtsausdruck war dement, leidend, die Gesichtsmuskulatur
sehlaff, wenig gut innerviert, die Pupillen verzogen,trage reagierend.
verschieden weit; sehr starke Steigerung der Patellarsehnenreflexe.
Breitbeiniger, spastischer Gang, Sprache verwaschen. aber nicht
eigentlich artikulatoriseh gestort. Schrift unsicher, allgemeine
Schmerzunterempfindlichkeit. Keine Blasen- und Mastdarm-
storunqen.
Gegen Ende des Lebens bildete sich schliesslich noch eine
starke Kontraktur der Beine aus.
Voriibergehend traten zu diesen organisch bedingten Storungen
funktionelle, psychogene Symptome, so jene voriibergehende
Astasie und Abasie.
Hand in Hand mit dieser Zunahme der somatisehen Symptome
nahmen die psychischen Storungen andauernd an Intensitat und
Umfang zu. Bei seiner ersten Aufnahme in die hiesige Anstalt
bereits erschien B.. bei welchem, wie erwahnt, bereits vorher
Anomalien auf geistigem Gebiet zur Beobachtung gekommen
waren. geistig geschwacht. Vor allem war er in krankhafter Weis e
indifferent und interesselos; er fasste schwer auf, seine Merk
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H u c h h o I z . Zur Heurteiluiig dor Psychoseii nach Unfall.
11
fahigkeit war in erheblichera Grade beeintrachtigt. Auffallend war.
dass B. dabei andauernd ein lebhaftes Krankheitsgefiihl hatte.
Dieses bestand auch noch nach seiner zweiten Aufnabme in die
hiesige Anstalt im Jahre 1907 fort, die Apathie batte dagegen sehr
zugenommen, zudem war er geistig ganz ausserordentlicb erraiidbar.
Damals machte sich dannauchbereitseineschwereUrteilsunfahigkeit
bemerkbar. B. faselte bereits vielfach vollkommen sinnloses Zeug.
Grossenideen ausserte er dabei nie, hochstens konnte seine ge-
legentliche Angabe, dass seine Frau als Opernsangerin in Braun¬
schweig geblieben sei, in diesem Sinne verwertet werden. Ebenso
fehlten hypochondrische oder Kleinheitsvorstellungen. Das
psvchische Yerhalten des B. war dabei andauernd durch gewisse
eigenartige Ziige ausgezeichnet. So erschien er infolge seiner
Apathie meist geistig viel geschwachter, als er war, so gelang es auch
in spateren Stadien seiner Erkrankung noch oft, wenn er einmal
aus seiner Apathie herauszubringen war, ganz zutreffende Ant-
worten von ihm zu erhalten. Sodann hatte er auch, als sein Leiden
schon sehr weit vorgesehritten war, immer noch ein ausgesprochenes
Krankheitsgefiihl und ein erhebliches Verstandnis fur seine Lage.
Erst in seinen letzten Lebensjahren entwickelte sich bei ihm eine
vollkommene Verblodung, aber auch in dieser Zeit bot er immer
noch manches Eigenartige dar; so war sein Gesicht zwar blode,
batte aber doch nicht ganz die absolute Leere so mancher anderer
vollverblodeter Kranken, speziell nicht die Charakteristika des
Aussehens paralvtisch Kranker in den letzten Stadien.
Dass es sich bei B. um eine schwere organische Erkrankung
des Zen trainer vensystems handelte, kann nach dem ganzen
klinischen Bilde nicht bezw r eifelt werden. Es weist hierauf, abgesehen
von den korperlichen Krankheitssymptomen, auch die Art der
Verblodung hin. Klar war ohne weiteres auch, dass nur ein sehr
langsam fortschreitender Prozess diffuser Art in Frage kommen
konnte, da sich die Krankheitserscheinungen so ausserordentlich
langsam entwickelten und irgendwelche Herdsymptome nicht zur
Beobachtung kamen. Es konnte somit bei den diagnostischen
Erorterungen eine ganze Reihe von Erkrankungen des Zentral-
nervensystems ohne weiteres ausser Betracht bleiben. Es konnte
sich hochstens um einen sich ausserordentlich langsam entw ickeln-
den Tumor, etwaeinGliom,umeineohneLokalerscheinungeneinher-
gehende Lues cerebri, um eine eigenartig verlaufende Arterio-
sklerose, um eine Dementia paralytica oder um eine sonstige, nicht
naher bekannte organische Erkrankung des Zentralnervensystems
handeln. Dass ein langsam wachsender Tumor vorliegen konnte,
war durchaus unwahrscheinlich, da nicht nur alle Herdsymptome
fehlten, sondern auch keine fiir die Diagnose eines Tumors ver-
wertbaren Allgemeinsvmptome — Hirndruckerscheinungen, Puls-
verlangsamung, Stauungspapille, die den Tumorkranken eigenen
psychischen Symptome — vorhanden waren. Ebenso musste auch
die Annahme, dass eine Lues cerebri oder eine Arteriosklerose dem
Leiden zugrunde lage, von der Hand gewiesen werden, da diese
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B u c h h o 1 z . Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
Erkrankungen kaum einmal Herdsymptome vermissen lassen und
auch sonst in ihrem Verlaufe so manches von dem vorliegenden
Krankheitsbilde Abweichendes darbieten. Es spitzt sich somit
die Frage dahin zu, ob wir bei B. eine Erkrankung an Dem. pa¬
ralytica (Gehirnerweichung) oder eine andere, eventuell durch das
Trauma ausgeloste, vorlaufig pathologisch-anatomisch noch nicht
naher definierbare Affektion des Nervensystems vor uns haben.
Ohne Frage findet sich bei B. eine ganze Reihe von Sym-
ptomen, die sich mit dem Bilde der Dem. paralytica wohl vereinigen
lassen; so ist denn auch in dem Allg. Krankenhause Eppendorf
und auch hier zuerst diese Diagnose gestellt worden. Sieht man.
aber genauer zu, so trifft man immer wieder auf einzelne Er-
scheinungen, die zu dem Bilde der Dem. paralytica nicht so recht
passen. So fallt schon der langsame Verlauf der Krankheit auf; wir
haben allerdings gerade in den letzten Jahren so manche Erkran¬
kungen an Paralyse kennen gelernt, die erst nach einer noch er-
heblich langeren Krankheitsdauer zum Ende fiihrten, immerhin
jedoch gehort es zu den Ausnahmen, dass die Kranken ihrem
Leiden erst 8 Jahre nach dem Beginne der Erkrankung erliegen.
Meist handelt es sich zudem in diesen so iiberaus langsam ver-
laufenden Erkrankungen um als aszendierende oder Tabes-Para-
lysen bezeichnete Formen, bei welchen, nachdera lange die Sym-
ptome der Hinterstrangerkrankung bestanden haben, erst spat die
sonstigen korperlichen Krankheitserscheinungen und die Symptome
auf psychischen Gebiete einsetzen. Um eine derartige Paralyse
handelte es sich bei B. sicherlich nicht, da bei ihm gerade die Sym¬
ptome der Seitenstrangerkrankung von Anfang an das Bild be-
herrschten. Sodann fallt es auf, dass die Erscheinungen der Seiten-
strangdegeneration bereits so ausgesprochen waren, als sich auf
psychischem Gebiete die ersten Aberrationen bemerkbar machten.
Sehr bemerkenswert war weiterhin, dass Hinterstrangsymptome
eigentlich iiberhaupt nicht zur Beobachtung gekommen sind. So
ist immer wieder in der Krankheitsgeschichte betont, dass Sen-
sibilitats-, sowie Blasen- und Mastdarm-Storungen nicht zu kon-
statieren waren. Die fiir die Annahme einer Hinterstrangerkran¬
kung zu verwertenden Angaben iiber Unsicherheit bei Bewegungen
und die vereinzelt und wohl nicht ganz treffend als ataktische
Storungen bezeichneten Erscheinungen lassen sich aber ebenso
gut auf die Seitenstrangerkrankung zuriickfiihren. Dasselbe gilt
von dem im allgemeinen durchaus korrekt als Hinterstrangsymptom
gedeuteten Romberg&chen Symptom, da auch dieses Auftreten
anders, namlich durch eineErkrankung derKleinhirnseitenstrange—
Tract, spino-cerebellar. post — erklart werdeii kann. Ebensowenig
ist — um dies nur zu erwahnen — die gegen Ende des Lebens auf-
tretende Unsauberkeit in dieser Richtung zu verwerten, da letztere
auf die vollige Verblodung des Kranken zuriickzufiihren sein diirfte.
Aehnlich verhalt es sich mit dem zuletzt sich entwickelnden
Blasenkatarrh, da derartige Storungen bei lange Zeit bettlagerigen,
hochgradig dekrepiden, auf die Befriedigung ihrer Bedurfnisse
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Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 13
nicht mehr achtenden Kranken eich sehr leicht einstellen. Dieses
Fehlen der Hinterstrangsymptome ist aber einmal deswegen von
so grosser Bedeutung, weil auf die Seitenstrange des R. M. voll-
kommen beschrankt bleibende R. M.-Degenerationen bei der
Dem. paralytica iiberhaupt selten sind, dann aber sich eigentlich
nur in den Fallen vorfinden, die relativ friih zum Exitus fuhren.
Bei B. handelte es sich aber gerade urn eine sehr langsam ver-
laufende Erkrankung, so dass sich dieses Fehlen der Hinterstrang-
erscheinungen mit der Diagnose Dementia paralytica nicht recht
vereinen lassen will.
Dasselbe gilt von dem spaten Einsetzen der psychischen
Krankheitserscheinungen, worauf schon vorher hingewiesen ist,
von den lebhaften subjektiven Klagen in der ersten Zeit der Er¬
krankung, dem lange anhaltenden Schwindelgefuhl und dem auch
in den spateren Stadien der Erkrankung noch fortbestehenden
Krankheitsgefiihl. Im einzelnen, glaube ich, hierauf im Hinblick
auf die vorstehend gegebenen ausfiihrlichen Schilderungen nicht
weiter eingehen zu miissen.
Nicht unerwahnt mochte ich in dieser Beziehung auch die
noch so lange nachweisbare Hyperalgesie der 1. Schadelhalfte
lassen. Es muss hierbei freilich bemerkt werden, dass es nicht aus-
geschlossen ist, dass diese Ueberempfindlichkeit vielleicht mit der
spater erlittenen Kopfverletzung in Zusammenhang stehen konnte.
Auffallend ist auch die Form der Sprachstorung; dieselbe ist
zwar von einzelnen Seiten als artikulatorisch bezeichnet worden,
an anderen Stellen ist aber eigens betont, dass eine eigentliche
artikulatorische Sprachstorung nicht vorlag. Ich selbst, der ich
mich mit B. sehr viel beschaftigt habe, kann nur sagen, dass eine
Sprachstorung vorhanden war, die aber anders war als die bei
der Dem. paralytica gewohnlich anzutreffende. Gleiches gilt von
der in der Krankengeschichte erwahnten Schreibstorung.
Andererseits fehlt bei B. eine ganze Reihe von Symptomen.
die wir sonst bei der Dem. paralytica anzutreffen pflegen. So ist
nichts davon bekannt, dass B. jemals einen jener der Dem. paraly¬
tica eigentiimlichen apoplektiformen resp. epileptiformen Anfalle
erlitten hat. Jedenfalls ist er in der langen Zeit seines hiesigen
Aufenthalts — rund 3 Jahre — niemals von einer derartigen Attacke
heimgesucht worden.
Ebenso haben auch Erregungszustande, wie sie sonst bei einer
langeren Krankheitsdauer immer einmal zur Beobachtung kommen
und so oft gerade im Beginne des Leidens sich bemerkbar machen.
bei B. niemals bestanden. Ich sehe dabei ab von den Zustanden
bidder Erregung in der allerletzten Krankheitsperiode,, die zwar
mit ahnlichen Zustanden bei der Dem. paralytica vieles gemeinsam
hat, aber doch fur dieses Leiden nicht so pathognomonisch ist, wie
d ie manieartigen Erregungen in den f riiheren Stadien der Erkrankung.
So fehlte denn auch die der Dem, paralytica eigene krankhafte
Euphorie in dem Krankheitsbilde des B.; auch sie kam erst zur
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14 B u c h h o 1 z , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
Becbachtung, als er vollig verblcdet war, und lasst sich nicht ver-
gleichen mit jener Euphorie, die so oft in dem Friihstadium der
Dem. paralytica anzutreffen und fiir den Kranken und seine Um-
gebung oft so verliangnisvoll ist. Hand in Hand damit geht wohl
auch der Mangel an Ueberschatzungsideen. Desgleichen vermissen
wir auf der anderen Seite bei B. die Verstimmungen und die mit
ihnen so oft einhergehenden nihilistischen resp. hypochondrischen
Vorstellungen; es fehlt auch der fiir die Dem. paralytica so
charakteristische Stimmungswechsel, der die Kranken so haufig,
wie Kinder, in dem einen Augenblick lachen und in dem nachsten
weinen lasst.
Bemerken mochte ich schliesslich noch, dass auch die Art,
in welcher B. schliesslich verblodete, manches Abweichende von
dem Bilde der Dem. paralytica darbot. So war ganz ausserordentlich
lange Zeit seine intellektuelle Leistungsfahigkeit resp. die Beschran-
kung seiner Leistungsfahigkeit im wesentlichen durch seine schwere
Indifferenz, seine starke Ermiidbarkeit bedingt, und auch in den
spateren Stadien seines Leidens konnte er, wenn es ihn aufzu-
riitteln gelang, noch immer leidlich gut auffassen und urteilen.
Ich kann freilich hier nicht verhehlen, dass bei der Beurteilung
dieser Erscheinungen der personliche Eindruck sehr viel ausmacht,
da es nicht recht moglich ist, alle diese feinen Unterschiede so zu
beschreiben, dass der Leser sich ein vollkommen klares Bild machen
kann. Es verhalt sich dies ahnlich wie — um hierauf noch zuriick-
zukommen — mit der Beurteilung des Gesichtsausdruckes. Auch
von ihm kann ich nur sagen, dass er etwas anderes war, als wir ihn
gewohnlich bei paralytisch Kranken sehen; im einzelnen diese feinen
Nuancen anzufiihren, vermag ich freilich nicht..
Alle diese Erwagungen haben mich bereits frtiher zu der An-
nahme gefiihrt, dass es sich bei B. nicht um eine Dem. paralytica
handelt, sondern um eine andersartige, chronische, durch den
Unfall bedingte diffuse Erkrankung des Zentralnervensystems.
In diesem Sinne ist denn auch die Krankengeschichte des B. von
einem hiesigen Arzte, Herrn Dr. //ascAe-Kliinder, in einer Arbeit
,,Uber atypisch verlaufende Psychosen nach Unfall“‘) aufge-
nommen worden. Es muss dabei freilich zugegeben werden, dass ein
stringenter Beweis dafiir, dass eine Dem. paralytica nicht vorliegt,
nicht zu erbringen war, sodass es sich nur um eine Wahrschein-
lichkeits-Diagnose handeln konnte.
Leider hat auch die anatomische Untersuchung, wie gleich
hier erwahnt sein mag, vollige Klarheit nicht schaffen konnen.
Es liegen hier die Verhaltnisse in vieler Beziehung ahnlich
wie bei der klinischen Beurteilung des Krankheitsfalles. Eine
ganze Reihe von Veranderungen gleichen in weitgehendem Masse
den bei der Dem. paralytica zur Beobachtung kommenden Pro-
zessen, wahrend eine Anzahl anderer bei diesem Leiden kaum
einmal oder wenigstens nur hochst selten vorkommen.
') Archiv fiir Psychiatrie. Bd. 11.
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B u c h h o 1 7 . , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 15
Der Befund am Schadel bietet nichts besonders Bemerkens-
wertes. Pachymeningitische Prozesse waren nicht vorhanden, ein
Befund, der nicht fur die Annahme einer Dem. paralytica spricht,
da in derartig lang verlaufenden Fallen die harten Hirnhaute
meist auch von krankhaften Prozessen ergriffen sind. Die weichen
Hirnhaute waren getriibt und hydropisch; sie boten ein Aussehen,
das gut zu dem Bilde der Dem. paralytica passt; auffallend war
jedoch, dass die Trubung sich auch tiber die Hinterhauptslappen hin
erstreckte, die bei der Dem. paralytika fast immer vollkommen
frei von derartigen Prozessen bleiben.
Das Gehirngewiclit war reduziert — nor males Hirngewicht
des Mannes nach Schwalbe 1375 g — aber doch nicht so niedrig,
wie wir es bei Paralytikern nach so langen Stadien der Erkrankung
anzutreffen pflegen. Diesem durch die Gewichtsabnahme be-
kundeten Untergange von Substanz entsprach es, dass die Win-
dungen eine Verschmalerung und eine Reihe von zirkumskripten
Einsenkungen zeigten. Sehr auffallend ist es dabei, dass die Win-
dungen des Stirnhirns von dieser Reduktion durchaus nicht be¬
sonders stark betroffen waren. Gerade sie sind es aber, die bei der
Dem. paralytica im allgemeinen von diesem Schwunde am starksten
heimgesucht werden. Aehnliches gilt von dem Fehlen der Er-
weiterung der Seitenventrikel und der Ependym-Granulationen
in den Seitenventrikeln, sowie der so geringen Entwicklung der
Ependymitis granularis im 4. Ventrikel, Veranderungen, die bei
der Paralyse nach so langem Bestehen der Erkrankung kaum ein-
mal vermisst werden.
Ebenso stimmen auch die mikroskopisch nachweisbaren
Veranderungen mit dem gewohnlich bei der Dem. paralytica zu
erhebenden Befunde nicht recht uberein. Die Verdickung der
weichen Haute des Gehirns und des Riickenmarks war nicht so
hochgradig w ie bei dieser Erkrankung, und auch ihre Durchsetzung
mit Zellen und vor allem die Infiltration um die Gefasse herum
nicht so stark wie bei der Dem. paralytica. Dass auch hier Plasma-
zellen nachgewiesen werden, moge an dieser Stelle nur erwahnt
werden, ich werde auf das Vorkommen dieser Zellen und seine
Bedeutung sogleich zuriickkommen. Die Gefasse der weichen H aute
waren zart und liessen endarteriitische Wucherungen kaum einmal
erkennen; ebenso w f ar es nicht zu starkeren Wucherungen des
adventitiellen Gew'ebes gekommen. Nicht mit dem iiblichen Befund
bei der Dem. paralytica stimmt es uberein, dass eine nicht uner-
hebliche Zahl von Gefassen hyaline Veranderungen aufwies.
Das eben Ausgefiihrte gilt in gleicher Weise fiir die Gefasse
des Gehirns und des Riickenmarks. Auch hier fanden sich in den
Gefassscheiden und in der Umgebung der Gefasse, aber auch frei
im Gewebe Plasmazellen vor. Das reichliche und diffuse Vor-
kommen dieserZellenformen ist in gewdssemSinne pathognomonisch
fiir die Dem. paralytica; es diirften diese Zellen, wie vor allem
Xi-sd und Alzheimer nachgewiesen haben, nie bei dieser Erkran¬
kung vermisst werden. Auf der andern Seite ist aber das Vor-
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1(5 Buchliolz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
handensein dieser Zellformen, das im wesentlichen ein Ausdruck
fiir das Bestehen eines chronischen oder subakuten entziindlichen
Prozesses ist, nicht auf die Dem. paralytica beschrankt, aller-
dings — ich mochte in dieser Hinsicht nur auf die neuerdings er-
schienene Arbeit von Behr ») hinweisen — finden sich diese Zellen
dann nicht so zahlreich und in so diffuser Ausbreitung vor. Be-
raerken mochte ich dabei aber auch gleich, dass diese Unter-
suchungen samtlich erst neueren Datums Bind und diese Fragen
mithin noch einer definitiven Entscheidung harren. Ich glaube
daher, dass der vorliegende Befund nicht ohne weiteres zu dem
Schlusse drangt, dass hier eine Dem. paralytica vorliegen miisse.
Auf die eigenartige, an einzelnen Stellen nachweisbare Auf-
knauelung der Gefasse glaube ich hier nicht weiter eingehen zu
miissen, da sie weder nach der einen noch nach der anderen
Richtung hin verwertbar ist.
Eine weitere Veranderung aber, die stets bei der Dem. para¬
lytica anzutreffen ist, wurde auch bei B, aufgefunden. Es ist dies
die Neubildung von Gefassen, ein Befund, der, soweit ich sehen
kann, von mir 2 ) zuerst erhoben und von anderer Seite, vor allem
von Nissl 3 ) und A Izheimer 3 ), bestatigt ist. Aber auch von ihm gilt im
wesentlichen das oben Gesagte; es handelt sich um einen Prozess,
der bei der Dem. paralytica nie vermisst wird, aber auch,
wenngleich seltener, bei anderen krankhaften Prozessen innerhalb
des Zentralnervensystems vorkommt.
Gleichfalls nicht vollkommen stimmen iiberein mit den Be-
funden bei der Dem. paralytica die bei B. erweisbaren Prozesse
an dem Stiitzgewebe. Allerdings ist es auch hier ebenso wie bei
der Dem. paralytica, zu einer Wucherung der Glia gekommen;
diese Wucherung halt sich aber in relativ becheidenen Grenzen
und hat auf jeden Fall nicht annahemd eine Starke erreicht, wie sie
nach einem so langen Bestehen einer Erkrankung an Dem. paraly¬
tica zu erwarten ware.
Die Nervenzellen der Hirnrinde waren grosstenteils krankhaft
verandert, es war jedoch, was bei der Dem. paralytica nach einem
so langen Bestehen der Erkrankung eigentlich immer der Fall
ist, nicht zu einem ausgedehnten, vollkommenen Untergange von
Zellen gekommen. So fanden sich hier in der Rinde nicht Stellen
vor, an welchen von Ganglienzellen iiberhaupt nichts mehr zu ent-
decken war. Hiermit und mit der doch immer beschrankten Wuche-
rung der Glia und den gegemiber der Paralyse nur massig starken
Prozessen an den Gefassen hangt es denn auch zusammen, dass die
Nervenzellen der Rinde im wesentlichen ihre normale Anordnung
beibehalten habcn. Bei der Dem. paralytica ist nun aber die
l ) fiber die Bedeut-ung der Plasmazellen fiir die Histopathologie der
progressive!! Paralyse. Allg. Zeitsclir. fur Psychiatrie. Bd. 66.
*) Verhandlungen des Xatur-historischen Med. Vereins zu Heidelberg
N'. F. Bd. 4. 1S8S.
*) Histologische und histopathologisehe Arbeiten iiber die Gross-
liirnrimle, berausgegebeix von A iissl. Bd. J. 1904.
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B u c h li o 1 z , Zur Beurteilung der Psychoaen nach Unfatl. 17
normaler Weise vorhandene gleichmassige Anordnung der Zellen
in schwers ter Weise gestdrt.indem dieZellen nicht nur ihre der Norm
entsprechende Anordnung in Zeilen- und Reihenform verlieren,
sondern aueh ihre normale, senkrecht zur Rindenoberflache ge-
richtete Lagerung einbiissen, vielfach schief liegen und manchmal
sogar wie durcheinandergewirbelt erscheinen.
Sodann mochte ich einen Punkt noeh besonders hervorheben.
Im allgemeinen ist bei der Dem. paralytica die Ausbreitung des
krankhaften Prozesses derartig, dass die pathologischen Ver¬
anderungen in den vorderen Partien des Gehirns, speziell im Stirn-
hirn, am starksten entwickelt sind und nach dem Hinterhauptpol
zu an Intensitat abnehmen; so sehen wir denn auch gar nicht selten,
dass die weichen Haute iiber den Hinterhauptslappen und die Rinde
des Occipitalgebiets von Veranderungen vollkommen frei sind,
wahrend sich in den vorderen Hirnpartien bereits schwere Prozesse
etabliert haben. So ist denn auch bei der Dem. paralytica der
Schwund der Rindenfasern in dem Stirnhirn sehr stark, wahrend
in den Hinterhauptslappen kaum etwas von einem Untergange
dieser Fasern zu entdecken ist. Bei B. finden wir nun aber gerade
ein entgegengesetztes Verhalten: bei ihm sind gerade die vorderen
Partien des Gehirns von den krankhaften Prozessen weniger in
Mitleidenschaft gezogen als die Hinterhauptslappen. Schon ein
Vergleich der beigegebenen Fig. 4 und 6 auf der einen und 5 und 7
auf der anderen Seite diirfte dies erkennen lassen.
Schliesslich ware auch von jenen vorstehend geschilderten
haufenartigen Ansammlungen von Zellen im Riickenraark und
Gehirn zu sagen, dass sie sich den uns bekannten Befunden bei der
Dem. paralytica nicht recht einreihen lassen. Wohl kennen wir
Zellinfiltrationen der Paralyse in der Umgebung der Gefasse, es
handelt sich dann aber immer um Stellen, in weichen die Gefasse
selbst, vor allem ihre adventitiellen Scheiden, eine Wucherung
erkennen lassen, auch ist dann die Ansammlung der Zellen er-
heblich dichter, als in dem vorliegenden Falle.
Jenem in dem Hinterhauptslappen gefundenen Herde mochte
ich bei der Beurteilung eine weniger grosse Bedeutung beilegen,
da es sich bei ihm um eine relativ frische Veranderung handelt
und schliesslich ja auch bei der Dem. paralytica einmal ein kleinerer
Erweichungsherd auftreten kann.
Recht wesentlich wichen auch die Veranderungen im Riicken-
mark von dem fur die Dem. paralytica charakteristischen Befunde
ab. Die Seitenstrangerkrankung allerdings war von derselben Art,
wie sie bei der Dem. paralytica vorkommt; nicht zu dem Bilde
der Dem. paralytica passt aber die starke Randgliose, die
zu den erheblichen Degenerationsvorgangen in den der Ober-
flache anliegenden Strangen gefiihrt hat. Ahnliches gilt von den
Gefassen des Riickenmarks. Als hochst auffallend muss aber be-
zeichnet werden, dass die Hinterstrange des Riickenmarks von
Veranderungen frei geblieben sind. Es ist bereits bei derBesprechung
der klinischen Symptome darauf hingewiesen worden, dass bei der
Monataschrift ffir Paychiatrie and Neurologic. Bd. X XVII Heft 1 . 2
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18 Buchholz, Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall.
Paralyse, wenn sie langer besteht, so gut wie regelmassig sowohl
die Hinter-, als auch die Seitenstrange, wenn auch in verschiedener
Starke, krankhaften Prozessen anheimfallen. Es muss daher als
nicht recht veroinbar mit der Annahme einer Paralyse bezeichnet
werden, dass die Hinterstrange von Veranderungen frei sind.
Alle diese Erwagungen lassen meines Erachtens nur den
Schluss zu, dass es sich bei B. um eine Erkrankung handelt, die
gegen die Dem. paralytica abgegrenzt werden kann. Es hat diese
Erkrankung alsbald nach dem Trauma eingesetzt und sich dann
schleichend weiter entwickelt. Es lasst sich somit eine Kette von
krankhaften Vorgangen von dem nach dem Trauma anhebenden
Beginne der Erkrankung bis zu den schwersten Stadien des Leidens
und dem Tode nachweisen. Es muss daher angenommen werden,
dass die mit dem Trauma in Zusammenhang stehende Erkrankung
den Tod des B. herbeigefiihrt hat.
Wenn ich hier zu diesem Schlusse komme, bin ich mir wohl
bewusst, dass unsere Erfahfungen auf diesem Gebiete noch recht
beschrankt sind. Immerhin jedoch liegen bereits einige Befunde
vor, die dazu ermutigen, eineAbtrennung derartiger, nach Traumen
auftretenden und langsam zu einer Verblodung fiihrenden Er-
krankungen gegeniiber der Paralyse zu versuchen. Wenn es auch
an dieserStelle nicht angebracht erscheint, auf die iiber diese Frage
erwachsene Literatur einzugehen, so mochte ich doch auf die bereits
etwas alteren Arbeiten von Koppen 1 ), auf die zusammenfassende
Abhandlung von Kolpin 1 ), sowie auf die neueren Arbeiten von
Weber und von Yoshikatoa*) imd Weygcmdi*) hinweisen.
Wie aber, wenn meine Anschauung unhaltbar ware ? Wiirde
dann ein Zusammenhang zwischen dem Unfall und dem Tode des
B. abzulehnen sein ? Ich glaube nicht. Nach dem ganzen klinischen
Verlaufe und dem anatomischen Befunde kann es sich bei B.,
wenn eine besondersartige, durch dasTrauma ausgelosteErkrankung
nicht vorliegt, nur um eine Dem. paralytica handeln; irgendwelche
andere Erkrankungen kommen auf Grund des klinischen und ana¬
tomischen Befundes nicht in Frage.
Gerade die Untersuchungen der letzten Jahre haben mit un-
anfechtbarer Sicherheit nachgewiesen, dass ein Zusammenhang
zwischen der Syphilis und der Dem. paralytica besteht, dass
Individuen, welche an Paralyse erkranken, syphilitisch infiziert
gewesen sind. Es konnte somit scheinen, als ob die Frage, ob eine
Paralyse durch ein Trauma bedingt sei, uberfliissig sei. Es ist
dies meines Erachtens jedoch keineswegs der Fall. Wenn auch die
Durchseuchung einer Person mit Syphilis die conditio sine qua
non fur die Entwicklung einer Paralyse ist, so ist damit doch nicht
gesagt, dass die syphilitische Infektion die einzige und alleinige Ur-
sache fur die Entstehung dieses verheerenden Leidens ist. Wir
wissen, dass von der grossen Zahl syphilitisch Infizierter — bei der
■) Arch. f. Psych. Bd. 22.
*) Sammlung klinischer Vortrage (Volkmanna Sammlung). No. 4!
:1 ) Allgem. Zeitsclir. f. Psych. Bd. 6.
4 ) Ueber Begutachtung irn Falle von Trauma nach Paralyson. Mit-
/cihingen aus den Hamburgischen Stnafskrankenanstalten. Bd. S.
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Tafel I—11.
* Co.. Ber|in. ;; tj^ed by
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Verlag von S. Karger in Berlin.
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Buchholz , Zur Beurteilung der Psychosen nach Unfall. 19
Unmoglichkeit der Zahlung der syphilitisch Infizierten ist ee
ausgeschlossen, irgend welche Verhaltniszahlen zu berechnen —
nur ein kleiner Bruchteil paralytisch wird und dass in gewissen
Gebieten, in welchen die Syphilis sehr haufig ist, die Paralyse nur
sehr selten auftritt. Es muss daher noch einEtwas geben,das auf dem
durch die Syphilis vorbereiteten Boden die Paralyse entstehen lasst.
Es will mir daher, obgleich ich sehr skeptisch inbezug auf den Zu-
sammenhang zwischen Trauma und Paralyse bin, nicht einleuchten,
dass in bestimmten Fallen ein schweres Trauma nicht dieses Etwas
sein soil. Hiiten wird man sich freilich miissen, dass man nicht
Ursache und Wirkung verwechselt; ich kenne wenigstens eine ganze
Reihe von Kranken, bei welchen der Unfall durch einen paraly-
tischen Anfall oder durch die Storungen auf motorischem Gebiete
undAehnliches hervorgerufen wurde. Dass B. bereits vor dem Unfall
krank war, ist nicht anzunehmen; es ist wenigstens nichts bekannt,
was hierauf hinwiese. Bei B. haben sich die ersten Symptome
des Leidens nicht lange nach dem Unfall bemerkbar gemacht;
deutliche oder schwerere Krankheitssyptome sind jedoch nicht
sogleich nach dem Trauma aufgetreten, so dass man nicht aus der
Starke der Symptome, wie in manchen anderen Fallen, den Schluss
ziehen kann, dass die Erkrankung schon langer, also vor dem Un¬
fall, bestanden haben miisste. Schliesslich scheint mir aber auch
noch der Umstand sehr fur einen Zusammenhang seines Leidens
mit dem Unfalle zu sprechen, dass, wenn bei B. iiberhaupt eine
Paralyse vorliegt, es sich bei ihm um eine sogenannte atypische
Paralyse handelt. Ich habe vorher alle die Griinde eingehend an-
gefiihrt, welche mich zu der Annahme fiihrten, dass bei B. iiber-
haupt keine Paralyse, sondem eine andersartige Erkrankung vor¬
liegt; im wesentlichen dieselben sind es, die, bei Ablehnung meiner
Annahme, darauf hinweisen, dass das Leiden des B. den atypischen
Formen der Dem. paralytica einzureihen sei. Ich mochte in dieser
Beziehung hier nur nochmals auf die Verteilung in der Starke
des krankhaften Prozesses fiber den Hirnmantel hinweisen. Wahrend
wie bereits mehrfach erwahnt, bei der typischen Dem. paralytica
die vorderen Partien des Gehirns am starksten und die Hinter-
hauptslappen am schwachsten erkrankt sind, machen sich gerade
bei der atypischen Paralyse Abweichungen von dieser Art der Aus-
breitung der krankhaften Veranderungen geltend. Welche Ursachen
diese von dem gewohnlichen Typus abweichenden Formen der
Paralyse auslosen, ist, soweit ich sehen kann, nicht bekannt; es
miissen hierfiir irgendwelche ursachlichen Momente massgebend
sein; dass unter ihnen gerade das Trauma eine Rolle spielt, ware
sehr wohl moglich, aber, wie gesagt, ist hieriiber nichts bekannt.
Wie dem auch sei — selbst, wenn angenommen wird, dass bei B.
eine Dem. paralytica vorliegt, wird aus alien den angefiihrten
Griinden, wenn nicht mit Bestimmtheit, so doch mit einer an Ge-
wissheit grenzenden Wahrscheinlichkeit angenommen werden
miissen, dass seine Erkrankung und somit sein Tod auch Folge
des Unfalles vom 22./23. XII. 1900 sind, dass dieser Unfall somit
den Tod des B. verursacht hat.
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20
Straussler, Ueber zwei weitere Falle
(Aus der deutschen psychiatrischen Klinik in Prag.)
Ober zwei weitere Falle von Kombination eerebraler,
gummoser Lnes mit progressiver Paralyse nebst Beitragen
zur Frage der „Lues cerebri diffusa“ and der „luetischen
Encephalitis 4 *.
Von
Priv.-Doz. Dr. ERNST STRAUSSLER
k. and k. Regimen ts&rzt.
(Hierzu Taf. Ill—V).
Seit Dezennien nimmt die Diskussion der Beziehungen zwischen
Lues und Paralyse einen breiten Raum in der psychiatrischen
Literatur ein; die Wahl der ,,Lues-Paralysefrage“ als Referat-
thema der diesjahrigen Versammlung des Deutschen Vereins fur
P8ychiairie beweist, dass der Gegenstand noch nichts an Interesse
eingebiisst hat.
Die Beobachtung zweier neuer Falle von progressiver Para¬
lyse mit tertiar-luetischen Erscheinungen im Gehim gibt mir
Gelegenheit, ankniipfend an meine im XIX. Bd. H. 3 dieser Zeit-
schrift gemachte Veroffentlichung 1 ), einige dort beriihrte Fragen,
welche fiir die Lehre der progressiven Paralyse einerseits und der
Lues cerebri anderseits und in zweiter Linie fiir deren gegenseitige
Beziehungen von wesentlichem Interesse sind, nochmals einer ent-
sprechenden Wiirdigung zu unterziehen.
Nach den Errungenschaften der letzten Jahre auf dem Gebiete
der pathologischen Anatomie und Histologie der progressiven
Paralyse konnte man sich der Hoffnung hingeben, dass hinsicht-
lich des pathologisch-anatomischen Begriffes der progressiven
Paralyse allgemeine Klarheit Platz gegriffen hat und kein Zweifel
mehr beziighck der Abgrenzung von anderen Krankheitsprozessen
obwalten kann. Man konnte erwarten, dass das Bild der Paralyse
auch gegeniiber der Himlues so ausreichend fixiert ist, dass eine
Konfundierung unmoglich ward.
Der Begriff der „diffusen Himlues“ miisste durch die aus dem
Studium der Anatomie der progressiven Paralyse gewonnene
Erkenntnis, dass ein Unterschied zwischen „syphilitischer“ und
,,nicht syphilitischer** Paralyse'nicht besteht, als willkurliche Kon-
struktion erkannt und dementsprechend aus dem Inventar der
*) Straussler, Zur Lehre von der miliaren disseminierten Form der
Himlues und ihrer Kombination mit der progressiven Paralyse.
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von Kombination cerebrnler, gummoser Lues etc.
21
Wissenschaft ausgemustert werden. Alzheimer l ) hat schon im Jahre
1906 die Frage in diesem Sinne behandelt und die Notwendigkeit,
mit dem Begriffe der ,,diffusen Hirnlues** zu brechen, hervorge-
hoben. Wir werden uns noch mit der Art der Entstehung dieses
Begriffes zu beschaftigen baben und hoffen dessen Haltlosigkeit
ins rechte Licht zu setzen.
Die ,,diffuse cerebrale Hirnlues“ treibt nocb immer ihr Un-
wesen in der Literatur und gibt zu Konfundierung der Hirnsyphilis
mit der Paralyse Anlass. Ein Beispiel dieser Art bildet wieder eine
im Jahre 1907 erschienene Arbeit von Ladarne *), welche sich mit
der Differentialdiagnose zwischen Paralyse und der diffusen cere-
bralen Lues beschaftigt und von unzutreffenden Anschauungen
hinsichtlich des klinischen Bildes der Paralyse ausgehend den Be-
griff der diffusen Hirnlues von neuem durch Aufstellung von Merk-
malen zu stiitzen sucht, die sicher nicht in Gegensatz zu Befunden
bei der progressiven Paralyse gestellt werden konnen.
Die Frage der diffusen cerebralen Lues zeigt auch in einer
besonders augenfalligen Weise, dass die Klinik der Paralyse von
den Fortschritten der anatomiscben Erkenntnis noch nicht allzu-
viel gewonnen hat. Das in der gesamten Pathologie geltende
Prinzip, den anatom ischen Befund zur Grundlage der Bewertung
der klinischen Krankheitsbilder zu machen, muss doch auch in
der Psychiatrie dort Anwendung finden, wo uns anatomische
Befunde zu Gebote stehen. Bei der Paralyse sind wir in der gltick-
lichen Lage, das anatomische Substrat zu kennen, und es ist not-
wendig, den klinischen Begriff dem anatomischen Befunde anzu-
passen.
Diese Anschauung, welche sich insbesondere aus den Arbeiten
von Nissi und Alzheimer ergab, kleidete ich in meiner friiheren
Arbeit in die Worte: ,,.... So ist es schon heute sicher, dass es
andererseits notwendig wird, eine Anzahl von .unklaren Fallen*
dem anatomischen Befunde nach als zur Paralyse gehorig an-
zuerkennen und das klinische Symptomenbild der Paralyse ein-
zuverleiben.“ Die scharfe Umgrenzung des anatomischen Befundes
setzt uns in die Lage, Abweichungen vom klinischen Bilde richtig
zu bewerten und muss uns davor schiitzen, fur derartige Falle
eine ganz vage, einer anatomischen Grundlage entbehrende Er-
klarung zu suchen, wie es noch immer mit der ..Lues cerebri 1 *
geschieht.
Indes hat sich Fischer in seinem Referate zur Jahresversamm-
lung des Deutschen Vereins fur Psychiatrie besonders prazise fur
die Notwendigkeit eingesetzt, den klinischen Begriff der Paralyse
dem anatomischen Begriffe unterzuordnen; diese Auffassung
l ) Alzheimer , Histologische Studien zur Differentialdiagnose der progr.
Paralyse. Histnl. u. histopath. Arbeiten liber die Hirnrinde, herausgeg.
von Fr. Nissi. Bd. I.
*) Ladame . Quelques considerations sur la syphilis cer6brale diffuse.
L Enc£phale. 2. ann£e. 1907.
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22 Straussler, Ueber zwei weitere Falle
setzt ihn in die Lage, unsere klinischen Kenntnisse der Paralyse
in wertvoller Weise zu bereichern.
Hinsichtlich der in der Literatur benchteten Falle von ,,dif¬
fuser" oder gummoser Himlues mit einem paralys eahnlicken
Krankheitsbild, welche in ihrem weiteren Verlaufe sich derart
prasentierten, dass von der Paralyse in der typischen Form gar
keine Abweichung mehr bestand, sprach ich friiher die Vermutung
aus, dass es sich in derartigen Beobachtungen nicht selten um eine
Kombination von spezifisch syphilitischen Prozessen und para-
lytischer Erkrankung handeln konnte, gerade so wie in meinen
damals publizierten Fallen.
Diese Anschauung findet nun eine Stiitze einerseits in den
beiden neuen Beobachtungen, welche ich hier zu schildern beab-
sichtige, und anderereeits in den in der Literatur niedergelegten
Erfahrungen der letzten Jahre hinsichtlich der Kombination von
gummosen Prozessen mit progressiver Paralyse.
Wahrend dieses Zusammentreffen in fruherer Zeit als eine
Seltenheit gegolten hatte, verfiigen wir nun schon iiber eine recht
stattliche Zahl solcher Beobachtungen. Es liegt auf der Hand,
dass die haufigere Veroffentlichung derartiger Kombinationen
nicht etwa darauf beruht, dass diese jetzt haufiger sind als friiher;
die Erklarung liegt vielmehr darin, dass man sich gegenwartig
einerseits nicht an der Konstatierung des syphilitischen Prozesses
zur Erklarung des klinischen Befundes Geniige sein lasst, ohne
das ganze Zentralnervensystem einer genauen Untersuchung zu
unterziehen, und dass mananderseits auch imstande ist, mitSicher-
heit den histologischen Prozess der Paralyse zu erkennen.
Was die Aehnlichkeit des klinischen Bildes der „diffusen
Himlues" mit dem der Paralyse betrifft, so deuteten wir weiter
damals an, dass die Kongruenz der Krankheitsbilder in einer
grossen Zahl einschlagiger Falle auf sehr einfache Weise dadurch
erklart sei, dass in den als ,,diffuse Hirnlues" publizierten Fallen
gar keine „Lues“, sondern Paralyse mit Herderscheinungen vorge-
legen hatte.
Unsere Beobachtungen von Kombination von Syphilis des
Gehims mit progressiver Paralyse erhalten nun auch schon durch
ihre Zahl ein besonderes Gewicht.
Wenn wir die Erfahrungen der pathologischen Anatomen
hinsichtlich des Vorkommens von Gummen im Gehirne in Betracht
ziehen — Heller 1 ) hat gefunden, dass nur bei 2 pCt. Syphilitischer
Syphilome im Gehim vorkommen, Rosenberger 1 ) konnte unter
2500 Sektionen nur viermal gummose Prozesse im Gehirn nach-
weisen —, so sind unsere Befunde, welche unter etwa 130 genauer
untersuchten Paralysen viermal eine gummose Erkrankung des
Gehims aufdeckten, geradezu uberraschend.
*) Zit. n. Benda . Aneurysms und Syphilis. Verhandlungen d. Deutsch.
Path. Gesellsch. VII. Tagung Kassel 1903.
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von Kombintxtion cerebraler, gummoser Lues etc.
23
Beriicksichtigen wir noch weiter, dass miliare Gummen von
der Art, wie wir sie in den friiheren zwei Fallen beschrieben haben
— die gleiche Form findet sich in einem der nun zu berichtenden
Falle —, bei der iibliehen Metkode der Untersuchung, welche sich
auf kleine Scheibchen verschiedener Rindengegenden beschrankt,
in anderen Fallen unseres Materials iibersehen worden sein konnten,
so wachst noch die Bedeutung der sich uns bietenden prozentu-
ellen Verhaltnisse.
Nur nebenbei sei auf den Wert hingewiesen, welcher diesen
Befunden gegemiber dem von den Gegnem der Syphilisatiologie
der Paralyse geitend gemachten Argumente, dass am Sektions-
tische bei den Paralytikem so selten spezifisch syphilitische Pro-
zesse angetroffen werden, zukommt.
Aus der Eigenart unserer Beobachtungen, deren Beschreibung
nun hier Raum finden soil, wird sich die eingehendere Erorterung
einiger einschlagiger Fragen ergeben.
I. F. V., 40jahr. Postbediensteter, wurde der Klinik am 15. III. 1906
iibergeben, am 16. III. auf Wunsch der Angehorigen entlassen, am 17. III.
1906 neuerlich eingeliefert.
Der Anarnnese nach geht der Beginn der Erkrankung auf den Anfang
des Jahres 1905 zuriick. Laut amtlicher Mitteilung fiel er zuerst durch seine
Oereiztheit auf, welche zu verschiedenen Differenzen, ja auch Konflikten mit
seinen Vorgesetzten fiihrte. Auch in seinen Leistungen trat eine ungiinstige
Veranderung ein, und da er sich iiberdies vom ganzen Personate verfolgt
glaubte, wurde er versetzt.
Auf seinein neuen Dienstposten versah er bis zum 15. III. 1906 den
Dienst. An diesem Tage wurde er von der Polizei wegen seines auffalligen
Benehmens festgenommen. Auf einem der belebtesten Stadtplatze setzte
er sich auf den Gehweg und achtete nicht der sich um ihn ansammelnden
Volksmenge.
Seiner Frau erschien er erst seit etwa drei Wochen — vom Datum der
Aufnahme an die Klinik — durch seine unsinnigen Reden auffallig.
Er sprach von Jesus, betete gegen seine sonstige Gewohnheit sehr viel,
in den letzten Tagen ununterbrochen, sammelte Knopfe und sagte, es seien
kleine Tierchen.
Vor etwa einer Woche, wahrend er mit seiner Frau sprach, stockte er
plotzlich und vermochte durch 10 Minuten kein Wort hervorbringen.
Seit drei Wochen isst Pat. viel und muss haufiger als friiher die Urin-
entleerung besorgen.
Fur eine luetische Infektion sind aus den Angaben der Frau keine An-
haltspunkte zu gewinnen. Pat. selbst gibt Schanker und Schmierkur zu.
Ein 8jahriger Sohn, welcher aus dieser Ehe stammt, leidet an ,,An-
fallen 44 .
An der Klinik ergibt die korperliche Untersuchung: Schlaffer Gesichts-
ausdruck; Pupittendiffcrenz , R > L, erstere lichtstarr , letztere trage auf
Licht reagierend, an beiden prompte Konvergenz- und Akkommodations-
reaktion. Facialisdifferenz zu ungunsten der linken Seite, Zunge zeigt
fibrillare Zuckungen und weicht nach rechts ab. Tremor der Hande, PcUel -
larreflexe beiderseits<7e«tet^ert, Achillessehnenreflex rechts deutlich schwacher
als links.
Sprache stockend , bei Probewortern stolpornd. Sclirift unbeholfen,
Andeutung von Tremor, hie und da Verwechslung von Buchstaben.
Am Tage der Aufnahme ist er sehr unruhig, spricht immerfort in ideen-
fliichtiger Weise, gestikuliert dabei lebhaft, jeden Augenblick briillt er
,.Halloh“, ,,telephoniert“ an den Statthalter; dann glaubt er wieder beim
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24
Stra ussier, Ueber zwei weitero Falle
Statthalter zu sein, ist kaum fixierbar; singt, schreit und larmt die gauze
Nacht, erst gegen den Morgen schaft er ein.
Am nachsten Tage ist er angstlich, weinerlich, weiss nicht, wie er her-
gekommen ist und bittet, entlassen zu werden, damit er nicht um die Stel-
lung komme. Ist ziemlich besonnen, im wesentlichen orientiert, glaubt
ge8tern abends in die Anstalt gekommen zu sein, wahrend er tatsachJich
um 2 Uhr nachmittags aufgenommen wurde. Abspringender Gedankengang,
keine Krankheitseinsicht. Rechenaufgaben werden sehr langsam, aber meist
richtig ausgefiihrt.
Zu Hause war er nicht zu halten; er warf alles durcheinander, ziindete
im Zimmer Holz an, steckte die Schuhe, um sie zu putzen, ins Wasser,
wollte die Mobel zerschneiden, war sehr unruhig.
Wieder in die Anstalt gebracht, trifft er allein den Weg zur Klinik,
erkennt seine Warter. Verhalt sich ruhig und schlaft die ganze Nacht.
In den nachsten Tagen bietet er ein maniaches Znstandsbild, Bewegungs-
drang, Euphorie, Ideenflucht, und produziert massenhaft Grossenideen:
Er werde einen Palast in der Mitte Prags hineinbauen. einen Kranken macht
er zum Minister* den Arzt erhebt er zum Baron, alle werden Barone sein,
er selbst sei auch Baron; seiner Tochter werde er goldene Mobel kaufen,
er habe ein Vermogen von ,,Billiarden“, werde alle Pferde kaufen, sie paaren
und viele Millionen verdienen, fahre nach Frankfurt, kaufe einige Waggons
Ganse, werde nach Amerika fahren, Walfische fangen u. s. w.
Will sich auf die Kranken mit geballten Fausten stiirzen, ,,urn sie mit
einem Schlage gesund zu machen“.
Die geistige Schwdche bricht deutlich unter der Manie hervor. Die
Facialisdifferenz ist nun sehr deutlich, und ausserdem wird ein starkes Beben
der Gesichtsmuskulatur bemerkbar. — Es wird eine Erkrankung an Diabetes
nachgewiesen.
Mit kurzen Unterbrechungen, wahrend welcher eine explosiveGereiztheit
im Vordergrunde steht, halt die manische Heiterkeit etwa 4 Monate an. um
dann in eine stiUe demente Euphorie iiberzugehen. Er lebt dann sorglos
gliicklich in den Tag hinein, seine Demenz schreitet unaufhaltsam vor warts,
die Sprache wird bebend, verwaschen, stolpernd. — Der Zucker verschwindet
aus dem Harne.
Am 1. IX. 1907 treten rythmische Zuckungen in der Gesichtsmuskulatur
der rechten Seite auf, welche etwa 5 Minuten andauern; der Kranke ist dann
etwa 10 Minuten nicht imstande zu sprechen.
Nach einem apoplektiformen Anfalle am 20. II. 1908, welcher keine auf-
falligen motorischen Storungen hinterliess, erreicht die geistige Verodiing
einen so hohen Grad, dass er nunmelir stumpf, ohne jede Aeusserung geistiger
Tiitigkeit darniederliegt.
Am 8. VII. Anfalle mit tonischer Starre in den Extremitaten beider
Seiten, links starker, und Deviation conjug^e des Kopfes und der Augen
nach links, Benommenheit, spiiter Sopor, Fieber.
Bis zu dem am 13. VII. 1908 erfolgten Tode wacht er aus dem soporosen
Zustand nicht mehr auf, zeitweise treten leichte Zuckungen in den Fingern
der linken Hand auf.
Die Autop»ie ergab, dass eine Schluckpneumonie den Exitus herbeige-
fiihrt hat. Einzelne linsengrosse, weissliche Verdickungen an der Intiina
der Aorta abgerechnet, war im allgemeinen Korperbefunde nichts von
Belang.
Das Gehim bot bei der makroskopischen Besichtigung das typische
Bild der progreasiven Paralyse , im Stirnhirn zeigte die Atrophie recht erheb-
liclie Grade.
Mikroskopiache Unterauchung : Wir halten es fiir iiberfliissig, auf die
histologischen Veranderungen, welche die Diagnose der progressiven Paralyse
begriinden. des Naheren einzugehen.
Wir haben in der Affektion der Meningen, welche sich teils als chronisch-
hyjjerplastische, teils als infiltrative Entziindung darstellt, in den Ganglien-
zellveranderungen und in dem Zellsehwund, in der Degeneration der Mark-
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von Kornbination cerebraler. gummoser Lues etc
25
fasern — aueh dor von Borda 1 ) mid insbesondere von Fischer 1 ) bescliriebene
fleckweise Ausfall dor Markscheiden findet sich in ausgedehntem Masse —,
in den Gefassverandcrungen und Infiltrationen, sowie in dor Wucherung
der Glia Erscheinungen vor uns, welche in nichts von dem gewohnlichen
Bilde der Paralyse abweichen.
Der Prozess ist weit fortgeschritten, am starksten im Stirn- und Schlafe-
lappen und in der motorischen Region ausgepragt, aber auch in den hinteren
Partien des Gehirns noch sehr deutlich sichtbar. Die Infiltration der Menin-
gen und Hirnrindengefasse weist in den vorderen Hirnpartien eine grosse,
aber nicht gerade ungewbhnliche Intensitiit auf, wobei die Zellarten das fur
die Paralyse eharakteristisehe Geprage tragen. In den Gefasswanden der
Hirnrinde. zum Toil auch des Market* erscheint viel gelblich-braunes Pig¬
ment eingelagert.
Zu diesen diffusen Yeranderungen treten nun im Bereiche des Stirn-
und Schlafelappens und der motorischen Region beider Hemispharen
Jokalisierte. herdweise rerteilte Bildungen besonderer Art hinzu, welche nicht
zum Bilde der progressive!! Paralyse gehdren und einer naheren Beschroibung
bedtirfen.
In alien Lagen der Hirnrinde, von der obersten Zellschicht bis zur Mark-
grenze verstreut, finden sich in den erwahnten Regionen Infiltrationsherde ,
welche sich im mikroskopischen Bilde scharf aus der Umgebung herausheben.
Sie haben eine runde oder mehr unregelmiissige Begrenzung, scliwanken in
ihrer Ausdehnung zwischen 0.05 und 0.2 mm im Durchmesser — in letzterem
Falle sind sie am gefarbten Praparate schon mit blossom Auge sichtbar —,
schliessen sich meLst an Gefasse an (Tafel HI — IV) und lassen bei Be-
trachtung mit schwaclicn Linsen haufig eine dunklere, durch Anhaufung
stark gefarbter Kerne bedingte dussere Zone erkennen, welche sich gegen
das bldssere Zentrum abhebt.
Zur Illustration der Haufigkeit dieser Geschwiilstchen, denn als solche
wollen wir sie schon hier bezeichnen, sei erwahnt, dass im Stirnhirn im
Schnitte einer Windung von etwa 1,2 cm Breite und 1,5 cm Tiefe, 5 der-
artige Bildungen nachgewiesen werden konnten.
Serienschnitte setzen uns in die Lage, die Geschwiilstchen in ver-
schiedenen Stadien ilirer Entwicklung zu verfolgen.
Bei der grossen Mehrzahl derselben ist ein Zusammenhang mil den
Jdeinen Gefdssen der Hirnrinde nachweisbar, und die verschiedenen Bilder,
welche sich uns darbieten, lassen uns den Entwicklungsgang der Geschwiilst-
chen erkennen.
Wir haben ein vielfach verschlungenes, mit zahlreichen Abzweigungen
versehenes Gefass vor uns. Die Gefiisswande sind von zahlreichen Infil-
trationszellen besetzt. welche in ihrer grossen Mehrzahl Plasmazellen dar-
stellen, und weisen eine lebhafte Wucherung der Gefassvvandzellen, Zellen
der Intima und Adventitia auf. Das Bild liisst bisher koine wesentliche
Differenz gegeniiber der paralytischen Yeranderung erkennen.
Nun nimmt aber an irgend einer Stelle der Gefiisswand die Ansammlung
der Infiltrations- und Wucherungszellen derart iiberhand, dass eine bucket -
formiye Auf lay e rung an die Ge fas strand zustande kommt (Tafel III IV. Fig. 1).
Man karin an einzelnen Priiparaten deutlich beobachten, dass es sich uvn eine
Einlagerung des mm entstandenen geschirulstformigen Gebildes in die Gefass-
wand selbst und zwar in deren Adventitia handelt. Gegen das Gefasslumen
zu bleibt- die Intima als Grenzscheide erhalten, die? Adventitia dagegen ist
in der Neubildung aufgegangen und stellt in derselben ein weitmaschiges,
unregelmassiges Netz dar, ein Stiitzgerust. Die Figuren 2, 3 und 4 iliustrieren
die Entwicklung eines derartigen Geschwulstchens in der Wand einer Ge-
fassschleife.
*) Borda , Paralysie goner. progressive, Riv. de la soe. mod. Argent.,
Tome XIII 1906.
l ) Fischer , O., Ueber den fleckweisen Markfaserschwimd in der Hirn¬
rinde bei progressiver Paralyse. Arbeiten aus d. Deutsch. psych. Universitats-
klinik in Prag. 1908.
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26
Stra ussier, Ueber zwei weitere Falk*
Die Neubildung besteht also aus Infiltrationszellen —- vornehmlich
Plasmazellen — aus gewucherten Gefasswandzellen, welche mit ihrem
blasigen, verschieden geformten, moist langgestreekten Kern und blassen
Protoplasmaleib den Charakter von epitheloiden Zellen erhalten und aus deni
bindegewebigen Geriiste . Sie hebt sich gegen die umgebende Hirnsubstanz
noch ziemlich scharf ab, was auch darin zuin Ausdruck kommt, dass im Ge-
fiige des umgebenden Gewebes Verdrangungserscheinungen in Gestalt von
zirkularer Anordnung Platz greifen.
In weiterer Folge wird aber die Gefassscheide durchbroehen, und die
Zellelemente ergiessen sich sozusagen in die umgebende Hirnsubstanz; zu-
nachst sieht man vereinzelte Plasmazellen im Hirngewebe: die Zahl der-
selben nimmt zu, auch die epitheloiden Zellen iiberschreiten den Bereich
tier Gefasswand, diese verschwindet in dem Zellkonglomerate. Aber auch
gegen das Gefasslumen zu schwindet die friiher bestandene Abscheidung,
das Gefass wird von den epitheloiden Zellen durchwuchert, Infiltrations-
eiemente durchsetzen und uberlagern die ganze Gefassbreite, so dass einer-
seits das Gefass in der Neubildung vollstandig aufgeht und anderseits die
Grenzen gegen das Hirngewebe vollstandig verschwimmen. Man kann aber
oft noch an den Seriensohnitten den zu- und ableitenden Teil des Gefasses
verfolgen, welches niclits anderes als eine Plasmazelleninfiltration darbietet.
(Taf. Ill—IV, Figg. 5 und 6.)
An den nun zur vollen Entwicklung gelangten Geschwiilsten, in welchen
die Anordnung der verscliiedenen Zellarten meist in der Weise erfolgte, dass
die Peripherie die Infiltrationszellen und das Zentrum die epitheloiden Zellen
einnehmen (Taf. Ill—IV, Fig. 6), machen sich regressive Verdnderungen be-
merkbar. Die Konturen der zentralen, epitheloiden Zellen werden weniger
scharf, sie verschwimmen ineinander, die Kerne verlieren die Farbbarkeit, so
dass wir an einzeinen dieser Bildungen eine feingekornte oder mehr homogene,
blasse Substanz im Zentrum vor uns haben; manchmal finden sich einge-
lagert ganz kleine, sehr dunkelgefarbte. unregelmassig geformte Kornchen.
welche als Zerfallsprodukte von Kernen der Infiltrationszellen imponieren.
In der zentralen Degenerationszone treten haufig Piesenzellen auf.
grosse Zellen meist mit rimdem. seltener gelapptem homogenem Protoplasma¬
leib und sehr zahlreichen, entweder kranzformig an der Peripherie oder in
zwei Reihen im Durchmesser dor Zeile angeordneten blassen, langgestrockten
Kernen (Taf. Ill—IV, Figg. 6, 7, 8). Auch in diesen Zellen kommt es mit-
unter zu regressiven Erscheinungen.
Dieser Entwicklungsgang bis zur Ausbildung von anscheinend frei im
Gewebe liegenden Geschwiilstchen, wie z. B. in Fig. 7, bildet jedoch keines-
wegs die Regel; haufiger sogar bleibt es bei Infiltrationen, welche den Ge-
fasswanderi angehoren und nicht iiber deren Bereich liinausgehen, in einer
mehr oder weniger beschrankten Par tie des Gefass verlaufes eine etwas
grossere Intensitat erreichen und durch die Beimischung von zahlreichen
epitheloiden Zellen ein besonderes Geprage erhalten. In diesen Zellansamm-
lungen erscheinen aber auch da ausserordentlich haufig Riesenzellen, die
also in der Gefasswand selbst ihren Sitz haben. (Taf. Ill—IV, Fig. 4.)
Es sei besonders hervorgehoben, dass die Infiltrationszellen zum uber-
wiegenden Teile Plasmazellen darstellen.
Dem Einflusse, welchen die pathologischen Bildungen auf das um¬
gebende Gewebe ausiiben, miissen noch einige Worte gewidmet werden.
Die Gliazellen der Umgebung erscheinen in lebhafter Proliferation,
weisen nicht selten zwei Kerne auf, vereinigen sich haufig zu den sogenannten
,,Gliarasen“.
Die Ganglienzellen bleiben von dem Prozesse nicht unberiihrt; der
Degenerationsprozess ist hier starker akzentuiert und fiihrt zu ausge-
dehnterem Zerfall als er im iibrigen Gehirne dem paralytischen Prozesse
entspricht.
Der Markfaserschwund ist in den fraglichen Partien der Rinde als Folge
der paralytischen Erkrankung so weit vorgeschritten, dass ein etwaiger
Einfluss der pathologischen Bildungen auf die Markfasern sich der Beur-
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von Kombination eerebraler gnmmbser Lues etc.
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teilung entzieht. Dagegen zeigen Fibrillenpriiparate nach Bielscliowsky, duss
die Achsenzylinder bis an die Infiltrationsherde anscheinend ohne wesent-
liche Beeintriiclitigung heranreichen. In den Gesehwulstchen selbst gehen
die Fibrillen. wie noch zu deni friiheren Befunde nachzutragen ist, erst
dann vollstandig zugrunde, wenn die Xekrotisierung Platz gegriffen hat.
In den nachstliegenden Gefassen tritt eine besonders starke Infiltration
in Erscheinung, in den Infiltrationselementen iiber\viegen bei weitein die
Plasmazellen.
Ein Zusammenhang der Oesehwiilstchen mit der Infiltration der Meningen.
welche iibrigens auch im Bereiche dieser Affektion die paralytische Xatur
vollkommen bewahrt, ist nirgends vorhanden ; hinsichtlich der in den tiefsten
Kindenschichten gelegenen Bildungen ist ja eine direkte Abhtingigkeit von
der Affektion der Meningen von vornherein auszuschliessen. Die Gefiisse
weisen bei ihrer Einstrahlung in die Gehirnsubstanz eine ganz geringftigige
Infiltrationparalytiseber Xatur anf undwerden erst in derTiefe der Hirnrinde
Sitz der mit Riesenzellen versehenen Geschwiilstchen (Taf. Ill-- IV, Fig. 8).
Wirhaben klinisch eine typische Paralyse vor uns; die klini-
schen Erscheinungen wichen in keiner Hinsicht von dem Bilde
einer Paralyse ab; weder die psychischen Symptome noch auch der
somatische Befund barg irgend ein Moment in sich, welches auf
eine Komplikation hingewiesen hatte, und wir waren sicher, bei der
mikroskopischen Untersuchung das dem klinischen Befunde cnt-
sprechende histologische Bild zu sehen.
Was die erwarteten anatomischen und histologischen \’er-
anderungen der Paralyse betrifft, wurden unsere Voraussetzungen
nicht getauscht; alle die charakteristischen Glewebs- und Gefass-
alterationen, welche der Paralyse zukommen, prasentiertem sich
in den mikroskopischen Schnitten.
Eine Ueberraschung bot uns der Befund durch ein Mehr an
Erscheinungen.
Ueber das Stimhirn t den Schlafelappen und die motorische
Region verstreut fanden sich miliare, in verschiedenen Schichten der
Hirnrinde lokalisierte Herde, welche die Merkmale von Oranulations-
geschwiilsten tragen.
Der Befund bietet grosse Aehnlichkeit mit dem histologischen
Bilde des Falles 1 der friiheren Publikation; die Erwtigungen,
welche uns damals veranlasst haben, die Affektion als ,,miliare
disseminierte Gummen“ aufzufassen, haben auch hier Geltung.
Weder der klinische Verlauf noch der bakteriologische und all-
gemein anatomische Befund liefem irgend welche Anhaltspunkte
fur die Annahme einer Tuberkulose.
Es wurde leider verabsaumt, die Untersuchung auf Spiro-
chaeten vorzunehmen; mit Riicksicht auf die bisherige Erfolglosig-
keit der auf den Nachweis von Spirochaeten im Zentralnerven-
system Erwachsener gerichteten Bemuhungen ist jedoch unsere
Unterlassung fiir die Diagnosenstellung belanglos. Die Wasser-
monnsche Reaktion — sie war tibrigens im Blute und in der Zere-
brospinalfliissigkeit positiv — ist hier mit Riicksicht auf das Vor-
handensein der Paralyse selbstverstandlich fiir die Diagnose der
aktiven Syphilis, d. h. des gummosen Prozesses, nicht zu verwerten.
Mit dem Falle 1 der friiheren Arbeit ergibt sich eine Analogic
insofem, als hier wie dort der Befund der Gummen din zufdlliger
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St riiussler, Ueber zwei weitere Falle
war, die syphilitische Erkrankung sich in den klinischen Erschei-
nungen in keiner Weise manifestiert hat; in dieser Beziehung ist
ubrigens auch die damalige 2. Beobachtung diesen Fallen an die
Seite zu stellen.
Wei ter lasst sich hier wie dort die Unabhangigkeit der Affek-
tion von den Meningen nachweisen; dieses schon damals im Gegen-
satze zu Alzheimer hervorgehobene Moment tritt hier besonders
augenfallig dort zutage, wo die Gummen in den tiefsten Schichten
der Hirnrinde knapp an der Markgrenze lokalisiert sind.
Die Beziehung der Gummen zu den Gefassen, welche in diesem
wie in jenem Falle zur Beobachtung kommt, gilt ja als die Regel;
meine Ausfiihrungen zum 2. Falle der frtiheren Veroffentlichung,
welcher zu beweisen schien, dass eine gummose Erkrankung im
Centralnervensystem auch primar ohne direkte Beteiligung der
Gefasse Platz greifen kann, haben bisher in der Literatur kein
Echo gefunden; auch Nonnc'), welcher zwei Abbildungen der histo-
logischen Veranderung im Falle 1 reproduziert, hat zu den Schluss-
folgerungen, zu welchen mich der Fall 2 beziiglich der Entstehungs-
moglichkeit von Gummen im Gehim gefiihrt hat, nicht Stellung ge-
nommen.
Im gegenwartigen Falle bilden also, wie gewohnlich, die Ge¬
fasse den Ausgangspunkt der Gummen; in dem Verhaltnis der Ge-
schwiilstchen zu den Gefassen zeigt sich aber hier eine bemerkens-
werte Eigentumlichkeit.
Wahrend in der friiheren Beobachtung die Infiltration rasch
den Bereich der Gefasswande iiberschreitet, sich in das umgebende
Gewebe ergiesst, wo es dann zu der fur das Gumma charakte-
ristischen Gewebsformation kommt, ist die Neubildung hier sehr
haufig in die Gefasswand selbst eingelagert. Wir haben es also in
diesem Falle mit gmnmosen Neubildungen der Gefasswandungen
zu tun, mit einer Arteriitis gummosa, und zwar ist es die Adventitia
— die Affektion betrifft ausschliesslich kleine Gefasse —, welche
den Sitz der Geschwiilstchen bildet. Der Umgebung gegeniiber
verhalten sie sich unter diesen Umstanden insofern als ,,Tumoren“,
als sie das Gewebe verdrangen.
Wie in dem mikroskopischen Befunde beschrieben, finden sich
daneben auch noch gummose Geschwiilstchen, welche die Gehirn-
substanz infiltrierend durchsetzen und das gleiche Bild wie in der
friiheren Beobachtung geben.
Es liegt in der Natur der Sache, dass die Gummen der Gefass¬
wand viel reicher an bindegewebigen Elementen sind als die in der
Gehirnsubstanz eingelagerten.
Der Reichtum an Riesenzellen scheint mir noch besonderer
Erwahnung wert. Es liegt mir ferae, mich in Erorterungen iiber
die Genese der Riesenzellen zu ergehen; es sei nur hervorgehoben,
dass sie besonders haufig in der Gefasswand selbst ihren Sitz haben,
') Sonne. Syphilis und Xervensystem. 2. Auflage. Berlin 1909.
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von Kombination cerebraier, g.immbser Lues et<-.
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so dass die Annahme ihrer Herkunft von den Gefasswandzellen
sich aus der direkten Anschauung aufdrangt.
Mit Riicksicht auf die Bedeutung, welche der Art der Infil¬
trationszellen fur die Differentialdiagnose zwischen Syphilis des
Zentralnervensystems uud der progressiven Paralyse vindiziert
wurde, ist es notwendig, bei diesem Gegenstande langer zu ver-
weilen.
Ich habe mich auf Grund meiner friiheren Befunde fiir die von
Alzheimer aufgestellten differentialdiagnostischen Regeln hin-
sichtlich der Infiltrationszellen ausgesprochen; so wie es von Alz¬
heimer geschildert wurde, schien dort in dem bedeutenden Uber-
gewicht der Lymphozyten liber die Plasmazellen eine deutliche
Differenz gegeniiber der Paralyse gegeben.
Die gegenwartige Beobachtung ist nun geeignet, uns eines
besseren zu belehren; wir konnen hier auch in den Gefdssen, in deren
Wdnden es an umschriebener St&lle zur Entwicklung einer Gummi-
geschwulst kommt, beobachten, dass tvohl ausgebildete, typische
Plasmazellen in der Ueberzahl vorhanden sind. Wenn man hier auch
meist nicht den ,,bei der Paralyse gewohnlichen grossen Formen
mit hellem Hof um den Kern und den grossen, lappigen Zelleibs-
fortsatzen“ ( Alzheimer) begegnet, so rettet dieses Moment kaum
die Zuverlassigkeit des in Rede stehenden differentialdiagnostischen
Merkmales; es ist ja zu bedenken, dass man oft genug auch bei
typischen Paralysen vergebens nach solchen Zellen suchen wiirde.
Das Vorkommen von massenhaften Anhaufungen junger
Infiltrationszellen, Lymphozyten bei der progressiven Paralyse
beweist ja, dass das von Alzheimer aufgestellte undauchvonmir ver-
tretene differentialdiagnostische Merkmal der Verschiedenheit
der Infiltrationszellen bei Lues und Paralyse keine prinzipielle
Bedeutung besitzt. In dem Infiltrationsbilde spiegelt sich doch
vomehmlich die grossere oder geringere Lebhaftigkeit des Ent-
ziindungsprozesses ab. Wenn wir nun bedenken, dass einerseits
die Paralyse nicht selten einen recht akuten Verlauf nimmt, ander-
seits die Gummen resp. der syphilitische Prozess eine chronische
Entwicklung finden konnen, so werden wir a priori alle moglichen
Uebergange zwischen Paralyse und Sypilis hinsichtlich des Gesamt-
bildes der Natur der Infiltrationszellen erwarten mtissen.
Von unserem gegenwartigen Falle, in welchem die Plasma¬
zellen iiberwiegen, erhalten wir nun im grossen und ganzen den
Eindruck eines mehr chronischen Verlaufes; dafiir spricht einer¬
seits das klinische Bild und anderseits der pathologische Befund:
Aus den grossen Schwankungen im Volumen der Gummen kann
man schon auf eine langsame Entwicklung schliessen; weiter
bleiben sie lange im Bereiche der Gefasswande, sie durchlaufen
eine ganze Anzahl von Entwicklungsstadien, bevor sie die Grenz-
scheiden der Gefasse durchbrechen und in das umgebende Gewebe
eindringen.
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30
Stra ussier, Ueber zwei woitere FaUo
II. C. H., 48jahriger Polizeiwachmann, wurde am 8. Marz 1908 der
Klinik aus dem aUgemeinen Krankenhause (KJinik Hofr. Dr. v . Jaksch)
zugeflihrt‘)*
Zur Anamnes© erfahren wir von der Frau des Patienten, welch© ihn seit
13 Jahren kennt: Aus der Ehe'stammen zwei gesunde Kinder. Vor etwa
seeks Jahren — bis dahin war er angeblich vollkommen gesund — stellten
sich „rheumati8che“ Schmerzen in den unteren Gliedinassen ein, welche
immer wieder rezidivierten; seit zwei Jahren machten sich Schwierigkeiten
beim Oehen bemerkbar , er trat in auffalliger Weise auf die Fersen auf und warf
mit den Beinen.
Im letzten Jahre machten sich auoh auf psychischem Oebiete Storungen
geltend; sein Gedachtnis verschlechterte sich und sein Charakter zeigte
eine Veranderung; er legte der Frau gegeniiber eine friiher nie gezeigte Roh-
heit an den Tag.
Bis 10. Januar 1908 versah er noch seinen Dienst; um dies© Zeit fing
er an zu schielen , und einige Tage nachher ,,fiel ihm das link© Augenlid
herunter“. Vor 14 Tagen etwa trat eine Ldhmung der rechten Korperhdlfte auf.
Eine Schmierkur mit grauer Salbe brachte gar keine Besserung.
Vom Pat. selbst wird Lues zugegeben .
Bei der Einlieferung an die Klinik ist er ruhig, sehr stumpf, apathisch;
schlaft den grossten Teil des Tages.
Am 9. III. wird folgender Status praesens erhoben: Ptosis am linken
Auge ; der linke BuJbus kann nur nach aussen bewegt werden; die Bewegung
nach alien anderen Richtungen erscheint vollstandig aufgehoben. Linke
PupiUe bedeutend weiter als die rechte; die erstere vollkommen starr , rechts
Spur von Lichtreaktion bei gut erhaltener Konvergenz- und Akkommo-
dationsreaktion. Nystaktische Bewegungen des rechten Bulbus.
Beim Hinaufziehen der Stirne erfolgt links eine starker© Faltung; man
erhalt den Eindruck, dass der linke Musculus frontalis wegen der Ptosis
starker innerviert wird. Im iibrigen Facialis in der Ruhe keine Differenz;
beim Zahnezeigen erscheint der rechte Mundfacialis paretisch. Keine Sto¬
rungen von seiten des Trigeminus. Zunge zittert, wird gerade vorgestreckt.
Hechter Arm scheint beim Emporheben etwas zuriickzubleiben; manch-
mal treten in demselben Schiittelbewegungen auf. Hdndedruck rechts sehr
schwach.
Rechte Bauchdeckenreflexe nicht auslosbar . Differenz der Cremaster-
reflexe zu ungunsten der rechten Seite.
Patellar - und AchiUessehnenreflexe beiderseits fehlend.
Beim Gehen zeigt sich eine Schwache und Unsicherheit des rechten
Heines , dasselbe knickt haufig ein; das linke Bein wird etwees stampfend,
ungeschickt, ataktisch aufgesetzt. Hypotonie.
Weder am Stamme noch an den Extremitaten grobere Storungen der
oberflachlichen Sensibilitat.
Sprache mitunter stockend und bebend, verwaschen. In psychischer
Hinsicht bietet er ein Bild vollkommener Desorientiertheit. Er weiss nicht,
wo er sich befindet, gibt als Datum 5. September 1907 an, ist bald Fleisch-
hauer, bald in einer Mtischinenfabrik beschaftigt, stimmt dann bei, als man
ihn daran erinnert, dass er Polizeiwachmann sei; befinde sich seit 10 Jahren
,,hier.“
Wahrend eine Aeusserung, die er macht. eine gewisse Krankheitsein-
sicht enthalt — er meint, er sei ,,gehirnarm“ geworden —, kniipft er gleich
daran die Bernerkung, ,,dass die Krankheit den Verstand auf den richtieen
Weg brachte. “
Vorgehaltene Gegenstande bezeichnet er richtig, Rechenaufgaben
machen ihm gross© Schwierigkeiten, und die Losung gelingt nur bei Opera-
tionen mit kleinen Zahlen.
l ) Der Fall wurde in der Publikation von Kafka: Ueber die klinische
Bedeutung der Komplementbindungsreaktion im Liquor cerebrospinalis,
speziell bei der progressiven Paralyse. Monatssehrift f. Psych, und Neurol’
Bd. XXIV. H. 6, als „15. Fall 41 verwertet.
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31
Wahrend der weiteren Beobachtung ©rwiesen sich die Lahmungser-
seheinungen im Bereich© des linken Oculomotorius als stationar ; spater traten
aber Bewegungsstorungen auch am rechten Auge auf, die Bewegungen des
Bulbus waren deutlich nach oben und unten eingeschrankt, nach innen
sohien die Beweglichkeit ebenfalls ©in© Einschriinkung erfahren zu haben.
In don letzten Tagen des Monates Marz stellten sich Schluckbeschwerden
ein, welche bis zum Exitus an Intensitat zunahmen.
Die Spraehe ©rlitt in zwei Richt ungen S tor ungen mit sehr rascher
Progredienz; einerseits verschlechterte sich die Artikulation in einer toils
der paralytisclien, toils der bulbaren Sprachstorung ahnlichenArt, anderseits
bildet© sich ©in© Paraphasie heraus, welch© sich allmahlich auf all© sprach-
lichen Aeusserungen erstreckte. Das Sprachverstandnis schien bis in di©
letzte Z©it ziemlich ©rhalten zu sein, wahrend der sprachlich© Ausdruck
sich zuletzt auf ©in Lallen reduzierte.
Di© Pare86 der rechten Korperhdlfte blieb iramer bestehen, zeigt© aber in
der Intensitat Schwankungen. Mitt© Marz traten im Schlafe leichte unregel-
massig© Zuckungen im Bereiche der rechten Gesichtshalfte, des rechten
Armes und Beines auf; in der Hand waren dabei athetoseartige Bewegungen
zu beobachten; die Zuckungen der Hand wiederholten sich in der Folgezeit
ofters.
Psychisch war in der ersten Zeit seines Aufenthaltes an der Klinik
neben der schweren Desorientiertheit, welche sich auch auf die moisten per-
sonlicheii Verhaltnisse bezog, eine allgemeine Stumpfheit im Vordergrund.
Weiterhin traten zeitweilig, besonders nachts Erregungszustande auf;
er war sehr unruhig, drangte fort, spracli alles Mogliche durcheinander.
Er verkannte die Personen seiner Umgebung, konnte iiber Geschehnisse
des vorhergehenden Tages keinen Bescheid geben, erging sich bei jeder
Frage in Konfabulationen; einfache Auftrage wie Handheben, Zungezeigen
u. s. w. fiihrto er aus. In den letzten Tagen vor dem am 17. IV. 1908 er-
folgten Exitus reagierte er fast gar nicht auf die an ihn gerichteten Fragen,
lallte nur manchmal etwas Unverstandliches vor sich hin. Eine Pneumonie
fiihrte den Exitus herbei.
Die Sektio-n ergab neben einer diffusen Bronchitis und Bronchopneu-
monie an bemerkenswerten Befunden: Die Gehimrinde leicht atrophisch,
am starksten im Bereiche des Stirnhims. Gegeniiber einer massig starken
N’erdickung und Triibung der Meningen der Konvexitat fattt die Intensitat
der meningealen Verdnderungen an der Basis, insbesondere um das Chiasma
opticorum, auf.
Der linke Oculomotorius erscheint etwas schmdler als der rechte , transpa¬
rent grau.
Die Intima der Aorta und der grosseren Aeete ist mit feinen, streifen-
formigen Verdickungen besetzt.
Die Untersuchung des Gehirns nach Formolhartung — das Gehirn war
in toto zur vorlaufigen Fixierung in Formol eingeiegt worden — ergibt das
Vorhandensein sehr ausgesprochener EpendymgraniUationen imIV. Ventrikel.
Die durch den Gehirnstamm gemachten Schnitte decken aber noch eine
sehr auffaUige Verdnderung auf.
In Anlehnung an die durch die Medulla oblongata, das Mittel- und
Zwischenhirn angelegte Schnittserie soli die Topographic des pathologischen
Prozesses festgelegt werden; hier sei nur an der Hand eines dorsoventralen
Schnittes durch die Vierhiigelgegend das makroskopische Aussehen der
Veranderung beschricben.
Die dorsalen Partien der Haubenregion samt den Vierliiigeln erscheinen
am Querschnitt stark asymmetrisch infolge einer bedeutenden AnschtoeUung
der linken Halfte. Im Bereiche dieser Anschwellung — es ist ein etwa heller-
grosses Areale — ist die Uewebsstruktur voUkommen verwischt; die Rons is ten z
erscheint nicht wesentlich verandert, wo bei aber beriicksichtigt werden muss,
dass die Formolhartung geringere Konsistenzveranderungen bereits ver¬
wischt liaben durfte.
Die mikroskopische Untersuchung des Grosshirns ergibt unzweifelhafte
♦Symjitome einer progressiven Paralyse . Um den Umfang der Arbeit nicht
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32
Strauasler, Ueber zwei weitort* Falle
unnotiger weise zu vergrossern, wollen wir es uns auch hier versagen, die
Einzelheiten der fiir die Paralyse char ak ter istisc hen Veranderungen des
Breiten zu erortern. Es sei nur hervorgehoben, dass der Befund in der
Hirnrinde einem nicht weit vorgeschrittenen Grade der Erkrankung ent-
spricht. Ira Stimhim und Schlafelappen fallen die Veranderungen der ein-
zelnen Ganglienzellen und die Storung ihrer Anordnung, der Markfaser-
schwund, die Gliawucherung und die Gefassalteration am starksten in die
Augen.
Den verhaltnismassig geringgradigen Veranderungen der nervosen
Substanz gegeniiber zeichnet sich die Erkrankung der Meningen — hier
sei vorlaufig nur von den weichen Hirnhauten der Konvexitat gesprochen —
durch eine starke Entwicklung einer chronisch-hyperplastischen Entziindung
au8; die Meningen weisen eine schwartige Verdickung auf, Infiltrations-
elemente, vornehralich Plasmazellen, sind in verhaltnismassig geringerer
Zahl vorhanden.
Verfolgen wir nun an einer Weiqert -Serie durch den Gehimstamm die
pathologisehe Veranderung, welche sich am raakroskopischen Querschnitte
durch die Schwellung und Verwischung der Zeichnung in der Haubenregion
kenntlich gemacht hatte, so haben wir folgende topographische Verhaltnisse:
In der vorderen Briickengegend, beim Uebergange des Hinterhirns
ins Mittelhirn, vor dem Beginn der Bindearmkreuzung ist die distale Grenze
der Affektion; hier raacht sich zuerst eine Asyrametrie der Haube bemerk-
bar, indem die linke Halfte unregelraassig verbreitert erscheint, so dass der
Aquaeductus Sylvii exzentrisch nach rechts veriagert ist. (Taf. V, Fig. 9.)
Etwa 50 Schnitte der 40 fi dicken Serie cerebralwarts erscheint als Ausdruck
einer tiefgreifenden Gewebsveranderung an den IFci^crfschnitten eine
diffuse, von einzelnen Markinseln unterbrochene Lichtung, welche rait un-
regelmassigen, vielfach gezackten Grenzen seitiich von der Mittellinie, im
linken Brachiura conjunctiv r um beginnt, nach unten und lateral an die
rnediale resp. an die laterale Schleife reicht und dorsal sich bis in die Faserung
des hinteren Vierhiigels erstreckt.
Weiterhin wird die SchweUung starker, und der Faserausfall nimmt
an Intensitat und Extensitat zu; wir haben bald ein vollkommen blasses,
der Markfasern beraubtes, imregelmassig begrenztes Gebiet vor uns, welches
nun nach unten auch in die Briickenfaserung hineinreicht und medialwarts
mit einem zungenformigen Fortsatz die Mittellinie iiberschreitet. Textfigur
2 entspricht ungefahr dieser Gegend.
Indes ist es in der Verfolgung der Schnittserie zur Kreuzung der Binde-
arme gekommen, das Gebiet der roten Kerne ist erschienen, die Briicken-
faserung wurde durch die Hirnschenkel abgelost. Der rote Kern der linken
Seite verschwindet nun vollstandig in dem Herd, der in der Raphe die
Mittellinie nach der anderen Seite etwas iiberragt; lateral und nach oben
bildet das Corpus geniculatum die Grenze des Herdes, nach unten reicht
er bis in den Hirnschenkelfuss, dessen vorderes Drittel er in Mitleidenschaft
zieht. (In der Gegend von Taf. V, Fig. 11.)
Eine besondere Aufmerksamkeit erfordert hier das Auftreten von
kleineren , von dem grosxen Herde durch gesundes Oeivebe gelrennten Herdchen .
welche in der grauen Substanz links und rechts der Mittellinie lokalisiert.
da# Gebiet der Oculonwtoriu#kerne in sich fassen.
Auf der linken Seite ist nun der Oculomotorius zum Teil im Kerne ge-
#chadigt, in schwerster Weise erschienen aber die vom Kerne abgehenden Fasern
beiroffen , welche den Herd passieren miissen und hier der Zerstorung anheim-
fallen; der rechte Oculomotorius leidet im Kemgebiete Schaden durch die hier
lokalisierten Herde.
Sobald der 3. Ventrikel die basalen Ganglien der beiden Seiten von ein-
ander geschieden hat, ist die Affektion auf die linke Seite beschrankt und
erstreckt sich iiber die unteren Teile des Sehhiigels, die innere Kapsel und die
medialen unteren Teile des Linsenkerns (Taf. V, Fig. 12, 13).
In dieser Ausdehnung durchzieht der Herd das ganze Zwischenhirn.
dringt dann noth mit den aussersten Auslaufern in das Stirnhirn ein, wo er
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von Kom bination cerebraler, gummoser Lues etc.
33
sich in den an das Chiasma opticum angrenzenden Partien etwa 1 cm liber
der Basis im Markweiss der linken Seite durch Lichtung der Markfasern
kenntiich macht. (Taf. V, Fig. 14.)
Wenn wir nun auf Grund von Farbungen nach van Gieson , mit Haema*
toxylin-Eosin, Methylenblau und Thionin den feineren histologischen Ver¬
anderungen dieses Gebietes nachgehen und die distalsten Auslaufer der
Affektion ais die frischesten zum Ausgangspunkt nehmen, so finden wir,
dass die hier auftretenden Veranderungen sich im wesentlichen auf eine
Vermehrung und Veranderung der kleinen Gefasse beschranken. Das ner-
vose Gewebe erscheint kaum merklich durch eine Zunahme von Gliakernen,
vielleicht auch eine Vermehrung von faseriger Glia verandert.
Die Gefasswande, welche hie und da mit einzelnen Plasmazellen be-
setzt sind, zeigen in schwacher Auspragung Eigentumlichkeiten, welche sich
spater zu hochgradigen und charakteristischen Veranderungen ausgestalten.
Die Wandungen der kleinen Gefasse sind verdickt , die Elastica und Adventitia
aufgefasert. die Intima- und Adventitiazellen stark gewuchert.
Gehen wir etwa einen Millimeter weiter nach vorne, so hat das Bild
schon einen entschiedenen Charakter erhalten.
Die Gefasse bleiben auch jetzt durch ihre auffallenden Veranderungen
im Mittelpunkte des Interesses.
Die Infiltrate haben bedeutend zugenommen; die mittleren und kleineren
Gefasse sind nun eingescheidet durch Plasmazellen; die Untersuchung
mit starkeren Linsen ergibt, dass die Plasmazellen zum grossen Teile in die
durch Zerfaserung der Gefasswande entstehenden Maschen eingalagert
sind.
Bei den Jcleinsten Gefassen herrscht die Wandverdickung gegenOber der
Infiltration vor ; durch Zerfaserxmg der Elastica und Vervielfaltigung des
Endothelbesatzes entsprechend der ins Lumen der Gefasse spiralig sich
vorschiebenden Elastica nimmt das Lumen bis zur vollstandigen Oblite-
rierung ab. In einer Zahl der kleinsten Gefasse geht auf diese Weise das Lumen
verloren, und es bleibt dann oin rundes, mit blassen, langlichen, zwiebel-
schalenartig angeordneten Kernen versehenes Gebildo zur tick, an welchem
nur mehr die Art und Anordnung der Kerne, sowie eine durch verschiedene
Lichtbrechung hervortretende, an die Kerne sich anschliessende Faserung
die Herkunft erkennen lasst. (Tafel V, Figur 9.)
Im Grundgewebe ist auch hier noch im wesentlichen die Struktur er¬
halten; am W eigertachnitte bemerkt man auch noch ziemlich reichliche.
wenn auch zum Teil stark gequollene Markfasern.
Betrachtet man aber ein Praparat, welches einer Kernfarbung unter-
zogen wurde (mit einer schwacheren Linse), so bietet sich bereits ein Bild
hochgradiger Veranderung dar; neben der Gefassinfiltration ist liber das
ganze Gewebe, teils diffus, toils mehr in Gruppen angeordnet, eine sehr
grosse Zahl von Zellkernen verschiedener Art verstreut.
Geht man der Natur dieser Kerne und der entsprechenden Zellen nach,
so findet man: Eine Wucherung der zelligen Elemente der Glia steht stark im
Vordergrunde; man findet ein- und mehrkernige Monstrezellen mit den
Charakteren der Gliafaserbildung. Den zu Gliazellen gehorigen grosseren
und grossen, mehr blassen Kernen treten grosse Mengen kleiner, dunkel
gefarbter Kerne zur Seite, welche vornehmlich um Gefasse sich anhaufen
aber den Bereich der Gefasse auch iiberschreiten und im Gewebe freie An-
haufungen bilden; siestellen Infiltrationselemente dar, und zwar liberwiegend
Plasmazellen.
Eine grosse Zahl von Kernen, in ihrem Aussehen zwischen den beiden
bisher genannten stehend, gehoren zum Teil Gliaelementen an, zum Teil
Wucherung8zeUen des Gefassbindegewebes.
Verfolgen wir die weiteren Phasen des Prozesses, so bleiben es immer
die Gefasse, welche in erster Linie unsere Aufmerksamkeit in Anspruch
nehmen; die Obliteration der klfinen Gefasse hat derartige Fortschritte
gemacht, dass im Bereiche der Affektion in fast sdmtlichen kleinen Gefassen
das Lumen verlegt ist ; sie sind oft nur mehr durch die den Gefassen zukom-
Monatsschrift f. Psychiatric a. Neurologic. Bd. XXVIT. Heft 1. 3
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34 Straussier, Ueber zwei weitere Falle
menden charakteristischen Konturen zu erkennen, da auch die Reste der
friiher bestandenen Schichtung schwinden; durch die Ansammlung von
blassen Bindegewebskemen, den Kernen der Gefasswandzellen, in dem
nun fast homogenen Gewebsstrang erhalten diese Abkommlinge der Gefasse
das Ansehen von Riesenzellen.
Nun gehen a her im nervosen Gewebe allmahlich durchgreifende Ver-
anderungen vor sich; stellenweise geht die nervose Substanz zugrunde,
es liegt ein aus Gliafasern gebildetes, maschiges Geriiste vor uns, in dessen
Liicken gross© Kornehenzellen eingelagert sind
Infiltration und Wucherung der WandzeUen an den grossen Gefassen y
Verengerung und schliesslich Obliteration der kleinen Gefasse, Ueberschwem -
mung des ganzen Gewebes mil Infiltrations - und WucherungszeUen 9 einerseits
bindegewebiger und anderseits glioser Natur und zuletzt regressive Vorgdnge
am nervosen Gewebe , Nekrose und erweichungsartige Prozesse bilden die Ele-
menJte der sich hier abspielenden pathologischen Verdnderungen,
Die histologischen Bilder, welche dadurch entstehen. wechseln in ver-
schiedenen Hohen und auch im einzelnen Schnitte je nach dem Grade, zu
welchem der Prozess gediehen ist. Wir wollen die einzelnen Stadien und die
dabei erscheinenden Zell- und Gewebselemente festhalten. Die feinere
histologische Untersuchung erleidet in unseren Praparaten freilich eine Ein-
busse dadurch, dass von vornherein das ganze Praparat in der Weigert -
schen Chrombeize eingelegt und die angefertigten Serienschnitte die Dicke
von 40 /x besitzen. Fur die Kornfarbungen wurden die Praparate wohl
wieder entchromt, die Dicke der Schnitte erschwert aber immerhin die
Differenzierung mancher Zellarten in hohem Masse.
Die ersten im Gewebe und an den Gefassen auftretenden Veranderungen
wurden bereits geschildert; in den peripheren Partien des von dem Prozesse
betroffenen Gebietes finden sich in alien Hohen die gleichen, wie aus unserer
friiheren Beschreibung hervorgeht, als entzundlich zu bezeichnenden Er-
scheinungen.
Es kommt dann ein Stadium, in welchem sich dem Auge beim Blicke
ins Mikroskop dicht an einander stehende Kerne und Zellen darbieten; ab-
gesehen von den Gefassen verschwindet das urspriingliche Gewebe voll-
standig unter dieser Zellmasse.
Es ist ausserordentlich schwierig, in diesem Zellwust die einzelnen
Zellarten zu differenzieren; vollends unmoglich wird es, die Protoplasma-
leiber von einander zu scheiden und dem zugehorigen Kerne zuzutoilen.
Zwischen den Kernen blickt eine zum Teile homogene, zum Teile granu-
lierte, meist zusammenfliessende, hie und da in einzelne Zellelemente zu
trennende Protoplasma masse hervor.
Die Kerne . welche hier zu sehen sind, lassen sich differenzieren als:
1. Radkerne von Plasmazellen; 2. dunkle, runde, kleine Kerne, Lympho-
zyten angehorig; 3. runde, grosse, blasse Kerne von glioser Natur; 4. lang-
gestreckte, blasse, chrornatinarme Kerne von bindegewebigem Charakter.
Die regressiven Vorgange koinmen in zwei verschiedenen Formen zum
Ausdruck, und zwar scheint die Struktur des Gewebes dabei von ausschlag-
gebender Bedeutung zu sein. In der gi’auen Substanz zeigt sich an mancher
Stelle das Bild derKoagulationsnekrose. Das ganze Gewebe erhalt ein triibes
Aussehen, ist von eincr fadigen Masse durehzogen, die Kerne leiden an ihrer
Farbbarkeit und fallen der Zerstbrung anheim; an anderen Orten sieht man
bereits Zeichen einer fortgeschrittenen Zerstbrung des Gewebes; es ent-
stehen Gewebsliicken, welche mit einer gerinnselartigen Masse erfiillt von
dichten Haufen dunkler Kornchen, die als Zerfallsprodukte von Zellkernen
ini{)onieren, umgeben sind.
In der weissen Substanz dagegon dominieren beim Eintreten von Zer-
iallsprozessen Gitterzellen; zunachst troten einzelne typische Gitterzellen
zwischen den friiher beschriebenen Kernen verschiedener Art auf. Das End-
resultat einerseits des Zerfalls der nervosen Substanz und anderseits der
Wucherung der Glia stellt sich dann de#hrt dar, dass die Raume zwischen
den maehtigen Gliabalken von ey)ithe!artig aneinander gereihten Gitter¬
zellen erfiillt sind.
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35
Xoch in einem friiheren Stadium des Zerfall sprozesses sieht man an dsn
Gitterzeilen ein nicht gewohnliches Bild xonC ytophagie; man findet eine grosse
Zahl dieser Zellen von grossen Dimensioned vollgepfropft mit toils gut er-
haltenen, toils zerfallenen Kernen; es sind die gleichen Kemfragmeute,
wie wir sie friiher im Gewebe beschrieben haben. v Taf. V. Fig. 10.)
Manchmal erhalfcen dies© mit Kernen vollgepfropften Zellen, sofem
die Kerne noch gut erhalten sind. das Aussehen von Riesenzellen. Selbst-
verstandlich kann man diesen Gebilden nicht die Bedeutung von Riesen-
zellen beimessen.
Nun findet man aber sehr haulier in Gebieten. in welchen bereite ne-
krotische Veranderungen Platz gegriffen haben, noch Zellforinen, welohe
den Xaroen von ^Riesenzellen" tatsachlich verdienen, wenn sie auch von dem
gewohnlichen Aussehen dieser Zellen — in Granulationsgeschwiilsten —
abweichen.
Es handelt sieh dabei nni eine Anhaufung von mittelgrossen, runden
oder haufiger noch langgestreckten, ziemlich chromatinreichen Kernen zu
einem dichten. anscheinend durch Protoplasma zusammengehaltenen,
runden oder mehr unregelmassigen. langgestreckten Haufen; das Proto¬
plasma ist zwischen den Kernen als homogene Masse sichtbar. Die
Zellen haben grosse Aehnliehkeit mit Riesenzellen aus Sarkomgeschwulsten.
(Taf. V, Fig. 11.)
Einer genaueren Beschreibung bedarf noch das Verhalten der grossertn
Gefasse im Gebieto der starksten pathologischen Veranderungen.
Von der Infiltration der Gefasse mit Plasmazellen und der Wucherung
der Wandzellen war schon friiher die Rede; in einem friihen Stadium des
Prozesses findet man die Gefasse eingescheidet von einem breiten, dichten
Infiltrationsringe. Sobald aber die Nekrotisierung im Nervengewebe Platz
gegriffen hat, sieht man an den Gefassen noch weitere Veranderungen. Es
sei nur kurz erwahnt, dass an der Intima sich Wuclierungsvorgiinge ab-
spielen, dass die Elastica sich absplittert und das Endothel proliferiert,
class die Media einer Homogeneeierung unterliegt. Den starksten Ver¬
anderungen ist die Adventitia unterworfen, und mit diesen wollen wir uns
hier beschaftigen.
Die Adventitia hat sehr bedeulend an Umfang zugenommen , so dass sie
einen sehr breiten Kranz um das Gefass bildet; ist diese Zunahme zum Teil
durch ein Auseinanderweichen der Bindegewebsfasern bedingt, so ist zweifel-
lo8 auch eine wirkliche Massenzunahme dmch Proliferation vorhanden.
Die Fasern weichen auseinander und nehmen zwischen sich in die so ent-
standenen Maschenraume grosse Mengen von Zellen auf; zunachst sind es
Infiltrationszellcn, und zwar wiederum Plasmazellen. Wenn die Wucherung
der Adventitia, die Auf split ter ung der Fasern und die Erweiterung des
adventitiellen Lymphraumes sich nicht gleichmassig auf die Peripherie
des Gefasses verteilt, so entstehen — am Querschnitte — meniscusartige
Ansatze auf die Gefasswand.
Kommt es in der Umgebimg des Gefasses zum Zerfall des Gewebes,
so ist dann das innerhalb der Adventitia befindliche Zelldepot ein Abbild des
im Qewebe befindlichen friiher geschilderten Zellmateriales; man sieht hier
eine dichte Masse teils gut erhaltener, tails in Zerfall begriffener Zellen,
welche zum Teile von Infiltrationsvorgangen herriihren, zuin Teile der
Proliferation der Gefasswandzellen ihr Leben verdanken, zum Teile aus dem
Gewebe zugefuhrtes Material — Gitterzellen samt Inhalt — darstellen.
Es ist wohl nicht notwendig, besonders hervorzuheben, dass die Gliaela-
mente, welche im Bilde des pathologisch veranderten Gewebas eine grosse
Rolle spielen, hier fehlen.
Im Anschluss© an die Veranderung der Adventitia ergibt sich dann
haufig ein interessantes Verhalten dieser Gefasse der Umgebung gegeniiber.
An vielen Orten verliert sich die Grenze der Gefasswand in das umgebende
Gewebe; manchmal ist diese Erscheinung dadurch bedingt, dass die machtige,
das Gefass einscheidende Zellmasse unmittelbar in einen das Gefass be-
gleitenden besonders dichten Wall von Zellen, welche schon dem Gewebe
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36
Stra ussier, Ueber zwei weitere Falle
angehoren, iibergeht; haufig spielt aber ausserdem fur das Verschwimraen
der Grenze die Eigentiimlichkeit der Auffaserung der Adventitia eine
wichtige Rolle. Das aufgefaserte Bindegewebe strahlt in die Umgebung
ein, wahrend anderseits die gewucherte faserige Glia sich derart an die Ge¬
fasse anschliesst, das9 eine Scheidung — insbesondere bei den gewohnlichen,
fur Gliagewebe nicht spezifischen Farbemethoden — gar nicht mehr mog-
lich ist.
Wie ans der topographischen Beschreibung der Affektion hervorgeht,
strahlt sie nach vorne in das Stimhim ein und findet hier ihre ausserste,
vordere Grenze.
Der ,,Herd“ nimmt hier auf der hnken Seite ein Areal von etwa 0,5 cm
im Durchmesser ein, findet seine aussere Begrenzung an der Rindenmark-
grenze.
Beim Blick in das Mikroskop fallen wieder zunachst die Gefasse infolge
der breiten Einscheidung durch Infiltrationszellen in die Augen: Lympho-
zyten und Plasmazellen halten einander in der Infiltration ungefahr die
Wage.
Fasst man nun das ganze betroffene Gebiet ins Auge, so fallt die Reich -
haltigkeit an Kernen auf; die Verteilung derselben ist keine gleichmassige,
sondern eine herdweise; es finden sich mehrere Punkte, um welche die
Kernanhaufung besonders dicht ist, und zu gleicher Zeit macht sich eine
Andeutung von Schichtung geltend: Ein Zentrum, bestehend aus einer Masse
von kleinen, sehr dunkelgefarbten Kernen, welche verschiedene Formen
aufweisen und zum Teile in Zerfall begriffen zu sein scheinen, ist umgeben
von stark gewucherten Gliazellen — Monstrezellen —, von Stabchenzellen
und zahlreichen Bindegewebszellen, welche offenbar von den im Umkreise
vermehrten Gefassen abstammen.
Die kleinen Kerne des Zentrums sind Plasmazellen und Lymphozyten,
zum Teile Bindegewebszellen in verschiedenen Stadien des Zerfalls.
Es eriibrigt uns nur noch, den Befunden an den iibrigen Teilen des
Gehirnstammes, an den Meningen der Gehimbasis und den basalen Gefassen
eine kurze Schilderung zu widmen.
In den von der beschriebenen Affektion verschonten Partien ist fast
iiberall eine geringe Infiltration der Gefasse mit Plamazellen und Lympo-
zyten nachweisbar.
Reeht erhebliche meningitische Erscheinungen finden sich an der menin -
gealen Bekleidung des Gehirnstammes; die Infiltration erreicht sehr hohe
Grade an der Strecke der Hirnschenkel, wo der zuvor beschriebene Prozess
bis an die Basis heranreicht; hier besteht dann auch eine Kontinuitat
zwischen der meningealen Affektion und der Erkrankung der Hirnsubstanz.
Wahrend aber in den Meningen der Prozess durch die Art der Infiltration
— junge Zellen, sehr viel Lymphozyten — den Stempel einer verhaltnis-
massig frischen und akuten Erkrankung tragt, ist in der benachbarten Ge-
himsubstanz bereits ein weitgediehener Zerfall nachweisbar. Die Annahme ,
doss die Affektion der nervosen Substanz etwa sekundar durch die meningeale
Erkrankung bedingt ware , ist daher von der Hand zn weisen.
Von wesentlichem Interesse erscheint natiirlich das Verhalten der
basalen Gefasse ; in dieser Hinsicht ist nun hervorzuheben, dass nirgends
erhebliche Veranderungen vorhanden sind. In der Arteria vertebralis, hie
und da auch in den Aesten derselben, sind wohl endarteriitische Prozesse
vom Heubnerschen Typus sichtbar. Nirgends kommt es aber zu einer
wesentlichen Verengerung, geschweige denn zu einer Verlegung des Lumens
der fiir die Emahrung des betroffenen Gebietes in Betracht kommenden
Gefasse.
Halt sich die Infiltration in der meningealen Bekleidung des Gehirn¬
stammes im allgemeinen noch in solchen Grenzen, dass man sie der Paralyse
zuschieben konnte, so erreicht sie um das Chiasma an den hinteren basalen
Partien des Stimhims einen Grad, welcher einer besonderen Erklarung be-
diirftig ist; die Infiltration hat stellenweise die Breite von etwa 1 mm .
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Neben der Intensitat bildet die Ungleichmassigkeit der Verteilung ein
auffalliges Moment; es ist eine herdweise Ansammlung der Infiltrations-
zellen ganz deutlich ausgesprochen (Taf. V, Fig. 12), und zwar sitzen die
Infiltrationsherde vomehmlich an der Wolbung, am Uebergange von der
basalen zur inneren Flache der unmittelbar vor dem Chiasma gelegenen
Stirnhirnteile.
Was aber diese Infiltration besonders von der Infiltration bei Paralyse
unterscheidet, das ist einerseits das Auftreien von epitheloiden Zellen innerhalb
der Infiltrationsmasse und anderseits nekrotisehe Vorgdnge.
Es sei aueh hier wieder hervorgehoben. dass die Infiltrationszellen
zum guten Teile aus Plasmazellen bestehen. Im Zentrum der angehauften
Infiltrationszellen, welch& im gefarbten Praparate als sehr dunkle Flecken
an der Gehirnbasis erscheinen. zeigen sich da und dort deutliche Lichtungen
(Taf. V. Fig. 13), und die Untersuchung mit starkeren Linsen ergibt, dass
hier neben einzelnen Infiltrationszellen vomehmlich Zellen mit grossem,
langlichem, blassem, blasigern Kern Platz gefunden haben; stellenweise
erhalt das Gebiet ein triibes Aussehen, und die hier befindlichen Infiltrations¬
zellen zeigen ganz ausgesprochene Merkmale von regressiven Vorgangen.
Die Gehirnsubstanz wird in den an die Affektion der Meningen an-
grenzenden Partien durch Ueberwandern von Infiltrationszellen und durch
Infiltrierung der Gefasse in Mitleidenschaft gezogen; die nervosen Ele-
mente erfahren eine Schadigung, welcher eine entsprechende Gliawucherung
auf dem Fusse folgt. Diese Veranderungen halten sich aber bloss an die
Oberflache der Gehirnsubstanz und st-ehen init der friiher beschriebenen
Affektion des Stirnhirns nicht in Kontinuitat.
Durch die Entziindung der Meningen in der Umgebung des Chiasma
werden die Sehnerven in Mitleidenschaft gezogen; die Opticusscheiden weisen
eine rechl lebhafte Infiltration auf .
Die an den Schnitten dieser Gegend sichtbaren Carotisstiimpfe tragen
an ihrer Intima ziemlich erhebliche Wucherungen von Heubnerschem
Typus.
Im Riickenmark fand sich eine voUentwickeUe Tabes , welche in ihrer
typisehen Art zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass gibt.
Die auf die Diagnosenstellung hinzielenden klinischen Er-
u agungen bekamen durch die im Vordergrunde stehenden nervosen
Ausfallserscheinungen eine zum vorigen Falie entgegengesetzte
Richtung. Schien dort die Diagnose der Paralyse den Krank-
heitsfall auch nach der anatomischen Richtung hin zu erschopfen,
so wurde hier bei der Dignose auf die luetische ErJerankuruj
das Schwergewicht gelegt.
In ziemlich rascher Folge entwickelten sich etwa zwei Monate
vor der Aufnahme in die Klinik Augenmuskelstorungen und Lah-
mungserscheinungen einer Halbseite.
An der Klinik erwiesen sich die Augenmuskelstorungen im
wesentlichen bedingt durch eine komplette Ldhmung des Ocvlomo -
torius der linken Seite; der Abducens war sicher frei, beziiglich des
Trochlearis konnte kein sicheres Urteil gewonnen werden. Dazu
kam eine Parese der rechten Korperhalfte mit Ausfall der Haut-
reflexe, wir hatten also eine Hemiplegia altemans vor uns. Spater
bildeten sich auch im Bereiche des recliten Oculomotorius in be-
schrankterem Masse Lahmungserscheinungen aus. Schluckbe-
schwerden und eine Artikulationsstorung von bulbarem Charakter
fiigten sich in den Rahmen einer im Bereiche des Gehirnstammes
zu lokalisierenden Lasion.
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A
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38
Strausslor, Ueber zwoi weiter© Fall©
Das Krankheitsbild kompbzierte sich, als dann eine aphasische
Sprachstorung, in welcher eine Paraphasie vorherrschte, hinzutrat.
Da die reinen Bulbarerscheinungen, die bulbare Sprachstorung
und die Schluckbeschwerden in dem Symptomenkomplex in ihrer
Intensitat zuriicktraten, die Aphasie aber auf eine Affektion des
Grosshims hinwies, war man geneigt, die Augenmuskelstorungen
auf einen basalen meningitischen Prozess luetischen Charakters und
die Korperlahmung auf eine durch luetische Gefasserkrankung
bedingte Erweichung in der linken Hemisphare zuriickzufiihren;
die Annahme der basalen Meningitis fand eine Stiitze in der von
ophthalmologischer Seite nachgewiesenen Neuritis optica.
In dem Bestreben, alle Erscheinungen durch die luetische
Erkrankung zu erklaren und bei dem Fehlen geniigender Anamnese
kam man dazu, die tabischen Symptome im Sinne einer Pseudo-
tabes syphilitica aufzufassen.
Diese nervosen Erscheinungen beherrschten in solchem Masse
das Krankheitsbild, dass auch die psychischen Symptome auf
Kosten der Syphilis des Zentralnervensystems resp. der sekundaren
Veranderungen gesetzt wurden.
Erst in zweiter Linie wurde progressive Paralyse ins Kalkiil
gezogen.
Die Annahme einer Pseudotabes syphilitica biisste zwar sehr
viel an Wahrscheinlichkeit ein zugunsten einer gewohnlichen Tabes,
als die Wassermannsche Reaktion der Zerebrospinalfliissigkeit
sich als positiv erwies.
Die Diagnose einer syphilitischen Erkrankung wurde nun durch
die Sektion bestatigt, wenn auch die Art und Lokalisation der
Storung sich mit unseren Voraussetzungen nur zum Teile deckten.
Insbesondere zeigten sich die tabischen Erscheinungen als Ausdruck
einer gewohnlichen Tabes und die Wassermann sche Reaktion
hatte also den richtigen Weg gewiesen.
Die histologische Untersuchung deckte aber weiters die progres¬
sive Paralyse auf, und so kann man wohl annehmen, dass die
psychischen Symptome auf Kosten der Paralyse zu setzen waren.
Wahrend die Wurdigung der Kombination von progressiver
Paralyse mit den spezifisch-luetischen Erscheinungen fiir spater
aufgespart sei, wollen wir hier bei der aus dem anatomischen Be-
funde sich ergebenden Deutung der klinischen Erscheinungen
und dem anatomischen Befunde selbst kurz verweilen.
Die Oculomotoriuslahmung der linken Seite erkldrt sich einer-
seits aus der Affektion der Kernregion und anderseits aus der Er¬
krankung der Wurzelfasern; es ist selbstverstandlich nicht moglich,
den Anted dieser und jener an dem Endeffekt der totalen Lahmung
festzustellen. Es handelt sich aber jedenfalls nicht um den gewohn¬
lichen Entstehungsmodus der Lahmung durch die basale Menin¬
gitis.
Die partiellen Lahmungserscheinungen im rechten Ocvlomotorius
konnen wir aber auf die Erkrankung des Kernes beziehen, und wir
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von Korabination cerebraler. guinmoser Lues etc.
39
hatten also hier den von Nonne ') als besonders selten bezeichneten
Fall—es soli nach Nonne und WUbrand und Saenger kein einschlagiger
Sektionsbefund vorliegen — einer partiellenOculomotoriuslahmung
vor uns, welche durch eine isolierte Kemerkrankung bedingt ist.
Die gekreuzte Ldhmung der Kdrpermuskulatur ist durch die
Ausdehnung des Herdes in den Hirnschenkelfms resp. in einen Teil
der inneren Kapsel verursacht; wir konnen von einer Hemiplegia
alternans superior sprechen.
Die Neuritis optica bedarf als Folge der basalen, um das
Chiasma besonders stark ausgesprochenen Meningitis mit sekun-
darer Affektion der Sehnerven keiner weiteren Erorterung.
Fiir die Schluckbeschwerden, die bulbare Sprachstorung und
die Aphasie fand sich kein groberes Herdsubstrat.
Wenn wir nun auf die anatomischen Veranderungen — ab-
gesehen von den Symptomen der Paralyse, welche auf ein verhalt-
nismassig wenig vorgeschrittenes Stadium der Krankheit hin-
weisen, aber sonst nichts Bemerkenswertes bieten — unser Augen-
merk richten, so ergibt sich fiir die Erkranhung der Meningen in
der Gegend des Chiasma sowohl nach deren Sitz als auch nach der
histologischen Eigentiimlichkeit eine sichere Deutung; konnen wir
Tuberkulose ausschliessen, was hier tatsachlich der Fall ist —
eine Sarkomatose kommt hier wohl gar nicht in Betracht —, so
ist bei Beriicksichtigung des ganzen Bildes die Diagnose einer
gummosen Meningitis nicht anzuzweifeln.
Wir miissen besonders hervorheben, dass wir in den aus j ungen
Plasmazellen bestehenden, in herdweiser Verteilung auftretenden
Infiltrationen Herde von grossen, bindegewebigen j Zellelementen
von epitheloidem Charakter auftreten sehen, welche mit den Infil-
trationszellen gummose Bildungen formieren, in denen auch ne-
krotische Vorgange Platz greifen.
Auf diesen Befund sei als unzweifelhaftes Kriterium eines von
der paralytischen Infiltration grundverschiedenen Prozesses be-
sonderes Gewicht gelegt.
Viel schwieriger gestaltet sich unsere Aufgabe, die Affektion
des Gehirnstammes einer befriedigenden Deutung und Erklarung
zuzufiihren.
Wir diirften der Losung am ehesten im Wege der Exklusion
naher kommen.
Der makroskopische Befund und der Zerfall der nervosen
Substanz bietet manche Aehnhchkeiten mit einer ischamischen
Erweichung. Aber schon die Verteilung des Prozesses lasst uns die
Annahme einer gewohnlichen ischaemischen Erweichung von der
-Hand weisen. Der vorliegende Prozess nimmt nicht nur das Ver-
sorgungsgebiet verschiedener Gefasse desselben Ursprungs ein,
sondem erstreckt sich auf ein Territorium, welches seine Ernahrung
aus ganz verschiedenen Blutquellen bezieht: Aus der Art. basilaris
und der Carotis interna.
M 1. c.
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40
Stra ussier, Ueber zwei weitere Fiille
Bei der Verfolgung der Serienschnitte erweist sich die Be-
greuzung der Herde im Querschnitte als ganz unregelmassig,
von der Gefassversorgung unabhangig; wir wollen nur auf das
TJebergreifen des Prozesses iiber die Mittellinie hinaus und auf die
isolierten Herde im Hohlengrau, im Oculomotoriuskem beider
Seiten hinweisen.
Dazu kommt noch, dass nirgends, weder in den Gefassstammen
noch in den grosseren Aesten, der endarteriitische Prozess solche
Dimensionen annimmt, dass von einer wesentlichen Beeintrachti-
gung des Lumens die Rede sein konnte.
ji Stehen also diese Momente von vornherein mit dem Bilde
einer Erweichung im Widerspruche, so ergibt die genauere histo-
logisclie Untersuchung eine weitere Handhabe zur Differenzierung
gegeniiber einer solchen.
Wir haben entsehieden einen entzundlichen Prozess vor uns,
der primar, also unabhangig von dem Zerfalle der nervosen Sub-
stanz, einsetzt. In den Gebieten, wo regressive Prozesse, nekrotische
und Erweichungsvorgange den Ausgang der Erkrankung bilden,
haben wir Gelegenheit zu beobachten, dass die Nekrotisierung
eine Folge der im Entziindungsprozess sich entwickelnden Gefass-
veranderungen darstellt, dass also die nekrotischen Vorgange
als sekundar zu betrachten sind. Wenn wir nun zugeben, dass die
Schwierigkeit, aus dem histologischen Bilde die Genese des Pro¬
zesses herauszulesen und ein Urteil iiber Ursache und Wirkung
abzugeben, der Sicherheit der Entscheidung Eintrag tut, so geben
uns die isolierten Herde den unzweifelhaften Beweis fiir den pri-
maren Charakter der Entziindung; hier sehen wir namlich die Ent-
ziindung als selbstandigen Prozess ohne Koinplikation mit nekro¬
tischen Vorgangen; wahrscheinhch riihren diese Herde aus der
jiingsten Zeit her — beziiglich des Herdes in der Kernregion des
rechten Oculomotorius spricht auch die klinische Beobachtung
fiir diese Annahme—, und deshalb kani es nicht zu voller Ent-
wicklung der Erkrankung und zu den sekundaren Erscheinungen
der Nekrose.
Wenn wir nun zu dem Schlusse gelangt sind, dass wir es mit
einem primaren Entziindungsprozess zu tun haben, in dessen Ver-
laufe nekrotische Vorgange Platz greifen, so drangt sich in Anbe-
tracht der an anderen Orten nachgewiesenen syphilitischen Er¬
scheinungen sofort die Frage auf: Handelt es sich um einen spezi-
fisch syphilitischen, einen gummosen Prozess?
Wir miissen nun gestehen, dass wir es vorziehen, mit einer be-
stimmten Antwort zuriickzuhalten.
Wir sehen wohl einen chronisch entzundlichen, nicht eitrigen
Prozess, welcher in den Gefassen seinen Ursprung nimmt und zu
nekrotischem Zerfall des Gewebes im infiltrierten Gebiete infolge
obliterierender Veriinderung der Gefasse fiihrt. Wir sehen auch
,,Granulationsgewebe“ vor uns undZellelemente, welcheEpitheloid-
und Riesenzellcharakter tragen. Es kommt jedoch nicht zur Ent-
wicklungvonwirklichenGranulationsgeschwulsten mitentsprechend
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von Knmbination cerebraler. gummosor Lues etc.
41
deutliclier Auspragung der Schichtenbildung; der den Gummen
zukommende Geschwulstcharakter tritt bei der beschriebenen
Affektion iiberhaupt nicht in Erscheinung, wir haben es vielmehr
mit einem diffusen. infiltrierenden. zuletzt das Nervengewebe
zerstorenden Prozess zu tun.
Die Kriterien der gummose n Bildungen sind also hier zu wenig
deutlichausges prochen .alsdasswir uns fiir berechtigthielten, den Prozess
in dezidierter Weise als spezifisch syphilitischen zu bezeichnen. Wir
glauben deni heutigen Stande unserer Kenntnisse der syphilitischen
Prozesse im Zentralnervensystem Recknung zu tragen, wenn wir
uns darauf beschranken, von einer Encephalitis bei einem Syphili-
tiker zu sprechen.
Wir schliessen uns dem Vorschlage Fischers •) an. ..einstweilen
den Begriff der syphilitischen Prozesse nur fur das Gumma, die
Endarteriitis und die gummose Meningitis beizubehalten“, in-
solange nicht durch positiven Spirochaetenbefund etwa auch fiir
andere Prozesse die syphilitische Natur erwiesen wird.
Da mit Riicksiekt auf die Unzuliinglichkeit der pathologischen
Anatomie in der Frage der Spezifizitat von bei Syphilitikem auf-
tretenden pathologischen Prozessen bisher vomehmlich aus der
Statistik und Klinik entlehnte Argumente fiir die Entscheidung,
ob sypliilitisch oder nicht syphilitisch, massgebend waren, so ist.
es berechtigt. bei dieser Abgrenzung den Erfordernissen der Klinik
hinsichtlich der Umschreibung der Krankheitsbegriffe Rechnung
zu tragen.
Da stellt uns nun, wie wir sehen w r erden, die Frage der ,,Lues
cerebri diffusa 44 in ihrem Verhaltnisse zur progressiven Paralyse
vor die dringende Notwendigkeit. die Spezifizitat syphilitischer
Prozesse im Zentralnervensystem moglichst enge zu fassen.
Die Annalime einer ,,syphilitischen Myelitis 44 , d. h. einer
Myelitis ohne gummose Prozesse, wird schon in deralterenLiteratur
vielfach vertreten; es sei nebenbei erwahnt, dass ein Vergleich
unserer Priiparate mit der von Fr. Schtdlze 2 ) gegebenen Beschrei-
bung und den Abbildmigen in der Abhandlung von A. Pick 3 ) hin¬
sichtlich der Gefassveranderungen eine auffalligeUebereinstimmung
ergibt.
von Bechterew 4 ), welcher in lebhafter Weise fiir die Be-
rechtigung, primar in dem Gewebe der Zentralorgane auftretende
,,spezifische“ Prozesse anzuerkennen, eintritt, halt die ,,syphili¬
tischen 44 Encephalitiden fiir noch viel haufiger als die Myelitiden ;
der von v. Bechterew 5 ) beschriebene Fall tragt aber ebensowenig
siehere Merkmale der Spezifizitat — im friiher erwahnten Sinne
') 1. c.
') Fr. Schultze, Arch. f. Psych.. Bd. Vlll.
*) A. Pick. Zur Frage der chronischen Myelitis. Wiener klin. Rund¬
schau 1902.
4 ) v. Bechterew. Die Syphilis des Zen trainer vensys terns im Handltuch
der I'ath. Anat. d. Nervensvst. von Flatau. .Tacobsohn und Minor. 1904.
■) 1. e.
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42
Stra ussier, Ueber zwei weitere Falle
— wie der viel zitierte alte Fall von Charcot und Oombatdt ’) und der
von Oppenheim a ) kurz beschriebene.
Von der Anerkennung dieser Prozesse als , syphilitisch" fiihrt
nur ein Schritt zu den Anschauungen, welche aie verschieden-
artigsten Prozesse im Zentralnervensystem der Syphilis zurechnen;
wir wollen besonders hervorheben, dass auch chronisch-hyperpla-
stische Entziindungen und einfache, nicht gummose Meningitiden
als Ausdruck einer syphilitischen Affektion erklart warden.
Von wesentlichem Interesse fiir uns ist im Hinblick auf die
Paralyse der Versuch, auch primare degenerative Prozesse der
Syphilis zuzuzahlen. Erb 3 ) hat in einer sehr interessanten Ab-
handlung, ausgehend von der Unzulanglichkeit selbst der patho-
logischen Anatomie, die ,,spezifisch syphilitischen" Produkte wie
das Gumma in unzweifelhafter Weise zu umschreiben, aus klini-
schen Erwagungen die Berechtigung abgeleitet, die verschiedenen
Systemdegenerationen, die primaren Kemdegenerationen, die
Opticusatrophie u. s. w. dem Gumma gleichzustellen und als
syphilitisch anzusehen.
Die Erbsche Beweisfiihrung erleidet durch die neuen Ergebnisse
der Syphilisforschung eine Einbusse, indem nun durch den, wenn
auch bisher seltenen Nachweis der Spirochaeten in Gummen, ins-
besondere aber durch die von Gummen aus gelungene Syphilis-
ubertragung deren ,,spezifische" Eigenschaft ausser alien Zweifel
gestellt ist.
Wir haben bereits erwahnt, dass uns ausserdem die Lues
cerebri-Paralysefrage eine von der £V6schen Anschauung ab-
weichende Auffassung diktiert.
Wenden wir uns nun dieser Frage zu, so stehen wir vor der
Notwendigkeit, vorerst zu untersuchen, ob die Paralyse als svphili-
tischer Prozess aufgefasst werden kann.
Mit demselben Rechte, mit welchem nach Erb die System-
erkrankung des Hinterstranges, die Tabes, als syphilitisch anzu¬
sehen ware, konnte man die der Tabes verwandte progressive
Paralyse als ,,syphilitisch" bezeichnen.
Sehen wir jetzt von der alten Bezeichnung der „syphilitischen
Paralyse" ab, welche ihre Existenz der Gegeniiberstellung zur
,,essentiellen Paralyse" aus rein anamnestisch-atiologischen Mo-
menten verdankt, so wurde mit Hulfe von Argumenten, welche
der pathologischen Anatomie entnommen wurden, wiederholt der
Versuch gemacht, die ,.syphilitische“ Natur der Paralyse abzu-
leiten.
') Charcot u. GotnbauU, Note sur un cas de lesions disseminees des
centres nerveux observees chez une femme syphilitique. Arch. d. phys.
norm, et path. 1873.
*) Oppenheim, Die syphilitischen Krkraukungen des Gehirns. Wien 1903.
*) Erb, Bemerkungen zur path. Anatomie der Syphilis des zentralen
Nervensystems. Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilk. 1902. 22. Bd.
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von Kombination cerebraler. gummoser Lucs etc.
43
Obersteiner 1 ) setzte im Jahre 1892 die Paralyse in Analogie
mit den chronisch entziindlichen Prozessen mit Tendenz zu Sklerose,
welche bei Syphilis in anderenOrganen, z. B. in der Leber, gefunden
werden und glaubte die Paralyse den „Spatformen“ der Syphilis
zurechnen zu konnen. DieseAuffassung, welche sich spater HirscM*)
zu eigen machte, findet den pragnantesten Ausdruck in der von
Leaser 3 ) fur die von Syphilis abhangigen ,,interstitiellen Ent-
ziindungen" (Tabes, Paralyse) vorgeschlagenen Bezeichnung der
,,quartaren SyphiUs“.
Mit Recht hebt Nonne dem gegenuber hervor, dass bei der
Tabes eine interstitielle Entziindung nicht dasPrimare ist, und die-
selbe Einwendung ist auch hinsichtlich der Paralyse gegen Leasers
Auffassung geltend zu machen.
Was die Ableitung der ,,syphihtischen“ Natur der paralytischen
Veranderung von der Analogie mit der als ,,syphihtisch“ ange-
sehenen Sklerose der Leber und des Hodens betrifft, so leidet die
Beweisfiihrung vor allem daran, dass die Zurechnung der ,,dif-
fusen Sklerose" dieser Organe zur Syphilis sich viel weniger auf
anatomische Merkmale als auf konventionelle Auffassung stiitzt.
Wir konnen davon absehen, dass der paralytische Prozess histo-
logisch nicht ohne weiteres den erwahnten Veranderungen in an-
deren Organen gleichgestellt werden kann; es ergibt sich schon
aus dem friiher erwahnten Momente, dass selbst bei der Voraus-
setzung der Identitat der Prozesse aus dem Vergleiche kein Beweis
fiir die syphilitische Natur der paralytischen Erkrankung ge-
schopft werden kann.
Ebensowenig begriindet — aber besonders verhangnisvoll
fiir die Frage der ,,diffusen Hirnlues" — erscheinen uns die viel-
fachen Versuche, durch „Uebergange“ im histologischen Bilde
zwischen spezifisch-luetischen Erscheinungen und der Paralyse
den anatomischen Nachweis fiir die Identitat der Prozesse zu
fiihren und damit die Natur der paralytischen Erkrankung als
,,8yphilitisch“ zu erweisen.
Hier ist vor allem Raymond 4 ) zu nennen, welcher sich auf
Anschauungen von Gilbert und Lion beziiglich der auf Syphilis
beruhenden Erkrankungen des Riickenmarks stutzend zum
Schlusse kommt, die Lasion der progressiven Paralyse sei in histo-
logischer Hinsicht syphilitisch, indem sie sich zur gummosen
Meningoencephalitis so verhalt, wie die ,,Meningomyelite embryon-
naire“ zur „MeningomyeUte gommeuse". Raymond meint mit
dieser Gegeniiberstellung, dass ebenso wie im Bereiche des Riicken-
marks nach Gilbert und Lion von den ,,spezifisch syphilitischen"
') Obersteiner, Die Beziehungen der Syphilis zur progr. Paralyse.
Intern, klin. Rundschau, 1892.
*) Hirschl, Die Aetiologie der progr. Paralyse. Jahrb. f. Psych, u.
Neurol. 1896. 14. Bd.
*) Leaser, Berl. klin. Wochenschr. 1904, 1905, 1906.
4 ) Raymond, Contribution a l’6tude de la syphilis du systeme nerveux.
Arch, de Neurolog. 1894. Tome XXVII.
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44
Strii ussier, Ueber zwei weitere Falle
Entziindungen, welche ohne gummose Bildungen einhergehen
und sich durch reichliche Entwicklung von jungen Zellen in den
Meningen und deren Gefassen auszeichnen, Uebergange zu den
sklerotischen und gummosen Prozessen fiihren, im Gehim von
der Infiltration der Pia mater durch junge rundliche Zellen, welche
sich im Grunde der Furchen zu ,,miliaren Knotchen" anordnen
(ein Befund bei Paralyse), nur ein Schritt zu wirklichen miliaren
Gummen fiihre; es gebe auch Kombinationen zwischen den beiden
Arten der pathologischen Veranderung.
AufdieBedenken, welchedagegenobwalten, aus,,Uebergangen“
histologischer Bilder und auf Grund ausserlicher Aehnlichkeiten
auf die Wesensidentitiit zweier Prozesse Schliisse zu ziehen, wurde
schon genugend haufig hingewiesen. Was aber besonders der
Identifizierung von syphilitischen Meningitiden bezw. Meningo-
encephalitiden mit der progressiven Paralyse entgegensteht, ist der
Umstand, dass ja den gegenwartigen Anschauungen nach das
Wesen des pathologischen Prozesses mit der Charakterisierung
der meningealen Veranderung nicht erschopft erscheint, die Er-
krankung des Gehirns und die der Meningen in keinem Abhangig-
keitsverhaltnisse stehen und auch die Auffassung der progressiven
Paralyse als „enc6phalite vasculaire diffuse 11 , von welcher Ray¬
mond bei seinen Ausfiihrungen ausging, nicht mehr zu Recht be-
steht.
Noch in neuerer Zeit suchte Bose 1 ) aus „Uebergangen“ die
Identitat zwischen syphilitischen und paralytischen Verande-
rungen der Meningen zu konstruieren.
Wenn wir nun noch zuletzt die neuesten Ergebnisse der
Syphilisforschung ins Auge fassen, welche im Referate von Plant
zur Jahresversammlung des Deutschen Vereins fur Psychiatrie
zusammengefasst erscheinen, so haben sie uns auch nicht den
sicheren Beweis fiir die syphilitische Natur der Paralyse gebracht;
die von Plant im Anschlusse an Neisser hypothetiseh ausgesprochene
Anschauung, dass die positive Serumreaktion fiir das Vorhanden-
sein von Spirochaeten spreche, die Paralytiker also Spirochaeten-
trager sind, ist zu wenig durch Argumente gestiitzt, als dass sie
die Auffassung des anatomischen Prozesses beeinflussen konnte.
Wir halten es demnach fiir gerechtfertigt und notwendig an einer
sirengen anatomischen Scheidung von paralytischen resp. metasyphi-
litischen und syphilitischen Verdnderungen feslzuhalten.
Nachdem wir diesen Standpunkt gewonnen haben, konnen
wir der Frage der ,,Lues cerebii diffusa welche mit der Auffassung
unserer hier geschilderten Beobachtungen in inniger Beziehung
steht und uns ebenso bedeutungsvoll fiir die Lelire von der Paralyse
wie fiir die Lues cerebri erscheint, nahertreten.
Der Begriff der ,,Lues cerebri diffusa 1 ' hat eine sehr merk-
wiirdige Entstehungsgeschichte; wir glauben ihr umsomehr unsere
1 ) Bose , Nature syphilitique des lesions de la paral. gener. Comptes
rend, de la soc. de Biol. 190(;. Nr. 17.
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von Kombination cerebraler. giunmoser Lues etc.
45
Aufmerksamkeit schenken zu miissen, als sie geeignet ist, auf die
ganze Frage ein aufklarendes Licht zu werfen.
So viel sich aus der diesbeziiglichen grossen, aber an prazisen
Aufklarungen armen Literatur entnehmen lasst, hat die Bezeich-
nung in Frankreich ihren Ursprung und stamm t aus der Zeit, in
welcher die Erforschung der Paralyse unter deni Zeichen der Frage
nach der syphilitischen Aetiologie stand. Vonder Anschauung aus-
gehend, dass es Falle von Paralyse syphilitischer und solche arulers-
artiger Aetiologie gibt, legte man der ereteren Gruppe den Namen
der „Syphilis c4r6brale diffuse* 4 bei.
Man suchte auch nach histologischen Unterechieden der
beiden Formen und fasste bei der „ Syphilis c6r6brale diffuse**
Veranderungen als „syphilitische“ auf, die wir nach unseren
heutigen Kenntnissen zu den typischen oder wenigstens selir
haufigen Befunden bei der Paralyse zahlen.
Man findet in der franzosischen Literatur bis in die neueste
Zeit Falle als „Syphilis c6r6brale diffuse** beschrieben, die in allem
und jedem so sehr mit der typischen Paralyse iibereinstimmen,
dass man annehmen muss, fiir die betreffenden Autoren habe die
diffuse cerebrale Lues noch immer die friiher erwahnte Bedeutung.
Von wichtigeren Arbeiten dieser Art seien die von Mahairn 1 ) und
Etna, de Pavlekovic-Kapolna 2 ) genannt. J‘
Anderseits wirkte die in den ersten Diskussionen liber die
syphilitische Aetiologie der Paralyse von Fournier geausserte
Ansicht nach, dass die „wahre“ Paralyse nichts mit Syphilis zu
tun habe und das durch Syphilis erzeugte, der Paralyse ,,ahnliche“
Krankheitsbild dem Wesen nach und auch klinisch von der Paralyse
zu scheiden sei; er pragte fiir diese Krankheitsfalle den Namen
der „Pseudoparalyse“.
Wahrend nun Fournier weiterhin den Inhalt des Begriffes
der Pseudoparalyse den neugewonnenen Erkenntnissen anpasste
und die Bezeichnung nur mehr fiir tertiar syphilitische Erkran-
kungen des Gehims, welche unter dem Bilde einer Paralyse ver-
laufen, aufsparte, wurde von anderen Autoren vielfach weiter an
der Meinung festgehalten, dass man die Falle mit sicheren lue-
tischen Antecedentien oder gar noch floriden syphilitischen Pro-
zessen von der Paralyse abscheiden miisse. Bei der grossen
Mannigfaltigkeit der durch die progressive Paralyse produzierten
klinischen Bilder unterlag man bei Verwendung eines kleinen
Materiales sehr leicht der Tauschung, dass diese Falle klinisch
Unterscheidungsmerkmale gegeniiber der Paralyse aufweisen.
Diese „syphilitische Pseudoparalyse** wurde dann auch mit
der ,,Syphilis cerebrale diffuse** identifiziert, dem Ursprung der
x ) Mahaim, D© rimportance des lesions vasculaires dans 1'anatomic
pathologique d© la paralysie g6n6rale et d’autres psychoses. Bulletin de
racewl^mi© royal© d© m^decin© de Beige. 1901. Ref. Neurol. Centralbl. 1902.
*) Pavlekovic-Kapolna , La paralysie g6n6rale peut-ell© etre distingu^e
anatomiquement do la syphilis c6r6brale diffuse ? These de Doctorat. Lau¬
sanne 1903.
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46
Sira ussier, Ueber zwei weitere Falle
letzteren Bezeichnung nach mit Recht, mit Unrecht aber nach den
tatsachlichen Verhaltnissen.
Von der „Pseudoparalyse“ mit den von der typischen Paralyse
angeblich abweichenden klinischen Symptomen kam man dann
allmahlich dazu, alle Krankheitsbilder, welche nach einer syphi-
litischen Infeklion auftretend klinisch von dem m Buche“ als
Paralyse gezeichneten Krankheitsbilde abtoichen, als „Lues cerebri
diffusa" oder als ,,Pseudoparalyse“ aufzufassen.
Aus dem Studium der einschlagigen Literatur, in welcher
die Zurechtfindung dadurch ausserordentlich erschwert ist, dass
jeder Autor von anderen Voraussetzungen ausgeht, ergaben sich
mir die geschilderten Zusammenhange in der Entstehungsgeschichte
des klinischen Begriffes der ,,Lues cerebri diffusa“.
Es interessieren uns hier nicht Falle von verschieden weit
verbreiteter gummoser Syphilis des Zentralnervensystems, denen
vom anatomischen Standpunkte aus falschlicher Weise der Name
der ,,diffu8en cerebralen Lues“ beigelegt wurde.
Aus der Entstehungsgeschichte des klinischen Begriffes er-
klart sich dann ohne weiteres, dass eine grosse Zahl der in der
Literatur unter der Flagge der ,,diffusen cerebralen Lues“ laufenden
Falle Paralysen sind, und zwar Paralysen ganz gewohnlicher Art;
eine weitere grosse Gruppe gehort nach den in den betreffenden
Publikationen gegebenen Schilderungen unzweifelhaft in das Ge-
biet der Lissauerschen Paralysen.
Wie wenig diese Form der Paralyse trotz der ausfiihrlichen
und griindlichen Erorterung durch Alzheimer bekannt und ge-
wiirdigt ist, erhellt aus der schon erwahnten, aus dem Jahre 1907
stammenden Publikation von Ladame. ,,Die Lektvire der zitierten
Falle macht perplex, denn man findet nichts, was fur eine Paralyse
in diesen Fallen spricht“, meint dieser Autor hinsichtlich des von
Storch 1 ) publizierten Lissauerschen Manuskriptes.
Die in der Literatur noch sehr verbreitete Anschauung, dass
die progressive Paralyse ohne eigentliche Lahmungserscheinungen
verlaufe, bildet die Grundlage der Irrtumer, welche Lissauersche
Paralysen unter eine andere Marke einreihen lasst.
Lasst man die Arbeiten iiber ,,Lues cerebri diffusa“ Revue
passieren, so findet man, dass in der klinischen Differentialdiagnose
gegeniiber der progressiven Paralyse — vom Verlaufe und Aus-
gang wollen wir vorlaufig absehen — das Hauptgewicht auf das
Vorhandensein von Herdsymptomen bei der diffusen Lues gelegt
wird: Augenmuskelstorungen, Aphasie, Hemianopsie, Hemiplegie,
[Mairet 2 ) Wickel 3 ), Klein*) u. A.] Dass alle diese Herdsym-
') Storch-Li8$auer, Ueber einige Falle atypischer progr. Paralyse.
Monataschr. f. Psych, u. Neurol. 1901. Bd. IX.
’) Mairet ', Alienation mentale syphilitiquc. Paris 1893.
*) Wickel, Kasuistische Beitrage zur Differentialdiagnose zwischen
Lues cerebri diffusa und Dementia paralvtica. Arch. f. Psvch. 1898.
Bd. 30.
1 ) Klein, Kasuistische Beitrage zur Differentialdiagnose zwischen
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von Kombination oerebraler, gummoser Lues etc.
47
ptome bei der progressiven Paralyse ohne jede Komplikation mit
Syphilis des Zentralnervensystems gar nicht selten vorkommen, be-
statigt uns, abgesehen von der einschlagigen Literatur, auf histo-
logischer Untersuchung der beztiglichen Falle beruhende Erfahrung.
Wasspezielldie Lahmungen der Augenmuskel betrifft,—welchen
wohl im Hinblicke auf deren Bedeutung bei der basalen syphi-
litischen Meningitis — als differentialdiagnostisches Moment fur die
diffuse Lues ein besonderes Gewicht zugesprochen wird, so ist
daran zu erinnern, dass sie bei der Tabes widerspruchslos in die
Symptomatologie aufgenommen und nicht einer hypothetischen
Syphilis in die Schuhe geschoben wurden.
Wenn man sich die historische Entwicklung des Begriffes
der diffusen Himlues vor Augen halt, kann man sich nicht wundern,
wenn die pathologische Anatomie an Unsicherheit und Ver-
schwommenheit dem kUnischen Bilde nichts nachgibt.
Sieht man von den als ,,diffuse Lues“ bezeichneten Fallen
der Literatur ab, in welchen gummose Meningitiden mit Heubner -
scher Gefasserkrankung und sekundarer Erweichung oder gum¬
mose Prozesse des Gehims selbst ein mit psychischen Erschei-
ungen einhergehendes Krankheitsbild hervorriefen, miiht man
sich vergebens ab, in der alteren Literatur eine adaquate ana-
tomische Grundlave fiir den Begriff der diffusen Himlues zu finden.
Die von v. Bechterew gegebene Erklarung fiir den anatomischen
Begriff der diffusen Himlues stellt so ungefahr den Niederschlag
der in der alteren Literatur herrschenden Anschauungen fiber die
anatomische Seite des Begriffes der diffusen Himlues dar.
v. Bechterew 5 ) geht in seinen Auseinandersetzungen davon aus,
dass man ,,im Verlaufe der Syphilis“ lokale Leptomeningitis
chronica nicht spezifischen Charakters mit Uebcrgang in fibroses
Gewebe findet. ,,Demzufolge erscheinen die Leptomeningen an
der oder der anderen Stelle, zumeist allerdings in beschrankter
Ausdehnung, auffallend verdickt und von milchigem Kolorit.“
Pradilektionsstelle solcher entztindlicher Prozesse an den Leptome¬
ningen sei die konvexe Oberflache der Hemispharen, insbesondere
im Gebiete der Stirn- und Scheitellappen, doch konnen analoge
Erscheinungen auch an anderen Orten der Hemispharen be-
obaehtet warden.
Nachdem v. Bechterew gegen Virchows Vermutungen, dass
diese entztindlichen Hyperplasien sich an frfiher bestandene.
aber durch therapeutische Eingriffe zur Resorption gebrachte
gummose Prozesse anschliessen, die Einwendung erhoben hatte,
dass es zweifellos Falle gibt, wo die gleichen Erscheinungen bei Aus-
schluss einer vorangegangenen spezifischen Therapie zur Be-
obachtung gelangen und deshalb die fraglichenVorgange als einfach
entziindliche Verandemngen der Leptomeningen, welche hochst-
Dementia paralytica und Pseudoparalysis luetica (Fournier). Monatsschr.
t. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. V.
M 1. e. p. tilS.
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48
Straussler, Ueber zwei weiter© Fall©
wahrscheinlich durch lokale Reizwirkung syphilitischer Toxine
auf das Gewebe der Meningen hervorgerufen werden, aufgefasst
wissen will, fahrt er fort:
„In gewissen Fallen nimmt der Prozess einen diffusen Charakter
an, und unter solchen Umstanden erscheinen die weichen Hirn-
haute durchwegs odematbs, von milchiger Farbe und hochgradig
verdickt. Unschwer kann man dabei bemerken, dass beides,
Triibung und Verdickung der Meningen, entsprechend dem Ver-
laufe der Furchen und Gefasse lebhafter hervortritt. Verwachsung
der Meningen mit der Hirnsubstanz ist auch hier nicht die Regel.
vielmehr fehlt eine ausgesprochene derartige Verwachsung nicht
selten ungeachtet hochgradiger Verdickung und Triibung der
Meningen. Der Vorgang allgemeiner hyperplastischer Affektion
der Leptomeningen verlauft in der Regel Hand in Hand mit dif¬
fusen degenerativen Veranderungen im Hirngewebe selbst. Klinisch
jedoch lasst sich dieseForm der diffusen Hirnsyphilis nicht
immer streng gegeniiber der Dementia paralytica abgrenzen und
ist, abgesehen von einigen der psychischen Sphare angehorenden
Besonderheiten, gekennzeichnet durch eine Reihe lokaler oder
Herdsymptome, wie Augenmuskellahmungen, aphasische Er-
scheinungen, voriibergehende Facialis- und Extremitatenlah-
mungen etc. Als weitere differentiell-diagnostische Schwierig-
keit tritt noch der Umstand hinzu, dass in einzelnen Fallen Him-
syphilis unmittelbar in Dementia paralytica ubergehen kann.‘*
Vorher bemerkt v. Bechterew schon, dass solche „entzundlich-
hyperplastische Leptomeningitiden nicht zu selten** auch bei der
Dementia paralytica zu beobachten sind.
Das sind noch die bestimmtesten Erklarungen, welche zu
dieser Frage aus alterer Zeit existieren.
Wodurch sich dieser Prozess, der aus einer entziindlich hyper-
plastischen Leptomeningitis mit diffusen degenerativen Ver¬
anderungen im Hirngewebe selbst besteht, von der Paralyse
unterscheidet, das ist aus den Ausfiihrungen nicht zu entnehmen.
Denn wie Bechterew selbst zugibt, ist die Leptomeningitis nicht zu
selten auch bei der Dementia paralytica zu finden.
Da sich diese Form der ,,diffusen Hirnsyphilis* 4 auch klinis ch
gegeniiber der Paralyse „nicht immer streng abgrenzen lasst**,
ausserdem Hirnsyphilis unmittelbar in Dementia paralytica
,,ubergehen kann,“ wo liegen also dann iiberhaupt die Grenzen
zwischen dieser eigentiimlichen Syphilis und der Paralyse?
Es gibt nur zwei Moglichkeiten der Rettung aus diesem
Wirmisse von unklaren klinischen und pathologisch-anatomischen
Konstruktionen.
Entweder man erklart die bei der progressiven Paralyse vor-
handenen Veranderungen als ,,syphiUtisch“, dann konnte freilich
die Paralyse selbst als ,,diffuse cerebrale Syphilis** bezeichnet
werden, oder man halt daran fest, den Begriff des „syphilitischen“
in der von uns ausgefiihrten Weise zu umgrenzen.
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von Kombination cerebraler gummoser Lues etc.
49
Dass wir die erstere Auffassung aus anatomischen und kli-
nischen Gr linden nicht akzeptieren konnen, geht aus unseren
friiheren Erorterungen hervor.
Wir konnen also in dieser Hinsicht den AnsichtenLereddw 1 )
nicht folgen, halten aber trotzdem dafiir, dass dessen Anschauungen,
nach welchen die Unterscheidung der diffusen Him-Syphilis, der
Pseudoparalyse Fourniers und der syphilistischen Demenz Bins-
wangers „kiinstlich gemacht“ ist und alles Paralyse sei, einen
beachtenswerten Kern enthalten.
Wir kommen auf Grund des historischen Ueberblickes und der
vorliegenden Daten iiber Klinik und pathologische Anatomie
hinsichtlich der diffusen Hirnlues und der Pseudoparalyse Four
niers zu Resultaten, welche denen Lereddes sehr nahe kommen.
An dieser Anschauung andern nichts die auf Grund der neueren
Untersuchungsmethoden untemommenen Versuche, nachtraglich
der ,.diffusen Himlues“ einen anatomischen Inhalt zu geben.
Wenn Dupre und Demux 1 ) die Differentialdiagnose zwischen
Paralyse und diffuser Hirnlues dadurch gefordert zu haben glauben,
dass sie angeben, bei der ersteren Erkrankung bestiinden die
perivaskularen Infiltrate nur aus Plasmazellen, bei der letzteren
aus Lymphozyten und spar lichen Plasmazellen, so sind sie deshalb
im Irrtum, weil diese Aufstellung, insbesonaere was die Paralyse
betrifft, nicht den tatsachlichen Verhaltnissen entspricht. Hin¬
sichtlich der fur die Lues von Alzheimer aufgestellten Kriterien
des Ueberwiegen8 der Lymphozyten, deren Zuverlassigkeit nach
unseren neueren Befunden iibrigens begriindete Zweifel erwecken
muss, ist zu bemerken, dass Alzheimer dabei keineswegs die „dif-
fuse Lues“ der Franzosen im Auge hatte.
Die Anschauung Ladames aber, dessen irrtiimliche klinische
Voraussetzungen wir schon gelegentlich der Besprechung der
Lissauerschen Paralyse beriihrt haben, dass der Unterschied
zwischen Paralyse und diffuser cerebraler Lues in der Art der
Gefassalteration liege, indem dort eine Lymphozyten-Invasion in
die perivaskularen Lymphraume stattfinde, hier eine Infiltration
der Gefasswande selbst, teils durch Proliferation der fixen Gewebs-
zellen, der Muskel- und Endothelzellen und teils durch Ueber-
schwemmung der Gewebe durch Lymphozyten, vorhanden sei,
kann insofern keine Befriedigung bieten, als alles das, was fur die
Lues als charakteristisch angegeben wird. sich haufig genug bei der
Paralyse findet.
• Was die ..diffuse cerebrale Lues“ noch scheinbar zu stiitzen
vermochte, ware der Verlauf und dann der Ausgang gewisser zu
dieser Gruppe gezahlten Falle in Heilung.
*) Leredde , La nature syphllitique et la curabilite du tabes et de la.
paralysie generale. Paris 1903. Zit. nach Nonne. Syphilis und Nerven-
system.
2 ) Dupre u . Devaux . Paralysie generale et syphilis cerebrale diffuse.
Soc. de neurol. 11. V. 05. Ref. Arch. d. neur. 1905. Bd. II. S. 53.
Monataschriit fiir Psychiatric- und Neuroiogie. 3d. XXVII. Heft I. i
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50
Str&ussler, Ueber zwei weitere Falle
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Dieses Moment kann aber heute nicht mehr als ausschlaggebend
betrachtet werden.
Abgesehen von Leredde, dem man vielleicht in der Frage kein
unbefangenes Urteil zuerkennen mochte, weil er von speziellen
Voraussetzungen hinsichtlich der Paralyse und den , .syphilitischen‘‘,
mit psychischen Storungen einhergehenden Erkrankungen ausgeht,
stehen heute namhafte Autoren auf dem Standpunkte, dass die
Paralyse als heilbar zu betrachten sei. [Tvtzek 1 )' Schaefer 2 )'
Schiile*)' v. Wagner*)' Nonne 8 .)
Diese Ansicht drang durch, nachdem sie sich in den Berichten
iiber Paralysen jahrzehntelanger Dauer und Paralysen mit sehr
langdauernden Remissionen vorbereitet hatte. [v. Halban*),
Schaefer 1 ), Doutrebente und L. Marchand 6 ), Alzheimer 9 )].
Alzheimer verdanken wir den histologischen Befund einer
Paralyse von 35jahriger Dauer; der Fall beweist die Moglichkeit
eines sehr langsamen Verlaufes der Paralyse, und mit der Aner-
kennung der ,.stationaren“ Paralyse ( Alzheimer, Oaujyp, Fischer)
verliert die ,,diffuse Lues“ das ihr zugeschriebene Merlcmal des
chronischen Verlaufes als besonderes Kennzeichen.
Wenn in der Remission der Paralyse die histologischen Ver-
anderungen fortbestehen — uns ist nur eine einzige derartige Unter-
suchung von Alzheimer bekannt — und es sich bei den als ,,ge-
heilte Paralyse" publizierten Fallen auch nur um eine sehr lang
andauernde Remission mit Stillstand, aber nicht Heilung des
anatomischen Prozesses handeln sollte, so ist doch schon eine
Heilung im klinischen Sinne genugend, um die beziiglich des Aus-
ganges fiir die Existenz einer „diffusen Hirnlues" gegenuber der
Paralyse gel tend gemachten Argumente zu Falle zu bringen.
Denn ein Sektionsbefund einer ,,geheilten“ diffusen cerebralen
Lues liegt bisher nicht vor. Die auf der Hohe der Erkrankung
zur Autopsie gelangten Falle aber sind in ihrem histologischen
Bilde von der Paralyse nicht zu unterscheiden (z. B. bei Wickel 10 )).
Aus unseren Auseinandersetzungen ergeben sich folgende
Schlus8folgerungen:
Tuczek , Beitrage zur path. Anatomie und zur Path, der Dem.
paral. Berlin 1884.
2 ) Schaefer , Ein genesener Paralytiker. Allg. Zeitschr. f. Psvch.
1807. Bd. 53.
*) Schiile , Diskussion bei der Jahresvers. d. Ver. Deutsch. IiTernirzte
in Miinchon 1002. Neur. Centralbl. 1902.
4 ) v . Wagner , Oesterreich. Aerztezeitung 1008.
*) Nonne, Syphilis und Nervensystein. 2. Aufl. Berlin 1900.
°) v. Halban . Zur Prognose der progr. Paral. Jahrb. f. Psych, u.
Neurol. 1902. Bd. 22.
7 ) Schaefer . Zur Kasuistik der }>rogr. Paralyse. Allg. Zeitschr. f.
Psych. 1003. Bd. 00.
8 ) Doutrebente et L. Marchand , Uri cas de paral. gen6r. de longue
duree. Annal. med. psych. 1003. Bd. 28.
y ) Alzheimer. Reterat im Ver. bayer. Psych. 1907. (Stationare Para¬
lyse.) Centralbl. f. Nervenheilk. 1007.
10 ) 1 . c.
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von Korabination cerebr&ler gummoeer Lues etc.
61
Die diffuse cerebrate Luea“ besitzi under klinisch noch ana-
iomisch eine entsprechende Qrundiage. Ala Syphilis dea Oehims sind,
um endlich eine acharfe Trennung von , syphilitischen' ‘ und para-
syphilitischen Prozeesen zu ermoglichen und der Verwirrung ein
Ende zu machen, nur apezifische, gummose Prozesae zu bezeichnen.
Beziiglich der Meningen konnte die ..spezifische Syphilis" im
Sinne der von Alzheimer beschriebenen Meningoencephalitis con-
vexitatis etwas weiter gefasst werden, da hier die anatomische
Verwechslung und Vermischung mit Paralyse kaum in Betracht
kommt. Von dem fruher eingenommenen Standpunkte aus ware
es aber berechtigt, mit Fischer auch die Auffassung Alzheimer a
zu verwerfen.
Durch unsere beiden neuen Falle von Kombination der pro-
gressiven Paralyse mit spezifisch syphilitischen Erscheinungen
wird uns wieder eine Frage gegenwartig, welche wir schon in der
friiheren Arbeit beriihrt haben. Es ist die Frage, wie wir uns die
in der Literatur niedergelegten Falle zu erklaren haben, in welchen
eine Syphilis des Zentralnervensystems dauernd das klinische
Bild der Paralyse vortauscht.
Den grossten Teil der als diffuse cerebrale Syphilis mit dem
Krankheitsbilde der progressiven Paralyse verzeichneten Falle
konnen wir auf Grand unserer friiheren Auseinandersetzungen
von dieser Erorterang ausschliessen; denn diese bieten nicht die
anatomische Grundlage spezifisch syphilitischer Erscheinungen
und waxen eben von vornherein als Paralysen anzusehen.
Die Moglichkeit, dass eine luetische Erkrankung des Zentral¬
nervensystems das klinische Bild der progressiven Paralyse er-
zeugen konne, wollen wir nicht ausschliessen; wir wiesen in der
friiheren Publikation auf die Meningoencephalitis ( Alzheimer)
hin imd stellten eine so ausgebreitete Affektion hinsichtlich der
davon abhangigen klinischen Symptomatologie in Analogie mit
dem multiplen Karzinom, welches auch eine Paralyse vorzu-
tauschen verraag.
Die beiden neuen Falle sind, wie wir in den einleitenden Worten
dieser Arbeit hervorgehoben haben, schon durch die mit ihrer
Existenz gegebene hohe Prozentzahl des Zusammentreffens von
tertiarsyphilitischen Erscheinungen und progressiver Paralyse
in unserem Materiale bemerkenswert.
Der zweiten Beobachtung kommt aber noch eine spezielle
Bedeutung zu. In dem grossen Materiale der Klinik war dieser
Fall in dem Zeitraume der letzten 8 Jahre der einzige, der klinisch
das typische Bild einer Syphilis des Zentralnervensystems (Oppen-
heim) mit psychischen Storungen bot, welche das Bestehen einer
Paralyse in Erwagung ziehen liessen. Nun erwies die histologische
Untersuchung das tatsachliche Vorhandensein einer Paralyse
und machte es sehr wahrscheinlich, dass die psychischen Storungen
auf die Erkrankung an Paralyse zu beziehen seien. Wir konnen uns
nicht entschliessen, in diesen Erfahrungen ausschliesslich das
Walten eines Zufalles zu erblicken.
4 *
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.52 Sfcrausaler, Ueber zwei weitere Falla etc.
Die Literatur lehrt uns, dass solche Kombinationen in den
letzten Jahren viel haufiger als friiher nachgewiesen werden.
Wahrend die viel zitierten Falle von Zambaco, Westphal , Ludwig
Meyer, Binsioanger die Ausbeute von Jahrzehnten aus alterer
Zeit darstellen, konnten wir in der Literatur der letzten 5 Jahre
abgesehen von unseren Beobachtungen noch 5 derartige Falle
ausfindig machen [ Rentsch (2 Falle 1 ), Tissot 2 ), DouJbrebente,
Marchand und Olivier 3 ), Hubner*)].
Wenn wir nun noch bedenken, dass schwere syphilitische
Veranderungen des Gehims mitunter verhaltnismassig friihzeitig
einen letalen Ausgang der Erkrankung herbeifuhren, bevor noch
die paralytische Veranderung Zeit hat, sich zu auffalliger Aus-
pragung der Symptome zu entwickeln — in unserem zweiten Falle
traf dies auch zu —, so halten wir die friiher gemachte Annahme
fiir berechtigt, dass die die Syphilis begleitende Paralyse nicht
selten iibersehen werden mag.
Es hiesse sich aber den in der Literatur mitgeteilten Tatsachen
verschliessen, wollte man leugnen, dass eine Syphilis auch bei
herdformigem Auftreten doch mitunter in tauschender Weise das
Bild der Paralyse hervorzubringen vermag. Es liegen einerseits
klinische Beobachtungen solcher Art von gewiegten Fachleuten
vor ( Nonne u. A.) und anderseits einzelne anatomische Befunde
[. Brasch 6 ), Brissaud u. Pechin # ), Ernst Meyer 1 )']. Wir mxissen aber
hervorheben, dass die Zahl derartiger zweifelloser Falle hinter der
Zahl der durch histologische Untersuchung nachgewiesenen Kombi-
nation mit Paralyse, in denen also die psychischen Storungen
auf diese zuriickzufuhren sind, zuriickbleibt. Wenn dann noch das
Dogma der Unheilbarkeit der Paralyse einer besseren Erkenntnis
weicht, so schrumpft die Zahl der den klinischen Begriff der Paralyse
in empfindlichster Weise beeintrachtigenden Falle, in denen durch
Syphilis wirklich das Bild der Paralyse erzeugt wird, auf ein Mini¬
mum ein. Man diirfte dann zur Ueberzeugung kommen, does die
spezifische Syphilis des Gehims bei den differentialdiagnostischen
Erwagungen hinsichtlich der Paralyse keine viel grossere RoUe zu
spielen hat, als z. B. die Arteriosklerose, Erweichungsherde und
Tumoren irgend welcher Art.
Die Ergebnisse der Untersuchung der Cerebrospinalflussig-
keit hinsichtlich der Wassermann&daen Reaktion bei Paralyse be-
') Rentsch, Ueber zwei Falle von Dement, paral. mit Hirnsyph. Arch,
f. Psych. 1904. Bd. 39.
*) Tissot, Paral. g6n6r. et syph. c6r6br. Ref. Arch. d.Neurol. 1904. I.
*) Doutrebente, Marchand et Olivier, Paral. g4n6r. tardive. M6ning.
sclerogom. d. lobule paracentr. droit. Ref. Arch. d. Neurol. 1905. II.
4 ) Hubner, Neurol. Centralbl. 1906.
l ) Broach, Ein unter dem Bilde der tabischen Paralyse verlaufender
Fall von Syphilis des Zentralnervensystems. Neur. Centralbl. 1891.
*) Brissaud et PS chin. Syph. cerobr. simulant une par. g6n6r. Progres
rn6dic. 1902.
7 ) E. Meyer, Klin. anat. Beitrage zur Kenntnis der progr. Paralyse
u. Lues cerebrospinalis. Arch. f. Psych. 1907. Bd. 43.
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Monatsschrift fur Psychiatric unci Neurologic Bd. XXVJl.
S/rd/isrkr. 1
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Tafel Ill—IV
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\'erlag von S. J&myiflB I /Ur: xber/in .
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Straussler .
Verlag von S. Karger in Berlin.
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Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung etc.
53
rechtigen zu der Hoffnung, dass die nachsten Jahre eine Losung
der hier behandelten Fragen bringen werden.
Nach dem heutigen Stande der diesbeziiglichen Unter-
suchungen scheint ja die Komplementablenkungsreaktion der
Spinalfliissigkeit ein wichtiges differentialdiagnostisches Merkmal
zwischen Paralyse und cerebrospinaler Syphilis darzustellen.
(Aus der Nervenkranken-Abteilung und dem^ hirnanatomischen Labora-
torium des hauptstadtischen Siechenhausds ,,Elisabeth" in Budapest.)
Ueber doppelseitige Erweichung des Gyrus supramarginalis.
Von
Prof. Dr. KARL SCHAFFER,
Oberarst der Abteilung.
(Hierzu Tafel VI—X.)
Die funktionelle Bedeutung des Gyrus supramarginalis er-
seheint noch heute als eine kontroveree Frage, obschon unleugbar
ist, dass die iiberwiegende Mehrzahl der Forscher in mehrminder aus-
gesprochener Weise diese Stelle des Grosshirns als eine Statte
der kortikalen Sensibilitat betrachtet. Seit Nothnagel , der zuerst
in bestimmter Form den Satz, der Parietallappen sei das Zentrum
des Muskelsinnes, ausgesprochen hat, bis zu den jiingsten Autoren in
dieser Frage, erhoben die hervorragendsten Neurologen ihre Stimme
zugunsten dieses Satzes; ich erwahne nur Redlich, v. Monalcow,
Oppenheim, Bruns u. A. Hierbei mochte ich mit Betonung hervor-
heben, dass spefciell amerikanische Neurologen, an der Spitze
Charles Mills, fur die sensible Bedeutung der postzentralen Gegend
eine lebhafte wissenschaftliehe Tatigkeit entfalteten und nament-
lieh fur die getrennte Lokalisation der zerebralen Sensibilitat
und der zerebralen Motilitat sich erklarten. Bekanntlich steht
diesem Bestreben die Auffassung Dejerines entgegen, welcher die
einheitliche Lokalisation im Sinne einer sensitivo-motorisehen
Zone lehrt.
In der Frage der Lokalisation der kortikalen Sensibilitat
scheint mir nachfolgender Fall von Bedeutung zu sein, in welchem
es sich um eine doppelseitige Erweichung eines Teiles der unteren
Parietalwindung, des Gyrus supramarginalis, handelt. Den Fall
veroffentlichte ich, nochin vivo, imRahmen einer kleinenanatomisch-
klinischen Studie iiber die zerebralen Sensibilitatsstorungen 1 ),
da er klinisch durch die vollkommene Bilateralitat der sensiblen
’) Karl Schaffer, Anatomisch-klinische Bcitrage zur Lehrc dor oere-
bralen Sensibilitatsstorungen. Neurol. Zentralbl. 190.'.
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54
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
Storungen auffiel; Oppenheim erwahnt denselben in seinem Lehr-
buch der Nervenkrankheiten (1908, S. 807) als Beweis dafiir,
„dass durch doppelseitige Herde auch einmal eine bilaterale
Hemianasthesie, d. h. eine Anasthesie des ganzen Korpers bedingt
werden kann“. Mein Fall kam nach fast 4 jahriger Dauer zur
Sektion mit dem Befund einer bilateralen und fast symmetrischen
Erweichung; das Gehirn wurde in Frontalserien zerlegt und
mit Weigert- Wolters Farbung behandelt. Ziehen wir in Betracht,
dass nach v. Monakow die Zahl der gut beobachteten Falle von
Lasion des Gyrus supramarginalis nicht gross ist, speziell aber mit
Sektionsbefund sehr bescheiden, mit genauer Bestimmung der
Grenzen des Herdes vermittels Schnittserien noch geringer ist,
so erscheint die Veroffentlichung meines Falles geniigend ge-
rechtfertigt. Ohne mich nun in die Lehre der zerebralen, namentlich
kortikalen Sensibilitat zu sehr vertiefen, gedenke ich in Zusammen-
hang mit letzterer nur kurz jener Auffassungen, welche beziiglich
der klinisch-anatomischen Bedeutung des Gyrus supramarginalis
geaussert wurden.
Redlich , dem wir eine eingehende Studie iiber zerebrale Sensi¬
bilitat verdanken, ist der Meinung, dass die motorische Rinde keines-
wegs der Sitz des Muskelsinnes sei, halt vielmehr fur ziemlich sicher,
dass der Muskelsinn sein Zentrum im Parietallappen habe. Den
Muskelsinn im Scheitellappen naher abzugrenzen, namentlich gegen-
iiber der Hautsensibilitat, gelang ihm nicht, doch vermutet er,
dass das untere Scheitellappchen fur die obere, das obere fur die
untere Extremitat bestimmt sei.'
Schon im Jahre 1898 trennte Ch. Mills in der Hirnrinde die
Motilitat von der Sensibilitat und zog die Trennungslinie entlang
derPostzentralfurche 1 ). Im Jahre 1901veroffentlichtederselbeAutor
einen Fall, in welchem Astereognose und Ataxie ohne motorische
Lahmung bestanden; die Sektion wies eine ausgedehnte Erweichung
nach, welche sich auf die obere Parietalwindung beschrankte.
Mills ist der Ansicht (1902). dass die Stereognose in der oberen
Parietalwindung lokalisiert ist und sich iiber die Kante der Hemi-
sphare indenPraecuneus hinein erstreckt. DieZentren fur die kutane
Sensibilitat befinden sich in dem Lobus limbicus und in der hinteren
Halfte der Postzentralwindung, zwischen dem stereognostischen
und dem motorise hen Zentrum. Das Zentrum des Muskelsinnes be-
findet sich in der oberen und unteren Parietalwindung, nicht genau
an jener Stelle, welche fur die reine Stereognose dient. Nach dem
neuen Schema Mills 1 ) (1902) erstreckt sich das stereognostisehe
Zentrum entlang der Mantelkante in der oberen Parietalwindung;
die Lasion dieses Gebiets ruft Astereognose und Hemiataxie,
Abschwachung der Muskelsensibilitat und der kutanen Sensibilitat
hervor. Fur die letztere Sensibilitat beansprucht Mills die hintere
Halfte der Postzentralwindung; vom Kamm dieser frontalwarts
erstreckt sich das motorische Gebiet.
1 ) Ch. K. Mill*. A new scheme of the zones and centres of the human
cerebrum. The Journal of the American Medical Association. 1902.
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des Gyrus supramarginalis.
55
In einer neueren, mit Weisenburg geraeinschaftlich verfassten
Arbeit 1 ) aussert sich Mills iiber die Gliederung des sensiblen
kortikalen Feldes eingehend; seine Auffassung gibt er in den
folgenden Satzen wieder: 1. Die kortikale Zone der Haut- und
Muskelsensibilitat ist unabhangig von der motorischen Zone;
erstere uragibt die niotorische Zone und ist eingeteilt in ein Mosaik
von Zentren, deren jedes anatoraisch und funktionell mit den motori¬
schen Zentren in Wechselbeziehung steht. — 2. Jeder Muskel oder
jede Muskelgruppe, welche ein eigenes Zentrum in der Rinde be-
sitzt, steht topographisch mit einem Segment der Haut in Wechsel¬
beziehung, welches gleichfalls ein umschriebenes Zentrum in der
Rinde besitzt, das anatomisch und funktionell mit dem motori¬
schen Zentrum in Wechselbeziehung steht. — 3. Der stereo-
gnostische Sinn hat ahnlich wie die kutane und rauskulare Sensi-
bilitat sowie die Motilitat sein unabhangiges kortikales Feld,
welches in der namlichen Weise wie das motorische und sensorische
Feld gegliedert ist.
Die Beweise zugunsten dieser Gliederung des sensorischen und
stereognostischen Rindenfeldes sind hauptsachlich klinische Falle
mit oder ohne Sektionsbefund. Von ihren 4 Fallen gelangte nur einer
zur Sektion; hier fand sich die Postzentral- und die untere Scheitel-
windung fast ganz zerstort, ja in ganz kleiner Ausdehnung war auch
die vordereZentralwindung mitbeschadigt. In alien 4 Fallen bestand
eine Tendenz zur Lokalisation der sensiblen Storungen auf die
Ulnar- oder Radialseite der Hand. In 3 Fallen war die sensible
Abschwachung sowie die Astereognose persistenter und ausgepragter
in dem mittleren, Ring- und kleinen Finger und an der ulnaren Seite
der Hand. Im Zeigefinger und Daumen besserten sich die sensiblen
Storungen zuerst und wurden hier erst zuletzt dauernd. In alien
Fallen war die taktile und Schmerzempfindung distal starker gestort
als proximal. Inden ersten3Fallen war die Beriihrungs- und Schmerz¬
empfindung an der dorsalen Oberflache der Hand starker gestort
als an der volaren. Im zweiten Fall hatte der Kranke bei totaler
Erschlaffung der Hand und des Vorderarms keine Lageempfindung
sowie keine Kenntnis vonder Extension der Finger, wahrend bei
Flexion der Finger das Lagegefiihl vorhanden war. Im vierten Fall
endlich war neben sensorischen und paretischen Anfallen sowie
Ataxie der oberen Extremitat hochst bemerkensw'ert der Mangel
von Astereognose, wodurch die Ansicht, die stereognostische Zone
ware von den Feldern der kutanen und muskularen Sensibilitat
unabhangig, eine Stutze erhalt. — Mills und Weisenburg fuhren
schliesslich 5 Falle von Russel und Horsley *) an; im ersten Fall
fand sich eine Pachymeningitis hinter der Zentralfurche oberhalb
*) Ch. K. Mills and F. H. Weisenburg, The subdivision of the represen¬
tation of cutaneous and muscular sensibility and of stereognosis of the
cerebral cortex. — The Journal of Nervous and Mental Disease, October
1906.
*) Bussel. Colin K.. and V. Horsley. Brain. April 1906. Part I.
Vol. 29.
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56 Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
der Sylviusschen Spalte, welche die untere Halfte der Postzentral-
windung und den ganzen unteren Parietallappen einnahm;
im zweiten lag ein Gliom subkortikal an der Grenze des Zentrums
der oberen und unteren Extremitat; im dritten lag ein kleines
Myxom in der mittleren Halfte der hinteren Zentralwindung;
im vierten breitete sich ein kleines Gliom quer iiber die vordere
Zentralwindung aus; endlich im fiinften fand sich ein kleiner
Tuberkel von % cm Durchmesser an der Vereinigungsstelle der
zweiten Frontalwindung mit der vorderen Zentralwindung. Russel
und Horsley fanden nun in diesen Fallen abwechselnd den radialen
oder praaxialen und ulnaren oder postaxialen Typus der sensiblen
Storungen wie die amerikanischen Autoren.
Spillers Falle 1 ) sind teils nur klinisches Material und konnen
als Stiitzefiir Mills Auffassunggelten; teils sind sie vonanatomischem
Befund begleitet und sind somit in pathologischer Hinsicht wert-
voller. In letzterer Beziehung fand sich im ersten Fall klinisch in
der linken Hand Astereognose, Fehlen des Lagegefiihls, Ab-
schwachung fiir Beruhrung, doch nicht fiir Schmerz; autoptisch
fanden sich tuberkulose Plaques, die auf das rechte Parietal-
lappchen beschrankt waren. Im anderen Fall war Ataxie, Parese und
Astereognose des linken oberen Gliedes durch die Erweichung des
rechten Parietallappens verursacht. — SpiUer, ebenso wie Campbell,
fiihren als pathologisch-anatomischen Beweis fiir die getrennte
Lokalisation der Sensibilitat und Motilitat die Untersuchungs-
ergebnisse von amyotrophischer Lateralsklerose an, woselbst
Campbell in zwei Fallen hochgradige Nervenzellveranderungen,
hauptsachlich der Riesenpyramiden, ausschliesslich auf die vordere
Zentralwindung beschrankt fand; Spiller mit Marchi arbeitend
fand gleichfalls hochstgradige Degeneration in der vorderen,
hingegen in der hinteren Zentralwindung nur ganz bedeutungs-
lose Veranderungen. — In dieser Richtung ware in erster Linie
der mustergiiltigen patho-histologischen Untersuchungen von M.
Probst' 1 ) zu gedenken, welche sich auf mit Marchi behandelte Total-
schnitte einer Hemisphere beziehen. Dieser hochst verdiente Autor
konnte eine massenhafte Ansammlung von Myelinschollen aus¬
schliesslich im Gebiet der vorderen Zentralwindungen sowie indem
dieselben verbindende Teile des Balkens konstatieren; die hintere
Zentralwindung war so gut wie frei von Degenerationsprodukten.
C. v. Monakow behandelt in seiner Gehirnpathologie (2. Aufl.)
die Symptomatologie des Gyrus supramarginalis eingehend.
Ergreift der Herd mit Yerschonung der hinteren Zentralwindung
allein diese Windung, so folgt hierauf eine leichte Hemiplegie
l ) If*. Spiller, a) Separate sensory centres in the parietal lobe for the
limbs. Journal of Nervous ancl Mental Disease. Febr. 1906.
b) Ibidem. January 1899. p. 43.
c) A report of five eases of tumor of the brain with necropsy. The
American Journal of the Medical Sciences. Febr. 1904. p. 311.
\> -W • Probst, Zur Kenntnis der amyotrophischen Lateralsklerose. Aus
den Sitzungsberichten der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in
Wien. 1903.
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ill's Gyrus supramarginalis.
57
von kurzerDauer; bei encephalitischen Herden treten auch kon-
vulsive Erscheinungen im gelahmten Gliede auf, welche aber nur
al8 Nachbarsymptome zu deuten sind. Als ziemlich gesetzmiissige,
wenn auch meist nicht stabile Folgeerscheinung einer Lasion des
G. supramarginalis sowie der hintersten Abschnitte der Postcentral-
windung erscheint die Storung des Muskelsinnes wie auch der
Stereognose, wobei taktile. schmerzhafte und thermische Emp-
findungen normal sein konnen. Hierbei bemerkt v. Monakow, dass
eine leichte hemiplegische Storung die Muskelsinnstorung gewohn-
lich zu begleiten scheint, doch stehe sie ausser jedem Verhaltnis
zu dieser und zu der Astereognose.
L. Bruns 1 ) ist der Ansicht, dass Storungen des stereognostischen
Sinnes sehr oft bei Affektionen der Zentralwindungen allein beob-
achtetwerden, solchedesMuskelgefiihls und die daraus resultierende
Ataxie vielmehr bei Lasionen des Scheitelhirns. Bruns fasst die
Beobachtungen dahin zusammen, dass die motorischen Funk-
tionen in dem zentro-parietalen Gebiete von vorn nach hinten ab-
nehmen, wahrend die sensorischen in gleicher Richtung zunehmen,
so dass vielleicht die vordere Zentralwindung rein motoriache,
die obere Scheitelwindung ziemlich rein sensorische, die hintere
Zentralwindung gemischte Funktionen hat.
Oppenheim, wesentlich derselben Ansicht, flihrt in seiner Dia-
gnostik und Therapie der Geschwiilste des Nervensystems*) zwei
Falle von Tumoren der zentro-parietalen Gegend an, in welchen
ausser den motorischen Erscheinungen (motorisch-sensible Reiz-
erscheinungen von Jacksonschem Charakter) auch erhebliche Sen-
sibilitatsherabsetzung im selben Arm und Bein zur Beobachtung
kam, wobei am friihesten und am meisten die Lageempfindung und
Stereognose, schliesslich aber auch die Beriihrungs- und Schmerz-
empfindung litt.
Besonderer Erwahnung wert ist wegen seiner klaren Sympto-
matologie der Fall von B. Alessandri 3 ), in welchem ein den oberen
Teil der vorderen Zentralwindung einnehmender harter Knoten von
5x2% cm Grosse in der kontralateralen oberen Extremitat
Jackson -Anfalle mit sensibler Aura in den ersten drei Fingern,
femer andauernde Parese der (rechten) oberenExtremitat, besonders
ausgesprochen an der Hand und an den drei ersten Fingern, sowie
Facialisparese verursachte. Beriihrungsempfindlichkeit iiberall gut.
nur an der Haut des Hypothenars und an einem kleinen Bezirk am
Handriicken gegen den Aussenrand w r urden leichte Stiche als Be-
riihrung empfunden. Temperatursinn, Lageempfindung, Stereo¬
gnose gut; trotzdem machte sich Ataxie bemerkbar. Dieser Fall be-
weist, dass der Muskelsinn eine von der kortikalen Motilitat ge-
trennte Jjokalisation hat.
*) Geschwiilste des Ncrvensystems. II. Aufl. 1908.
*) Verlag S. Karger. 1907.
l ) R. Alesmndri, Solitiirtuberkel der Holandischen Gegend. Krnni-
ektomie, Exstirpation, Heilung. Monatssehr. f. Psych, u. Neurol. 1900.
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58
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
Ich mochte nicht versaumen, darauf hinzuweisen, dass die
Ausfallserscheinungen bei Hirngeschwiilsten nicht immer pragnant
sind. In dieser Beziehung ist eine Beobachtung von S. E. Henschen 1 )
hochst bemerkenswert, in welcher ein orangegrosses Gliosarkom,
welches hauptsachlich den unteren Scheitellappen infiltrierte, weder
in der Beriihrungsempfindlichkeit noch im Schmerzsinn noch auch
ira ..Lokalisationssinn 44 eine wahrnehmbare Stoning verursachte.
— Beziiglich lokalisatorischer Ausfallserscheinungen geben altere
Erweichungsherde viel scharfere Bilder.
Im Gegensatz hierzu stellen die Beobachtungen von Starr und
Jfc.CosA*) aus dem Jahrel894, sowiedie aus letzterZeit stammende
von Kudlek vermoge ihrer isoliert-reinen Symptomatik formlich
physiologische Experimente am Menschen dar.
ImFall von Me. Cosh fand sich im Gebiet des G. supramarginalis
ein Angiomknotohen, auf desseri Exstirpation eine voriibergehende
Astereognose entstand. Der sehr gut beobachtete Fall Kudleks 3 )
bezog sich auf einen 17 jahrigen Mann, welcher wegen eines Kopf-
traumas resp. einer daraus resultierenden Jacksonschen Epilepsie
halber operiert wurde; hierbei wurde das Him zufallig an einer
Stelle verletzt; die genaue Bestimmung dieses Punktes mit Kochers
Kyrtometer ergab, dass es sich um den vorderen Teil des G. supra¬
marginalis handelte. Nach der Operation fanden sich folgende Er-
scheinungen vor: eine eben nur angedeutete Facialisparese. Hyp-
asthesie der linken Hand und des linken Armes; Temperatursinn
auf dem linken Handriicken etwas herabgesetzt, vollkominene
Astereognose der linken Hand, fehlender Drucksinn. Auch mangelte
vollkommen das Gefiihl fur die Stellung der Finger links; ebenda
Ataxie. Ungefahr naeh3WochenverschwandendieseErscheinungen.
Kttdlek komrat mit Bezugnahme auf Starr-Mc. Coshs Fall zu dem
Schluss, dass der G. supramarginalis das Zentrum fiir die
Stereognose und den Muskelsinn des Unterarms und der Hand
abgebe.
Aus den angefiihrten Beobachtungen diirfte wohl zur Evidenz
hervorgehen. dass das Scheitelhirn die innigsten Beziehungen
zum Muskelsinn und stereognostischen Sinn aufweist. Besonders
scharf formulierte seine Auffassung Flechsig, vermoge welcher die
Scheitelwindungen mit der Sensibilitat nichts zu tun haben; wort-
lich aussert er sich folgend 4 ):
..In keinem meiner zahlreichen Falle von Zerstorung des
Gyrus angularis, supramarginalis, parictalis 1 wurden bei sorg-
*) S. E. Henschen, Klinische und anatomische Beitrage zur Patliologie
de6 Oehims. II. Teil. II. Halfte. 1896. Fall 11.
*) Starr. M. A. and Me. Cosh. Contr. to the local, of the muse, sense.
Amer. Journ. of med. sciene. 1894.
*) F. Kudlek, Zur Physiologie des Gyrus surpamarginalis. Deutsche
med. Wochenschr. 1908. No. 17.
‘) P. Flechsig. Einige Bemcrkungen iiber die UntersuchungBmethoden
der Grosshimrinde, insl>esondere des Menschen. Berichte der Koniglich
sachs. Gosellsch. d. Wissenschaften. 1904.
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des Gyrus supramarginalis.
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faltigsten Sensibilitatspriifungen Defekte gefunden; lediglich bei
Mitverletzungen der hinteren Zentralwindung treten sole he hervor.
und zwar am regelmassigsten als Astereognose der Hand' 1 (l.c. S.220).
Hingegen ist Flechsig der Ansicht, dass nach Zerstorung der zweiten
Parietalwindung (Gyrus supramarginalis und angularis) Erschei-
nungen auftreten, welche sowohl auf mangelhaftes Verstandnis
von Gesichts- als Gehors- und Tasteindriicken hinweisen, „bezw.
Erscheinungen, welche sich kaum anders deuten lassen, als dass
Gedachtnisspuren sowohl von Gesichts- als Tast- und Gehors-
eindriicken vernichtet sind“. (1. c. S. 235).
Einen von der Mehrzahl der Autoren ganz abweichenden
Standpunkt beziiglich der funktionellen Bedeutung des Gyrus
supramarginalis nimmt Rudolf Balint ein, der in seiner wertvollen
Arbeit iiber Seelenlahmung des ,,Schauens“ etc. 1 ) fur diese Him-
windung nur die Funktion der konjugierten Deviation beansprucht.
Er weist darauf hin, dass bei ein- wie doppelseitigen L&sionen
des unteren Scheitellappens verschiedene Symptome, wie Aphasie,
Apraxie, Seelenlahmung, Muskelsinnstorungen und Stereoagnosie,
Konvulsionen u. s. w. beobachtet wurden. In seinem Falle waren
hochgradige Erweichungen von symmetrischer Lage vorhanden,
welche nicht nur die Hirnrinde, sondern auch das weisse Marklager
in ziemlicher Tiefe einnahmen; die Herde zerstorten links den
hinteren Teil des unteren Parietallappens, hautpsachlich den Gyrus
angularis und parietalis posterior ganzlich, im geringeren Grade
den Lobul. parietalis sup., Gyrus occipitalis superior und temporalis
secundus; rechts waren dieselben Gebiete zerstort, nur dehnte sich
der Herd um die Breite der ersten Temporalwindung weiter nach
vern aus, so dass die Erweichung auch auf den Gyrus supra¬
marginalis iibergreift. In der Tiefe nimmt die Erweichung den
Scheitel-undHinterhauptslappen ein. DerKranke Bdlints bekundete
eine standig nach der rechten Seite des Raumes gerichtete Auf-
merksamkeit, also eine Neigung zur konjugierten Deviation nach der
rechten Seite, was auf ein Uebergewicht der linken Hemisphere
deuten wiirde. Da nun die Lasion beider Hemispharen fast sym-
metrisch ist, mit demUnterschiede, dass rechts auch noch der Gyrus
supramarginalis zerstort war, und da der Gyrus angularis beiderseits
erweicht war, so nahm Balint als wahrscheinlich an, dass die Neigung
zur Wendung der Augenmuskeln nach der rechten Seite auf die er-
haltene Funktion des linken Gyrus supramarginalis zu beziehen
ware. Er folgert hieraus, dass das kortikale Zentrum der kon¬
jugierten Bewegungen der Augenmuskeln nicht im Gyrus angularis,
sondern im Gyrus supramarginalis liegt. Da im Falle Bdlints
Muskelsinnstorungen sowie Stereoagnose fehlten, sucht Balint die
Lokalisation dieser Erscheinungen ausserhalb des Scheitellappens
in der Storung von Funktionen anderer Gehirnteile.
Aus obigen Ausfiihrungen, welche nur einen fliichtigen Ueber-
blick iiber die Pathophysiologie der zerebralen Sensibilitiit resp.
’) Monatssohr. f. Psych, u. Xeurol. Bd. XXV. H. 1.
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€0 Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
des Gyrus supramarginalis geben, erhellt wohl die Notwendig-
keit. klinisch gut beobachtete Falle von Lasion der genannten
Windung zu sammeln. Doch ist auch die Anatomie der vor
liegenden Frage vielleicht ebenso weit davon entfemt, um als
eindeutig gelost zu erscheinen. Ich mochte hier sofort auf die
gegensatzlichen Forschungsergebnisse von Monakow und Flechsig
himveisen; die Differenz gipfelt darin, dass v. Monakow Pro-
jektionsfasern aus dem Sehhiigel zum Gyrus supramarginalis
schildert, wahrend Flechsig jedwelche Verbindung zwischen diesen
Gebilden in entschiedenster Weise in Abrede stellt. Nach
v. Monakow 1 ) ist der Markkorper des unteren Scheitellappchens
hauptsachlich aus Assoziationsfasern zusammengesetzt, doch be-
sitzt sowohl der Gyrus supramarginalis wie angularis einen eigenen
Stabkranz. Namentlich stehen die hinteren Abschnitte der ventralen
Kerngruppen (vent, a, b, c) in enger Beziehung zu dem Gyrus
supramarginalis, vielleicht auch zu der hinteren Halfte der hinteren
Zentralwindung und der vorderen Halfte des Gyrus angularis. Die
beziigliche Stabkranzstrahlung dringt aus dem Sehhiigel, lateralwarts
austretend, in die vorderen */* und in die dorsale Partie des
Wernickeachen Feldes, zieht sodann zwischen den ausseren Seg-
menten des Linsenkems, dann nach hinten umbiegend, hart an
der dorsalen Etage des sagittalen Markes, in welche sie Fasem ab-
gibt, vorbei, um nun aufwarts in die Rinde des unteren Scheitel¬
lappchens einzutreten. Genauer gesagt ist der Stabkranz des
Gyrus supramarginalis grosstenteils zusammengesetzt aus den ner-
vosen Auslaufem der oft sehr stattlichen Ganglienzellgruppen in
den ventralen Sehhiigelkernen. Das Ende dieser Ausliiufer sucht
v. Monakow in der Rinde des Gyrus supramarginalis. Ein
direkter Uebergang des Stabkranzes des unteren Scheitellappchens
in die Schleife Hess sich nicht nachweisen, denn selbst nach jahre-
langen Herden mit kompletter sekundarer Entartung der hinteren
Sehhiigelabschnitte bleibt die Schleife markweiss, auch wenn die
Atrophie ihrer Fasern eine so bedeutende ist, dass das Volumen
des Querschnittes um die Halfte sinkt. Der motorischen Zone des
Menschen (Zentralwindungen und Gyrus paracentralis) ist der
ganze laterale Sehhiigelkern zugeordnet. — Diese Angaben macht
v. Monakow auf Grund sowohl entwicklungsgeschichtlicher wie ex-
perimenteller und pathologisch-anatomischer Untersuchungen.
Genau zu denselben Ergebnissen ist M. Prdbst 2 ) auf Grund
seiner tierexperimentellen Untersuchungen gelangt. Wenn ich
Prohsts zahlreiche diesbezvigliche Mitteilungen zusammenfasse,
so ware hervorzuheben. dass vor allem Sehhiigel-Rindenfasem
‘) r. Monakow, Zur Anatomic und Pathologie des unteren Scheitel-
lfippchens. Arch. f. Psych. 1899. XXI.
a ) M. I'robst. a) Ueber die Bedeutung des Sehhiigels. Wiener Idinische
Wochenschr. 1902: b) Ueber den Verlauf und Endigung der Rindensehhiigel-
fasern des Parietallappens. etc. Arch. f. Anat. u. Physiologic. 1901. c) Physio-
logische, anatomische und pathologisch-anatomische Untersuchungen des
Sehhiigels. Arch. f. Psych. XXXIII.
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dee Gyrus supramarginal is.
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und Rinden-Sehhiigelfasem zu unterscheiden sind. Erstart ent-
springen aus den ventralen und medialen Sehhiigelkernen, passieren
die aussere Marklamelle und die ventrale Gitterschieht im ventralen
Teil der inneren Kapsel und gelangen zum Gyrus sigmoideus und
coronariuB. Letztere erseheinen in folgender Anordnung: Nach
Abtragung der Rinde des Stirnhirns degenerieren die Fasern zum
Nucl. ant. a und die vorderen Teile des Nucl. lat. a, lat. b, ventr.
ant. und vent, a; nacb Abtragung der parietalen Rinde degenerieren
die Fasern zum Nucl. lat. a und b; nach Verletzung der Occipital-
rinde degenerieren Fasern zum ausseren Kniehocker, zum Pulvinar,
zum lateralen Kern und zu beiden Kuppen des vorderen Zwei-
hiigels; nach Lasion des Temporalhirns entarten Fasern zum Nucl.
vent, c und zum inneren Kniehocker.
Flechsig (1. c.) konnte bei Benutzung geeigneter Entwicklungs-
stufen myelogenetisch feststellen, class die sensiblen Leitungen den
vorderen Abhang sowie die Konvexitat der vorderen Zentral-
windungen freilassen, so dass diese Abschnitte ausschliesslich
von motorise hen Zentren eingenommen werden, ,,wahrend die
hintere Zentralwindung in ihrem vorderen Abhang und an der
Konvexitat kompakte Biindel subkortikaler Herkunft (Gelenk-
empfindungen ?) in sich aufnimmt und ganz iiberwiegend von mo-
torischen Leitungen bezw. Zentren frei bleibt. Es ergibt sich aber
auch, dass in alien Hohen am hinteren Abhang der vorderen Zentral¬
windung motorische und sensible Leitungen sich mischen, so dass
sich innerhalb der Zentralfurche — aber auch nur hier — eine senso-
motorische Zone ausbreitet (1. c., S. 91).
Flechsig hebt hervor, dass die Verbindungen der Zentral-
windungen mit dem Sehhiigel zahlreich sind. ,,Beteiligt ist besonders
der laterale Kern mit Ausnahme der dorsalsten (zonalen) Schichten,
sowie der Zentralkern und der schalenformige Korper. Die kortiko-
petalen und kortikofugalen Leitungen lassen sich nur schwer
auseinanderhalten, desgleichen die Faserzuge der vorderen und
hinterenZentralwindung“ (l.c., S. 187). Einen Ueberblick in letzterer
Beziehung gewahrt der allbekannte Fall Hosels, in welchem links
der Lob. paracentral is, ferner die hintere Zentralwindung in den
oberen */» ganz, im unteren */, nur wenig zerstort war, wahrend die
vordere Zentralwindung im wesentlichen nur in ihrer hinteren Halfte
erweicht war. Stimwindungen sowie die erste imd zweite Parietal-
windung waren vom primaren Erweichungsherd verschont. Hier
war die hintere Partie des lateralen Sehhiigelkerns sekundar de-
generiert, besonders gegen die Basis zu, weniger deutlich im schalen-
formigen Korper und im Zentralkern, welche aber etwa auf die
Halfte des Normalumfanges reduziert waren. Einzelne Mark-
lamellen des Glob, pallidus sind auf Degeneration verdachtig. Ab-
warts vom Sehhiigel sind entartet die Hauptschleife bis an die Hinter-
strangskerne, desgleichen der rote Kern mit dem oberen Kleinhirn-
schenkel und Teile der sensiblen Trigeminuskerne. Die geringfiigige
Veranderung des vorderen Abschnittes des lateralen Sehhiigel-
kernes bringt Flechsig mit der Verschonung des unteren '/a der
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62
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
hinteren Zentralwindung in Zusammenhang. Flechsig halt diesen
Fall fiir beweiskraftig in der Frage, ob die Degeneration von Schleife
und rotem Kern mit der Zerstorung der hinteren Zentralwindung
oder des Scheitelhims in Zusammenhang zu bringen ist, und erklart,
dass allein die hintere Zentralwindung dabei in Frage kommen
kann. Er betont, dass nur Falle von isolierter Lasion des
Scheitelhirns ohne Mitbeteiligung der hinteren Zentralwindung
ma88gebend sein konnen bei Entscheidung der Frage, welche Teile
der infrakortikalen Segmente dabei sekundar leiden. „Solche
Falle existieren aber bisher in der Literatur nicht, wohl aber ver-
fiige ich fiber eine game Reihe von Schnittserien, wo bei ausge-
dehnten Herden in der zweiten Scheitelwindung (Gyrus supra-
marginalis und angularis) ohne Beteiligung der hinteren Zentral¬
windung auch nicht die leiseste Andeutung einer Degeneration
in den obengenannten Thalamuskernen bezw. ihren Stabkranz-
bfindeln zu finden ist. Hierdurch halte ich die Ansicht von Monakow
ftir endgfiltig widerlegt, dass die Schleife (und dadurch die Hinter-
strangskerne etc.) durch die ventrolateralen Thalamuskerne
mit dem Gyrus supramarginalis und angularis in Verbindung
tritt. Die Schleife steht nur mit der hinteren Zentralwindung
und Teilen der vorderen in Verbindung; sekundare Degeneration
und Myelogenese weisen mit gleicher Deutlichkeit iibereinstimmend
darauf hin.“ (1. c. S. 189.)
Nach obiger Uebersicht, welche allein darauf Anspruch macht,
die klinisch-anatomischen Lficken unsrer Kenntnis in den Vorder-
grund zu rficken, beginne ich mit der Schilderung meines Falles.
Obschon, wie bereits bemerkt, derselbe im wesentlichen klinisch
bereits beschrieben wurde (s. Neurolog. Zentralbl. 1905), kann ich es
bei dieser Gelegenheit, wo ich die auf Schnittserien sich sttitzende
anatomische Beschreibung meines Falles von doppelseitiger Er¬
weichung des Gyrus supramarginalis vorffihren mochte, nicht
unterlassen, die pragnantesten klinischen Daten zu wiederholen
und den ferneren Verlauf mitzuteilen. Ich tue dies im Interesse
der Uebersichtlichkeit und leichteren Beurteilung des Falles.
Frau Rosa W., zur Zeit der Aufnahme auf meine Nervenabteilung
des Siechenhauses im Jalire 1904, 45 Jahre alt, war als Kind nie krank ge-
wesen, und obschon verheiratet, hatte sie nie geboren. Sie lebte iibrigens vorn
Manne getrennt. Im Herbst des Jahres 1903 erlitt sie den ersten apo-
plektischen Insult, und zwar in der Nacht; des Morgens beim Erwachen
nahm sit' Sprachunfnhigkeit und Lahmung der rechten Korperseite wahr,
welche Erschoinungen in 2 Monaten besser wurden. Bei dieser Gelegenheit
hemerkte me die Unewpjindlichkeit der Hand. Kin halbes Jahr spiiter. im
Fruhjalir 1904, ereilte sie der zwrite Insult, eben bei Verzehrung ihres Nacht-
mahles, wo bei sie das Rewusstsein verlor; erst im Verlauf der Nacht kamsie
\\ ieder zu sich. Als Folgeerscheinungen bemerkte sie eine kompletteLahmung
tier linksseitigen Extremitat(*n sowio ausgeprdgte Unempfindlichkeit der
hnken Hand. Nach ihrer ersten Apoplexie wurde sie bei einer Gelegenheit
auf der Strasse von der elektiischt'n Tram iiberfahren, worauf die Am¬
putation des linkcn b nttTscla'nkels in dessc k n Mittt* notwendig wtu*de.
Status praem.ns: Die schwach c*ntwickelte und anamische Frau hat
etwas enge, doch gleichweitt', gut .reagien^nde Pujalleu. Koine Zungen-
de\ iution. Dc>r Zustand des Facialis ist schwer zu beurteilen, da Pat-ientin
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des OyriiB supramarginal is.
63
die Zahne schon in ihrer Jugend verlor. Auffallige* findet sieh jedooh nicht
vor. Die Bpraehe zeigt deutliche Spuren einer abgelaufenen Aphasie, deren
Hauptmerkmale das mehrmalige Suchen nach Wortern, sowie literale
Verwechselung (z. B. Stiissel statt Schliissel) sind. Auf diese Weise
ist die Spraehe oft holprig, doch nie unverstandlich, denn beim Fehlen des
erforderten Wortes kommt die Kraken nach kiirzerem oder langerem Nach-
sinnen doch darauf, ebenso korrigiert sie die literalen Verwechslungen. Lesen
geht gut; Schrift ebenso wie feinere Verrichtungen (Handarbeit) vermoge
der Ataxie der Hande behindert, doch nicht unmoglich. Kauen, Schlucken
frei. Appetit, Stuhl in Ordnung; kein Kopfschmerz. Schlaf init Unter-
brechungen. Rigiditat der Carotis und periphereri Arterien; Herzspitze
ausserhalb der Mamillarlinie; fiber der Aorta systolisches Ger&usch.
Lungen normal.
Motilitdt : Stirnrunzeln geht gut, ebenso die Lippenbewegung, doch ist
dabei eine auffallige Ungeschicklichkeit wahzunehmen. Beide Arme werden
unbehindert vertikaraufgehoben; Muskelkraft hauptsachlich links vermindert.
und wahrend die Beweglichkeit der rechten Finger ganz frei ist, sind die
linken dauernd flektiert, wie denn uberhaupt die ganze linke obere
Extremitfit eine Tendenz zur Flexionskontraktur bekundet. Dement-
sprechend ist der Muskeltonus links gesteigert, der linke Triceps-und Patellar-
reflex entscliieden lebhafter ala die gleichnamigen der rechten Seite.
Die Motilitat der unteren Extremitaten frei, docli ist hier der Tonus des
linken Beines ebenfalls erhoht und die Muskelkraft verringert. Sohlenreflex
rechts schwach plantar, links infolge der Amputation nicht zu untersuchen.
Individuelle Muskelatrophien fehlt; keine Messungsdifferenzen.
Senaibilitdt: Sowolil oberfliichliche Beriihruiigen wie auch in die Tiefe
dringende, die aufgehobene Hautfalte durchbohrende 8 tic he werden an der
ganzen Haut nicht perzipiert. Doch tritt in diesen Verhaltnissen eine auf-
fallende Aenderung ein, sobald ieh die Kranke auffordere, sie moge mir die
vorzunehmendenBeriilirungen angeben. Hierauf, bei angespornter Auftnerk-
samkeit, reagiert sie oft auf Beriihrungen. immer auf Stiche, doch mit den
allergrbbsten Lokalisationsfehlern. Stiche in die (Jesichtshaut resp. die
Lippen werden bald in den Fuss, bald in den Arm projiziert; ein Stigli
in die pragingivale Schleimhaut wird als Beriihrung des Fusses angegebeu.
Mit zwei Nadeln auf einmai in die Haut beider Gesichtshalften gestochen.
gibt Pat. nur einen St ieh im rechten Fuss an. Ieh fordere die Kranke auf
ilire Zunge herauszustreeken, und appliziere nun einen Stieli in die linke
Zungenhalfte gegen die Mitte zu, worauf die Ant wort erfolgt . man hatte
ihre Zunge gestochen; nun stoeho ich den Riieken des rechten Fusses, worauf
diese Einwirkung in die Zunge lokalisiert wird. Jin allgemeinen hat es den
Anschein, als ware die Haut des Gesielites, die Schleimhaut des Mundes und
derZunge etwas empfindlicher,denn hier erhielt ichReaktionen aueh.ohnedie
Kranke aufmerksam gemaoht zu haben, dass eine Beriihrung erfolgen werde:
hingegen einpfindet die Haut des Rumpfes und der ]«]xtroiuitut<*n nur danu.
wean Patientin vorher daran gemahnt wird. Jedoch an alien Stellen
der Haut erfolgen die Angaben mit den grbbsten Lokalisationsfehlern.
Thermisehen Eindriicken gegeniiber verhiilt sieh Rat. genau so wie
mif taktile und sehmerzhafte Reize. Unvorbercitct machte sie bei Bc-
riihrungen mit Eis und sehr warmem Wasser gar keine Angaben; naehdem
sie nun avisiertj wmide, maeht sie Angaben mit der genauen Reihenfolge
von kalt — w r arm, obsehon sie fortwahrend nur mit Kalt beriihrt wurde. Eine
kleine Auslese der thermisehen Untersuehung nidge eine Yorstellung liber
die diesbeziigliehen Yerhaltnisse geben. Ieh beriihre die linke Ohrmusehel
mit Warm, worauf sie Kalt in dem Fuss angibt; die linke Waiurenhaut mit
Warm und Kalt. wovcm nur Warm empfunden wird; die linke Sehulter
mit Warm tmd Kalt mit der Angabe von Lau fur Kalt; die laterale Flacho
des linken Oberarms mit Kalt, worauf Warm als eni])funden angegebeu wird
mit folgenden Naehempfindungen : kalt. warm, kalt, knit. Bei diesen letzteren
Yorsuehen erfolgen keine Lokalisationsfehier. Es liisst sieh zusnmmenfassend
sagen. dass thermiselie Eiudriickc toils mit grossen Lokalitationsfchlern. toils
pervers, teils mit Naehempfindungen perzipiert wurden. - Genau dasselbe
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64
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
Verhalten lasst sich beziiglich der tiefen Sensibilitat feststellen. Patientin
hat von den in den distalen Gelenken vorgenommenen passiven Bewegungen
keine Vorstellung, sie tut ofters den charakteristischen Ausspruch:
„Ich hab kein Gefiihl.“ Obschon in den proximalen Gelenken (Sehulter,
Hiifte) dann und wann der Lagewechsel empfunden wird, so liess sich doch
folgende, auf artikulare Anasthesie hinweisende Erscheinung beobachten.
Ich hebe bei geschlossenen Augen den Arm (sei es der rechte oder linke)
vertikal in die Hohe, worauf dieser in dieser Position unverriickt langere
Zeit verharrt und dann sehr iangsam, allmahlich hinabsinkt; ca. 6 Minuten
sind notwendig, damit der Arm auf die Bettunterlage zuriiokgelangt.
Inzwischen hat Pat. gar keine Ahnung von der jeweiligen Lage der Ex-
tremitat. Von den passiven Lage verander ungen der Zehen mid Finger, des
Hand- und Kniegelenkes hat die Kranke gar keine Kenntnis. Bemerkenswert
ist. der Umstand, dass bei vorheriger Anzeige des vorzunehmenden Manovers
die Kranke hie und da die Stellung der proximaleren Gelenke errat. — Es
1)08teht ferner eine ausgepragte Unsicherheit bei Prazisionsbewegungen der
Arme mit geschlossenen Augen; Pat. ist nicht imstande, die Hande inein-
ander zu legen, mit dem Zeigefinger die Nasenspitze, die Stirn oder das Ohr
zu treffen; es zeigt sich hierbei die ausgepragteste Ataxie der Hande,
welche vom angegebenen Ziel immer sehr entfernt zu hegen kommen. —
Es ist hervorzuheben, dass in den Manipulationen bei geoffneten Augen
keine apraktische Storung zum Vorschein geiangt. — Sehliesslich hat Pat.
gar keine Vorstellung von den in ihre Hande gelegten Gegenstanden;
es ist vollkommene Stereoagnose vorhanden. Keine Gesichtsfeldstorung.
Verlauf: Die Kranke lag auf meiner Abteilung ca. 3 l / 2 Jahre in voll-
kommen unverandertem Zustand; die ofters vorgenommenen Nachpriifungen
ergaben immer mit den obigen Daten iibereinstimmende Resultate. Am
13. IV. 1908, nachdem ich sie bei der Morgenvisite noch ganz munter sah,
ereilte sie mittags ein apoplektischer Insult. Es wurde damals folgender
Status aufgenommen. Das Gesicht ist gerotet, Mund nach rechts verzogen,
Pulsarhythmisch, Blutdruck (mit Riva-Roccigeme?sen) 170—180. Die Kranke
befindet sich in Riiekenlage, der Kopf mid die Augen parallel bestiindig nach
links gedreht, reagiert auf Fragen oder Eindriicke nicht, Pupillen ruiid, eng,
gleich weit, reagieren auf Licht. Bauchreflex nicht auszulosen, Patellarreflex
rechts erhoht; rechts Acliillesreflex zu erzielen, jedoch kein Klonus; rechts
Babinski positiv. Therapie: Eisbeutel auf die Herzgegend, Kopf hoch
gelagert, Venaesektion (ca. 200 ccm Blut entfernt), Einguss. — Am 15. IV.:
Bewusstlosigkeit, Apyrexie, Puls kleinwellig, gespannt, auslassend, 96.
17. IV.: Komplette Bewusstlosigkeit; 18. IV. begmnender Decubitus am
Sacrum, am rechten Ellbogen und an der rechten Ferse. 21. IV. Reflexe
rechts (Patellar-, Achilles-, Babinski) fehlen; Knieplianomen links auszulosen.
24. IV. Kranke schluckt seit Beginn des Insultes nur schwer; seit gestern
geht die Nahrung nicht hinab. Palor, Facies Hippocratica, Stertor; Radial-
puls nicht fiihlbar. Vormittags 11 Ulir Exitus.
Die Sektion inusste sich aus ausseren Griinden auf die Herausnahme
des Zentralorgans bescliranken. Dabei fiel eine doppelseitige malacische
Grube des Gehirns auf; dieser Defekt wurde genauer nachHartung in 20 proz.
Formalin untersuchtmid das Gehirnphotographiert. Dierechte Grosshirnhalfte
(s. Taf. VI, A) weist eine grubenformige Vertiefung auf, deren vordere Grenze
genau durcli die Zentralfurche (R), deren unterc Grenze durch den hinteren
Ast der Sylviavhen Furche gebildet wird; als obere Grenze dient dielnter-
j)arietalfurche, wahrend von hinten als Abgrenzung eine willkiirlich gezogene
Linie dienen kann, wekdie vom aufsteigenden Schenkel des hinteren Sylvius -
schen Astes bis zur Interparietalfmrclie, so ziemlich parallel mit dem vorderen
Rande der Grube verlauft. Der offenbar malacische Defekt erstreckt sich auf
die unteren 2 / 3 der hinteren Zentralwindung, wobei von letzterer am Winkel
der Zentralfurche und des hinteren Astes der &t/Zvfwsschen Furche ein un-
ansehnlicher Rest von der Erweichung verschont blieb; ferner nimmt die
Malacie einen Teil des Gyrus supramarginalis ein. Die Grube ist mit diinner
Hirnhaut ausgekleidet, miter welcher Blutgefasse verlaufen. Keine Kom-
munikationmitdem Seitenventrikel. — Die linke Grosshirnhalfte (s. Taf. VI, B,
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A/onatsschrift fur Psychiatric unci Neurologic Bd. XXVJI.
Tafel VI
Fig. A
Fig. Ji
Fig. C
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I
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das Gyrus aupramarginalia.
65
-weist eine etwas mehr riickwarts gelegene Grube auf, welche oben von der
Interparietalfurche, vorn oben von der Postzentralfurche begrenzt wird;
unten scheint der hinterete Teil der ersten Temporalwindung in die Er-
weichung einbezogen zu sein; auch istder Winkel zwischen der Post¬
zentralfurche und dem hinteren Sylviusschen Aste von der Malacie ver-
schont, welche demnach genau den Gyrus supramarginalis einnimmt,
-denn riiokwarts erstreckt eich der Defekt nur bis zura Gyrus angular is,
ohne diesen anzugreifen. Die Grube erscheint hier weniger tief als rechts,
ist aber gleiohfalls init weicher und vaskularisierter Hirnhaut iiberzogen.
Es lasst sich nun zusammenfassend sagen, dass die zwei
malazischen Gruben nur annahemd gleich liegen; rechts ist der
Defekt etwas mehr nach vorn geriickt, denn hier ist die Grenze
die Zentralfurche, links hingegen die Postzentralfurche; rechts
erscheint allein die vordere, links hingegen auch die hintere Zentral-
windung verschont; endlich ist rechts der Gyrus supramarginalis
nur partiell, links hingegen total erweicht. Mit Betonung ware auf
den Umstand hinzuweisen, dass die oberen Scheitellappchen beider-
seits vom pathologischen Prozess ganz verschont blieben, wie dies
Taf. VI C deutlich zeigt.
Bei der Aufarbeitung des Gehims in Serienschnitten behufs
genauerer Lokalisation des Defektes musste ich mich fiir Zerlegung
in frontaler Richtung aus dem Grunde entscheiden, denn ich hoffte
so einen ausgedehnteren Einblick in die Destruktion sowie in
die auf diese Weise entstandene sekundare Degeneration zu ge-
winnen. Die nach der Weigert- TFoZtersschenMethode gef arbtenSchnitte
zeigen 1. vor allem, dass der doppelseitige Defekt schon hart an den
lateralen Winkel des auffallend erweiterten Seitenventrikels heran-
riickt, jedoch die Projektionsstrahlung der motririschen Rinden-
gebiete nicht beschadigt, wodurch die Intaktheit der Pyramiden-
bahnen erklart wird. In Fig. 7, 8, 9 Taf. IX—X ist der Projektions-
zug zum Hirnschenkel sichtbar, und von hier angefangen spinal-
warts ist in der Briicke (s. Taf. VII—VIII, Figg. 4, 3, 2) sowie im
verlangerten Mark (s. Taf. VII—VIII, Fig. 1) die mit ganz nor-
malem Markgehalt versehene Pyramidenbahn zu erblicken.
2. Eine weitere wichtige Tatsache ist ein distinktes Entartungs-
gebiet auf der rechten Seite, welches genau dem von Monakow
heschriebenen Degenerationszuge bei Verletzung des Parietal-
hims entspricht. Das Degenerationsareal erscheint in starkster
und ausgedehntester Entwicklung in Fig. 6, Taf. VII—VIII D
in jener Gegend, wo der riickwartigste Teil des Putamens schon
in abgeschniirten Segmenten erscheint; es ist da oberhalb des
WernickeSichen Feldes, auswarts vom postero-lateralenKern des Seh-
hiigels, zwischen der Lamina medullaris externa und Putamen ein
schmaies, infolge seiner hohen Markarmut auffallend helles Gebiet
sichtbar, welches oben in der Hohe des Sehweifkernes durch die
normal-markreiche Projektionsfasenmg abgegrenzt wird. Dieses
Gebiet wird in den mehr occipitalwarts liegenden Schnittebenen
immer kleiner, um schliesslicli in der Ebene des Pulvinars zu ver-
schwinden. Fig. 5, Taf. VII—VIIID deutet auf die Verringerung des
Entartungsgebietes hin, gleichzeitig ist hier eine Rarefizierung jener
Monataschrift fUr Psychiatrie und Neurologie. Bd XXVII. Heft 1. 5
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/
66
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
Markzfige zu sehen, welche, in den postero-lateralen Sehhiigelkem
eindringend, diesem normaliter ein parallelgestreiftes Aeussere ver-
leihen. Der Zentralkem des Sehhiigels (Centre median), Flechsigs
schalenformiger Korper und speziell die ventralen Kerne (vent, b, c)
weisen am Markpraparate nichts von einer Degeneration auf. Ebenso
sind die Corpora geniculata, sowie der rote Kern normal. Die
analoge Stelle des soeben geschilderten Entartungsgebietes, da die
beiden Halften der Frontalschnitte leider nicht gaiiz identischen
Ebenen entsprechen, ist links auf Fig. 7, Taf. IX—X zu sehen, und
es ist mit Betonung hervorzuheben, dass hier entschieden nichts
von einer ahnlich distinkten Degeneration wie rechts zu finden ist.
3. Eine auff allige Erscheinung ist die ansehnliche Verschmalerung
des Balkens, welcher in den zwischen beiden Erweichungsherden
liegenden Frontalebenen ungefahr nur 1 / a des normalen Volumens
darbietet (s. Fig. 4—9). Als typisches Bild hierffir moge Fig. 5 dienen;
hier ist ausser der bereits erwahnten Verschmalerung des Balkens
noch in dessen ventralem, hauptsachlich medialstem Teile (bei „D“)
ein distinkter Faserausfall wahrzunehmen, welcher mit den sym¬
metrise h gelegenen, in der lateralen Ecke des Seitenventrikels
befindlichen Degenerationsstreifen, welche hier vom Schweifkern
ab dem Ependym entlang den beiden Gyri fornicati zu-
streben, zusammenhangt. Es diirfte die Annahme gerechtfertigt
sein, dass die Reduction des Balkens sowie die Entartung
in und um denselben von den Erweichungsherden in dem Sinne ab-
hangig ist, dass die beiderseitigen Gyri supramarginalesauf dem Wege
der ventralen Balkenfaserung unter einander verbundensind. Ziehen
wir in Betracht, dass das soeben erwahnte Verhalten des Balkens
ausschliesslich im Bereiche der Hemispharendefekte erscheint
(angefangen von Fig. 3 bis Fig. 10), so ist die Abhangigkeit der
Balkenatrophie von den Erweichungsherden ohne weiteres ver-
standlich. Dort, wo die Herde aufhoren, frontalwarts in der Ebene
der Corpora mamillaria (Fig. 11), occipital warts in der Ebene des
Spleniums (Fig. 3), erscheint der Balken auch normal.
4. Es eriibrigt an der Hand der Schnittserien den makroskopisch
erhobenen und lokalisierten Erweichungsbefund zu kontrollieren.
Beziiglich der Oberflachenausdehnung des Herdes kann ich auf
Grund des Schnittstudiums nichts Neues hinzufiigen; anders ver-
halt es sich beziiglich der Tiefenlokalisation. In dieser Frage
sind eben Schnittserien unerlasslich, denn sie konnen einzig und
allein uns genauen Aufschluss fiber die Ausbreitung des patholo-
gischen Prozesses geben. Bei diesem Studium diirfte uns vor allem
die Frage interessieren, wie sich die dem Herde unmittelbar be-
nachbarte hintere Zentralwindvmg links und die vordere Zentral-
windung rechts mikroskopisch verhalt ? Denn makroskopisch
scheint die Erweichung hart an den erwahnten Gebilden zu enden;
nun sehen wir an den Praparaten folgendes. Das Verhalten der
linken hinteren Zentralwindung ist besonders deutlich auf Fig. 7,8, 9
zu verfolgen, wobei es sich herausstellt, dass der rfickwartige,
occipitale Abhang dieser Windung in dem Erweichungsherd auf-
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des Gyrus supramarginal is.
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geht, so dass streng genommen nur der vordere, frontale Abhang
als normal bezeichnet werden kann, der mit einem kraftigen Win-
dungsmark als Assoziationszug mit der vorderen Zentralwindung
zusammenhangt. — Es geht ferner aus den Praparaten hervor
(s. Fig. 9), dass die Kuppe der hinteren Zentralwindung durch
einen umschriebenen Erweichungsfleck ohne Destruktion der
Wipdung teilweise eingenommen wird. — Was nun die rechte vordere
Zentralwindung anbelangt, so ist besonders an Figg. 7, 8, 9 er-
sichtlich, dass der hintere, in die Zentralfurche hinabneigende
Abhang vom Erweichungsprozess angenagt ist, doch nicht der-
massen,dassein mit der Weigert&chen Farbung nachweisbarer Ausfall
in der motorischen Projektionsfaserung entstanden ware. Aller-
dings ist das Windungsmark selbst, verglichen mit jenem der
kontralateralenSeite,entschiedenheller,alsomarkfaserarmer,welchen
Umstand ich mit dem Ausfall der Assoziationsfaserung zwischen
der vorderen und der erweichten hinteren Zentralwindung in Ver-
bindung bringe. — Verfolgen wir nun die Ausbreitung der Er-
weichung abwarts gegen die Sylviussche Fissur, so gestalten sich
die Verhaltnisse rechts und links in nicht ganz iibereinstimmender
Weise. Wahrend rechts der Grund des Defektes entlang der mo¬
torischen Projektionsfaserung zurlnsel hinabzieht und einen grossen
Teil der letzteren zerstort (s. besonders Figg. 4, 5, 6, 7), jedoch an
der erstenTemporalwindungHaltmacht.so dass diese amMarkfaser-
praparat als ganz normal erscheint, wobei auch der unmittelbar am
Grand des Erweichungsherdes liegende Linsenkern in seiner Mark-
faserstraktur als unversehrt vor uns tritt: ist links eine in die
Tiefe greifende Verbreitung des Erweichungsprozesses zu erkennen.
Schon in den hintersten Abschnitten des Herdes (s. Fig. 1, 2, 3)
erstreckt sich die Malazie teilweise bis zum Ependym des Hinter-
homs in einer ganz eigenartigen Form. Wahrend namlich die
Rindensubstanz in Figg. 1, 2 nur teilweise, hingegen in den mehr
frontalwarts liegenden Schnittebenen (s. die Figuren von Fig. 3 an-
gefangen bis Fig. 9) ganz resorbiert ist, so dass ein deutlicher
Substanzverlust, der aufden Gyrus supramarginalis sich erstreckende
Erweichungsdefekt, entstanden ist, verandert sich die subkortikale
Marksubstanz in der Weise, dass sie, ohne an Masse (wie die Rinde)
einzubussen, in insularer, fleckartiger Weise die Tinktionsfahigkeit
ihres Markes verliert. Es entsteht auf diese Weise an den Weigert-
schen Markfarbungspraparaten ein geschecktes Aussehen in der
retroinsularen Gegend (Figg. 4, 5, 6), ferner im lentikularen Gebiete
dergestalt, dass die normale Zeichnung des Linsenkerns ver-
waschen wird (s. besonders Figg. 8, 9, dann bei 10 und 11 etwas deut¬
licher, um in Fig. 12 wieder an Deutlichkeit der Konfiguration
einzubussen). Ganz regellose Aeste dieses mit seiner Hauptmasse
an der Stelle des Linsenkerns sitzenden Erweichungsherdes dringen in
die erste und zweite Temporalwindung hinein, indem sie auch hier
ein recht bizarres, der multiplen Sklerose sehr ahnlich sehen-
des Aussehen hervorrufen. Hierbei erleidet die linke Insel eine
betrachtliche Atrophie (s. besonders Figg. 10, 11).
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68
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
5. Schliesslich ware noch des Umstandes zu gedenken, dass
der Linsenkern links in der Ebene der Mamillarkorper eine pralle
Fiillung der Blutgefasse und auch Extravasate (s. Fig. 11) aufweist.
Nachdem ich meinen Fall klinisch-anatomisch mitgeteilt babe,
eriibrigt mir die in klinisch-lokalisatorischer Beziehung sowie in
Hinsicht auf die sekundare Degeneration sicb ergebenden Sehliisse
zu ziehen. Ich tue dies mit moglichster Kiirze.
A. Klinisch bilden die bilateralen Sensibilitatsstorungen ausser
der linksseitigen Hemiparese die einzigen Krankheitserscheinungen
seitens des Nervensystems, daher ist die Ableitung derselben
aus den gefundenen bilateralen postzentralen Hirnherden
wohl gerechtfertigt. Beide Erweichungsherde, annahernd gleich-
liegend an der Konvexitat des Grosshims, entwickelten sich im
Verlauf eines halben Jahrea nacheinander, klinisch je unter
dem Bilde eines Insultes; der erste Insult rief eine rechts-
seitige Gefiihllosigkeit mit voriibergehender motorischer Aphasie
und rechtsseitiger Hemiplegie, der zweite Insult eine links-
seitige Gefiihllosigkeit und besser ausgepragte Hemiplegie hervor,
welch letztere sich aber spater wieder betrachtlich verringerte.
Aus einer Hemianaesthesia dextra wurde durch Hinzukommen
eines zweiten Insultes eine Hemianaesthesia bilateralis mit alien
Merkmalen der zerebralen Sensibilitatsstorungen. Es fand sich das
als Topoanasthesie bekannte Phanomen der gestorten Haut-
lokalisation in hochstem Masse vor; femer der zerebrale Typus der
artikularen Sensibilitatsstorung, wonach die passiven Bewegungen
in den distalsten Gelenken gar nicht. hingegen in den proximalsten
noch empfunden wurden; endlich nebst Ataxie die Astereognosie.
Spezifische Sinne intakt. Eine Erscheinung, welche eine Erorterung
vor allem erheischt, ist, dass diePatientin beifehlenderAufmerksam-
keit selbst in die Tiefe gehende, schmerzhafte Stiche nicht empfand,
hingegen bei Ankiindigung der vorzunehmenden Untersuchungen
selbst Beriihrungen perzipiert hat, allerdings zumeist mit kolossalen
Lokalisationsfehlern. Somit mangelte eigentlich die Perception
der kutanen Eindriicke nicht, jedoch deren richtige Aufarbeitung
und Abschatzung war im hochsten Grade fehlerhaft. Es war also
keine Anaesthesie sensu strictiori vorhanden, denn in diesem Falle
hatten unter alien Bedingungen die sensiblen Eindrticke absolut
reaktionslos bleiben miissen. In letzterer Beziehung mochte ich mir
nur die fluchtige Anfiihrung eines Falles aus meiner neurologischen
Abteilung gestatten, welcher die Existenz wirklicher Anasthesie
und Analgesie auf Grund eines zerebralen Herdes beweist. Ein
,j0 jahriger Mann erlitt eine Apoplexie, worauf seine rechte Korper-
halfte motorisch und sensibel gelalimt wurde; absolute motorische
Aphasie. Samtliche Qualitaten der oberflachlichen wie tiefen
Sensibilitiit fehlten rechts, also taktile, schmerzhafte, thermischeEin-
driickeundLageveranderungen wurden absolut nicht wahrgenommen
auf derrechtenKbrperhalfte; nurdasmittlereunduntereTrigeminus-
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das Gyrus supramarginalis.
69
gebiet, die rechte Skrotumhalfte, sowie die anstossende Partie
der medialen Schenkelseite waren fiir Nadelstiche noch empfindlich;
von thermischen Eindriicken wurde nur mehr Kalt wahrgenommen.
Gesichtsfeldeinschrankung und andere spezifische Sinnesstorungen
fehlten. Schleimhaute empfindlich. Anatomisch fand sich eine von
der Fossa Sylvii ausgehendeErweichung der zentralen weissenMark-
massen, welche vom Occipitallappen bis zum Frontallappen sich
erstreckte und somit alle zur Konvexitat der Hemisphare strebende
Fasera durchbrach. Bereits Dejerine wies darauf hin, dass zur
komplettenundstabilenHemianaesthesia cerebralis zumeist nur aus-
gedehnte Zerstorungen des Hemispharenmarkes fuhren; die
Existenz solcher klinisch-reinen zerebralen Hemianaesthesien be-
weist der eben angefuhrte Fall.
Ich greife auf den eigenartigen Charakter der Sensibilitiits-
storungen zuriick, indem ich nochmals darauf hinweise, dass dieselben
mehr den Stempel falscher Abschatzung als sensorischen Aus-
falles an sich tragen. Es handelt sich somit viel weniger um die
fehlende Funktion eines Sinnesfeldes als vielmehr um die un-
richtige oder mangelhafte Aufarbeitung sensibler Eindriicke.
Nicht in der Projektion, sondern in der Assoziation liegt der Fehler,
wodurch die falsche Lokalisation bedingt wird. Meines Erachtens
sprechen wir in Fallen von Topoanasthesie nur sehr unprazis von
einer Anasthesie, denn dieser Name dient fiir die Bezeichnung der
fehlender Perzeption sensibler Eindriicke. Von einer wirklichen
zerebralen Hemianasthesie kann z. B. nur in meinem soeben kurz
angefiihrten Fall die Rede sein. Uebrigens deutet auf den asso-
ziativen Charakter der zerebralen Sensibilitatsstorungen auch der
Umstand, dass bei Anspornung der Aufmerksamkeit, eines asso-
ziativen Faktors, Hautreize oft noch prompt, wenn auch mit den
grossten Lokalisationsfehlern angegeben werden; es muss daher eine
Zuleitung der Reize erfolgen, auch werden dieselben bewusst, jedoch
falsch aufgefangen. Infolge der mangelhaften Assoziationstatigkeit
ist es moglich, dass sensible Eindriicke ohne die willkiirliche
Steigerung der Aufmerksamkeit gar nicht apperzipiert werden; mit
anderen Worten: zur richtigen Auffassung sensorischer Eindriicke
ist die koordinierte Tatigkeit gewisser assoziativer Bezirke, welche
mit dem respektiven Sinnesfeld eine engere Verbindung haben
mussen, erforderlich.
Ziehen 1 ) hebt hervor, dass jede Empfindungserregung noch eine
dieselbe iiberdauernde sogenaimteVorstellungserregung hervorrufen
muss, und dass nur so das Sich-Erinnern und Vorstellen der
Objekte moglich sei. Nach demselben Autor weisen zahlreiche
klinische Erfahrungen darauf hin, dass diese Vorstellungserregungen
nicht in demselben Gebiete statthaben wie die Empfindungs-
erregungen, sondern in benachbarten Gebieten, daher existiere
fiir jedes Sinnesgebiet ein benachbartes Vorstellungs- oder Er-
') Th. Ziehen, Krankheiten des Gehirns. Handbueh der praktischen
Medizin.
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70
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
innerungsfeld. Ich ware also geneigt anzunehmen, dass der Gyrus
supramarginalis ein solches Vorstellungsgebiet fiir die oberfldcfUiche
und tiefe Sensibilitdt darstellt, dessen Lasion die falsche Vorstellung,
die unrichtige Abschatzung sensibler Eindriicke bedingt.
Eine solche unrichtige Arbeitsleistung des Gyrus supramar¬
ginalis als des der zerebralen Sensibilitat zugewiesenen Asso-
ziationsgebietes oder Vorstellungsfeldes kann in zweifacher Weise
erfolgen. Entweder ist die Zuleitung sensibler Eindriicke mangel-
haft oder das Vorstellungsgebiet ist selbst angegriffen. Oppenheim
weist in seinem Lehrbuche (s. S. 806, 5. Aufl.) in sehr zutreffender
Weise darauf hin, dass die Stereoagnose, der Ausfall einer
eigentlich komplizierten Assoziationsleistung, ebenfalls in
doppelter Weise zustande kommt, entweder fehlt die tiefe Sen¬
sibilitat oder es mangelt die als Stereognose bezeichnete Vor-
stellungstatigkeit; in letzterem Fall finden wir Stereoagnosie ohne
Sensibilitatsstorungen. — Das anatomische Substrat meines
Falles gibt fiir die erste Moglichkeit, defekte Zuleitung sensibler
Eindriicke, keine Unterlage, denn die sensible Projektion weist
keine Lasion auf (normale Schleife, normaler ventrolateraler
Sehhiigelkern, keine grobere Storung in der thalamo-kortikalen
Projektion). Hingegen scheint die Lasion resp. Zerstorung der
retrozentralen Gegend, ohne eine klinisch-reine zerebrale Hemi-
anasthesie hervorzurufen, zur Entstehung assoziativ-sensibler
Storungen, wie Topoanasthesie und Stereoagnose, zu geniigen.
Nach alldem wdren zweierlei zerebral-senstble Storungen zu unter-
scheiden: ein reinsensorischern Ausfall, welcher in einer klinischen
stabilen Andsthesie sich aussert, und assoziativ-sensible Defekte der
zerebralen Sensibilitdt, uvfiir als Beispiel die Topoanasthesie und
Stereoagnose ohne Sensibilitatsdefekte dienen.
In meinem Falle handelt es sich nicht um die sensorische,
sondern um die assoziativ-sensible Form der zerebralen Sensi¬
bilitatsstorungen, welche durch Lasion eines kortikalen Bezirkes,
namlich des Gyrus supramarginalis, eventuell aber auch durch
Zerstorung subkortikal-assoziativer Ziige entstehen kann.
Der Gyrus supramarginalis als assoziativ-sensibles Zentrum,
auch Gebiet fiir den Muskelsinn genannt, wird in dieser Eigenschaft
von einer Anzahl der Forscher anerkannt; ich nannte bereits
Redlich, v. Monakow, Oppenheim, Bruns, Mills u. A. Mein Fall
spricht fiir diese Auffassung in entschiedenster Weise. Vor allem
ist schon das anatomische Substrat zur Bewertung der Ausfalls-
erscheinungen ausserst giinstig, denn es handelt sich hier um eine
abgelaufene lokale Erweichung, welche weder Reiz- noch Fernsym-
ptome, wie dies bei Hirntumoren geschieht, hervorzurufen geeignet
ist, sodass man das erweichte Gebiet der Hemisphere fast als eine mit
dem Messer experimentell entfernte Stelle betrachten kann; aber
auch die Symptomatik meines Falles gewinnt eine ganz exzeptio-
nelle Eindeutigkeit vermoge der Bilateralitat des Herdes. Denn
wir sehen eine vollkommene Uebereinstimmung in den Ausfalls-
erscheinungen rechts wie links: die Storungen des Muskelsinnes
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dee Gyiftis supramarginalis.
71
sowie der Hautlokalisation sind beiderseits ganz gleich. Zwischen
beiden Korperhalften gibt es nur eine einzigeDifferenz, und diese be-
steht in der leichten Storung der Motilitat links (Parese und Hyper-
tonie), welche ihrezwanglose Erklarung in der Ausbreitungdes rechts-
seitigenHerdes bis zurZentralfurche und der Annagung dervorderen
Zentralwindung findet. In meinem Falle war auch keine Storung
der Augenmuskelbeweglichkeit und keine Sehstorang zu finden.
Ich befinde mich also beziiglich der Funktion des Gyrus supra-
marginalis mit der herrschenden Auffassung, welche diese Windung
als Zentrum fiir den Muskelsinn und die Stereognose betrachtet,
in (Jbereinstimmung. Ich mochte hierbei darauf hinweisen, dass
die Mitbeschadigung der rechten hinteren Zentralwindung den
Charakter der zerebralen Sensibilitatsstorungen auf der linken
Korperhalfte gegen jene der rechten Seite nicht anderte und als
Mehr-Erscheinung nur eine Hemiparese mit Hypertonie bewirkte.
Auf diesen Umstand mochte ich deshalb aufmerksam machen,
weil im Sinne der Lehre von der Lokalisation der Sensibilitat
in die vordere Halfte der hinteren Zentralwindung auf der
linken Korperhalfte ausser den as8oziativ-sensiblenStbrangen(Topo-
anasthesie, Astereognose) auch noch der sensorischeAusfall im Sinne
einer echten Hemianasthesie zu erwarten gewesen ware. Es fragt
sich daher, ob bei kortikalen oder umschriebenen sukbortikalen
Erweichungen eine solche Hemianasthesie entstehen kann, wie
wir sie bei ausgedehnten Markzerstorangen kennen.
Meine Beobachtung bezw. die aus derselben erhaltlichen
Folgerungen stehen mit dem Fall Bdlints nicht im Einklang. Be-
kanntlich verlegt dieser Autor die Funktion der Seitwartsbe-
wegung der Bulbi nicht in den Gyrus angularis—dies istdie iibliche
Auffassung —, sondern in den Gyrus supramarginalis, aus dem
Grunde, weil die sonst symmetrische Erweichung seines Falles
auf der linken Halfte Verschonung des Gyrus supramarginalis
(Tendenz zur Deviation nach rechts) gegen die rechte Halfte aufwies,
woseIb8t die Erweichung vom Gyrus angularis aus nach vorn auf
den G. supramarginalis sich ausbreitete. Er stellt inAbrede, dass
derMuskelsinn und die Stereognose ihren Sitz in der vorderen Halfte
des unteren Scheitellappens hatten. Beziiglich der Frage der konju-
gierten Deviation kann ich auf Grand meines Falles nichts beitra-
gen, mochte daher nur hinsichtlich der Bedeutung des Scheitel¬
lappens als Zentrum des Muskelsinnes den Fall Bdlints einer kurzen
Vergleichung mit meinem Fall unterziehen. Stelle ich die Photogra-
phien derHirnoberflache meines Falles den Hemispharenbildern des
Falles von Bdlini gegeniiber, so ist es auf den ersten Blick klar, dass
die Erweichungsherde hier entschieden mehr occipitalwarts liegen
als bei mir, also keineswegs identische Stellen einnehmen. Auf
der rechten Hemisphare des Falles Bdlints mochte ich auch nur
einen Teil des Gyrus supramarginalis als angegriffen bezeichnen;
auf der linken Hemisphare bezieht sich die Lasion ausschliesslich
auf den Gyrus angularis (soweit Parietalis II in Betracht kommt).
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72
Schaffer, Ueber doppelseitige Erweichung
Bei einer solchen Topographie der Erweichung erwarte ich auch
keine Storungen des Muskelsinnes im Falle Bdlints.
Am Schluss meiner klinischen Erorterungen angelangt, mochte
ich nur ganz kurz darauf hinweisen, dass die aphasischen Storungen
in der Tiefenverbreitung des linken Herdes frontalwarts (Er¬
weichung derlnsel, partiefle Lasion des G. temporalis I) ihre zwang-
lose Erklarung finden. Ob die Kongestion des linken Linsenkerns
die Grundlage des todlichen Insultes war, mochte ich nicht mit
Sicherheit entscheiden; jedoch rechtfertigt das Verhalten der
rechtsseitigen Sehnenreflexe (anfangs Steigerung, 3 Tage vor dem
Tode Verschwinden) die Annahme einer in die linke Hemisphare
zu versetzenden Lasion.
B. Anatomisch weist der geschilderte Fall einige bemerkens-
werte Momente auf.
Vor allem ware auf das rechtsseitige retrolentikulare Degene-
rationsfeld zu verweisen, welches auswarts vom lateralen Sehhiigel-
kem, dorsal vom W ernickeschen Felde genau jene Stelle einnimmt,
welche v. Monakow der dem unteren Scheitellappen zugehorigen
Projektionsfaserung zuweist. Oben wurde bereits erwahnt, dass
nach diesem Autor ein ziemlich machtiger Faseranteil aus dem
Gyrus supramarginalis weiter in das Strat. sagittale int. der dorsalen
Etage (vordere Frontalebenen des Parietallappens), deren Haut-
bestandteil er bildet, und in die retrolentikulare Partie der inneren
Kapsel, wo er zwischen den abgeschniirten Fortsatzen des Linsen-
kems sich einsenkt, von hier in die vordere Partie des Wernicke-
schen Feldes gelangt, um zum grossen Teil in die ventralen Kern-
gruppen (vent, a, b, c) einzudringen. Monakow halt dafiir, dass
diese Bahn thalamo-kortikale Fasern zum Gyrus supramarginalis
fiihrt. Trotz der iibereinstimmenden Topographie dieses Biindels
mit dem meinigen weiche ich von der Schilderung v. Monakows
' in einigen Punkten ab. So gelang es mir an meinen Markfarbungs-
Praparaten vor allem nicht in den ventralen Sehhiigelkernen,
sondern nur im posterolateralen Kern einen Faserausfall zu finden.
Dann aber mochte ich darauf hinweisen, dass die Richtung der
Entartung entschieden fiir eine kortiko-fugale, also gegen den Seh-
hiigel zu gerichtete Degeneration des geschilderten Biindels spricht
und entschieden nicht zugunsten einer kortikopetal verlaufenden
Entartung, vvie dies v. Monakow annimmt. Auf Grund meiner
Praparate muss ich also sagen, dass bei der Zerstorung der retro-
zentralen Gegend der Hemisphare eine absteigende Degeneration
zum posterolateralen Sehhiigelkern eintritt; ja der Verglcich der
beiden Hemispharen lasst eine noch engere Bestimmung jener
Stelle der Hirnkonvexitat zu, welche wir mit diesem Projektions-
biindel in Zusammenhang bringen konnen. Es ist noch erinnerlich,
dass auf der rechten Hirnhalfte ausser der partiellen Zerstorung
des Gyrus supramarginalis noch die unteren */, der hinteren Zentral-
windung erwcicht waren, wahrend links allein der Gyrus supramargi¬
nalis (mit einer partiellen Arrodierung der hinteren Zentral-
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73
des Gyrus supramarginaiis.
«
windung) zerstort war. Nun sahen wir, dass von der Hirnrinde
aus zum Sehhiigel nur rechts eine absteigende Degeneration be-
stand, wahrend links eine solche fehlt. Es diirfte hieraus die zwang-
lose Folgerung gezogen werden, dass allein die Zentraiwindungen
zum Sehhiigel Projektionsbiindel schicken; der Gyrus supramarginaiis
unterhalt mit dem Sehhiigel keine unmittelbare Verbindung. Diese Fest-
stellung steht mit der eingangs erwahnten Behauptung bezw. dem
Befund Flechsigs imEinklang, dass namlich bei ausgedehntenHerden
in der zweiten Scheitelwindung (Gyrus supramarginaiis und
angularis) ohne Beteiligung der hinteren Zentralwindung auch nicht
die leiseste Andeutung einer Degeneration in den Sehhiigelkernen
bezw. ihren Stabkranzbiindeln zu finden ist. —• Bei diesem Punkt
mochte ich noch hervorheben, dass ich in einem Fall von einseitiger
Erweichung der beiden Zentraiwindungen sowie des anstossenden
Gyrus supramarginaiis eine hochgradige Entartung speziell im
lateralen Sehhugelkern (mit Weigertscher Farbung) sah; auch in
einem zweiten Fall, wo es sich um die subkortikale Erweichung der
Projektionsfaserung der Zentraiwindungen in der lateralen Ecke
des Seitenventrikels handelte, bekam ich dasselbe Bild zu Gesicht.
Ich schliesse daher, dass die Zerstorung des Gyrus supra¬
marginaiis zu keiner absteigenden, im Sehhiigel endenden sekun-
daren Degeneration ftihrt; dass eine solche nur bei Erweichung der
hinteren Zentralwindung entsteht und weniger dem ventralen als
vielmehr dem postero-laberalen Thalamuskern zustrebt. Dem
Gyrus supramarginaiis muss ich somit eine zum Sehhiigel fiihrende
Projektion absprechen.
Ein weiterer beachtenswerter Punkt ist der Umstand, dass die
Erweichung der hinteren Zentralwindung zu einer absteigenden
Degeneration in der Pyramidenbahn nicht fiihrt; solche entsteht
nur bei der Zerstorung der vorderen Zentralwindung und moglicher-
weise der Wurzelteile der Frontahvindungen. Ebenso ist es be-
merkenswert, dass in meinem Falle auf die Lasion der hinteren
Zentralwindung eine Atrophie der Schleifenbahn nicht erfolgte.
Eine Degeneration war hier ja schon aus dem Grunde nicht zu er-
warten, da die Schleife mit ihrer ganzen Masse im Sehhiigel endet
und somit nur indrekt, auf dem Wege der thalamo-kortikalen Fasern
zur Hirnrinde gelangt. Doch gibt es Falle, in denen die Hirnmantel-
zerstorung in friiher Jugend erfolgte und als tertiare Degeneration,
besser gesagt Atrophie eine recht bedeutende Volumsreduktion
der Schleife entsteht. In meinem Falle betraf die Malazie eine
ca. 44 jahrige Person und bestand im ganzen nur 3 x /2 Jahre, 1 mter
Verhaltnisse, welche einer Schleifenatrophie nicht giinstig waren.
ZumSchluss mochte ich noch derBalkendegeneration gedenken.
Ich erwahnte oben, dass der Balken im Bereiehe der Erweichungs-
herde eine recht betrachtliche Verschmalerung erlitt, welche auf
die Rechnung jener fehlenden Balkenfasern zu setzen ist, welche die
VerbindungderbeidenErweichungsherdebesorgten. Eslasst sichauf
Grand der Degenerationsbilder annehmen, dass die Balkenfasern
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74
Schaffer, Leber doppelaeitige Erweiclnmg etc.
der Parietallappen ganz ventral im Balken zu liegen kommen,
dann lateral den ausseren Winkel des Seitenventrikels unmittelbar
oberhalb des Ependyras umkreisen und dann, von hieraus recht-
oder schiefwinkl g abgehend, in das Parietalhirn ausstrahlen. Die
im verschmalerten Balken noch vorhandenen Markfasem ent-
sprechen den Zentralwindungen, welehe im Balken dorsal liegen.
■Im Balken ist somit eine schichtenartige Lagerung der Fasern
indem Sinne anzunehmen,dass alle denderMantelspalteamnachsten
liegenden Hemispharenabschnitten (Zentralwindungen) ent-
sprechenden Kominissuralfasern dorsal, die von der Mantelspalte
abseits liegenden Bezirke (Parietalhirn) verkniipfenden Fasern
ventral im Balken liegen. — Es sei hier nur kurz die Behauptung
Kattwinkels 1 ) erwahnt, laut welcher selbst massenhafte Zerstorungen
von Himwindungen zu keiner Degeneration im Balken fiihren;
gibt es eine solche, so ware sie durch Lasionen an Ort und Stelle,
im Balken, verursacht. Diese. Auffassung, welehe auf dem Pariser
Kongresse 1900 vorgetragen wurde, provozierte seitens 0. Vogt
eine entschiedene Zuriickweisung; ich meinerseits bemerke nur,
dass diese Behauptung Kattwinkels alien anatomischen wie
physiologischen Erfahrungen zuwiderlauft und speziell durch die
Untersuchungen von M. Probst in der glanzendsten Weise ent-
kraftet wird.
Ich schliesse mit der Bemerkung, dass in meinem Falle, den
postero-lateralen Sehhiigelkern ausgenommen, kein einziger Punkt
der infrakortikalen Segmente eine Spur von Degeneration aufwies.
Die Endergebnisse meiner Arbeit sind:
1. Der Gyrus supramarginalisistderjenigeHemispharenbezirk,
welcher fur den Muskelsinn, den Lokalisationssinn der Haut und
die Stereognose dient.
2. Der Gyrus supramarginalis entbehrt Projektionsverbin-
dungen mit dem Sehhiigel im Sinne kortikofugaler Fasern; er
stellt ein Erinnerungs- oder Vorstellungsfeld der tiefen wie ober-
flaehlichen zerebralen Sensibilitat dar.
3. Es diirfte angezeigt sein, zweierlei zerebral-sensible Sto-
rungen zu unterscheiden: a) den reinsensorischen Ausfall als die
stabile Anasthesie der Haut und b) die assoziativ-sensiblen
Defekte der oberflachlichen wie tiefen Sensibilitat, welehe als
Topoanasthesie und Stereoagnose bekannt sind.
1 ) M. Katturinkel . L’^tat du corps calleux dans Jes grosses lesions du
cervean. Comyit. rend, de la Sect. Neurolog. du XIII. Congress Internat.
■do Medecine (Paris). 1900. P. 297.
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XVI. internet ionaler medizinischer Kongress in Budapest etc. 75
XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
vom 29. August bis 4. September 1909.
Psyohiatrlsche Sektion.
Nach amtlichen Sitzungsprotokollen referiert von:
Dozent Dr. Carl Hudovemig , Budapest.
1. Sitzung , 30. August vormittaqs.
Vorsitzende: Moravcsik , Crawer, Tschisch .
Geschaftsfiihrender Praaid(»nt. Prof. Ernst Emil Moravcsik , Budapest.
eroffnete die Verhandlungen der Sektion irit einer Ansprache.
Als erstes Thema der wissenschaftlichen Verhandlungen wurden
Ref era te erstattet liber
1. Einheitliche Bezeichnung und Klassifikation der Geisteskrank-
heiten. 1. G. Ballet und G. MaiUard -Paris griinden ihre Klassifikation der
Geisteskrankheiten auf die Pathogeneae und pathologische Anatoinie, be-
tonen jedoch vorher, dass der gegenwiirtige Stand unserer psychiatrischen
Kenntnisse verschiedenartige Einteilungen zuliisst, und motivieren ihre
Einteilung dan it, dass dieselbe eine Zusammenfassung der Psychosen ahn-
licher Natur zuliisst und erst in letzter Reihe ausschliesslich die klinische
Form als Einteilungsprinzip ins Auge fasst. Vortragende teilen die Geistes¬
krankheiten in folgende 3 Gruppen. erworbene. primiire und konstitutionelle
Psvchosen. A. Die erworbenen Psychosen sind auf eine nachweissbare iiussere
Ursache zuriickzufiihren und zerfallen in 2 Untergruppen: Organische und
toxische Psychosen • J. zu den organischen Psychosen gehoren a) intellektuelle
Storungen, welche auf umschriebene Encephalopathien zuriickfiihrbar sind
(Aphasie, Agnosie), b) akute Psychosen als Folgen diffuser Encephalopathien
(Coma, pathologische Schlafsucht), c) chronische Psychosen infolge aus-
gebreiteter Encephalopathien (Paralyse, arteriosklerotische Deinenz). II. Zu
den toxischen Psychosen gehoren die folgenden Untergruppen: a) infektiose
Formen (Delirium ncutum, Fieberdelirien), b) Psyehosen als Folgen einer
Autointoxikation entweder durch Hyperfunktion von Driisen (Basedow)
oder durch ungeniigende Drib enfunktion (myxddematdse Idiotic, Bright -
aches Deliriun ). c) Psychosen als Folgen einer chronischen exogenen Ver-
giftung (Alkohol. Tabak) oder einer transitorischen Vergiftung (Alkohol-
rausch, Opiumrauschh B. Die primnren Psyehosen zerfallen in 2 woitero
Gruppen: I. Dementia praecox mit ihren verschiedenen Formen, II. primitive
systematische Psychose (progressive systematische Psychose,die verschiedenen
Formen des Verfolgungsdelirs, chronisches Delirium Magnans). C. Die
konstitutionellen Psyehosen zerfallen ebenfalls in 2 Untergruppen: I. Psy¬
chosen infolge partieller psychischer Agenesie: a) Urteilsstorungen und patho-
logischer Hochmut, b) Storungen der Kritik, c) Storungen der affektiven
Sphaere (Cyklothymie, zirkulares Irresein, konstitutionell Aufgeregte und
Deprimierte. d) Storungen der Emotivitiit, e) pathologische Suggestibilitat
(Hysterie, Pithiatismus), f) Storungen der Instinkte und des Widens (Ge-
sehlechtsperversionen, Kleptomanie, Mythomanen, Irnpulsionen etc.). II. Die
zweite Hauptgrup]>o der konstitutionellen Psychosen wird gebildet durch
die Psyehosen in folgen einer globalen psychischen Agenesie , wohin samtliche
Formen der angeborenen Idiotic gehoren.
2. Alp zweiter Referent bespricht P . Keraval , Paris, einige allgemeine
Gesichtspunkte fur die Einteilung der Geisteskrankheiten und betont, dass
der gegenwartige Stand der psychiatrischen Kenntnisse keine solche einheit¬
liche Einteilung zuliisst wie in anderen Naturwissensehaften, denn die
Psychopathologie umfasst verschiedenartige Manifestutionen, welche noch
nicht als Einteilungsprinzipien verwertbar sind. Aus diesem Grunde schlagt
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76 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
K. folgende Einteilung vor: l. Entwicldungshemmungen: Idiotie, Imbezillitat,
Kretinismus, moralischer Schwachsinn. 2. Psychoneurosen: Neurasthenic,
Hysterie, Epileptic. 3. Toxische Psychoscn: a) durch Gift© (Alkohol, Blei etc.)
b) durch Infektion (Typhus, Rabies, Puerperalfieber, akutes Delirium), c)
durch Autointoxikation. 4. Organische Psychosen: progr. Paralyse, senile
Demenz. 5. FunktioneUe Psychosen: Manie, Melancholic, Dementia praecox,
d61ire systematise, psychische Degeneration.
3. Als dritter Korreferent bespricht das Thema Bresler , Lublinitz,
Einheitliche Bezeichnung und Einteilung der Psychosen. Vortragender halt
den atiologischen Gesichtspunkt fiir denjenigen, von welchem aus Ver-
standigung iiber cine einheitliche Bezeichnung und Einteilung der Psychosen
moglich ist. Schon jetzt besteht solche Einheitlichkeit da, wo die Ursachen
feststehen oder als hochst wahrscheinlich erkannt sind. Daruin muss nach
dem gleichen Ziel auch bei den ubrigen Psychosen gestrebt werden. Der
atiologische Gesichtspunkt ist auch der praktisch wichtigste unter alien
fiir die Klassifikation der Psychosen herangezogenen (Symptomatologie,
pathologische Anatomie, Verlaufsart, Prognose). Es wird dies im einzelnen
naher begriindet. Vortragender schlagt folgende Einteilung vor: I. endogene
Psychosen: a) konstitutionelle Depression, b) Paranoia, c) Epilepsie,
d)Hysterie, e)psychopathischeMinderwertigkeiten. 1 .Zwangstriebe, 2.Zwangs-
vorstellungen, 3. moralisches Irresein, 4. andere endogene psychopathische
Minderwertigkeiten. II. Toxische Psychosen: a) Infektionsdelirien, b) Amentia,
c) alkoholische Geistessto^ungen, d) progressive Paralyse, e) Dementia
praecox, f) Dementia senilis, g) thyreogene Geistesstorung, h) andere
toxische Psychosen (auch solche rait Krampfen), pella^rose. III. Sekundare
psychotische Zustande: a) bei Entziindungen des Gehirns und 6einer Haute,
b) bei Arteriosklerose, c) bei Neubildungen, d) bei Verletzungen, e) andere
sekundare psychotische Zustande.
Gemeinsame Diskussion des Referates iiber die Klassifikation und
Einteilung der Geisteskrankheiten.
Van Detenter , Amsterdam, macht darauf aufmerksam, class die vor-
getragene Klassifikationen der Psychosen wissenschaftlichen Anforderungen
nicht entsprechen, da sie uns nicht in den Stand setzen, die vorhandenen
Angaben zu vergleichen und statistisch zu verwerten. Er weist auf das in
Holland eingefiihrte Zahlkartensystem hin, dank welchem die Inspektoren
der Irrenanstalten die zu einem Vergloich notigen Angaben iiber die einzelnen
Kranken erhalten. Da die Nomenklatur zu Verwirrungen Anlass geben
kann, sind die Aerzte gehalten, die Stolle des Handbuches zu bezeichnen,
wo das betreffende Krankheitsbild beschrieben wird; es ware aber eine inter¬
national© Regelung der Nomenklatur erwiinscht.
Heboid , Wuhlgarten, wendet sich gegen die Bernerkung Bresler der
den Epiieptikeranstalten jede Berechtigung abgesprochen hat, und hebt
hervor, dass in diesen Anstalten nicht epileptische Anfalle, sondem Epilepsie-
kranke behandelt werden. Eine Unterbringimg der Epilepsie in einem System
der Psychosen halt er noch fiir verfriiht.
Sommer , Giessen, findet, dass Bresler mit dem eigentlich chronolo-
gischen Begriff der sekundaren Psychosen ,,andere sekundare psychische
Zustande 44 zusammengebracht hat, die eigentlich alle Geistesstorungen
umfassen. (Auch in den anderen Einteilungen findet er diese Gruppe.) Eine
zweite Gruppe „toxische Psychosen 44 greife praktisch in die eben erwahnte
ein. Vor allem sei aber der Begriff der Idiotie aufzulassen, da sie in eine
organische, toxische und endogene, funktionelle Gruppe zerfallt. Er emp-
fiehlt die Einsetzung einer Kommission zur Beratimg iiber den klassifika-
torisch noch nicht geldfirten Teil der Psychosen.
Salgo , Budapest, hebt die Unmoglichkeit einer Einteilung der Psy¬
chosen hervor, da es sich um Krankheitszustande handelt, deren Wesen
uns noch grosstenteils unbekannt ist; so miissten nach Breslers Erklarung
alle Psychosen sekundarer Natur sein. Dann scheint ihm die Einreihung
der senilen Geistesstorungen in die toxische Gruppe nicht gerechtfertigt-
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vom 29. August bis 4. September 1909.
77
Friedldnder, Hohe Mark i. T., schliesst sich dem Antrage Det'enters
auf Einsetzung einer intemationalen Kommission an, da eine einheitliche
Nomenklatur schon im Interesse der Literaturbenutzung notig sei.
Cramer , Gottingen, hebt als Gewinn der Referate die scharfe Ab-
grenzung der Gruppen der toxischen und organischen Psychosen heraua.
Minderwertigkeiten mochte er nur dann zu dem Grenzzustand der Geistes-
krankheiten rechnen. wenn psychische Symptome da sind.
Bresler (Sch luss wort) weist auf Krdpelin und Vilcz hin, welche bei
Dementia senilis die Neuritis erwahnten. ,,Toxische Psychosen* 4 und sekun-
dare psychische Zustande habe er absichtlich nicht ais oxogen zusammen-
gefasst, da die in den Driisen entstandenen Gifte fiir das Nervensysterr auch
endogen sein konnten. Auf dem Programm des geplanten intemtionslen
Instituts zur Erforschung der Ursachen der Geisteskrankheiten stehe die
atiologische Klassifikation der Geisteskranklieiten. —
MaiUard (Schlusswort), betont, dass er zwischen die zwei Gruppen
,,endogene und exogenePsychosen**, die die meistenRedner anerkannt haben,
die dritte Gruppe als ein. noch in der Zugehorigkeit der einzelnen Krank-
heitsbilder unentscliiedene eingeschoben babe. Die toxischen und organischen
Psychosen habe er geschieden, um nicht ganz different© Krankheitsbilder
zusammenzubringen. Wenn er. wie es in der Diskussion verlangt wurde,
die Idiotie zu den organischen Krankheiten rechnen wurde, so miisste er
schliesslich alle Psychosen als organisch bedingte auffassen, was ihm allerdings
wahrscheinlich ist. Die kongenitale Idiotie hat er als specielles Krankheits-
bild abgetremit, weil bei ilir andere Bedingungen vorliegen.
Keraval (Schlusswort^ weist darauf hin, dass die von ihm gegebene
Einteilung das Resultat eines 12 jahrigen Studiums sei. Die Einteilung
in organische und funktionelle Psychosen halt er praktisch fiir rotig, wenn
sie auch nur pro visor isch is;,.
Nach Schluss der Diskussion stellen van Deventer , Amsterdam, und
Friedldnder , Hohe Mark, folgenden Antrag: „Es moge eine internationale
Kommission gewahlt warden, die zunachst aus praktischen Griinden eine
einheitliche Nomenklatur und eine Klassifikation der Psychosen vorbereiten
soll.“ Der Antrag wird einstimmig angenomnien.
Wagner v. Jauregq, Wien, bespricht seine Versuche iiber Behandlung
der progressiven Paralyse mit Tuberkulininjektionen. Gegeniiber der allge-
meinen Ansicht, dass die pr. P. unheilbar ist, sind des bfteren Remissionen
von auffallend langer Dauer beobachtot worden, so dass unwillkiirlich die
Frage auftauchte, ob diese spontan auftrotenden giinstigen Wandlungen
des Krankheitsprozesses nicht auch dureh irgendwelche arztliche Ein-
griffe hervorgerufen werden konnen. Trotz des angenommenen atiologi-
sehen Zusammenhanges wird eine antiluetische Behandlung der pr. P.
von vielen Autoren ( Krafft-Ebing, Obersteiner 9 Ziehen , Krdpelin , Raymond)
entsehieden perhorresziert; nach seinen eigenen Erfahrungen schliesst sich
aber an die antiluetische Behandlung docli oft eine Besserung an, welche wegen
ilirer Haufigkeit nicht als ein Spiel des Zufalles bezeichnet werden kann.
Namentlich gi 11 dies von den dementenForinen und von dem beginnenden Stadi¬
um, wenn gleichzeitig Hg und Jod angewendet werden: diese Kur muss in ge-
wissen Inter val Ion wiederho It werden; diese Kiu* hat Vortragender mit kleinen
(iaben von Schilddrusenpriiparaton unterstiitzt. 1 )och hatVortragender mit der
antiluetischen Behandlung nio dauernde und zufriedenstellende Besserungen
erzielt, hingegen findet man diesbeziigliche Angaben, dass die angeblich ge-
heilten Falle von pr. P. nach fieberhaften, infektibsen, eitrigen Prozessen
geheilt wurden. Diese Erfahrung hat Sponholz mit Vaccination. L . Meyer
mit A uthenriethsclu'r ttalbe therapeutisch zu verwerten versucht. Vor-
tv a gender iiat zu diesem Behufe schon 1891 das Tuberkulin angewendet.
Fi ber das giinstige Resultat haben Vilcz und Dohrschansky berichtet.
nachdem sie liingere und weitergehendere Remissionenbeobachtet haben, und
auch war die Lebensdauer der so behandelten Paraly tiker eine liingere. Spiitere
Versuche wurden an ganz beginnenden Fallen vorgenommen. Von der
anfanglichen Dosis (— 0,01 bis 0,1) wurde spater bis auf 0,5 Tuberkulin ge-
stiegen. wobei die Resultate durchnus zufriedenstellende waren; die letztere
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78
XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
Dosis wurde 7—12 mal appliziert, jede Injektion in ca. zweitagigen Inter-
vallen. Die Steigerung der Dosis war vora Grade der fieberhaften Reaktion
abhangig, Temperaturen iiber 39 0 wurden tunlichst vermieden. Mitunter
wurde die Tuberkuiinkur mit der antiluetischen in der Weise koinbiniert,
dass die letztere derTukerkulinkur vorausging. Wahrend der Kur konnte eine
Steigerung des Korpergewichts und des korperlichen Wohlbefindens be-
merkt werden. Spatere Versuche miissen klarlegen, ob dies© Reihenfolge
die richtige ist, und ob die Tuberkulindosis nieht erhoht werden muss.
Die beobachteten Remissionen waren sehr weitgehende, und betrugen
bis zu 8 Jahren. Im Falle einer Verschlimmerung wurde die Kur mit gutem
Resultate wiederholt. Es konnten noch Staphylokokken- und Strepto-
kokkentoxine versucht werden; Vortragender hat das Tuberkulin bloss
wegen der leichten Zuganglichkeit gewahlt und weil iiber dasselbe bereits
Erfahrungen vorlagen. Schliesslieh erwahnt Vortragender noch die Versuche
Fischers , Prag, mit Nuklein und betont die Wichtigkeit der Reinigung des
Darmkanales, nachdem es bekannt ist, dass die paralytisehen Anfaile durch
intestinal© Autointoxikation verursacht werden. Vortragender hofft, dass
seine Methode vielleicht geeignet sein wird. die pr. P. mit mehr Aussicht
therapeutisch zu beeinflussen.
Diskussion.
J.Donath , Budapest, verweist auf seinen in der neurologischen Sektion
dieses Kongresses gehaltenen (und dort referierten) Vortrag „uber Be-
handlung der progressiven Paralyse mit Nukleinsaure“.
Friedldnder , Hohe Mark i. T., erinnert an seine 1897 in Dresden
berichteten Versuche mit abgetoteten Kulturen von Bacter. coli und typhi.
Er hat mit der Einwirkung des Fiebers auf Psychosen iiberraschende Er-
folge erzielt.
Lechner , Kolozsv&r, glaubt nicht an die Moglichkeit einer Heilung
der progressiven Paralyse. Es ist wahrscheinlich, dass die sogenannten
geheilten Paralysen keine waren, und weist auf seine noch nicht beendeten
Versuche hin, die sich auf Behandlung mit Serum von Eseln und Pferden
beziehen, die mit Blutserum von Paralytikem vorbehandelt wurden. Es
stellten sich nach dieser Behandlung 4 bis 5 Jahre dauernde Remissionen ein.
Snell , Liineburg, glaubt ebenfalls nicht an die Moglichkeit einer
Heilung der progressiven Paralyse. Es ist wahrscheinlich, dass die sog.
geheilten Paralysen keine waren und auf Verwechslung mit Arteriosklerose,
alkoholistischem Irresein und Dementia praecox beruhen. Er erinnert aber
an die Versuche, langdauemde Remissionen durch Erzeugung von Eite-
rungen hervorzurufen, was Ludwig Meyer durch Einreibung mit Tartarus
stibiatus-Salbe gelang. Aber diese grassliche Narben erzeugende Behandlung
wurde wieder verlassen, undRedner hofft, dass es gelingen wird, auf erfolg-
reichere Weise Remissionen zu erzielen.
Wagner v.Jauregg (Schlusswort) betont, dass er seine eigenen Versuche
auf die Ludwig Meyers zuriickgefiihrt habe, und halt eine weitere Fortsetzung
der Meyer&chen Versuche fiir iiberaus wertvoll.
Salgo , Budapest, Die Paranoia. Trotz der unleugbaren Fortschritte
der Psychitarie und auch trotz der vorlaufig noch iiberschatzten neuesten
Untersuchungsmethoden, namentlichder sogenannten experimentell-psycho-
logischen Untersuchvuigsmethoden, haftet die Diagnose der Paranoia gerade
so wie ehedem im Wesen an den Krankheitssymptomen. Es ist ja zu-
zugeben, dass mancher Symptomenkomplex, der friiher der Paranoia zu-
gezahlt wurde, mit Recht eine andere diagnostische Bedeutung erfahren
mus8te, aber auch diese diagnostischen Rektifizierimgen gingen von der zu-
treffenden Bewertung der Krankheitssymptome aus. Eine vorurteilsloee Beob-
achtung der einschlagigcn Krankheitsfalle wird unmoglich, wenn wirdieaus-
schlaggebende Bedeutung der Halluzinationen im Bild der Paranoia ver-
kennen. Und es wird sich gewiss kein Widerspruch erheben, wenn wir sagen,
dass ohne nachweisbare Halluzination die Diagnose ,,Paranoia“ nicht gestellt
werden kann. Neben der Sinnestauschung steht der Bewusstseinszustand
der Paranoiker als gleichwichtiges Symptom, der, soweit wir darunter die
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vom 29. August bis 4. September 1909.
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unbehinderte Perzeption, die Gesamtheit der Erinnerungen und die liicken-
lose formale Assoziation verstehen, dem Normalen am nachsten steht. —
Als drittes Kardinalsymptom der Paranoia darf die systematische Ver-
kniipfung der Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen zu einem logisch
zusammenhangenen Komplex gelten. Ich stimme vollstandig mit Krdpelin
darin iiberein, dass zur sicheren Feststellung der Diagnose ,,Paranoia“ die
typische Verlaufsweise unerlasslich ist. Der Verlauf der Paranoia ist immer
und in alien Fallen chronisch. Die Entwickking fallt in die 20er Jahre und ist
eine ganz allmahliche. Das vollentwickelte Krankheitsbild besteht unver-
andert Jahrzehnte hindurch, schliesst unter gewissen Umstanden eine, wenn
auch minderwertige, so doch geordnete Tatigkeit nicht aus und gibt beziiglich
der Heilung eine absolute ungiinstige Prognose. Die Ursachen, die zur Ent-
wicklung der Paranoia fiihren, sind vorderhand nicht vollstandig klar. Die
hereditare Belastung spielt wohl unzweifelhaft eine Rolle, doch nicht von
der ausschlaggebenden Bedeutung, wie dies gern angenommen wird. Viel
wichtiger scheint ihm die individuelle Veranlagung ohne hereditare Dis¬
position zu sein, eine Veranlagung, die sich als „psychopathische Person-
lichkeit“ im Sinne Bimbaums aussert und in abnormen Charaktereigen-
schaften zutage tritt. (Autoreferat.)
DisJcussion.
Snell, Liineburg, mochte nur die Falle als Paranoia bezeichnet sehen,
bei denen kein erheblicher Verfall der geistigen Krafte eintritt. Die zur
Demenz fiihrenden Falle sollten der paranoiden Form der Dementia praecox
zugerechnet werden.
Anton . Halle, betont, dass trotz der Untersuchungen Westphals iiber
die nicht immer sekundare Paranoia doch der klinische und pathologische
Begriff der sekundaren Psychosen aufrecht zu erhalten sei. Die Symptome
entstehen nicht nur durch Erkrankung und Ausfalien von Gehirnteilen,
sondern auch durch veranderte atypische Funktion der gesund gebliebenen
Teile. Oft ergibt die Vorgeschichte der Paranoia ein langes Prodromal -
stadium.
Van Deventer, Amsterdam, halt die Diagnose und Prognose der
Paranoia auoh in den Fallen von Simulation und Dissimulation nioht fur
schwierig. Das Hauptmerkmal sei krankhafter Eigensinn, das Hegen vou
Gedanken, die mit den allgemein gangbaren Ansichten in Widerspruoh
stehen. Auch vor ihrer nachsten Umgebung wissen solche Kranke ihre Ge-
danken zu verheimlichen. Das Auftreten von Halluzinationen halt er fur
prognostisch nach seinen Erfahrungen nicht fiir sehr ungiinstig; manche
gewohnen sich daran, von ihren Halluzinationen abzusehen.
Salgo (Schlusswort) erwidert Herrn Anton , dass er die Bezeichnung
primar und sekundar als nicht entsprechend abgelehnt habe und anstatt
sekundar die Bezeichnung Terminalstadium empfehlen wiirde.
Vortrag von Prof. Catsaras, Athen, liber die Rolle des toxischen und
infektidsen Elementes in der Genese der geistigen Krankheiten, an welchen
Prof. Anton, Halle, einige Bemerkungen iiber die nervosen und psychischen
Storungen im Puerperium ankniipft.
3. Sitzung, 31. August, vormittags.
Vorsitzende: Wagner v. Jauregg, Roubinovitch.
Auf der Tagesordnung stehen Referate und Vortrage iiber Arterio-
sklerose und nervdse und psychische StSrungen.
C. Cramer, Gottingen, Die nervdsen und psychischen Stdrungen bei
Arteriosklerose.
Den ausgesproohen psychischen Storungen bei Arteriosklerose gehen
meist nervose Stdrungen und solche, welche auf eine Nervenerkrankung
hinweisen, voraus. Sie werden nicht selten ubersehen.
Die nervosen Erscheinungen bestehen in dem Gros der Falle haupt-
sachlich in der Trias: Kopfschmerz, Schwindel und Gedachtnisschwache.
Dazu kommen die Symptome, welche leicht angedeutet auf eine
Nervenerkrankung hinweisen: leichte, fliichtige Paresen, zeitweise auftreten-
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80 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
des Mitflattem der Geei chtsmuskulatiu*, Verlangsamung oder Erschwerung
der Sprache, trage Reaktion und Different der Pupillen, Parasthesien in
den Extremitaten und vieles andere.
Die psychischen Storungen sind meist depressiver Art, doch kommen
auch gelegentlich heitere Erregungszustande und paranoide Symptomen-
komplexe vor.
Die Prognose ist um so giinstiger, je friiher die Behandlung beginnt.
Auch bei psychischen Storungen* kommen weitgehende Besserungen, ja
ein Zuriicktreten aller Erscheinungen vor, wenn nur entsprechend golebt
wird.
Auch kann das Zustandsbild voriibergehend Schwankungen zeigen.
In schweren Fallen werden die klinischen Symptome durch die Art
und Lokalisation des Gewebsprozesses bestimmt. Ungiinstig ist die Prognose
meist dann, wenn raehrfache apoplektoide Zufalle die Krankheit kom-
plizieren oder wenn ein dissolutes Leben (Exzesse in baccho et venere, nebet
Vielesserei) weiter fortgesetzt wird. (Autoreferat.)
v . Tschisch , Jurjew-Dorpat: Die im Verlaufe der Arteriosklerose
auftretenden nervosen und psychischen Erscheinungen. Auf dem Boden der
Arteriosklerose entwickelt sich — am haufigsten im Alter von 50—55 Jahren
— die „Neurasthenia arteriosclerotica‘\ Diese Neurasthenie ist durch
folgende Symptome charakterisiert: Am haufigsten werden die Kranken
durch Herzsymptome gequalt, diese Zustnnde werden von Angstgefiihlen
begleitot und rufen eine depriroierte Stimmung hervor. Fast immer klagen
die Kranken iiber schlechten Schlaf. Die Kranken klagen iiber ein Gefiihl
der Schwere und Dumpfheit im Kopfe, das sich bei jegiicher Beschaftigung
und abends verstarkt. Den Kranken ist jede Beschaftigung zu schwer, und
sie ermiiden leicht, ihre Arbeitsfahigkeit sinkt. In der psychischen Sphare
werden beobachtet: Apathie, Verstimmung und erhohte Reizbarkeit. Wenn
es nioht gelingt, die Entwicklung der arteriosklerotischen Neurasthenie auf-
zuhalten, so geht sie langsam und allmalilich in arteriosklerotische Demenz
iiber. Das Gedachtnis und besonders die Fahigkeit der willkiirlichen Er-
innerung nehmen ab, alle psychischen Prozesse gehen langsamer und lang-
samer vor sich, es entwickelt sich psychische Stumpfheit, die Urteile des
Kranken werden elementar und schabloncnhaft. die Phantasie schwindet
volls tandig. Die Kranken selbst empfinden ihren Zustand, sie entziehen
sich jegiicher Beschaftigung; ihr Wille wird schwacher. Vorgeschrittene
Falle von arteriosklerotischer Demenz kommen selten zur Beobachtung,
da diese Krankheit nur selir selten sich entwickelt und die Kranken gewohn-
lich in irgend einer anderen Krankheit zugrunde gehen, z. B. Krankheiten
des Herzens, der Nieren usw. In seltenen Fallon geht die arterioklerotische
Neurasthenie nicht unmittelbar in arteriosklerotische Demenz iiber: sie
werden durch melaneholische oder manische Zustande miteinander ver-
bunden, letztere sind zufallige Episoden im gesamten Krankheitsverlauf.
(Autoreferat.)
Oldh , Budapest, Die im Verlaufe der Arteriosklerose auftretenden
nervdsen und psychischen Stdrungen. I. Aus der physikalisch konstatier-
baren Arteriosklerose folgt nicht die Wahrscheuilichkeit der Erkrankung
der feineren Hirnarterien. II. Auch die Sklerose der Hirnarterien geht nicht
immer mit den oben i^rwalmten Symptomen Hand in Hand, wie iiberhaupt
die gewohnliche Arteriosklerose des vorgeriickten Alters zu der ge-
schilderten spezilischen i^rkrankung nicht zu disponieren scheint. III. Es
gibt eine nosologisch noch nicht ins Heine gebrachte Involutionspsychose,
welche mit Arteriosklerose grdsseren oder geringeren Grades der feineren
(iehirnarterien einlierueht, ohne von derselben bedingt zu sein, und
Anspruch auf eine klinische Sonderstellung liat. IV. Die Benennung
,.arteriosklerotische I’sychose** ist fur diese Form koine gliicklich gewahlte,
erstens weil diese Ps\cliose bei Arteriosklerotikern im gew'dluilichen Sinne
liur selten vorkommt, des weiteren, weil dieselben anatomischen Ver-
ihiderungen auch bei anderen Psychosen zu finden sind und schliesslich,
weil eine anatomische Beneimung den iibrigen, nicht anatomischen Be-
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vom 29. August bis 4. Septemlier 1909.
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zeichnungen nicht gut einzureihen ist, di© Einheitlichkeit stort und der
klinisch-psychiatrischen Auffassung nicht entspricht.
(Autoreferat.)
Diskussion.
Van Deventer , Amsterdam, hS.lt auch den Namen Psychosis arterio-
sclerotica nicht fur gut und zu Missverstandnissen Anlass gebend. Es konnen
im Gehirn arteriosklerotische Veranderungen da sein, ohne dass psycliische
Abweichungen vorkommen. Das von Oldh beschriebene Bild entspricht
von den nosologisch noch nicht ins Heine gebrachten Involutionspsychosen
am ehesten der sogen. arteriosklerotischen Psychos©. Dagegen entwickeln
sich die von v. Tschisch beschriebenen Krankheitsbilder nach seinen Er-
fahrungen auf neurasthenischern Boden. Die Dementia senilis bietet oft ein
klinisches Bild, das dem der Psychosis arteriosclerotica ganz gleich ist.
Weygandt, Hamburg, weist darauf hin, dews nach seiner Erfahrung
einige F&lle von Pseudo tumor cerebri durch Arteriosklerose zu erklaren
bind.
Cramer (Schlusswort) betont, dass in den Keferaten nicht von arterio¬
sklerotischen Psychosen gesprochen worden ist, sondern nur von psychischen
Storungen bei Arteriosklerose. Die Schadlichkeit, die die Arteriosklerose
besitzt, wirkt so wie andere Schadlichkeiten auf das Gehirn. Kompliziert
wird die Nebenwirkung noch durch Herdsymptome. Kemissionen kommen
vor, doch niemals vollstandige peilung. Er bespricht noch die prognostische
Bedeutung der Frage.
Friedldnder , Hohe Mark b. Frankfurt a. M.: Hysterie und modeme
Psychoanalyse. Referent gibt einen gedrangten Abriss der sogenannten
Freud&chen Lehre. Dieselbe hat ihre Grundlage in den gemeinschaftlich mit
Breuer im Jahre 1895 veroffentlichten Studien iiber Hysteric. Die Wege,
die beide Autoren fanden, ihre neuartige psychologische Betrachtungs weise,
die Aufstellung der Begriffe „emgeklemmter Affekt, Abreaktion, kathartische
Methode“ sind als wissenschaftlich in hohein Masse anzuerkeimen, und es
sollte niemand leugnen, dass dies© erste Arbeit sehr befruchtend gewirkt
hat. Von ihren theoretischen Ansichten ausgehend, entwickeiten die beiden
Verfasser ihre besonderen Ideen beziiglich dor einzuschlagenden Behandlung.
Dieselbe musste — kurz gesagt — ©ine psychologische sein, in der Hypnose
ware der eingekleinnit© Affekt zu loscm, das psycliische Trauma, welches zur
hysterischen Erkrankung gefuhrt hat und in dab Unterbewusstsein gesunken
war, musste wieder geweekt werden.
Das, was die beiden Autoren in ihrem Buche als psychisches Trauma
bezeichneten, stellte sich aber in den spateren Arbeiten als die alles, d. h.
alle Neurosen beherrschende Sexualitat dar. Freuds Erfahrungen gipfeln
in der Erkenntnis: „Keine Neurose ohne gestortes Geschlechtsleben. 44 Aus
diesen theoretischen Ueberlegungen entsprang die Therapie. Freud und seine
Nachfolger dringen mit ihren Analysen in das Geschlechtsleben oder in die
Vorstellungen von demselben ein, es gelangte alles, aber auch alles, Pervert i-
tiiten inbegriffeiu zur ,,Analyse“.
Referent gibt eine Uebersiclit iiber die Anhanger und Gegner Freuds
und zeigt beziiglich der ersteren, auf welche geradezu gefahrlichen Abwege
sich manche von ihnen begeben, unbekiimmert uir jede Kritik, un-
bekiimmert um den Schaden, den sie den Kranken irr besonderen und
unserer Wissenschaft in allgemeinen zufiigen konnen.
Referent lehnt nach objektivster Wiirdigung und nachdem er jahrelang
sorgfaltig nachgepriift hat, die Anwendung jener ^psychologischen* 4 Therapie
ab, die in oft kritikloser Weise bei jeder Neurose nach sexueller Aetiologie
forschen imd — besonders weibliche Kranke — der Tortur einer zuweilen
monatelangen psychoanalytischen— also irr Sinne dieserAutoren sexuellen —
Kur unterwerfen will.
Dass jede Hysteiie heilbar sei, behaupten wohl auch die Sexual-
Analytiker nicht. Referent aber behauptet, dass er beispielsweise einen
Fall von Hysterie zur Heilung brachte, der viele Jahre behandeXt f dann fur
unheilhar gehalten und ohne sexueUe A nalyse soweit gebracht wurde, dass dieser,
Monatwchrift fttr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 1. 6
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XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
wenn er der einzige ware, geniigte, urn gegen jene Therapie zu zeugen. Dass
er der einzige nicht ist, davon konnten sich besonders die jiingeren Jiinger
Freuds liber zeugen. wenn sie sich der Mlihe unterziehen woilen, auch Anders-
denkende — zu lesen.
Referent fasst sein Referat in folgende Satze zusammen:
1. Eine kausale, auf alle Falle von Hysteric anwendbare Therapie
besitzen wir nicht.
2. Die kathartische (Abreaktions-)Methode von Breuer-Freud ist
theoretisch fiir die Psychologie der Hysterie sehr fruchtbar gewesen; prak-
tisch hat sie fiir gewisse traumatische Falle Geltung und Wert.
3. Die psychoanalytische Methode ist sicherlich nicht dasMittel, um
Hysterien giinstig zu beeinflussen. Das detaillierte Eingehen auf sexuelle
Erlebnisse und Perversitaten sollte prinzipiell vermieden werden.
4. Die psychische Behandlung, wie sie jeder erfalirene Psychotherapeut
anwendet, erreicht, ohne schaden zu konnen, das gleiche wie die sexuelle
Psychoanalyse; unterstiitzt kann oder muss sie werden durch die erprobten
allgemeinen therapeutischen Massnahmen. (Autoreferat.)
Diskussion.
Cramer , Sommer , Morion . Petnel u. A. Schliesslich wird ein Antrag
Weygandls angenommen, die Frage der Psychoanalyse auf die Tagesordnung
des Kongresses im Jaher 1910 zu setzen.
4. Sitzung, 31. August , vormittags.
Vorsitzender: Greidenherg.
M. Hegyi, M. Sziget : Dementia pr&SCOX. Gelegentlich eineeVortrages,
den Vortragender auf dem Kongress der Irrenarzte im Jahre 1906 in Buda¬
pest hielt, habe er, gestiitzt auf statistische Daten, hervorgehoben, dass
von 1150 Geisteskranken, welche in der Klinik zu Klausenburg (Vorstand
Lechner) in der Zeit von 1902 bis 1906, also innerhalb 4 Jahren, behandeit
wurden, 105 Kranke an der durch Krdpelin erkannten und in das System ein-
gefiigten Dementia praecox litten. Dreiviertel dieser Kranken zeigten in
fast gleichmassiger Verteilung das pragnante Bild der Dementia praecox
hebephrenica, katatonica und paranoides. Dagegen liessen sich 16,4 pCt. der
Gesamterkrankungen in keine der erwahnten Formen einfiigen, weil der
hebephrenische, katatonische und paranoide Zug bei diesen entweder ganz-
lich fehlte oder bloss eine derart geringe und untergeordnete Rolle im Ver-
laufe des Krankheitsprozesses spielte, dass diese Falle in eine andere Klasse
eingereiht werden mussten. Diesen Fallen war neben den gemeinsamen
Symptomen der Dementia praecox, namlich dem Auftreten im jugendlichen
Alter unter rasch eintretender Geistesschwache als dauerndes Symptom
der stuporose Charakter eigen, und diese Grupe wurde von ihm auf Grund
der gemachten Wahrnehmungen als Dementia praecox stuporosa bezeichnet.
Seither hat Vortragender in der Szigeier Irrenanstalt 61 Falle von
Dementia praecox festgestellt und behandeit, bei deren 30 pCt. vollige Un-
tatigkeit,Teilnahmslosigkei t,Unmut ,Hernmung der willklirlichen Bewegungen
und des instinktiven Lebens, kurz ein vollig stuporoser Zustand hervortrat, so
dass er bei diesen keine andere Diagnose als Dementia praecox stuporosa fest-
stellen konnte. Obwohl in der Krapelinachen Klassifizienmg die Dementia
E racox stuporosa nicht vorhanden ist, muss Vortragender deren Existenz-
erechtigung auf Grund seiner bisherigen Erfahrungen dennoch betonen,
und er halt fiir gerechtfertigt, den bisherigen drei Formen diese als vierte
anzuschliessen. Seine Annalnne stiitzt sich auf folgende Momente:
1. Bei der Dementia praecox hebephrenica krankhafte Veranderung
des Gemutszustandes und die daraus hervorgehenden impulsiven Re-
aktionen.
2. Bei der Dementia praecox katatonica das mit der Stoning des all¬
gemeinen Befindens zusammenhangende irregulare Auftreten des Muskel-
tonus.
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vom 29. August bis 4. September 1909.
83
3. Bei der Denentia praecox paranoides Halluzinationen, falsehe
Impressionen und andere krankhafte Wahrnehmungen.
4. Bei der Dementia pracox stuporosa tritt Stumpfsinn gegeniiber
den Sinnesreizungen und der damit verbundene Reaktionsrr angel in den
Vordergrund. (Autoreferat.)
Epxtein . Nagyszeben „ Be it rage zur Rassenpsychiatrie." Das Kranken-
materiai der Staats-Heilanstalt fiir Geisteskranke in Nagyszeben eignet sich
vorziiglich zu vergleichenden rassen-psychiatrischen Studien, da es sich zu
mehr als zwei Drittel aus drei ziemlich rein erhaltenen Rassen zusammensetzt.
Es sind dies die in den siebenbiirgischen Teilen Ungarns wohnhaften Sz6kler
(magyarische Basse), Sachsen (germanische Basse) imd Ruraanen (wahr-
scheinlich siidslawische Basse mit romanischem Einschlag). Diese drei Volks-
gruppen imterscheiden sich voneinander ebenso in ihrer ausseren Erscheinung
wie in ihren geistigen Anlagen, Charaktereigenschaften, Sitten, Gebrauchen
und ihrem Kulturgrade. Es drangte sich daher von selbst die Frage auf,
ob diese verschiedenen Rasseneigentiimlichkeiten sich nicht irgend wie auch
in der Haufigkeit, der Art, dem Verlauf und anderen Beziehungen der gei¬
stigen Erkrankungen geltend machen. Vortragender roachte nun diese Frage
zum Gegenstand von Untersuchungen, deren vorldufiges Ergebnis sich
folgenderroassen darstellt.
Das grosste Kontingent zu dero Krankenmaterial liefern die Rumanen
(35,42 pCt. der Gesamtkranken und 51,37 pCt. der Untersuchten), welchen
die Sz6kler (16,88 pCt. reap. 24,47 pCt.) und die Sachsen (16,67 pCt. resp.
24,16 pCt.) folgen. Auf den Bevolkerungsquotienten bezogen, standen die
Sachsen abei weit voran, wahrend die Sz^kler in zweiter und die Rumanen
in dritter Reihe komrren. Alter und Stand weisen nichts Besonderes auf.
Der Beschaftigung nach rekrutieren sich die Rumanen hauptsachlich aus
der Klasse der Ackerbauer und Tagelohner; bei den Sz&dern finden wir
neben diesen auch Gewerbetreibende in grosserer Zahl, und unter den Sachsen
sind auch die intelJektuellen Berufe und der Handelsstand starker vertreten.
Psychiatrisch bemerkenswerte Einzelheiten sind den Erblichkeitsverhalt-
nissen zu entnehmen. Beriicksiehtigt roan, wie spaa lich im allgen einen
die hierauf beziiglichen Angaben zu fliessen pflegen, so fallt die durch
Geistes- und Nervenkrankheiten der Aszendenz bedingte stark© und oft
konvergierende erbliche Belastung der Saohsen auf. Allerdings ist der Pro-
zentsatz an erblicher Belastung bei den Rumanen derselbe und bei den
Sz6klern nur um ein Drittel geringer, aber mit dem sehr wesentlichen Unter-
schiede, dass diese Belastung bei den Rumanen iiberwiegend, bei den Sz^klem
oft durch Alkoholismus der Eltern bestimmt ist; wie auch Trunksuoht der
Patienten selbst unter den atiologischen Momenten bei den Rumanen in
17,6pCt., bei den S^klern in 16pCt., bei den Sachsen nur in llpCt. aufgefiihrt
ist. Diese atiologische Sachlage findet in den Krankhehsformen ihren
Widerschein. Die Dementia praecox-Gruppe (samt den Endzustanden)
ist bei den Sachsen n it 53 pCt., bei den Rumanen mit 41 pCt., bei den
Sz£klern mit 35 pCt. vertreten; Paranoia fand sich in 7,5 pCt. resp. 1,7 pCt.
und 3,75pCt. Hmgegen liefer te die Paralyse beiden Szeklern 17,5 pCt., bei den
Rumanen 11,1 pCt., bei den Sachsen 7,5 pCt. und in derselben Reihenfolge
Epilepsie: 8,7 pCt., 8,2 pCt. und 6 pCt.; Idiotie: 5 pCt., 9 pCt. und 3,75 pCt.
Die endogenen Psychosen ergeben bei den Sachsen 86,25 pCt., bei den
Szeklern 68,75 pCt., bei den Rumanen 68,23 pCt. Mit den atiologischen
Verhaltnissen und sonstigen Rasseneigentiimlichkeiten mag auch die Ver-
schiedenheit der kriminellen Veranlagung zusammenhangen; die Kriminalitat
namlich betrug im Untersuchungsmaterial bei den Sachsen 0 pCt., bei den
Szeklern 5 pCt., bei den Rumanen 10 pCt. Weitere Untersuchungen sind
im Gange. (Autoreferat.)
5 . Sitzung , 1 . September , vormittags.
Vorsitzender: Snell , Heboid .
Auf der Tagesordnung dieser Sitzung stehen Referate und Vortrage
iiber Imbezillitit, ihre kllnischen und anatomischen Formen.
6 *
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84 VXI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
W. WeygancU , Hamburg: Die ImbezHlitat vom klinischen und foren-
sischen Standpunkt. Das Ideal, Klassifizierung im Bereiche psychischer
Anomalien, die psychologische Differenzierung roit entsprechender Ver-
wertung der etwaigen somatischen Eigentiimliehkeiten und Verlaufseigenart,
sowie unter spaterer Bestiitigung durch einen entsprechenden Obduktions-
befund, ist in der Psychiatrie nur an wenigen Stellen veikorpert. Doch
auch im Bereiche des am wenigsten beachteten Zweiges der Psychiatrie,
der Erforschung des jugendlichen Schwachsinns, riickt ihm die Wissen-
schaft insofern unausgesetzt naher, als es immer mehr gelingt, aus der Full©
der mannigfaohen Erscheinungen eine Reihe von Gruppen abzugliedern,
die in sich geschlossene klinische Einheiten. vielfach von bestimmter psy¬
chischer Eigenart. von Verlaufsverwandtschaft und auch somatischen
Eigentiimliehkeiten sowie besonderem Obduktionsbefund darstellen. Fol-
gende Gruppen lassen sich heute mehr oder weniger abgrenzen: Ainaurotische
farriliare Idiotie. Thyreogener Schwachsinn. Mongoloider Schwachsinn,
Encephalitischer Schwachsinn, in seinen mannigfachen schweren Formen
(Porencephalie, atrophische Sklerose etc.). Hydrocephalischer Schwachsinn.
Meningitischer Schwachsinn. Tuberose Sklerose. Epileptogener Schwach¬
sinn. Dementia infantilis. Dementia praecox. Ferner die Gruppe der embryo-
nalen Hirnentwicklungshemmungen. Immerhin bleibt eine Fiille klinisch
noch nicht speziellzu differenzierender Fiille iibrig.die vor allern bei Storungen
leichteren Grades sich intra vitarn naher klassifizieren lassen. Beachtenswert
sind hysterisclie, neurasthenische und manisch-depressive Konstitutionen*
Bei der praktisehen Beurteilung, insonderheit der gerichtlichen Betrach-
tung und der administ rati veil Versorgung, kommt es an I. auf die Eigen¬
art, insofern einige Gruppen mehr. andere wieder weniger antisozial und
beeinflussbar sind; II. vor allem auf den Grad der Storung. Wiihiendz. B.
dieEpilepsie an sich ein kriminell hochst bedeutsames Leiden ist, sind gerad©
die schwersten Fall© lediglich asozial. Im ganzen sind die schweren Fall©
weniger wichtig fur uns, wahrend die leichteren, nicht speziell zu charakte-
risierenden Falle praktisch viel bedeutsamer sind; vor allem auch die
psycho-neurotischen Fiille. Urn so eher diirfen wir einen Fall als praktisch
erheblich gestort amiehmen und die richtigen Konsequenzen hinsichtlich
der Zurechnungsfahigkeit und Anstaltsbediirftigkeit daraus ziehen, j©
deutlicher er durch klinische, besonders auch soinutische Eigentiimliehkeiten
in eine bestimmte Gruppe gerechnet werden kann. Dringend ist neben der
Intelligenzstorung, deren Erforschung ja den leichteren Teil unserer Auf-
gabe bildet, auch das sonstige psvchische Wrhalten, vor allem im Bereich
der Gefiihls- und Wilienssphare. zu beriicksichtigen. Hinsichtlich der Be-
urteilung des Schwachsinnsgrades ist zu beach ten das inteltektuelle Niveau
des Milieus. Ferner ist auch stets das Intelligenzniveau der psychiatrisch
nicht verdachtigen Rechtbrecher in Betracht zu ziehen. Zur Beantwortung
der Frage nach der Zurechnungsfahigkeit ist am praktischsten immer noch
der Versuch einer Parallelisierung des Falles mit einer bestimmten Stufe
des normalen Kindesalters, selbstverstiindlich unter Beriicksichtigung
etwaigcr Anomalien ausserhalb der irtellektuellen Sphare. Die Frage der
zweckmassigsten Versorgung eines kriminellen Schwachsinnigen ist nur zu
losen unter Heranziehung des Gesichtspunktes der Therapie und der sozialen
Versorgung. (Autoreferat.)
Sommer, Giessen: Die Imbezillitat vom klinischen und forensischen Stand*
punkt. Referent hat die Darstellung der weiteren Beziehungen ubernommen,
die zwischen den klinisch beobaehteten ldiotiefallen und 1. den Insassen der
Hiilfsschulen, 2.dcn Zwangserziehungszdglingen, sowie 3.dem jugendliclienVer-
brechertuin vor handen sind. AusseinenUntersuchungengeht u.a. folgendesher-
vor: Die drei Gebiete der in den Anstalten behandelten Jdiotiefalle, der Hiiifs-
schulinsassen und der Zwangserziehungszoglinge greifen medizinisch und
psychologisch vielfach ineinander iiber. II. Es ist daher ein einheitliches.
Schema els Grundlage der Untersu(*hung aller dieser Falle zu fordern. Die
Sender bed iirfnisse fur die einzelnen Gruppen lassen sich durch Erganzungs-
blatter leicht beriicksichtigen. III. Es lassen sich bei den angeborenen
Schwachsinnigen in den Idiotenanstalten, in den Hiilfsschulen, ferner
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vorn 29. August bis 4. September 1909.
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auch bei Zwangserziehungszoglingen liber den Inhalt eines Untersuehungs-
schemas hinaus eine ganze Reihe von psycho logischen und psychophysischen
Untersuchungsmethoden mit Erfolg anwenden, um einen genaueren Ein-
blick in die feinere Struktur des geistigen Zustandes zu gewinnen. IV. Dies©
bessere Differenzierung ist sowolil medizinisch als psychologisch und auch
padagogisch von Bedeutung und fiihrt zu einem besseren Zusammenarbeiten
der medizinischen und padagogischen Tatigkeit im allgemeinen und im
Hinblick auf die besondercn Anforderungen des einzelnen Falles. V. Bei
der Untersuchung des jugendlichen Verbrechertums, abgesehen von der
Gruppe der deutlich Imbezillen, die einen Teil der Zwangserziehungszog-
linge ausmachen, versagen die gebrauchlichen Methoden der Untersuchung
vielfach und lassen bei eventueller Normalitat im Befund u. a. besonders
hysterische und epileptoide Ziige, ferner angeborene moralische Defekte
hervortreten. VI. Das Vorhandensein der zur Erkenntnis der Strafbarkeit
der Handlung erforderlichen Einsicht ist ein schlechtes Kriterium bei
den jugendliohen Verbrechern. VII. Bei geistig scheinbar normalen Fallen
von jugendlichem Verbrechertum fiihrt ofter die Untersuchung einer-
seits des Milieus, andererseits des angeborenen Charakters im Zu-
sammenhang mit dem Studium der Familienlage zur Erkenntnis der
ausseren oder inneren Quelle dor Kriminalitat. VIII. Es ist sehr wahr-
scheinlich. dass auf dem VVege der Analyse der exogenen und endogenen
Momente auch das jugendliche Verbrechertum immer mehr als eine krank-
hafte Erscheinung bei dem einzelnen Menschen und im sozialen Organismus
sich herausstellen wird. (Autoreferat.)
J. Fischer , Budapest, Die Imbezillit&t vom klinischen und forensischen
Standpunkt. Referent wahlte zum Gegenstande seines Referats jene Gruppe
der Imbezillitat, welche unter dem Namen ,,Moral insanity“ geschildert
wird. Er gibt verschiedene Ansichten wieder, und befasst sich etwas aus-
fiihrlicher mit der Bleulerschen Anschauung. Alsdann bespricht er aus-
fuhrlich die bestiindigen Symptom© der moralischen Imbezillitat : Absolute
Uneinsichtigkeit und Unbeeinflussbarkeit, stark© verbrecherische Triebe,
welche wir bis in die Kindheit verfolgen konnen, Unstetheit und Ruhelosig-
keit, welche das ganze Leben hindurch dauerl, Mangel an Tiitigkeitstrieb
und Geselligkeitstrieb, Selbstiiberschatzung. erhbhte, iiberentwickelte,
iippig wuchernde Phantasietiitigkeit, Eitelkeit, Egoisinus, Zynismus,absoluten
Mangel der ethischen Begriffe und Empfindungen, jedes Rechts- und Sitt-
lichkeitsbewusstseins und eine grosseAnzahl der korperlichen Degenerations-
zeichen; auch erbliche Belastung spielt eine gewisse Bolle. Auf Grund lang-
jahrigerBeobachtunggelangte er zuder Ueberzeugung,dass der bei dieser Kate-
gorie zumVorschein kommende ethischeDefekt und die daraus entspringenden
verbrecherischen Handlungen die Folgt einer ab ovo invalidenGehirntatigkeit
sind. In alien Fallen, die er. vom 10. bis 20. Lebensjahre angefangen,
bis zum reifen Mannesalter Gelegenheit hatte zu beobachten, fand er, da^s
die ethischen Ausfallerscheinungen, wodurch die betreffenden Personen
zu unniitzen Mitgliedern der (ietellschaft wurden, keine progressive Tendenz
aufweisen. Er beschaftigt sich weiter mit jenen Krankheitsformen, welche
ahnhche Symptome zeigen und dadurch mit der moralischen Imbezillitat
verwechselt werdenkonnten, undliebtdie differential-diagnostischen Momente
hervor. Weiterhin bespriclit er die Prognose und weist darauf hin, was mit
den mit dieser Krankheit Behafteten geschehen soil. Auch die forensische
Beurteilung w r ii*d mit ein paar Worten beriicksichtigt. Er stimrnt mit Songard
iiberein. dass dies© Ivrankheitsform ganz besondere, immer gleichartige und
entschiedene charakteristische Ziige in sich vereinigt, w r elche schon von
der friihesten Jugend bestehen und nichts Progressives in ihrem Verlaufe
zeigen. Schon in Anbetracht dieser Eigenschaften kann diese Krankheit
als eine spezietle oder selbstiindige gelten. (Autoreferat.)
J. Roubinomtsch , Paris. Versuch einer padagogischen Psychiatric der
SChwer erziehbaren Kinder. Vortragender stellt versuchsweise fiinf klinisch-
padagogische Typen dieser Kinder auf: 1. geistig nicht zuriickgebliebene
Hypoathenische; 2. geistig zuriickgebliebene Hyposthenische; 3. geistig Hypo-
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86 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
sthemsche mit normaler Intelligenz; 4. ebensolche mit lakunarer Intelligenz;
5. ein gemischster Typus, bei welchem R. abwechselnd Erscheinungen von
peychischer Aufregung und Depression beobachten konnte.
Ley, Brussel, bespricht die Rolle der Psychosen bei der Erziehung
normaler und abnormer Kinder.
Diskvssion.
Friedldnder, Hohe Mark, kann den Begriff der „Moral Insanity “ nicht
anerkennen, denn eine Scheidung von Intelligenz und Moral fiihit zu einem
nicht unbedenklichen wissenschaftlichen D uabemus. Fischer hat eine mangel-
haft fundierte Gehirnanlage air Basis der moralischen Idiotie ange-
nommen. Er glaubt, daes diese pathologische Gehirnanlage vor der Intelli¬
genz nicht Halt roachcn wiirde.
Anton, Halle, erkliirt sich fur die Beibehaltung der infantilen, als
klinisch und atiologisch gesonderter Formen; ihre Pathogenese wurde in
den letzten Jahren mehr geklart. Unter den Peyehosen mit krimineller Ab-
artung ist die Katatonie, besonders ihre forme. fru r tes, wichtig; hierbei
vereinigt sich haufig eine negativi. ti. che Willensrichtung mit abnormer Sug-
gestibilitat, dazu gesellen sich zeitweise impulsive Handlungen und zwangs-
artig stereotypes Wiederholen einzelner Handlungen.
I*echner, Koloszv&r, ist der Ueberzeugung, da s alle Arten und Grade
von Idiotie, Imbezillitat und Debilitat t tets angeboren oder mindestens in
den ersten Lebeni jahren erworben sind.
Heboid Wuhlgarten, betont. dass bei der Imbezillitat anatomipch nur
selten Entziindungespuren gefunden werden, und hebt hervor, date die ge-
fundenen Veranderungen gewohnlich in denselben Gehirnpartien vorhanden
sind. Die Verschiedenheit der Befunde, welche :*ich in vielgestaltiger Weise
doch stets nur in einzelnen Gehirnteilen vorfinden, ist er geneigt, auf die
Gefassschadigungen zuriickzufiihren.
Weygandt (Schlusswort): Infantilismus laat fich atiologisch weiter
differenzieren, hinsichtlich der Tuberkulose, Malaria und anderen Rrank-
heiten. Bedeut am ist die Fettstellung Sommer. 0 , dass sich durch das psycho-
logische Experiment der Padagogen bestimmte prognof tische Fingerzeige
iiber die ihnen anvertrauten Kinder ermitteln lassen. Die Psychologic lehrt
auch, dass manche schiidlichen Suggestionen padagogisch zu vermeiden sind,
so hincichtlich der Teufelsfurcht und dergl. (Schultraume). Man muss
nicht nur besonders fragen: wie kt diet er oder jener kriminelle Schwachf innige
zu begutachten, sondern auch: wie ware jeder Schwachsinnige zu begut-
achten, wenn er dies oder jene* begangen hatte ? Vielmehr ist noch der
Geisteszustand bestr after Verbrecher zu beach ten. Bei der Aufstellung
eines psychischen Normalstatu: ist auf die Milieugruppen dringend Riick-
sicht zu nehmen. Wir brauchen einen Kanon fur Soldaten, fur Landleute,
fiir Handwerker, fiir die Jeunesse dorb usw.
Sommer (Schlusswort) betont, daes der Ausdruck ,,Moral insanity' 4
ein diagnostisches Moment enthalt. Dies erklare die Diskongruenz der
einzelnen Anschauungen. Er unterscheidet verschiedene Arten von mora-
lischem Schwachsinn: eigentliche Defekte an moralischen Momenten,
suggerierte Komplexe, Steigerung der motorischen Erregbarkeit, zwangs-
massiges Handeln, Ausschaltung von moralischen Momenten durch trieb-
artige Handlungen bei bettehenden ethischen Gefiihlen und manche andere
Gruppen. Er glaubt, dass ein Fortschritt nur durch genaue Analyse und
Vergleichung moglich sein wird.
Fischer (Schlusswort) gibt Herrn Sommer recht, das^ wir nur durch
analytische Untersuchung des Gemiites weiterkommen konnen, ebenso
wie bei den intellektuellen Fahigkeiten. Er habe das Gliick, seit einigen
Monaten ein kleines Material zu besitzen, an dem er diese Forschungen
machen wolle, und werde dann seine Erfahrungen mitteilen.
(Schluss im nachsten Heft.)
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40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte etc.
87
40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte in Heilbronn
und Weinsberg.
6. und 7. November 1909.
Bericht von Dr. Lilienstein- Bad Nauheim und Kairo.
I. Sitzung in Heilbronn , 6. November.
Im Namen der Geschaftsfiihrung eroffnet Kemmler-W einsberg die
Sitzung. Oaupp und Kreuser werden zu Vorsitzenden gewahlt.
Hoche • Die Mel&ncholiefrage. Der Vortragende skizziert kurz den
Entwicklungsgang, den die Lehre von der Melancholic genommen hat, und
geht naher ein auf die letzte Phase dieses Prozesses. Krapelin hat neuerdin^s
die Selbstandigkeit einer Melancholic auch fur die Involutionsmelancholie
fallen lassen und sieht in ihr nur noch ein Zustandsbild des monisch-
depressiven Irreseins. Die diesen letzten Schritt vorbereitenden Er-
wagungen (Talbitzer, Drey fuss u. A.) werden gestreift. Der Vortragende
ist fur seine Person nicht der Ansicht, dass mit dem Begriff des manisch-
depressiven Irreseins in der neuesten Ausdehnung (auch wenn man ihm noch
nicht einmal die Spechts chen Dimensionen gibt) fiir klinische Zwecke etwas
anzufangen ist. Er erblickt in der ganzen Frage nur einen Teil einer viel
weiter gehenden und tiefer greifenden Frage, namlich der nach der Existenz
abgrenzbarer reiner klinischer Typen iiberhaupt. Wenn man die durch einen
anatomischen Befund (sei es nachgewiesener oder in Zukunft zu erwartender
Art) zusammengehaltenen Krankheitsbilder abzieht, bleibt das grosse
Gebiet der funktionellen Psychosen als der eigentliche Kampfplatz der
Meinungen und Zweifel in der klinischen Formenlehre. Die angestrengten
und immer wieder als fruchtlos erkannten Bemuhungen um Aufstellung
typischer Bilder sind vielleicht darum zur grundsatzlichen Aussichtslosigkeit
verurteilt, weil die Fragestellung falsch war. Der Vortragende skizziert
in Umris8en eine andere Moglichkeit, namlich die, zwischen der zu kleinen
Einheit der Elementar- Symptome und der zu grossen Einheit der jetzigen
klinischen Krankheitsbilder eine mittlere Einheit zu finden, bestimmte,
immer wiederkehrende Symptomverkuppelungen, Syndrome, die schon
im normalen Seelenleben parat liegen und in den Krankheitsbildem immer
wiederkehren. Ein Teil solcher Syndrome („melancholisch“, „hypo-
chondrisch“, ,,paranoisch“ etc) ist in adjektivischer Form wohl bekannt.
Einen andern Teil werden wir finden bei darauf gerichteter Aufmerksamkeit.
Die Melancholiefrage wird von diesem Gesichtspunkte aus gegenstandslos;
8ie verschwindet hinter dem allgemeineren nach der Existenz klinisch ab¬
grenzbarer Krankheitsbilder bei funktionellen Psychosen iiberhaupt.
(Autoreferat.)
Diskussion.
Kreuser : Die Scheidung in endogene und exogene Krankheitszustande
hat sich nicht so scharf durchfiihren lassen. Man ist doch immer wieder
darauf angewiesen, die Krankheiten nach Symptomen, Zustandsbildem etc.
zu gruppieren.
Thomsen: Die scharfe Scheidung zwischen Dementia praecox und
manisch-depressiven Syndromen beziiglich der Belastung beziehe sich
wohl nur auf die Aszendenz. Wenigstens hat Thomsen beide Erkrankungen
schon bei Geschwistem beobachtet.
Oaupp: Bei den Katamnesen wurden von den Anhangem Kraepelins
die Diagnosen nur dann umgestossen, wenn sich tatsachlich ein anderes
Krankheitsbild entwickelt. Die Klassifizierung fordert die Erkenntnis,
wenn naturgemass die derzeitige Einteilung auch noch sehr der Kritik bedarf.
Das Gehim ist ein viel starker differenziertes Organ als z. B. die Lunge, die
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88 40. Versammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte
Nieren u. 8. w., so dass Funktionsstorungen bei ersterem naturgemass viel
schwieriger zu beurteilen seien.
Pferadorff: Die Abgrenzung des manisch-depressiven Irreseins kann
nicht so scharf durchgefiihrt werden.
Hoche (Schlusswort) konstatiert den Fortschritt in den allgemeinen
Anschauungen, der in dieser Diskussion gegeniiber der Diskussion naoh
seinem Vortrag in Munchen 1905 zu bemerken sei. Damals habe man ihn
wegen gleicher Anschauungen heftig angegriffen.
Das Paratliegen der Symptome bei den einzelnen Individuen beziehe
sich auf spezifische Reaktionen der einzelnen Personlichkeiten, nicht auf
einzelne Vorstell ungen.
Oaupp: Nachkommen von manischen Depressiven erkranken nicht
an Dementia praecox, diejenigen von Kranken mit Dementia praecox nicht
an manisch-depressivem Irresein.
Lilienstcin -Bad Nauheim und Kairo: Psychiatrisches von einer Welt-
reise (unter Demonstration von Photographien). Die Reise wurde in Genua
angetreten und fiihrte nach Aegypten durch den Suezkanal, fiber Ceylon
nach Australien, Penang, Singapore, Hongkong und Kanton, Shanghai,
Japan, Honolulu, Baltimore und New-York.
Aegypten wird als Winterstation auch fur gewisse Formen nervoser
und rheumatischer Erkrankungen (Ischias, Neuritis, Depressionszustande)
gekennzeichnet, wahrend es bisher seiner Lufttrockenheit wegen vorzugs-
weise fur Nieren- und Lungenkranke als angezeigt gait.
Das eigentliche Volksleben des Orients zeigte sich speziell auch in der
Frequenz der einzelnen Geisteskrankheiten. Alkoholismus z. B. bestand nur
bei 1 J 2 pCt. der mohammedanischen Geisteskranken. (In europaischen
StSdten durchschnittlich 20—30 pCt.) Dagegen bildete Haschisch imd
Opium in ca. 9 pCt. und in Aegypten die Pellagra (in 12 pCt.) bei der armen
Bevolkerung eine haufige Krankheitsursaehe.
Die Opiumvergiftung gleicht in alien ihren Stadien, vom einfachen
Rausch bis zum chronischen Missbrauch und der Kachexie, vollkommen
dem Alkoholismus. Das gilt auch von den psychischen, intellektuellen und
ethischen, Veranderungen.
Fiir den Psychologen und Psychiater von speziellem Interesse sind die
Formen der religiosen Suggestivbehandlung, die Vortragender auf seiner
Weltreise bei den Mohammedanem, bei Buddhisten in chinesischen und
japanischen Tempeln und endlich bei christlichen Gesundbetem be-
obachtet hat.
In Konstantinopel wird von den „tanzenden Derwischen“ die Heilung
von Kinderkrankheiten durch „Fussauflegen“ betrieben. In chinesischen
Tempeln zieht der Kranke aus einem geweihten Wiirfelbecher nicht nur
seine Diagnose, sondem zugleich das fiir ihn passende Medikament. In
japanischen Tempeln reiben die Kranken an einem Gotzen die Stelle, an
der sie zu leiden glauben. Mit den Gesundbetem (Christian science) haben
sich in neuester Zeit merkwdirdigerweise selbst amerikanische Aerzte liiert.
In den australischen Anstalten fand Vortragender trotz des kolonialen
Charakters der meisten Stadte recht moderne Einrichtimgen. Die Irren-
anstalten sind im Pavillonsystem erbaut. Die Kranken werden zweckmassig,
unter guter arztlicher Aufsicht gepflegt und beschaftigt.
In China ist die Krankenpflege in keiner Weise entwickelt. Sie liegt
in den Handen von Priestern und Kurpfuschern. Die Geisteskranken werden
in der Farnilic behalten, bei Erregungszustanden in inhumaner Weise ein-
fach festgebunden. Die wenigen von Englandern, Franzosen und Ameri-
kanern, neuestens auch von Deutschen eingerichteten Hospitaler, von
Missionsgesellschuften gegriindet, wirken zum mindesten vorlaufig ausser-
ordentlich segensreich.
Einen hohen Stand der Kultur und damit auch der Kranken- und
Irrenpflege hat Japan in den letzten 50 Jahren erreicht.
Fiir die interessantesten Nervenkliniken der Welt halt Vortragender
das Hopital Bicetre in Paris und das Hospital for Paralysed and Epileptics in
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in Hoilbronn und YVeinsberg.
89
London. In der Organisation der offentlichen Irrenfiirsorge sei Deutschland
am weitesten gediehen.
Thomsen- Bonn: Zur praktischen Bedeutung der Serodiagnostlk. Der
praktische diagnostische Wert der neuen Methoden der Lumbalpunktion
und der Serodiagnostik, besonders aber der Kombination beider Methoden
fiir die praktische Psychiatric ist erheblich. Vortragender erbrtert allgemein
und an der Hand eigener Beobachtungen. dass das Vorhandensein resp.
Fehlen der 4 Reaktionen (Pleozytose, Ei weiss vermehrung, Wassermann-
Reaktion im Blut und im Liquor cerebrospinal is) sowohl ini ganzen wie im
einzelnen, resp. ihre gegenseitige Gruppierung selir wiehtige differential-
diagnostische Schliisse mit Bezug auf die gegenseitige Abgrenzung von Para¬
lyse, Himlues, nicht luetische organisehe Erkrankungen und funktionelle
Neurosen und Psychosen ermogliche. Obwohl noeh viel gearbeitet werden
muss und gelegentlich das Ergebnis die Diagnose zu erschweren und ver-
wirren vermag, halt Vortragender das bisherige Resultat doch schon fiir ge-
niigend sicher und wiehtig, um auf Grand desselben zu wiinsehen, dass sich
jeder Irrenarzt mit der Ausfiihrung der Lumbalpunktion und der Unter-
suchung des Punktates vertraut mache und sich fur die serologischen Unter-
suchungen der Mitwirkung eines Fachmannes versichere. Selbst verst andlich
ist niemals ausserdem die klinische Beobachtung und die neurologische
korperliche Untersuchung zu vemachlassigen.
Diskussion.
Kreuser wirft die Frage auf, ob man an einem Untersuchungs-
gefangenen auch ohne dessen Einwilligung die Lumbalpunktion machen
diirfe. Zweifellos sei die W assermannscYie Reaktion fiir die Therapie von
Bedeutung, andererseits sei die Behandlung der Paralyse mit Hg auch bei
positivem Ausfall der Reaktion nicht angezeigt.
Hoche : Unter keinen Umstanden diirfe die Punktion bei einem Kranken
gegen dessen Willen vorgenomraen werden. Auch gestatte erst die wieder-
holte Untersuchung ein Urteil.
Afann-Mannheim berichtet iiber einen Fall von Diplegia spastica,
in dem die Lumbalpunktion zur Sicherung der Diagnose beigetragen hat.
Es handelte sich um einen 7 jahrigen Knaben, der vom Lehrer geziichtigt
worden war. Man hatte die Erkrankung auf diese Ziichtigung zuriickgefiihrt.
Thomsen (Schlusswort): Obwohl es sich bei der Lumbalpunktion
um keinen grossen Eingriff handele, diirfe man sie doch nie ohne das Ein-
verstandnis des Patienten vomehmen. Auch sollte die Reaktion immer
nur in Verbindung mit anderen Untersuchungsmethoden zur Diagnose
Verwendung finden.
Stilling- Strassburg: Zur Kenntnis der Einwirkung des Kobragiftes
auf die roten Blutkdrperchen von Geisteskranken. Der Vortragende bespricht
kurz die Grundlagen der von Much und Holzmann angegebenen Kobragift-
Reaktion im Blut von Geisteskranken. Sodann berichtet er iiber eigene
Nachprlifungen der Reaktion, die er nach der von Hirschl und Potzl (Wien,
klin. Wochenschr. 27. 1909) angegebenen Modifikation angestellt hat.
Untersucht w urden 50 Patienten aus der Bezirks-Irrenanstalt Stephansfeld,
samtlich Falle von Dementia praecox, wovon nur 22 positive Reaktion er-
gaben. Vortragender kommt zu dem Schluss, dass die Reaktion, wenigstens
fiir die Diagnose der Dementia praecox, klinisch nicht verwertbar sei.
(Autoreferat.)
Pfer8dorff- Strassburg : Zur Pathologie der Sprache. In seinem Referat
iiber die funktionellen Storungen der Sprache (Miinchen 1906) spricht Heil-
bronner die Vermutung aus, dass es gelingen diirfte, die sprachlichen
Assoziationen in motorische und sensorische einzuteilen. Zu den bis jetzt be-
schriebenen und in dieser Frage zu verwertenden Fallen (cf. Gaitpps Centralbl.
1908, 2. Marzheft 1906, N. 222 und No. 226) erwahnt Vortragender 8 Falle
von manisch-depressivem Irresein, bei denen anfallsweise, ohne Beschleuni-
gung der Wortfolge, ein eigenartiger Rededrang auftrat. Die hierbei produ-
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40. Yersammlung der siidwestdeutschen Irrenarzte
zierten sprachlichen Aeusserungen zeigen folgende Merkmale: Korrekter
Satzbau und sinnlos© Wahl der Worte. Von den Worten sind die Sub-
stantiva durch Wortstammassoziation verkniipft. Klangassoziationen
fehlen. Dies© sprachlichen Aeusserungen bieten Aehnlichkeiten mit den von
Kraepelin (Lehrbuch I, 1909, § 423) beschriebenen Produkten. Kraepelin
fiihrt die Storung auf ein ,,Versagen der regulierenden Tatigkeit der Wort-
klangbilder“ zuriick, wie dies z. B. auch ira Traume stattfindet. Dies©
Erklarung lasst sich auch auf die vom Vortragenden geschilderten Fall© an-
wenden, sie findet aber ausserdem eine Bastatigung in derTatsache, dass nnr
Wortstammassoziationen vorkommen, die Klangbilder demnach versagen.
Aus dem Umstand, dass nur die Substantiva assoziative Verkniipfung
zeigen, ist femer zu schliessen, dass die Substantiva einem anderen
Mechanismus unterliegen, wie die ubrigen Satzbestandteile. Dass dem so ist,
beweist Vortragender an der Hand einer Anzahl von Fallen von Dementia
praecox. Es handelt sich um wiederholte Anfalle der Psychose. Die einzelnen
Formen zeigen neben anderen Verschiedenheiten spezifische Storungen der
Sprache, insbesondere die Bildung von Substantivreihen oder von Satzen
ohne Substantiv oder mit sinnloser Wortwahl. Zum Schluss erwahnt Vor¬
tragender 2 seit 15 Jaliren beobachtete Falle von Katatonie, welche eine
der oben beschriebenen sehr nahestehende Sprachstorung anfallsweise
darboten (scil. ohne Wahnideen), sich aber durch andere Merkmale als
sicher katatonisch erwiesen. (Der Vortrag wird im Qauppschen Centralblatt
in extenso erscheinen.)
II. Sitzung , Weinsberg , 7. November 1909 .
Mit Riicksicht auf den intemationalen psychiatrischen Kongress in
Berlin vom 2. —7. X. 1910 wird beschlossen, die Jahresversammlung der
siidwestdeutschen Irrenarzte im nachsten Jahr ausfallen zu lassen. 1911
findet die Versammlung wieder in Karlsruhe statt. Neumann und Fischer
werden wieder zu Geschaftsflihrem gewahlt.
Als Referattliema wird „Der Begriff des Degenerativen“ auf die Tages-
ordnung gesetzt und Bumke und Schott zu Referenten emannt.
Qaupp : Ueber paranoische Veranlagung. Qaupp geht von den Wand-
lungen aus, die der Paranoiabegriff in den letzten Jahren durchgemacht
hat ( Kraepelin , Neisser y Friedmann , Wernicke , Ziehen) und sieht mit
Kraepelin in dem Querulantenw'ahn den Typus der Verriicktheit; nur dass
der Beziehungswahn nicht generalisiert, sondem spezialisiert sei. Bei den
Paranoischen lassen sich drei Gruppen, die rechthaberischen, empfindsamen
und angstlichen (hypochondrischen) unterscheiden. Vortragender geht
dann naher auf drei Fall© seiner Beobachtung ein, die nach der Struktur
der Personlichkeit und nach der Erkrankungsart Eigentiimlichkeiten auf-
wiesen. In ahnlicher Weise wie Janet bringt Qaupp die Paranoia mit den
Zwangsvorstellungen in Beziehung: Die Kranken mit Zw T angsvorstellungen
verlegen ihre Krankheit nach innen, die Paranoischen nach aussen. Indessen
will Qaupp die Grenze zwischen Paranoia und den Zwangsvorstellungen
keineswegs verwischen.
Die Kranken, die Qaupp beobachtete, waren Manner in mittlerem
Alter (25—40 Jahren), bei denen nach vorheriger volliger Gesundheit im
Anschluss an irgend ein Ereignis allmahlich B eeintrach tigungsideen auf-
traten.
Die Verfolgungen wurden auf eigenes Verschulden zunickgefuhrt.
In einem Fall wurde ein Madchen, mit dem der Patient nach Hause gehen
wollte, sistiert. Seit diesem fiir den Patienten aufregenden Erlebnis fiihlt
er sich iiberall von der Polizei beobachtet, jeder Polizist weiss von der An-
gelegenheit etc. Die Verfolgungen erstrecken sich auf eine ganz bestimmte
Kategorie von Menschen.
Die Art der Erkrankung hangt von der Personlichkeit ab, die von
ihr betroffen wird, z. B. neigt die Paranoia, die den Skrupulosen stets
an sich selbst Kritik iibenden, befallt, viel weniger zur Progression, als wenn
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in Heilbronn und Weinsberg.
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ein rechthaberischer, misstrauischer Mensch (Querulant) an ihr erkrankt.
So kann die Paranoia zwar nicht als exogen, doch auch nicht als in der
Personlichkeit angeboren angesehen werden, zumal aie ihren Ausgang viel-
fach von ausseren Erlebnissen nimmt.
jLo^Mcr-Frankfurt weist auf die heilbaren Formen hin, die er zu den
Zwangsneurosen rechnet.
Thomsen : Auch die akute Paranoia lasst erkennen, dass die Verriickt-
heit auch bei mangelnder Disposition entstehen kann.
Kemmler hat gleichfalls Heilungen und Besserungen der Paranoia
beobachtet, besonders bei solchen Fallen, die im Anschluss an affektvolle
Erlebnisse erkrankten. Haufig konne man versteckte Wahnideen entdecken.
Bei vielen Querulanten handele es sich um manisch-depressives Irresein.
Daiber-W einsberg berichtet iiber 9 Fall© von epileptischen Psychosen
aus der Heilanstalt Weinsberg, die in der Hauptsache als Aequivalente ab-
liefen, unter katatonischen, stuporos-depressiven, zirkularen, paranoiden
und halluzinatorischen Zustandsbildern. Nur ein Fall, paranoide Perioden
auf Grund von nachtlichen epileptischen Halluzinationen, konnte ausfiihr-
licher berichtet werden. Epileptische Krampfanfalle sind in 4, in den anderen
Fallen nur epileptoide Erscheinungen bekannt. In 3 Fallen wird Trauma
atiologisch genannt. Die Diagnose Epilepsie wurde gestellt auf Grund des
epileptischen Charakters der Symptomkomplexe, meist erst nach jahre-
langer Anstaltsbehandlung und wiederholten Rezidiven (ausser einem ersten
Anfall). Bewusstseinsveranderung war von nur einseitiger Bewusstseins-
beschrankung bis zu den schw ersten Bewusstseinsstorungen immer zu konsta-
tieren. Beginn, Aufhellung, Wechsel der Zustande ging meist rasch von
statten. Die spezifische Reizbarkeit war nebenher in alien Zustanden vor-
handen, hysterieahnliches Benehmen und andere bemerkenswerte Er¬
scheinungen in Erregungszustanden sind einigemale besonders hervorzu-
heben. Neben Ideenfluclit ist doch meistens die Ideenarmut bei dem Sprach-
drang auffallend, dieReit^rationen, einRhythmus desTonfalles, das Haften-
bleiben, das in den schriftlichen Erzeugnissen oft noch deutlicher zutage tritt.
Femer ist bei alien Fallen die lange Dauer der Perioden, von mehreren
Monaten bis liber ein Jahr, sehr erwahnensw'ert. Fiinf Kranke sind seit
Jahren in der Anstalt, zwei weitere waren schon wiederholt aufgenommen.
Fine Aehnlichkeit der Zustande bestand immer, wiederholt sind sie ganz
genau gleich den friiheren. Fast bei alien ist eine eigenartige leichte Demenz
vorhanden; eine Stumpfheit und allgemeine Indolenz bei stark ego-
zentrischer Gefiihlsrichtung, ein habituell argwohnisches oder lauemdes
Wesen, dagegen ist die intellektuelle Schadigung weniger auffallend. Es
ist aber bei diesen chronisch sich hinziehenden Fallen, die friiher nach Ent-
weichungen oder zu frlihen Beurlaubungen — und unter Alkoholeinfluss —
wiederholt ihre Rlickfalle erlitten hatten, durch konsequent lang aus-
gedehnte Anstaltsbehandlung eine ganz weeentliche Besserung erreicht
worden. Eine lange Anstaltsbehandlung ist das wichtigste in der Therapie
der psychisch-epileptischen Erkrankungen.
Diskussion .
Lilienstein-lS auheim vermisst in der freilich etwas gedrangten Dar-
stellung der Falle den Nachweis zweier als spezifisch epileptisch angesehenen
psychischen Symptoms: der retrogrciden Amnesie und die Impulsivitat der
Handlungen. Lilienstein fragt, ob Brom bezw. Bromopium angewandt
worden sei und einen Einfluss auf die Zustftnde gehabt habe. Auch die
Diagnose et juvantibus konne bei solchen chronischen Fallen in Frage
kommen.
Datber: Die erwahnten Symptoms w urden in der Tat bei einzelnen
Fallen beobachtet. Brom sei nicht zur Anwendung gekommen.
Schott-Vf einsberg; Katamnestische Erhebungen iiber begutachtete
Untersuchungsgefangene. Aus der Zusammenstellung des Vortragenden
ergeben sich folgende Leitsatze:
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Buchanzeigen.
1. In der iiberwiegenden Mehrzahl der Falle handelt es sich um vor-
bestrafte, vielfach erblich belastet© und von Hause aus entartete Individuen.
2. Heine Psychosen sind bei dem vom Vortragenden beobachteten
Material sehr selten.
3. Die in der Haft zutage getretenen Storungen entspringen der
minderwertigen Veranlagung dieser Individuen und haben meist mit der
Frage der Zurechnungsfahigkeit zur Zeit der Tat nichts zu tun.
4. Diese Storungen haben sich in der Mehrzahl der Falle nach der
Aufnahme in die Irrenanstalt rasch wieder ausgeglichen.
5. Ein gewisser Schwachsinn, epileptische und hysterische Ziige treten
bei den 32 Begutachteten haufig in Erscheinung, sie sind wohl als Erschei-
nungen der allgemeinen Entartung aufzufassen.
6. Psychopathische Individuen eignen sich zum grossten Teil fiir den
Strafvollzug und sind recht wohl einer Disziplinierung zuganglich, wobei
irrenarztliche Ueberwachung notig ist.
7. Es ist bei der psychiatrischen Beurteilung und Begutachtung
vorbestrafter, entarteter Individuen die Anwendung des § 51 d. Str.-G. mit
grosser Vorsicht und Zuruckhaltung auszuiiben; insbesondere gilt dies fiir
die erste derartige Begutachtung.
8. Den Psychiatem ist dringend anzuraten, die Psychologie des Ver-
brechers genau zu studieren und sich im Verkehr mit Strafanstaltsarzten liber
diese Individuen moglichst zu unterrichten.
9. Fiir Strafanstaltsarzte ist eine gute psychiatrische Ausbildung
unerlasslich.
10. Durch die Erfullung von 8 und 9 wird sich ein grosser Teil der be-
stehenden Erschwemisse und Unzutraglichkeiten beseitigen bezw. mildem
lassen.
11. Die Irrenanstalt muss sich nach Moglichkeit hiiten, zur Detentions-
statte psychopathischer Individuen zu werden. sie schadet dadurch ihrem
Charakter als Krankenhaus und verletzt durch friihzeitige Entlassung dieser
Individuen das RechtsempfindendesVolkes und gefahrdet die Rechtssicher-
heit des Staates.
12. Die katamnest ischen Erhebungen beibegutachtetenUntersuchungs-
gefangenen sollten allgemein durchgefUhrt werden, um auf breiter Grund-
lage fussend I^eitsatze aufstellen zu konnen.
13. Die Frage der Strafvollzugfahigkeit verdient eine eingehende
Bearbeitung, welche nur durch Zusammenwirken von Irren- und Straf¬
anstaltsarzten erspriesslich gestaltet werden kann.
14. Die Einweisung in eine Irrenanstalt oder Klinik nach § 81 Str.-P.-O.
wird auch bei guter psychiatrischer Ausbildung der Gerichtsarzte bei den
hier in Frage stehenden Individuen in Zukunft sich nicht umgehen lassen,
da zur Beobachtung der ganze Apparat derartiger Spezialinstitute er-
forderlich ist.
In der Diskussion (Kolb, Oaupp , Steiger , Stengel , Kreuser) wird den
Thesen im allgemeinen zugestimmt. Vergl. hierzu den Bericht liber die
neurolog.-psych. Sektion der Vers, deutscher Naturf. und Aerzte in Koln
1908. (Ref.).
Buehanzeigen.
Anton Bosch, Die Selbstrndrder. Mit besonderer Berucksichtigung der
militarischen Selbstmorder und ihrer Obduktionsbefimde. Lieipzig und
Wien 1909. Franz Deuticke.
Dem statistischen imd psychiatrischen Material liber den Selbstraord
hat Bosch eine Arbeit in der dritten, noch am wenigsten bear bei te ten Rich-
tung, der anatomischen, beigefiigt. Er berichtet iiber die pathologisch-
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Buchanzeigen.
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anatomischen Befunde bei 327 militarischen Selbstmordern, deren Studium
ihm als Prosektor des Militarleichenhofes in Wien zur Verfiigung stand.
Er kommt zu dem Schluss, dass sie infolge ihrer physischen und psyehisehen
Verhaltnisse eine besondere Klasse fiir sich bilden. Neben den genauer
charakterisierten Befunden am Zirkulations-, Respirations-, VerdauungB-
und Urogenital- etc. System werden die Befunde am Zentralnervensystem
selbstverstandlich einer besonderen Wiirdigung unterzogen.
Mit den Sektionsbefunden halt Bosch seine Beobachtungen aber
durchaus nicht fiir erschopft, wenn diese aueh selbstverstandlich den
breitesten Raum einnohmen, sondem er zieht sowohl statistische als psy-
ehiatrische und forensische, wirtschaftliche wie kirchliche Gesichtspunkte
heran.
Unter den korperlichen Erkrankungen, welche zum Suicid fiihren
konnen. hat er eine besondere Gruppe zusammengestellt und fiir diese
das neue Wort der lustraubenden Erkrankungen gepragt, die auf den
Gemiitszustand der genussfrohen jugendlichen Individuen ganz besonders
stark einwirken sollon. Die Einteilung in lukullische, aphrodisische und
bacchantische Geniisse deutet bereits auf die Art der Erkrankung hin.
Als Haupttypen der militarischen Selbstmorder untersclieidet er
1. die Dissimulanten. 2. die Pseudoaggravanten, 3. die Aegrotanten, 4. die
nur physiologische Veranderungen oder Zustande Aufweisenden, wie die
Pubeszenten. die Spatpubeszenten, die prasenilen und senilen Marantiker
und die im Status digestionis Befindlichen und 5. die anscheinend ganz
Gesunden.
Beziiglich der Gutachten iiber den Geisteszustand eines Selbstmorders
will Bosch als ausreiehend nur ein solches gelten lassen, welche« auf den
ganzen Komplex der Erscheinungen aufgebaut ist, die sich bei der Unter-
suchung des Falles vom psychologischen, psychiatrischen, phvsiologischen,
klinischen und anatomise hen Standpimkt aus ergeben.
Stelzner- Berlin.
C. Bruck, Die Serodiaqnose der Syphilis . Berlin 1909. 166 S. Jul. Springer.
Der Verf., Dermatolog und Syphilidolog, gibt eine vortreffliche
Uebersicht iiber die Technik und iiber die diagnostische Bedeutung der
Kompiementbindungsreaktion bei Syphilis. Besonders interessant ist die
Besprechung der Modifikationen der Technik. An der dermatologischen
Klinik in Breslau gestaltet sich das Verfahren jetzt folgendermassen:
1. Vorversuch: Fallende Mengen des hamolytischen Kaninchen-
ambozeptors werden an 0,05 ccm des an diesem Tag zur Verwendung
kommenden frisch entnommenen Meerschweinchenserums austitriert.
2. Inaktiver Versuch: 0,05 Meerschweinchenserum -f- 0,2 inakt.
Patientenserum -f- Extrakt. Nach 1 Stunde Zufiigen von &—4 Hammel-
blutambozeptoreinheiten und 1 ccm 5 proz. Hammelblut. (Gesamtvolumen
5 ccm.)
Kontrollen: a) 0,05 Meerschweinchenserum + Hammelblutambozeptor
-j— Blut;
b) 0,05 Meerschweinchenserum + 0,4 Patientenserum
-f- Hammelblutambozeptor-)- Blut;
e) 0,05 Meerschweinchenserum + 0,2 Patientenserum
-j- Hammelblutambozeptor + Blut;
d) 0,05 Meerschweichenserum -f- Extrakt -f- Hammelblut¬
ambozeptor -f Blut.
Ausserdem Kontrollversuch mit sicher luetischem und sicher nicht-
luetischem Serum.
3. Aktiver Versuch:
0.2 aktives Patientenserum + 2 U der beim inaktiven Versuch ge-
wahlten Extraktdosis;
0,2 aktives Patientenserum -f- 1 A derselben Dosis.
Nach 1 Stunde Zusatz von 9—12 Hammelblutambozeptoreinheiten
und 1 ccm 2,5 proz. Hammelblut (Gesamtvolumen 4 ccm). Kontrolle:
0,2 aktives Patientenserum -f- Hammelblutambozeptor -f- Blut.
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94
Personalien.
Ausserdem wieder Kontrollversuch mit einem sicher luetischen und
einem sicher nichtluetischen Serum.
Das Extrakt ist alkoholisches aus hereditar-luetischen Lebem und
wird vorher an mindesfcens 40 Lues- und Nichtluesseren gepriift und die
brauchbare Dosis festgestellt.
Der Verwertbarkeit der Syphilisreaktion fur Leichenseram bringt
Verf. grosstes Misstrauen entgegen.
Von Krankheiten, die klinisch mit Syphilis verwechselt werden konnen ,
zeigen nur Framboesie und Lepra ebenfalls positive Resultate. Allerdings
diirfen schwache Hemmungen nicht als positive Reaktion gedeutet werden.
und wahrend schwerer fieberhafter Allgemeinerkrankungen oder kurz vor
dem Exitus sind die Ergebnisse nicht als „vollig beweiaend 44 anzusehen.
Bei der kurzen Besprechung der Verwendbarkeit der Reaktion bei
anderen medizinischen Disziplinen kommt die Psvchiatrie und Neuro-
pathologie sehr zu kurz.
Der Anfang behandelt die Porges-M etersche Ausflockungsmethode,
die Femet-Schereschewskysche Prazipitationsmethode und die Klausnersche
Fallungsmethode. Brack bezweifelt durchaus, dass diese Methoden die
Komplementbindungsmethode ersetzen konnen. Z.
Havelock Ellis, Das Geschlechtsgefuhl . Deutsche Ausg. von H. Kurella.
2. Aufl. 390 S. Wurzburg 1909. C. Kabitzsch.
Die vorliegende zweite Auflage ist von Kurella roifc Ermachtigung dee
Autors um eigene Zusatze hier und da bereichert worden. Obwohi das
Werk nicht als strong wissenschaftlich bezeichnet werden kann, bringt es
doch zahlreiche Anregungen und vor allem zahlreiche interessante Tatsachen,
die mit grossem Fleiss zusammengestellt, wenn auch nicht immer strong
kritisch gesichtet sind. Die neuerdings fast zur Mode gewordene einseitige
Theorie vom „Tumeszenz“- und , f Detumeszenz“trieb spielt leider bei der
Analyse einc zu grosse Rolle. Z.
Pierre-Kahn, La cyclothymic. Paris 1909. 252 S. G. Steinheil.
Diese Monographie, welche die leichteren Falle des zirkularen Irre-
seins behandelt, verdient auch in Deutschland alle Beachtung. Durch
ihre strenge Wissenschaftlichkeit und Vermeidung aller Uebertreibungen
sticht sie sehr angenehm von vielen neueren Publikationen iiber das ,,manisch-
depressive 46 Irresein ab. Die „Constitution cyclothymique 44 , welche nach
Verf. der Cyklothymie zugrunde liegt, deckt sich fast ganz mit der vom
Ref. beschriebenen cyklothymischen psychopathischen Konstitution. Sehr
bemerkenswert sind besonders auch die Ausfiihrungen iiber depressive
und hyperthymische Zustande, die im Verlauf mancher Stoffwechsel-
krankheiten, z. B. Diabetes, Gicht etc., vorkommen. In der Tat konnen
in dieser Beziehung eraste differentialdiagnostische Schwierigkeiten vor¬
kommen. Die Prognose dieser Zustande ist viel giinstiger. Z.
Personalien.
Der Priv.-Doz. Dr. Otfrid Foerster in Breslau hat den Titel Professor
erhalten.
Den Privatdozenten Dr. Alzheimer und Dr. KaUtvinkel in Miinchen
wurden fiir die Dauer ihrer Wirksamkeit als Privatdozent im bayrischen
Hochschuldienst der Titel und Rang eines a. o. Professors verliehen.
Dr. G. Roatenda in Turin hat sich als Priv.-Doz. fiir Neurologie
habilitiert.
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Einige Bemerkungen und Erganzungen zu L. Edlngers Schrift:
Der Anteil der Funktion an der Entstehung
von Nervenkrankheiten.
Von
Professor M. BERNHARDT
In Berlin.
Ausgangs des Jahres 1890 habe ich (Neurol. Centralbl. 1890.
S. 710) in der Berliner Gesellschaft fiir Psychiatrie und Nerven¬
krankheiten eine damals 28 jahrige Frau vorgestellt, welche die aus-
gesprochensten Zeichen einer Tabes darbot. Das atiologische
Moment, glaubte ich, erregte das Hauptinteresse dieses Falles.
DieKranke hatte namlich, sonst von alien Symptomen einerNerven-
affektion, speziell von Zeichen derHysterie, frei, Jahre lang, jeden-
falls innerhalb der letzten 5 Jahre und auch nach ihrer Verheiratung
bis zum Marz 1890 hin anhultend mit der Ndhmaschine gearbeitet
und das Doppelpedal derselben von des Morgens friih bis 12 Uhr
nachts, im Sommer sogar von 3 Uhr friih ab, getreten. Die Pat.
war, soweit Anamnese und eine eingehende Untersuchung nach-
weisen konnten, nicht syphilitisch, wurde auch kaum 8 Monate
spater von einem gesunden Knaben entbunden. Ich erwahnte in
meinem damaligen Vortrag auch der Falle von Guelliot, der 1882
2 Beobachtungen mitteilte, aus denen hervorging, dass 2 Frauen
im Alter von 28 und 34 Jahren durch anhaltendes Maschinennahen
schwer an tabischen Symptomen erkrankt waren. Von diesen
hatte z. B. die eine wahrend 4 Jahren von 6 Uhr morgens bis
Mitternacht das Pedal der Maschine getreten und sich kaum fiir
die Mahlzeiten eine Stunde Ruhe gegonnt.
In der meiner Krankenvorstellung sich anschliessenden
Diskussion (Sitzung vom 10. XI. 1890; Arch. f. Psych, etc. Bd. 23,
S. 304) teilte zunachst Moeli eine hierhergehorige ahnliche Be-
obachtung bei einer Maschinennaherin mit. Auch Rnnak glaubt
an den Einfluss von Ueberanstrengung in bezug auf die Aetiologie.
Demgegenuber wollte Oppenheim die Ueberanstrengung als Aetio¬
logie der Tabes nicht anerkennen, da er in einem Falle von Tabes
bei einer Naherin spater das anfangs geleugnete Moment friiherer
svphilitischer Infektion bestimmt nacliweisen konnte. Ich werde
weiterhin auf diesen Einwurf Oppenhehm noch einzugehen haben.
In bezug auf die Bedeutung eines Traumas fiir die Entstehung der
Monafcschrift fiir Psychiatrie und Neurolofrie. Bd. XXVII. Heft 2. 7
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96
Bernhardt, Der Anted der Funktion
Tabes, auf welches ich bei der Besprechung des vorgestellten
Falles im Hinblick auf eine Mitteilung von J. Hoffmann hingewiesen
hatte (Arch. f. Psych, etc., Bd. 19, S. 438) bin ich, wie spatere Mit-
teilungen von mir klarstellen, der Meinung geworden, dass ein
Trauma wobl das Auftreten tabischer Erscheinungen begiinstigen
resp. sie erst deutlicher hervortreten lassen konne, dass es aber
a Is solches keineswegs zu den direkten Ursachen einer Tabes ge-
rechnet werden diirfe (man vergl. meine Mitteilungen. Monatsschr.
f. Unfallheilk. etc. 1895. No. 7).
Die Kranken ChieUiots waren nervos pradisponierte Individuen;
in der Schilderung ihres Leidens fehlen wichtige Symptome, des-
gleichen sichere Angaben fiber etwaige sypkilitische Infektion.
In einer Arbeit ,,Ueber Tubes beim u'eiblichen Geschlecht“ hat Kron
noch einige andere Autoren angeffibrt (vergl. dort. Deutsche
Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. XII. 1898. S. 303), welche gerade
bei Maschinenarbeiterinnen tabische Erkrankung festgestellt
hatten. Er selbst konnte ein grosses Material verwerten, um fiber
die vorliegende Frage weitere Aufklarung zu bringen. Wohl fand
auch er eine Reihe von Tabesfalien bei Maschmennaherinnen,
welche sicher oder wahrscheinlich Syphilis gehabt hatten, resp.
nach dieser Richtung verdachtig waren. Indessen kommterzudem
Schluss, dass die Tabes unter den Schneiderinnen sehr viel haufiger
sein mtisste, wenn der Nahmaschine eine direkte Einwirkung auf
die Entstehung dieses Leidens zugeschrieben werden konnte.
Er zieht daher aus seinen Untersuchungen den verallgemeinernden
Schluss, dass der Nahmaschinenarbeit an sich fiberhaupt der Platz
unter den Tabesursachen streitig zu machen sei. ,,Um so enger,“
meint er, ,,ziehen sich die Kreise um dasjenige Moment zusammen,
das den meisten Fallen seinen Stempel aufdrtickt, die Syphilis 14 .
Nun war, wenigstens in meiner oben erwahnten Beobachtung,
von Syphilis bei der Kranken nichts nachzuweisen. Bei der Be¬
sprechung des Falles meiner tabeskranken Maschinennaherin
sagte ich (1890): ,,Auffallig ist es immerhin, dass trotz der grossen
Verbreitung der Nahmaschinen und der grossen Anzahl von
Individuen, die sich durch anhaltende Beschaftigung mit derselben
ihren Lebensunterhalt verdienen, so relativ wenig in der eben ge-
schilderten Weise erkranken; wenigstens sind mir selbst andere
Falle, die in ahnlicher Art, wie der hier vorgestellte, unzweideutig
sind, nicht vorgekommen. Wir haben soeben die Ansicht Krons
erwahnt, die er aus einer Untersuchung zahlreicher, nicht tabes-
kranker Maschmennaherinnen gewonnen hat, dass die Tabes
unter Schneiderinnen sehr viel haufiger sein mfisse, wenn der
Nahmaschine eine direkte Einwirkung auf die Entstehung dieses
Leidens zugeschrieben werden konnte, eine Ansicht also, die mich
ebenfalls zu den schon im Jahre 1890 von mir geausserten Bedenken
geffihrt hatte.
Auch ich habe, wie Kron , eine grosse Anzahl tabischer Frauen
beobachtet und behandelt, die zwar syphilitisch infiziert waren,
niemals aber die Nahmaschine in irgend anstrengender Weise ge-
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an der Entatehunf? von Nervenkrankheiten.
97
braucht hatten. Immerhin hat doch Kron eine Reihe von Fallen
zusammengestellt, wo tabische Frauen mit sicherer syphilitischer
Infektion oder wahrscheinlicher und verdachtiger luetischer An-
steckung Jahre lang die Pedale der Nahmaschine getreten hatten.
Etwas anders diirfte die Auffassung dieser Verhaltnisse sich ge-
stalten, wenn wir ihnen heute mit den Ansiehten Edingers ,,Ueber
den Anteil der Funlction an der Entstehung von Nervenkrankheiten “
naher treten. Wenn nach ihm kein geniigender Ersatz fur die nor-
malen Funkbionen stattfindet, wie dies meist durch bestimmte
Gifte, Blei oder das syphilitische Gift, herbeigefiihrt wird, so konnen
verschiedene Erkrankungen des Nervensystems entstehen, Poly-
neuritiden etc. und besonders auch Tabes und Taboparalyse, wie
es Edinger durch eine grosse Reihe von Beispielen wahrscheinlich
gemacht hat. Freilich gibt er zu, dass seine Theorie, speziell bei
der Tabes, auf einer Hypothese aufgebaut ist und dass tatsachliche
Nachweise noch weiter erbracht werden miissen. Aber auch er
weist auf die schon friiher und neuerdings von Hirt und Leyden
mitgeteilten Falle von Tabes bei Naherinnen hin. Ueberblickt man
die Frage der Tabes bei Maschinennaherinnen von dem Edingerschen
Standpunkt, so kommb man auch in Beriicksichtigung der von
Kron festgestellten Tatsachen zu der Schlussfolgerung, dass bei
pradisponierten Menschen, und zwar bei durch Lues weniger
widerstandsfahig gewordenen Frauen, anstrengende Arbeit mit der
Nahmaschine eher zum Auftreten tabischer Erkrankung fiihrt, als
wenn eine syphilitische Infektion nicht vorausgegangen ist.
Werden, wie Edinger es ausdriickt, abnorm hohe Anforde-
rungen an die normalen Bahnen und den normalen Ersatz gestellt,
so kommt es leicht, wie das ja aus zahlreichen Literaturangaben
hervorgeht, zu den sogenannten Arbeitsatrophien und Arbeits-
neuritiden, von denen aber gegeniiber den zahlreichen Beispielen
derartiger Erkrankung an den oberen Extremitaten an den unteren
verhaltnismassig nur wenige Angaben in der Literatur vorliegen.
So sagt z. B. Remak, dass im Bereiche der unteren Extremitaten
infolge angestrengten Nahmaschinentretens unter den Er-
scheinungen der Ischias entstandene amyotrophische Ischiadicus-
lahmung, besonders im Peroneusgebiete, von Charcot beobachtet
sei, eine im Vergleich zu den an den Armen und Handen festge¬
stellten Arbeitsatrophien gewiss vereinzelte Beobachtung. Bei der
Seltenheit professioneller Paresen im Gebiete der unteren
Extremitaten darf ich wohl auch an den von mir in meinem Buche
,,Die Erkrankungen der peripherischen Nerven“ mitgeteilten Fall
von Muthmann erinnem, der von diesem Autor aus der Bonner
Klinik mitgeteilt worden ist. Es handelte sich da um einen
28 jahrigen Kranken, welcher Jahre lang die Drechslerbank
tretend gearbeitet hatte. Er stand dabei meist auf dem linken Bein,
wahrend er mit dem rechten die Kurbel in Bewegung setzte. All-
mahlich trat eine Schwache in der Bewegungsfahigkeit der Fiisse
und Zehen ein, besonders links; eine genaue Untersuchung erwies
eine doppelseitige, auf Ueberanstrengung zuriickzufuhrende Neu-
7 *
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98 Bernhardt, Der Anted der Funktion
ritis der Nn. peronei mit schwererer Erkrankung der linken Seite
unter Mitbeteiligung des N, tibialis, ohne dass jedoch funktionell
ein Ausfall in letzterem zu konstatieren gewesen ware. Nicht die
Beschaftigung an der Drechslerbank, sondem das Stehen auf einem
Bein ist nach Verfasser in diesem Falle an erster Stelle als Ursache
der Erkrankung anzunehmen. Jedenfalls unterliegt es keinem
Zweifel, dass an den unteren Extremitaten sehr viel haufiger als
Lahmungs- und atrophische Zustande schmerz- und krampfhafte
Affektionen vorkommen, wie ich dies bei der Beschreibung der
Beschaftigungskrampfe an den unteren Extremitaten infolge Ueber-
anstrengung gewisser Muskelgruppen in meinem eben erwahnten
Buche (Teil 2, S. 151) des naheren auseinandergesetzt habe.
In neuester Zeit haben auch Leyden und Goldscheider die
Ueberanstrengung als einen atiologisch wichtigen Faktor fur
das Entstehen der Tabes in gewissem Sinne anerkannt. Zwar, ob
Ueberanstrengung fur sich allein Tabes hervorbringen kann,
ist nach diesen Autoren zweifelhaft; aber sicherlich gehort sie zu
den begiinstigenden Momenten. Hierfiir sprechen gewisse Beob-
achtungen von der Art, dass sich Tabes an besonders anstrengende,
haufig wiederholte Bewegungen, z. B. bei Maschinennaherinnen,
angeschlossen hat, bezw. dass die Ataxie namentlich in den Armen
sich entwickelte bei einem Kranken, welcher die oberen Extremi¬
taten besonders angestrengt zu bewegen genotigt war. Immerhin,
so schliessen sie (Die Erkrankungen des Riickenmarks und der
Medulla oblongata, Wien 1904, Teil V, S. 409), kommt das Moment
der Ueberanstrengung wohl mehr fiir die Localisation, als fur die
Entstehung des Prozesses in Betracht.
Dass die genannten Autoren im Gegensatz wohl zu den meisten
anderen der Syphilis resp. der Metasyphilis fiir die Entstehung
einer tabischen Erkrankung nur einen geringen oder keinen Wert
beilegen, glaube ich als bekannt voraussetzen zu diirfen.
Falle von sogenannter Tabes cervicalis,' d. h. tabischer Er¬
krankung, bei der die Krankheitssymptome nur oder doch vor-
wiegend an den oberen Extremitaten ausgepragt und an den unteren
unbedeutend waren oder fast ganz fehlten, finden sich in der Lite-
ratur zerstreut. Es ist mir leider nicht gelungen, alle die uber solche
Vorkommnisse berichteten Falle im Original einzusehen, so dass
ich nicht imstande bin, zu sagen, ob z. B. im Falle von Weir
Mitchell (Philadelphia Med. News, r^f. im Centralbl. f. d. med.
Wissenschaften. 1889. S. 10) der Patient friiher an Syphilis ge-
litten; angeblich war er ohne irgend welche Belastung. Ebenso-
wenig kann ich liber den Dejerine schen Fall (Archives de Physio-
logie norm, et patholog. 1888. p. 331) hinsichtlich einer luetischen
Vergangenheit etwas aussagen, und auch im Falle von Martins
(Deutsche med. Woclienschr. 1888. No. 9) wird iiber Syphilis
des Kranken nichts berichtet.
Dass derartige Falle von auf die oberen Extremitaten be-
schrankter tabischer Ataxie bei verhaltnismassigem Intaktsein
der^unterenjoffenbar selten sind, geht aus der Sparlichkeit der
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an der Entstehung von Nervenkrankheiten.
99
Mitteilungen der Autoren hervor. So fand z. B. Dejerine unter
166 Tabes fallen nur den einen oben erwahnten, bei dem das Leiden in
den oberen Extremitaten begann und auf diese beschrankt blieb.
Anders liegen die Dinge in dem von Remak schon im Jahre
1880 (Berl. klin. Wochenschr., No. 22) mitgeteilten Fall von lokaler
Oberextremitaten-Ataxie mit gleichzeitiger Ephidrosis unilateralis.
Hier hatten sich tabische Erscheinungen an den Beinen erst spat
bei dem vor 12 Jahren syphilitisch infizierten 38 jahrigen Mann
eingefunden, wahrend sich schon vorher im Laufe von 5 Jahren
eine Anasthesie, besonders des rechten Vorderarmes, allmahlich
entwickelt hatte, wobei Hand und Finger erheblich beteiligt waren.
Auch bei dem von mir im Jahre 1888 in der Zeitschrift f. klin.
Med., Bd. 14, H. 3, veroffentlichten Fall war der Erkrankung
Syphilis vorausgegangen. Der Kranke war als Steinmetz und
Bildhauer auf Bauten den Unbilden der Witterung Jahre lang
ausgesetzt und hatte vorwiegend mit Meissel und Hammer zu
arbeiten. Die Untersuchung ergab bei hochgradiger Ataxie der
oberen Extremitaten an den unteren fair viele Jahre nur ein Ver-
schwundensein der Patellarreflexe; der Kranke war ein leiden-
schaftlicher Tanzer und konnte ohne Beschwerden dieser seiner
Leidenschaft frohnen.
Leider geht aus den mir teilweise ja nur in Referaten zu-
ganglichen Literaturangaben iiber die oben kurz erwahnten Falle
cervikaler Ataxie die Beschaftigung der Pat. nicht mit geniigender
Klarheit hervor, so dass ich, abgesehen von dem zuletzt von mir
mitgeteilten, von mir selbst beobachteten Fall nichts dariiber
aussagen kann, ob die betreffenden Individuen ihre oberen
Extremitaten vorwiegend angestrengt haben; ja, es fehlt auch,
wie wir sahen, in einigen Beobachtungen der Nachweis einer
friiheren syphilitischen Infektion, oder diese wird von den berichten-
den Autoren geradezu geleugnet.
Es mag daher nicht iiberfliissig erscheinen, wenn ich einen
neuerdings von mir beobachteten Fall von Tabes mit hauptsachlich
an den oberen Extremitaten ausgebildeten Symptomen hier kurz
mitteile.
Der zur Zeit meiner ersten Untersuchung 42 Jahre alte Gartner R. S.
hatte sich vor mehr als 18 Jahren eine syphilitische Infektion zugezogen.
Ein vor seiner Ehe geborenes Kind war gesund; nach der Verheiratung
wurde ihm kein Kind mehr geboren; die Frau hatte nie fehlgeboren. Schon
wenige Jahre nach der mit einer Schmierkur behandelten Syphilis fing S.
an, an lebhaften Schmerzen in verschiedenen Korperteilen zu leiden, hatte
verschiedene Male Ohnmachtsanfalle, litt an Darmkatarrh, begann aber
erst im Jahre 1904. etwa 16 Jahre nach der syphilitischen Infektion, iiber
schlechteres Gehen zu klagen, hatte Blasenbeschwerden, bei denen er-
schwertes Entleeren des Harns mit unfreiwilligen Abgnngcn desselben
abwechselten. Seit etwa drei Jahren ist die Libido so wie die Potentia
coeundi ganz geschwunden. Pat. geht im Finstern unsicher, schwankt beim
Waschen des Gesichtes, kann nicht mehr rennen. Patellar- und Achilles-
sehnenreflexe fehlen. Leichte Beriihnmgen werden an den Fiissen nicht ge-
fUhlt, wohl aber starkerer Druck. Schmerzempfindung deutlich verlang-
samt. Bei Augenbchluss vorgenommene Lageveranderungen der Zehen
werden manchmal gefiihlt, manchmal gar nicht empfunden.
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100
Bernhardt, Der Anteil der Funktion
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Die linke Pupille ist grosser als die reohte; beide sind lichtetarr, reagieren
aber auf Konvergenz and Akkommodation.
Besonders waren die Verhaltnisse an den oberen ExtremitcUen bemerkena-
wert: Pat. fiihlt an den Handen leichte Beriihrungen gar nicht, Nadelstiche
deutlich verspatet. Sohliesst er die Augen, so kann er ihm in die Hand ge-
legte Gegenstande nieht erkennen. E* besteht eine ganz bedeutende Ataxie-
in den Bewegungen der Arrae und Hande: er kann seine Kleider ohne Zu-
hiilfenahme der Augen nicht knopfen, sein Portemonnaie nicht aus der Tasche
ziehen, nicht schreiben etc. Ais er etwa 2 Jahre vor der von mir vor-
genommenen Untersuchung eininal einen schief stehenden Baum gerade-
richten wollte, entstand unter Krachen eine Verbildung dee rechten Ellbogen-
gelenks, wobei eine Schmerzempf indung nicht auitrat. Das verbildete Gelenk
kann auch jetzt noch schraerzloa bewegt werden, wobei Knarren und
Krachen deutlich gefiihlt und gehort wird.
Dass trotz der ausgezeichneben Darsbellung des geistreichen
Autors Edinger auch in der Frage von dem Anteil der Funktion
an der Entstehung einer Tabes und trotz meiner sehr bescheidenen
Mehrung des diese Annabme bestatigenden Materials noch viele
dunkle Punkte zuriickbleiben, wer wollte es leugnen ? Hat doch
Edinger selbst auf einige mit seiner Auffassung nicht vereinbare
Tatsachen hingewiesen und offen erklart, dass die Zeit, einzelne
Fragen widerspruchslos zu beantworten, noch nicht gekommen.
,,Einige Symptome, sagt er, sind noch nicht so (d. h. durch die“
„Funktion) erklarbar. Hier stehen in erster Linie der Schmerz“
,,und die Krisen. Von dem Wesen dieser Reizerscheinungen, 44
,,vom Wesen des Schmerzes iiberhaupt wissen wir physiologisch“
„noch so iiberaus wenig, dass sie fiir das Folgende ausser Betracht“
,,bleiben miissen. Erst wenn uns hier einmal bessere Kennbnis 44
,,geworden, diirfen wir fragen, ob der Schmerz und die Krisen 41
„aus der Funktionstheorie heraus erklarbar sind. Und an 44
,,anderer Stelle hebt er hervor: Ein Symptom bei der Opticus- 44
„atrophie wiirde, das ist von Uhthoff und Bing hervorgehoben 44
,,worden, mit der Funktionshypothese schlecht stimmen. Offen- 44
,,bar liegen die meistbenutzben Opticusfasern im Zentrum des 44
,,Gesichtsfeldes. Zentrales Skotom kommt aber seltener vor als 44
„andere Formen des Sehnervenschwundes, in nur 2 pCt. aller 44
,,Falle, meint Uhthoff. Wo es vorhanden, schliesst sich spater 44
„immer allgemeine Atrophie an. Hoffenblich klaren weitere Unter- 44
,,suchungen diesen Widerspruch auf. 44
Im Jahre 1874 hatte ich in der Januarsitzung der Berliner
Gesellschafb fiir Psychiatrie und Nervenkrankheiben iiber einige
Falle von Lahmungen des N. radialis gesprochen. In der diesem
Vortrage sich anschliessenden Diskussion bemerkte der versborbene
Moritz Meyer folgendes: Was die Bleiliihmungen anlange, so sei,
nachdem die Untersuchungen tiber die Quantibat des abgelagerben
Bleies so verschiedene Resulbate ergeben haben, doch darauf zuriick-
zukommen, dass die angesbrengtesten Muskeln diejenigen sind,
die zuersb und am meisben gelahmt werden. Er erinnert sich eines
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an dur Entistehuiig von Nervenkrankheiten.
101
Falles, in welchem ein Mensch, der einen weniger entwickelten
Fuss hatte, gerade in diesem Beine die Lahmungserscheinungen
zeigte, wahrend die anderen Exbremitaten weniger beteiligt waren.
An diesen Ausspruch des verstorbenen Neurologen erinnert
auch Edinger in seinem Werke, wo er iiber afmorme Lokalisalionen
der Bleilakmungen diskutiert. Wenn ich auch, wie ich mich alsbald
aufs neue zu zeigen bemiihen werde, die sehon einmal von mir
angefochtenen Beobachtungen von Mbbitts (Centralbl. f. Nervenheil-
kunde etc., 1886, No. 1) iiber die Lokalisation der Lahmungen bei
Feilenhauern nicht in ihrem ganzen Umfang billigen kann, so
mochte ich doch gegen folgende Aufstellung Edingers gegeniiber
Mobius zu dessen Gunsten Stellung nehmen. Edinger sagt 1. c.:
,,Als Mobius zuerst bei Feilenhauern eine Lokalisation der Blei-“
,,lahmung fand, die in den dort besonders angestrengten Daumen-“
„muskeln begann, kam ihm wohl der Gedanke, dass hier die“
„Funktion vielleicht schadige; aber, ihn diskutierend, kommt“
,,er zu dem Schluss, es liege kein Grund vor, wenn iiberall das"
,,Blei toxisch wirke, gerade hier eine funktionelle Schadigung“
,,anzunehmen. Remak, fahrt Edinger fort, mochte hier doch an“
,,Mitwirkung durch die Anstrengung denken, steht aber doch,“
,,wie alle anderen Autoren, auf dem Standpunkte, dass im wesent-“
„lichen eine Giftwirkung, die gerade an bestimmte Nerven sich“
„besonders leicht lokalisiert, im Spiele sei.“
Das ist nicht ganz richtig. In Beriicksichtigung der von Remak
bei einer seiner Beobachtungen ausgesprochenen Ansicht, sagt
Mobius: Fasst man die Feilenhauerlahmung als Bleilahmung auf,
so ist an einem sehr eklatanten Beispiel dargetan, dass die Lokali¬
sation der toxischen Lahmung in bestimmten Muskelgruppen durch
die Funktion der letzteren bedingt werden kann. Und ferner: Es
drangt sich die Erwagung auf, ob etwa der gewohnliche Typus der
Bleilahmung sich dadurch erklaren lasse, dass im Durchschnitt
die Strecker der Finger und der Hand die am meisten angestrengten
Muskeln sind, ob es als allgcmeines Prinzip gelten konne, dass bei
Bleildhmungen oder bei Lahmungen infolge chronischer Vergiftung
uberhaupt die am meisten angestrengten Muskeln zuerst erkranken.
Und endlich. am Ende seines lehrreichen Aufsatzes, sagt Mobius :
Aber auch dann, wenn angenommen wird, dass noch Umstande,
die uns bis jetzt entgehen, zu berucksichtigen sind, diirfte die
Hypothese, dass in der Hauptsache die Lokalisation toxischer
Ldhmungen von der Funktion der Muskeln abhangt, bis auf weiteres
nicht zu widerlegen sein.
Wie man sieht, ist in diesen Worten schon 1886 von Mobius
die Bedeutung der Funktion fur die Lokalisation von Muskel-
lahmungen bei Intoxikationen voll beriicksichtigt worden.
Am Ende desselben Jahres, in dem die Arbeit von Mobius
erschien, habe ich mich nun bemuht (Arch. f. Psych, etc., Bd. XIX,
S. 527), nachzuweisen, dass gerade bei Feilenhauern die von
Mobius und Remak hervorgehobene Erkrankung der linksseitigen
Daumenmuskeln nicht nur nicht in alien Fallen, sondem sogar
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102
Bernhardt, Der Anteil der Funktion
nur in der Minderzahl der bis dahin bekannten voll zu Recht be-
steht. Ich schloss damals meinen Vortrag mit den Worten: Soviel
scheint aus dem Mitgeteilten hervorzugehen, dass die von Mobius
angeregte Frage zurzeit noch nicht spruchreif ist; es wird noch
weiterer Beobachtungen bediirfen, ehe es gestattet ist, ein end-
giiltiges Urteil abzugeben (es gait dies fiir die Feilenhauer-
lahmungen).
Nun hat neuerdings Teleky in der Deutscben Zeitschrift fiir
Nervenheilkunde, Bd. 37, S. 234, eine Arbeit: „Zur Kasuistik der
Bleilahmungen“ veroffentlicht, die bei grosser Reichhaltigkeit es
sich zur Aufgabe gemacht hat, die Edingerschen Anschauungen
an einer grossen Anzahl von Bleigelahmten zu illustrieren resp.
zu erharten. Was nun die Feilenhauerldhmungen betrifft, so sagt
er 1. c., S. 263: „M6bius hat damals auch die Behauptung auf-“
,,gestellt, dass bei Feilenhauem vorwiegend oder ausschliesslich“
„die Muskeln des hnken Daumens erkranken. Gegen diesen Satz“
,,haben sich Bernhardt und sein Schuler Leichtentritt (Inaug.-“
,.Dissert., Berlin 1887) gewendet, aber auch die von ihnen publi-“
„zierten Falle von Bleilahmung zeigten mit Ausnahme eines“
„einzigen Falles eine auffallende Mitbeteiligung der Muskulatur“
,,des hnken Daumens. Mobius selbst hat spater das vonviegend“
,,oder ,ausschliesslich‘ als zu stark bezeichnet.“
So leid es mir tut, meine nunmehr fast 24 Jahre zuriickliegenden
Beobachtungen an dieser Stelle noch einmal, wenigstens kurz, zu
reproduzieren, so muss ich dies doch tun, da mir scheint, dass
Teleky meine Arbeit aus dem Jahre 1886 nicht mit der notigen
Aufmerksamkeit studiert hat. Neben einer Kritik der Falle von
Mobius und Remak habe ich, um es kurz zu machen, damals
folgendes mitgeteilt:
Era tens drei Falle bei schon jalirelang mit Feilenhauen beschaftigten
Mannern, die nirgends an den linksseitigen Daumenmuskeln Zeichen von
Lahmung oder Atrophie darboten. Weiter sah ich zwei jahrelang als Feilen-
hauer beschaftigte Gesellen, deren Handmuskeln gesund und sehr brdftig
waren. Ein dritter Geselle war zurzeit nach friiherer Bleikrankheit ganz ge-
8und und zeigte die linksseitigen Daumenballenmuskeln und den M. inter-
osseus primus eher hypertrophisch. Ein Lehrling in der Werkstatt, wo die
eben genannten Gesellen arbeiteten, war gesund. Femer besuchte ich eine
Werkstatt der Feilenhauer-Aktien-Gesellschaft in Berlin mit mehr als
50 Arbeitern; keiner der Anwesenden, von denen viele schon jahrelang
bei m Gewerk waren, hatte zurzeit Lahmung der Extensoren oder der Daumen-
ballenmuskeln. Diese waren moi; tens links (nebst dem linken M. interosseus)
krdjtig entwickelt. Von vier Gesellen, welche Bleikoliken durchgemacht
hatten. hatte nur einer iiber Schwache der linken Daumenmuskeln zu klagen
gehabt; er arboitete aber zurzeit, ohne von Lahmung oder Atrophie speziell
links am Daumen etwas aufzuweisen. Bei einem vierten Arbeiter hatte eine
Lahmung des reehten M. deltoideus bestanden. Er war zurzeit wieder wohl;
von Lahmung oder Atrophie war zurzeit nichts aufzufinden. speziell nicht
an der linken Hand und dem linken Daumen. Fast alle Arbeiter, {and ich,
zeigten links hypertrophischeThenarmuskeln undgut ausgebildeteMir. inter-
rossei. Weiter berichtete ich iiber einen Feilenhauer, der tatsiichlich (aber
neben einer rechteseitigen Streckerlahmung) links nur den linken Daumen
affiziert hatte. Nach weiterer Arbeit von 9 Jahren in einer Feilenhauer-
werkstatt konnte an seinen Handen. speziell auch links, nichts Krankhaftes
melir nachgewiesen werden.
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an der Entstehung von Xervenkrankheiten.
103
Bai einera fiinften Pat. bestand rechts Lahmung der Strecker, Pareee
der Beuger der reehten Finger, des Abd. pollicie. longus und Lahmung der
rechten Thenarmuskeln und des ersten 3/. interosseus. Links war vorhanden:
Parese des Ext. digit, commun., wenigstens der Abechnitte fiir den dritten
und vierten Finger, und Parese aucli der Daumenstrecker. Thenarmuskeln
intakt. In einem sechsten Falle endlich fand ich links Lahmung des Ext.
pollicis brevis und Abductor pollicis brevis , die iibrigen Strecker der Hand
imd Finger frei. Rechts waren die Fingerstrecker affiziert, die eigentlichen
Handstrecker frei: der Abd. pollicis longus und der Extensor pollicis longus
und brevis sind paretisch, desgleichen die eigentlichen Daumenballenmuskeln.
Ich schloss: Aus dem bisher Mitgeteilten gelit also hervor, dass zu-
nachst in den durch Mobius selbst bekannt gegebenen Fallen nur der erst©
in bezug auf das, was er beweisen soil, ganz einwandsfrei war. Aus ineinen
eigenen Beobachtungen ergibt sich, dass die urgierte Erkrankung (Atrophi©
und Lahmung der linken Daumenballenmuskulatur und des ersten M. inter-
osseus) bei Feilenhauem in der Tat sich findet, und zwar konnte ich dies
in dem zu vollkommener Heilung gekommenen Fall 4 anamnestisch nach-
weisen und dartun, dass im fiinften und sechsten Fall die Daumenballen-
affektion in der haufiger bei Bleikranken, die nicht Feilenhauer waen,
sich findender Weise auch rechts , und zwar im fiinften Falls sogar nur dart
vorhanden war . Dass aber bei Feilenhauern vorwiegend oder gar aus-
schliesslich, wie Mobius meint, die Muskeln des linken Daumens erkranken,
geht aus dem von mir Angefiihrten nicht oder doch wenigstens keines-
wegs sicher hervor.
Ausser den genannten, von mir und (in seiner Dissertation) von Leichten-
tritt besehriebenen Erkrankungen von Feilenhauern habe ich, was von anderen
und auch wohl von Teleky iibersehen worden ist, im Jahre 1900 (Berl. klin.
Wochenschr., No. 2) noch uber weitere drei Falle von Lahmungen bei Feilen¬
hauern bericlitet.
Ich erlaube mir hier, die Schlusssatze aus dieser meiner Arbeit zu
wiederholen: Von den drei kranken Feilenhauem hatte der erste. obgleich
20 Jahre Feilenhauer, wohl haufig an Bleikoliken, nie aber an Lahmungs-
zustanden gelitten. Der zweite zeigte rechts neben der Lahmung der Hand-
und Fingerstrecker eine Beteiligung der Zwischenknochen- und Daumen-
ballenmuskeln und links fast nur Schweiehe und Lalunung der Mm. inter-
ossei und des M. abd. pollick. Der dritte Feilenhauer zeigte iechts eine
Schwache des Mm. interossei und der Thenarmuskeln und links nur eine
Herabsetzung der elektrischen Erregbarkeit der eher hypertrophisch zu
nennenden DaumenbaUenmuskeln.
Neben anderen Bemerkungen sagte ich alsdann zum Schluss: Dass
bei den mit den linken Fingern. spezieU dem Daiunen und Zeigefinger, tag-
aus, tagein den Meissel haltenden Feilenhauern das Moment ubermassiger
einseitiger Anstrengung neben der Bleivergiftung eine nicht geringe Kolle
spielt, ist um so eher anzunehmen. a Is eine zwar nicht identische 9 aber doch
dhnliche degenerative Atrophie der kleinen Handmuskeln bei Helen Menschen
von Remak, Mobius . mir selbst u . A . gesehen worden ist, bei Menschen. welche
eben durch ihren Beruf gezwungen waren, diese Muskeln im Uebermass
anzustrengen, ohhe dass sie je mit Blei in Beriihrung gckommen waren.
Weitergeht aus meinen und den Beobachtungen anderer hervor,
dass auch bei Feilenhauem, welche den Hammer, mit dem sie die
Feilen bearbeiten, mit der rechten Hand fiihren, sich fast regelmassig
eine ausgepragte Beteiligung der Strecker der rechten Hand und
Finger vorfindet, derselben Hand, welche auch bei den den Pinsel
fiihrenden Malern angestrengt wird. Diese rechte Hand wird sogar
noch in demselben Grade mehr belastet und angestrengt, als ein
schwerer Hammer bedeutendere Kraft zu seiner Erhebung und
Hantierung erfordert, als der um so vieles leichtere Pinsel des
Malers.
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104
Bernhardt, Der Anteil der Funktion
Ich schliesse diese meine Besprechung der Feilenhauerlah-
mungen mit den Worten, die mein einstiger Schuler, Herr
Dr. Leichtentritt, am Ende seiner Arbeit ausgesprochen hat.
In einem Referat uber den von Prof. Bernhardt gehaltenen
Vortrag gibt Mobius (Schmidts Jahrbficher 1887, S. 250) selbst zu.
dass sein Ausspruch: Bei den Feilenhauem erkranken vorwiegend
oder ausschliesslich die Muskeln des linken Daumens, etwas zu
stark gewesen sei. Auch bestatigt er die Behauptung Bernhardts .
dass nur sein (Mobiv^) erster Fall ganz einwandsfrei ist; ftigt aber
auch hinzu: seine eigenen tibrigen Falle und die Bernhardts zeigten
doch mindestens, dass der linke Daumenballen bei Feilenhauem
auffallend oft erkranke. Auch Bernhardt ist, ffigt Leichtentritt hin¬
zu, wie seine eigenen und die von mir in dieser Arbeit mitgeteilten
Beobachtungen zeigen, wohl geneigt, der schon frfiher gemachten
Angabe, dass bei Bleilahmungen die zumeist angestrengten Muskeln
besonders leicht erkranken, zuzustimmen. Aber gerade ftir die
Daumenballenmuskeln der Feilenhauer scheint eben, wie Bernhardt
gezeigt hat, diese an sich ganz plausible Annahme trotz der dankens-
werten Anregung von Mobius noch nicht durch die Tatsachen
sicher festgestellt.
Ich muss hier wiederholen, dass es mir nicht angenehm war.
diese Dinge wieder vorzubringen. Ich habe es nur getan, um
einem unparteiischen Leser es zu ermoglichen, den Wert des
Telekyachen Ausspruches zu bemessen, der behauptet, dass die
von mir (und von meinem Schfiler Leichtentritt) publizierten Falle
mit Ausnahme eines einzigen eine auffollende Mitbeteiligung der
Muskulatur des linken Daumens zeigen. Gerade das Gegenteil
war und ist der Fall.
Und wie steht es mit dem von Teleky neuerdings in seiner Arbeit
beigebrachten Fallen von Feilenhauerlahmungen ? Beweiskraftig
ist vielleicht nur der dritte Fall, aber auch dieser ist durch die
gleichzeitige Beteiligung der Daumenballenmuskeln rechts kein
reiner. Im ersten Falle Telekys gab der 38 Jahre alte Feilenhauer
an, er sei vor einem Jahre an Bleilahmung erkrankt. Teleky sah
ihn damals fltichtig mit einer Atrophie der Daumenballen-
muskulatur und der Muskulatur des linken Interossealraumes
sowie Extensorenparese; es seien die Muskeln an beiden Daumen
weg gewesen. Heule kann nicht mit Sicherheit eine Atrophie
konstatiert werden. Arbeitet wieder als Feilenhauer.
Der zweite Fall Telekys betraf einen 28 Jahre alten Mann.
Seit 10 Jahren alljahrlich 1—2 mal Bleikolik. Vor einem Jahre
begann die Lahmung am linken Daumen. Das Interphalangeal-
gelenk gab nach; nach einem Monat sank die rechte Hand in Beuge-
stellung. Die Lahmungserscheinungen dauerten ca. 5 Monate.
Heute besteht nur eine geringe Schimche der Extensoren.
Der dritte Fall Telekys betraf einen 26 jahrigen Mann, der
1899 mehrfach Bleikolik durchgemacht hatte; vom Jahre 1900
an sollen die Magenbeschwerden nachgelassen, sich aber Schwache
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ail der Entstehung von Nervenkrankheiten.
105
und Abmagerung in den Handen bemerkbar gemacht haben.
Er bot folgende3 Bild:
Rechte Hand: Hand- und Fingerstreckung unmoglich.
Opposition und Abduktion des Daumens erhalten, Adductor poll,
brevis und Inteross. primus atrophisch. Fingerstrecker reagieren
sehr wenig auf faradischen, etwas besser auf galvanischen Strom,
rechts schlechter als links. Nur der Abd. poll, longus reagiert
etwas prompter.
Links Hand: Starke Parese der Finger-, massige der Hand-
strecker. Endphalangen der Finger gebeugt. Lange Streck-
muskeln sowie Muskulatur samtlicher Zwischenknochenraume
atrophisch. Daumenballen abgeflacht, Opposition des Daumens
nicht, Abduktion nur wenig moglich. Faradische Erregbarkeit
der Handstrecker und des Abd. poll, longus herabgesetzt: galva-
nischer Strom lost trage Zuckung aus.
Ich iiberlasse es dem Leser, zu entscheiden, ob diese drei von
Teleky mitgeteilten Falle von Feilenhauerlahmung in dem von dem
Autor urgierten Sinne so beweiskraftig sind, dass er sie meinen
Beobachtungen gegeniiberzustellen versuchen konnte.
Der in der Pathologie der Bleilahmungen so erfahrene E. Remak
sagt in seinem Werke iiber Neuritis und Polyneuritis (Wien 1900,
Holder): ,,Vorausgegangene professionelle Inanspruchnahme der 44
,,Handmuskeln kann ihre vorzugsweise Erkrankung veranlasst“
,,haben. Diese Annahme drangte sich E. Remak 1879 und Mobius'''
,,1886 auf, alsersterer ineinem, letzterer in drei Fallen atrophische“
,,Lahmung nur von Handmuskeln des Daumens (Opponens, Flexor 44
,,brevis, Adductor, Interosseus primus) hier ohne Extensorenlah- 44
,,mung an der linken Hand von Feilenhauem fanden, die bei der 44
,,Arbeit andauemd den Meissel zwischen Daumen und Zeige- 44
,,finger zu halten haben. Freilich vermochten Bernhardt, Leichten -“
,,tritt diese besondere Feilenhauerlokalisation nicht zu bestatigen. 44
,,Immerhin habe ich auch in anderen Fallen, in welchen friih- 44
,,zeitig die Handmuskeln erkrankten, den Eindruck gehabt, 44
,,als wenn professionelle Ueberanstrengung dabei mitspiele. 44
,,Schwere Entartungsreaktion des linken Daumenballens eines 44
,,Schriftgiessers beobachtete East ohne Lahmung desselben. 44
Wenn ich demnach auch heute noch die besondere Lokalisation
der Bleilahmung bei Feilenhauem nicht als erwiesen anerkennen
kann, so muss ich doch andererseits betonen, dass ich, wie Moritz
Meyer, E. Remak, Mobius, Edinger auf dem Standpunkt stehe,
dass professionelle Ueberanstrengung bei toxischen Lahmungen
und speziell bei Bleiparalysen einen sehr grossen Einfluss auf die
Lokalisation des krankhaften Prozesses in den einzelnen Muskel-
gebieten gewinnen kann. Schon Mobius betonte, dass im Durch-
schnitt die Strecker der Finger und der Hand die am meisten an-
gestrengten Muskeln sind, wie dies Edinger und Teleky nachzu-
weisen sich angelegen sein liessen. Ganz besonders muss ich hier
die Untersuchungen Telekys hervorheben, der, wahrscheinlich
einer Anregung von Mobius nachgebend, es sich zur Aufgabe ge-
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106
Bernhardt, Der Anted der Funktion
stellt hat, die Kraft der einzelnen Muskeln speziell fiir den mensch-
lichen Vorderarm zu bestimmen. Ich hebe die auch von Telelcy
in der Einleitung zu seiner Arbeit zitierten Worte Mobius' noch
einmal hervor, die dieser ausgezeichnete, fiir die Wissenschaft
leider zu friih dahingegangene Forscher in der oben zitierten Arbeit
ausgesprochen hat. Mobius sagte: ,,Eine sichere Beantwortung“
,,der Frage, ob bei Bleilahmungen oder bei Lahmungen infolge“
„chronischer Vergiftung iiberhaupt die am meisten angestrengten“
,,Muskeln zuerst erkranken, wiirde nur moglich sein, wenn wir“
,,wiissten, welcbe Muskeln im gewohnlichen Leben, d. h. bei der“
„Mehrzahl der Hantierungen, am meisten angestrengt werden."
„Die Anstrengung eines Muskels ist offenbar ausgedruckt durch“
,,das Verhaltnis der Leistung zur Kraft; wenn auch ein Mass'*
,,der Leistung schwer zu finden sein diirfte, so wiirde sich doch“
,,vielleicht eine Schatzung derselben fiir eine Reihe von Tatigkeiten"
,,durchfiihren lassen. Zunachst aber miisste die Kraft der einzelnen"
,,Muskeln bestimmt werden. Diese Aufgabe ist, soviel mir (Mobius)"
,,bekannt, fiir die Muskeln des menscblichen Vorderarmes noph"
,,nicbt durchgefiihrt." Diese Arbeit hat Telelcy in verdienstlicher
Weise untemommen und mit grossem Fleisse ausgefiihrt.
So sehr ich, wie gesagt, von der Mobius-Edingerschen Idee der
Erkrankung einzelner iiberangestrengter Muskeln bei vergifteten,
speziell bleivergifteten Individuen eingenommen bin, so kann ich
doch gerade im Interesse der Sache und in der Hoffnung auf weitere
Aufklarung gerade wie bei der Feilenhauerlahmung einige Punkte
nicht mit Stillschweigen iibergehen, die anscheinend dieser be-
stechenden Theorie nicht entsprechen resp. ihr durchaus zuwider-
laufen. Ich habe im Jahre 1900 (Berl. klin. Wochenschr. No. 2)
zwei bei Malern beobachtete Falle von Bleilahmung veroffentlicht,
die sich dadurch auszeichneten, dass im ersten Falle die Muskeln
der linken Hand iiberhaupt frei waren und rechts ebenfalls die
radialisinnervierten Muskeln durchaus normale Verhaltnisse zeigten
(auch elektrisch). Dagegen bestand rechts Lahmung und Atrophie
des ersten Zwischenknochenmuskels und der Daumenballen-
muskeln. Die Muskeln zeigten fast ausnahmslos Entartungs-
reaktion. Trotz genauen und wiederholten Nachfragens konnte eine
besondere Ueberanstrengung der erkrankten Muskulatur nicht er-
wiesen werden: Pat. hatte den Malerpinsel nicht mehr und nicht
anders gehandhabt wie alle seine Kollegen. Und in einem zweiten
Falle, ebenfalls einen Maler betreffend, waren bei vollkommener
Unversehrtheit aller Muskeln der rechten oberen Extremitat nur
die rechtsseitigen Mm. interossei von Lahmung, Atrophie und Ent-
artungsreaktion betroffen, wahrend die dem rechten Radialis-
gebiet angehorigen Muskeln in ihrer Tatigkeit sowohl wie in ihrer
elektrischen Erregbarkeit intakt waren.
Ich fiihre bier noch den von E. Remak beschriebenen Fall 7
aus seiner Arbeit vom Jahre 1879 an von einem Klempner, der mit
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an der Entstehung von Nervenkrankheiten.
107
einer aus Blei und Zinn bestehenden Lotmasse gearbeitet und als
erstes Zeichen einer Bleilahmung eine leichte Abmagerung des
rechten Daumenballens und ersten Zwischenknochenraumes, eine
motorische Schwache der Beuger der drei ersten Finger und eine
nicht ganz 1 cm betragende Abmagerung des rechten Vorderarmes
im Vergleich zur linken Seite darbot.
Ein weiterer ganz exzeptioneller Fall ist der 1902 von
G. Roster (Munch, med. Wochenschr., No. 16) beschriebene.
Er betraf einen 27 jahrigen Schriftfletzer, welcher wiederholt
an Bleikolik und seit 12 Jahren an Arthralgie gelitten hatte,
ausserdem Zittern und Arteriosklerose darbot. Als einziges Symptom
der .Bfetlahmung bestand eine Paralyse und Atrophie der Mm. inter-
ossei und lumbricales beider Fiisse, besonders des rechten. An der
Muskulatur des Oberschenkels, an den Armen und Handen bestand
keine Stoning; ihre Muskeln waren fur normale Stromstarken
prompt erregbar. Statt des sonst bei den Bleilahmungen der
Beinnerven (an sich schon ein aussergewohnliches Vorkommnis)
meist zu beobachtenden Peronealtypus ist in diesem Falle der
Prozess in den isoliert erkrankten Mm. interossei und abducentes
hallucis beider Fiisse lokalisiert.
Ueber die Bleilahmung bei Kindern sind von verschiedenen
Autoren, u. a. auch von mir (Salkowski- Festschrift, Berlin,
A. Hirschwald, 1904) Beobachtungen mitgeteilt, und von fast alien
ist die friihe Beteiligung der bei Erwachsenen im Durchschnitt
recht selten befallenen unterenExtremitaten an der Paralyse hervor-
gehoben worden. Den nicht allzu reichlichen Angaben aus der
Literatur, die ich selbst beigebracht habe und den neuerdings dureh
Teleky vermehrten, hierhergehorigen Nachweisungen mochte ich
zunachst noch eine neue Mitteilung A. J. Turners anfiigen, die
dieser Autor im Brit. med. Journ. 1909, 10. April, veroffentlicht hat.
Er berichtet iiber bei Kindern vorkommende Bleivergiftungen aus
Brisbane in Australien:
„Die Ursache ist in der Farbe der meist aus Holz gebauten Wohn-"
,,hauser zu suchen; sie sind mit Bleiweiss angestrichen. Mit demselben"
,.Material sind auch die Gelander der Veranden, auf denen die Kinder"
.spielen, gefarbt. Die blaue Zahnfleischlinie imd das Vorkommen von“
,,Blei im Urin findet man schon in einem Stadium, wo noch keine aus-"
..gesprochenen Krankheitssymptome vorhanden. Leibschmerzen und"
„Stuhlverstopfungen finden sich wie bei den Vergiftungen Erwachsener."
Charakteristisch ist, dass die Kadialislaiimung kaum bei Kindern unter
12 Jahren vorkommt, dass hingegen die Lahmung des Tibialis ant. und des
langen Zehenstreckers die ersten Lahmungssymptome bilden. Auch die
Peronei sind ergriffen; die Paralyse der Strecker der Hand und der
Mm. interossei fehlt ebenfalls nicht. Muskelschmerzen sind htiufig. Bei
fruher Entfernung der Kinder von der Quelle der Vergiftung tritt (lenesung
ein; iibrigens erholen sich die Handmuskeln erst in langerer Zeit. als die
der Beine. Gefahrlieh sind die seltenercn Lahmungen des Zwerchfells und
des Herzens. Anamie, voriibergehende Albuminuric, eel tenor interstitielle
Nephritis kommen vor. Eklamptische Anfii'le nehmen oft einen lebens-
gefahrlichen Charakter an. Sehr oft findet man Neuritis optica mit eventuellem
Ausgang in vollkommene Erblindung. 1st neben der Neuritis noch Abdueens-
lahmung vorhanden. so ist der Ausgang; weniger fatal, als wenn der
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108 Bernhardt, Der Anteil der Funktion
Oculomotoriuf ergriffen ist; dann tritt fast ausnahmslos partielle Erblindung
ein. Interesaant ist die Tatsache, dass Turner bei Kindern mit Opticus-
neuritis niemals Gliederlahmungen beobachtet hat. Beide Formen der
Erkrankung kommen oft in einer Fa mi lie vor. Die prophylaktische Therapie
beeteht nach Turner in dem Ersatz des gefahrlichen Bleianstrichs durch den
mit ZinkweisB.
Die Meinung der Autoren (Remak, Bernhardt, Teleky), dass
die Pradilektion der Bleilahmung bei Kindern fiir die unteren
Extremitaten auf die starkere Aktivitat der unteren vor den
oberen Gbedmassen bei den nicht arbeitenden Kindern zu beziehen
sei, tvird auch durch diese Tumersche Beobachtung gewdssermassen
bestatigt, insofem nach diesem Autor eine Radialislahmung kaum
bei Kindern unter 12 Jahren vorkommt. Es ist doch aber auch
andererseits nicht zu verkennen, dass in fast alien Mitteilungen
fiber Bleilahmungen bei Kindern zwar das bei Erwachseneo so
seltene Ergriffensein der unteren Extremitaten hervorgehoben,
dass aber doch die Beteiligung der oberen Extremitaten auch bei
Kindern weit unter 12 Jahren kaum in einem Falle vermisst wird.
Nimmt man dazu noch die Mitteilung von Turner iiber die
Beteiligung auch von Himnerven (Opticus, Augenmuskelnerven)
der Nieren etc., so drangt sich doch unwillkiirlich die Vermutung
auf, dass gerade der kindliche Organismus befahigter erscheint,
den Giftstoff eher, schneller und intensiver aufzimehmen, als dies
bei Erwachsenen der Fall ist. Auch die Kinder, die wie Anker und
Oppenheim es wahrscheinlich zu machen versuchen, an angeborener
Bleilahmung leiden, zeigten Beteiligung des Radialisgebietes. In
meiner oben zitierten Arbeit (tfal&oa’sK-Festschrift) sagte ich
dariiber, was ich hiermit wiederhole: Ich wiirde mich der Meinung
Remaka (oben von mir angegeben) unbedingt anschliessen, lage
nicht in den sogenannten angeborenen Bleilahmungen, die sofort
nach der Geburt an den unteren Extremitaten gesehen worden
sein sollen, ein schwenviegendes Argument gegen diese Annahme
vor. Aber die Tatsache des Angeborenseins einer Bleilahmung ist
bis heute noch nicht mit der uninschensiverten Sicherheit festgestettt.
Anhangsweise mochte ich hier noch kurz auf meine Arbeit
aus dem Jahre 1891 (Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk.) ,,Ueber
die ohne emeute Intoxikation rezidivierenden Koliken und Lah-
mungen bei Bleikranken“ hinweisen, die im wesentlichen mit den
Auslassungen Edingers (1. c., S. 33) ubereinstimmt.
Zum Schluss will ich noch kurz eine Beobachtung iiber eine
durch bestimmte berufliche Ueberanstrengung bestimmter Muskel-
gruppen resp. Nervengebiete entstandeneLahmung mitteilen. Ueber
derartige ,,Beschdltigungsldhmungen u liegt schon eine grosse An-
zahl von Beobaehtungen vor (man vergl. die Arbeiten, besonders
von E. Remak und von mir selbst). Nur eine Art von Beschaftigungs-
lahmung, die sogenannte Kellnerldhmung (Waiter‘s Paralysis) hat
bisher nur wenige kasuistische Mitteilungen aufzuweisen. Wahrend
es in dem von mir in der Festschrift fiir Leyden (Berlin 1902) be-
schriebenen Fall die radialisinnervierten Extensoren der linken
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an der Entstehung von Nervenkrankheiten.
109
Hand waren, die durch die Beschaftigung des Kellners paretisch
geworden waren und ahnlich auch die Strecker und Supinatoren
der linken Hand im Runge schen Fall bei einem Kellner gelitten
hatten, konnte ich neuerdings einen 41 jahrigen Kellner beobachten,
bei dem durch seine Beschaftigung eine lahmungsartige Schwache
der ulnarinnervierten Muskeln seiner linken Hand eingetreten war.
Er hatte in einem sehr frequentierten Restaurant taglich viele
mit Speisen gefiillte Teller mit seiner linken Hand zu halten und
zu prasentieren und sehr haufig 5—6 Glaser Bier mit derselben Hand
herbeizubringen.
Das erste Spatium interosseum war an der linken Hand ein-
gesunken; der vierte Finger stand vom fiinften, der dritte vom
vierten ab; das Spreizen und Aneinanderbringen der Finger kam
nur miihsam zustande. Der vierte und fiinfte Finger standen in
Krallenstellung. Der linke Kleinfingerballen war diinn, im deut-
lichen Gegensatz zum rechten. Die Adduktion des linken Daumens
an den Zeigefinger kam nur schwach und wirkungslos zustande:
der dynamometrische Druck der linken Hand war gegen rechts
ungemein schwach (10 gegen 75). Gegenstande, die zwischen dem
linken Daumen und Zeigefinger festgehalten werden soil ten, konnten
mit der grijssten Leichtigkeit, wieder im Gegensatz zu rechts,
entfernt werden. Die elektrische Untersuchung wies das Bestehen
einer sogenannten partiellen Entartungsreaktion in dem paretischen
Nerv-Muskelgebiet nach.
Auch hier also war die, wie es scheint, bisher noch nicht
beschriebene Art der Kellnerlahmung (Ulnarisgebiet) an der linken
Hand, derjenigen, mit der die Kellner besonders oft und angestrengt
zu agieren haben, ausgepragt.
Es ist dies der einzige Fall dieser Art, den ich bis jetzt bei
einer ungemein grossen Anzahl von Kellnem, die ich jahraus
jahrein zu beobachten und zu behandeln habe, beobachten konnte.
Unser Pat. war nie syphilitisch gewesen und hatte auch, seiner
Angabe nach, nur in sehr massiger Weise Bier getrunken. Ob
nicht doch eine gewisse Predisposition durch den Alkoholgenuss
auch bei ihm vorauszusetzen war, will ich dahingestellt sein lassen.
Jedenfalls habe ich einen derartigen Fall, ich kann wohl sagen,
unter Hunderten von Kellnem noch nicht beobachtet. Dass nicht
mehr Kellner an Lahmungen ihres Radial- oder Ulnargebietes
erkranken, mag wohl daher kommen, dass nicht alle in so intensiver
Weise bei der Aufwartung der Gaste iiberanstrengt werden;
es mag dies wohl eine Ausnahme sein, resp. sich bei anderen, in ahn-
licher Beschaftigung stehenden Individuen, die robust und kraftig
genug sind, um die beschriebenen Anstrengungen leichter zu er-
tragen oder zu uberwinden, sich als eine uberanstrengende Schadi-
gung nicht geltend machen. Ich betone zum Schluss, dass die von
den Kellnerlahmungen betroffenen Individuen, soviet ich weiss
samtlich Rechtshander waren und ihre Lahmungen nur auf die
Ueberanstrengung ihrer linken oberen Extremitat zuriiekfuhrten.
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no
Sano , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
(Aus dem anatomischen Laboratoriurn der psychiatrisehen und Nerve n-
klinik der Charity.)
Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra,
des Corpus Luysii und der Zona incerta.
Von
Dr. TORATA SANO.
(Hierzu Tafel XI—XU.)
Ueber die Substantia nigra Soemmerringi und das Corpus
Luysii liegen Beschreibungen hervorragender Forscher vor. Trotz-
dem sind noeh viele Punkte unaufgeklart geblieben, auch sind
viele Saugetiereordnungen mit Bezug auf diese beiden Kerne noch
nicht untersucht worden. Daher habe ich auf Anregung und mit
liebenswurdigster Unterstutzung vom Herrn Geheimrat Ziehen
versucht, im Folgenden eine vergleichend anatomische Beschreibung
dieser Kerne zu geben, und zwar habe ich mich in dieser ersten
Abhandlung ganz auf die Untersuehung von Pal-Serien beschrankt.
Bevor ich an die Beschreibung dieser Gebiete herangehe, sei iiber
das Historische und die heutige Auffassung der beiden Gebiete berichtet 1 )-
Es ist dies um so notwendiger. als die in Frage kommenden Bezeichnungen
durchaus nicht stets in dem gleichen Sinne verwendet worden sind. Ich
habe dabei zugleich auch einige Nachbargebiete beriicksichtigt, w r ie z. B.
die Zona incerta, die ventralen Thalamuskeme und das Pedamentum
laterale, welche zu dem Corpus Luysii und der Substantia nigra in engster
Beziehung stehen.
1. Substantia nigra.
Die crate Beschreibung stammt von Vicq (TAzyr *). Die Bezeichnung
Substantia nigra Soemmerringi ist daher eigentlich, wie iibrigens bereits
von anderer Seite hervorgehobon worden ist, unrichtig. Vicq (TAzyr
bezeichnet die Substantia nigra als locus niger crurum cerebri und bildet
sie auf Tafel XXII seines grossen Werkes ab. Eine niihere Beschreibung
wird nicht gegeben, doch ist seine Arbeit auch insofern interessant, als er
bereits die Langsbiindel der Substantia nigra zu kennen scheint. Das Werk
Vicq cTAzyrs stammt aus dem Jahre 1786. Erst 5 Jahre spater erwahnt
Soemmerring die Substantia nigra kurz unter dem ihr von Vicq (TAzyr ge-
gebenen Namen 3 ).
Gall gibt in seinem Hauptwerk keine eingehende Beschreibung, bildet
aber auf Tafel XII die Substantia nigra ziemlich naturgetreu ab und be¬
zeichnet sie als „Substance noiratre du cerveau 44 4 ).
*) Die Abhandlungen von Jacobsohn und Bauer waren bei Abschluss
moiner Arbeit (Weihnachten 1908) noch nicht erschienen.
2 ) Vicq TAzyr , Traite d'anatomie et de physiologic, Tome premier,
1786—1790, Tafel XXII.
3 ) Soemmerring , Hirnlehre und Nervenlehrc. Frankfurt a. M. 1791.
S. 37, § 45.
*) GaU et Spurzheim , Anatomie et physiologic du systeme nerveux
en general et du cerveau en particulier, avec des observations sur la possi¬
bility de reconnoitre plusieurs dispositions intellectuelles et morales de
riiomme et des animaux, par la configuration de leurs tetes. Paris 1810.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona ineerta. Ill
Die erste eingehendere Beschreibung der Substantia nigra verdanken
wir Burdock , der sie folgendermassen schildert: ,,Die schwarzgraue Schicht
(Stratum nigrum) besteht aus einer Modifikation der grauen Substanz
und ist besonders nach hinten und innen sehwarz oder vielmehr violett,
nach vorae und aussen mehr braun. Sie ist nach vorne gewolbt, nach hinten
ausgehohlt und zeigt sich daher auf dem wagerechten Durchschnitte als ein
Halbkreis, der sich hinter beiden Himschenkeln erstreekt. Sie fangt iiber
der Briicke an, wo die Himschenkel zu divergieren beginnen, und bildet
den an diesen anliegenden vordern Teil der Haubo. Ihre aussem Rander
liegen namlich in der Kerbe oder der Einschniirung zwischen Schenkehi
und Haube; ihre vordere Wolbung liegt hinter dem hintem Blatte des
inneren Hiilsenstrangs, und ihre hintre Hohlung umfasst die vordre Flache
der Haube; nach innen aber zieht sie sich ununterbrochen durch die Mittel-
linie heriiber und bildet den Boden des Einschnitts, welcher an der vordern
Flache zwischen beiden Grosshimschenkeln bleibt. Sie enthalt Blatter,
welche ebenso gestellt sind als die der Himschenkel, und scheint zum
vordern Teil des Olivenkernstranges zu gehoren; wenn man sie von oben
nach unten abschalt, kommt man mit der Faserung in die Oliven" 1 ).
Viel spater erwahnt Luys die Substantia nigra nur kurz unter dem
Namen locus niger de Soemmerring. Es ist mir sehr wahrscheinlich, dass
die jetzt iibliche Bezeichnimg ,,Substantia nigra Soemmerringi“ auf diese
Stelle im Luy *schen Werk zuriickgeht 2 ), da dieses sehr verbreitet gewesen
ist. Er erwahnt dabei, dass die Zellen der Substantia nigra sehr oft polygonal
und mit mehreren Fortsatzen versehen sind und starker farbbar und pig-
mentiert sind.
Meynert betrachtet die Soemmerringsche Substanz als drittes Ursprungs-
ganglion des Himschenkelfusses, und zwar ist sie nach seiner Auffassung
nur an der Bildung des mittleren und inneren Areals des Grosshirnschenkel-
fusses beteiligt. 3 ) Von der zentralen Seite soli in ihr ein diinner Stabkranz-
facher endigen. Peripheriewarts entspringen aus ihr Biindel, welche die
inner© und mittlere Region des Himschenkelquerschnittes mit einem Netz
durchflechten. Dies Netz enthalt z. T. vorgeschobene pigmentierte Zellen
der Substantia nigra, z. T. Zellen eines sehr kleinen Kaubers 4 ).
Im Jahre 1874 beschreibt Meynert 6 ) eine feinbiindelige, den ganzen
Strahlenbogen der inneren Kapsel umfassende Schicht, welche nach dem
Himschenkel konvergiert und in das vorderste Stratum der Haube auslauft.
Dieser Stabkranzfacher soli sich hier mit dem flachenhaften, rinnenformigen
Ganglion der schwarzen Substanz Soemmerrings verbinden, und aus dem
Ganglion sollen seine Biindel sich dann nach abwarts fortsetzen. Die Biindel
aus der Soemmerringschen Substanz scheinen sich mit den Schleifenbiindeln
zu verweben. Wahrscheinlich enden die Biindel des vordersten Stratums
der Haube in den Zellmassen, die innerhalb der oberen Briickenhalfte der
Schleifenschicht allerorts eingestreut sind. Das vorderste Haubenstratum
wird von Meynert auch als „Pedunculus substantiae nigrae“ bezeichnet 5 ).
Auch in seiner Psychiatric 4 ) spricht Meynert von einem Stratum
intermedium, das den Langsbiindeln der Substantia nigra der neueren
Autoren entspricht. Er nimmt an, dass das Stratum intermedium seine
1 ) Karl Friedrich Burdock, VomBaue und Leben des Gehirns. Leipzig
1822. Bd. 2. S. 101. § 164.
*) J. Luys, Recherches sur le system© nerveux cerebrospinal, sa
structtire, ses fonctions et ses maladies. Paris, J. B. Bailliere et fils, 1865.
S. 152.
3 ) Strickers Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig 1872.
Bd. 2. S. 730.
4 ) Meynert verweist hier auf eine Stelle seiner Arbeit in Strickers
Handbuch, S. 754, Z. 13 v. o. Ich finde an dieser Stelle keinen Hinweis
auf den Pedunculus substantiae nigrae.
4 ) Skizze des menschlichen Himstammes etc. Arch. f. Psychiatric.
1874. Bd. 4. S. 390.
•) Meynert, Psychiatrie. Wien 1884, S. 97 mit Fig. 40 und 41 u. S. 124.
Monateachrlit flir Psychiatrie ana Neurolo?ie. 3d. XXVII. Heft 2. 8
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112
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
Fasem aus dem Linsenkem bezieht und in die Vorderstrange des Riicken-
marks gelangt. Flechsig 1 * * ) vermutet 1876, dass der Pedunculus substantiae
nigrae Meynerta mit den Stillingschen Langsbiindeln vom Fuss zur Haube
identisch sei.
In seiner grossen Veroffentlichung iiber die Haubenregion des Menschen
und der Saugetiere gibt Forel *) auch eine ausfiihrliche Darstellung der
Substantia nigra. Ich fiihre hier nur folgende Stelle wortlich an s ): „Diese
Formation orstreckt sich nach oben bis nahezu zur Gegend des Corpus
mamiilare, tritt aber dabei in immer nahere Beziehungen zurn Himschenkel-
fuss. Die zuerst breiter gewordene. vorhin erwahnte Schieht unbestimmter
grauer Substanz, in der die Pigmentzellen liegen, und welche auch viele
kleinere, stets pigmentlose Nervenzellen enthalt, bekommt namlich eine
immer grossere Anzahl Fasern, wird wieder allmahlich kleiner, erhalt dorsal
eine scharfo Grenze und wird zugleich immer mehr dem am meisten medial
gelegenen dorsalen Teil des Himschenkels einverleibt. Bei alien Saugetieren
ist die Substantia nigra, beziehlingsweise sind deren aquivalente Schichten
an derselben Stelle, nur nach oben zu weniger scharf begrenzt, vorhanden.
Aber beim Menschen allein enthalt sie Pigmentzellen, schon beim Affen
(Macacus, Hapale) nicht mehr.“ Den von Meynert so benannten Pedunculus
substantiae nigrae konnte Forel nie sehen, ebensowenig beim Menschen
als bei Tieren. Die von Meynert angegebonen Verbindungen des Pedunculus
substantiae nigrae halt Forel fur nicht bewiesen. lm allgemeinen ist er
geneigt, die Substantia nigra nicht mit den grossen Himganglien, sondem
mit der Substantia ferruginea in Parallele zu setzen.
Henle gibt an, dass die Substantia nigra in sagittaler Richtung sich
v<^m vorderen Rand der Briicke bis iiber den hinteren Rand der Corpora
candicantia erstreckt und im Frontalschnitt eine maximale Hohe von 2 bis
3 mm hat; ihre dunkel pigmentierten Zellen sollen von sehr verschiedener
Form und etwas geringerer Grosse als die Zellen des Locus coeruleus sein 4 ).
Schwalbe 5 6 ) identifiziert den Pedunculus substantiae nigrae Meynerta
mit den Biindeln vom Fuss zur Haube, die Meynert ebenfalls beschrieben
hatte imd die im Gebiet der Briicke medullarwarta vom Fuss zur Haube
iibertreten sollen.
Wernicke*) nimmt an, dass die Substantia nigra zahlreiche Langsfasern
in den Fuss entsendet und ihm so ein streifiges Aussehen verleiht. Die
zahlreichen Faserquerschnitte im Gebiet der Substantia nigra leitet Wernicke
von Zuziigen aus dem Linsenkern ab. Die letzteren betrachtet er als die
zentrale Faserung der Substantia nigra und die dem Fuss zuzielienden
Langsfasern als ihre indirekte Fortsetzung. Am oberen Rand der Substantia
nigra beschreibt er einen schwach markweissen Saum, ,,eine Art von Mark-
kapsel der Substantia nigra“. Er akzoptiert weiterhin die Meynerta che
Aiiffassung der Substantia nigra als Ursprungsganglion von Fasem des
Himschenkelfusses. Er stiitzt sich dabei namentlich auf die Tatsache, dass
medullarwarta parallel mit der Abnahme der Substantia nigra der Umfang
des Himschenkelfusses zunimmt.
Aus Kahlers 7 ) Darstellung hebe ich nur hervor, dass derselbe ausdriick-
lich betont, dass das Markfeld des Grosshimschenkels oral warts an Umfang
veriiert, wahrend die Substantia nigra wachst.
l ) Die Leitlmgsbahnen im Gehim und Riickenmark etc. Leipzig 1876.
S. 337.
*) Arch. f. Psychiatrie. 1877. Bd. 7 u. Gesamm. himanatom. Ab-
handlungen. Miinchen 1907. S. 45.
’) L. c. S. 109.
4 ) J. Henle, Handbuch der Nervenlehre des Menschen. 1879. 2. Aufl.
S. 279.
5 ) Schwalbe , Lehrbuch der Neurologic. 1881. S. 621, 629, 643.
6 ) Lehrbuch der Gehirakrankheiten. 1881. Bd. 1. S. 99 u. 104.
7 ) In Toldta Lehrb. d. Gewebelehre. Stuttgart 1884. S. 249.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 113
Mingazzini hat seine mikroekopische Untersuchung der Substantia
nigra auf den Menschen beschrankt. Er gelangt zur Unterscheidung zweier
Schichten, einer dorsalen und einer ventralen. Die erstere enthalt Pyramiden-
zellen, die letztere atypische Zellen. Die Achsenzylinderfortsatze der
Pyramidenzellen sollen haubenwarts aufsteigen. Die Achsenzylinder der
atypischen ventralen Zellen sollen of ter lateral als ventral gegen den Fuss
hinziehen und nur ausnahmsweise zur Haube. Zellen des 11. Golgischen
Typus sollen nicht vorkommen 1 ).
Durch Studien an Pal- und Golgipraparaten gelangt Amaldi zu der
Anschauung, dass die Substantia nigra lm weiteren Sinne die Gegend, die
sich vom Pes pedunculi um den Lemniscus medialis herumzieht und durch
die Formatio reticularis bis zum Locus coeruleus erstreckt, umfasst und
sich einerseits bis iiber den oralen Rand der Corpora mamillaria
und andererseits bis in das Briickengebiet erstreckt. Auch behauptet er,
dass die Substantia nigra mit dem Kern der lateralen Schleife zusammen-
hangt, und rechnet zu ihr auch die dorsal von der medialen Schleife gelegene
graue Masse. Da nun diese wieder durch pigmenthaltige Zellen der Formatio
reticularis mit der Substantia ferruginea zusammenhangt, glaubt er eine
,, topographische Einheit zwischen der Substantia nigra und der Substantia
ferruginea" nachgewiesen zu haben. Dabei hebt er (ibrigens selbst Ver-
schiedenheiten der Pigmentation zwischen beiden Gebilden hervor*).
Nach Mirto *) gehoren die Zellen der Substantia nigra zu den Zellen
des 1. Typus von Golgi. Ihre Axonen treten in die Haube ein, um hier wahr-
scheinlich in zentripetale Fasem iiberzugehen. Mirto betrachtet die Sub¬
stantia nigra als ein abgesprengtes Stuck des Globus pallidus. Der
Pedunculus substantiae nigrae ist also nicht mit dem Stratum intermedium
identisch, sondem besteht aus den oben erwahnten, in der Substantia nigra
entspringenden, in der Haube zentralwarts verlaufenden Fasem. Das Stratum
intermedivun soli sich aus Fasem des hinteren Schenkels der inneren Kapsel
zusammensetzen und weiterhin mit den anderen Fasem des Pes pedunculi in
die Briicke gelangen. Ausserdem beschreibt Mirto Fasem, welche aus dem
„medialen und ausseren" Abschnitt des Fusses durch die Substantia nigra
in die Haube iibertreten sollen, um hier vielleicht in der Schleife spinalw&rts
zu ziehen. Er scheint sie zu den Pyramidenfasem zu rechnen. Endlich
sollen dieselben Fasem des Fusses auch kurze Kollateralen zur Substantia
nigra abgeben.
Nach Bechterew 4 ) steht die Substantia nigra vorzugsweise mit den
„hinteren lateralen Stimwindungen imd den unmittelbar iiber der Fossa
Sylvii befindlichen Rindengebieten" in Zusammenhang, vielleicht auch
mit dem Nucleus cuneatus, und zwar durch einen Faserzug, der teils im
lateralen Teil der Substantia nigra selbst, teils im Stratum intermedium
Meynerts liegt. Ausserdem soil sie Fasem zur Haube und anscheinend auch
zum Himschenkel spinal warts abgeben. Fraglos erscheinen ihm auch Be-
ziehungen zur Schleife.
Auf die pathologisch-anatomischen Befunde von Jelgersma , Werdnig ,
v. Monakow, Witkowshi u. A. kann hier nur hingewiesen werden.
J ) Mingazzini , Sur la fine structure de la substantia nigra Soemmer-
ringi. Archives italiennes de biologie, 1889, Bd. 12, S. 93—98 u. Mem. della
R. Acc. dei Lincei Roma 1888, sowie neuerdings Monatsschr. f. Psychiatrie
u. Neurol. Bd. 15. S. 345.
*) P. Amaldi , Contributo all* anatomia fina della regione peduncolare
et particolarmente del locus niger del Soemmerring. Riv. sper. di freniatria.
1892. Vol. 18. S. 49.
3 ) D. Mirto , Sulla fina anatomia della regione peduncolare e subtalamica
nell* uomo — Nota preliminare. Rivista di Patologia mental© e nervosa.
1896. S. 57.
4 ) Bechterew , Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark. Leipzig
1899, nam. S. 308 u. 511.
8 *
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114
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatom ie
Kolliker 1 ) beschreibt ais „Fasciculi longitudinales intermedii 44 die
st&rkeren Langsbiindel in den lateralen Teilen aer Substantia nigra. Seine
Bemerkung: ,,diesel ben scheinen mit dem lateralen Teile des Lemniscus
medialis sich zu entwickeln 44 , ist nicht ganz eindeutig.
Dejerine l ) gibt iiber die Substantia nigra nur ganz kurz an, dass ihre
Fasem vorzugsweise aus dem oberen Teil der Rolandoachen Region stammen
und das Stratum intermedium bilden. Er behauptet, dass diese Fasern nur
zum Teil in der Substantia nigra endigen, zum Teil aber die Substantia nigra
durohziehen und d&nn in die Haube eintreten. Hier sollen sie sich wahrend
einer Strecke ihres Verlaufs der medialen Schleife anschliessen. Sie sind
mit der Fussschleife Flechsigs (Schlesingers lateralen pontinen Biindeln),
Dejerine# „pes lemniscus profond 44 identisch und sollen nach Dejtrine spater
zur Pyramidenbahn wieder zuriickkehren.
Ramon y Cajal 8 ) unterscheidet an Nisslpraparaten in der Substantia
nigra zwei Zonen, eine untere zellarme und eine obere schmalere zellreiche.
Am medialen Pol der letzteren hebt sich nochmals eine dichte Gruppe etwas
grosserer Zellen ab. Die aus den Zellen beider Zonen entspringenden Fasern
gelangen in gewelltem Verlauf dorsomedialwarts in die Haube 4 ). Bei der
Maus konnte Ramon y Cajal sie bis zur hinteren Kommissur verfolgen.
2. Corpus Luysii.
Die ersie Beschreibung des Corpus Luysii findet sich in dem Haupt-
werk von Luys . Ich fiihre seine Beschreibung wortlich an: „Ces fibres
eff£rentes (namlich eine Gruppeder„fibres efterentesdes olives sup6rieiires“ 5 ),
loin de se constituer en plexus reticules comme les prec&lentes, arrivent
toutes, dans des directions vari6es, k la rencontre les unes des autres, s’ana-
stomosent r^ciproquement, et constituent bientot, par leur agglomeration et
leur intrication intime, un nouvel amas de substance grise special, dispose
sous forme de bandelette semi-lunaire, qui devient a son tour un foyer de
dissemination d’une nouvelle generation d'elements nerveux. — Cette
bandelette accessoire de 1’ olive superieure form6e ainsi par le groupement
d’une portion de ses fibres efferentes, se presente sous 1’aspect d’un amas
de substance grisatre, dispose sous forme lineaire, renfle dans sa portion
mediane, et attenue a chacune de ses extremites: elle r6pond en arriere et
en dedans, k l’irradiation des fibrilles venues de 1’olive superieure correspon-
dante et en dehors, k la concavite des fibres spinales ascendantes, disposees
(ainsi que nous l’avons indiqu6 dej a, au moment ou elles plongent dans la
substance grise du corps strie) sous l’aspect de trois cones emboit4s; sa
situation est telle, par rapport a 1’ensemble des fibres spinales ascendantes,
qu’elle coupe leur direction suivant un plan transversal, et que sa portion
renfiee, qui est un foyer d’irradiations d’un nombre inf ini de fibrilles jau-
natres, regarde directement celles des fibres spinales qui forment 1’arcade la
plus interne, et qui se trouvent 6talees, a ce moment de leur parcours, suivant
une ligne courbe continue. — La composition 616mentaire du tissu de la
bandelette accessoire presente de grandes analogies avec celle des olives
sup^rieures. II est dense et coherent, et d’une coloration blanc jaunatre en
g£n£ral. Les fibrilles nerveuses, ainsi que les cellules, sont toutes tree-
difficiles a isoler. Ces dernidres, dont le volume et l’aspect rappellent assez
bien les caract^res propres dee cellules des corps olivaires, sont aussi quelque-
fois tres-fortement pigment4es. Leurs prolongements, qui sont en g^n^ral
x ) Kdlliker , Handb. d. Gewebelehre. 1893. S. 225 u. Fig. 460.
*) Dejerine , J., Anatomie dee centres nerveux. Paris 1901. Bd. 2.
S. 81 u. 51.
•) Ramon y Cajal , Textura del sistema nervioso del hombre y de los
vertebrados. 1904. S. 561. Fig. 493, 508 u. 509.
4 ) Irrtiimlich identifiziert Ramon y Cajal diese Fasern mit dem
Pedunculus substantiae nigrae. S. 225. Fig. 460.
*) Als „01ive superieure 44 bezeichnet Luys den roten Kern.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 115
tres-courts, constituent, avec ceux des cellules du voisinage, un lacis la
plupart du temps inextricable“ etc. 1 * 5
Meynert erwahnt in der Abhandlung vom Gehim der Saugetiere das
Corpus Luysii nicht. Er scheint dieses vielmehr, wie auch Ford angibt,
zur Substantia nigra zu rechnen 3 ).
Die erste genaue Beschreibung stammt von Ford 9 der auch die jetzt
iibliche Bezeichnung Corpus Luysii eingefuhrt hat 3 ). Der Luys sche Korper
ist nach Ford eine aimahernd linsenformige Masse, welche etwa in der
Querebene des Meynertschen Biindels mit einem klcinen spindelformigen,
dicht dorsal auf dem Himschenkelfuss imd auf dem oberen Teil der Sub¬
stantia nigra aufliegenden Querschnitt anfangt, der dann nach oben zu,
seine Lage beibehaltend, rasch in alien Dimensionen wachst, eine ausge-
zeichnete Spindelform mit etwas mehr konvexer dorsaler Flache zeigt und
schliesslich den ganzen Pes pedunculi dorsal und etwas medial scharf ab-
grenzt. Seinen grossten Umfang erreicht er in der Querebene dicht unter-
halb des Corpus mamillare. Nach oben zu wird der Querschnitt dann wieder
kleiner, bleibt aber stets spindelformig, bis er genau so wie imten in den
oberen Querebenen des Corpus mamillare verschwindet. Die grosste Dicke
betragt 3—4 mm, die grosste Breite 10—13 mm, die grosste Lange 7,5 mm.
Er enthalt ein dichteres Kapillarnetz als jeder andere Hirnteil. Hierauf
und auf das hellbraunliche Pigment seiner Ganglienzellen ist seine hell-
braunliche Farbe zuriickzufuhren. Er zeigt im grossen und ganzen zwei
Flachen, eine dorsale und eine ventrale, durch den vorspringenden stumpfen
Winkel gebrochene, feraer einen zirkularen Rand. Die dorsale mehr konvexe
Flache ist gegen die Zona incerta, die ventrale, mehr abgeflachte gegen den
Pes pedunculi und die innere Kapsel je von einer iiberall deutlichen, diinnen,
reinen Markkapsel begrenzt, deren Faserverlauf meist nicht zu entratseln
ist. Der zirkulare Rand ist oben und unten durch das Zusanmientreffen
beider Kapseln ziemlich abgeschlossen und zugescharft. Medial klaffen
beide Kapseln weit auseinander, so dass zahlreiche Fasern medialwarts
austreten. Ford kennt auch bereits, wie Luys , die aus der ventralen Mark¬
kapsel und dem Luysschen Korper sich in den Fuss und den imtersten Teil
der Capsula interna einsenkenden Faserbiindelchen. Bei Hapale soil der
Luyseche Korper fast kugelig sein und den Zellen das Pigment fehlen. Bei
Hund, Kaninchen und alien andem von Ford imtersuchten Tieren gibt es
nach Ford keinen begrenzten Luysachen Korper, sondem an seiner Stelle
nur eine ziemlich flache, undeutlich begrenzte Zellanhaiifung ohne auffallen-
den Gefassreiehtum 4 ),
Stilling beschrieb das Corpus Luysii unter dem Namen „Nucleus
amygdaliformis“ folgendermassen. Ein ziemlich betrachtlicher Teil der
Opticusfasern soil aus einem grossen, im Fuss des Grosshimschenkels ge-
legenen Kern entspringen, auf welchen man bei der Zerlegung erst dann
trifft, wenn von der Substantia nigra auf dem Schnitte nichts mehr zu
sehen ist. Der Kern zeigt auf Horizontal- wie Vertikalschnitten eine mandel-
formige Gestalt. Die in ilui eintretenden Faserziige des Tractus opticus
miissen, um zu ihm zu gelangen, mit ihrer urspriinglichen Richtung einen
Bogen bilden. Die ganze Lage des Kerns, seine Grosse etc. spricht nach
l ) J. Luya 9 Recherches sur le systdme nerveux c4r5bro-spinal, sa
structure, ses fonctions et ses maladies. Paris 1865. S. 143 ff. Vergl. auch
Iconographie. 1873.
*) Strickers Handbuch der Lehre von den Geweben. Leipzig 1872.
Bd. 2. S. 729.
# ) Die Bezeichnung „olive c4r6brale“ findet sich noch bei einzelnen
franzosischen Autoren, z. B. Debierre, La moelle epinidre et l'enc^phale.
Paris 1893. S. 292.
4 ) August Fordy Untersuchungen liber die Haubenregion imd ihre
oberen Verkniipfungen im Gehime dee Menschen und einiger Saugetiere,
mit Beitragen zu den Methoden der Gehimuntersuchungen. Archiv fur
Psychiatric. 1877. Bd. 7. S. 470—473 (Ges. himanat. Abh. S. 116 ff.).
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11G
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
StiUing dafiir, dass man in ihm ein reflektorisohe Erregungen vermittelndes
Ganglion zu suchen hat 1 ). 4
Henle 1 ) bezeichnet das Corpus Luysii als Corpus subthalamicum.
Es soil sowohl auf Frontal- wie auf Sagittaischnitten elliptische Form haben,
die grosste Hdhe wird auf 3—4 mm, der Flachendurchmesser auf etwa 10 mm
angegeben. Schwalbe 3 ) wiederholt nur die Forelschen Angaben.
Meynert 4 ) hat spater das Corpus Luysii als „Discus lentiformis 14 be¬
zeichnet. Er spricht auch von Biindeln, welche aus dem Luysschen Korper
durch die Haube bis in den hinteren Vierhiigelarm ziehen.
Kolliker & ) gibt den gross ten Querdurchmesser auf 9—10 mm, die grosste
Dicke auf 3,5 mm fur das gehartete Gehim an. Besonders wertvoll ist seine
Schilderung des Corpus Luysii eines menschlichen Embryo von 6 Monaten
und eines fast ausgetragenen Embryo. Er glaubt mit Stilling , dass die vom
Corpus Luysii aus den Fuss durchsetzenden Faserbiindel (Fasciculi perf orantes)
vom Tractus opticus entspringen. Speziell ist ihm auch eine Beziehung
zur Meynerts chen Kommissur unzweifelhaft. Im Gegensatz zu Ford schreibt
er auch dem Kaninchen, der Katze, Maus und Ratte ein gut entwickeltes
Corpus Luysii zu.
Eine spezielle Beschreibung des Luya schen Korpers des Maulwurfs
verdanken wir Oanser ®). Ich werde auf dieselbe spater zuriickkommen
imd hebe hier nur hervor, dass der Corpus Luysii auch bei dem Maulwurf
nach Oanser sehr reich an Gefassen ist.
Bechterew 7 ) glaubt bei 33—35 cm langen Foten bestimmt die Endigung
zentraler Schleifenbahnen im Corpus Luysii und Globus pallidus nachweisen
zu konnen.
Auf die experimentelle Untersuchung von MonaJcow und Mahaim •)
kann hier nur kurz hingewiesen werden, ebenso auf die Untersuchungen
von Darkschewitsch und Pribytkow 9 ).
Mirto 10 ) gibt in der obengenannten Arbeit auch eine kurze Beschreibung
des Corpus Luysii. Seine Zellen sollen zum ersten Go/gtschen Typus gehoren.
Die Axonen wenden sich teils zum Linaenkem, teils zum dorsalen Teil der
Substantia nigra und zum ventralen Teil des roten Kerns. Die Kapsel des
Corpus Luysii besteht zum Teil aus diesen im Corpus Luysii entspringenden
Fasem, zum Teil aus Fasem der Linsenkemschlinge.
Dejerine bildet das Corpus Luysii des Menschen wiederholt ab und
gibt eine etwas ausfiihrlichere Beschreibung. Er gibt abweichend von Ford
die Lange auf 10—f3 mm, die Breite auf 6—7 mm, die Dicke auf 3—4 mm
an. Die grosste Starke soli es auf Schnitten erreichen, welche die Corpora
mamillaria in ihrer Mitte schneiden. Besonders interessant sind seine topo-
graphischen Angaben iiber die Lage des Corpus Luysii auf Horizontal-
schnitten. Als Zona incerta fasst er das schmale graue Feld auf, welches
die Fordsohon Felder H 1 und H* trennt und eine ,,Dependenz“ der Gitter-
zone des Thalamus darstellen soil. Sie tremit, heisst es an einer anderen
Stelle, das Corpus Luysii von dem ventralen Teil des ausseren Sehhiigelkems.
Das Feld H 2 bezeichnet er als „faisceau lenticulaire“, das Feld H l als ,,faisceau
*) J. Staling , Ueber eine neue Ursprungsstelle der Sehnerven. Central-
blatt f. d. med. Wissensch. 1878. S. 385—386. Vgl. auch Untersuchungen
iiber den Bau der opt. Centralorgane. 1882. Teil 1 u. Arch. f. Psychiatrie.
1881. Bd. 11. S. 274.
2 ) Handb. d. Nervenlehre. 1879. S. 298.
3 ) Schwalbe , Lehrbuch der Neurologic. 1881. S. 647.
4 ) Meynert , Psychiatrie. Wien 1884. S. 50 u. 79.
5 ) Handb. d. Gewebelehre. 1893. 6. Aufl. S. 458.
6 ) Morph. Jahrb. 1882. Bd. 7.
7 ) Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark. Leipzig 1899. S. 241.
8 ) Arch. f. Psychiatrie. 1893. Bd. 25. S. 352 u. 354.
*) Neurol. Centralbl. 1891. S. 425. Dieselben behaupten ausgiebige
Beziehungen zur Meynerts chen Kommissur.
10 ) L. c. S. 58.
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des Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 117
thalaraique“. Als Kapsel des Corpus Luysii bezeichnet er nur seinen dorsalen
Markiiberzug, der aus dem Feld H* stammen soil. In letzteres soli auch
das vordere Ende des Corpus Luysii eingeschlossen sein (enclav6). Von
Verbindungen des Corpus Luysii zkhlt Dejerine folgende als sicher auf:
1. einzelne Fasern zu Feld H*;
2. ein reiches System von ^radiations strioluysiennes 14 ;
3. sparliche Rindenfasem aus dem hinteren Schenkel der inneren
Kapsel;
4. zahlreiche Fasern zur Decussatio subthalamioa posterior von Oanser.
Die Existenz der StiUingschen Fasern wird von Dejerine bestritten 1 ).
Ramon y Cajal beschreibt u. a. auch accessorische Luyssche Korper,
welche bei Katze imd Hund dadurch entstehen, dass einzelne Zellgruppen
durch starkere Faserbiindel abgespaltet werden. Dieser Autor gibt ausser-
dem eine exakte Beschreibung der Struktur des Ltiyrochen Korpers. Er be-
zieht sich dabei allenthalben auch auf das Corpus Luysii niederer Siiuger*).
3. Zona incerta.
Die urspriingliche Beschreibung von Forel 9 ) lautet wie folgt: Die Regio
subthalamica besteht im grossen und ganzen aus 3 Feldem: dem Luysschen
Korper, einer mittleren Schicht, die lateral in die Gitterschicht des Thalamus
ubergeht und die Forel als Zona incerta bezeichnet, und dem in die Lamina
medullaris externa sich fortsetzenden Feld H. Die mittlere Schicht. d. h. also
die Zona incerta enthalt verhaltnismassig mehr graue Substanz als die beiden
anderen und liegt undeutlich abgegrenzt zwischen beiden. Sie zeigt iiberall
sparliche, unscheinbare zellig Elements und oine ungemein feme und weit zer-
kluftete Faserung, welche.inden Querschnitten betrachtet, von derventralen
und medialen Seite her, dorsal- und lateralwarts, parallel der Langsachse der
Zona incerta im Querschnitt, zu verlaufon scheint. Ueber das Wohin und das
Woher dieser Fasern kann F. fast gar nichts sagen. Dass manche Fasern aus
dem Bindearm, aus dem roten Kern, aus dem Luysschen Korper darunter
sein konnen, scheint ihm klar; unterscheidbar seien sie aber nicht. Hochstens
konne man in den untersten Teilen der Zona incerta Faserziige wahmehmen,
die von der lateralen Flache des roten Kerns zur Gitterscliicht oder zum
Stabkranz zu verlaufen scheinen und sich eng an das grosse Biindel aus
dem roten Kern ansfchliessen. Vielleicht stammen solche Faserziige aus
der Schleifenschicht. Unten wird die Zona incerta zuerst zwischen der
Substantia nigra und dem grossen Biindel aus dem roten Kern sichtbar.
An dieser Stelle ist sie zwar von der Substantia nigra schon ziemlich scharf
abgegrenzt; dagegen wird sie von Fasern des grossen Biindels aus dem roten
Kern (der Schleifenschicht ?) und des unteren Endes vom Stabkranz viel-
fach durchsetzt. Oft scheinen die Biindelchen des grossen Biindels aus dem
roten Kern (der Schleifenschicht ?) durch den ventralen Teil des Thalamus,
die Zona incerta und die Gitterschicht hindurch in den Stabkranz zu ge-
langen. Weiter oben setzt sich die Zona incerta, reiner werdend, zwischen
Lwysschem Korper und Lamina medullaris externa fort, lateral in die Gitter¬
schicht des Thalamus iibergehend, wird dann durch das Markbiindel H 2
in zwei Abteilungen geteilt, deren dorsale allein mit der Gitterschicht in
Verbindimg bleibt und welche beide spater wieder zusammenfliessen, um
bald darauf zu verschwinden, indem an ihre Stelle die Substantia innominata
tritt. Medialwarts geht allenthalben die Zona incerta unabgrenzbar in das
zentrale Hohlengrau des III. Ventrikels iiber, von welchem sie nur strecken-
weise durch das Vicq d’Azyrsch© Biindel und durch die Radix anterior des
Fornix getrennt wird.
Dejerine , J., Anatomic des centres nerveux. Paris 1901. Bd. 2.
S. 394 u. 397.
f ) Ramon y Cajal , Textura del sistema nervioso del hombre y de los
vertebrados. 1904. S. 713 ff.
3 ) Arch. f. Psychiatric. Bd. 7. S. 477.
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118
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
Da nach Ford bei anderen Saugetieren sowohl da a Feld H als der
Zruy^sche Korper sehr undeutlich sind, so ist nach Ford „die unbestimrate
graue Substanz zwischen Lamina medullaris externa und Pes pedunculi
wohl hauptsachlich als der Zona incerta entsprechend zu betrachten 44 .
In der Folgezeit ist der Begriff der Zona incerta. wie ihn Ford auf-
gestellt hatte, nicht immer mit der wiinschenswerten Scharfe festgehalten
worden. Ich verweise z. B. auf die Figg. 641, 649 und 664 des Kollikerachen
Handbuchs. Insbesondere hat man haufig im Widerspruch mit der ur-
sprvinglichen Darstellung Fords den streckenweise von dem Feld H 1 2 * ab-
gespaltoten ventralen Streifen der Zona incerta nicht zu ihr gerechnet und
die Zona incerta einfach als die Gegend zwischen dem Feld H 1 und dem
Feld H a definiert. Hierlier gehort z. B. die oben bereits erwahnte Darstellung
Dejerines 1 ). Auch Marburg gibt eine Darstellung, welche cin solches Miss-
yerstandnis nicht ausschliesst 2 ). Ebenso ist die mediate Grenze nicht immer
in derselben Weise gezogen worden (vgl. unten S. 40).
Mirto 8 ) fasst die Zona incerta und das Forelsche Feld als eine einzige
Region imter dem Namen Substantia reticularis subthalamica 44 zusammen.
Sie soil aus Zellen des 1. Oolgi schen Typus bestehen, aus welchen Fasern des
Grundbiindels des Vorderseitenstrangs entspringen. Ausserdem soli sie
von Fasem durchzogen werden, die zum Toil dem Bindearm angehoren.
Die sorgtaltigste neuere Darstellung der Zona incerta verdanken wir
j Ramon y Cajal 4 * * * ). Nach seiner Beschroibung reiclit sie spinalwarts bis zum
Beginn der Substantia nigra. Frontalwarts hat sie keine scharfe Grenze,
sie scheint vielmehr mit dem von Ramon y Cajal beschriebenen Nucleus
capsulae internae zu verschmelzen. Sie enthalt zahlreiche teils zerstreute,
tells zu Gruppen zusammengeordnete Ganglienzellen von dreieckiger oder
spindelformiger Gestalt. Da diese graue Substanz nun dadurch scharf
charakterisiert wird, dass in ihr ,,absteigende Teilaste der grossen sensiblen
Bahn“ endigen. so spricht Ramon y Cajal von einem ^Nucleus zonae
incertae 44 (vgl. Fig. 613 u. 614).
Auf die Litoratur liber manche andere Nachbargebilde werde ich
erst bei der Einzeldarstellung naher eingehen, so kommen namentlich noch
in Betracht das Pedamentmn lateralo (Ziehen), die Substantia reticulata
medialis et lateralis pedis (Ziehen), der Nucleus tractus peduncularis
transversi (Beehterew ), der eben bereits erwahnte Nucleus .capsulae internae
(Ramon y Cajal) und der Nucleus intrapeduncularis.
Eigene Untersuchungen.
Als Material standen mir in erster Linie Pal-Serien von Mensch,
Macacus rhasus, Lemur catta, Kafcze, chinesischem Schwein,
Vespertilio murinus und Igel zur Verfugung. Andere Serien wurden
zum \>rgleich gelegentlich herangezogen.
1. Mensch.
In dieser wie in alien folgenden Beschreibungen beginne ich
mit dem caudalsten Schnitte, in welchem die Substantia nigra
zum ersten Male auftritt und verfolge die Serie in oraler Richtung.
1 ) L. c. S. 397.
2 ) O. Marbnrg, Miki\>skopisch-to^x)grftphischer Atlas des menschlichen
Zentralnervensvstems. 1904. 1. Aufl. 2. Aufl. 1910. S. 71.
a ) L. c. 'S. o9.
4 ) L. c. S. 719.
a ) Th . Ziehen, D*\s Zentralnervensystem der Monotremen und
Marsapiitlier. ./rruiische Denkschriften. Bd. 6. Jena 1908. Gustav Fischer,
S. 709; dossl. Bd. 6. S. 710 u. Bd. 6. II. Teil. S. 810.
*) Rechterew, Die Leitungsbahnen im Gehim und Huckenmark.
Leipzig 1899. S. 7»3o.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 119
Bei der Besprechung der menschlichen Serie beschranke ich mich
im wesentlichen auf Hervorhebung einiger, wie mir scheint, noch
nicht geniigend beachteter Einzelheiten.
Das erste Auftreten der Substantia nigra fallt in meiner Serie
auf Schnitt 305, welcher etwa das siebente Zehntel der Briicke
schneidet. Die Substantia nigra bildet hier ein nur eben erkenn-
bares Feld, ventral von der lateralstenPartie des Lemniscus medialis,
und ist von Briickengrau nur sehr schwer zu trennen.
Auf Schnitt 323 ( vgl. Fig. 1), welcher ventral das achte Zehntel
der Briicke schneidet, ist die Substantia nigra schmal und lang;
ihre Dicke betragt 3,7 mm. Sie ist von der Substantia perforata
posterior noch durch das Briickengrau getrennt und zwar durch
den medialen Zapfen desselben. Die Substantia reticulata medialis
pedis ist an der ventralen Seite des medialsten Teils der Substantia
nigra zu sehen, aber noch kaum mit Sicherheit von dem Briicken¬
grau zu trennen.
Der ventrale Rand der Substantia nigra lauft in ein kom-
pliziertes Maschenwerk aus, welches sich allenthalben in das
Areal des Fusses hineinstreckt. Unter diesen Auslaufem der Sub¬
stantia nigra fallt einer durch seine grosse Breite und Konstanz
auf; da er allenthalben im lateralen Teil der Substantia nigra
wiederkehrt, bezeichne ich ihn als Processus lateralis substantiae
nigrae. Er enthalt, wie der Hauptteil der Substantia nigra, dunkel-
pigmentierte Ganglienzellen.
Die dorsale Grenze der Substantia nigra wird dadurch etwas
verwischt, dass hier besonders zahlreich zerstreute Fasern, dorso¬
lateral aufsteigend, die Masse der Substantia nigra durchbrechen.
An das dorsolateralste Ende der Substantia nigra schliesst
sich ein kleines, sehr charakteristisches Feld an, welches keine
oder fast keine pigmentierte Ganglienzellen enthalt und daher
-wohl nicht zur Substantia nigra gerechnet werden darf. Es hangt
eng mit dem randstandigen Grau der Haube des Mittelhims
zusammen. Ich bezeichne dieses Feld, um nichts zu prajudizieren,
mit dem Buchstaben M.
Schon bei oberflachlicher Betrachtung unterscheidet man
ziemlich deutlich zwei Schichten der Substantia nigra, eine
dorsale mehr kompakte und eine ventrale mehr retikulierte
Schicht. Da diese beiden Schichten in der ganzen Sauge-
tierreihe wiederkehren werden, will ich sie als Zona compacta
substantiae nigrae und Zona reticulata substantiae nigrae unter-
scheiden. Die Zona reticulata enthalt zahlreiche grossere und
kleinere Biindelquerschnitte. Unter den Querschnittsbiindeln
der Zona reticulata sind diejenigen besonders bemerkenswert,
die im lateralsten Teil der Substantia nigra gelegen sind und sich
im Querschnitt teils rundlich, teils halbmondformig darstellen.
Von dem Fuss sind sie durch ein Maschenwerk grauer Substanz
getrennt. Es kann keinem Zweifel imterliegen, dass diese Biindel,
die spater untrennbar mit dem Fuss verschmelzen, als Fasciculi
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120
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic
pontini laterales Schlesingers 1 2 * ) (Pes lemniscus profond) aufzufassen
sind. Sie sind sonach auch identisch mit der sogenannten Fuss-
schleife von Flechsig*). Auch scheinen sie mit den Fasciculi longi-
tudinales intermedii von Kolliker *) im wesentlichen sich zu decken,
wenn sie auch auf der Kollikerschen Abbildung sich nicht so isoliert
aus der Substantia nigra abheben. Auf Figur 1 habe ich diese
Biindel mit Fpl bezeichnet.
Dorsal von den lateralen pontinen Biindeln und in einem ge-
wissen Abstand von ihnen findet sich eine Biindelgruppe, die auf
der Figur mit Fpl' bezeichnet ist und durch ihre schrage Schnitt-
richtung sich von den fast rein quergeschnittenen lateralen pontinen
Biindeln ziemlich deuthch unterscheidet. Sie stammt ebenso wie
die lateralen pontinen Biindel aus der medialen Schleife und wird
wie diese schliesshch dem Fuss einverleibt, lasst sich aber bis zu
ihrem Verschwinden im Fuss ganz deutlich von den lateralen pon¬
tinen Biindeln unterscheiden (s. unten).
Als Stratum intermedium peduneuli der Autoren wird nach der
iiblichen Nomenclatur die Schicht quer oder leicht schief getroffener
Fasem bezeichnet, welche sich in der Zona reticulata substantiae
nigrae unmittelbar dem Fuss anlagert. Es diirfte unzweckmassig
sein, die Fasciculi pontini laterales zu diesem Stratum intermedium
zu rechnen, obwohl sie sich allerdings lateral an dasselbe unmittel¬
bar anschliessen und sogar in individuell variierendem Mass in
dasselbe hineinragen 4 ). Sie unterscheiden sich von ihm vor allem
durch ihre ausgepragte biindelweise Anordnung. Auf dem in Rede
stehenden Schnitte bildet das Stratum intermedium noch keine
ganz geschlossene Formation, doch sieht man bereits allenthalben
quer- und schraggetroffene Fasem im basalsten Teil der
Substantia nirga, die, wie die weitere Verfolgung der Serie ergibt,
zum Stratum intermedium zu rechnen sind.
Die Zona compacta substantiae nigrae zeigt im Allgemeinen
sehr viele Fasem verschiedener Richtungen. Zwei komplizierte
Fasergebiete differenzieren sich deutlich von den iibrigen Teilen
der Zona compacta dadurch, dass sie dichtere Fasergeflechte
enthalten. Ich will, um nichts zu prajudizieren, vorlaufig das
laterale grossere als D 1 und das mediale kleinere als D m bezeichnen.
Beide Gebiete bestehen aus vielfach gewundenen, unregelmassig
verlaufenden Fasem, welche in D m im ganzen mehr transversale,
hingegen in D 1 sehr verschiedene Richtungen einschlagen. Ein
Teil der Fasem des Geflechtes D 1 zieht in ventrolateraler Richtung
zwischen der lateralsten Partie der Substantia nigra und dem
Feld M zum Fuss. Ein anderer Teil der Fasern dieses Geflechtes
sowie ein Teil der Fasern des Geflechtes D m zieht in das graue
1 ) Arbeiten a. d. Obersteinerschen Institut. 1896. Heft 4. S. 76 ff.
2 ) Neurol. Centralbl. 1886, S. 545.
*) Kolliker, A., Handbuch der Gewebelehre des Menschen. Leipzig
1896. 6. Auflago. Bd. 1. S. 225 u. Fig. 460.
4 ) Das auf Fig. 1 abgebildete Gehirn zeigt die Fasciculi pontini lateralis
auffallig weit medialwarts verschoben.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 121
Maschenwerk der Zona reticulata im Bereich der Fasciculi pontini
laterales. Medialwarts lost sich das Geflecht D m mehr und mehr
auf und nimmt dabei rasch an Faserreichtum ab; seine letzten
Reste lassen sich bis iiber die Mitte der Substantia nigra hinaus
medialwarts verfolgen. Noch weiter medialwarts sieht man im
dorsalen Abschnitt der Substantia nigra fast nur transversal ver-
laufende Fasern, die an einzelnen Stellen etwas kompaktere Biindel
bilden; von den Fasern der medialen Schleife unterscheiden sie
sich durch ihr feineres Kaliber. Die dorsaleren hangen mit der
ventralen Bindearmkreuzung, zum Teil auch mit der von Ziehen ')
sogenannten Hatscheks chen Kreuzung zusammen; die ventraleren
enden wohl wenigstens zum Teil in der Substantia perforata
posterior. Ueber das weitere Schicksal dieser Fasern, die ich in
ihrer Gesamtheit als Faserzug B bezeichnon will, werde ich bei
Besprechung der folgenden Schnitte Naheres mitteilen. Auf Fig. 1
sind sie nur undeutlich zu erkennen.
Am medialen Ende der Substantia nigra sieht man einige
starkere Biindelquerschnitte, die den Briickenfasem unmittelbar
anliegen. Ich bezeichne diese Biindel als Fasciculi pontini mediales
(Fpm). Zentrahvarts gesellen sie sich dem Fuss bei. Spinalwarts
scheinen dieselben grosstenteils oder samtlich in die mediale Schleife
iiberzutreten. Sie konnen also wohl zum ,,Schleifenbiindel zum
Fuss“ (Pes lemniscus superficiel) gerechnet werden.
Der Vollstandigkeit halber sei noch erwahnt, dass die dunklen
Biindelquerschnitte, welche man oberhalb der Substantia nigra,
etwa ihrer Mitte entsprechend, an der ventralen Grenze des roten
Kerns sieht, den Wurzelbiindeln des Oculomotorius angehoren.
Der Sehnitt 332 (vergl. Fig. 2) schneidet ventral noch das
vordere achte Zehntel der Briicke.
Die Substantia nigra ist grosser geworden. Ihre Dicke betragt
4,6 mm. Sie hangt einerseits mit der Substantia perforata posterior
und andererseits mit dem Grau der sehr schwach entwickelten
Substantia reticulata medialis pedis zusammen.
Die Zona compacta substantiae nigrae nimmt jetzt den grossten
Teil der Substantia nigra ein. In der Zona reticulata zeigen sich die
Fasciculi pontini laterales etwa ebenso stark wie frtiher, aber
vielleicht etwas lockerer angeordnet. Die Biindelgruppe Fpl'
behalt noch ihre friihere Lage.
Das Stratum intermedium ist etwas starker geworden.
In der Zona compacta hat sich das Geflecht D 1 noch weiter
ausgebreitet; es erstreckt sich noch immer bis in das graue Maschen¬
werk im Bereich der Fasciculi pontini laterales und mit einzelnen
Auslaufem bis in das laterale Fussareal. Das Geflecht D m gibt
ventralwarts fast keine Fasern mehr ab. Beide Geflechte haben
sich mit ihrer Hauptmasse zu einem ziemlich zusammenhangenden
*) Ziehen , Th Das Zentralnervensystem der Monotremen uud
Marsupialier. 4. Teil. S. 911.
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122
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
Feld quer oder schrag getroffener Fasem formiert, indem nur noch
relativ wenige transversale Fasem anzutreffen sind.
Der Faserzug B ist faserarmer geworden. Ein Teil seiner
Fasem lasst sich noch immer deutlich bis in die Gegend der Sub¬
stantia perforata posterior medialwarts verfolgen. Auch der
Zusammenhang mit den letzten Resten der ventralen Bindearm-
kreuzung bezw. Hatschekschen Kreuzung (y Bkr) ist noch immer
deutbch. Lateralwarts zieben die Fasern zwischen den Geflechten
D 1 und D m und der medialen Schleife zur Haube hinauf.
Dorsal vom Geflecht D 1 siebt man eine Gruppe schrag oder
fast quergeschnittener Fasem. Ueber das Schicksal dieser Gmppe,
die ich als Q bezeichne, sowie auch der den lateralen Pol des Him-
schenkels umkreisenden Fasem (c Pf) wird spater naher gesprochen
werden.
Der Schnitt 346 (vergl. Fig. 3) schneidet ventral das vordere .
neunte Zehntel der Briicke.
Die Dicke der Substantia nigra betragt hier 5,7 mm.
Das Geflecht D 1 ist noch erheblich starker geworden und steht
in noch engerer Beziehung als friiher zu der grauen Substanz im
Bereich der Fasciculi pontini laterales. Es ist hier offenbar mit dem
Fasciculus subthalamicopeduncularis von Marburg l ) identisch.
Die Marburgsche Bezeichnung scheint mir unzweckmassig, weil
sie viel zu allgemein ist*). Das Geflecht D m beschrankt sich jetzt
auf eine ziemlich komplizierte Biindelmasse, die auf der Figur
entsprechend bezeichnet ist.
Ventral vom roten Kern findet sich eine halbmondformige
Lage dicht gedrangter transversal verlaufender Fasern (Hm Sch),
in welche die Quersclinitte der Oculomotoriuswurzeln (Ocw) ein-
gebettet sind. Lateralwarts lassen sich diese Fasern mit denjenigen
der medialen Schleife in das laterale Haubengebiet verfolgen,
medialwarts gehen sie zum Teil in die Hatschek sche Kreuzung uber.
Auch ein Zusammenhang mit D 1 ist nicht ausgeschlossen. Ich
will dieses Feld als die halbmondformige Schicht bezeichnen. Mit
dem Faserzug B hat sie nichts zu tun. Der Faserzug B hat sich
vielmehr in dieser Ebene schon fast vollstandig erschopft.
Ventral von dieser Schicht ist eine zellarme Schicht (zaSch)
zu sehen, die durch die letzten Fasem des Faserzuges B von der
zellreichen Hauptmasse der Substantia nigra getrennt wird.
Uebrigens bemerke ich, dass medialwarts die zellarme Schicht
verschwindet und nur die zellreiche Schicht vorhanden ist.
Ein graues Feld A in der lateralsten Partie der Substantia
nigra und zwar unmittelbar lateral vom Processus lateralis sub¬
stantiae nigrae, unterscheidet sich deutlich von der Umgebung
*) Mikroskopisch-topographischer Atlas des menschlichen Zentral-
nervensystems. 2. Aufl. S. 65 u. Fig. 37 ff.
*) Marburg meint allerdings z. T. im Anschluss an DoUlcen (Neurol.
Zentralbl. 1899, S.50) mit der Bezeichnung „subthalamico“ speziell das Corpus
Luysiis. subthalamicum. Hiervon enthSlt aber das Wort nichts. Ausserdem
sind die Befunde Doll kens durchaus noch nicht als erwiesen zu betrachten.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 123
dadurch, dass es faserarmer ist und daher weit heller aussieht.
Auf den folgenden Schnitten kommen noch mehrere ahnliche
Felder hinzu, denen alien gemeinsam ist, dass sie sich lamellenartig
in das Fussareal hineinschieben. Ich will, um nichts zu prajudi-
zieren, diese grauen Lamellen samtlich als A-Felder bezeichnen.
Meines Erachtens lassen sich diese Felder nicht scharf von der
Substantia reticulata lateralis pedis Ziehens trennen. Von diesen
A-Feldem, bezw. der Substantia reticulata lateralis pedis muss
ein hakenformiges graues Feld (HF) scharf getrennt werden,
welches mit dem Feld M zusammenhangt und den Fuss an seinem
lateralen Ende vollstandig umgreift, so dass es sich zwischen das
Corpus geniculatum laterale und den Fuss einschiebt. Ich will
dieses Feld kurz als „Hakenfeld“ bezeichnen. In diesem Feld
tritt ein Faserzug R auf, welcher teils aus dem Feld M, teils viel-
leicht aus dem Geflecht D l zu entspringen scheint und innerhalb
des hakenformigen Feldes, langs getroffen, bis nah an die Basis
verfolgt werden kann. Auch ein Zuzug aus den Fibrae efferentes
tecti ist nicht ausgeschlossen. Ein Zusammenhang mit den in Fig. 2
abgebildeten, den lateralen Fusspol umkreisenden Fasern c Pf ist
sehr wahrscheinlich. Spinalwarts ist R sehr schwach entwickelt,
hingegen entwickelt R sich cerebralwarts immer machtiger, schiebt
sich wie auf diesem Schnitt zwischen die Substantia nigra und
das Feld M bezw. H F, scheint aber doch zu letzterem zu gehoren.
Das mit Gp bezeichnete Feld entspricht topographisch dem Gang¬
lion interpedunculare der iibrigen Sauger. Man sieht viele grossten-
teils quergetroffene feine Nervenfasem. Nur die basalsten gelangen
in die Querfaserung der Briicke, die iibrigen scheinen sich zu einem
grossen Teil in den Faserzug B zu begeben.
Wie man durch Verfolgung der Serie sich iiberzeugen kann,
ist die Biindelgruppe Fpl' ventraler geriickt. Ein betrachtlicher
Teil derselben findet sich im Feld A, wahrend ein anderer Teil
noch in dem Fuss bleibt. Beide Teile sind auf Obtrager 354 dem
Fuss einverleibt.
Der Schnitt 366 (vergl. Fig. 4) schneidet dorsal den spinalsten
Teil des Ganglion habenulae, ventral die ersten Austrittsbiindel
des Oculomotorius.
Die Substantia nigra ist hier 5,1 mm dick.
Die halbmondformige Schicht ist etwas breiter geworden und
enthalt auch hier fast keine Zellen. Die ventral von ihr gelegene
zellarme Schicht ist verschwunden, so dass die zellreiche Schicht
der Substantia nigra direkt an die halbmondformige Schicht an-
grenzt. Die noch nicht ausgetretenen Oculomotoriuswurzeln sind
jetzt grosstenteils aus der halbmondformigen Schicht in die Sub¬
stantia nigra getreten und noch immer quergetroffen 1 ).
Der Processus lateralis substantiae nigrae ist etwas grosser.
Die Zona reticulata und das Stratum intermedium*) ist noch immer
J ) Z. T. hangt dies mit der etwas schiefen Schnittrichtung zusammen.
*) DieBezeichnung jEdinger# „Tractus striopeduncuIaris“greift unserem
tatsachlichen Wissen weit vor.
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124 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
sehr diirftig. Lateral warts hangen beide untrennbar mit dem
Processus lateralis substantiae nigrae zusammen, wie denn iiber-
haupt eine strenge Trennung dieser Gebilde kaum moglich ist.
Die Fasciculi pontini laterales befinden sich noch innerhalb des
Processus lateralis.
Die A-Felder haben an Zahl und Ausdehnung zugenommen.
Ihre lamellenartige Konfiguration ist immer sehr deutlich. Es muss
aber beachtet werden, dass solche Lamellen auch dadurch vor-
getauscht werden konnen, dass schrdg getroffene Faserzuge schicht-
iceise die Fussfasern durchbrechen 1 ). Die Substantia reticulata
medialis pedis ist sehr gut entwickelt. Sie steht mit der noch sehr
diirftigen Zona reticulata substantiae nigrae im engen Zusammen-
hang.
Das Hakenfeld hangt mit den A-Feldem stellenweise zusammen
an der UmbiegungssteUe ist es sehr verbreitert. Innerhalb des
hakenformigen Feldes und innerhalb des M-Feldes findet sich keine
einzige dunkel pigmentierte Ganglienzelle.
Aeusserst kompliziert gestalten sich hier die Fasemgebiete R,
Q und D 1 . Speziell begegnet uns jetzt statt des ziemlich einheitlichen
R-Gebiets der Fig. 3 ein sehr komplexes System von Faserschichten,
R, R', R", deren Zusammenhang mit dem R-Feld der Fig. 3
keineswegs sicher ist. Jedenfalls treten sie alle in dem Feld M und
dem mit diesem zusammenhangenden Hakenfeld auf. Die Q-Biindel
heben sich stets durch ihre dunkelschwarze Farbung ab. Sie er
scheinen kurz schrag getroffen und durchsetzen schichtweise das
Gebiet zwischen D 1 und der lateralen Spitze des roten Kerns.
Das Feld D 1 erscheint jetzt sehr machtig. Es besteht grosstenteils
aus quergeschnittenen Fasem. Ventral von ihm erscheint ein
Geflecht, das ich mit D 1 ' bezeichnet habe.
Das Feld H von For el ist hier deutlich zu erkennen.
Der Schnitt 386 (vergl. Fig. 5) schneidet ventral noch immer
die Austrittsbundel des Oculomotorius.
Die Substantia nigra ist etwas schmaler geworden; ihre Dicke
betragt nur noch 4,6 mm. Die Zona compacta nimmt noch immer
bei weitem ihren grossten Teil ein.
Die Fasciculi pontini laterales und der Processus lateralis
substantiae nigrae sind jetzt mit einander fast ganz verschmolzen.
Das Feld D m ist noch sehr gut zu erkennen. Der Processus lateralis
springt nicht mehr so scharf vor. Das Feld D 1 hat seine Fasern
zum Teil in das Gebiet des Processus lateralis abgegeben, zum
Teil ist es noch an der friiheren Stelle (bei D 1 ) zu erkennen. Das
Stratum intermedium ist jetzt sehr stark entwickelt, aber nicht
scharf abgegrenzt. Da seine Btindel sich nur schwach farben, heben
sie sich auf der Figur nur undeutlich ab.
Auf diesem wie auf den vorhergehenden Schnitten ist der
Verteilungsmodus der pigmentierten Zellen sehr charakteristisch.
*) Oft vollzieht sich auch der Durchbruch innerhalb eines grauen
A-Felds.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 125
Dieselben finden sich namlich ganz vorzugsweise im dorsalen
Abschnitt, also namentlich in der Zona compacta substantiae
nigrae, wahrend sie in dem ventralen Teil, also vor allem in der
Zona reticulata substantiae nigrae, nur sehr vereinzelt vorkommen.
Auch scheint mir interessant, dass namentlich die Pigmentzellen
des dorsalen Abschnittes haufig gruppenweise zusammengeordnet
sind; so kann man beispielsweise oft 4 grossere Gruppen unter-
scheiden (Schnitt 384). Endlich erwiihne ich noch, dass der lateralste
Abschnitt der Substantia nigra auch im dorsalen Teil in der Regel
nur sparliche Pigmentzellen enthalt, und dass vereinzelte Pigment¬
zellen sich auch in dem medialwarts angrenzenden Gebiet der
Substantia perforata posterior finden.
Von der Substantia reticulata medialis pedis ist fast nichts
iibrig geblieben. Sie stellt sich nur als ein schwaches Anhangsel
der Zona reticulata substantiae nigrae dar.
Das Corpus Luysii ist eben als ein spindelformiger Korper
zu erkennen, der ganz in weisse Substanz eingebettet ist, seine
Dicke betragt hier 1,1 mm. Seine dorsale Markkapsel steht mit den
oben beschriebenen R-Schichten des Feldes M in einem schwer zu
entwirrenden Zusammenhang.
Die Zona incerta Forels ist ebenfalls bereits als eine schmale
langgestreckte graue Masse dorsal vom Corpus Luysii zu sehen.
Sie steht in engen Beziehungen zu dem friiher beschriebenen haken-
formigen Feld. Dies letztere zerfallt auf dem Schnitt 369, auf
welchem das Corpus Luysii noch nicht wahrzunehmen ist, in zwei
Teile, einen vertikalen, ventrolateral von der lateralsten Partie
des Fusses liegenden und einen transversalen, der sich fast rein quer
als schmaler Streifen bis etwa in die Mitte der Haube erstreckt.
Dieser letztere Abschnitt stellt geradezu den Vorlaufer der Zona
incerta Forels dar. Etwas weiter cerebralwarts hangt sie ventro¬
lateral mit den A-Feldem zusammen (Schnitt 372), wahrend sie
medial auf oraleren Schnitten in die Gegend der Q-Biindel und
dann in die halbmondformige Schicht vibergeht.
Der vertikale Abschnitt des Hakenfelds, also der eigenthche
Haken, verlagert sich cerebralwarts allmahlich in den Tractus
opticus.
Die halbmondformige Schicht Hm Sch erstreckt sich nach wie
vor einerseits bis zum Feld D 1 und anderseits bis zum Gebiet der
Q-Biindel. Sie unterscheidet sich von der Hauptmasse der Zona
incerta fortgesetzt durch den grosseren Fasemreichtum. In der
Literatur ist unzweckmassigerweise die Halbmondschicht hier oft zu
der Zona incerta gerechnet worden (vgl. histor. Einleitung S. 118).
Die sehr reduzierte Bundelgruppe Q liegt erheblich dorsal von
der Substantia nigra und erscheint schrag geschnitten. Sie trat
zuerst auf dem Schnitt 317 an der dorsalen Seite der Substantia
nigra quergeschnitten auf und rtickt dann immer mehr medial.
Sie scheint schliesslich cerebralwarts auf dem Schnitt 431 in das
Feld H 2 iiberzugehen.
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126 S a n o , Beitrag zur vergleieheuden Anatomie
Der Schnitt 440 (vergl. Fig. 6) schneidet ventral das Corpus
mamillare im Bereich des Ursprungs des Fasciculus princeps.
Die Substantia nigra ist sehr viel kleiner und erscheint im ganzen
ventralwarts und namentlicli medialwarts gedrangt; ihre Dicke
betragt 2,0 mm. Es ist schwer, die Zona compacta und Zona
reticulata noch zu unterscheiden; auch kann man keine Faser-
geflechte, kein Stratum intermedium, keine Fasciculi pontini
laterales usw. mehr erkennen.
Im Gebiet oberhalb der Substantia nigra unterscheidet man
nach unserer Auffassung am zweckmassigsten 4 Markfelder:
1. das Feld H 1 von Ford, welches in dieser Arbeit nicht beriick-
sichtigt werden kann; 2. das Feld H 2 von Ford; 3. die dorsale
Markkapsel des Corpus Luysii; 4. das Feld ventral vom Corpus Luysii,
d. h. im wesentlichen die ventrale Markkapsel des Corpus Luysii.
Zwischen dem medialen Teile des Feldes H 2 und der dorsalen
Markkapsel des Corpus Luysii findet sich ein kleines Feld, welches
die noch schmale Hauptmasse der Zona incerta Fords mit dem Rest
der Halbmondschicht verbindet und z. T. zu dieser letzteren zu
rechnen ist. Ich bezeichne es als Zona transitoria.
Vom Feld H 2 zieht ein Faserzug H 2; lateralwarts und teilt
die Zona incerta unvollkommen in zwei Teile. Dieser Fortsatz ist
auf dem Schnitt 420 zum erstenmal scharfer ausgepragt. Wahrend
die iibrige Fasermasse des Feldes H 2 immer mehr] mit die dorsale
Markkapsel des Corpus Luysii verschmilzt und die Zona transitoria
von der Hauptmasse der Zona incerta trennt (wie auf Schnitt 440),
behalt dieser Fortsatz seine Lage in des Mitte der Zona incerta bei.
Erst weiter cerebralwarts schmiegt er sich dem in der dorsalen
Markkapsel ziehenden Hauptteile des Feldes H 2 fast ganz an, so
dass dann eine scharfe Trennung der Hauptmasse der Zona incerta
von der Zona transitoria zu Stande kommt. Einzelne Fasern
ziehen iibrigens auch aus dem Feld H 2 in dorsolateraler Richtung
gegen das Feld H 1 .
Das hakenformige Feld und die A-Felder, die auf dem vorigen
Schnitte fast miteinander verschmolzen sind, verschwinden schon
auf dem Schnitt 409, der unmittelbar spinal vom Corpus mammillare
gelegt ist. Statt dessen sieht man die machtigen Fibrae perforantes.
Das Ganglion ectomamillare von Marburg 1 ) vermochte ich
nicht mit Sicherheit nachzuweisen.
Der Schnitt 457 (vergl. Fig. 7) schneidet ventral den aus-
tretenden Fasciculus mamillaris princeps.
Die Substantia nigra ist als isolierter Korper nicht mehr zu
erkennen, sie ist viel mehr ganz mit der in den medialen Fussab-
schnitt eingestreuten grauen Substanz verschmolzen (bei Sn ?).
Das Corpus Luysii ist schon etwas kleiner geworden, seine
Dicke betragt 3,5 mm. Im Fuss sieht man ausser zahlreichen
Fibrae perforantes noch immer zahlreiche Lamellen grauer Sub¬
stanz (A-Felder).
') Arb. a. d. Obers/einerschen Institut. Bd. 10. S. 66 (namentlich Fig. 5).
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Mensch. Schnitt 323 rig. 2. Mertsck . Schnitt 332
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Plan Fpl Pp Si Zrsn Simp Fpm A P* 8n Pp ^ F P* D
hi if 3. Msttaeh. Schnitt U6 Fig. 4. Mcnsch. Schnitt .166
Q D ni B Kk Lml Zi H 2 dMkcL
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inoerta. 127
Die Hauptmasse der Zona incerta Fords ist breiter geworden,
die Zona transitoria ist langer geworden; sie wird noch immer
von der Hauptmasse der Zona incerta durch H 2 volikommen ge-
trennt. Allerdings ist jetzt die Hauptmasse der Zona incerta viel
faserreicher geworden, so dass das Aussehen der Hauptmasse der
Zona incerta und der Zona transitoria sich nicht mehr so wesentlich
unterscheidet.
Das Feld H 1 erreicht hier etwa sein Maximum.
Das Feld H 2 verschmilzt einerseits mit der dorsalen Mark-
kapsel des Corpus Luysii in ihrem lateralen Abschnitt und scheint
ebenso wie diese dorsale Markkapsel Bogenfasern in das Fussfeld
abzugeben; andererseits entsendet sie wohl auch einzelne Fasern
in dorsolateraler Richtung in die Zona incerta. Auch der Faserzug
H 2 ' ist noch zu erkennen.
Das basale Langsbiindel 1 ) (basales Vorderhirnbiindel, Radiatio
striothalamica), das sich auf dem Schnitt 420 zum ersten Male,
aber sehr undeutlich zeigt, ist auf diesem Schnitt deutlich zu sehen.
Dabei muss betont werden, dass die Fasern dieses Biindels, dessen
V T erlauf und Abgrenzung bekanntlich sehr unsicher sind, nur mit
Schwierigkeit von den in die Markkapsel des Corpus Luysii iiber-
gehenden Fasern zu trennen sind.
Auf den folgenden Schnitten ist das Corpus Luysii rasch im
Verschwinden begriffen; seine Dicke betragt z. B. auf Schnitt 4(50
nur noch 1,7 mm, die ventrale Markkapsel ist auf diesem Schnitt
noch zu sehen.
Die dorsale Markkapsel wird mehr und mehr fast ausschliess-
lich vom Feld H 2 , das mit der dorsalen Markkapsel fast ganz ver-
schmolzen ist, gebildet. Die Zona transitoria ist bedeutend kleiner
geworden.
Die Hauptmasse der Zona incerta Forels ist ebenfalls viel
schmaler und geht fliessend in die Gitterschicht des Sehhiigels iiber.
Der Fortsatz x des Feldes H 2 , wie ihn Ford, Kolliker 2 ) u. A.
beschrieben haben, wird erst auf Schnitt 465 deutlich.
Das basale Langsbiindel ist hier sehr machtig geworden.
Auf Schnitten, welche ventral den spinalsten Teil des Tuber
einereum schneiden, ist das Corpus Luysii bereits total ver-
schwunden. Das Feld H 2 ist noch sehr machtig und gibt noch
Fibrae perforantes ab. Sein Fortsatz x ist noch viel ansehnlicher
geworden. Die Zona incerta ist noch schmaler geworden und geht
diffus in das Grau des III. Ventrikels uber. Die Zona transitoria
ist ganz verschwunden.
(Fortsetzung folgt.)
*) Kolliker, Handbuch der (Jewebelehre. S. 510. Fig. 641.
*) Kolliker, Handbuch der Gewebelehre. 1806. S. 455, 5IS. 5‘JO.
Fig. 590, 591, 646, 647, 648.
Houatsftciirift ftir Psychiatrie uud Neurologic. Bd. AXVII. Heft y
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128 Nonne-Holzinaun, Ueber Wassermann-Reaktion
(Aus dem allgemeSnen Krankenhaus Harnburg-Eppendorf.)
Ueber Wassermann-Reaktlon im Liquor spinalis bei Tabes
dorsalis sowie tiber quantitative Auswertung von St&rke-
graden der W.-Reaktion bei syphilogenen Krankheiten
des Zentral-Nervensystems.
Von
Dr. M. NONNE und Dr. W. HOLZMANN
Obermrst Aaaisteniuit.
In einem Vortrage vor der Jahresversammlung der ,,American
Medical Association 4 * in Atlantic City (17. VI. 1909) hat Nonne,
fiber den praktischen Wert der Komplement-Ablenkungs-Reaktion
ffir die Neurologic referierend, zum ersten Male ausgesprochen,
da88 das typische Verhalten dieser Reaktion bei der Tabes dorsalis
das sei, dass sie im Blutserum positiv und im Liquor spinalis
negativ sei.
Auf der dritten Jahresversammlung der ,,GesellschaftDeutscher
Nervenarzte 44 in Wien am 18. IX. 1909 hat Nonne dann wieder
an der Hand von rund 400 Fallen organischer Nervenkrankheiten —
darunter 104 Falle von Tabes dorsalis — dasselbe ausgesprochen.
Bei der Durcharbeitung der neuen Beobachtungsreihe hatte sich
ergeben, dass bei einigen Fallen eine schwache Reaktion heraus-
gebracht werden konnte. Wir waren in einer gemeinsamen Arbeit,
die schon vor dem Wiener Vortrage Nonnes fertiggestellt war,
zu der Ueberzeugung gekommen, dass die die Reaktion gebenden —
uns ja noch unbekannten — Korper im Liquor der Tabiker zwar
vorhanden sein konnen, dass sie aber in so geringer Menge da sind,
dass sie sich dem Nachweis durch die original von Wassermann
angegebene Methode im allgemeinen entziehen. Dieser Tatsache
des so haufigen Fehlens der W.-Reaktion im Liquor der Tabiker
stand die von alien Sei ten gefundene und heute von keiner Seite
angezweifelte Tatsache gegenfiber, dass die W.-Reaktion im Liquor
der Paralytiker in 90—100 pCt. — in diesen engen Grenzen
schwanken die Angaben der verschiedenen Autoren — positiv ist.
Es war damit ein wichtiges Symptom gefunden ffir die Differential-
diagnose zwischen Tabes und Paralyse. Andererseits musste man
es aufgeben, in der negativen W.-Reaktion des Liquor bei der
Lues spinalis und cerebrospinalis einen praktisch ffir die Diagnose
zu verwertenden Unterschied gegenUber der Tabes dorsalis zu
sehen. Im Gegenteil sah man jetzt, dass die „vier Reaktionen 44
(Lymphozytose, Phase I, W.-Reaktion im Blut und im Liquor
spinalis) bei diesen zwei Krankheiten dasselbe Verhalten zeigten.
Gelegentlich des Referats fiber „Die Diagnose der Syphilis
bei Erkrankung desZentralnervensystems 44 in Heidelberg (2. Jahres¬
versammlung der „Gesellschaft Deutscher Nervenarzte 44 ) am
1. X. 1908 hatte Nonne nach den bis dahin vorliegenden Erfahrungen
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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
129
noch geglaubt, dass die W.-Reaktion im Liquor spinalis der Tabiker
zwar nicht so oft wie bei der Paralyse, aber doch nicht nur als
Ausnahme vorkame.
Die spateren Erfahrungen zwangen zur Revision der friiheren,
dera Heidelberger Vortrag zugrunde liegenden Eigenfalle von Tabes
mit positiver W.-Reaktion im Liquor spinalis, und da ergab sich,
dass, bei allerdings sehr scharfer Kritik, nur ein Fall blieb, in dem
man sagen konnte, dass jeder Anhalt ffir die Annahme einer be-
ginnenden Paralyse fehlte; ein wirklicli klassischer Vollfall von
Tabes fand sich iiberhaupt nicht unter diesen 9 Fallen mit positiver
Wassermann-Reaktion im Liquor spinalis; 4 mal war eine reflek-
torische Pupillenstarre nur einseitig, in 4 Fallen waren die Sehnen-
reflexe an den unteren Extremitaten vorhanden, in 3 Fallen sogar
lebhaft; in 1 Fall lag eine Kombination tabischer Symptome
mit einer Poliomyelitis ant. chron. vor, und in 2 Fallen handelte
es sich nur um Fehlen der Sehnenreflexe der unteren Extremitaten
bei syphilitischer Anamnese.
Wenn wir die Literatur fiberblicken, die sich mit dem hier in
Rede stehenden Punkte befasst, so zeigt sich folgendes:
Wohl finden sich verstreut zahlreiche Angaben fiber das
Vorkommen der Wassermann-Reaktion bei Tabes, doch ist zu-
weilen nicht angegeben, ob der Liquor oder das Serum oder ob
beide Fliissigkeiten untersucht sind ( Glaser und Wolfsohn).
Meistens ist nur das Serum gepriift worden. Von anderen
Autoren (Arning, Eichelberg, Marie und Levaditi, Schulze, William -
son) ist nicht streng unterschieden worden zwischen Tabes und
Tabo -Paralyse. Systematische Untersuchungen fiber das Vor¬
kommen der komplementablenkenden Stoffe bei Tabes sind an
einem grosseren Material verhaltnismassig selten ausgeffihrt
worden.
Darfiber herrscht im grossen und ganzen Uebereinstimmung
unter den Autoren, dass dieReaktion i mSerum der Tabiker seltener
vorkommt als im Serum der Paralytiker. Die erzielten Resultate
schwanken bei den einzelnen Untersuchem zwischen 55 und
95 pCt. positiver Reaktion.
So fanden:
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130 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion
Durchschnittlich wurden demnach in etwa 70 pCt. aller Falle
komplementablenkende Stoffe im Blutserum der Tabiker gefunden.
Dem gegeniiber sind viel weniger Resultate iiber das Vor-
kommen der Wassermann-Beaktion bei der Untersuohung des
Liquors der Tabiker veroffentlicht worden.
Wir finden dariiber:
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- 80 pCt.
Citron
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Hier sobwanken also die erzielten Resultate zwischen 22 und
80 pCt. positiver Reaktion (gegeniiber 90—100 pCt. im Liquor
der Paralytiker).
Ueber das Vorkommen der Wassermann-Neisser-Bruckachen
Reaktion bei Tabes sagen ferner, ohne Belegzahlen zu geben:
Fauser: „Bei den metaluetischen Erkrankungen des Zentral-
nervensystems ergiebt die serologische Untersuchung sowohl des
Blutes wie der Spinalfliissigkeit fast nur positive Reaktion.**
Knoblauch: „Bei der Untersuchung des Liquors der Tabiker
und der Paralytiker erfolgt fast konstant positiver Ausfall der
Wassermann-Reaktion. * *
R. Muller: „Bei der Paralyse ist die Wassermann-Reaktion
beinahe ausnahmslos positiv, bei der Tabes manchmal negativ.**
Frenkel-Heiden: ,,Die Untersuchung des Serums der Tabiker
ergibb haufiger negative als positive Reaktion.“
Weygandt: „Bei der Untersuchung einer beschrankten An-
zahl von Spinalfliissigkeiten bei Tabes dorsalis liess sich eine
irgendwie spezifische Reaktion nicht erkennen.**
Reinhart: „Bei den Fallen, bei denen Lumbalfliissigkeit zu-
gleich untersucht werden konnte, stimmten die positiven wie
negativen Resultate bei Blutserum und bei der Lumbalfliissigkeit
iiberein. Nur bei einem Tabiker war das Blutserum positiv, die
Lumbalfliissigkeit dagegen negativ. Die beginnenden Tabiker
zeigen wesentlich hohere Resultate als die alten, stabilen Falle.“
Richard Bauer und Georg Meier: „Unter den 4 negativen
Seren stammten 3 von 3 sehr schweren Fallen.“
Mott, F .W.: ,,Eine positive Wassermann-Reaktion mit der
Cerebrospinalfliissigkeit ist fur Paralyse charakteristisch.** Unter
100 Cerebrospinalfliissigkeiten fand M. die Reaktion nur bei den
Paralysen positiv, und zwar bei 89pCt. von samtlichen untersuchten
Paralysef alien.
Plaid, F.: ,,Die Wassertnannsche Reaktion des Blutserums
fallt bei Lues cerebri, Paralyse und Tabes fast stets positiv aus.
Die Wassermannsche Reaktion der Spinalfliissigkeit ist bei Paralyse
') Anmerkung: Schulte unterecheidet in der betreffenden Arbeit nicht
streng, ob Tabes oder oi> Tabo- Para lyse vorlii gt.
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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
131
fast immer positiv, wahrend sie bei Lues cerebri fast nie und dann
nur sehr schwach auftritt.“
Es besteht demnach in Hinsicht auf den Gehalt des Liquors
der Tabiker an komplementablenkenden Stoffen noch eine be-
trachtliche Differenz der Ansichten.
Die Angaben der meisten Autoren lassen sich schlecht mit
den von uns erzielten Resultaten vereinen.
Bei der Wichtigkeit der vorliegenden Frage halten wir es
deshalb fiir unsere Pflicht, unser Material vorzulegen.
Wenn wir strengste Kritik an die Diagnose Tabes dorsalis
legen, so bleiben 93 Falle iibrig, die wir von Mitte Oktober 1908
bis zum 1. XI. 1909 untersucht haben. Samtliche Falle waren
entweder auf Nonnes Abteilung im Eppendorfer Krankenhause
oder entstammten der Privatpraxis von Nonne. Alle Falle waren
lange beobachtet und mit alien Kautelen wiederholt untersucht
worden. Die Anamnese auf Syphilis wurde in der von Nonne
seit langen Jahren geiibten Weise angestellt, dass alle Familien-
angehorigen der Kranken, die man erreichen konnte, ebenfalls
auf Residuen von Lues und auf organisch-somatische Hirn-Riicken-
marks-Symptome untersucht wurden. Wieviel sich bei einer
solchen systematischen Durchfiihrung erreichen lasst, ergibt sich
aus der Dissertation von E. Suntheim, die ein Material von Nonne
bearbeitet, das sich auf 152 Falle von Tabes bezieht, und die
zeigen konnte, dass man in 9,9 pCt. der Falle ,,Familiengruppen“
nachweisen kann.
Von
Wir sondem unsere Falle in sechs Gruppen:
1. inzipiente Falle;
2. Iang8am progrediente Falle mit erstem Beginn von Ataxie;
3. zur Zeit statioruire, , t imperfekte“ Falle, ohne Ataxie;
4. ,,normal^ progrediente Vollfalle;
5. ungewohnlich schnell (,,alcute“) progrediente Vollfalle;
6. ganz alte, abgelaufene, hochstgradige Falle.
der Kategorie I haben wir in unserer Statistik 14 Falle
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ii ii ^ ii Hu i) ii * 11
„ ,, VI „ „ „ „ „ 1 Fall
Unter diesen 93 Fallen befinden sich (in Gruppe IV) zwei
Falle, bei denen das gegenwartige Zustandsbild doch vielleicht
einen ganz leisen Verdacht, dass sich eine Paralyse entwickeln will,
aufkommen lasst.
Die Ergebnisse der Wassermann-Reaktion im Blut und im
Liquor spinalis konnen verschieden sein; entweder:
1. ist die Reaktion positiv in beiden Fliissigkeiten,
oder 2. negativ in beiden Fliissigkeiten,
oder 3. positiv nur im Blutserum allein,
oder 4. positiv nur im Liquor spinalis allein.
Wir stellen die Ergebnisse unserer Untersuchungen in folgender
Tabelle zusammen:
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
132 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion
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Frgebnisse der Gruppe IV:
Phase I — in 39 Fallon - 98 pCt.
Lymphozytose -j- „ 38 „ = 95 „
Hint 4- „ 31 .. ^ 76 ..
142
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im Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
143
Als Gesamtresultat ergibt sick:
Phase I (Globulinvermehrung) positiv in 84 (von 90) Fallen = 93 pCt.
Lymphocytose „ „ 82 ( „ 91) „ = 90 „
Wassermann- j im Blutserum „ 62 ( „ 93) ,, == 67 „
Reaktion ) im Liquor spinalis „ „ 8 ( „ 93) „ = 9 „
Interessant ist, dass die ohne Riicksicht auf den Ausfall der
4 Reaktionen, nur nach dem klinischen Bild vorgenommene Gruppen-
einteilung sich in den erzielten Untersuchungsresultaten wider-
spiegelt.
Phase I (Globulinvermehrung) und Lymphozytose gehen im
wesentlichen miteinander parallel und kommen am konstantesten
vor. (Phase I noch etwas haufiger als Lymphozytose.)
Der Ausfall der Wassermann-Reaktion im Blutserum unter-
liegt dagegen betrdchtlichen Schwankungen :
Gruppe I: inzipiente Falle in 70 pCt. positiv
,, II; langsam progrediente Falle mit
erstem Beginn von Ataxie „ 47 „ „
„ III: zur Zeitstationdre, imperfekte Falle
ohne Ataxie „ 47 „ „
,, IV: ,,normal progrediente VoUfcille „ 76 ,, ,,
„ V: ungewohnlich schndl („akute il ) pro¬
grediente VollfaUe „ 86 „ „
Wenn es gestattet ist, aus der fur diesen Zweck ja allerdings
nur kleinen Zahl von Fallen Schliisse zu ziehen, so ware es der,
dass die Verschiedenheit der Resultate der Autoren sich erklaren
lasst aus der Verschiedenheit des klinischen Verlaufs der von ihnen
untersuchten Falle.
Die durchschnittliche Prozentzahl der im Serum positiven
Reaktionen bei der Gesamtheit unserer Falle (67 pCt.) stimmt
jedenfalls, besonders im Hinblick darauf, dass wir besonders strong
paralyseverdachtige Falle ausmerzten, gut mit den in der Literatur
gefundenen Zahlen (durchschnittlich etwa 70 pCt.) iiberein.
Um so mehr muss es daher auffallen, dass wir bei der Unter-
suchung der Lumbalfliissigkeit der Tabiker auf ihren Gehalt an
komplementablenkenden Stoffen andere Resultate erhalten haben,
als die Mehrzahl der ubrigen Autoren. Eine positive Wasser-
mann-Reaktion im Liquor derTabiker fanden wir recht selten. Unter
Fallen reagierte der Liquor nur 8 mal positiv. In alien 8 Fallen
war gleichzeitig das Serum entweder gleich stark oder starker
positiv.
Von 2 zu diesen 8 gehorenden Fallen (No. 32 und No. 36 der
Gruppe IV) kann man ausserdem immerhin noch sagen, dass sie
nicht gam unverdachtig auf eine beginnende Paralyse sind; und
der Liquor dieser zwei Falle gibt auch nur dann eine positive
Reaktion, wenn die zur Untersuchung verwandte Extraktmenge
so gross genommen ist, dass das doppelte Quantum allein, ohne
Afonatsschrift ftlr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVCI. Heft 2. 10
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144 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion
Serumzusatz, eine vollstandige Losung des hamolytischen Systems
bereits hindert.
Ueber die angewandte Technik (Originalmethode Wassermann)
haben wir uns des naheren a. a. 0. ausgelassen, wir betonen hier
nor nochmals, dass alle Kontrollen vorschriftsmassig von uns
angewendet worden sind 1 ).
Bemerkenswert ist, dass sich in keinem der hier angefuhrten
Falle die Kombination: Wassermann-Reaktion im Blut negativ,
im Liquor spinalis positiv ergeben hat 2 ).
Ein derartiges Resultat hat Nonne friiher einmal bei multipier
Sklerose bekommen, doch haben wir bei den in seither fast
100 weiteren Fallen von multipler Sklerose vorgenommenen Unter-
suchungen nie tvieder einen positiv reagierenden Liquor gesehen,
wohl aber wurden in diesem weiteren Beobachtungsmaterial von
multipler Sklerose ivieder dreimal hemmende Substanzen im Blut-
serum gejunden. Dasselbe fanden neuerdings auch Saar in der
Klinik von Kraus in Berlin (Serologische Untersuchung durch
Citron) sowie femer Saathoff in der Klinik von Friedrich
Mailer in Miinchen.
Vor kurzem hat Zeissler in Muchs Laboratorium eine Methode
ausgearbeitet, nach der die Hemmungskorper der Wassermannschen
Reaktion quantitativ bestimmt werden konnen. Die Methode
beruht auf einer genauen Bestimmung der Komplementmenge, die
ein Scrum resp. eine Spinalfliissigkeit unter bestimmten Be-
dingungen zu binden vermag. Zeissler titriert zu diesem Zw-ecke
vor der Anstellung der Reaktion die im Meerschweinchenserum
enthaltene Komplementmenge jedesmal genau aus. Da durch das
bisher iibliche Inaktivieren das Komplement des Menschenserums
nicht ganz beseitigt wird, halt Zeissler die Sera zwei Stunden lang
bei 58* und iiberzeugt sich durch einen Kontrollversuch da von,
dass das Menschenserum keinen die Reaktion beeinflussenden
Komplementrest mehr enthalt. Dann werden in verschiedenen
Rohrchen fallende Dosen des Menschenserums und des Extrakts
mit steigenden Dosen des Komplements zusammengebracht.
Ausserdem werden die zur Vermeidung von Fehlerquellen notigen
Kontrollen angesetzt. Zeissler bekommt auf diese Weise 5 Starke-
grade der Reaktion. Diese Methode hat den grossen Vorzug, dass
bei ihr nicht mit dem leicht zu Fehlem und Irrtiimem fiihrenden
Begriff der ,,partiellen Hemmung“ operiert w r ird.
’) Anmerkung: Die IFoMermann-Reaktionen wurden im JlfucAschen
Laboratorium des Eppendorfer Krankenhauses toils von Holzmann, teils
von Zeissler ausgefuhrt.
2 ) Anmerkung : Schiitze hat in einem Fall von Tabes dorsaliB bei wieder-
holter Untersuchung die Reaktion im Liquor positiv und im Blut negativ
gefunden. Plaut hat 3 mal unter 147 Fallen die Reaktion im Spinalpunktat
starker als im Blut gesehen. Marie, Levadili und Jamanouchi sagen aller-
dings, in ihren Fallen sei die \\ .-Reaktion bei Paralyse im Spinalpunktat
in 93 pCt. und im Serum nur in 56 pCt. vorgekommen, dem steht jedoch
entgegen, dass alle iibrigen Untersucher bei Paralyse einen weit hoheren
Prozentsatz der positiven Serumreaktionen angeben.
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iin Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
145
Diese Methode wurde uns erst bekannt, ale der grosste Teii
unserer Beobachtungen bereits abgeschiossen war. Wir batten
aber noch Gelegenheit, bei einer Reihe von Fallen die quantitative
Auswertung anzuwenden. Dabei ergaben sich interessante Tat-
sachen, die durchaus geeignet sind, unsere Feststellungen zu stiitzen.
In der folgenden Tabelle sind nur die positiv reagierenden
Falle aufgefiihrt, da nur der Starkegrad der Reaktion, nicht die
Haufigkeit ihres Vorkonunens bei den verschiedenen Krankheiten
iiberhaupt illustriert werden soil.
a. Blutserum.
Starke
V IV
;
III
I
1 Zahl der
Falle
Paralyse
1
17 = 50 % 5 — 15 °/o
7 = 20 ®/o
2 — 6 %
2 = 6%
33
Tabes
o
o'''
I'-
II
o
o
II
o
4 — 24 %
3=17 %
9 = 50 %
17 positiv
5 negativ
Lues cerebri
Lues hereditaria
2 = 30 °/« 2 - 30 V.
3—40 Vo
0 = ov.
0= 0%
r*
4
mit Beteiligung d.
Nervensystems
Lues ohne Be¬
2 = 66 % 1 = 34»/,
i
o= ov.
o — ov.
1
1
0 = ov.
3
1
teiligung des
Nervensystems
4 — 10 Vo! 0 -- 16 °/o
1
7 = 20 V.
| 5 = 14 Vo
1
i
17 - 40 V.
1 39
1
Demnach weisen nach Zeissler einen sehr grossen Gehalt
an Hemmungskorpern die Paralyse und die Lues hereditaria mit
Beteiligung des Nervensystems auf, dann folgt die Lues cerebro-
spinalis, wohingegen auch das Blut-Serum der Tabiker nur in ver-
haltnismassig wenigen Fallen stark reagiert: 50 pCt. der positiv
reagierendenTabesfalle haben in ihrem Serum nursovielHemmungs-
korper, um mit der austitrierten Extrakt-Test-Dosis eine eben
losende Komplementeinheit zu binden (Starke I). Sie stehen hart
an der Grenze der noch als positiv zu bezeichnenden Sera 1 ).
Derartig geringe Mengen von Hemmungskorpern haben nur
2 (=6 pCt.) von 33 positiv reagierenden Paralytiker-Seren,
wahrend 17 (= 50 pCt.) den nach Zeissler hochsten Starkegrad der
Reaktion aufweisen 2 ).
') Anmerkung: Bei der quantitativen Hemmungskorperbeetimmung
Zeissler8 entspricht die Starke I der unteren Grenze der nooh als potitiv
zu rechnenden Wassermann-Reaktion. Nach Zeissler ist dies so zu verstehen,
dass ein Serum, das nach der quantitativen Methode Starke I an Hemmungs¬
korpern besitzt, je nach seinem eigenen Komplementgehalt und dem Kom-
plementgehalt des zu dem jeweiligen Versuch benutzten Meerschweinchen-
sennns nach der urspriinglichen Wassermann-Methode positiv oder negativ
reagieren wird.
2 ) Anmerkung: Die Menge des Hemmungskorpers ist nach Zeissler
nicht direkt aus dem Starkegrad abzulesen. sondern das Verhaltnis ist
derart, dass
10 *
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146 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion
Aehnliches, nor nock soharfer ausgepragt, zeigt sich, wenn
naoh Zeisslers Methode die Liquora quantitativ ausgewertet werden.
In den folgenden Tabellen sind auch die negativ reagierenden
F&lle aufgefiihrt und in den Prozentzahlen enthalten:
Dementia
paralyt.
Tabes dorsalis
Lues
cerebrospinalis
Kontroll-
untersuchungen
b. Liquor spinalis.
V IV III II I
0
3=13%
5=22% 2=9% 7=30%
1=6 %
5=22%
2 = 12 %
1=4%
13=81-%»)
3
4
Also: Wahrend bei der Paralyse die hemmenden Korper in zum
Teil sehr grossen Mengen im Liquor spinalis vorhanden sind und
wahrend nur einer von 23 Fallen keine komplementbindenden
Stoffe im Liquor nachweisen lasst, ergaben von 15 untersuchten
Tabes-Liquora nur 2 den geringsten, eben noch giiltigen Hemmungs-
grad und nur ein Fall den Starkegrad II. 13 Liquora liessen bei
genauester Auswertung; wenn 0,2 ccm des Liquor zur Anstellung
der Eeaktion verwandt wurden, keine Spur von hemmenden
Substanzen erkennen.
Wir haben auch in 3 Fallen von Lues cerebrospinalis den Liquor
spinalis quantitativ auswerten konnen. Die Frage lag ja nahe, ob
auch in den Fallen von echter Syphilis des Nervensysfcems die
Hemmungskorper nur in sehr geringer Menge vorhanden seien,
oder ob sie wirklich fehlten. Es zeigte sich, dass die letztere An-
nahme fur die ersten beiden Falle zutrifft. Es handelt sich im ersten
Fall um eine Arteriitis basalis luica mit einer Blutung in die Briicke.
Die Sektion bestatigte die klinische Diagnose. Der zweite Fall
betrifft eine Frau, die, vor 18 Jahren von ihrem Ehcmann infiziert,
seit 12 Jahren die Erscheinungen einer Meningo-Myelitis luica
darbietet. Beide Liquora liessen nicht eine Spur komplement-
ablenkender Stoffe nachweisen. Im 3. Fall handelte es sich um
eine durch die Sektion erwiesene Meningo-Encephalitis gummosa.
Die mikroskopische Untersuchung durch Herm Privatdozent
Starke
ii
»= etwa die 2
»
HI
= .... 4
»*
IV
= „ „ 10
*t
V
= „ 20
und mehr
fache Menge an Hemmungskorpern
bezeichnet als die Starke I.
l ) Anmerkung: Bei der Verwendung grosserer Liquormengen (0,3 und
0,4 ccm) zur Anstellung der Reaktion gelingt es gelegentlich bei Tabes
und Paralyse auch dann noch Hemmungskorper nachzuweisen, wenn die
iibliche Menge (0,2 ccm) der Lumbalfliissigkeit negativ reagiert. Eine der-
artige Reaktion wurde in der I. Tabelle mit % bezeichnet.
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ini Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
147
Dr. Panfce-Heidelberg zeigte, dass eine Komplikation mit Paralyse
nicht vorlag. Hier ergab die Untersuchung des Liquor nur den in
der vorigen Anmerkung gekennzeichneten Starkegrad %, d. h.
also eine so schwache Reaktion, dass sie bei der Untersuchung
nach der JFoaaermann-Originalmethode (0,2 des Liquor) nicht
zum Ausdruck gekommen ware.
Von Zeissler wurden uns noch folgende 2 Diagramme zur
Yerfiigung gestellt. Diese Diagramme zeigen den durchschnittlichen
Hemmungskorpergehalt einmal des Serums, dann des Liquor bei
den luischen und metaluischen Erkrankungen. Die Werte wurden
auf folgende Weise gewommen. Es wurde die Summe der in x
Fallen enthaltenen komplementablenkenden Stoffe durch die An-
zahl der Falle (x) dividiert. Nach dieser Berechnung wurden i. B.
bei der Paralyse durchschnittlich 10,7 komplementeinheiten-
ablenkende Stoffe in 0,2 des Serums gefunden. Die fur die
iibrigen angefiihrten Krankheiten giiltigen Zahlen sind aus den Dia-
grammen ersichtlich. Dae auf diese Weise gewonnene Diagramm
des Serums ist ein neuer Beleg fur bereits bekannte Verhaltnisse;
das heisst, es entsprechen die so gewonnenen Zahlen im wesentlichen
den in der Literatur angegebenen Prozentzahlen der bei den ein-
zelnen Krankheiten positiven Falle. — Das Diagramm des Liquor
dagegen, das unter genau denselben Verhaltnissen gewonnen ist
wie das des Serums, zeigt in anschaulicher Weise die von uns be-
hauptete und in der Literatur bisher noch nicht ausgesprochene,
neu gefundene Tatsache, dass, im Durchschnitt genommen, der
Hemmungskorpergehalt des Liquor bei Paralyse ganz betrachtlich, das
heisst, um etvca das 13fache, den durchschnittlich im Liquor bei Tabes
rorhandenen iibersteigt. Dass sich die Lues cerebrospinalis ganz
ahnlich gegeniiber der Paralyse verhalt, ist eine bereits bekannte
Tatsache.
Nehmen wir nun die einzelnen wenigen Falle, bei denen die
W.-Reaktion bei Tabes dorsalis im Liquor spinalis positiv war,
durch, so ergibt sich:
1. Oruppe I. No. 9. H. ist ein Fall von seit langen Jahren
stationarer, imperfekter Tabes mit gastrischen Krisen und ist mit
schwerstem Morphinismus kompliziert.
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148 Nonne-Holzmann, Ueber Wassermann-Reaktion
2. Gruppe III. No. 2. Fr. ist gleichfalls ein imperfekter Tabiker
und leidet auffallenderweise ebenfalls, wenn auch in leichterem
Grade, an gastrischen Krisen.
3. Gruppe IV. No. 31. Ov.bietetnichtsBesonderes;eshandelt
sich umeinen mittelweit vorgeschrittenen Tabiker, derbei genauester
Untersuchung und Beobachtung keine Anzeichen etwa beginnender
Dementia paralytica erkennen lasst.
4. Gruppe IV. No. 32. Mi. Hier war wie bei
5. GruppeIV. No. 36. Hu. die Reaktion nur schwach positiv,
zudem war das hamolytische System bei der Kontrolle — doppelte
Extraktmenge ohne Serum — nicht vollstandig gelost. Beide-Falle
liessen den Verdacht einer beginnenden Paralyse nicht gam von
der Hand weisen.
6. Gruppe V. No. 4. Si. ist ein vorgeschrittener Tabiker,
dessen psychisohe Qualitaten vollstandig intakt sind. Bei der
Anstellung dieser Reaktion hemmte auch die doppelte Extrakt¬
menge ohne Serum-Zusatz die Hamolyse nicht.
7. Gruppe III. No. 15. So. ist ein Fall von vorgeschrittener
Tabes mit beiderseitiger totaler Opticusatrophie. Die Kontrollen
waren in Ordnung.
8. Gruppe IV. No. 41 . Mo. ist ein vorgeschrittener Fall mit
beiderseitiger beginnender Opticusatrophie und tabischen Gelenk-
veranderungen sowie Spontanfrakturen. Ein psychischer Defekt
ist nicht nachweisbar. Hier gab sowohl das Serum wie der Liquor —
nach der Zeisslerschem Methode ausgewertet — auffallend hohe
Starkegrade: Serum IV, Liquor II. Eine Erklarung dafiir ver-
mogen wir einstweilen nicht zu geben.
Bemerkenswert ist, dass sich unter diesen 8, im Liquor positiv
reagierenden Fallen 2 Tabiker mit gastrischen Krisen 1 ) und 2 mit
Opticusatrophien finden.
Es hat sich somit bestatigb, dass bei alien verschiedenen
Formen und in alien verschiedenen Stadien der Tabes, wenn es sich
nur um Tabes und nicht um eine Kombination mit Paralyse handelt,
die W.-Reaktion im Liquor in den weitaus meisten Fallen fehlt.
Wenn man die Original-Methode Wassermanns anwendet und die
noch immer zu Recht bestehende (vergl. Sachs-AUmann im Kolle-
Wassermannschen Handbuch) Kontrolle beachtet, dass sowohl
die doppelte Menge des zur Anstellung der Reaktion verwandten
Serums oder Liquors, wie die doppelte Menge des Extrakts nicht
selbst hemmen darf, so muss eine positive Wassermann-Reaktion
') Amnerkurur: Wir machten die Beobachtung (der Fall steht in
Zaiaalera Publikation bereits angefiihrt), dass in einem Fall das nach der
Zaiaalerachen Methode ausgewertete Serum die Starke II. nach einer Woche,
wahrend der die Kranke eine 2 Tage wahrende heftige gastrische Krise
durchgemacht hatte, die Starke IV aufwies. Im Gegensatz dazu zeigte
eine Anzahl anderer Falle von Tabes ohne gastrische Krisen noch nach
S—4 wochentlicher, auch spezifischer Behandlung, denselben Starkegrad der
Reaktion wie bei der Aufnahme.
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iin Liquor spinalis bei Tabes dorsalis etc.
149
des Liquor spinalis stets den Verdacht einer schon vorhandenen
oder im Entstehen begriffenen Paralyse erwecken.
Die von Jacobsthal ktirzlich mitgeteilte Tatsache, dass bei
emem Fall von Tabes incipiens anfangs das Serum keine Hemmung,
die Lumbalfliissigkeit totale Hemmung der Hamolyse, 8 Tage
spater, neu entnommenes Blut schtoach positive, die frische Lumbal-
fliissigkeit stark positive Reaktion ergeben habe, vermogen wir
vorlaufig schwer zu deuten. Wir haben einerseits, wie unsere
Tabellen zeigen, iiberhaupt ausserst selten eine stark positive
W.-Reaktion im Liquor der Tabiker gefunden — nur ein einziges
Mai unter 93 Fallen —, und andererseits haben wir niemals den
Liquor positiv und das Serum negativ reagieren sehen. Doch ist
in der Literatur, wie bereits oben erwahnt, gelegentlich ein der-
artiges Verhalten der Korperfliissigkeiten beobachtet worden.
Jedenfalls muss es abgelehnt werden, wenn Jacobsthal sagt,
dass die positive Reaktion im Liquor spinalis einen Schluss auf
die ,,Lokalisation des syphilitischen Herdes im Nervensystem“
gestattet. Schon der Fail Jacobsthals selbst ist dazu nicht geeignet,
denn es handelt sich um einen Fall von Tabes dorsalis, also nioht
um einen Fall mit einem , .syphilitischen Herd“; zweitens aber sind
dariiber die Akten heute geschlossen (Plaut, Stertz, Nonne u. A.),
dass gerade bei den Fallen, bei denen wir es mit lokalisierten eoht-
syphUitischen, d. h, gummosen und spezifisch arteriitisohen
Prozessen zu tun haben, die W.-Reaktion im Liquor spinalis fast
immer fehlt; darin sollen wir uns nicht wieder beirren lassen.
Wir glauben, dass unsere Ausfiihrungen geeignet sind, dar-
zutun, dass bei Tabes dorsalis simplex in alien Stadien und in alien
Formen die Wassermann-Reaktion, nach der Originalmethode an-
gestellt, typischer Weise im Liquor fehlt, und dass diese Tatsache
uns eine differential-diagnostische Hiilfe gegeniiber den Fallen von
inzipienter Paralyse mit Hinterstrang-Symptomen sowie gegeniiber
den Fallen von systematischer Tabes mit beginnender Paralyse,
und zwar nur gegeniiber diesen Fallen, liefert.
Es lag nicht in unserer Absicht, hier auf andere Krankheiten
organischer und funktioneller Natur einzugehen, umsoweniger,
als dariiber in der letzten Zeit im wesentlichen eine Ueberein-
stimmung der Untersucher erzielt worden ist.
Hamburg, im November 1909.
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8uchungsmethoden fiir die Differentialdiagnose der syphilogenen
Erkrankungen des Zentralnervensystems, gesammelt an 295 neueren
Fallen von organischen Erkrankungen des Hirna und des Riicken-
marks. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 1909. Bd. 37.
35. Derselbe, Weitere Erfahrungen iiber die ,,4 Reaktionen 44 (Lymphozytose,
Globulin-Vermehrung [Phase I], Wassermann-Reaktion im Blut und
im Liquor spinalis) fiir die Differentialdiagnose der syphilogenen
Erkrankungen des Zentralnervensystems. Deutsche Zeitschr. f.
Nervenheilkunde. Januar 1910.
36. PeritZyQ., Lues, Tabes und Paralyse in ihren atiologischen und thera-
peutischen Beziehungen zum Lecithin. Berl. klin. Wochenschr. 1908.
No. 2.
37. Derselbe, Das Verhaltnis von Lues, Tabes und Paralyse zum Lezithin.
Zeitschr. f. experim. Pathologie u. Therapie. 1909. Bd. 5.
38. Plant, F ., Ueber den gegenwartigen Stand des serologischen Lues-
nachweises bei den syphilidogenen Erkrankungen des Zentralnerven-
syBtems. M. M. W. 1907. No. 30.
39. Derselbe, Die Wassermaimsche Serodiagnostik der Syphilis in ihrer
Anwendung auf die Psychiatrie. Jena 1909. Gustav Fischer.
40. Derselbe, Die luetischen Geistesstorungen. Centralbl. f. Nervenheilk.
u. Psych. 1909. No. 18.
41. Reinhart, Erfahrungen mit der Waasermann-Neisser-Bruckschen Syphilis-
Reaktion. Munch, ined. Wochenschr. 1909. No. 41.
41a.jSoar, Ein Fall von akut- verlaufener inselformiger Sklerose der Medulla
oblongata. Charite-Annalen. 33. Jahrgang.
42. Saathoff, Plant u. Baisch, Ueber die klinische Bedeutung der Wasser¬
mannschen Reaktion in der inneren Medizin, der Psychiatrie und der
Frauenheilkunde. Aerztlicher Verein zu Miinchen. Berl. klin. Wochen-
schrift. 1909. No. 32.
43. Sachs , U. und K. Attmann, Komplementbindung. Handbuch der pat ho-
genen Mikroorganismen. Kolle und Wassermann: Zweiter Erganzungs-
band. 1909. Gustav Fischer.
44. Schiitze, A ., Tabes und Lues. Zeitschr. f. klin. Medizin. Bd. 65. H. 5 u. 6.
45. Smith, J. Hindersen und D . P. Candler, Wafsermanneche Reaktion
bei progressiver Paralyse. Brit. med. Journ. 24. VII. 1909.
46. Sonnenburg , Weitere Erfahrungen iiber Serodiagnostik der Syphilis.
Med. Gesellschaft z. Magdeburg. 29. IV. 1909. M. M. W. 1909. No. 33.
47. Stertz , Serodiagnostik in der Psychiatrie und Neurologie. Allgemeine
Zeitschr. f. Psychiatrie u. psychisch-gerichtliche Medizin. 1908.
Bd. 65. Heft 4.
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152 S z e r s i . Zur Technik der chemischen und cytologischen
48. Suntheim, Erich, Ueber konjugale Tabes und Paralyse. Inaug.-Diss.
Leipzig. 1909. Bruno Georgi.
49. Wassermann, A. f und F. Plaut % Ueber das Vorhandensein syphilitischer
Antistoffe in der Cerebrospinaifliissigkeit von Paralytikem. Deutsche
med. Wochenschr. 1906. No. 44.
50. Weil, E., und H. Braun, Ueber Antikorperbefunde bei Lues, Tabe$ und
Paralyse. Berl. klin. Wochenschr. 1909. No. 49 u. 52.
51. WeygandX, Syphilitische Antistoffe in der Cerebrospinalflussigkeit bei
Tabes dorsalis. Physikalisch-medizinische Gesellschaft Wurzburg.
31. I. 1907. Deutsche med. Wochenschr. 1907. No. 30.
52. Williamson, G . S. t The cerebro-spinal fluid in general paralysis and the
nervous lues. Lancet. 1909. 4467.
53. Zaloziecki , A., Zur klinischen Bewertung der serodiagnostischen Lues-
reaktion nach Wassermann in der Psychiatrie. nebst Bemerkungen
zu denUntersuchungsmethoden des Liquor cerebrospinalis. Monatsschr.
f. Psychiatrie u. Neurologie. 1909. Bd. 26.
54. Zeissler ,«/., Quantitative Hemmungskorperbestimmung bei der Wasser-
mannschen Reaktion. Berliner klin. Wochenschr. 1909. No. 44.
(Aus dem pathologischen Institut der Universitat Genf
[Direktor: Prof. Askanazy.])
Zur Technik der ehemischen
und cytologischen Untersuchung der Lumbalflussigkeit.
Von
STEPHAN SZECSI
in Genf.
Im folgenden will ich zwei Modifikationen der fruheren Unter-
suchungsmethoden besprechen, die ich als zweekniassig empfehlen
kann.
Die erste Modifikation betrifftdie bekannteEiweissbestimmungs-
methode von Nonne und A pelt (1). Ich wall nur ganz kurz die
Originalmethode schildern. Sie besteht darin, dass 2 ccm Lumbal-
fliissigkeit mit derselben Menge einer S5 proz. Ammoniaksulfat-
losung gemischt wcrden, und nacli 3Minuten wird das Resultat
der Fallung als Opaleszenz bezw. Triibung festgestellt. Die Methode
gibt sehr gute Resultate, besitzt jedoch den Nachteil, dass sie auf
einer subjektiven Schatzung beruht. Ich habe auf diese Tatsache
schon in einer fruheren Publikation (2) hingewiesen vmd schon da-
mal8 bemerkfc, dass eine Modifikation der Methode wiinschenswert
ware, die diesen Nachteil beseitigen konnte. Dies bezweckt.
folgende Modifikation:
Ich habe den nebenstehenden kleinenApparat konstruiert. Das
Zentrifugierrohrchen wird bis Marke L mit Lumbalflussigkeit, bis
Marke A mit einer So proz. gesattigten Ammoniaksulfatlosunggefullt.
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Untereuchung der Lumbalfliissigkeit.
153
Das Rohrchen wird sodann ungefahr 30 Minuten lang zentrifugiert.
Man bekommt dadurch einen Niederschlag, dessen Menge an der
angebrachten Skala einfach abgelesen wird. Die Skala entspricht
derjenigen von Nonne-Apelt, nur habe ich als starksten
Grad der Reaktion starke Triibung hinzugefiigt. Dem-
nach bezeichnet:
I spurweise Opaleszenz,
II schwache Opaleszenz,
III Opaleszenz,
IV Triibung,
V starke Triibung.
Ich verwende die Bezeichnung ,,starke Triibung“ fiir
einzelne Falle, fur die die Bezeichnung von Nonne-Apelt :
Triibung nicht ausreicht. ’
Ich habe mit Hiilfe dieser Methode neuerdings
folgende Resultate erhalten:
Krankheit
Dementia paralytica .
Lues perebrospinalis .
Sclerosis multiplex
Dementia alcoholistica
Hemiplegie.
Littlesche Krankheit .
Tabes.
Gesunde.
Die Methode ermoglicht auch eine quantitative Bestimmung
der Eiweissmenge. Das diinne Rohrchen bis Marke V fasst namlich
genau 0,025 ccm, ein Grad der Skala entspricht demnach 0,005 ccm.
Die Menge der Lumbalfliissigkeit ist ja sehr verschieden. Aus den
Angaben Vierordts (3) entnehme ich als Durchschnittszahl fiir die
normale Menge der Lumbalfliissigkeit 218 ccm. Es entspricht
demnach 1 Grad, also 0,005 Niederschlag in 2 ccm Liquor (das
Rohrchen enthalt bis Marke L 2 ccm) einem Niederschlag von
0,545 ccm in der ganzen Menge der Lumbalfliissigkeit. Selbst-
verstandlich kann diese quantitative Bestimmung nur relative
Resultate geben; das Hauptgevvicht meiner Methode lege ich auf
die Bestimmung der Eiweissmenge durch Ablesen auf der Skala.
Den Vorteil meiner Methode gegeniiber derjenigen von Nonne-
Apelt sehe ich darin, dass dasResultat auchobjektiv zu beurteilenist.
Die Rohrchen werden nach meinen Angaben von der Firma
Ernst Leitz, Berlin NW., Luisenstrasse, hergestellt.
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154
Szecsi. Zur Technik der cheinischen etc.
Die zueite Modifikation betrifft die Methode von Fuchs-
Posenthal (4) zur Zahlung der Zellen in der Lumbalflussigkeit.
Xach dieser Methode werden die Zellen in einer der Thoma-
Ze/ssschen ahnlichen Zahlkammer gezahlt. Sie ist in der Tat
ini allgemeinen recht zweckmassig, doch in den Fallen, wo die
Anzahl der Zellen recht gering war, war sie nicht anzuwenden.
Xach den Angaben der Autoren wird zur Zahlung der Melangeur
mit dem unzentrifugierten Liquor gefiillt. Ich habe die Methode
folgendermassen modifiziert und in mehreren Fallen mit gutem
Erfolg angewandt:
Ich zentrifugiere 2 ccm Liquor c. sp. mit einer sehr langsamen
Zcntrifuge ungefahr 3—4 Minuten lang in einem Zentrifugier-
Rohrchen, wie es auf Fig. 2 abgebildet ist. Mit einer
Kapillar-Pipette, die stets neu hergestellt werden muss,
entnehme ich den Inhalt des diinnen Rohrchens, gebe
denselben in eine Uhrschale und fiille damit den Melan¬
geur. Zur Farbung kann die Fvrhs-Rosenthalsahe Ori-
ginallosung oder Pappenheims Methylgriin-Pyroninlosung
mit etwas Eisessigzugabe (3 Tropfen auf 10 ccm) an¬
gewandt werden.
Diese Modifikation beeinflusst jedenfalls die Resul-
tate, die man mit der Originalmethode bekommt, die
Zahlen werden selbstverstandlich grosser. Da aber auch
die Originalmethode keine absoluten Zahlen ergibt, halte
ich dies fur keinen Xachteil, um so weniger, als durch
Fig- 2. diese kleine Modifikation die sonst so wertvolle Methode
auch in denjenigen Fallen anwendbar wird, in welchen die
Zahl der Zellen nur ganz gering ist.
Fur die Ueberlassung eines Teiles der von mir untersuchten
Kranken sage ich Herm Prof. Weber, Direktor der psychiatrischen
Klinik, meinen besten Dank.
Literatur - Verzeichnis.
1. Xonne und A pelt. Archiv fur Psychiatrie. 1908. Bd. 43. H. 2. S. 433.
2. Szec&i, Monatsschrift fur Psychiatrie und Neurologie. 1909. Bd. 26. H.4.
S. 3n2.
3. Vierordt . Anatomische etc. Daten und Tabellen. Jena 1906. Gustav
Fischer. S. 49.
4. Fuchs-Rosenthal, Wiener med. Presse. 1904. No. 44—47.
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XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest etc. 155
/
XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
vom 29. August bis 4. September 1909.
Psyehiatrische Sektlon.
Xach amt lichen Sitzungsprotokollen referiert von
Dozent Dr. Carl Uudovemig in Budapest.
(Schluss.)
6 . Silzung, 1 . September nachmittags.
Vorsitzende: Maillard , Tamburini.
P. Banschburg . Budapest: Ueber die M&gliehkeit der Feststellung
des geistigen Kanons des Normalmensohen. Zur Feststellung deseen, was
abnorm ist, miissten wir eigentlich ein genaues Bild des Normaimenschen
haben. Wir wisfen heute schon ziemlich sicher, dass ee keinen Normal-
typus, sondernNormaltypen gibt. Auch iiber die qualitative und quantitative
Leistungsfahigkeit der verschiedenen intellektuellen Geistestat*gkeiten
sind wir besonders, was das Kindee- und jugendliche Alter betrifft, in der
Feetstell ling des Durchschnittes bedeutend vorgeechritten. Vortragender
stellt eine Liste derjenigen Arbeiten auf, die eich rnit der Losung dieser Auf-
gabe befasst haben weist aber auf die Notwendigkeit hin, die Ergebnisse
derselben vom Standpunkte der aufgeworfenen Frage einheitlich zu ordnen.
Hierfiir, sowie fiir die Vorbereitung und Durchfiihrung der Kanons auf dem
Gebiete der Triebs- und Gefuhlswelt.derenKenntnisbishereinevielzugeringe
ist, wlinschtVortragenderdie Entsendungeiner Kommission,die ihreResultate
einem nachsten Kongress vorzufiihren hatte. Vortragender bestirnrnt die
Bedingungen, die bei der Feststellung von Kanons einer jeden Art einzu-
halten waren, und teilt sodann die Rasultate eigner Untersuchungen be-
ziiglich der unteren Grenzen der Normalitat und ihrer Abgrenzbarkeit von
den leichtesten Fallen der Abnormitat mit. Absolute Begabungslosigkeit
sowie hochgradige Beschranktheit z. B. konnen sich wohl nach ihrer quan-
titativen Seite mit den leichtesten Fallen intellektueller pathologischer
Schwachbefahigung beriihren, doch lassen sich gewisse untere Grenzen
ziehen, jenseits welcher wii den Norrralen, wenn auch schwachster Sorte,
me verirrt finden, wogegen es sich bei einfachen Geistestatigkeiten viel
h&ufiger findet, dasa ein, wenn auch geringer Prozentsatz der pathologisch
Schwachen in die untersten Werte der Normalen himibersteigt. Durch Unter¬
suchungen der untersten, leistungsfahigsten oder z. B. in ihrer Trieb- und
Gefiihlswelt anscheinend undifferenziertesten oder unempfindliehsten
Schichten werden sich die untersten Grenzen, bezw. Zonen der Normal it at
des Geisteslebens feststellen lassen. (Autoreferat.)
Diskussion.
Van Deventer , Amsterdam, wiin*cht eine internationale Einigung
betreffs der Bearbeitung eines Kanons. Die Psychologic des Schulkindes
ware genau zu studieren; auch ein Kanon der Gefuhlssphare, die von weitaus
grosserem Einfluss auf das Sein und Werden des Menschen ist als die Vor-
stellungssphare, fehlt noch ganzlich.
Sommer , Giessen, erklart seine vdllige Zustimmung zu den Unter¬
suchungen an Normalen, Nervosen und Geisteskranken, sofern sie mit dm
gleichen Reizen durchgefuhrt werden. Der Ausdruck „Kanon" sollte aber
vermieden werden, da auch innerhalb der Normalen betrachtliche Schwan-
kungen vorkommen. Zu Zwecken der Gesamtbearbeitung schliigt Sommer
Amchluss an das Institut fiir angewandte Psychologic vor.
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156 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
Ranschburg (Schlusswort) erwidert, dass er die Bezeichnung „Kanon“
von Mobiue ubemorumen habe, aber jeden besseren Ausdruck akzeptiere;
er selbst schlage den Terminus ,,Normalwerte“ vor.
Jean Lepine, Lyon: Ueber Verwirrtheitszustande be! Tuberkulose.
Vortragender behauptet, bei einer gewissen Anzahl von geistig Ver-
wirrten latente Tuberkulose durch die cherrischen UntersuohungBmethoden
nachgewiesen zu haben, und zwar handelte es sich nicht nur um todlich oder
chronisch verlaufene Falle, sondem es wurden bei einzelnen vollstandige
Dauerheilungen durch Injektion einer Substanz erzielt, die die Phago-
zytose stark veranderte, besonders Natriumnucleinat, welches Vortragender
seit 1907 verwendet, und iiber dessen erste Erfolge bei Geisteskranken er
damals in der Soci^te de Biologie in Paris referierte, Es ist moglich, dass es
sich hier um nicht- follikulare Tuberkulose handelt, die einer mehr oder minder
langsam verlaufenden tuberkulosen Septizamie entspricht.
Diskussion .
Colin , Paris, fragt, ob die Beobachtungen des Vortragenden sich auf
die Dementia praecox oder auf Verwirrtheitszustande beziehen. Dieser
Unterschied ist wichtig, da Dementia praecox niemals heilt, wahrend Ver¬
wirrtheitszustande heilen konnen.
Marie , Villejuif, glaubt nach seinen Untersuchungen, dass das Vor-
kommen positiver Wassermannachev Reaktion bei tuberkulosen Psychosen
nicht auf ein nur zufalliges Nebeneinander von Tuberkulose und Geistes-
storung, sondem auf einen engen Zusammenhang zwischen beiden hindeutet.
Li pine (Schlusswort) erwidert, dass es sich in seinen Fallen, da sie
geheilt sind, nur um geistige Verwirrtheitszustande gehandelt hat; derHei-
lungsprozess ist in wenigen Tagen bis mehreren Monaten abgeschlossen.
Pactet , Villejuif, spricht iiber die Geisteskrankheiten im Heere und in
militarischen Strafanstalten. DieFrage der Geisteskrankheiten in den Armeen
ist seit einiger Zeit Gegenstand des Studiums in den verschiedenen Lan-
dern. In Frankreich kann die Zahl der Geisteskranken auf 0,5 pCt. des
ganzen Bestandes des aus den Stadten rekrutierten Heeres geschatzt werden;
in den afrikanischen Bataillonen. den Strafkompagnien imd den auswartigen
Regimentern ist sie etwas hoher.
Vortragender bespricht die besonderen Gefahren des Militardienstes
fiir psychopathisch veranlagte Personen und macht bestimmte praktisclie
Vorschlage.
7. Sitzung , 2. September .
Vorsitzende: Sommer , WeygancU .
van Deventer , Amsterdam: Die Pflege der Irren in eigener Wohnung.
Ziel der modemen Psychiatrie ist, den Geisteskranken fiir das soziale Leben
zuriiokzugewinnen. In dieser Beziehung gebiihrt ein hervorragender Platz der
Familienpflege. Fast in alien zivilisierten Staaten besteht aber eine gewaltige
Liicke: In der Anstalt geniesst der Kranke die hingebungsvollste Pflege
und Behandlung, ist aber verlassen und ohne Leitung, sobald er in sein
Heim zuriickkehrt. Andererseits aber bleiben viele Kranke, welchen eine
Leitung eine grosse Wohltat ware, ohne Stiitze im eigenen Heim und
fallen schliesslich der Gemeinde zur Last. Hier eroffnet sich eine Frage
von grosser sozialer, okonomischer und medizinischer Wichtigkeit. Es ist
demnach Pflicht, diese Liicke auszufiillen. Gegen die homofamiliale Irren-
pflege wurden nicht unbegriindete Einwiirfe erhoben; dieselbe ist wohl
die einfachste und natiirlichste, gleichzeitig aber die schwierigste. Greistes-
kranke, welclie geheilt oder gebessert entlassen werden. bediirfen auch weiter
einer Stiitze und Leitung. Es fragt sich zunachst, ob der Kranke in der eigenen
Familie g^pflegt werden kann; dies hangt ab vom Kranken selbst, aber auch
von der Familie. Die Familie soil Verstandnis fiir die Pflege des Kranken
besitzen, der Kranke wieder soil eine seiner Lage angemessene Beschaftigung
finden konnen. Vor der endgiiltigen Unterbringung soil eine solche probe-
weise erfolgen. Was den Kranken speziell betrifft, so muss nicht so sehr die
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vom 29. August bis 4. September 1909.
157
klinische Form der psychischen Erkrankung als seine Individualist ins
Auge gefasst werden. Eine staatliche Ueberwaehung solcher Kranken ist
unerlasslich und sollte Kommunalpsychiatern anvertraut werden. welche
durch diplomierte Pfleger unterstiitzt sein miissen. Die Tiitigkeit der Wohl-
fahrtsanstalten darf sich nicht in einer momentanen Unterstutzung ent-
lassener Geisteskranker erschopfen, sondern sollte sich auch auf die Kranken
in homofamilialer Pflege erstreeken, vmd namentlich dahin gerichtet sein,
dass die Vorurteile gegeniiber entlassenen Geisteskranken beseitigt werden.
Im weiteren Verlaufe seines Vortrages bespricht Deventer eingehend die
Pflege der Geisteskranken in eigener Wohnung vmd die diesbeziiglich von
ihm gesammelten Erfahrungen.
Diskusston.
Fischer , Pozsony, vermisst Angaben des Vortragenden iiber die
heterofamiliale Irrenpflege in Ungam, welche in den letzten Jahren begriindet
wurde, aber bereits sehr gute Resultate ergeben hat.
Weygandt , Hamburg, empfiehlt eine nach den Bedurfnissen variierte
Familienpflege nach Muster des in Irrenanstalten gevibten Modus, u. z. 1. fur
Kranke, welche einer besonderen Pflege bedurfen, empfiehlt sich die An-
legimg von Pflegedorfern. 2. Leichtere Kranke sollten bei nicht ganz un-
bemittelten, humanen Leuten untergebracht werden. die am meisten geiibte
Form der Familienpflege. 3. Unterbringung inFamilien bei Aufrechterhaltung
von arztlicher Beobachtung. 4. Gelegenheit fiir entlassene Kranke, sich in
der Anstalt ambulant vorzustellen. Weygandt ist der Ansicht, dass letztere
Massregel geeignet ware, die Vorurteile des Publikums zu zerstreuen.
Tamburini , Rom: Dementia primitiva. Vortragender bemerkt, dass
er trotz grosser Fortschritte, die in Bezug auf Benennung, selbstandige Exi-
stenz als klinische Einheit, Symptomatologie, Ausdehnung, psychologischen
Mechanismus, Pathogenese und Prognose dieser Affektion schon gemacht
wurden. und trotz der von Krapelin angestellten wichtigen Forschungen
eine Revision der herrschenden Meinungen iiber diese Kranklieit fiir notig
halt. Schon der Name Dementia praecox ist unrich tig, weil es notorisch Falle
gibt, bei denen weder der eine noch der andere Teil dieser Benennung, andere,
bei denen ent weder das Wort Dementia oder das Wort praecox nicht zutref fend
ist. Von der Meinung ausgehend, dass es sich bei dieser Krankheit vor allem
um eine Dissoziation der psychischen Eleinente handelt, hat Brugia die
Bezeichnung Parademenz, Bleuler den Ausdruck Schizophrenic zum Ersatz
vorgeschlagen. Vortragender hingegen meint, dass der von Sommer und der
itaHenischen Psychiaterschule langst gebrauchte Terminus Dementia
primitiva der geeignetste sei. Fraglos ist das Kriterium der Dissoziation
das wichtigste. fundamentale Merlanal der Psychose, doch kann es diffe-
rentiald iagnost is eh nicht verwertet werden, da es auch anderen Forrnen der
Demenz, wie der paralytischen, alkoholistischen und senilen Demenz eigen
ist. Die Existenz der Dementia praecox als selbstandiger Krankheitsform
ist viel angegriffen worden, so von Bianchi , Regis , MorseUi , Potzl , Ossipoff ,
SchoU , Muggia u. A., die zum Teil die katatonische und die paranoide Form
abgetreimt wissen wollen. Sogar Krapelin selbst hat ausgesprochen, dass
es notwendig geworden ist, von den unter seinen Sammelbegriff gebrachten
verschiedenartigen Forrnen die Falle mit chroni?ohen Halluzinationen,
die mit persistenter Wortverdrehung und die tardiven katatonischen ab-
zutrennen. Vortragender schliigt vor, auch die heilbaren Forrnen abzu-
sondern (1,8 bis 13 pCt.), die zweifellos anderen Krankheitsformen angelioren.
Vortragender bespricht nun im einzelnen die verschiedenen Uiiterarten dieser
Affektion nach ihren feineren Merkmalen und gruppiert sie. Er warnt vor
dem Zusammenwerfen aller dieser Forrnen unter einem gezwungenen Namen
und macht tlinteilungsvorschlage. Was die Pathogenese und die Prognose
anlangt, so seien imsere Beobachtungen noch zu wenig geordnet, als dass vvir
mehr als blosse Hypothesen aufstellen konnten, und die Kriterien noch zu
gering an Zahl und zu unsicher, urn von den ersten Stadien bis zum endgiil-
tigen Verlauf eine vollkommene Prognose zu ermoglichen, doch meint Vor¬
tragender, dass die wissensehaftliche J^rforschung dieses viclgestaltigen
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158 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
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Symptomenkomplexes und seine eenaue nosographische Abgrenzung eine
der wichtigsten Aufgaben der psychiatrischen Forschung darstellt.
(Autoreferat.)
Diskus&ion.
Weygandt, Hamburg, glaubt, dass die Kemitnis der Dementia praecox
im Entwicklungs$tadium sei. Das wichtig&te, haufigste und schwerste
Symptom ist die Demenz des Affekts und Widens, aber nicht die des
Intellektea. Er hat zwei 60 jahrige Patienten beobachtet, die sich bis-
jetzt in diesem Zustand befunden haben, ohne wesentliche Intelli-
genzdefekte zu zeigen. Er wlirde die Bezeichnung Paraderoenz der
Bleiders : Schizophrenie vorziehen. Auch der von ihro gepragte Terminus:
Dementia apperceptiva eracheint ihm zweckmassiger. Die Benennung
Dementia primitiva konnte wieder zu Irrtumern Veranlassung geben.
Sommer . Giessen, gibfc der Meinung Ausdruck, dass der Ausdruck
Dementia pracox durch Dementia primitiva (primarer Schwachsinn) zu
ersetzen sei, da die Pracocitas nur ein charakteristischee Merkraal einer
speziellen Form der Demenz ist.
Tamburini (Schlusswort) ist der Ansicht, dass von dem Sammel-
begriff der Dementia pracox die Gruppe der Dementia primitiva ab-
zutrennen sei.
Heboid , Wuhlgarten: Ueber Epileptiker-Anstalten. Vortragender gibt
in seinem Vortrage das Ergebnis einer 16jahrigen Erfahrung, die er atir der
Besehaftigung an der Berliner stadtischenAnstalt fiir Epileptische Wuhlgarten
gewonnen hat. Er fiihrt die Griinde an, die zur Griindung solcher Arista!ten
fiihrten und die diesel ben bind, die vordem schon in den Irrenanstalten dazu
fiihrten, die Epileptiker auf gesonderten Abteilungen zu halten. wozu a Is
wesentlicher Grund noch kommt, dass in solcher Anstalt alle Epileptiker
ohne Ausnahme untergebracht werden konnen, auch solche, die nicht geistes-
krank sind. Von den drei Arten der Epileptikeranstalten: 1. Unterbringung
aller Epileptiker ohne Ausnahme (Beispiel: Wuhlgarten), 2. Unterbringung
von nur nichtgeisteskrauken Epileptikern (Beispiel: Craig colony in Nord-
Amerika), 3. Epileptikeranstalt mit Zumischung von anderen Geistes-
kranken (Beispiel: Prov.-Anstalt Uchtspringe) halt er, sich den An-
schauungen Alts anschliessend, die letzte Art fiir die im allgemeinen am
meisten zu empfehlende, da sonst den Epileptikern so wie so schon andere
Geisteskranke untermischt werden, die Aerzte eine bessere Ausbildung
und grossere Befriedigung in ihrem Sonderberufe finden und das Pflege-
personal besser angelernt werden kann. Er erachtet je nach Umstanden eine
Unterbringung von \' 5 — 1 / 3 Geisteskranken in einer Epileptikeranstalt fiir
das gegebene Verhaltnis und weist auch darauf hin, dass in Verbindung
mit der Epiloptiker-Anstalt ganz gut eine Nervenheilstatte zu bringen ist.
Die Anstalt fiir Krampfkranke gleicht einer Irrenanstalt, hat aber mehr
Abteilungen fiir freiere Behandlung und verlangt besondere Vorsorge fiir
Besehaftigung der Kranken, insbesondere mit Landarbeiten und Garten-
pflege. Der Vortrag schliesst mit einem kurzen Abriss des allgemeinen
Bauprogramms und erliiutert eine solche Anlage an dem Plan der Anstalt
Wuhlgarten.
P . Roubinoviteh , Paris: Ueber die therapeutische Anwendung des
Liquor cerebrospinalis in der Psychiatric und speiiell bei der Behandlung
der Angstzustande. Vortragender berichtet iiber neun Falle von melan-
cholischer Depression mit lebhafter Angst, die zum Teil auch von hypochon-
drischen Vorstellungen und Selbstmordgedanken begleitet war, und in denen
die Thera})ie in einer Lumbalpuiiktion bestand, die eine Entleerung von
15 bis 25 com Liquor cerebrospinalis ergab und sofort von einer subkutanen
Injektion der ganzen entzogenen Fliissigkeitsmenge in die Glutealgegend
desselben Kranken gefolgt war. Durch diese dojipelte Einwirkimg wurde
auf den Puls, die arterielle Spannung und die Temperatur der Kranken
stets in jedem Falle ein guns tiger Einfluss ausgeiibt. Vortragender gibt eine
Uebersieht der therapeutisclien Resultate der 9 Falle und konstatiert,
dass 6 mit Erfolg behandelt wurden. Die Bessernng tritt zwischen dc‘in
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vom 29. August bis 4. September 1909.
159
uad dem 30. Tage nach der Injektion in Erscheinung, doch ist manchmal
eine zweite oder dritte injektion notwendig, um die psychischen Alterafcionen
zum Verschwinden zu bringen. Um sich zu versichern, dass der Liquor
cerebrospinalis thermogene Eigenschaften besitzt, hat Vortragender fiinf
Idioten je 10 ccm sterilisierten. von Pferden gewoimenen Liquor cerebro¬
spinal is injiziert und bei alien bedeutende Temperatursteigerungen hervor-
gerufen. Gleichzeitig wurden 5 anderen Idioten je 10 ccm physio logisches
Serum eingespritzt, ohne die goringste Temperaturstci gerung zu erzielen.
Alle Hyperthermien, sowohl die durch Liquor men&chlichen, wie die durch
Liquor tierischen Ursprungs hervorgerufenen, kiangen lytisch ab, und alle
waren von Veranderungen des Pubes imd der arteriellen Spannung be-
gleitet. (Autoreferat.)
Diskussion.
Anton , Halle: In etwa 30 Fallen, in welchen er nach dem Veifahren
des Bal kens tidies von Bramann die Ventrikel punktierte, hat A. bei Ab-
wesenheit von Komplikationen keine Temperatursteigerung beobachtet.
Es bildet diese Operation gewissermassen auch einen Versuch zu der hypo-
dermatischen Applikation des Liquors.
, * • 8. Sitzung , 2. September , naehmittaga .
Vorsitzende: Bresler . Friedldnder y dann Moravc&ik.
P. Ronby-Algier: 1. Die Wunder von Lourdes bei den Hysterischen. Vortr.
zahlt alle Formen von Hysteric auf, die bisher in Lourdes ,,geheilt“
wurden. und weist auf die grosse Erregung hin, den Shock , der die
angeblichen Heilungen bewirkt. Vortragender behandelt ausfiihrlich ver-
schiedene heilbare Affektionen, speziell die Coxalgien, die Magengeschwiire,
einzelne Augen- und Ohrenkrankheiten und endlich die Liihmungen, die
das grosste Kontingent der ,,Wunder“ liefern, und analysiert einzelne Falle,
die sehr viel besprochen wurden und den Ruf von Lourdes als Heilstatte
begriindeten. Am Schlusse seiner Ausfiilirungen beschaftigt sichVortragender
mit den 95 pCt. ungeheilten Besuchern von Lourdes und konstatiert, dfitss
dieses Verhaltnis dem der hysterischen zu den ubrigen Erkrankungen
entspricht.
2. Die Wunder von Lourdes bei den^Nichthysterisehen. Vortragender
spricht liber die angeblich dort vollzogenen Lupusheilungen, darunter den
von Zola in seinem Roman beschriebenen Fall und stellt feat, dass es sich
bei alien diesen ,,Heilungen“ nicht um eigentlichen Lupus, sondern um
ahnliche, auch sonst abheilende Affektionen handelte. Auch bei der Be-
sprecliung der durch Eintauchen in die heilige Quelle geheilten Frakturen
stellt er an Hand der einzelnen Falle fest, dass die angeblichen Wunder nur
Irrefiihrungen der Fromnien durch fromme Aerzto oder Schriftsteller
darstellen,ebenso die angeblichen Heilungen vonTaubstummheit, undkommt
zu dem Schlusse, dass trotz sorgfiiltiger Priifung der einzelnen viel besproche-
nen Falle auch nicht eine einzige Behauptung derW T underwirkung der Quelle
von Lourdes verifiziert werden konnte. (Autoreferat.)
C. Hudaremig, Budapest: Zur Unterscheidung funktionell und or-
ganisch bedingter Druckempfindlichkeit. Im Gegensatz zu dem Mannkopf -
schen Symptome, welches in einer Vermehrung der Pulsschlage l>ei Druck
auf funktionell einpfindliche oder schmerzhafte Punkte (traumatische
Xeurose, Hysterie, Neurasthenic) besteht, konnte Hudovemig in 91,5 pCt.
organisch bedingter Druckempfindlichkeit (Operations-, Verletzungsnarben,
entzundlicho Prozesse usw.) eine mitunter ganz bedeutende Verlangsamung
der Herztatigkeit (um 10—20, durchschnittlich 15 Schlage in der Minute)
nach wen en, welche in der zweiten oder dritten Minute zun^eist schwindet
und der urspriinglichen Pulszahl Platz macht. Von einer Verandenmg
des Blutdruckes ist diese Erscheinung nicht begleitet. Organische Ver¬
anderungen ohne Druckempfindlichkeit zeigen wahrend eines auf dieselben
ausgeiibten Druckes nicht die Verlangsamung des Pulses. Somit kaim diese*
Monat«schrift ftir Psychiatrie und Xeurologie. Bd. XXVII. Heft 2. U
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160 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
Erscheinung zur Unterscheidung, ob eine Druckempfindlichkeit funktio-
neller Natur oder organisch bedingt ist, in den meisten Fallen verwertet
werden. (Au toreferat.)
XL Sektion (Neurologie).
2. Sitzung am 30. August , vormittags .]
Vorsitzende: Jendrassik , Sicard^ Head.
Geschaftsfiihrender President, Prof. Jendrassik-Budsipest, eroffnet
die Sitzungen der Sektion mit einer beifallig aufgenommenen Ansprache.
in welcher er auf die gewaltigen Fortschritte der Neurologie und ihrer Zweige
hinweist und den Wunsch ausspricht, dass die Untersuchungen und For-
Bchungen nicht auf allzu kleine Gebiete beschrankt werden. Die Isolierung
der neurologischen Sektion halt er eigentlich fur unrichtig, eine Vereinigung
derselben mit der Sektion fur interne Medizin ware hochst wiinschens wert,
doch ware dieselbe in drei Gruppen einzuteilen: infektiose Krankheiten,
Emahrungs krankheiten, und Erkrankungen des Nervensystems; den Ver-
handlungen der letztenGruppe sollten auch die Psychiater beigezogen werden,
doch denselben fiir die Fragen der Irrengesetzgebung eine Spezialsektion
ziu* Verfiigung stehen.
H. Oppenheim - Berlin: Diagnose und Behandlung der Geschwiilste
innerhalb des Wirbelkanals.
Der Referent behandelt das Thema auf Grund der neuesten, in den
letzten 2—3 Jahren gesammelten Erfahrungen, da aus friiherer Zeit bereits
gute Zusammenstellungen vorliegen. I. lnwieweit ist durch die neuen Be-
obachtungen die Diagnose und Differentialdiagnose gefordert ivorden ? 1 . Die
Differentialdiagnose zwischen dem meningealen und dem Wirbeltumor.
Sie hat kaum an Sicherheit gewonnen. 2. Die Differentialdiagnose zwischen
der intra- und extramedullaren Neubildung. Es gibt wertvolle, aber keine
zuverlassigen Merkmale. Das wertvollste ist die Konstanz der oberen
Polsymptome. Aber die Liquoransammlung oberhalb der Geschwulst
und die sie zuweilen begleitende Meningitis serosa circumscripta kann ein
Aufsteigen und ein Fluktuieren der oberen Niveausymptome bedingen.
Es gibt auch andere Ursachen fur ein Aufriicken der obersten Segment-
symptome beim Tumor der Ruckenmarkshaute. Ref. schildert einen Fall,
welcher lehrt, dass die Feststellung, ob eine Geschwulst von den Meningen
oder vom Riickenmark ausgeht, selbst bei der Operation unmoglich sein
kann, einen anderen, in welchem der bei der Laminektomie intramedullar,
bei der Autopsie zunachst extradural erscheinende Tumor doch innerhalb
der Dura sass. Die differentialdiagnostischen Kriterien zur Unterscheidung
der meningealen Geschwulst von der Gliosis sind keine durchaus zuverlassigen.
3. Von anderweitigen extramedullaren Erkrankungen, die das Bild des
Tumors vortauschen konnen, ist die Meningitis spinalis serosa die wichtigste.
Ursachen, Wesen und Merkmale derselben. Unzuverlassigkeit der Horsley -
schen Unterscheidungskriterien. Aufgaben der Chirurgie bei der Feststellung
eines serosen und fibrosen Meningealprozesses. 4. Die iibrigen primaren
Riickenmarkskrankheiten—^Myelitis, multiple Sklerose, kombinierte Strang-
erkrankung etc. — spielen in differentialdiagnostischer Hinsicht keine
wesentliche Rolle. 5. Die Existenz eines „Pseudotumor medullae spinalis“
ist nicht bewiesen. 6. Beziiglich der Segmentdiagnose haben die neuen Er¬
fahrungen zwar manchen Fortschritt gebracht, aber uns auch mit neuen
Irrtumsmoglichkeiten bekannt gemacht. Bedeutung der Liquorsperrung
und sekundaren Meningitis serosa und fibrosa fiir die Segmentdiagnose.
Eine Geschwulst, die das Riickenmark komprimiert, kann Segmentsymptome
hervorbringen, die auf die Gegend unterhalb seines unteren Poles zu be-
ziehen sind. Bedeutung der Hyperreflexie als oberstes Niveausymptom
fiir die Hohendiagnose. II. Trotz aller der erorterten Schunerigkeiten sind
die therapeutischen Resultate uberaiLs befriedigende und die Fortschritte in
dieser Hinsicht unverkennbar . Bilanz der eigenen Beobachtungen (25 operierte
FdUe mit 13 Heilungen). Indikationen. (Autoreferat.)
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vom 29. August bis 4. September 1909.
161
Disktission .
C. Mvskens-Amsterdam erwShnt, class er schon 1900 iiber einen
operierten Cervikal-Tumor berichten konnte. Er hat niemals von der
Rontgen-Photographie irgend einen Nutzen gesehen. Auch die Perkussion
der Wirbelsaule gibt selten Vorteile.
£o#i< 7 er-Hamburg verfiigt auch iiber vier operativ behandelte Riicken-
markstumoren mit 50 pCt. Heilungen. Beziiglich des Pseudotumor spinalis
hebt er hervor, dass diese Bezeichnung keine Diagnose sein soil, sondem nur
aussagt, dass es sich um ein dem Tumor spinalis gleiches Rrankheitsbild
handelt, dass sich erst durch weitere Beobachtung vom Tumor spinalis
unterscheidet. Auch er h<, wie Oppenheim , eine Differentialdiagnose
zwischen Tumor und multi pier Sklerose bei geniigend langer Beobachtung
stets fur moglich.
Oppenheim (Schlusswort) halt es fur besser, die irrefiihrende Bezeich¬
nung Pseudotumor iiberhaupt fallen zu lassen.
L. v . Franlcl-Hochwart- Wien: Die Diagnostik der Hypophysentumoren
ohne Akromegalie.
F . - H. berichtet iiber die Diagnose der Hypophysistumoren ohne
Akromegalie auf Grund von 156 in der Literatur niedergelegten Nekropsien
sowie auf Grund einer Reihe eigener Falle. Ausser Allgemeintumor-
symptomen fallen besonders psychische Storungen (Schlafsucht) auf;
daneben hemianopische (bitemporale) Defekte, Atrophia nervorum opti-
corum oder Neuritis optica, Augenmuskellahmungen, Polyurie, Polydipsie,
Temperaturanomalien. Radiologisch ist Vergrosserung der Sella turcica
nachweisbar. Die Individuen sind oft klein, bisweilen zwerghaft. Es kommt
nicht selten zu Impotenz, eventuell zu Amenorrhoe. Bei jungen Individuen
verbindet sich das Riickbleiben der Genitalentwicklung mit Ueberfettung;
es kommt dann zum Bilde der Degeneratio adiposo-genitalis (Typus Frohlich).
Die Tumoren sind der verschiedensten Art, gehen meistens vom Hypo-
physenapparat aus, komprimieren das Chiasma sowie auch andere Himteile.
Die Dauer der Krankheit betragt einige Monate bis 30 Jahre. Differential-
diagnostisch kommen andere Basalprozesse, namentlich Lues in Betracht.
Aehnliche Bilder machen noch die Geschwiilste der Zirbeldnise sowie ge-
wisse Formen der konstitutionellen Fettleibigkeit, ferner manche Formen
des Diabetes insipidus des Kindesalters. (Autoreferat.)
Disktission.
Harvey Cushing hat iiber 100 Experiment© ausgefiihrt; to tale Ent-
femung der Hypophyse ist todlich innerhalb 2—5 Tagen. Noch wichtiger
sind die Resultate der partiellen Entfemung des Vorderlappens; er konnte
auf diese Weise den Typus Frohlich hervorrufen, dieser ist demnach hyper-
hypophysar. Eine erfolgreiche Operation bei Akromegalie ohne Tumor ergab,
dass die Akromegalie (wahrschemlich auch Riesenwuchs) hyperhypophysar
ist. Er hofft von dieser Scheidung noch viele Resultate fur die Zukunft, so
wie sie sich fiir die Schilddriise schon ergeben haben.
Higier- Warschau macht auf einen von ihm beobachteten benignen
Typus von Hypophysistumoren aufmerksam; es bestand dabei zuerst
zentrales Skotom, dann bitemporale Hemianopsie, Impotenz und Polyurie;
keine Akromegaliesymptome, keine Anzeichen von basaler luetischer Me¬
ningitis, keine Stauungspapille. Nach 4 Jahren langsam spontane Besserung,
wahrend eine antiluetische Kur versagt hatte.
Fr67i/ic/i-Wienhebthervor,dass trotz der einwandfreien experimentellen
Befunde Cushings , bei denen liauptsachlich der glandulare Teil des Organs
beteiligt ist, doch auch der nervose Teil des Organs nach seinen und
v . Frankl-Hochivarts Untersuchungen intensive Wirkung ausiibt, indem ge-
wisse Beckenorgane in erregendem Sinne dadurch beeinflusst werden.
Biro- Warschau hebt hervor, dass er selbst schon 1897 bei einem
15 jahrigen Knaben Haarlosigkeit der Regio pubica und des Korpers iiber-
haupt und weibliche Beschaffenheit des Bee kens beschrieben habe. Auch er
glaubt, dass die Hypophysis wie die Thymus und die Schilddriise einen
gewissen Einfluss auf die sexuelle Entwicklung habe.
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162 XVI. internationaler medizinischor Kongress in Budapest
v. Eiselsberg-W ien hat 5 Falle von Hypophysistumoren operiert.
Die Erfolge waren: einmal Exitus durch Meningitis, einmal keine wesent-
liche Besserung, dreimal entschiedene Besserung seit 2 r 4 , 1 1 / 4 , Jahren.
Auffallend ist dabei, dass immer unradikal bei sicher histologisch-malignen
Tumoren operiert wurde.
Henschen -Stockholm gibt ein pathognostisch sehr feines Symptom an.
wenn die Geschwulst noch klein ist. Die in der Mitte des Chiasma sich kreu-
zenden Makularfasern liegen so, dass die Fasern der unteren (ventralen)
Retinahalfte ventral liegen. Diese ventralen Fasern werden zuerst gedriickt
bezw. aus der Funktion gebracht. Dadurch entsteht makulare Hemianopsie
nach oben, die ein- oder beiderseitig sein kann und durch Lasionen der ven¬
tralen Halite des Chiasmas oder durch bilaterale minimale Lasionen des
Sehzentrums, z. B. durch Schussverletzung im Occipitallappen entsteht.
Sie ist daher ein feines Symptom fur beginnende Hypophysistumoren.
E . Letn-Florenz verweist auf einen von ilim im Jahre 1908 in der
Iconogr. d. 1. Salpet. publizierten Fall von Infantilismus mit einem grossen
Tumor der Hypophysis. Er wirft die Frage auf, ob dieser Infantilismus
nicht als ein pluriglandulares Symptom zu betrachten ist, das durch den
geanderten Einfluss der Hypophysis auf die anderen Driisen mit innerer
Sekretion, speziell die Geschlechtsdriisen, hervorgerufen werde.
Oppenheim -Berlin betont die relative Gutartigkeit dieser Geschwulst
und rat daher zu reserviertem Verhalten in der Operationsfrage, insbesondere
da die Adipositas auch nur Fernsymptom sei.
v. Frankl-Hochvxirt (Schlusswort) erwidert Henschen , dass seine Falle
zu vorgeriickt waren, um das von H. angegebene, sehr wertvolle Symptom
zu beobachten. Gegeniiber Levi weist er darauf hin, dass sich diese Frage
nur durch Nekropsie entscheiden lassen wird. Oppenheim erwidert er, dass
er auf die Verfettung als Fernsymptom hingewiesen habe, und prazisiert seine
Ansicht dahin, dass die Operation nur indiziert sei, wenn Erblindung droht,
das Thyreoidin versagt, oder wenn unertragiiche Kopfschmerzen vorliegen.
2 . Sitzung am 30. August, nachmittags .
Vorsitzende: Roth , Frankl-Hochwart.
L. Minor-Moskau: Die Symptomatologie der traumatischen Affektionen
des Halssympathicus.
Auf Grund einer grossen Keihe eigener Beobachtungen, welche M.
anheimgekehrtenVerwundeten aus dem russisch-japanischenKriege machte,
und analoger Falle aus der Literatur, kommt M. zu folgonden Schliissen:
Ungeachtet der Vielfaltigkeit der Kopf- und Halstraumen, bei welchen
der Sympathicus in Mitleidcnschaft gezogen wird. kann man eine ziemlieh be-
schr&nkte und dabei sehr bestandige Gruppierung von Symptomen be¬
obachten, welche in drei charakteristische Symptomenkomplexe zerfallt:
I. Einen Typus glosso-vago-sympathicus, bei welchem neben den be-
kannten Sympathicus-Symptomen noch eine Hemiatrophia linguae und
Stimmbandlahmung auf derselben Seite hinzutritt.
II. Typus vago-sympathicus, w r o neben Sympathicus-Symptomen
noch eine Stimmbandlahmung auf derselben Seite besteht und
III. Typus sympathicus purus sen physiologicus , wo nur die bokannten
Sympathicus- Syinptome bestehen.
An die drei vom Verfasser aufgestellten Typen reihen sich noch die
multiple Himnervenldhmung (Zunge, Gaumensegel und Stimmband auf
der einen Seite, ohne Sympathicus) und die bekannte Klumpkesche Lahmung
(Brachialgebiet und Sympathicus). Bei dem Feststellen der Sympathicus-
beteiligung leisten grosse Hiilfe die pharmakodiagnostischen Proben mit
Aspirin (Schweiss), Adrenalin und Kokain (Augen-Sympathicus). Die
Kokainprobe ist bei Trauinen des Halssympathicus so zuverlassig, dass es
erwiinscht erscheint, dasselbe Mittel auch bei anderen Krankheiten mit
Verdacht auf Symj)athicuslasion anzuwenden.
M. machte mit Kokain Proben bei Tubes, Syringomyelie, Hamato-
myelie, Paralysis progressiva, verdachtiger Neurasthenic, Lues cerebrospi-
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vom 29. August bis 4. September 1909.
163
nalis, Amelie, angeborener Verengung der Lidspalte, Poliomyelitis der oberen
Extremitat, Migraneetc., und gelangte in einigen Fallen zu sehr interessanten
positiven Result a ten. Die Untersuchung ist in dieser Richtung noch nicht
abgeschlossen, und die definitiven Resultate werden nachstens in extenso
veroffentlicht werden. (Autoreferat.)
Kollarits- Budapest: Ueber das Zittern.
Graphische Untersuchungen mit sehr empfindlichen Instrumenten
zeigen, dass fast an jedem gesunden Mensehen bei gestreckter Extremitat ein
Zittern oder ein rhythmisches Schwingen festzustellen ist. Die Schwingungen
eines langen und schweren Extremitatabschnittes sind langsamer als die
eines kiirzeren und leichteren. Beim gesunden Mensehen haben alle
Extremitatsabschnitte, die Finger, die Hand, dor Unterarm, der Oberarm,
der Oberschenkel, der Unterschenkel, der Fuss eine eigene in weiten Grenzen
varierende Schwingungszalil in der Sekunde. Bei Kranken ist ein Abweichen
von diesen Zahlen zumeist in den Fingern, an der Hand und am Unterarm
bemerkbar. Die Zahl wird in diesen Fallen niedriger, d. h. die Schwingung
langsamer. Der Grund dieses Verhaltens ist hauptsiichlich darin zu suchen,
dews die einzelne Schwingung extensiver ist und deshalb mehr Zeit in
Anspruch nimmt. Die Zitterbewegungen geschehen moistens in der Richtung
der Beugung und Streckung, wenn aber die Bewegung in dieser Richtung
durch Anbringen eines Gewichts unmoglich wird, wechselt sie ihre Richtung.
DerRhythmu8 des Zittems ist gewohnlich regelmassig, am unregelmassigsten
ist das hysterische Zittern. Die Buchstaben sind bei dem hysterischen Zittern
trotz der verunreinigenden Seitenbewegungen oft vollkommen erkennbar,
die Kranken sind imstande.einen langen Brief zu schreiben; man kann sagen,
dass die zittemdc Hand die Feder doch sicher fiilirt. Die willkurlichen Be-
wegungen sind langsamer als das Zittern, sie sind in verschiedenen Richtungen
verschieden schnell. Ein angebrachtes Gewicht verlangsamt das Zittern
und kann es auch dann zum Vorscheine bringen, wenn es sonst nicht be¬
merkbar ist.
Das leichte Zittern der gestreckten Extremitat beim gesunden
Mensehen ist die Folge einer physiologischen Koordinationsunvollkommen-
heit. Es kann physiologisches Intentionszittern genannt werden. Beim
Kranken steigert sich das Symptom und wird zum Koordinationsfehler.
Bei dem Ruhezittern besteht eine Storung der Innervation, welche den
Muskeltonus bedingt. Die Impulse des Zitterns gohon von der Hirnrinde aus.
Herde, welche in einern anderen Teile des Geliirns liegen, konnen das physio-
logische Zittern derart verandem, dass es pathologisch wird. Das Zittern,
welches Freusberg an Tieren beobachtete, deren Ruckenmark durch-
schnitten war, ist refloktorischen Ursprungs und kann mit dem Klonus ver-
ghehen werden. Das Zittern ist die Folge einer wechselnden Innervation
der Antagonisten und Agonisten, obgleich eine geringe Unregelmassigkeit
auch bei der Bewegung von Muskeln, welche koine Antagonisten haben, be¬
merkbar ist. Die Zahl der Schwingungen in der Sekunde hangt haupt-
sachlich von ihrer Amplitade ab und steht mit dor Zahl der zentralen
Impulse nicht in Zusammenhang. So kann der hypertonische Zustand des
Muskels allein das normale Intentionszittern zur pathologische Hohe er-
heben. Dieses Symptom ist demgemass bei Hemiplegio sehr oft vorhanden.
Die Gesetze des Zitterns stehen mit den Gesetzen des Pendels nicht im
Einklange. «(Autoreferat.)
Dejerine-Voris und Po^-Mans: Ein Fall von intermlttierendem Hinken
spinalen Ursprungs.
Das intermitt ierende Hinken (Typue Dejerine) ist ein noch neues, wenig
studiertes Syndrom, das aber schon klar definiert und gut von dem intormit-
tierenden Hinken periphcrischer Genese — Typus Charcot — unterschieden
ist. Die Vortr. berichten liber eine sehr vollstandige Beobachtung einer der-
artigen Affektion. Es handelt sich urn einen Mann von 60 Jahren, der immer
ausgezeichnet gehen konnte, bis sich vor 15 Jahren, im Anschluss an einen
infektiosen Schnupfen, eine gewisse Schwache im linken Bein zeigte, die
seither starker wurde. Wenn er einige Minuten gegangen war, fiihlte er sein
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164 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
Bein schwacher werden, als wenn es aus Blei ware, dann unter ihm nach-
geben, er ist gezwungen, einige Zeit einzuhalten und sich auf das rechte Bein
zuBtiitzen; wenn er dann von neuem zugehen beginnt,ist seinGang nicht mehr
normal und zeigt einen gewissen Grad von Hinken. Bei der Untersuchung
konstatierten die Vortr. eine Steigerung des Patellar- und Achillesreflexes,
die nach dem Gehen noch anwachst, keinen Fussklonus, kein Babinskisches
Zeichen; bei der Palpation der Arterien der unteren Extremitaten konstatiert
man eine Differenz der Intensitat der Pulsschlage links und rechts. Oft
wiederholte lokale thermometrische Messungen haben gezeigt, dass immer
die Temperatur des linken Fusses ungefahr l / 2 Grad hoher ist als die des
rechten, eine Differenz, die nach dem Gehen e6en geringer wird. Trotzdem
syphilitische Symptome auch nicht andeutungsweise vorhanden waren,
wurde eine Quecksilberbehandlung eingeleitet; sie ergab gar kein Resultat.
Dieeer Fall unterscheidet sich deutlich von dem intermittierenden Hinken,
Typus Charcot , bei welchem Abschwachung der Pulsschlage der Arterien
der unteren Extremitaten da ist, weiter die Reflexe wahrend des Gehens
und in der Ruhe in gleicher Weise normal sind und vasomotorische Be-
schwerden auftreten, welche Cyanose und Gefiihl der Kalte erzeugen.
Vom atiologischen Gesichtspunkt erscheint der Einfluss der Grippe sicher:
in Bezug auf die Entwicklung muss das Benigne der Affektion hervor-
gehoben werden, insofern sie nicht in spastische Lahmung enden zu
miissen scheint, die sonst das gewohnliche Ende der Affektion darstellt.
(Autoreferat.)
Diskussion .
v. Frankl-Hochwart- Wien erwahnt die Falle zweier nervengesunder
Personen, die Symptome bo ten, welche an intermittierendes Riickenmark-
stottem erinnem, Ein 30 jahriger Mann hatte nach einer anstrengenden
Gebirgstour das Gefiihl abwarta vom Nabel fiir einige Stunden verloren.
Ein 40 jahriger Mann litt wahrend einer langen Bergwanderung an charak-
teri8tischem Hamtraufeln, das sich bald wieder verlor.
Itotfi-Moskau meint, es konnte sich das geschilderte Symptom auch bei
der Forme fruste spinale der Sclerose en plaques finden.
Mattauschek-Wien: Auf nervoser Grundlage entstehende Enuresis.
Diese vom klinischen und militararztlichen Standpunkte so wichtige
Blasenstorung kommt bei Erwachsenen viel haufiger vor, als angenommen
wird. Die Schwierigkeit der objektiven Feststellung dieser als rein funktionell
angesehenen Storung, die Moglichkeit von Simulation und die relative
Haufigkeit beim Militar veranlasste M. zu genauer klinischer Untersuchiuig
einer grosserenAnzahl von Fallen. Bei mehr als80pCt. seiner Falle fehlte zwar
eine nachweisbare organische Erkrankung, aber Entwicklungshemmungen
(Syndaktylie, Reflexanomalien, Stbrungen der Warmeempfindung an den
Zehen und Rontgenbefunde am Kreuzbein) waren dennoch naeliweisbar,
welche in ihrer Gesamtheit bewiesen, dass die echte Enuresis bei sonst ge-
sunden, geistig intakten Individuen auf einer wahrscheinlich angeborenen
Hypoplasie des untersten Riickenmarksanteiles beruht.
3. Sitzung am 31. August , vormittags .
Vorsitzende: Mingazzini , Henschen.
Howcn-Helsingfors: Die Rolle der Bakterien in der Pathologie des
Zentralnervensystems.
Vortragender bezieht sich hauptsachlich auf experimentelle und
pathologische Untersuchungen im pathologischen Institut von Helsingfors.
Er weist auf die Wichtigkeit der Lymphwege, sowohl der lymphatischen
Hohlraume der peripheren Nerven als auch der perivaskularen Raume der
Nervenzentren fiir das Eindringen der Bakterien und ihrer Toxine in dieses
System hin, weiter auf die Lokalisation und die Entwicklung der Bakterien.
besonders im Mesodermgewebe, den Blutgefassen. Die Wirkung der patho-
genen Bakterien, einschliesslich der anaeroben Bakterien ohne Lokalaktion.
nur mit Femwirkung, und die Wichtigkeit der verschiedenen toxischen Pro-
dukte werden kurz besprochen. In den zahlreichen Fallen, die noch nicht
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vom 29. August bis 4. September 1909.
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ganz geklart sind, muss man eine Verbindung einer infektioeen toxischen
Aktion mit einer mechanischen, z. B. dem Verschluss eines Blutgefassee,
vermuten. Bei den Verbindimgen der Thrombosen der zerebralen Sinus
und der Venen der Pia mater mit den meningo-encephalitischen Prozessen
von infektiosem toxischem Ursprung in ihrer Umgebung glaubtVortragender,
dass zumindest in den meisten Fallen die letzteren Prozesse das Primare.
die Thrombosen das Sekundare sind. Vortr. verlangt eine genauere Klassi-
fikation und Terminologie dieser pathologischen Prozesse des Nervensystems.
Insbesondere gilt das fur denBegriff der Entziindung und hier wieder speziell
fiir die encephalitischen und myelitischen Prozesse. Dazu ist es aber vor
allem notig, die Natur und den Ursprung der Zellen zu studieren, die sich
bei den verschiedenen pathologischen Prozessen finden, speziell der Zellen
von relativ grossen Dimensioned Vortr. hat exakte Untersuchungen dieser
Zellen bei den verschiedenen Krankheitsprozessen wie auch bei experimen-
tellen Untersuchungen an Tieren angestellt und kam dabei zur Ueberzeugung,
dass wahrscheinlich die Majoritat der grossen Zellen, namentlich der Zellen,
die deutlich grosser sind als Leukozyten, darunter besonders die epitheloiden
Zellen, die besonders bei den Encephalitiden sehr reichlich vorhanden sind,
koine Abkommlinge der Neurogliazellen oder der fixen Mesodermzellen
oder der Plasmazellen sind, sondem hauptsachlich Polyblasten oder Ab¬
kommlinge von solchen, also in letzter Linie den Lymphozyten entstammen.
Er mochte daher die Termini Encephalitis und Myelitis auf jene patholo¬
gischen Prozesse einschranken, wo von Anfang an als integrierender Faktor
des Prozesses und nicht nur sekundar exsudative und emigrative Prozesse
im Spiele sind. Auch betont der Vortr. die nach ihrem Ursprung verschie-
dene Wichtigkeit der zellularen Formen, nicht nur fiir die pathologischen
Prozesse, sondem auch fiir die Phagocytose. Er erwartet von einer genaueren
Klarung dieser Fragen bedeutende Fortschritte fiir eine aktivere Behandlung
zumindest dieser pathologischen Prozesse des zentralen Nervensystems.
(Autoreferat.)
Dercum-Philadelphia: Interpretation der Aphasie.
Vortr. sucht zuerst ein Symptom, das alien Aphasien gemeinsam ist,
zu prazisieren. Er findet bei der motorischen und sensorischen Aphasie
die Herabsetzung des Sprachverstandnisses, und zwar sowohl der ge-
sprochenen als auch der geschriebenen Sprache. Thomas und Roux haben
durch ihre Methode der syllabaren Analyse gezeigt, dass die Gehorinter-
pretation der gesprochenen Sprache bei motorisch Aphasischen herabgesetzt
ist; bei diesen Versuchen wird die erste Silbe immer erkannt, aber die letzten
der eingeschobenen Silben niemals. Er legt die Unhaltbarkeit der Theorie
von Gehors- und Gesichtswortbildem dar imd entwickelt seine eigene
Ansicht dahin, dass wir in der Schallerkennung eine Assoziation akustischer
Qualitaten haben, wie in der Stereognose eine Assoziation taktiler Qualitaten.
Die Kenntnis bestimmter Schalleindriicke ist nicht direkt mit den Natur-
gegenstanden assoziert, sondern mit dem Inbegriff dieser Naturobjekte.
Einfache Schallerkennung nennt er Acugnosis, Spracherkennung Logognosis.
Analog dem Ausdruck Stereoagnose ware der Verlust der zwei genannten
Funktionen Acuagnosis und Logoagnosis zu nennen. Im Einzelfall variieren
die Defekte in verschiedenen Fallen sowohl nach dem Grade der Symptome
als auch nach der Art der mangelnden Assoziation. Wiederbelebung
(re-enforcement) ist ein teilweises, plotzliches Wiederfinden der Sprache fur
gewisse Wendungen imter dem Stimulans von ungewohnlicher Erregung.
Die Behinderung wird plotzlich durch eine machtige wiederbelebende Welle
uberwunden. Eine ahnliche Erklarung muss fiir die ,,singenden Aphasiker 44
angewendet werden. Er fiihrt dafiir Beispiele an, von denen besonders ein
Fall bemerkenswert ist, bei dem sensorische Aphasie bestand mit dem Haupt-
symptom der Amusie; hier wurden ganze Satze unter dem Einflusse des
Re-enforcement gebildet, das taktile Re-enforcement versagte, wenn es
visual 1 nicht gelang, und weiter war die Unfahigkeit auffallend, seriale
Auftrage auszufiihren. Der Verlust der Tatigkeit, richtig zu assozieren,
muss hier struktuell oder funktionell die Verbindungen der Wernicke schen
Region betreffen, und die Region des taktilen Wiedererkennens oder der
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166 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
Stereognose muss andererseite gestort sein. Das lasst sich am besten durch
die Diaschisis-Theorie Monakows erklaren. Vortr. hat das Re-enforcement
auch in Bezug auf expressive und gesprochene Sprache beobachtet. Die
Alexie sucht er aus dem leichten Verlust der spater erworbenen Fahigkeit,
geschriebene Sprache zu verstehen, zu erklaren.
Disku88ion .
Mingazzini-'Rom bespricht die JBedeutung des Linsenkemes bei der
motorischen Aphasie; es sei notig, zwischen vorderer und hinterer Partie
desselben zu unterscheiden, in der vorderen enden die motorio-phasischen
Biindel, in der hinteren diejenigen, welche die Verboarthrie vermitteln. Bei
Verletzung des vorderen Teiles resultiert motorische Aphasie, bei Verletzung
dee hinteren Anarthrie verschiedenen Grades.
Dercum (Schlusswort) sieht ein grosses Verdienst Maries darin, dass
er zu neuem und exaktem Studium der Aphasie angeregt hat; die Frage der
Lokalisation ist noch nieht ganz geklart.
Outzmann- Berlin: Die Beh&ndlung der Aphasie.
Die Frage der Aphasiebehandlung ist bisher noch weniger diskutiert
worden, besitzt aber ein eminent praktisches Interesse. Die Stellung der
Prognose hangt in erster Reihe vom Zustande des Pat. ab. Auch friihes
Beginnen der Uebung ist strenge zu vermeiden, wenigstens ein halbes
Jahr muss nach Abklingen der sturmischen Erscheimmgen abgewartet
werden; vorzeitige Uebung kann eine neue Blutung hervorrufen. Vortr.
iibt erst dann, wenn sich nach 1—2 Jahren keine spontane Besserung der
Sprache einstellt. (Jute Erfolge lassen sich nur dann erzielen, wenn der Pat.
keine tieferen intellektuellen Storungen zeigt. Erregbarkeit, Depressionen etc
sind keine wesentlichen Hindemisse der Therapie. Die Prognose hangt immer
ab von der Art der Sprachstorung. Am schwersten zu behandeln ist die sen-
sorische Aphasie mit gesteigertem Rededrang; solche Patienten miissen sich
vorerst an die Einhaltung der normalen Hemmungen (Schweigen) gewohnen.
Unvollstandige Heilung lasst sich erzielen bei schweren kortikalen motori¬
schen Aphasien. Von grosser Bedeutung ist es, dass die Kranken wenigstens
den richtigen Gebrauch einiger Worte lernen, um sich notdiirftig aus-
zudriicken. Eine giinstigere Prognose stellt Vortragender den dysarthrischen
Storungen, welche er in syllabare und litterale Dysarthrien trennen mochte,
so dass er von aphasischen Stottem und aphasischem Stammeln spricht.
Von grossem Einfluss ist das Alter des Pat. Bei Kindern gleichen sich
manche Storungen spontan aus. aber auch bei alteren Leuten lassen sich
gute Erfolge erzielen. Bei sehr schweren Aphasien lasst sich auch mit
systematischer Gebardensprache manches erreichen. Zum Studium der-
selben pflegt Vortr. ein besonderes Bilderbuch zusammenzustellen.
Stem- Wien betont, dass die friiher geiibten Vor- und Nachspreche-
Uebungen vieles zu wiinschon iibrig lassen. es miissen also versehiedene
Faktoren zu Hiilfe genommen werden, wie sie Vortr. beschrieben hat. St.
findet, dass durch das Ueben sinnloser Silben das Gedachtnis sehr gestarkt
wird. Die Technik der Uebungstherapie und der richtige Umgang mit
aphasischen Kranken sind neben den sprechtherapeutischen Massnadimen
von besonderer Wichtigkeit bei der Behandlung.
Adamkiewicz-Wien : Ueber die Gedaehtniseigensch&ft und den Gedacht-
nisstoff des Gehirnes.
Nachdem Vortr. schon seit Jahren auf die Tatsache hingewiesen hat,
dass das Gedachtnis in keinem direkten Verhaltnis zur Intelligenz steht,
legt er jetzt ausfiilirlich dar, dass das Gedachtnis iiberhaupt keine sogenannte
psychische, sondern eine physische Eigenscliaft der Geliirnsubstanz sei,
die zur Psyche nur sofern in Beziehung steht, als sie die Grundlage, das
Fundament darstellt, auf das alle Fahiykeiten der Seele sich griinden.
//i^ier-Warschau: Zur Klassifikation der endogenen Hirnlahmungen
(Diplegiae cerebrales).
Es lasst sich nicht ohne W'eiteres die friihinfantile Form der cerebralen
Diplegie (I'ay-Sachs) mit der spat infant ilen und juvenilen (Freund. Higier ,
Vogt) identifizieren aus folgenden Griinden: 1. nur bei der juvenilen Form
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vom 29. August bis 4. September 1909.
167
wird einVorkommen in mehreren Generationen und Seitenlinien beobachtet;
2. nur bei der friihinfantilen ist Rassendisposition pathognostisch; 3. die
juvenile Form ist ausserst selten, die infantile ist in manchen Gegenden
(Polen, Littauen, baltische Provinzen) haufiger als die heredo-familiare
spastische Paralyse oder erbliche Dystrophie; 4. die interessante Muskel-
degeneration ist ausschliesslieh bei der infantilen Form vorhanden; 5. Ueber-
gange zwischen beiden Formen werden in einer Familie nie beobachtet; 6. das
klinische Bild ist bei der infantilen Form stereotyp. bei der juvenilen mannig-
faltig; 7. histopathologisch ist die infantile Form der Ausdruck einer ubi-
quitaren endo- und exozellularen Degeneration des Nervensysterns, wogegen
bei manchen Fallen (Spielmeyer) der juvenilen Form die Degeneration
eklektisch ist und iiberwiegend endozellular bleibt, bei anderen Fallen
( Merzbacher , Pelizaeus) die Zellen intakt gefunden werden und nur eine an-
geborene Aplasie der extrakortikalen Aclisenzylinder und Markscheiden vor-
Uegt. Vorderhand zwingt somit w T eder der klinische Verlauf noch der
pathologisch anatomische Befund die friihinfantile und spatinfantile zerebrale
Diplegie oder familiare amaurotische Idiotie als eine einheitliche Krankheits-
varietat aufzufassen. Sehr nahe histologische Verwandschaft und klinische
Familienahnlichkeit lassen sich aber nicht ableugnen.
(Autoreferat.)
Diskussion.
Schonfeld -Riga mochte, ohne der pathologisch-anatomisch begriindeten
Vereinheitlichung dieser endogenen Cerebropathien zunahetreten zu wollen,
nur darauf hinweisen, dass die angefiihrte familiare amaurotische Idiotie
klinisch sich doch ganz pragnant von den genannten mehr chronisch ver-
laufenden Erkrankungen abhebt. Bei den typisch Familiar-Amaurotischen
handelt es sich um einen sehnell fortschreitenden, allgemeinen korperlichen
und geistigen Auflosungsprozess, der in kurzer Zeit unabanderlich zum Tode
fiihrt, w r ahrend es bei der anderen Form doch moistens zu stabilenKrankheits-
zustanden kommt. Was die auffallige Bevorzugung der jiidischen Rasse
anlangt, so miisste erst die Zukunft lehren, ob nicht die vorzugsweise jiidische
K lien tel der Berichterstatter diesen Prozentsatz beeinflusst. Auch von ihm
sind vielleicht aus diesem Grunde in den letzten Jahren gerade 5 jiidische
Kinder mit sogenannter familiarer amaurotischer Idiotie beobachtet worden,
doch glaubt er. dass, wenn erst die nicht jiidischen Kollegen an diese seltene
Diagnose in alien Fallen von sogenannter Ernahrungskachexie oder ahnlichen
Erkrankungen denken wiirden, der charakteristische ophthalmoskopische
Befund auch bei Kindern anderer Abstammung zu finden sein diirfte.
R. Bing-B asel bringt einige Bemerkungen iiber das anatomische
Substrat der heredo-familiaren Nervenkrankheiten. Ausser der Tay -
^ac/wschen Form ist auch die „Aplasia axialis extracorticalis Li y die den
zerebralen familiaren Diplegien vom Typus Pelizaeus-Merzbacher zugrunde
liegt. eine Liision sui generis. Die exzessive Bindegew r el>sw r ucherung,
welche die ,,N6vrite progressive de Tenfance* 4 (Dejerine-Sottas) von der ge-
wdhnlichen neuralen Muskelatrophie so auffallig unterseheidet, zeugt von
der oft unterschatzten pathogenetischen Dignitiit auch der interstitiellen
Gewebe; eine relative Spezifizitat- darf auch die eigenartige Faserwirbel-
-bildung der Neuroglia bei Friedrcich-RuckerumiTken beanspruchen. Solche
pathologisch-anatomische Besonderheiten einzelner Formen zeigen uns,
dass die ganze Reihe der Erscheinungen weder durch die Aufbrauchs- noch
(lurch die ,,prainature 8eneszenz“-T1 leorie ganz gedeckt werden kann.
Sachs-Xew - York (Schlussw T ort): Die Pclizaeussche Form ist nicht
mit der Tay-Sachssch erl Form zu vereinigen. Die spastische Diplegie ist
auch meistens verschieden davon. Uauptgewinn des Studiums ist, dass diese
Kassenerkrankung in ihrer hereditaren Form eine zellulare Erkrankung ist.
4. Sitzung vom 31. August , nachmittags.
Vorsitzende: Peirin , Muskens.
Roussy-P&ris und Rossi- Milano: Harnblasen- und DefSkationsbe-
schwerden infolge experimenteller Lasionen des Conus terminalis oder der
Cauda equina.
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168 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
Vortragende haben bei 11 Tieren (Hiuide, Katzen) Experimente ge-
macht, um zu entscheiden, ob die Theorie Midlers richtig sei, naeh welcher
Miktion und Defakation nur von sympathischen Ganglien abhangig sind.
Bei einem Teile der Tiere wurde nach Abtragung des Conus terminalis
die Cauda equina durchtrennt; bei diesen Tieren traten dauemde Harn-
und Defakationsbeschwerden sofort naeh der Operation auf und bestehen
fort: tropfenweiser Harnabgang, Unfahigkeit den Ham im Strahl zu ent-
leeren, Blase leicht kompressibel, unvollstandige Entleerung der Faces,
kein Analreflex. Bei der zweiten Gruppe der Tiere wurde das Lumbalmark
ganz durchschnitten: periodische strahlenweise Hamentleerung, spater
schwer kompressible Blase, Analreflex ist vorhanden. Die Resultate sprechen
somit ganzlich gegen die Auffassung Midlers .
Frankl-Hochwart- Wien sieht durch die Experimente endgiiltig ent-
schieden, dass seine Ansicht vom Vorhandensein zweier subzerebraler
Blasensteuerungen richtig sei, und erinnert auchdaran, dass ihmder klinische
Beweis gelungen ist: bei einem Knaben init Harntraufeln und Trabekelblase
zeigte sich mikroskopisch nur Veranderung der 3. und 4. Sakralwurzel.
Mingazzini- Rom: Ueber die zentralen und peripheren Verbindungen
des Hypoglossuskernes beim Menschen.
(Erscheint in dieser Zeitschrift.)
A. Marina- Triest: Das Ganglion ciliare ist das peripbere Zentrum
ffir die Liehtreaktion der Pupillen.
Die vom Vortragenden angefuhrten Experimente erlauben diesen
Schluss. Pathologisch-anatomische Befunde bestatigen, dass dem Ganglion
ciliare und den Ciliarnerven eine grosse Bedeutung in der Pathogenese der
pathologischen Pupillenreaktion (Tabes, Paralyse) zukommt. Es ist mog-
Jich, dass die Konvergenzreaktion „primo loco“ durch die Dehnung der
kurzen Ciliarnerven zustande kommt, eine Hypothese, welche mit dem Re¬
sultate seiner Experimente liber die Transplantation von Augenmuskeln
bei Affen in Einklang steht. Es ist jedoch wahrscheinlich, dass die Akkommo-
dationsreaktion der Pupille eine bis jetzt noch nicht ganz geklarte komplexe
Ursache hat. Zum Schlusse betont Vortr. noch einmal nachdriicklich,
dass seine Meinung nicht richtig wiedergegeben wurde, wenn gesagt wurde,
dass er das Ganglion ciliare fiir das einzige Zentrum der Liehtreaktion halte;
er habe oft wiederholt, dass dasselbe nur das periphere Zentrum sei, womit
aber das Vorhandensein anderer Zentren durchaus nicht ausgeschlossen ist.
DisJcussion. Minor .
5c/uz//er-Budapest: Ueber doppelseitige Erweichung des Gyrus supra-
marginalis.
(Erscheint in dieser Monatsschrift.)
5. Sitzung vom 1. September.
Vorsitzende: Oppenheim,. Dercum.
H. Head-London: Ueber sensorische Impulse im Gehirn und Riicken-
mark.
Trotzdem wir annehmen, dass dor Mensch sich aus niederen Tieren
entwickelt hat, glauben wir doch, wenn wir vom Gefiihl und sensorischen
Prozessen reden, dass der Mensch mit sensorischen Endorganen begabt sei,
deren jedes einer sensorischen Qualitat der menschlichen Erfahrung ent-
spricht. Man nimmt an, dass die Impulse, die in jedem peripheren Endorgan
entstehen, unverandert zum Gehirn passieren und dort die eigentiimliche
und unbekannte V’eranderung setzen, die eine sj^ezifische Sensation hervor-
ruft. Weiter wird angenommen, dass der Ort des Reizes und das Gefiihl
der Stellung des gereizten Korperteiles auf eine psychische Grupp>ierung
primitiverer Sensationen zuriickzufiihren ist. Aber genaueres Studiiun
der Falle von Schadigung der peripiheren Nerven, der grosseren Nerven-
starame, der hinteren Wurzeln oder des Riickenmarkes beweist, dass das
nicht der Fall ist. Die Sensation ist das Resultat von afferenten Impulsen,
die eine Wiedergrupjpierung und Transformation erfahren haben, bevor sie
das Gehirn erreichen. Es variiert daher die Art des Verlustes der Sensation
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vom 29. August bis 4. September 1909.
169
deutlich entsprechend der Lage der Lasion. Vortr. fiihrt das an mehreren
Beispielen durch und kommt zu folgenden Schliissen: 1. Zwischen dem ersten
und zweitem Niveau des Nervensysterns unterliegen die sensorisehen Impulse
neuerlicher Gruppierung. 2. Dieser Uebergang von dem ersten zum zweiten
Niveau findet mit wechselnder Raschheit statt, entsprechend der Natur
der Impulse. So kreuzen die Bahnen, die dem Schmerz, der Warme- und
Kalteempfindung zugrunde liegen, innerhalb der Ausdehnung von 4—6 Seg-
menten, wahrend die Bahnen fur Beriihrung einen doppelten und viel
langeren Weg zuriicklegen. Die mit dem Gefiihl fiir die passive Stellung
und Bewegung iind die mit der Unterscheidung von Zirkeispitzen betrauten
Fasem im Riickenmark in den hinteren Saulen bleiben ungekreuzt, bis sie
die Hinterstrangskerne erreichen, wo sie neuerdings gruppiert werden und
auf die andere Seite ziehen. 3. Eine ausserhalb des Riiokenmarkes gelegene
Lasion kann zwei Formen von sensorisehen Storungen hervorrufen. Die* auf
Affektion der hinteren Wurzeln zuriickzufiihrende Storung ist in der Ebene
der Lasion gelegen und entspricht dem peripheren Typus, wahrend die durch
Lasion der langen sekundaren Ziige bedingte auf der anderen Seite des
Korpers liegt und Verlust der Empfindungen herbeifiihrt, die auf Interferenz
mit Impulsen zuriickzufiihren ist, bevor diese eine neuerliche Gruppierung
erfahren haben. 4. Andererseits, wenn sowohl der lokale als der entfernte
Verlust der Sensibilitat sekundarer Gruppierung entspricht, so liegt die
Lasion ganz im Riickenmark. (Autoreferat.)
Petrfa - Upsala: Ueber die sensorisehen Bahnen im Riickenmark.
Vortr. hat die Falle von Stichverletzungen des Riiokenmarkes zu-
sammengestellt. Er behauptet, dass nur die klinischen Beobachtungen
dieser Axt sich zu diesem Zweck brauchen lassen, weil hier die Lasion des
Ruckenmarkes infolge der Art ihrer Ursache eine regelmassige werden muss,
da nur zusammenhangende Teile des Querschnittes durchschnitten werden
konnen. Unter 74 Fallen von Stichverletzungen haben 72 eine gekreuzte
Anasthesie gezeigt. Die Falle lassen sich in drei Gruppen einteilen:
1.31. Falle, wo sich die Anasthesien nur auf Schmerz- und Temperatur-
sinn bezogen und die Lahmung immer nur eine einseitige war; 2. 17 Falle,
wo die Anksthesie sich auch auf den Tastsinn bezog, so dass samtliche Haut-
sinne betroffen waren, die Lahmung aber auch nur eine einseitige war;
3. 24 Falle. wo die Anasthesie sich auf die samtlichen Hautsinne bezog,
die Lahmung aber anfanglich eine doppelseitige war. Folglich ist koin Fall
vorgekommen, wo die Lahmung eine doppelseitige war, der Tastsinn aber
unberiihrt blieb. Es geht daraus hervor, dass der Schmerz- und Temperatur-
sinn konstant gestort waren, was mit ihrer Verlegung in die lateralsten Teile
des Ruckenmarkes, d. h. in den peripheren Teil des Seitenstranges, vollig
ubereinstimmt. Wenn der Tastsinn nur im gleichseitigen Hinterstrang ver-
iiefe, wiirde in alien Fallen, wo eine gekreuzte Storung des Tastsinnes
vorliegt, auch eine ungekreuzte auftreten miissen. Nun kam eine ungekreuzte
Storung des Tastsinnes nur in 4 Fallen vor, eine gekreuzte Storung des
Tastsinnes aber in noch 34 anderen Fallen. Folglich kann der Tastsinn
nicht ausschliesslich im ungekreuzton Hinterstrang verlaufen. Wenn aber
andererseits der Tastsinn nur im gekreuzten Hinterstrang verliefe, so wiirde
eine doppelseitige Storung des Tastsinnes wenigstens in all den Fallen auf¬
treten, wo die Lahmung im Anfang eine doppelseitige ist. Unter den
24 Fallen mit doppelseitiger Lahmung haben aber nur zwei eine doppel¬
seitige Storung des Tastsinnes gezeigt; folglich kann der Tastsinn auch
nicht ausschliesslich in den gekreuzten Hinterstrang verlegt werden. Der
Tastsinn kann ferner auch nicht ausschliesslich in den gekreuzten Seiten-
strang zusammen mit dem Schmerz- und Temperatursinn verlegt werden,
weil die gekreuzte Anasthesie sich in 31 Fallen nur auf Schmerz- und
Temperaturempfindung bezogen hat. Auch gibt es einige Falle mit Aut-
opsie, die beweisen, dass die Zerstorung des ganzen Seitenstranges keine
Storung des Tastsinnes zur Folge hat. Vortr. ist folglich zu der von ihm
schon vor 7 Jahren dargelegten Auffass:mg gekoramen, dass der Tastsinn
iiber 2 Bahnen verfiigen muss: eine Bahn im gekreuzten Hinterstrang
und eine zweite Bahn im gekreuzten Seitenstrang. Mit dieser Auffassung
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170 XVI. internaticmaler medizinischer Kongress in Budapest
lassen sich alle Erfahrungen bei Fallen von Stichverletzung erklaren. Was
den Muskelsinn betrifft, so ist dieser Sinn unter den Fallen in Gruppe 1 ent-
weder ungestort oder nur auf der Seite der Lahmung gestort gewesen. In
den Fallen der Gruppe 3 scheint der Muskelsinn immer doppelseitig gestort
gewesen zu sein. Dies stimmt zwar mit der allgemeinen Auffassung, dass
der Muskelsinn in den gleichseitigen Hinterstrang zu verlegen ist, seheint
aber waiter dafiir zu spreehen, dass eine Storung des Muskelsinnes an den
unteren Extremitaten nur auftritt, wenn neben dem Hinterstrang auch die
Kleinhimseitenstrangbahnen in ihrer Funktion gestort sind.
H. Benedict- Budapest: Ueber die zerebrale Lokalisation der sensiblen
Metameren.
Bei einer Anzahl von Hemiplegien oder Hemiparesen von brachio-
fazialem Typus findet man in den hemianasthetischen Gebieten metamere
Grenzen wieder. Am haufigsten findet sich die Halsbrustgrenze und die sich
aus ihr entwickelnde Richtungslinie der oberen Extremitaten als Grenze aus-
gepragt. Eine andere haufige Grenze ist die Linie, die das 2. und 3. Tri-
geminusgebiet voneinander scheidet. In seiner ersten Veroffentlichung hatte
Vortragender der Ansicht Raum gegeben, dass es sich vielleicht um das
scharfere Hervortreten auch normal vorhandener Sensibilitatsdifferenzen
handle, wie sie von Muskens und in etwas abweichender Form von Balint
beschrieben wurden. Weitere Untersuchungen haben ihn aber dazu gefiihrt,
fur diese wichtigen Abgrenzungen gewisser Metamerengruppen eine zentrale
Representation in den sensiblen Neuronen hoherer Ordnung und im
Kortex anzunehmen; es lasst sich namlich bei Untersuchung der Irradiations-
vorgange funktionell bedingter Hauthyperalgesien, die aus den Maximal-
flecken der Headschen Zonen entstehen, nachweisen, dass die Richtungslinie
der oberen Extremitaten fur die Psyche einen ahnlichen Orientierungswert
und Symmetriewert besitzt wie die Medianlinie des Korpers. Das Gleiche
gilt fiir andere Grenzlinien metamerer Gruppen. Die Entstehung der von
den sogenannten Amputationslinien begrenzten, als zentral bezeichneten
Sensibiiitatsstorungen wird auch durch das Symmetriegesetz beherrscht.
Eine andere als eine psycho-physische Erklarung lasst sich fur diese und
das CaUigaris sche Liniensystem vorlaufig nicht geben.
(Autoreferat.)
J. J. Musket- Amsterdam: Neuere Ergebnisse der segmentalen Sen-
sibilitatsuntersuchungen.
Die eigentiimliche Lokalisierung der Schmerzgefiihlsstorungen in
den post-axiaien Segmenten war besonders in drei Gruppen von organischen
Erkrankungen gefunden worden: 1. Ausfall von irreparablem Charakter
bei Hinterstrangsklerose als Folge von Metasyphilis; 2. Ausfall von stark
fluktuierendem Charakter bei Epileptikem nach Bdlint ; 3. Ausfall chronischen,
aber reparablen Charakters in einer Gruppe von Fallen, die friiher zur
Alkoholneuritis gerechnet wurden. Mit fast mathematischer Genauigkeit
gelingt die Feststellung des hochsten Punktes bei Ruckenmarkskompression,
was ihre klinische Wichtigkeit erweist. Auch die kortikale Projektion der
Korperoberflache gelingt nach segmentalen Prinzipien. Vortragender
hat asvmmetrische segmentale Gefiihlsfelder bei Fallen von organischer
cerebraler Erkrankung, bei Hemiplegie und Dementia paralytica beobachtet.
Goldstein hat dasselbe bei einem Fall kapsularer Erkrankung gesehen.
Auch fiir das hauptsachlicheBefallensein der ulnaren Seite der oberen Extre¬
mitaten inangelt es noch an einer befriedigenden Erklarung. Auch die
Dissoziation der verschiedenen Qualitaten der kortikalen Hautempfindung
wurde nach Meinung des Vortr. noch zu wenig beachtet. Bei normalen
Individuen hat Vortr. mit Leichtigkeit die Situation der Richtungs-
linien auf den Extremitaten festgestellt, was auch von Bdlint nach-
gewiesen wurde; er meint, dass die Ueberempfindlichkeit dieser Linien die
Folge der 5- bis 6 faclien Segmentiimervation dieser Streifen ist. Die post-
axialen Bezirke sind auch bei gesunden Personen oft hyperalgetisch.
Bez.der praepileptischenGefiihlsstorungen sindvor allem die Maes-Clauschen
I ntersuchungen zu nennem. Auffallend sind dabei die ausserordentlich
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vom 29. August bis 4. September 1909.
171
schnellen Schwankungen des Sensibilitatsstatus. Siohergestellt sind die
folgenden Tatsachen: 1. Weit haufiger, als im allgemeinen angenoinmen
wird, findet man iiber gewissen Hautbezirken bei genuinen Epileptikern
Herabsetzimg des Schmerzsinnes; 2. die Grenzen dieser Hautbezirke sind
nicht konstant und wechseln mit dem Auftreten von motorischen epilep-
tischen Erscheinungen; 3. die Grenzen dieser Hauptbezirke sind segmentaler
Natur; 4. die Gefiihlsstorungen sind vollstandig unabhangig vom jeweiligen
Geisteszustand des Kranken. Es sind grosse individuelle Unterschiede
vorhanden; im frischen Fall wird oft jede Schmerzgefuhlsstorung vermisst,
anderseits wird manchmal habituelle, komplette und totale Analgesie ge-
funden. Gerade diese letzteren Falle zeigen oft ganz normale Empfindung
oder Hyperalgesie nach, seltener schon vor den Entladungen. Dagegen
treten bisweilen die segmentalen Gefiihlsstorungen vor den Anfallen in die
Erscheinung. Bei der Differentialdiagnose zwischen hysterischer und orga-
nischer Hemplegie, sowie zwischen Hysteria und Epilepsie ist die Kenntnis
der Details der Gefiihlsstorungen von besonderer Wichtigkeit. Im Anschluss
daran berichtet Vortr. iiber eine operierte subkortikale Cyste des Parietal-
hirnes mit charakteristischer Aenderung der Sensibilitatsstorung nach der
Operation.
H. Fo6r^iW-Helsingfors: Ueber die Anordnung der sensiblen Leitungs-
wege im Rtickenm&rk.
Vortr. geht von der jetzt herrschenden Auffassimg der sensiblen
Leitungswege aus; dieser zufolge werden die Beriihrungs- und Druck-
empfindungen auf zwei verschiedenen Wegen ausgelost, und zwar sowohl
durch die Hinterstrange wie durch gekreuzte zusammen mit den Tem-
peratur- und Schmerzbahnen verlaufende Wege. In einer in den Mit-
teilungen aus dem Pathologischen Institut Helsingfors 1907 erschienenen
Arbeit suchte der Vortr. den Zweck und die Bedeutung der beiden Leitungs¬
wege festzustellen. Gestiitzt auf einige eigene Beobachtungen sowie auf
kasuistische Mitteilungen aus der Literatur gelangt Vortr. zur folgenden
Auffassung: 1. die beiden Leitungswege wirken gleichzeitig und zusammen;
2. die Hinterstrange losen jede Art von Druckempfindung von der leisesten
Beriihrung bis zur starksten Druckempfindung aus, aber den so entstandenen
Empfindimgen fehlt der Gefiihlston vollig; 3. dieser wird erst durch die
Leitung in den kontralateralen Bahnen hinzugefiigt, die also nicht nur den
Schmerz, sondem auch alle diejenigen Stufen der Gefiihlsbetonung, die ihm
vorangehen, hervorrufen. Durch diese Auffassung der zentripetalen Leitungs¬
wege im Ruckenmark kommen wir dem Verstandnisse mancher Erschei-
nungen, vor allem aber der Hyperasthesie naher. Hyperaathesie nennen
wir einen Zustand, in dem die Gefiihlsbetonung der Empfindungen abnorm
stark ausfallt, und die pathologisch-physiologische Grundlage derselben
liegt in einer Steigerung der Leitungsprozesse in denjenigen Bahnen, die
auch normalerweise den Gefiihlston hervorrufen, also der Leitungsprozesse
in den kontralateralen Empfindungsbahnen, ,,den Gefiihlsbahnen“, wie
Vortr. sie nennen mochte. (Autoreferat.)
Diskussion.
Giese - St. Petersburg berichtet ankniipfend an die Ausfiihrungen
Heads in Kiirze iiber einen ganz eigenartigen Fall, der in anschaulicher
Weise die grosse diagnostische Bedeutung der Headschen Zonen demon-
striert. Es handelt sich um einen 22 jahrigen Mann, den G. vor etwa zwei
Jahren beobachtet hatte. Bei der Aufnahme gab Patient an, seit ungefahr
4 Wochen an einem ziemlich starken Brennen an der Innenflache des linken
Oberschenkels zu leiden. Bei der Untersuchung konnte G . unter anderem
eine hyperalgetische Zone, entsprechend der oberen Halfte der Innenflache
des linken Oberschenkels, und femer das Fehlen des linken Testikels im
Skrotum konstatieren. Er nahm nun auf Grund der herrschenden Lehre
an, dass die hyperalgetische Zone durch eine Lasion des linken Testikels
bedingt sei. Der weitere Verlauf des Falles hat diese Voraussetzung voll-
kommen bestatigt. Eine Woche nach der Aufnahme ins Spital verspiirte
Patient plotzlich einen recht heftigen Schmerz in der linken Inguinalgegend.
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172 XVI. internationnler medizinischer Kongress in Budapest
und es erwies sich, dass dieser Schmerz durch eine Einklemmung des im
Zeszensus begriffenen Testikels im Leistenkanal hervorgerufen war. Nach
Deiteren 5 Tagen war der link© Testikel ins Skrotum gelangt; zu gleicher
weit verschwand die Headsche Zone.
6. Sitzung 1. Sept., nachmittags.
Vorsitzender: Homkn.
A. Sicard- Paris: Behandlung der Gesiehtsneuralgie mit lokalen In¬
jektionen.
Vortr. unterscheidet eine essentielle und eine sekundare Form der
Gesiehtsneuralgie. Die essentielle fiihrt Vortr. mit Brissaud auf die Enge
der drei Locher an der Basis des Hemikraniums und zwar gewohnlich des
rechten zuriick, die sekundare kann auf eine periphere oder allgemeine
Ursaehe zuruckzufiihren sein. Die Neuralgia facialis essentialis zeigt sehr
selten ein Ergriffensein aller drei Aeste. Die Paroxysmen sind aber immer
sehr heftig, oft ist lokales Muskelzucken und Starke Hyperamie der Haut mit
Tranentraufeln und Speichelhypersekretion vorhanden; sie ist leicht von
der unilateralen frontalen Migrane zu unterscheiden. Vortr. gibt dann eine
Jcurze historische Uebersicht der Injektionstherapie, die zuerst 1902 von
Pitres und Verger angewendet und speziell von Schlosser ausgebildet wurde.
Zur Injektion werden von ihm feine Platinnadeln gebraucht, die Haut wird
mit einer 1 prozentigen Losung von Stovain anasthesiert. 80 prozentiger
Alkohol mit oder ohne Zusatz von Stovain, aber immer ohne Zusatz von
Chloroform, ist die Injektionsfliissigkeit. Ausserdem hat Vortr. auch mit
gutem Erfolg folgende Fliissigkeit angewendet: 50 ccm 80 prozentiger
Alkohol, 1 g Menthol, 50 eg Novocain. Zu Zwecken der therapeutischen
Klassifikation werden die Trigeminusneuralgien in eine periphere, mittlere
und tiefe Gruppe eingeteilt und die Operationstechnik der drei Gruppen
getrennt beschrieben. Die Zufalle bei den Injektionen sind gering, manch-
mal entstehen grosser© Hamatome. Um mit Sicherheit einen Beweis dafiir
zu haben, dass die Operation gelungen ist, genvigt es, die persistierende
Anasthesie in dem Haut- oder Schleimhautgebiet des injizierten Nerven-
zweiges zu konstatieren. In Fallen von Myoclonic ist es angezeigt, in
gleicher Weise die peripheren Zweige des motorischen Facialis zu alkoholi-
sieren. Vortr. hat die Injektion in 168 Fallen ausgefiihrt und hat bei den
chirurgisch nicht vorher behandelten Fallen stets giinstige Resultate erzielt.
Vortr. hat in einem Fall auch mit giinstigem Erfolg eine direkte Alkoholi-
sation des Ganglion Oasseri durch das Foramen ovale versucht. Dieses
Verfahren, das den schmerzenden Nerv durch eine den Nerven zerstorende
Substanz trifft, ist sehr zweckentsprechend zur Bekampfung der Trigeminus-
neuralgie. (Autoreferat.)
J. Flesch- Wien: Die Behandlung des Tic douloureux mit peiipherer
Alkoholinfiltration.
Vor 10 Monaten hat sich Vortr., durch Schloessers , Kiliana und
Alexanders Mitteilungen angeregt, der Behandlung von Trigeminusneuralgien
mittels endoneuraler Alkoholiidiltration zugewendet; liber temporare Er-
folge hat Vortr. schon vor langer Zeit berichtet. Vortr. halt sie fur die beste
von den nicht radikalen Methoden. Die tiefen Schloesserschen Injektionen
scheinen ihm keine Vorteile gegeniiber den von ihm angewendeten peripheren
zu bieten, da auch durch diese 6- bis 8monatliche Heilungen zu erzielen sind.
Vortr. fasst seine Erfahrungen in folgende Satze zusammen: 1. Leicht©
Neuralgien von schleichendem Charakter mit konstanten oder intermittieren-
den Schmerzen bilden die Doman» der internen oder physikalischen Therapie.
2. Echter Tic douloureux soli so rasch als mbglich der peripheren Alkohol¬
infiltration unterzogen werden. 3. Die Mindestmenge ist 2 g 80 prozentiger
Alkohol. 4. Vortr. verwendet eine Mischung von 2 g 80 prozentigen Alkohols
und 0,01 g Stovain in zugeschmolzenen Phiolen unter dem Namen Anti-
neuralgininjektion „Hell“. 6. Man sei bernuht, den Austrittskanal selbst
zu treffen, doch ist dies keine conditio sine qua non. 6. Die Injektion ge-
sehehe moglichst subperiostal zur Vermeidung der Diffusion in die moto-
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vom 29. August his 4. September 1909.
173
rischen Nachbamerven. 7. Die Injektion kann am zweitnachsten Tag©
mangels prompten Effekts wiederholt werden. 8. Die Schmerzanf&ffe
irradiieren nicht selten in benachbarte gesunde Aeste imd sistieren dem-
gemass nach Behandlung des ersterkrankten Astes. 9. Vorher peripher
operierte Rezidivfalle erweisen sich gegen Alkoholinfiltration voliig refraktar.
10. Friihzeitige Rezidive nach Alkoholinf iltration lassen sich durch einmalige
Wiederholung der Injektion leicht und rasch wieder beseitigen. 11. Hyste-
rische Neuralgien bleiben refraktar. Vortr. verfiigt liber 50 Beobachtungen;
zwei betrafen vorher resezierte Rezidivfalle. zwei Falle hysterischer Natur
waren refraktar, die iibrigen 26 sind mehrere Monate rezidivfrei, zwei davon
schon 9 Monate. Darunter waren auch drei Occipitalneuralgien und eine Neu¬
ralgic des N. cutaneus femoris lateralis. Dies© Method© kann demnaeh gegen
Neuralgien samtlicher von aussen zuganglicher, rein sensibler Nerven an-
gewendet werden. Exzentrische Neuralgien, wie tabische Krisen sind
refraktar. Gemischte Nerven reagieren mit Lahmung des motorischen
Anteiles. (Autoreferat.)
Diskussion :
Donath- Budapest verfiigt nicht liber so grosses Material wie die beiden
Vortragenden, hat aber nie unangenehme ErfaJirungen gemacht; er will aller-
dings nicht gieich Sicard behaupten, dass die Gasserektomie furderhin iiber-
fliissig sei, aber vor diesem schweren Eingriff seien jedenfalls die Alkohol-
injektionen zu versuchen.
Fuchs- Wien betont gegeniiber Sicard , dass man in der Wiener chirur-
gischen Ivlinik mit den Alkoholinjektionen keine guten Erfolge erzielt hat.
Die peripheren Alkoholinjektionen mogen gute Resuitate ergeben, wenn es
sich um periphere Erkrankung eines Trigeminusastes handelt; aber ihren
Erfolg vermag er sich nicht zu erklaren, wenn die Erkrankung mehr zentral,
im Ganglion oder noch zentraler gelegen ist. F . bespricht die ausgezeichneten
Erfolge, welche er mit der kombinierten Behandlung von Aconitin
(Moussettesche Pillen) und Laxantien erzielt hat. Jedenfalls will F. trachten,
sich die exakte Method© Sicards anzueignen, fordert S. aber auf, auch seine
Behandlungsweise nachzupriifen.
Sicard (Schlusswort) bemerkt gegeniiber Fuchs , dass wir die Patho-
genese der Neuralgie eigentlich nicht kennen; er habe nur uber klinische
Resuitate berichten woilen.
Sicard und Eoix-Paris: I. Normals Topographic des Ganglion Gasseri
helm Menschen; klinische Schlussfolgerungen. Beim Kaninchen haben die
Vortr. nur zwei Nervenzellenkerne im Ganglion gefunden; ahnlich ver-
halt es sich bei dem Hunde und Menschen, eine Dreiteilung ist Aiasnahme.
Die Injektion von Farbpartikeln in den Schadelliquor der menschlichen
Leiche oder beim iiberlebenden Hunde hat das Bestehen von Blindsacken
ergeben, welche die afferent© Wurzel bis zu den nuklearen Zentren begleiten.
Desgleichen bestehen echte pseudo-lymphatische Scheiden um den Opticus
und Oculomotorius, welche sich am Eintritt in den Sinus cavernosus be-
finden. Diese anatomischen Tatsachen erklaren die Reaktion des Ganglion
Gasseri bei Basilarmeningitiden, bei Tabes, und namentlich die haufige
Beteiligimg des oberen Astes in Verbindung mit Paresen des Oculomotorius.
II. Alkoholisation des Nervus maxillaris superior beim Kaninchen,
mit konsekutiven nuklearen Reaktionen.
Die Alkoholisation des genannten Nerven im Niveau des Infraorbital-
kanales verursacht in der dritten Woche eine Reaktion in der entsprechenden
Ganglionpartie (Chromolyse mit exzentrischer Kemlagerung). Diese Re¬
aktion bleibt auf den gemiscliten Kemteil des Ganglions, welcher dem
N. maxillaris superior und ophthalmicus zugehort, beschrankt, und er-
streckt sich nicht auf den benachbarten Kemteil des N. maxillaris inferior.
III. Gesichtsneuralgie, Entfernung des G. Gasseri, histologische Unter-
suehung.
Nach gelungener Gasserektomie verstarb der Kranke an einer bereits
langer bestehenden Angina pectoris. Bei der Untersuchung war die Dura
oberhalb des entfemten Ganglions vollkommen geschlossen, vom Ganglion
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174 XVI. internationalor medizinischer Kongress in Budapest
blieben bloss einige wenige Xervenzellen iibrig; vollstandige Degeneration
im Niveau der afferenten Stiimpfe und der afferenten mesocephalischen
Wurzel. Dieser seltene anatomisehe Untersuchungsbefund gewahrt einen
Einblick in den Heilungsprozess nach einer Gasserektomie.
Kouindjy-I > a,ris : Die Methode der Reedukation in der Salpetriere.
Sie bezweckt eine methodische und zweckmassige Anwendung von
Uebungen, die den einzelnen Krankheitsformen angepasst sind. Ausser
diesen Uebungen wird Massage und Extension angewendet. Vortr. berichtet
iiber 396 Beobachtungen der verschiedensten, nach dieser Methode durch-
weg mit gutem Erfolg behandelten Krankheiten; so wurden bei ataktischen
Tabikern aller drei Grade Besserungen in 89 bezw. 92 und 98 pCt. erzielt. Die
multiple Sklerose und die Fried reicJi&che Krankheit geben die schlechtesten
Resultate. Bei der Paralysis agitans nehrnen alle Symptome mit Ausnahme
des Zittems ab. Auch Aphasie wurde selbst in den Fallen gebessert, in denen
der Patient iiber die mimisehen Ausdrucksmittel nicht mehr verfiigte.
Vortr. hebt hervor, dass es bei der Behandlung aller hier in Betracht kom-
menden Krankheiten vor allem auf die Wahl der richtigen Uebungen an-
komme.
Teachner- New-York: Die erfolgreiche Behandlung veralteter und
lortschreitender Lahmungen durch Reedukation.
Vortr. spricht zuerst iiber die Degeneration der gelahmten Muskeln.
Ab und zu folgt auf diese eine Periode der spontanen Genesung. Haufiger
aber werden schwere Falle durch Massage, Elektrizitat und orthopadische
Apparate erfolglos behandelt; dagegen hat Vortr. durch Reedukation zahl-
reiche Falle erfolgreich behandelt. Orthopadische Apparate gegen Rekur-
vation sind zu meiden. Der Zweck jeder Uebung muss ein einleuchtender
sein. Jeder Patient muss individuell behandelt werden. Der grosste Gewinn
wird durch die Widerstandsiibungen erzielt.
Herzog- Budapest: Zur Theorie der Ataxie.
Die Untersuchung von Bewegungskurven zeigt, dass bei Bewegungs-
storung infolge Lahmung der Sensibilitat die Bewegungen ungleichmassig
werden. Steile Abschnitte der Kurve werden von horizontalen Absehnitten
unterbrochen. Bei der tabischen Ataxie treten ausserdem kurze Bewegungen
in der entgegengesetzten Richtung auf, die auf dem Verlust des Gleich-
gewichtes zwischen Agonisten und Antagonisten beruhen. Diese Erscheinung
unterscheidet die tabische Ataxie von den Bewegungsstorungen sensiblen
Ursprungs. Die Ataxie ist mit diesen nicht identisch, sie kann durch Storung
der Sensibilitat allein nicht erklart werden.
Diskuasion:
Schweiger-W ien weist auf zwei von ihm beobachtete tabische Patienten
hin, die seit 1H Jahren schwere Sensibilitatsstorungen an den oberen
Extremitaten zeigen. In dem einen Fall war eine breite anasthetische Zone
am Vorderarme, in dem anderen Verlust der Beriihrungsempfindung an
den Fingern vorhanden, trotzdem keine Ataxie. Er behielt die Falle wegen
ihrer bei Tabes ungewohnlich hochgradigen Abmagerung in Beobachtung.
Vor einigen Wochen musstc einer der beiden Falle das Bett durch 14 Tage
hiiten, im Anschluss daran trat eine hochgradige Ataxie der oberen Extre¬
mitaten (starkes Zittem beim Schreiben) auf. Es scheint also dadurch
die friiher jedenfalls latente Koordinations3torung manifest geworden
zu sein. ^
7 . Sitzung . 2 . September , vormittogs.
Vorsitzender: Minor .
Obersteiner-Wien erstattet ein Referat iiber die Funktion der Nerven-
zelle.
Die Leistungen der Nervenzelle sind noch nicht klar abzugrenzen.
Vortr. hofft wichtige Aufschiiisse von der Mikrochemie. Vielleicht spielen
gewisse Prozesse an den Artikulationsstellen zwischen den Neuronen eine
wichtige Rolle. Vortr. wendet sich zunachst zu der physiologischen Be-
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vom 29. August bis 4. September 1909.
175
deutung der einzelnen Zelle: der Zellkem hat infolge Ueberwiegens der
acidophilen Substanz nicht die Fahigkeit einer Teiliuig. wie dies des Vortr.
Schiiler Orzechowsky nachgewiesen hat; er passt sich den verscliiedenen
Funktionen an, die vor allem in seiner Beziehung zur inneren Trophik, zur
Emahrung und zur Aufrechterhaltung des biochemischen Gleichgewichts
bestehen, ohne dass damit seine Leistungen ersehopft waren. Im Kern-
korperchen diirfte eine sekretorische Tatigkeit anzunehmen sein. Ini eigent-
lichen, protoplasmatischen Zellkorper sind zu unterscheiden: 1. die basophilen
Nissi-Schollen; 2. die Fibrillen und 3. die interfibrillare Substanz. Die
Nissl-Schollen, die ebenso wie die Fibrillen praformiert sind, fehlen manohen
Zellen (so den Kleinhirnkbmern). Urspriinglich warden sie als Apparate
zur Aufspeicherung von Nahrungsmitteln angesehen; jetzt wissen wir, dass
ihre Leistung nicht mit der Aufspeicherimg von chemisehen KraftqueUen
ersehopft ist, dass a her ein Kiickschluss auf die Funktion der Nervenzelle
nach Grosse, Menge, Gestalt und Anordnung der Schollen moglich ist.
Die morphologischen Bestandteile der Nervenzelle, denen die eigentlichen
spezifischen Leitungsvorgange anvertraut sind, sind vor allem die Primitiv-
fibrillen, die uns jetzt mit Hiilfe der neuen Farbungen von Apathy , Cajal ,
Bielschowsky und Donaggio sehr genau bekannt sind. Vortr. besprieht kurz
die von der seinen abweichepde Ansicht Schaffers und prazisiort seine An-
sicht dahin, dass gerade die wechselseitige innige Beziehung zwischen den
einzelnen Fibrillen verschiedener Herkunft im Bereiche des Zellkorpers
ein wichtiges Postulat fiir die meisten spezifischen Fimktionen der Nerven¬
zelle bildet. Auch der Perifibrillarsubstanz misst er eine gewisse Bedeutung
bei, wendet sich aber gegen die Auffassung, in den Fibrillen bloss Stiitz-
organe zu sehen. Die Dendriten dienen zweifellos der spezifischen Funktion
der Zelle, aber ihre Bedeutung im einzelnen kann selbst fiir einzelne Den¬
driten derselben Zelle verschieden sein, wie bei den Mitralzellen des Bulbus
olfactorius; nur bei manchen Zellen, wie den Purkinjeschen, zeigen samtliche
Dendriten ganz gleiches Verbalten. Dass die Dendriten auch nebenbei
Nutritionsorgane sind, scheint Vortr. noch nicht ganz sicher erwiesen.
Das Gesetz der dynamischen Polarisation (Cajal) gilt im allgemeinen mit
Beriicksichtigung gewisser Ausnahmen. Vortr. erbrtert die Frage der
Collateralen der Axone, auch in Bezug auf die Fortsatze der Spinalganglien-
zellen, von denen er mit Lugaro glaubt, dass alle ilire Fibrillen die Zellen
passieren. Das Vorhandensein von apolaren, d. h. anaxonon Nervenzellen
bezweifelt er. Beziiglich des dunklen Pigmentes ist noch keine vollige Klar-
stellung gelimgen, trotz der von CaUigaris und der von J. Bauer im Institut
des Vortr. ausgefiihrten Untersuchungen. Das hellgelbe Pigment dagegen,
iiber das Vortr. selbst Untersuchungen veroffentlicht hat, ist als Abfalls-
produkt des Stoffwechsels sichergestellt. Als weitere Strukturelemente
in den Nervenzellen erwahnt Vortr. die Holmgrens chen Kanale, die Heldachen
Neurosomen und viele andere. — Vortr. wendet sich dann zur Besprechung
der Nervenzelle als Ganzem: Das Wesen des inneren Stoffwechselvorganges
in der ruhenden und tatigen Nervenzelle ist dlurch die miihevollen Unter¬
suchungen Verworns iind seiner Schiiler geklart. Die Bildung von Kohlen-
saure und Milchsaure, die Vortr. mit dem Schlafbediirfnis in Zusammenhang
gebracht hat, ist wahrscheinlich; genauere Untersuchungen iiber Glykogen
in den Rindenzellen wurden von Casamajor untor seiner Leitung ausgefiihrt.
Das Sauerstoffbedurfnis der tatigen Ganglienzelle ist ein sehr grosses. Eine
Aufsaugung von Nahrstoffen aus den Gefassen und Zuleitung durch die
Dendriten erscheint Vortr. hochst unwahrscheinlicli, dagegen halt er die
vielfach umstrittenen perizellularen Kaurne fiir vorhanden und durch die
unzweifelhaften und immor vorhandenen Schrumpfungserscheinungen
bewiesen. Die von Nissl ausgesprochene extrazellulare Entstc»hung von
Nervenfasern halt er nicht fiir geniigend fundiert. Die alte An>sicht von der
Unermiidbarkeit der Nervenfaser scheint nach don Untersuchungen Verworns
nicht melir gereclitfertigt. Vortr. wendet sich dann zur wichtigen Frage
der vaskularen und der von Olcada in seinem Institut einwandfrei nach-
gewiesenen zellularen Trophik der Nervenfasern; er erwahnt die ver-
schiedenen dariiber aufgestellten Theorien (Lenhosstk, Strumpell), doeh ist
Monatoachrift f. Psychiatric u. Neurologic. Bd. XXVII. Heft 2. 12
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176 XVI. internationaler medizinischer Kongress in Budapest
die Frage noch nicht endgliltig geklart. Vortr. spricht sich femer entschieden
gegen die Moglichkeit der von manchen supponierten Reservezellen aus.
Beziiglich des Banes des nervosen Grau Nissls (der retikulierten, granulierten,
spongiosen Zwischensubstanz) schliesst sich V T ortr. nach seinen eigenen
Praparaten dor Ansicht von Retzius , Lenhossek und Cajal an, dass dieses
ein Geflecht von feinsten Nervenfaserchen oder Fibrillen ohne nachweisbare
Anastomosen darstellt. Alle von einer blossen Leitung verschiedene Nerven-
tatigkeit ist nach seiner Ansicht auf die Nervenzellen, den Nervenfilz und
wohl auch auf die Zwischensubstanz verteilt. Der Versuch, die Spinal-
ganglionzellen, bei denen (Iran fehlt, zur genauen Aufklarung dieser Frage
zu verwenden, ist misslungen; Vortr. verweist kurz auf die Moglichkeit.
andere periphere Ganglion in dieser Beziehung in geeigneter VVei.se heran-
zuziehen. Die vo nBethe a usgesprochene Ansicht, die Ganglienzclle hatte nur
eine untergoordnete Kollo, scheint ihrn a is don versehiedensten Griinden
unrichtig. Die beobachtete Verzogerung der Keizleitung diirfte nicht durch
das Passieren der Nervenzelle bedingt sein, sondern an der Reriihrungsstelle
zwischen Xeuronen (Synapsis von Sherrington) gelegen sein. Als wichtige
Funktionen der Nervenzelle sind dagegen Heinmung und Bahnung (Exner)
und die Fiihigkeit der Ladung und Entladung anzusprechen. Das Zuriick-
behaiten von Eindriicken in der Nervenzelle ist ja die Grundlage des Ge-
dachtnisses, das von tiering als allgemeine Funktion der Materie bezeichnet
wurde. Inwieweit Nervenzellen auf manche kiinstliche Reize wie olektrische
und mechanische antworten, ist noch nicht ganz entschieden, ebensowenig
wie auf die durch innere Sekretion herbeigefiihrten. Jedenfalls sind Nerven¬
zellen befahigt. wie schon einzellige Pflanzen (Steinaeh). die verschiedensten
Impulse aufzunehmen und zu sumrnieren (die Dendriten vergrossern ihre
rezeptorische Oberflache). Die kerntragenden Zellen bilden eine Art von
Zentralstellen, in denen Austausch von Reizen und gegenseitige Beein-
flussung stattfindet. Den verschiedenen Nervenzellarten kommt auch eine
ausgesprochone funktionelle Fngleichw ? ertigkeit zu; Vortr. sieht in den
rein morphologischen Verschiedenheiten i hr erf Baues und dern verschiedenen
Widerstand gegen Noxen den stringenten Be we is fur diese Tatsache. Auch
die gegenseitige Lagerung und die Orientierung der Nervenzellen scheint
nicht ohne Bedeutung zu sein. Ein instruktives Beispiel dieser Art bildet
die Kleinhirnrinde. Da bei Wirbeltieren fast nie nur eine isolierte Nerven¬
zelle zur Tatigkeit kommt, diirfte es sich urn Aktionsspharen handeln,
deren Grosso der lntensitat der Erregung parallel ist, iimcrhalb welchen
Bezirkes die Leutung vorn Zentrum zur Peripherie abnimint, und die in-
einander ubergreifen konnen, so dass as zu einer funktionellen Interferenz
kommt. An direkte Anastomosen zwischen don Nervenzellen glaubt Vortr.
nicht; dagegen komino fiir das Zusammonwirken mehrerer Zellgruppen
der grauon Substanz das feinste Fibrillengeflocht und die fundamental
Zwischensubstanz in Betraeht. Es scheint iiberhaupt bei den Nerven¬
zellen der hoheren Wirbeltiere eine Arbeitsteilung im weitesten Masse
durchgefiihrt. Dio motorischen \\ 7 urzelzellen scheinen die Fahigkeit zu
besitzen, ihnen zugefiihrte Erregungen in einem Rhythmus von bestiinmter
Frequenz wieder abzugeben; doch bleibt diese Auffassung nicht unwider-
sprochen. Die Bedeutung tunes Teiles der kleinen Schaltzellen sieht \ r ortr.
in ihrer Funktion als Stromverteiler oder Stromordner, was am meisten in
der Kleinliirnrinde, welcher Vortr. selbst neue Untersuchungen gewudmet hat,
ausgepriigt ist. Die bisher in ihrer Bedeutung ganz unverstandlichen Komer
der Kbrnerschicht sind nach ihm solcho Schaltzellen, von denen die ihnen
von der Peripherie iibermittelten Erregungen an die querges tell ten Reihen
der Purkinjes chen Zellen w'eitergegeben werden, w T as bei der innigen Be¬
ziehung des Kleinhirns zu den (lleichgewdchtsorganen besonders zu beriick-
sichtigen ist. Zu einer Vorstollung der psychischen Vorgange in den Nerven¬
zellen sind wir noch nit ht gelangt. Der Vnterschied in der funktionellen
Bedeutung verschiedener Nervenzellen ist nicht nur ein qualitativer, sondern
auch ein quantitativer. Individuelle Versehiedenheiten in der ,,Anlage“
der Nervenzellen scheinen ihm von grosser Bedeutung zu sein. Durch Uebung
konnen wir die Zellen leistungsfahiger, durch Erschopfung unfahiger machen.
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vora 29. August bis 4. September 1909.
177
Mit Bezug auf die jetzt ziemlich bedeutungslosen vitalen Vorgange an den
Nervenzellen sagt Vortr., dass die amoboide Bewegungsmoglichkeit der
Dendriten mit Schiefferdecker zuriickzuweisen sei, dagegen scheint eine
amoboide A Bewegungsf ahigkeit der kleinen Appendices piriformes moglich
zu sein, was auch durch ihre rein protoplasmatische Natur verstandlich ist.
Vitale Vorgange an den Nervenzellen aussern sich auch durch Veranderungen
unter wechselndem osmotischem Druck, weiter durch Veranderungen
an den Fibrillen und den Nissl-Schollen wahrend der Tatigkeit uiul bei der
Ermiidung; Hyperaktivitat verbindet sich mit Verfeinerung und an-
scheinender Vermehrung der Fibrillen. Dos Verhalten der Neurobionen
Cajals wahrend der Tatigkeit halt er noch fur hypotlietisch. — Zum genauen
Aufschluss viber die Funktion der Nervenzellen scheint ihm die schon vielfac
erfolgreiche Heranziehimg pathologischer Verhaltnisse und insbesondere
der bisher noch w r enig begangene VVeg der chemisch-physiologischon und
pathologischen Prozesse in den Nervenzellen besonders aussichtsreich imd
wichtig. Bisher konnen wir nur mit mehr oder weniger fruchtbaren Hypo-
thesen in Bezug auf die tatsachliche Funktion der Nervenzelle arbeiten.
(Autoreferat.)
Diskusaion : Donaggio , Schaffer .
W. Roth- Moskau: Pseudo bulbar paralyse.
Bei den bilateralen Erweichungen, die in den Grosshirnhemispharen
ihren Sitz haben, kann der pseudobulbare Symptomenkomplex vollstandig
ausgepragt oder in einer Forme fruste auftreten. In der Nosographie sollte
dasKapitel derPseudobulbarparalyse durch das der bilateralen Erweichungen
ersetzt werden, und man muss in erster Linie jene Falle studieren, wo die
Herde symmetrisch sind oder die Funktion symmetrischer Systeme storen.
Unter diesen stets vemachlassigten Symptomen sind vor allem die faciaien
Diplegien zu erwahnen, die alle Gesichtsmuskeln befallen, die Ophthal-
moplegien die motorischen Apraxien der Himnerven und verschiedene
andere agnostische Symptome, Aphasie und Demenz der Pseudobulbar-
paralytischen, die oft unbemerkt bleiben. In 3 Fallen mit Autopsie hat
Y T ortr. Ophthalmoplegie von supranuklearem Charakter beobachtet, wenn
die Kranken ein in Bewegung befindliches Objekt beobachten. Diese letztere
Paralyse ist oft nicht ausgesprochen. Bei einem vierten Ivranken war die
Voretellung, die Augen nach links oder nach rechts zu wenden (wenn man
ihn darum bat), von Bew’egungen nicht gefolgt, wohl aber gelangen sie,
wenn sich der Kranke ein Objekt vorstellte, gegen welches er den Kopf zu
wenden hatte (Paralysis ideoinotorica). Vortr. fiihrt zum Beleg fur seine
Ansichten noch mehrere einzelne Falle an.
E. Levi und G . Franchini- Florenz: Beitrag zur Kenntnis des Gigantismus
mit Untersuchung des Stoffwechsels bei dieser Krankheit.
Es handelt sich um einen 66 jahrigen Riesen, 199 cm lang, 135 kg
schwer, dessen Vater Tabiker war; die abnorme Grosse entwickelte sich schon
seit seiner friihesten Kindheit. Erhateine ausgesprochenepoetischeBegabung,
der Inhalt der Verse ist aber, wie sein ganzes Denken, infantil. Seine Gemiits-
art war depressiv, ziu* Melancholie neigend, jede Muskelanstrengung ist
schmerzhaft, seit seiner friihesten Kindheit war er impotent. Akromegale
Symptome, die sich langsam entwickelt hatten, sind besonders iin Gesicht
erkennbar. Die unteren Extremitaten sind von einer unproportionierten
Lange, die Haut dunkel gefarbt und dick, die Briiste sind stark entwickelt
und zeigen weiblichenTypus; in den letzten Jahren hat sich starke Adipositas
entwickelt; visceraler Gigantismus ist nicht vorhanden. Von sei ten des
Nervensystems ist der Befund interessant, insofem die Sehnenreflexe ganz
fehlen; das Argyll-Robertsonache Symptom ist rechts vorhanden, weiter
angeborene Kleinheit der Papillen, die weiss und atrophisch sind. Visus
stark reduziert; im rechten Auge hat Pat. zwei sehr seltene Symptome von
Entwicklungshemmung: Paranyxis der Pupillarmernbran von Wagendorf
und Ectropium uveae. Ataxie iind Sensibilitatsstbrimgen sind nicht vor¬
handen. Die Was8ermannsche Reaktion ist positiv; die Vortr. nehmen daher
an, dass die beschriebenen Symptomenkomplexe auf hereditare Syphilis
zuruckzufiihren sind. Radiologisch ist die Sella turcica normal, aber es sind
12 *
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178 XVI. internationaler medizmischer Kongress in Budapest
verschiedene Veranderungen des Skelettes zu konstatieren: diffuse Atrophien
besonders an Handen und Fiissen, beginnende Verkalkung der Achillessehne;
die epiphysaren Knorpel sind ganz aufgelost. Die Stoffwechseluntersuchung
wurde 5 Tag© durchgef iihrt und ergab folgende Resultate: Der Ham zeigte
eine Verminderung besonders an Hams toff im Urin, wogegen die Amido-
sauren und der mit Chi orhydrophosphor-Wolf ramlosung fallbare Stickstoff
vermehrt waren. Die Veranderung in dem Verhaltnis der Schwefelkorper
weist auf eine Verminderung in den oxydativen Prozessen des Korpers hin.
Indikan und Phenol, die stark vermehrt sind, sind ein Beweis fiir starke
Faulnis der Eiweissstoffe im Darm; die Ursache scheint in den Lebens-
bedingimgen zu liegen; die urspriingliche Vermehrung der Hamausscheidung
war bald wieder normal. Im Stuhl findet man einen etwas grosseren Verlust
an Stickstoff und Fettstoffen, aber gute Absorption von Kalk und Phos-
phaten. Die neutralen Fette sind vermehrt, wahrend die Fettsauren und
Fettseifen vermindert sind; wahrscheinlich liegt die Ursache hierfiir im
Pankreas. Totalbilanz: Ansatz von 9,92 g N, 0,14g CaO. SpezifischesGewicht
und Alkaleszenz desBluts erhoht, Asche vermehrt, Wassergehalt undTrocken-
riickstande normal; in Phosphaten und Stickstoff keine wesentliche Aende-
rung, leichte Lipamie, auch Vermehrung der Ca-Salze. Wiederholte chromo¬
photo metrische Untersuchungen haben ein nahezu normales Resultat er-
geben; ausserdem eichte Eosinophilie und leichte Vermehrung der basophilen
Zellen. Zusammenfassend sagen die Vortr., dass bei diesem Fall von Gigan-
tismus, wahrscheinlich heredo-syphilitischen Ursprungs, der sich durch
Vorkommen einiger sehr seltener Entwicklungshemmungen (die bis ins
intrauterine Leben zuriickgehen) des okularen Apparates und durch einige
akromegalische Stigmata auszeichnet, sowohl die Resultate der klinischen
Untersuchung und der radiologischen Priifung des Skelettes als auch die
Resultate der Stoffwechseluntersuchung und die Untersuchung desBlutes mit
analogen Beobaehtungen in Fallen von Akromegalie iibereinstimmen; sie
fiihren ihn zur Stiitze der Theorie an, dews Akromegalie und Gigantismus
nur ein imd dieselbe Krankheitsform seien. (Autoreferat.)
Panichi- Genua: Ueber die verschiedenen Arten des Zitterns. Vortr.
beschreibt und erortert die Zitterkurve der multiplen Sklerose, Paralysis
agitans und Dementia paralytica.
8. Sitzung. 2 . September, nachmittags.
Vorsitzender: Higier.
Hugo Stem-Wien: Die Pathogenese des Stotterns.
W&hrend de norma der Sprechimpuls ein rich tiger und der ihm fol¬
gende Bewegungskomplex ein koordinierter ist, gerat beim Stotterer da-
durch, dass die Einzelimpulse teils auf falschen Bahnen zu den unrichtigen
Muskcln geleitet werden, teils in Bezug auf Intensitat und Sukzession der
ausgclosten Musk bewegungen wesentlich von den normalen Vorgangen
abweichen, die Tatigkeit des Muskelapparates in Unordnung, die Koordi-
nation ist gestort, die Sprachproduktion eine fehlerhafte. Das Stottem,
welches im Laufe der Sprachentwicklung entsteht, beruht im wesentlichen
auf durch haufige Wiederholungen in typischer Weise immer wieder auf -
tretenden Kntgleisungen der Sprache. Die Vorstellungen der falschen Sprach -
bewegungen werden als Erinnerungsbilder deponiert und durch assoziative
Vorgange im gegebenen Moment© wieder ausgelost, und hier ist der Beginn
des f ur den Stotterer so verderblichen Circulus vitiosus , so dass in vielen Fallen
sehliesslich die grosse Angst vor dem Sprechen, die Lalophobie das ganze
Krankheitsbild beherrscht. Gerade die auf psychophysiologischen Er -
wagungen basierende Auffassung der Pathogenese des Stotterns gibt unfl die
Richtungslinien fiir unser therapeutisches Handeln: Durch eine Byste-
matische beumsst-physiologische Uebungstherapie (Outzmann) gelingt es uns,
auch schwere Falle von Stottem dauernd zu heilen. (Autoreferat.)
Petren-U psala: Welche verschiedenen For men von akuter Poliomyelitis
sind anzunehmen?
Die Epidemien der letzten Jahre haben sicher dargetan, dass die
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vom 29. August bis 4. September 1909.
179
Poliomyelitis der Kinder und der Erwachsenen vollig dieselbe Krankheit ist.
Eine Analogie zwischen Poliomyelitis und Polioencephalitis ist bekanntlich
oftmals angenommen worden; zum Beweis hierf tir hat man bei Poliomyelitis
gefundene anatomische Veranderungen im Gehim angefiihrt. Diese Ver¬
anderungen sind aber nur sehr geringfiigige, unbedeutende Infiltrationen
rings uid die Gefasse herum. Wenn man sich an die gewaltigen, tiefgreifonden
anatomischen Veranderungen bei den Fallen von spastisehor infantiler
Hemiplegie erinnert, ist der Unterschied ein enormer, was eben gegen die
Analogie beider Krankheiten sprechen diirfte. Als oinen weiteren Grund
fiir die Analogie hat man das Vorkommen der beiden Krankheiten entweder
bei demselben Patienten oder gleichzeitig bei mehreren Kindern derselben
Familie angefiihrt. Diese Falle sind aber so sparlich, dass sie, obgleich sie
nicht als ein Zufall l>ezeichnet werden konnen, doch als eine unregelmassige
Lokalisation einer der beiden Krankheiten aufgefasst werden miissen.
Bei den grossen Epidemien in Schweden und Norwegen kam unter je
1000 Fallen von Poliomyelitis nicht ein Fail von spastischer Hemiplegie
vor. Bet ref fs der Different ialdiagnose zwischen Poliomyelitis und Poly¬
neuritis hat man sich auf den Ausgang der Krankheit stiitzen wollen. In
Fallen von Heilung wurde Polyneuritis angenommen. Dies ist nicht richtig,
denn bei den Epidemien von Poliomyelitis sieht man vide Falle, die vollig
geheilt werden. Das klinische Bild beider Krankheiten weist aucli viele
wichtige Unterschiede auf. Bei der Poliomyelitis sind die Symptome einer
heftigen allgemeinen Infektion vorhanden, wahrend sie bei der Polyneuritis
fehlen. Die Verteilung der Lahrnung ist auch bei der Polyneuritis eine
ganz andere. (Autoreferat.)
Frau Kra 7 ‘ett’*£a-Sarajewo: Die Tetanie der osteomalacischen Frauen.
Die Osteomalacie ist in gewissen Bezirken von Bosnien endemisch.
In Serajewo wurden wahrend 10 Jahren 150 Falle konstatiert, von denen
116 puerperalen Ursprungs waren. Die Tetanie ist jedenfalls in Bosnien
haufig. Von 70 Fallen, die auch in einer lOjahrigen Periode in Serajewo
beobachtet w’urden, waren 48 puerperalen Ursprungs und verb unden mit
puerperaler Osteomalacie. Die Osteomalacie befallt wie die Tetanie die*
eingeborene muselmannische Bevolkerung weiblichen Geschlechts in ihrer
armsten Klasse. In diesem Milieu sind die hygienischen Verhaltnisse durch-
aus ungiinstig; die Hauser sind an den Abhiingen der Berge gebaut, liegen
in schlechten Luftverhaltnissen, sind dunked und feucht, die Nahrung ist
ungeniigend; dies alles sind pradisponierende Ursachen. Die friihen Heiraten
(manchmal im Alter von 12 Jahren), die gehauften Geburten (12 bis 16),
das langausgedehnte Stillen (haufig 2 1 2 J&hre) bilden die ontscheidenden
Ursachen der beiden Affektionen. Nach ihrem Verlauf und ihrer Intcnsitat
bietet die Oesteomalacie des ersten Grades 33 Falle : 64, weniger haufig
die des zweiten Grades 13 : 14 und des dritten Grades 2:8; niemals tritt
sie in der Phase der Kachoxie auf. Gewohnliche Falle der tetanischen
Kontrakturen gehen mit dern ersten Auftreten oder mit den Rezidiven der
osteomalacischen Schmerzen zusammen. Die enge Beziehung der beiden
Affektionen mit der Mutterschaft war in alien untersuchten Fallen unleugbar.
Die Auftreten der Osteomalacie und der Tetanie, nach den Monaten und den
Jahreszeiten betrachtet, bietet einen bemerkenswerten Parallelismus.
Das meisten Falle fallen in die Monate Marz und April, die wenigsten in die
Monate Juli und September; die Monate Juni und August sind ganz ver-
schont. Langausgedehnte und vie If ache Beobachtungen be we i sen, dass es
sich in diesen Fallen nicht um zufalliges Zusammentreffen der zwei Affek¬
tionen handelt, sondern dass sie unter denselben hygienischen Bedingungen
entstehen konnen, durch dieselben determinierenden Ursachen hervor-
gerufen werden. (Autoreferat.)
Diskusaion :
Letn-Florenz vermisst im Vortrage jede Angabe iiber die bakt(‘rio-
logische Pathogenese, welche gerade durch die U liters uch ungen tier
italienischen Schule definitiv geklart ist, und schildet fremde und eigene Be-
funde iiber don Diplococcus osteomalacitM\ welchen er sowohl im Knoehen-
mark als auch in Gehim und Uucktmmark hat nachweison konnen.
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180 XVI. intemationaler medizinischer Kongress in Budapest
Zanietowski- Krakau schildert kurz seine Erfolge bei Tetanie mit
Kondensatorenentladungen; dieselbe ergab klare Reaktionen selbst dort,
wo Erb, Chvostek und Trousseau negativ waren; dasselbe^war’auch^der Fall
beim ersten Grade von Osteomalacie.
Renyi- Bacs-Topolya: Behandlung der rheumatischen Facialisparalyse
mit Stauungshyperamle.
Die rheumatische Facialisparalyse ist ein ziemlich oft vorkommendes
Leiden und reprasentiert fast drei Viertel samtlicher Facialisparalysen.
Ihre Aetiologie ist aber noch immer nicht klar. Vortr. stellte Versuche an,
das Leiden mit Bierscher iStauungshyperamie zu behandeln. Er verwendete
hierzu eine 3 cm breite Gummibinde. welche er, angespannt urn den Hals
des Patienten geschlungen, durchschnittlich 16 bis 20 Stunden lang (taglich)
wirken liess. (Unter die (Gummibinde kommen einige Touren einer breiten
Mullbinde.) Der Erfolg dieses Verfahrens war bei den drei Patienten, die
deunit behandelt wurden, iiberraschend. Ein Patient heilte in 4 Tagen,
nach 2 tagiger Applikation; durchschnittlich dauerte die Behandlung
13Tage, und samtliche Kranken gelangten zur vollstandigen Restitutio ad
integrum. Ein anderer Fall, bei dem die Facialisparalyse durch eitrige
Mastoiditis bedingt war, trotzte jeder Behandlung mit diesem Verfahren.
Da bei einem Patienten starker Rachenkatarrh,l>ei einem anderen chronische
Laryngitis vorhanden war, glaubt Vortr., dass dieUrsache der rheumatische
Facialisparalyse eine vora Nasenrachenraum durch die Tuba Eustachii ein-
gewanderte bakterielle Infektion ist, welche die Knochenhaut des Canalis
Falloppii zur entziindlichen Schwellung bringt und somit einen Druck auf
denNervus facialis hervorruft; jedenfalls hat die Biersche Stauungshyper&mie
bisher nur in jenen Fallen reap. Krankheitsarten erfolgreich gewirkt, wo
Streptokokken, Staphylokokken, Pneumokokken und andere, akute Eiterung
bewirkende Bakterien im Spiele waren.
v. Sarbo: Klinische Beitrage zur Fr&ge, auf welchem anatomischen
Wege der Achillessehnenreflex zustande komrat, sowle ein Beitrag zur
klinischen Wertung dieses Reflexes.
Den Ausgangspunkt zum Studium dieser Frage bildete ein Fall von
isolierter Caudaverletzung. Es handelte sich um einen 46 j&hrigen Mann,
der vor 20-—22 Jahren auf das Gesass fiel und danach Parasthesien bekam.
welche sich auf die Gegend des Steissbeinos bezogen und im Gefiihl des
Sickerns bestanden und auch zurzeit noch bestehen. Eine Parasthesie tritt
bei jeder Erektion und Defiikation auf. Dieselbe hindert ihn am Koitus.
Objektiv ist ausser einer Hyperasthesie um die linke aussere Knochelgegend
und links fehlendem Achillesreflex absolut nichts nachweisbar.
Dieser Fall bewies, dass zwischen dem Fehlen des linken Achilles-
reflexes und der Hyperast hesie der linken aussoren Knochelgegend einKausal-
zusammenhang bestehen muss. Dieses Gebiet wdrd laut den Angaben
L. R . Mullers vom 2. Sakralsegment innerviert, und zwar vom N. cut. surae
lat., welcher aus de^i N. sural is stammt. Letzterer Nerv entsteht durch
Anastomose der Aeste des N. tibialis und peroneus. Beim Zustande-
kommen des Achillessehnenreflexes wirkt als motorischer Nerv der den
Gastroknemius und den Soleus innervierende N. tibialis. A priori rniissen
wir daran denken, dass auch der sensible Impuls bei diesem Reflexe vom
N. tibialis weitergeleitet wird, w'ir rniissen also postulieren, dass der tibiale
Anteil des N. suralis derjenige ist, welclier beim Zustandekommen dieses
Reflexes eine Rolle spielt. Diese Annahme kann Vortr. durch klinische Beobach-
tungen beweisen. Erstons verfiigt er iiber Falle von isolierter Peroneus-
lahmung, aus welchen deutlich hervorgeht, dass dieser Nerv mit dem
Achillesreflex nichts zu tun hat, da bei totaler Lahmung dieses Nerven
imd der mit ihrn in Zusaminenhang stehenden Muskeln der Achillessehnen¬
reflex auslbsbar bleibt. In einem Fall von totaler Peroneuslahmung war die
Haut oberhalb des iiusseran Knochels hypasthetisch, aus diesem Befund
folgern wir, dtuss es der tibiale Anted des N. suralis ist. welcher die Haut
unterhalb des iiusseren Knochels innerviert. Somit ist das Befallensein
dieser Hautpartio als Zeiehen des B(*teiligtseins des X. tibialis aufzufassen.
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vom 29. August his 4. September 1909.
181
Weiter berichtet Vortr. iiber einen 37 jfihrigen Tabiker, welcher neben
herabgesetzter Beriihrungsempfindlichkeit am linken Vnterschenkel links
fehlenden AchilleRsehnrnreflex aufwies. Die Patellarreflexe und der rechte
Achillessehnenreflex waren noch erhalten. Patient erlitt naeh einein Jahre
eine linksseitige Hemiplegic; der linke Pateilarreflex wurde spastisch und
der verlorene Achillessehnenreflex kehrte winder, zeigte sogar eine lebhafte
Steigerung gegeniiber der anderen Seite. Es ist das der erste Fall von
Tabes, in welchem eine Wiederkohr des fehlenden Achillessebnenr©flexes l>e-
obachtet werden konnte. (Autoreferat.)
v . Csiky- Budapest: Demonstration von mikroskopischen Befunden
bei Myasthenie.
Bei einem zur Autopsie gelangten typischen Fall© von Myasthenie
fand er bei der mikroskopischen Untersuchung Veranderungen in siimtlichen
Muskeln. Neben normalen Muskelfasern waren auffallend hfiufig ver-
diinnt© Fasern zu sehen; aueli bei diesen war die Querstreifung sehr deutlich.
Dem Perimysium int. entlang waren sehr starke Zellanhaufungen nach-
weisbar, die sich besonders uin kleine kapillare (Jefiisse gruppierten, um von
da dem Bindegewebe entlang zwischen die Fasern einzudringen. Die Zellen
sind von der Gross© einos Lymphozyten, haben einen schmalen Protoplasma-
saum und einen ehromatinreichen Kern. An manchen Stellen sieht man
statt der Zellen starke Bindegewebsfasern, die die einzelnen Muskelfasern
umgeben. Besonders dies© Fasern sind stark verdunnt. Ausser oinigen,
an Stelle zugrunde gegangener Fasern auftretender Fettzellen war die ver-
schiedene Farbbarkeit cinzelner Fasern auffallend. Vortr. meint, dass
diese Bef unde sekundarer Natur sind. und dass Atrophien und degenerative
Veranderungen der Muskulatur wohl vorkormnen konnen, aber nur als
pathologisch-anatomisches Hesultat der Einwirkung einer uns noch ganziich
unbekannten Noxe aufgefasst werden nnissen. (Autoreferat.)
Diskussion :
Fuchs -Wien erinnert an die Aehnliehkeit der demonstrierten Praparate
mit Dystrophiebildern und macht auf die Haufigkeit der Kombination
von Myasthenie mit Dystrophie aufmerksam.
Bing -Basel hat Ratten elektrodiagnostisch gepriift, welche experi-
mentell Hyperparathyrcoidose batten; bei keiner fanden sich myasthenische
Zeichen.
9 . Sitzung . 5. September , vormittags .
Vorsitzender: Mingazzini.
Julius Dona/A-Budapest: Die Behandlung der progress!ven Paralyse
mittelst Nuclein-Injektionen.
Vortragender hat im Jahre 1903 iiber die giinstigen Resultate von
Salzinfusionen bei progressiver Paralyse berichtet, welche auch von anderer
Seite bestatigt wurden. Er ging dabei von der Annahme aus, dass bei der
progressiven Paralyse giftige Stoffwecliselprodukte gebildet werden. welche
meehaniseh herausgesehwemmt werden sollen. Bei diesor neuen Behand-
lungsmethode wird eine griindliehere Beseitigung dersolben dureh Oxydation
angestrebt. Dazu client das Natrium nueleinicum , welches mit der gleiohen
Menge Chlornatrium zu je 2 [>Ct. in aufgekochtcm und abgekuhltem \Vas.ser
gelbst wird, eventuell damit auch aufgokocht werden kann. Es soli kcin
grbsseror Vorrafc dieser Losung bereitet werden, als fur 1—2 Tage ausreicht,
da nach Oeffnen des (iefasses am 3. Tage Zersetzung eintritt. Es werden
unter aseptischen Kautelen in einer Sitzung unter die Haut der Brust-,
Hypochondrium- oder Riickengegend 50—100 ccin, also 1—2 gr Natrium
nueleinicum injiziert. Die Temperatur kann auf 40,5° C. durehschnittlioh
38,5!), die Leukozytenzahl auf 01 000 (durchschnittlich 23 000), steigen.
Die Temperatur kehrt nach 2—5 Tagen zur Norm zuriick. Die Jnjektionen,
von denen durchschnittlich 8 geniigen, erfolgen in 5—7 tagigen Intervallen
abwechselnd auf der einen unci der anderen Seite. Kommt es mitunter zur
Abszedierung, so hat dies keine ungunstige Bedeutung, weil es sich um einen
urspriinglich sterilen Eiter handelt, und wurde ja so etwas friiher in solchen
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182 XVI. intemationaler medizinischer Koiigress in Budapest
Fallen direkt anpestrebt. Indiziert ist die Nucleinsaure-Behandlung vor
allem in den Imtialstadien der Paralyse, insbesonders wenn auch schon
Quecksilberbehandlungen in geniigendem Masse vorangegangen sind oder
diesel be iiberhaupt nicht angezeigt ist. Es hat sich aber diese Behandlung
auch oft genug in Fallen unzweifelhaft luetischen Ursprungs bewahrt, die mit
Quecksilber gar nicht oder sehr mangelhaft behandelt warden. Vor der
v. Wagner- Pt/czschen Tuberkulinbehandlang hat sie den Vorzug, ein un-
gefahrliches Praparat zu verwenden. Wichtig ist, dass diese Behandlung
auch vom praktischen Arzte in der Behausung des Kranken, beziehungs-
weise, dass dieselbe im offenen Sanatorium vorgenommen werden kann.
Von 21 Fallen progressiver Paralyse , die Vortr. mit Nucleinsaure-
Injektionen behandelt hat, wurden 10 wesendich gebessert , worunter die
Wiedererlangung der Arbeits - und Em'erbsfdhigkeit zu verstehen ist (darunter
befinden sich bereits 2 jdhrige Beobachtungen). In 5 weiteren Fallen wurde
eine Besserung erzielt , sowohl in subjcktiver als in objektiver Beziehung f so dass
die Kranken einer Krankenbehandlung nicht mehr bedurften . iedoch ihre
frilhere Leistungsfdhigkeit nicht erlangt batten . Es hat also zusammen in
70 pCt, der Fade Besserung stattgefunden . Die iibrigen 6 Falle blieben un-
geheilt.
tfo/ctt-Budapest: Die gymnastische Behandlung der lokomotorisehen
Ataxie bei bllnden Kranken.
Vortr. hat Versuche gemacht, die Uebungstherapie auch bei blinden
Ataktischen durchzufiihren und dabei so giinstige Resultate erzielt, dass
er eine konsequente Durchfuhrung dieser Mass re gel empfiehlt. Der Verlust
des optischen Sinnes scheint sich als Forderungsmittel der raschen Er-
lemung selbst komplizierter Bewegungen zu erweisen.
Diskusaion:
Flesch-Wien betont den Befund Benedikts , wonach Tabesfalle mit
fnihzeitiger Optiousatrophie beztiglich ataktischer Zustande die beste
Prognose geben; selbst bei schwer ataktischen Tabikern ergibt sich eine
Besserung der Ataxie nach Eintritt der Blindheit.
BaZinf-Budapest: Ueber Meningitis serosa im Anschluss an drei von
ihm beobachtete und zur Obduktion gelangte Falle. Seine Schlussfolgerungen
sind die folgenden: In der Aetiologie der Meningitis serosa spielt die Tuber-
kulose eine grosse Kolle, wie dies ja auch bei den Entziindungen anderer
seroser Haute der Fall ist. Die C^erebrospinaiflvissigkeit ist selbst bei den
infektiosen Formen gewohnlich steril. Die cytologische Untersuchung des
Liquors ergibt beine charakteristischen Resultate. (Autoreferat.)
Diskusaion:
Homen-Helsingfors findet es gowagt, die Falle mit Ausnahme des einen
nachweisbar tuberkulosen fur tuberkulos anzusehen, wenn keine spezifischen
Tuberkel-Veranderungen nachweisbar sind. Es konnen ja auch andere
pathogene Bakterien eine Rolle spielen, welche, wie er nachgewiesen, sehr
rasch wieder aus den Nervenzentren verschwinden.
Muskens- Amsterdam hat 7 Falle von seroser Meningitis beobachtet;
zwei kamen zur Autopsie. Hydrocephalus mit Ependymverdickung kommt
dabei nicht vor. Die als Pseudotumoren bezeichneten Falle sind fiir die
Praxis sehr wichtig. Die lokale Form bietet dem operativen Eingriff die
schonsten Chancen. Dio Lumbalpunktion erscheint gefahrlicher als die
ptdliative Trepanation; in einem Falle fand er einen lokalen meningitischen
Herd; die Falle heilten rasch aus. obwohl Status opilepticus und drohender
Exitus von mehreron Beobachtern festgestellt war. — Nach einigen Be-
merkungen Sternbergs antwortet Balint (Sehlusswort): Auf die Frage Homens ,
dass im ersten Falle kein priinarer Herd vorhanden war, im zweiten ein
inaktiver tuberkuloser Herd. Vortr. hat avif (irund des mikroskopischen
Bildes nooh Analogic dt^r tuberkulosen Entziindungen anderer seroser
Haute auf den tuberkulosen Charakter geschlessen.
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voni 29. August bis 4. September 1909.
183
Zanietowsky-Krakau: Meine Kondensatormetbode im Lichte von
50 eigenen Arbeiten und in demjenigen der modernen Neuropathologie.
Zu den wichtigsten Momenten des Fortschrittes auf dem Gebiet© der
Elektro- und Hydroelektrotherapie gehoren bekanntlich die Entdeekung
der strfthlenden Korper und die klinische Verwertung der strahlenden
Energie, die bahnbrechenden Lehren von der Jononwanderung und der
Ionentherapie, die neue Auffassung des elektrolytischen Widerstands-
begriffes, zuletzt die Einfiihrung von neuen Elektrizitatsmodalitaten in
die alltagliche Diagnostik und Therapie. Auf Grund zahlreicher eigencr
Versuche, welche mit dem Kondensatormultostat vom Vortr. in erdschluss-
freien Multostaten und anderen Apparaten durehgefuhrt wurden. kommt
Vortr. zu nachstehenden Schlussfolgerungen: Die therapeutist*he Affinitat
verschiedener Strahlungsarten ist sehr auffallig; sie f indot ihre Erklarung
in der neuen Elektronenlehre und der elektromagnetischen Lichttheorie.
In dieser Reihe steht die Anwendung des Radiums und der lonenstrahlen
oben an, dann folgen die dunklen Warmestrahlen und die sichtbaren Licht-
strahlen, zuletzt stehen die elektromagnetischen Wellen und alle Bewegungs-
arbeiten der elektrisch geladenen, positiven und negativen Ionen in engem
Verhaltnisse zu den oben genannten Heilfaktoren. Diese verschiedenen
Strahlungen iiben eine verschieden elektive Wirkung auf die Zelle aus,
weil sie durch charakteristische Eigenschaften ihrer qualitativen Zusammen-
setzung gekennzeichnet sind. Trotzdem aber lasst sich nicht leugnen, dass alle
Strahlungen gemeinsamen Gesetzen unterliegen. Auch auf dem Gebiet© der
Elektrotherapie, im alten und modernen Sinne, lasst sich die Mannigfaltig-
keit der Wirkungen einer einheitlichen elektrischen Energie nur auf spezi-
fische, physiologische Eigenschaften einzelner Organe zuruckfuhren, sowie
auf die physikalischen spezifischen Eigenschaften der Elektrizitatsarten
selbst. Die neuen Anwendungsarten sind nach der Ansicht des Vortr.
quantitative Abarten einer und derselben Energie, welche aus einer ein¬
heitlichen qualitativen stammen und nur durch verschiedene Modalitaten
der Spannung, Intensitat und des zeitlichen Kraftverlaufes gekennzeichnet
sind. Vortr. weist auf die wichtigen Fortschritte, wie Verwertung der
Ionenlehre, den Ausbau der Erregungsgesetze, stune eigene kondensatorische
Methode und speziell auf die Einfiihrung von genauen Masseinheiten
in die tagliche Praxis hin. In der Ionenlehre besitzen wir ein reelles Ver-
bindungsglied zwischen der Elektrotherapie und der Balneotherapie, und
es kann auch die Wirkungsweise der hydro- und balneotherapeutisehen
Prozeduren nur dann rich tig gedeutet werden, wenn alle bisherigen Er-
fahrungen der Praxis mit den Ergebnissen der Ionenlehre in Zusammenhang
gebracht werden. (Autoreferat.)
Ales8andrini- Rom: Die Patbogenese der Anencephalie.
Vortr. legt die Resultate seiner mikroskopischen und makroskopischen
Beobachtungen an verschiedenen Organen von drei Anencephalen dar, die
speziell in Bezug auf die Pathogeneso \mtersucht wurden. Die wichtigste
Tatsache war die Atrophie der Nebennierenkapseln, eine Atrophie, die bei
der mikroskopischen Priifung alle Element© inbegriff, die die Nebennieren¬
kapseln zusammensetzen. \ T ortr. bekampft mit verschiedenen Argumenten
die allgemein in Bezug auf die Beziehungen zwisch(‘n Anencephalie und
Aplasie der Nebennierenkapsel angenommene Hypothese, die eine Aplaaic
„ex non usir* sekundar zu einer hypothetischen forinativen Funktion der
Nervensubstanz supponiert, welche die Nebennierenkapsel wahrend der
Entwicklung haben soli. Fiir Vortr. hat sich ergeben, class die Anencephalie
immer in Beziehung zu einer primaren Aplasie der Nebennierenkapsel
stehen muss. Zugunsten dieser Hypothese sprechen wiederholt vorgenominene
mikroskopische ITntersuchungen der Gross- und Kleinhirnhemispharen
und des Ruckenmarkes in solchen Fallen, die Veranderungen ergaben,
die im allgemeinen den sp>eziell von Tizzoni am Nervengewebe von Tieren
gefundenen entsprechen, denen die Nebennierenkapsel entfernt worden
war. In diesen Fallen waren die Gross- und Kleinhirnhemispharen von
einer Masse substituiert, die von vielfaohen Ektasien und venosen Hohl-
raumen durchsetzt war. Dagegonwar im distalen Toil des Gehirns eine Art
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184 XVI. internationaler inedizinischer Kongress in Budapest etc.
Neuroglia zu konstatieren, imd erst entsprechend der Medulla oblongata
zeigten sich Nervenfasern, die sich nach abwarts vermehrten, speziell in
einem Fall, bei dem das Riickenmark abwarts von der cervikalen An-
schwellung normal genannt werden konnte ;es fehlten nur die deszendierenden
Fasern und speziell die Pyramidenbahnen. In alien Fallen waren entlang
dem ganzen Verlauf des Gehirns und des Riickenmarkes bis nach abwarts
zahlreiehe Hamorrhagien zu finden. Auffallend war der Reichtum des
Riickenmarks an Venen, noch mehr hervorzuheben ist der Gefass-
reichtum der Meningen. Die Nervenwurzeln begannen entsprechend der
Ebene der Oblongata. Die Hirnnerven waren normal, und es ist daher an-
zunehmen, dass die Anencephalie nicht als ein Kranklieitsprozess der ersten
Epoche der Entwicklung anzusehen ist, sondern als eine Alteration, die sich
in einem bereits differenzierten Nervengewebe entwickeit.
Nagelschmidt- Berlin: Ueber Hochfrequenztherapie.
Vortr. berichtet fiber sein von ihm Transthermie benanntes Vcrfahren,
mittels wenig gedampfter Strome bezw. Wellen in beliebigen Tiefen des
Organismus mehr oder weniger intensive Warmegrade zu erzeugen. Das
Verfahren beruht auf einer Modifikation der Hochfrequenzstrome, von
denen es sich wesentlich und in gradueller Weise unterscheidet. Die elek-
trischen Oscillationen verlaufen im Gegensatz zu den Arsonvalstromen
fast ohne Pausen mit gleicher Amplitude und mit sehr viel geringerer Span-
nung. Hierdurch werden gewisse neue Wirkungen ermoglicht, iiber die
Vortr. ausfiihrlich berichtet. Die ungedampften elektrischen Wellen haben
die Neigung, von einer Elektrode zur anderen quer durch den Organismus
hindurchzugehen und erzeugen hierbei auf dem ganzen Leitungswege und
auf diesen begrenzt Temperatursteigerungen. Vortr. demonstriert dieses
an einem Stuck rohen Fleisches, welches in wenigen Sekunden oder Minuten,
je nach Grosse der Elektroden und der Intensitat der Strome, auf der
Strombahn vollkommen durchgebraten wird. Es zeigt sich hierbei eine
gleichmassige Tiefenwirkung. Verschiedene Substrate nehmen verschieden
intensive Erwarmung an, so erwarmt sich destilliertes Wasser nur wenig,
physiologische Kochsalzlosung starker, noch viel starker 1,5 prozentige,
noch mehr Serum und am starksten Blutkorperehenbrei. Von den tierischen
Geweben ist die Haut, sonst der schlechteste Warmeleiter, am leichtesten
zu durchwarmen. Hierauf folgen in abnehmender Reihenfolge Knochen,
Muskeln, Fett, Nerven. Die Dosierung erfolgt bei Anwendung geringer
Erwarmung und ohne lokale Anasthesie durch das Gefiihl des Patienten,
bezw. des mit dem Finger kontrollierenden Arztes, bei Anwendung von
Lokalanasthesie oder Narkose durch Messung des Stromes und der Elek-
trodenflache, bezw. in die Tiefe eingestochene kleine Thermometer. Es
gelingt, Tumoren — besonders leicht erwarmbar sind maligne — innerhalb
der Gewebe so gut wie lokalisiert zu koagulieren bis in die Auslaufer hinein.
die anatomisch bei der Operation kaum erkennbar waren. wobei die andere
Elektrode als indifferente Elektrode physiologisch unwirksam bleibt. Bei
gewiinschter Tiefenwirkung kann die Erwarmung der Haut durch Anwendung
gckiihlter Elektroden vermieden werden. Auch gekreuzte Elektrodenpaare
gestatten am Schnittpunkte in der Tiefe Summation relativ geringer
Oberflachenwirkungen. Die Fulguration wird durch das Verfahren voll¬
kommen entbehrlich gemacht und weit iibertroffen. Wichtig ist, dass bei
der Zerstorung von Tumoren mittels Transthermie keine Blutbahnen er-
offnet werden. Die Methode ist im iibrigen iiberall da indiziert, w t o die
Warme als Heilfaktor in Frage kommt. Bisher waren wir imstande. Warme
nur wenige Millimeter in die Tiefe der Gewebe hineinzubringen, indem
wir heisse Korper oder Medien auf die Haut applizierten. Die Transthermie
bietet hier ein vollkommenes Novum dar, insofem wir in beliebiger Tiefe
jetzt Erwarmung erzielen konnen. Selbst Gehim und Riickenmark sind der
Erwarmung ohne Verletzung der ausseren Haut zuganglich. Die Methode
hat sich bisher bewahrt bei Tumoren, bei Neuralgien. Rheumatismen.
besonders Lumbago, Gelenkaffektionen verschiedener Art, Ischias. Gicht
und besonders Asthma.
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Buchanzeigen.
18f>
E Jendra&sik- Budapest: Ueber den Neur&stheniebegriff.
Die Neurasthenie ist ein einheitlicher Prozess, dessen Symptome
zwar in den einzelnen Fallen sehr verschieden sein konnen, docn gibt es
bei der Neurasthenie keine gesonderten Symptomgruppen, die man als
beeondere Krankheiten betrachten konnte. Die Symptome gehen vielmehr
in den mannigfaltigsten Kombinationen ineinander fiber. Die Grundlago
der Neurasthenie ist eine hereditar entstandene grossere Reizbarkeit der
Nervenelemente gewisser Hirnteile; eigentlich besteht dabei keine Schwache.
im Gegenteil leistet das neurasthenische Nervensystem mehr als dasjenige
Gesunder. Die erhohte Reizbarkeit ruft eine Rastlosigkeit, ja eine Be-
fahigung zu ausgiebiger Tatigkeit hervor. Die Neurasthenie kann von dem
Northalen nicht abgegrenzt werden; die leichtesten Falle fiihren zum reiz-
baren Nervensystem hiniiber; die in ihren Konsequenzen schwerste Form
der Neurasthenie hingegen ist die Paranoia. (Autoreferat.)
Buchanzeigen.
S. Freud, Sammlung Jcleiner Schriften zur Neuroaenlehre. Wien 1909.
Franz Deuticke.
Die erste Abhandlung ,.Bruchstticke einer Hysterie-Analyse 44 ist ja
langere Zeit bekannt und wird durch das Betonen des sexuellen Faktors hin-
reichend charakterisiert. Es ist bedauerlich, dass die allgerneinen Gesichts-
punkte des Autors, die eine Vertiefung der psychologischen Betrachtung
und Erkenntnis bedeuten konnten, bei der Ueberwfcrtigkeit des Sexual-
komplexes nicht zur Geltung komraen. Es ware wiinschenswert, dass Be-
griffe wie ,,Verschiebung“, ,A r erdrangung“, .,Wunscherfiillung“ bei der
Beurteilung und Auffassimg von Psychosen mehr Einfluss gewannen. Die
Beziehungen zwischen Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse sollen
nach dem Verf. darin bestehen. dass sowohl bei der Neurose wie beim Ver-
brechen die Aufgabe gestellt wird, etwas Verborgenes im Seelenleben auf-
zudecken. Bei dem Versuch, gleiche Vorgange in den ,,Zvvangshandlungen
und Religionsiibungen 44 zu finden, iiberraschen die weitgehenden, aber will-
kiirlichen Analogien. Es ist immerhin schon viel, wenn der Verf. einraumt.
dass die Triebregungen, die bei den Religionsubungen unterdriickt werden.
nicht ausschliesslich sexueller Natur sind. Freuds Aeusserungen iiber den
brennenden Ehrgeiz einstiger Enuretiker diirften die in der Abhandlung
„Charakter und Analerotik“ entwickelten Anschauungen geniigend illu-
strieren. Neben derartigen phantastischen Gedankengangen finden sich
viele geistreiche Bemerkungen, die besonders die Beziehungen zwischen
Sexualitat und Hysterie angehen. Das wird auch der zugestehen miissen.
der die nur sexuelle Erklarung der Phanomene ablehnt. A . Kutzinski.
A. Jarotzky, Der Idealismus als lebenserhaltendes Prinzip, Betrachtungen
eines Arztes. Wiesbaden 1908. J. F. Bergmann.
Der Verfasser ist der Ansicht, dass die Entwicklung der modemen
Medizin eine grosse Liicke aufweist, dadurch, dass sich im Geiste des Arztes
der Unterschied zwischen Menschen und Tier verwischt- hat. Der modeme
Arzt iibersieht das Dasein der ethischen Seite der menschlichen Psyche und
ignoriert die Fahigkeit des Menschen, sich fur das Edle zu begeistem und sich
in seinen Handlungen von hbheren Motiven leiten zu lassen. Und doch
braucht der Mensch. der schon im Kampf mit roher physischer Kraft der
Begeisterung und des idealistischen Aufschwunges bedarf, uni als Sieger
aus ihm her\ r orzugehen, im Kampf gegen die Krankheit einen nooh
grosseren idealistischen Aufsc^hmmg. Es soil daher der Arzt neben dem
Korper auch die Seele seines Patienten behandeln, er soli die idealistischen
Seiten des physischen Lebens seiner Kranken in seine Interessensphiire
ziehen, bei ihnen eine ,,sittliche Wiedergeburt 44 herbeifiihren.
Eine solche vom Verfasser als Aretotherapie l>ezeichnete Massnahme
vermag nach seiner Annahme Ausserordent-liches zu leisten nicht nur bei
chronischen, sondern auch bei akuten Krankheiten.
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186
Tagcsgeschieht lie lies.
Die Abhandhuig ist interessant zu iesen, wemi man auch den viel zu
w eitgehenden, durch manchmal nicht stichhaltige Beispiele erlauterten
Schlussfolgemngen des Verfassers nieht beistimmen kann.
Tintemann- Gottingen.
A. Pilcz, Lehrhuch der speziellen Psychiatrie fur Studierende und Aerzie.
2. ver)>eseerte Auflage. Wien, Franz Deuticke.
Das in zweiter Auflage vorliegende Buch ist ausgezeichnet durch
cine knappe, ausserordentlich prazise Darstellung und enthalt trotz des ver-
haltnismassig geringon Umfanges in sehr ubersichtlicher Anordnung nicht
nur alles, was der Student und praktischo Arzt von den psychisehen Er-
krankungen wisson muss, sondern verrnag auch dem Psychiater in vielen
Fallen wertvollo Hiilfe und Anhaltspunkte zu einer schnelien Orientierung
liber die einzelnon Erkrankungsformen zu geben. Ueber die Berechtigung
der Auffassung einzelner Erkrankungsformen, so der Dementia praecox
und der angeborenen Neurasthenic. soli hier in eine Diskussion nicht ein-
getreten werden. Auf jeden Fall kann das Buch, das ini Anhang eine Zu-
sammenstellung der fiir die Psychiatrie wichtigen zivil- und strafgesetz-
lichen Bestimmungen enthalt, vor allem auch dem Studenten empfohlen
werden. Tintemann- Gottingen.
F. Plaut, W assermannsche Serodiagnostik der Syphilis in ihrer Anwendung
auf die Psychiatrie . Jena 1910. Gustav Fischer.
Die bereits friiher vom Verf. initgeteilten Erfahrungen werden hier er-
weitert und vertieft. Die gegebenen Befunde. die nicht irn einzelnen erortert
werden konnen, zeigen den Fleiss und die Gewissenha-ftigkeit des Autors.
Inunerhui w r ird einzelnes zu bestimmt behauptet, z. B. die Paralyse sei unter
alien luetischen Affektionen die einzige, in der auch das negative Ergebnis der
Beaktionklinisch verwertbar sei. Besonders bemerkenswert sind die Erorter-
imgen liber die Differeritialdiagno.se zwisehen Paralyse und Lues auf Grund
der Serodiagnostik, die aber naturgemiiss zu keinem Hesultat gefiihrt haben.
Auch die Berichte liber den Einfluss der Syphilis auf den angeborenen
Schwachsinn und die psychopathischen Konstitutionen eroffnen weite Aus-
blicke. Sowohl fiir den Forscher wie fiir den Praktiker wird das Bucli
unentbehrlich sein. A. Kutzinski .
H. Schloss, Leitfaden zum Vnterricht fiir das Pflegepersonal an offentlichen
Irrenanstalten. 4. Auflage. Wien 1909. Franz Deuticke.
Das Erscheinen der vierten Auflage des Leitfadens kann schon als ein
Beweis daflir angesehen werden, dass der Leitfaden den an ein solches Buch
zu stellenden Anforderungen entspricht. Kurz und allgenieinverstandlich
sind die fiir den Irrenpfleger in Betracht kommenden Punkte in einer Reihe
von Einzelparagraphen dargestellt. Eine Anzahl von guten Abbildungen
erliiutert, wo es notig ist, den Text. Tintemann- Gottingen.
Tagesgeschichtliches.
Vom 3. bis 7. Oktober 1910 tagt zu Berlin im’Hause'der Abgcordneten
der von dem deutschen Verein fiir Psychiatrie vorbereitete IV. Internationale
Kongress der Fursorge fiir Geisteskranke. Mit dem Kongress w T ird eine
Ausstellung der Fiirsorge fiir Gamuts-, Geistes- und Nervenkranke ver-
bundcn sein. Anmeldungen von Vortragen werden an Prof. Boedeker-
Schlachtensee-Berlin, Anmeldungen betr. die Ausstellung an Prof. Alt -
Gehtspringe (Altmark) erbeten.
Privatdozent Dr. Schuster in Berlin hat den Professortitel erhalien.
Privatdozent Dr. Karpins in Wien hat den Titel eines a. o. Professors
erhalten.
Dr. O. Kdipin . Privatdozent fiir Psychiatric und Neurologic in Bonn,
hut boi einem Eisenbahnungluckein tragisches Endo gefunden. Seine beiden
Wissensehuften verdanken ihm zahlreiche vortreffliehe Arbeiten.
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Ueber die kortikalen und bulbaren Verbindungen des
Hypoglossus.
Experimentell-anatoraische Untereuchung
von
G. MINGAZZINI und O. POLIMANTI,
ord. Prof, der Nonropat hologte Privatdozent der Physiologic
an der Kttnigl. UniversitAt zu Rom.
(Hierzu Taf. XIII—XVI.)
Die Verbindungen des Nervus hypoglossus mit seinem Ur-
sprungskem wie mit der Himrinde sind nichts weniger als bekannt.
Beim Menschen sind die Schwierigkeiten ihrer Feststellung sehr
gross, denn Verletzungen, die sich auf das Rindenzentrum dieses
Nerven oder auf den Abschnitt des Himstammes, in welchem seine
Bahn verlauft, beschranken, kommen nur sehr selten zustande;
dazu kommen die innigen Nachbarschaftsbeziehungen, die zu den
Bahnen des Facialis bestehen. Aus diesem Grunde haben wir uns
entschlossen, experimentell die Losung dieser Fragen zu versuchen.
Zu diesem Zweck haben wir bei zwei Affen (Cercocebus fulig. und
Cercopithecus patas) und bei zwei Katzen, einer jungen und einer
erwachsenen, das Ausreissen des zentralen Hypoglossusstumpfes
der einen Seite hinter der Ansa, bei einem anderen Affen (Innus
caudatus) vor der Ansa ausgefuhrt. Bei einem anderen (Cero-
pithecus griseoviridis) nahmen wir zuerst die Exstirpation des
Hypoglossus der einen Seite (links) und spater die Exstirpation des
entsprechenden Rindenzentrums der entgegengesetzten (rechten)
Seite vor, um so den Hypoglossuskern auf der Seite des exstirpierten
Nerven sowohl von dem peripherischen Nerven wie vom Hirn-
zentrum vollstandig loszutrennen.
Nachdem wir die Tiere ein Jahr und langer nach der Operation
am Leben erhalten und sie von Zeit zu Zeit untersucht batten,
toteten wir dieselben unter Chloroformnarkose und untersuchten
die in Betracht kommende Gegend des Himstamms nach der
Po&chen und van Giesonschen Methode.
Von dem Gehirn des Cercopitheus griseoviridis, bei welchem
wir die Exstirpation des kortikalen Zungenzentrums der einen Seite
und die Exstirpation des kontralateralen Hypoglossus ausgefuhrt
hatten, legten wir eine liickenlose Schnittserie von der Spitze des
Monatasehrift fttr Paychiatrie and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 13
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188 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
Stimlappens bis zum Lendenmark an. In einigen Fallen haben wir
auch die histologische Untersuchung der Zunge vorgenommen.
Im Hinblick auf spatere Erwagungen haben wir es fur zweck-
massig gehalten, intra vitam auch die Untersuchung des Gaumen-
segels und der Stimmbander vorzunehmen, wobei wir von Dr.
De Carli, Privatdozent der Ohrenheilkunde, freundlichst unter-
stiitzt wurden, dem wir hier unsem warmsten Dank ausdrucken.
Versuch 1. Ceroopithecus griaeoviridis. Exstirpation dee N. hypo-
gloesua lints und Abtragung seines Rindenzentrums rechts.
10. VI. 1906. Unter Aetherchloroformnarkose wird der link© Hypo-
f loesuB hinter der Ansa exstdrpierfc. Sofort nach der Oper ition weicht die
lunge nach rechts ab.
11. VI. 1906. Das Tier frisst mit der groesten Schwierigkeit, ee streckt
die Zunge nicht vor.
20. VI. 1906. Das Tier frisst mit weniger Schwierigkeit. kaut jedoch
stets auf der rechten Seite und schiebt die Nahrung aid dies© Seite.
Bisweilen streckt ee, auf die Schmeicheleien dee Waiters, die Zunge
vor, dieeelbe ist sowohl im lnnem der Mundhohle, wie auseerhalb derselben
leicht nach rechte verschoben.
16. VIII. 1906. Das Tier wird chloroformiert, urn den Zuetand der
Zunge untersuchen zu konnen. Keine Stoning der Bewegungen des
Gaumensegels Die linke Halfte der Zunge hat bedeutend an Volumen
abgenommen und ist schlaifer als die rechto.
Faradische Erregbarkeit:
linke Zungenhalfte, M. Z.143
rechte Zungenhalfte, M. Z.160
Galvanisohe Erregbarkeit der hnken Zungenhalfte herabgesetzt: stark©
Strdme loeen nur schwache Kontraktionen aus, sowohl bei Kathoden-
wie bei Anodenreizung.
8. T. 1907. Unter Ghloroformnarkoee wird rechts die Rindensubstanz
unmittelbar vor dem untersten End© dee Sulcus frontalis lateralis bis zum
Mark abgetragen. Leicht© Pares© der linksseitigen Extremetaten.
20. III. 1907. Untersuchung des Tieree unter leichter Chloroform-
narkose: Bewegungen des Gaumensegels normal und symmetrisch; die Zunge
weist eine deutliche Atrophie der llnken Halfte auf, beeonders in der vor-
deren Halfte, so wie eine ausgepragte Neigung, sich nach rechts zu ver-
schieben. Die Pares© der linksseitigen Extremitaten ist verschwunden.
Faradische Erregbarkeit:
rechte Zungenhalfte, M. Z.130
linke Zungenhiilfte, M. Z.138
Galvanisohe Erregbarkeit: rechte Zungenhalfte KSZ fast = AnSZ.
beiderseits trage Zuckung.
Linke Zungenhalfte KSZ < AnSZ.
16. IV. 1907. Unter Chloroformnarkose laryngoskopische Unter¬
suchung: Motilitat der Stimmbander normal; auch das Gaumensegel ist
normal beweglich (Dr. De Carli). Der vordere Abschnitt der linken Zungen¬
halfte ist stark atrophisch.
16. V. 1907. Das Tier wild mittels Chloroformnarkose getotet.
Fig. 1 und 2. Bei Besichtigung des Hirns (Figg. 1 u. 2) bemerkt man
entsprecnend der Trepanationsoffmuig einen Substanzverlust im Bereich
dee G. frontalis latercuis. Der abgetragene Teil der Himrinde umfasst fast
das ganze motorische Zentnun der Zunge, wie es von Beevor und Horsleg
festgestellt worden ist: Wir sagen „fast das ganze*denn nach diesen Autoren
erstreckt ee sich noch ein wenig hinter den S. Rolandi Dass trotzdem die
ganze kortikale Projektionsfaserung dee in Rede stehenden Zentrums zerstort
war, be weist ein unmittelbar hinter der Exstirpation gelegter Frontal-
schnitt (siehe unten).
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und bulbaron Verbindungen dea Hypoglossus.
189
FrontalachniUaerien dea Oehims und dea Ruckenmarks .
Im Riickenmark nichts Beeonderes. Im Niveau der distalen Absehnitte
dee Hypoglossuskemes aieht man auf beiden Seiten die erhaltenen Zellen
deeselben; die Fasem der rechten Pyramide sind in der dorsomedialen Halfte
etwas rarefiziert. Einige Schnitte weiter, d. h. sobald sich die Area nuclei
hypoglossi (Fig. 4) vollstandig ausgebildet hat, findet man dieselbe links
um l /i verkleinert; das endonukleare Fasergeflecht ist links etwas firmer
als rechts, der Unterschied ist jedoch nicht sehr merklich; das perinukleare
Fasergeflecht ist beiderseits gut erhalten. ebenso die Fibrae afferentes.
Die laterals ten Wurzelfasem sind links fast alle verschwunden. Im linken
Hypoglossuskem ist eine ansehnliche Zahl von Nervenzellen verschwunden,
beaonders von den an der dorsolateralen Peripherie liegenden; die wenigen
im Zentrum noch erhaltenen Zellen erscheinen fast alle geschrumpft und
blase. In der Raphe ist nichts Abnormes wahrzunehmen, die Fibrae commis-
surales sind gut erhalten. Etwas verkleinert scheint das rechte Pyramiden-
feld, und seine dorsomedialen Biindel sind anscheinend rarefiziert, das
Gliagewebe ist in seinem Bereich etwas verdickt.
Im Niveau der mittleren (Fig. 5) und proximalen Absehnitte dee
Hypoglossuskems sind links viele Nervenzellen dee Hypogloesuskerns, und
swar besonders die an der Peripherie liegenden, verschwunden. Besser er¬
halten sind die Zellen im Zentrum und im ventralen Pole. Samtliche Langs-
fasem der Raphe, die auf der linken Seite derselben verlaufen, sind ver¬
schwunden, wahrend die entsprechenden Fasem der rechten Seite gut er¬
halten sind. Von den Wurzelfasem dee Hypoglossus bleibt kaum Vs mtakt.
Die Fasem des perinuklearen Geflechts, die Fibrae commissurales und die
Fibrae afferentes des Hypoglossuskems sind beiderseits gut erhalten. Das
endonukleare Fasergeflecht ist links erheblicher rarefiziert als in den
Praparaten der anderen operierten Tiere. Die rechte Pyramide zeigt wieder
das oben beschriebene Verhalten.
Im Bereich der Briicke erscheinen die medialen Pyramidenfasem
(der Briicke) rechts (Fig. 3b) etwas diinn und stark rarefiziert; auf dieeer
Seite sind auch einige Nervenzellen und einige Fasem der Area para-
medialis '} verkleinert und verschwimden. Je mehr man proximal warts
vorschreitet, um so mehr sammeln sich die rarefizierten oder degenorierten
Fasem vorzugsweise im medialen Abschnitt, bis im proximalsten Gebiet der
Briicke rechts auaachlieaslich die Fasem der medialen Biindel des Pyramiden-
areals rarefiziert und degeneriert erscheinen. Das Biindel von der Schleife
zum Fuss ist auf dieser Seite vollstandig verschwunden.
Im Niveau des distalen Drittels des Thalamus bemerkt man rechts
fast vollst&ndigen Schwund der Fasem und der Zellen des Nucleus medialis
thalami, Schwund vieler Fasem, welche in den oberen Teil des Nucleus
lateralis thal. eintreten, und Rarefikation der Fasem des Stratum inter¬
medium. Im medialen Fiinftel des Pes podunc. dextri ist eine ziemlioh
grosse Menge der Fasem verschwunden; nur einige der mehr medialen
Fasem sind erhalten. Das mediale Drittel des Corpus Luysii dieser Seite
enthalt eine geringe Anzahl von Nervenzellen, viele Nervenfasem sind ver¬
schwunden, daher zeigt dieser Teil schon fiir das blosse Auge eine weiss-
lichere Farbe.
Proximalwarts (Fig. 3) beschrankt sich rechts das Degenerationsfeld
im Areal der Pyramidenbahn immer scharfer auf das zweite Sechstel des
Fusses. Die in der Substantia nigra verlaufenden Nervenfasem und nicht
wenige der Nervenzellen der Substantia nigra sind entweder geschrumpft
oder verschwunden. Die Area nuclei medialis thalami erscheint rechts
etwas verkleinert, viele Nervenzellen sind vollstandig verschwunden, und
die Fasem sind auf wenige 'vereinzelte reduziert. Die zum N. lateralis th.
l ) Einer von uns (Mingozzini) hat den Namen ,,Area paramedialis* 4
vorgeschlagen fiir den Nervenzellen- und Fasemkomplex, der medialwarts
vom Fascic. medianus pontis, lateralwarts von dem medialsten Pyraraiden-
biindel begrenzt wird. (Dies© Zeitschr., Bd. XXV.)
13*
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190 Mingazzini-Polimanti,- Ueber die kortikalen
ziehende Degeneration hat mehr und mehr abgenommen. Auf derselben
Seite sind auch fast samtliche Fasem dee ventraien Drittels der inneren
Kapeel (im hinteren Schenkel) verschwunden.
Im Bereiche des Knies der inneren Kapsel und dee hinteren Teilee
dee vorderen Schenkels derselben beschrankt sich rechts die Degeneration
auf die laterals Halfte der zwei ventraien Funftel derselben. Der Nucleus
medialis und lateralis thalami sind in diesem Niveau normal.
Im Uebergangsgebiet (Fig. 2 b) des Genu corporis callosi bemerkte man
rechts eine Zerstorung des entsprechenden Teilee (vorderen Endes) der
inneren Kapsel f wie auch des Putamen und des Nucleus caudatus und
weiterhin eine Degeneration des dem G. frontalis lateralis entsprechenden
Markgebiets bis zur Exstirpationsstelle.
Zusammenfassend kann man sagen: Infolge der Exstirpation des rechten
kortikalen Zungenzentrums imd der benachbarten subkortikalen Gebiete
ist auf derselben Seite im Niveau des vorderen Schenkels und des Knies der
inneren Kapsel eine Degeneration der lateralen Halfte der beiden ventraien
Funftel derselben eingetreten; im Niveau des hinteren Schenkels der Kapsel
findet sich Degeneration ihres ventraien Drittels, eines Teils des Nucleus
medialis und der dorsalen Halfte des Nucleus lateralis thalami; im Pee
pedunculi sind distal die Fasem der dorsalen Halfte des medialen Sechstels
und proximal die Fasem des fiinften Sechstels, von aussen nach innen
gerechnet, degeneriert; in der Briicke wurde Degeneration des Biindels von
der Schleife zum Fuss, einiger Zellen der Area paramedialis und der medio-
medialen Biindel der Pyramidenbahn und in der Oblongata der dorso-
medialen Biindel der Pyramide gefunden. Auf der entgogengesetzten Seite
(links), auf welcher der Nervus hypoglossus herausgerissen worden war.
fand sich Rarefiziemng dee endokulearen Geflechtes des Hypoglossus-
kerns, Schwimd vieler Ganglienzellen (besonders der peripherischen) und
Degeneration der iibrigen, ausserdem Schwund der lateralen Wurzelfasem
des Nerven selbst.
Auf einem Frontalschnitt im vorderen Bereich der Zunge erscheint die
linke Zungenhalfte nur sehr wenig kleiner als die rechte. Die Volum-
abnahme kommt ausschliesslich auf Rechnimg des ventraien Teils. Bei
starker Vergrosserung bemerkt man, dass nur der lateralen Halfte ent-
sprechend die Muskelfasern etwas verdiinnt sind; nur an einigen wenigen
Stellen weisen dieselben deutliche Degenerationserscheinungen auf; in ein-
zelnen Fasem hat das Sarkoplasma eine blaue, gleichmassige Farbung
(Wachsdegeneration) angenommen.
Versuch 2. Cercocebus fuliginosus. Durchtrennung und Dehnung
des zentralen Sturnpfes des Nervus hypoglossus sin. hinter der Ansa.
27. VII. 1906. Unter Narkose wird die Exstirpation des Stammes des
N. hypoglossus sin. hinter der Ansa ausgefiihrt und sodann der zentrale
Stumpf des Nervus ausgerissen. Sofort nach der Operation weicht die Zunge
nach rechts ab.
18. VIII. 1906. Das Tier verschluckt feste und fliissige Nahrung gut.
Die Zunge ist bestandig nach rechts verschoben; die linke Halfte erscheint
etwas atrophisch.
2. IX. 1906. Das Tier wird zwecks der elektrodiagnostischen Unter-
suchung der Zunge chloroformiert.
Faradische Erregbarkeit:
linke Zungenhalfte, M. Z.12,3
rechte Zungenhalfte, M. Z.12,7
Galvanische Erregbarkeit beiderseits KSZ > An SZ.
Es beeteht somit eine Herabsetzimg der faradischpn Erregbarkeit
der linken Zungenhalfte.
1. XII. 1906. Tod an Marasmus.
UnUrsuchung der Serienschnitte der Oblongata . Auf den distalen
Schnitten durch die Oblongata bemerkt man einen deutlichen Schwund
der Zellen des linken Hypoglossuskemes; etwas rarefiziert sind auch Hie
endonuklearen Verzweigungen der Wurzelfasem. Das perinukleare Faser-
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und bulbaren Verbindungen dee Hypogloasue.
191
geflecht, welches ubrigens bei dieeem Tier wenig entwickelt schien, iet
beiderseite gut erhalten. Dae endonukleare Geflecht iet links etwae rarefiziert.
Fast samtliehe Nervenzellen dee Hypogloesuskemee mit Auenahme einiger
Zellen am ventr&len Pol eind gut erhalten.
Proximalwarts wild der Schwund der Nervenzellen im linken Hypo-
gloesuskem innen ausgepragter (vergl. Fig. 8f; m fehlen haupteachlich die
peripherischen Zellen; auch die noch erhaltenen ZeUen erscheinen fast aUe
leicnt atrophisch; die Wurzelfasern dee XII. aind geschwunden und zwar
vorzugsweise die lateralen. Die perinuklearen und endonuklearen Faeem
verhaften sich, wie oben erwahnt. Die Fibrae afferentee nuclei hypogl.
aind in der ganzen Hohe dee Kernes gut erhalten; gleiches gilt von den
Fibrae commieeuralee. • ;
Versuch 3. Exstirpation dee N. hypogl. sin. hinter der Ansa.
Cercopithecus patae.
22. VI. 1906. Unter Narkose wird hinter der Ansa der linke Hypo-
gloeaus exstirpiert. Sofort nach der Operation sieht man die Zunge nach
rechte abweicnen.
25. VI. 1906. Das Tier kaut mit der rechten Halfte des Kiefers. Die
Zunge ist nach rechte verschoben.
2. IX. 1906. Dae Tier wird behufs elektrodiagnoetischer Untersuchung
der Muekulatur der Zunge chloroformiert.
Faradische Erregbarkeit:
linke Zungenhalfte, M. Z.11,5
rechte Zungenhalfte, M. Z. 15,0
Galvanische Erregbarkeit: linke Zungenhalfte AnSZ bei •/• MA.
KSZ < AnSZ. Rechte Zungenh&lfte KSZ y 2 MA. KSZ > AnSZ.
Es besteht folglich eine Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit
und partieUe EAR der linken Zungenhalfte.
Die linke Zungenhalfte ist stark atrophisch. Keine Storung der Be-
wegungen und keine Atrophie des Gaumensegels.
14. VI. 1907. Unter Chloroformnarkose wird laryngoskopisch unter-
sucht (Dr. De Carli ): Die Motilitat der Stimmbander ist normal, ebenso
diejenige der Gaumensegel.
16. V. 1907. Das Tier wird durch Chloroform getotet.
Untersuchung der Schnittserie durch die Oblongata. Im Niveau des
distalen Drittels des Nucleus hypoglossi (Fig. 6) ist links (auf der Seite
der Operation) das perinukleare Fasergeflecht beiderseits gut erhalten, das
endonukleare ist nach dem dorsolateralen Rande zu rarefiziert; die am
moisten lateral warts liegenden Wurzelfasern dee N. hypogl. und viele
Ganglienzellen des linken Hypoglossuskemes sind verschwunden, nament-
lich die lateralsten und auch viele von den zentralen; besser erhalten
sind die medialen Zellen.
Im Niveau des mittleren Teiles des Hypoglossuskemes (Fig. 7) sind
links die Zellen des Hauptkemes zum grossen Teil verschwunden, und zwar
beeonders die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; die lateralsten
Wurzelfasern sind links rarefiziert; das endonukleare Geflecht ist besonders
in seinem lateralen Teil links etwas weniger dicht. Gut erhalten sind beider¬
seits die perinuklearen Fasem und die Fibrae afferentes, und zwar sowohl
diejenigen, die iiber die Kuppe oder innerhalb der Spitze der Formatio
reticularis alba ziehen, wie auch die durch den ventralen Pol dee
Nucleus XII hindurchziehenden Fasem.
Im Niveau des proximalen Teils des Hypoglossuskemes treten links
die erwahnten Veranderungen immer deutlicher hervor, sodass es in dieeem
Niveau nicht mehr moglich ist, einen sicheren Unterschied zwischen dem
rechten und linken Hypoglossuskern festzustellen.
Auf einem Frontalschnitte durch den vorderen Abschnitt der Zunge
erecheint die ganze linke Halfte und zwar hauptsachlich ihr lateroventraler
Teil, erheblich verkleinert. Auf dieser Seite sind, auch der lateralen Halfte
entsprechend, zahlreiche Muskelbiindel verschwunden, wahrend die homo-
logon Fasem rechts gut erhalten aind.
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192
Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
Versuch 4. Exstirpaiion des N. hypogL sin. vor der Ansa.
Inuus caudatus, Weibchen, 3 Jahre alt.
16. VI. 1906. Der linke Hypogloasus wird vor der Ansa durchschnitten
und ein grosseres Stuck exzidiert; doch gelingt es nicht, den zentralen Stumpf
zu dehnen. Gleich nach der Operation sieht man die Zunge nach rechte ab-
weichen.
20. VT. 1906. Keine halbseitige Differenz bei den Fress- und Schluck-
bewegungen.
16. VIII. 1906. Das Tier wird chloroformiert. Bewegungen des
Gaumensegels normal, die linke Zungenhalfte erscheint leicht atrophisch"
Faradische Erregbarkeit:
rechte Zungenhalfte, M. Z.15
linke Zungenhalfte, M. Z.13
Es besteht also eine Herabsetzung der faradischen Erregbarkeit der
linken (atrophischen) Zungenhalfte.
20. III. 1907. Unter Chloroformnarkos© wird feetgestellt, dass die
Zunge, sowohl vorgestreckt wie in der Mundhohle, immer leicht nach rechte
verechoben ist, allerdings in wenig ausgepragter Weise. Die Bewegungen
des Gaumensegels sind normal, die Gaumenbogen stehen symmetrisch.
1. IV. 1907. Dae Tier verendet in einer Chloroformnarkos©.
Untersuchung der Schnittserie. — Auf Schnitten im Niveau des
distalen Teiles des Hypoglossuskemee gelingt ee nicht, irgend einen Unter-
schied, weder im Volumen, noch in der Anzahl oder in der Struktur der
Nervenzellen des Hypoglossuskemee festzustellen. Die feinen Fasem des
endonuklearen Geflechts des linken Hypoglossuskemee sind rarefiziert, be-
Bonders in der Nahe der lateralen Peripherie des Kernes.
Auf Schnitten, die bald nach der Oeffnung des Zentralkanales
(Fig. 9) gefiihrt sind, sind links die lateralsten Wurzelfasern des N. hypo¬
glossus verschwunden. Dieser Schwund steht in grellem Gegensatz zu
aer Erhaltung der beiden medialen Drittel der Wurzelfasem. Die Fasem
des Kemgeflechts sind gut erhalten. Mehrere Ganglienzellen des linken
Hypoglossuskemes sind verschwunden, hauptsachlich solche an der dorso-
lateralen Peripherie, das zarte endonukleare Geflecht ist ebendaselbst
etwas rarefiziert. Die Fibrae afferentes des Hypoglossuskemes sind
a&mtlich beiderseite gut erhalten; dasgleiche gilt von den Fibrae commis-
surales.
Auf alien nachfolgenden Schnitten bis zum proximalen End© des
Hypoglossuskeras linden sich dies© Veranderungen in gleicher Weise. Rechte
keinerlei Veranderung,
Auf einem Schnitt durch den vordersten Teil der Zunge findet
man links die Muskelbiindel zum grossten Teil erhalten, nur der lateralen
Halfte entsprechend zeigen einige Muskelfasem einen granulosen Zerfall
oder eine beginnende Wachdegeneration mit Vermehrung der Sar-
kolemmakeme.
Versuch 5. Exstirpaiion des N. hypoglossus sin. hinter der Ansa.
2 jdhrige Katze .
22. VII. 1906. Hinter der Ansa wird der Hypoglossus ausgerissen,
Sofort nach der Operation sieht man die Zunge nach rechts abweichen.
23. VII. 1906. Eine Atrophie der linken Zungenhalfte beginnt bereits
aufzutreten. Die Zunge weicht nach rechte ab.
12.1. 1907. Die linke Zungenhalfte weicht nach rechte ab und ist sehr
atrophisch, besonders in ihrer vorderen Halfte.
9. IV. 1907. Unter Chloroformnarkos© wird die laryngoskopische Unter¬
suchung vorgenommen: Motilitat der Stimmbander und der Gaumensegel
normal; kein Anzeichen von Atrophie des Gaumensegels.
23. IV. 1907. Das Tier wird mittels Chloroform getotet.
Untersuchung der Serienschnitte der Oblongata . Auf Schnitten im Niveau
des distalen Drittels des Hypoglossuskeras (Fig. 10) bemerkt man links
einen Schwund von ungefahr der Halfte der Ganglienzellen des Hypoglossus¬
kemes, und zwar besonders der an der dorsolateralen Peripherie gelegenen.
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und buibaren Verbindungen des Hypoglossus. 193
Die Nervenzellen, welche das Zentrum und den ventralen Pol des Kerns
bilden, sind teilweise erhalten, dooh sind aueh diese kleiner als gewohnlich.
Das endonukleare Geflecht ist links stark rarefiziert, ebenso die Wurzelfasem
des Hypoglossus. Das perinukleare Fasergeflecht ist beiderseits gut erhalten.
Im Niveau des mittleren Abschnitts des Hypoglossuskerns (Fig. 11)
zeigen die Zellen des Hypoglossuskernes ungefahr noch dieselben Verande-
rungen. Am besten erhalten sind die im Zentrum gelegenen Zellen, alle
anderen, besonders die dorsolateralen. sind entweder vollstandig verschwun-
den oder haben stark an Volumen abgenommen und farben sich mit Karmin
auffallig blass. Die Wurzelfasern des Hypoglossus sind links rarefiziert;
etwas sparlich, doch nicht in einem bedeutenden Grade, sind auch die endo-
nuklearen Fasem. Die Fasem, welche bogenformig, mit der Konvexitat
nach unten, das Kemgebiet und das dorsale Gebiet der Formatio reticularis
alba (Fibrae afferentes) durchziehen. sind auf beiden Seiten gut erhalten,
desgleichen die Fibrae commissurales.
Im proximalen Drittel des Kerns ergeben sich dieselben Verhaltnisse.
Versueh 6. Katze, ungefahr 1 Monat alt.
Au8reis8ung des Nervus hypoglossus sin . hinter der Ansa.
15. VI. 1906. Der Hypoglossus wird hinter der Ansa ausgerissen.
Gleich danach weicht die Zunge nach rechts ab.
31. XII. 1906. Derselbe Befund.
1. VIII. 1907. Das Tier wird getotet. Man findet die linke Zungen-
h&lfte im vorderen Teile atrophisch.
Untersuchung der SerienschniUe der Oblongata. — Im Niveau des distalen
Drittels des Hypoglossuskernes wird links ein fast vollstandiger Schwund
der Nervenzellen des Kernes festgestellt; das endonukleare Geflecht ist
z. T. verschwunden; gut erhalten hingegen sind die perinuklearen Fasem
und die Fibrae afferentes. Die lateraJsten Wurzelfasem sind links rarefiziert.
In den mittleren und proximalen Abschnitten des Kernes (Fig. 12)
sind links nur die zentralen Nervenzellen erhalten, und auch diese sind zum
Teil geschrumpft imd erscheinen mit Anilinfarben auffallig blass gefarbt;
nur wenige sind vollstandig intakt.
Ein Schnitt durch den vorderen Zungenteil (Fig. 13) zeigt bei schwaoher
Vergrosserung folgendes:
Die ganze lmke Zungenhalfte ist bedeutend kleiner als die rechte,
die Papillen sind beiderseits gut entwickelt. Links sind die transveralen
und die vertikalen Muskelfasem in der medialen Halfte gut erhalten, in
der lateralen dagegen sind sie zum grossen Teile verschwunden, und zwar
namentlich die langs- und ventral-verlaufenden. Rechts sind alle Fasem vollig
normal. Bei starkerer Vergrosserung findet man hier und da in den
Muskelfasem des lateralen Teiles der linken Zungenhalfte Veranderungen
verechiedenen Grades und verschiedener Bedeutung. Einige Fasem haben
nur an Volumen verloren, sind aber reich an Sarkolemmakemen, andere
haben jegliche Struktur verloren, und ihr Sarkoplasma besteht aus einer
homogenen Masse von weissem, fast wachsahnlichem Aussehen, andere
wiederum scheinen eine im Zerfall begriffene koraige Masse zu enthalten.
Schlus8folgerungen .
Nachdem wir die tatsachlichen Beobachtungen beschrieben
haben, gehen wir zur Erorterung der Frage nach den zentralen Ver-
bindungen und dem cerebralen Verlauf des Hypoglossus (resp.
der Hypoglossusbahn) fiber.
Wir beginnen mit dem Hypoglossuskem. Was seine Nerven¬
zellen betrifft, so ist hervorzuheben, dass bei Atrophien des
Hypoglossuskernes peripheren Ursprungs viele, aber nicht alle
Nervenzellen des Kernes der Degeneration anheimfallen; ein Teil
bleibt intakt, und zwar selbst jahrelang. Diese Tatsache, welche
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194 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
einer von uns ( Mingctzzini ) schon vor ungefahr 20 Jahren bei Tieren
(Kaninchen) festgestellt hat, an denen die einseitige Exstirpation
des Nervus hypoglossus ausgefiihrt worden war, wurde spater
von anderen Forschern bei Tieren und beim Menschen bestatigt.
Da Fano stellte- mit Hhlfe der Farbemethoden von Donaggio
und Ramon y Cajal bei dem Kaninchen nach Ausreissung des zen-
tralen Stumpfes des Nerven in den Ursprungszellen Prozesse
fest, die zu einer zunehmenden Atrophie und nachfolgendem
Schwund der Zellen des gleichseitigen Kerns fiihren. Er fand je-
doch, dass die kleineren inneren Zellen des Kerns eine besonders
geringe Resistenzfahigkeit zeigen und ungefahr nach 20 Tagen
verschwunden sind, wahrend die verhaltnismassig grosseren Zellen
des vorderen und lateralen (ventrolateralen) Teiles des Kerns 1 anger
Widerstand leisten und, wenn auch verandert, doch bis fiinf Mo-
nate nach der Operation erhalten bleiben konnen. In den Fallen
vonHemiatrophie der Zunge infolge periphererVerletzung(Schnitt),
die Biancone und einer von uns (Mingazzini) beim Menschen
studiert haben, bemerkten wir ferner, dass die Atrophie der
Zellen des Hypoglossuskemes auf der Seite der Hemiatrophie
in den distalen Abschnitten des Kernes ziemlich deutlich ist, im
Niveau des mittleren Drittels noch zunimmt und im proximalen
Drittel abnimmt. Ebenso sahen wir, dass die Veranderungen der
Nervenzellen in der medialen und der lateralen Gruppe des Kerns
ausgepragter waren. Auch Westphal bemerkte in einem Falle von
Hemiatrophie der Zunge zentralen Ursprungs, dasB die Atrophie
des Hypoglossuskemes sich auf das distale Drittel des Kerns be-
schrankte, und dass die Veranderungen proximalwarts mehr und
mehr abnahmen, bis im Niveau des mittleren Drittels Zellen und
Fasem normal waren. Geronzi hingegen konstatierte in seinem,
dem W’esJpAafechen ahnlichen Falle von Hemiatrophia linguae
zentralen Ursprungs, dass die Atrophie der Ganglienzellen die
ganze Lange des Hypoglossuskemes einnahm und vom distalen
zum proximalen Ende allmahlich zunahm; ausserdem bemerkte
er, dass die Veranderungen in den lateralen und zentralen Zellen
ausgepragter waren.
Will man sich dieses verschiedentliche Verhalten der Nerven¬
zellen des Hypoglossuskemes erklaren, so ist wohl begreiflich,
dass bei Zungenatrophien zentralen Urspmngs (Fall Koch-Marie,
Westphal, Geronzi) die Veranderungen im Kem gleichmassig oder
auch sprungweise vorhanden sind. Hingegen ist in den Fallen
peripherischer Hypoglossuslasion ( Biancone, Mingazzini) der Be¬
hind so auffallig, dass wir zu der Annahme gedrangt wurden, dass
der Kem an seinem distalen und proximalen Ende auch Beziehungen
zu anderen Nerven, nicht nur zu den Wurzelfasem dee Hypoglossus,
eingeht und dass die Zellen des Hypoglossuskemes nicht alle die
gleiche physiologische Bedeutung haben.
Mit diesen Schlussfolgerungen stimmen unsere jetzigen Be-
funde vollstandig uberein. In der Tat waren bei dem operierten
Cercocebus fuliginosus fast samtliche periphere Zellen des Hypo-
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und bulbaren Verbindungen dea Hypoglossus.
195
glossuskernes schwer verandert, und die Veranderungen waren
um so ausgepragter, je weiter man distalwarts vorechritt. Bei
dem Cercopithecus patas waren distalwarts nur die lateralen Zellen
des Kernes verschwunden, wahrend proximalwarts die Ver-
anderung mehr und mehr ganz besonders die dorso-lateralen und
zum Teil auch die zentralen Zellen betraf; erst im proximalen
Drittel trat dies wiederum weniger deutlich hervor. Bei dem
1 nuu.s caudatus waren nur proximalwarts die dorsolateralen
Zellgruppen des Hypoglossuskernes auf der Exstirpationsseite ver¬
schwunden ; distalwarts war kein Unterschied zwischen den beiden
Seiten nachzuweisen. Im Hypoglossuskem (Exstirpationsseite)
der erwachsenen Katze waren distalwarts samtliche Zellgruppen
des Hypoglossuskernes, mit Ausnahme der im Zentrum und am
ventralen Pole gelegenen, verschwunden; diese Veranderungen
traten im medialen und proximalen Teile deutlicher hervor. Bei
der jungen Katze (Beobachtung 6) waren distalwarts samtliche
Zellen des Hypoglossuskernes auf der Seite der Exstirpation ver¬
schwunden oder stark geschrumpft, proximalwarts waren nur
die peripherischen verschwunden, die zentralen waren erhalten
und nur leicht verandert. Bei dem Cercopithecus griseoviridis
(kombinierte Exstirpation des Hypoglossus links und des Rinden-
zentrums des Hypoglossus rechts) waren von den Ganglienzellen
des Hypoglossuskernes auf der linken Seite die peripheren und vor
allem die dorsolateralen verschwunden, die zentralen hatten, frei-
lich nicht alle, einen Riickbildungsprozess erfahren. Niemals fanden
wir eine Veranderung der Zellen des rechten Hypoglossuskernes.
Diese Befunde zwingen uns, von neuem zu erwagen, welches
die Ursachen sein konnen, weshalb einige Gruppen der Nerven-
zellen des Hypoglussuskernes dem atrophischen oder Degenerations-
prozess mehr Widerstand leisten. Wie aus der kurz vorher ge-
gebenen Zusammenstellung hervorgeht, sind es die zentralen und
zum Teil die medialen Zahlen, die nach Exstirpation des Hypo¬
glossus beim Affen und bei der Katze am meisten Widerstand
leisten wahrend die peripherischen und besonders die dorso¬
lateralen am raschesten dem Untergang verfallen. Was die iibrigen
betrifft, so kann man keine Regel in der chronologischen Reihen-
folge des Schwundes feststellen, doch findet man immer eine
Gruppe, die widersteht und zuletzt oder vielleicht nie abstirbt.
Auch besteht nicht nur ein Unterschied zwischen den ver-
schiedenen Gruppen der Nervenzellen, sondern auch in der Langs-
ausdehnung des Kernes verhalten sich die Kernzellen ceteris
paribus nicht gleichmassig. Die Veranderungen waren namlich
im Bereich des mittleren und proximalen Abschnittes besonders
schwer, so bei der erwachsenen Katze, bei Cercopith. griseoviridis,
bei Cercocebus fuliginosus und bei Inuus; bei Cercopith. patas
hingegen fanden sich die Veranderungen maximalen Grades nur im
mittleren Abschnitt, in den Endabschnitten hingegen nur minimale
Veranderungen, bei der Katze endlich war es hauptsachlich das
distale Segment, w-elches die schw'ersten Zerstorungen aufwies.
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196 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
Hieraus kann man schlie3sen, dass es die peripherisohen (reap,
die dorso-lateralen) Zellen sind, welche ausschliessliche Verbin-
dungen mit den Wurzelfasern des N. hypoglossus eingehen, und
zwar speziell die Zellen des mittleren und des proximalenAbschnitts;
die Zellen des distalen Abschnitts hingegen (und bisweilen auch
des proximalen) sind es, die mit den Hvpoglossusfasern .weniger
enge Beziehungen haben.
Erwagen wir nun die Ursachen dieses verschiedenen Ver-
haltens der verschiedenen Gruppen der Ganglienzellen des Hypo-
glossuskernes!
Wenn dieserKem aus einer grauen, in antero-posteriorer Rich-
tung sich weit erstreckenden Saule bestande, so dass der proxi-
male Teil z. B. in einer bedeutenden Entfernung von den Wurzel¬
fasern lage, konnte man denken, dass das verschiedenartige Ver-
halten der Zellgruppen darauf beruhe, dass die retrograde Degene¬
ration keine Zeit gehabt hat, alleUrsprungszellen zu erreichen. Doch
ist dies nicht der Fall, denn es handelt sich um einen relativ sehr
kurzen Kern, dessen Zellen alle etwa gleicbweit von demWurzelaus-
tritt entfemt sind. Noch viel weniger kann die Verschiedenheit der
Widerstandsfahigkeit der verschiedenen Zellgruppen von dem von
der Operation bis zumTode des Tieres verlauf enen Zeitraum abhangen,
denn bei demCercoc.fuliginosus und bei demCercop. pataswaren die
Nervenzellen des Hypoglossuskemes fast in identischen Zonen und
ungefahr in gleichem Grade befallen, obwohl der erstere viel kiirzere
Zeit nach der Operation am Leben geblieben war als der letztere
und die Resektion des N. hypoglossus bei beiden hinter der Ansa
hypoglossi ausgefiihrt worden war. Wir miissen daher die Folgerung
ziehen, dass die Nervenzellen, die nach der Ausreissung des
Hypoglossus am langsten erhalten bleiben, engere Verbindungen
entweder mit den Ganglienzellen der entgegengesetzten Seite oder
mit dem Rindenzentrum besitzen, oder dass eine teilweise
Kreuzung der Wurzelfasern besteht.
Einige Griinde konnten beim ersten Blick zugunsten der ersten
Annahme zu sprechen scheinen, d. h. dass die widerstandsfahigen
Nervenzellen engere Verbindungen mit denen des gleichnamigen
kontralateralen Kernes besitzen, so dass dieser funktionelle fort-
dauemde Zusammenhang sie vor einer eventuellen Atrophie schiitzt.
Hier ist daran zu erinnem.dass nach Koch und Marie die sogenannten
Fibrae commissurales des Hypoglossuskemes an dem Netze der
Fibrae propriae des Kernes beteiligt sein sollen. Van Gehuchten
und Cajal betrachten sie als Protoplasmafortsatze einiger Zellen
des Hypoglossuskemes. Poirier und Bechterew fassen sie als
Achsenzylinder besonderer Assoziationszellen (Schaltzellen von
Monakow) auf. Man wiirde somit begreifen, warum diese hypo-
thetischen Zellen die Resektion lange uberleben, und warum in dem
Falle von Hemiatrophie der Zunge beim Menschen, welcher von
Biancone und einem von uns (Mingazzini) studiert wurde, Ver-
anderungen im Kem und in den Wurzelfasern des Hypoglossus
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus.
197
nicht nur auf der verletzten Seite, sondem auch auf der gegen-
fiberliegenden sich fanden. Freilich konnte Biancone, der in seinem
Falle von Hemiatrophia linguae nicht nur Veranderungen des
Hypoglossu8kemes auf der Seite der Verletzung des Nerven,
sondem in geringem Masse auch auf der entgegengesetzten Seite
fand,keineVeranderungenindenFibrae commissurales wahmehmen.
Uebrigens zog schon Biancone in Betracht, dass die Fibrae commissu¬
rales, welche aus den Zellen des normalen Hypoglossuskemes
entspringen sollen, leicht den Schwund der aus den zerstorten
Zellen hervorgehenden Fibrae commissurales verdecken konnen,
besonders da es nicht moglich ist, im Gebiete der Fibrae commis¬
surales einen Vergleich zwischen den beiden Seiten anzustellen.
Da in unseren Versuchsfallen die Fibrae commissurales samtlicher
operierter Tiere sich stets gut erhalten fanden, konnen wir kein
beweisendes Argument hinzufiigen. Doch selbst wenn wir einen
Schwund der Fibrae commissurales und nicht der Zellen ange-
troffen hatten, ware noch kein Grund vorhanden, die oben er-
wahnte Annahme anzufechten, denn wir miissten an das denken,
was in dieser Hinsicht Monakow 1 ) sagt: ,,Selbst wenn man
von alien Seiten die zu einem grauen Haufen ziehenden mark-
haltigen Fasero unterbricht, so dass dieses Stuck graue Substanz.
samtlicher Verbindungen mit der Nachbarschaft, abgesehen etwa
einer kleinen die Blutzufuhr vermittelnden Briicke grauer Substanz,
vollig beraubt ist, so finden sich ausnahmslos neben vielen in alien
Abstufungen sekundar degenerierten resp. atrophischen und ander-
weitig strukturell geschadigten stets noch eine stattliche Anzahl von
Nervenzellen, an denen man nennenswerte mikroskopische Ver¬
anderungen nicht erkennen kann.“
Gehen wir nun zur zweiten Annahme fiber, namlich, dass die
grossere Widerstandsfahigkeit einzelner Zellgruppen des Hypo¬
glossuskemes nach Resektion des betreffenden Nerven davon
abhangen konnte, dass speziell diese Gruppen engere und unmittel-
barere Verbindungen mit dem entsprechenden Rindenzentrum
haben. Diese Vermutung scheint uns wahrscheinlich, wenn wir die
Resultate einiger unsererOperationen beobachten. In der Tat sehen
wir, wenn wir die Sektionsbefunde der Oblongata der j ungen Katze
mit den bei der erwachsenen Katze erhoberien vergleichen, dass
trotz der volligen Uebereinstimmung der Operation bei der jungen
Katze die auf der linken Seite degenerierten Zellen des Hypoglossus¬
kemes weit zahlreicher wuren als diejenigen der erwachsenen Katze
besonders in der distalen Halfte des Kernes. Einen anderen Beweis
liefert uns die Untersuchung des Cercopithecus griseoviridis, bei
welchem das Rindenzentrum des Hypoglossus rechts abgetragen
mid der N. hypoglossus links herausgeschnitten war. Der Zweck
dieser kombinierten Operation, die, so viel uns bekannt ist, bisher
noch niemand vor uns ausgeffihrt hat, war, so weit moglich, den
linken Hypoglossuskem sowohl von den zentralen kontralateralen
l ) Vergl. die Literatur. Monakow loe. eit. S. 402.
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198 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
Verbindungen wie von demperipherischenNervenstamm zu isolieren.
Mit anderen Worten: die Nervenzellen des linken Hypoglossuskemes
waren hier einer doppelten Wirkung ausgesetzt, namlich dem Ein¬
fluss der Abtragung des homolateralen N. hypoglossus und dem
Einfluss des Schwundes der letzten Verzweigungen der kortiko-
bulbaren, von der entgegengesetzten Seite kommenden Fasem des
ersten Neurons. Nun waren die Zellen des linken Hypoglossuskemes
verschwunden oder auf dem Wege zu verschwinden, und zwar in
grosserer Zahl (vergl. Fig. 5 mit Fig. 0 — 12 ) als bei den anderen
Affen und bei der erwachsenen Katze, und auch das Areal des linken
Kernes hatte an Volum bedeutend mehr eingebiisst als bei diesen.
Dies erklart sich leicht, wenn man annimmt, dass die gegeniiber
dem Einfluss der Nervenresektionwiderstandsfahigeren Zellen gerade
diejenigen sind, welche eine engere Verbindung mit dem gekreuzten
kortikalen Zentrum haben. Daher muss man mit der Entfemung
des letzteren den Schwund der entsprechenden Zellen erzielen.
Endlich bleibt noch die dritte Annahme, namlich, dass die
Wurzelfasern eines Hypoglossus nicht samtlich aus den Nervenzellen
des gleichseitigen Kernes, sondem zum Teil auch aus denen des ge¬
kreuzten Kernes entspringen; im letzteren Falle wiirde das Intakt-
bleiben einiger Zellen von der teilweisen Kreuzung der Wurzel-
fasem abhangen konnen. Mit Be/.ug auf diese Frage ist hervorzu-
heben, dass eine teilweise Kreuzung der Wurzelfasern des Hypo¬
glossus von alien Autoren geleugnet wird. Einem von uns ( Min -
gazzini) gelang es zuerst, mittelsder experimentellen Degenerations-
methode nachzuweisen, dass die Wurzelfasern des Hypoglossus
sich ganz und gar nicht kreuzen. Diese Forschungen wurden spater
von Geronzi, Djelojf und nochmals von Mingazzini bestatigt.
Selbst vanQehuchten, derein eifriger Verteidiger der Kreuzung war,
hat dieselbe neuerdings aufgegeben. Ebenso stimmen die experi¬
mentellen Studien Schaffers und Staderinis darin iiberein, dass sie
den Kemzellen und Wurzelfasern des Hypoglossus auf der der
Exstirpation des Nerven entgegengesetzten Seite jede Veranderung
absprechen. Unsere jetzigen Beobachtungen bestatigen noch ein-
mal den schon feststehenden Satz, dass die Wurzelfasern des Hypo¬
glossus sich nicht kreuzen, denn wenn eine teilweise Kreuzung be-
stiinde, konnte man sich nicht erklaren, warum rechts (auf
der Seite, wo der N. hypoglossus intakt war) nicht eine einzige
Nervenzelle des Hypoglossuskemes in verandertem Zustande
gefunden wurde. Man konnte nur die Frage aufwerfen, warum von
den Wurzelfasern des Hypoglossus links (auf der Operationsseite)
vorzugsweise die lateralen untergegangen sind. Doch dies beweist
nichts anderes, als dass alle Fasern mit Vorliebe Verbindungen mit
einer bestimmten Zellgruppe eingehen. Die wahrscheinlichste also
der oben erwahnten drei Annahmen, also diejenige, welche mit
den experimentellen Tatsachen am besten in Uebereinstimmung
steht, ist die zweite. wonach eine der Zellgruppen des Hypoglossus¬
kemes, namlich die zentrale, mit den Endverzweigungen der
kortikobulbaren Fasern in unmittelbarerer Verbindung steht. Dabei
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und bulb&ren Verbindungen dee Hypoglossus.
199
steht jedoch nichts im Wege zugleich im Sinne der ersten Hypothese
anzunehmen, dass auch einige dieser Zellen dem homologen Kerne
der entgegengesetzten Seite Dendriten (als Fibrae commissu rales)
zusenden.
Es bleibt indes noch zu erwagen, dass auch bei dem Cero-
pithecus griseoviridis eine kleine Zellgruppe des Hypoglossuskernes
doch noch erhalten geblieben ist; man konnte sich daher fragen,
ob etwa im Hypoglossuskerne eine dritteKlasse von Zellen existiert,
die Verbindungen mit anderen Gebilden hat. Hier darf man nicht
vergessen, dass einer von uns ( Mingazzini ) schon friiher als sehr
wahrscheinlich erwiesen hat, dass einTeil der Fibrae suprareticulares
aus den Zellen des Funiculus gracilis und cuneatus entspringt,
und sich um die Zellen des Hypoglossuskernes herum verzweigt.
Hierzu kommt noch folgende Erwagung. In den Fallen von Zungen-
hemiatrophie beim Menschen hat man oft Paresen des Gaumen-
segels auf der Seite der Hemiatrophie beobachtet, ohne allerdings
entscheiden zu konnen, ob diese von einer peripherischen oder einer
zentralen Ursache abhangen (Bruce, Koch, Marie, Biancone, Geronzi,
Mingazzini). Aus der Priifung der Krankengeschichten geht jedoch
hervor, dass die Mitbeteiligung des Gaumensegels bei peripherischen
Verletzungen des Hypoglossus erst spat auftritt. Die meisten Au-
toren erklaren dies aus der Langsamkeit, mit welcher der retrograde
Degenerationsprozess sich in denjenigen Fasem entwickelt, welche
aus Zellen des Hypoglossuskernes entspringen und zum Gaumen-
segel ziehen. Tooth und Turner nahmen an, dass sie im Accessorius
dorthin gelangen; Clarke, Bruce, Biancone und Mingazzini hin-
gegen behaupteten, dass sie im Vagus verlaufen und speziell
in jenen Fibrae suprareticulares enthalten sind, die aus dem
ausseren Teile des Hypoglossuskems entspringen und im Bogen
sich der Richtung des Wurzelstammes des Vagus und des Glosso-
pharyngeus anschliessen. Dies wird von Staderini bestatigt, der
nach einseitiger Exstirpation fand, dass der Wurzelstamm des
Vagus sich in seinem Anfangsteile in zwei Biindel teilt, von denen
das eine sich zum Vaguskem und das andere zum Hypoglossuskern
wendet. Nun hat er feststellen konnen, dass das zweite Biindel
auf derjenigen Seite intakt blieb, auf welcher der Kern des Hypo¬
glossus intakt war, und auf der entgegengesetzten Seite. wo der
Kern infolge der Resektion des Nerven atrophiert war, vollstandig
fehlte. Aus all dem kann man somit schliessen, dass am wahrschein-
lichsten aus dem Kerne des Hypoglossus Fasem hervorgehen, die in
Fibrae suprareticulares und dann in den Vagusstamm iibergehen.
Nach dem bisher Gesagten begreift man leicht, wie infolge einer
peripherenVerletzung (Ausreissung) des Hypoglossus ein atrophisch-
degenerativer Prozess nicht nur in den Zellen des Hypoglossuskernes,
deren Fasem im Nervenstamme verlaufen, sondern auch in den-
jenigenZellen auftreten kann, deren Fasem auf einem anderen Wege
sich zum Gaumensegel wenden. Und dies ist sehr wahrscheinlich,
1. weil der atrophisch-degenerative Prozess des Kernes in der
Gesamtheit desselben Emahrungsstorungen hervorrufen muss,
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200 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
denen sich auch die wenigen Zellen nicht entziehen konnen, die
dazu bestimmt sind, dem Gaumen Fasem zuzusenden und die
von denselben Blutgefassen versorgt werden; 2. weil sichere
klinische und pathologisch-anatomische Tatsachen die Moglichkeit
der Ausbreitung eines Degenerationsprozesses auf benachbarte
Nervenabschnitte beweisen, wenn mit den letzteren ein funk-
tionelles Zusammenarbeiten besteht, wie z. B. fiir Gaumensegel und
Zunge. Nun haben wir bei unseren Tieren nie eine Storung im
Bereich des Vagus und des Glossopharyngeus beobachtet (Stimm-
bander, Gaumensegel intakt), imd dementsprechend erweisen sich
auch die F. suprareticulares intakt. Wenn auch ein solcher Be-
fund nicht absolut die Annahme der von Biancone, Staderini und
einem von uns ( Mingazzini ) behaupteten Funktion der F. supra¬
reticulares beweist, so widerspricht er ihr doch wenigstens auch nicht.
Alles dies lasst folglich die Annahme zu, dass fast alle Zellen
des Hypoglossuskemes Wurzelfasem abgeben, und dass man be-
ziiglich dieser Zellen drei Kategorien unterscheiden kann, und zwar:
eine besonders die Peripherie einnehmende Kategorie, die aus-
sehliesslich mit den lateralen Wurzelfasem des Hypoglossus in
Verbindung steht; eine zweite, die ebenfalls Wurzelfasem und
zwar die medialsten zum Hypoglossus schickt, aber in engerem
Zusammenhange mit den letzten Verzweigungen der Projektions-
fasem des entsprechenden contralateralen Rindenzentmms und mit
den Endverzweigungen sensibler Bahnen steht, und eine dritte, die
wahrscheinlich Gaumenlarynxfasem entsendet.
Die Schlussfolgerungen, zu denen wir beziiglich der Wider¬
standsfahigkeit der verschiedenen Zellengmppen bei dem Affen
und bei der Katze gelangt sind, scheinen in einem gewissen Gegen-
satz zu den Versuchen Da Fanos zu stehen, der bei dem Kaninchen
umgekehrt die zentralen Zellen lange vor den peripherischen
degenerieren sah. Dabei ist jedoch zu erwagen, dass nach den
Beobachtungen Kosaka- Yagitas die Veranderungen der Nerven-
zellen des Hypoglossuskems dem Grade derVerletzung ihrer Achsen-
zylinder und der der Widerstandsfahigkeit des Neurons parallel
gehenden Innervation proportional sind. Der Meinung dieser
beiden japanischen Verfasser nach ist nun die Widerstandsfahigkeit
fiir samtliche Neurone ein und desselben Kernes nicht die gleiche
und schwankt sehr ie nach der Tierspezies. Wir fiigen noch hinzu,
dass die Beziehungen des Hypoglossuskemes, wie im allgemeinen
irgend welcher Gruppierung homofunktioneller Zellen, auch bei
verwandten Spezies sehr verschieden sein konnen. Man denke z. B.
an die wichtige Bedeutung des Hypoglossus beim Menschen be-
ziiglich der Sprachfunktion, man erinnere sich des verschieden-
artigen Grades der Motilitat, den die Zunge beim Ochsen und
beim Affen besitzt, um z. B. verstehen zu konnen, dass zwischen
unseren Beobachtungen und denen Da Fanos kein Widersprucb
bestehen muss. Auch ist es gewiss gestattet hervorzuheben, dass
nach Djeloff und Kosaka- Yagita der Ramus descendens bei den
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglosaus.
201
Affen vorwiegend aus dem Cornu anterius entspringt, wahrend
der entsprechende Zweig bei den Vogeln (Ramus laryngeus) aus
dem Kerne des Hypoglossus hervorgeht.
Mit dieser Frage steht eine andere in engem Zusammenhang,
namlich ob in den verschiedenen Zellgruppen des Hypoglossus-
kernes besondere, die Innervation bestimmter Zungenmuskein
beherrschende Zentren vertreten sind. Namentlich mochten wir
auch darauf hinweisen, dass die soeben bereits erwahnte Ansicht
von Djeloff und Kosaka- Yagita, derzufolge der Ramus descendens
hypoglossi bei dem Affen nur aus dem Cornu anterius, resp. aus
dem entsprechenden Reste des Hypoglossuskemes entspringt,
durch unsere Versuchsergebnisse insofem gestiitzt wird, als bei
dem Inuus, bei dem die Resektion des Hypoglossus vor der Ansa
ausgefiihrt worden war, samtliche Zellen in dem distalen Teile
des Hypoglossuskemes gut erhalten waren.
Hier miissen wir auf die klinischen und pathologisch-
anatomischen Untersuchungen einiger Forscher hinweisen. Bei
der Untersuchung der Oblongata eines von Zungenkrebs befallenen
Mannes, bei welchem die Affektion gewisse Muskeln der Zunge voll-
standig zerstort, andere hingegen mehr oder wenig verschont hatte,
kamen Parhon und Goldstein zu dem Schlusse, dass die ausseren
(lateralen) Zellen der Kemsaule des Hypoglossus die Muskeln des
oberen und ausseren Zungengebietes (Mm. pharyngoglossus,
amygdaloglossus, palatoglossus) innervieren. Diese Muskeln waren
namlich in dem in Rede stehenden Falle besser erhalten, und die
laterale Gruppe derNervenzellen des Hypoglossuskemes erwiessich
als am w'enigsten verandert. DiesErgebnis wurde durch einen zweiten
von Herm und Frau Parhon beschriebenen Fall in sehr bemerkens-
werter Weise bestatigt und erganzt. Sie hatten Gelegenheit, die
Schnittserie der Oblongata eines Mannes, welcher an einem Car¬
cinoma linguae gelitten hatte, zu untersuchen. Das Karzinom
nahm in diesem Falle die obere aussere Gegend des Organs, der
Basis zu, ein, d. h. gerade jene Gegend, die im vorher erwahnten
Falle intakt geblieben war; in diesem zweiten Falle war nun
gerade die aussere (laterale) Zellengruppe des Hypoglossuskemes
am starksten verandert. Zu nicht ganz hiermit ubereinstimmenden
Resultaten gelangt Hudovernig. Er behauptet auf Grund der
Untersuchung; der Oblongata in einem Fall von partieller
karzinomatoser Zerstorung der Zunge, dass die mittleren zwei
Drittel der lateralen Zellgmppe des Hypoglossuskemes die Muskeln
der unteren und ausseren Teile der Zunge innervieren.
Uns scheint es, dass solche Schlussfolgerungen noch etwas
verfriiht sind. Es ist nicht nur sonderbar, dass eine Zerstorung nicht
identischer Muskelgruppen der Zunge (obere und aussere im Fall
Parhon-Goldstein, untere aussere im Falle Hudovernigs) Ver-
anderungen einer und derselben Zellengruppe, namlich der
lateralen. verursachen soil, sondem vor allem, dass bei den von
uns operierten Affen und Katzen es gerade die lateralen Zellen des
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202 Mingazzini- Polimanti, Ueber die kortikalen
Hypoglossus sind, welche wir gewohnlich, wie auch bei den Pa-
tienten Hudovernigs und Parhons, am starksten getroffen finden.
Diese auffallige Tatsache scheint una nur zu bestatigen, dass gerade
die lateralen Zellen des Hypoglossuskemes es sind, die, wenn auch
nicht zu besonderen Bewegungen, so doch sicher zu der lateralen
Muskulatur der Zunge im allgemeinen in engerer Beziehung stehen.
Eine ahnliche Folgerung ergibt sich aus unseren Versuchen
beziiglich der trophischen Funktionen des Hypoglossuskemes. Nicht
nur bei unseren an Resektion des Hypoglossus operierten Katzen
und Affen, sondem auch bei den von Staderini in derselben Weise
operierten Kaninchen und in ahnlichen Fallen beim Menschen
(Marina) war fast ausschliesslich der vordere Teil der Zunge und
vor allem die Zungenspitze atrophisch. Dies beweist, dass fiir
die basale Halfte der Zunge nicht nur der Hypoglossus, sondem
wahrscheinlich auch andere Nerven (Chorda tympani, N. facialis,
N. glosso pharyngeus) trophische Funktionen ausiiben. Dies er-
scheint um so begreiflicher, wenn man bedenkt, dass die Hebung
der Zungenwurzel nicht nur durch die Tatigkeit des M. stylo¬
glossus, sondern auch durch den vom Facialis innervierten M. stylo-
hyoideus und durch den M. glossostaphylinus zustande kommt,
den einige als indirekt vom Trigeminus innerviert betrachten.
Noch in einer anderen Beziehung ist der Zungenbefund
beachtenswert. Bei der j ungen Katze war der Schwund der
histologischen Zungenelemente, hauptsachlich der Muskelfasern
bedeutend schwerer und ausgedehnter als bei den Affen und bei
der erwachsenen Katze, obwohl die ausgefiihrte Operation und die
nach derselben iiberlebte Zeit bei alien fast ungefahr die gleiche
gewesen war. Bei dem Cercopithecus griseoviridis war sogar noch
auf der kontralateralen Seite die Zerstorung des kortikalen
Zungenzentrums hinzugekommen. Dies erklart sich leicht, wenn
man bedenkt, dass bei dem Katzchen nicht so sehr eine Atrophie,
als vielmehr eine Aplasie der Zungenmuskulatur vorliegt, da das
Organ sich noch im Stadium des Wachstums befand. Die Tat¬
sache, dass die mehr medial gelegenen Muskelfasern auf der linken
(operierten) Seite der Zunge bei den Tieren, namentlich bei dem
Katzchen (Fig. 13), unversehrt geblieben waren, wahrend ungefahr
drei Fiinftel der lateralen Muskelfasern fast vollstandig fehlten,
zeigt einen direkteren Zusammenhang an zwischen diesem Teile
der Muskelfasern und den verschwundenen (lateralen) Zellgruppen
des Kerns. Dieser Befund ist, makroskopisch wenigstens, nicht neu.
Ascoli wies darauf hin, dass bei der Hemiatrophia linguae der
laterale Teil der atrophischen Zungenhalfte gewohnlich mehr
getroffen ist als der mediale, und dass bei den Bildem der
Hemiatrophia linguae der Tabiker eine bedeutendere Volum-
abnahme speziell am ausseren Rand der Zunge besteht, so dass
das ganze Organ wirklich eine halbmondformige Gestalt annimmt.
Biancone fiigt hinzu, dass die Atrophie der Zungenhalfte in keinem
seiner vier Falle von Hemiatrophia linguae gleichmassig war, doch
konnte er sich davon iiberzeugen, dass dieselbe im allgemeinen im
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus.
203
lateralen Teile vorherrschte. Femer fiihrt er an, dass die raumliche
Einschrankung des atrophischen Prozesses ohne Unterschied eben-
sowohl in den Fallen von Verletzung des Hypoglossusstammes
wie in den Fallen von Lasion der Wurzelfasern auftritt. Er kommt
daher zu der Schlussfolgerung, dass eine teilweise Atrophie (d. i.
der lateralen Halfte) der Zunge nicht ohne weiteres zugunsten
einer Wurzellasion nnd gegen eine Lasion des Nervenstammes
spricht, wie dies Dinkier meint; wenigstens miissten zu jenem
Symptom noch andere hinzutreten, die fur einen an der Sehadel-
basis lokalisierten Prozess sprechen. Unsere Beobachtungen
sprechen im allgemeinen ebenfalls dafiir, dass die Atrophie der
lateralen Zungenhalfte, resp. der Zungenspitze zugunsten der
Annahme einer Verletzung des Nervenstammes zu verwerten ist.
Dass femer die antero-laterale Halfte einer jeden Zungenhalfte
verwiegend unter dem trophischen Einflusse des Hypoglossus,
der iibrige Teil der Zunge unter demjenigen anderer Nerven steht,
erhellt daraus, dass bei gleichzeitiger Verletzung anderer die
Zunge innervierender Nervenkerne (Glossopharyngeus, Facialis),
wie z. B. bei der amyotrophischen Lateralsklerose, die Aus-
dehnung in der Langsrichtung, die Schwere und die Schnelligkeit
der Atrophie der Zunge bei weitem erheblicher ist als in den
Fallen von Verletzungen des Hypoglossus allein. Diese Anschauung
wird auch durch die Tatsache unterstiitzt, dass in den schwereren
Fallen von Pseudobulbarparalyse die Zunge vollstandig unbeweg-
lich und wie fixiert auf dem Boden der Mundhohle liegt, so dass
sie mit der Spitze die innere Seite der Schneidezahne streift.
Bei dieser Krankheit nun gerade befallen die Krankheitsprozesse
bisweilen in schwerer Weise nicht nur die zentralen Bahnen des
Hypoglossus, sondem auch diejenigen des Facialis, des motorischen
Trigeminus und zum Teil auch des Vagus.
Wir konnen nicht umhin, auch kurz die feinen Veranderungen
zu erwahnen, die das Muskelgewebe der Zunge erlitten hatte.
In einem Falle von Hemiatrophie der Zunge infolge Resektion
des Hypoglossus stellte einer von uns (Mingazzini) fest, dass viele
Muskelfasem an Volumen abgenommen und die entsprechenden
Sarkolemmkeme nicht nur anZahl zugenommen hatten,sondern sich
auch reihenweise angeordnet hatten und sich auf dem Wege eines
Fragmentierungsprozesses befanden; andere Muskelfasern waren
geschwollen ,und innerhalb desSarkoplasmas fand sich eine brockelige,
komchenartige Substanz in demselben Falle. Die Gefasswande
wiesen eine deutliche Degeneration auf, und die Nerven waren
atrophisch (d. h. die entsprechenden Fasem waren verschmalert
und ihr Endoneurium verdickt); das Fettgewebe endlich hatte sich
stark vermehrt und war vielfach an die Stelle der Muskelfasem
getreten. Staderini konstatierte bei der histologischen Untersuchung
der Zunge von Tieren, bei denen die Hemisektion der Zunge aus-
gefiihrt worden war, dass die vertikalen Muskelbiindel numerisch
sehr vermindert waren, dabei aber normale Dimensionen und
normales Aussehen bewahrten, wahrend die Quermuskelfasern iiber-
Monatsschrift fttr Psychiatrie and Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. 14
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204 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen.
haupt ungeschadigt waren. Auch wir konnen diese Beobachtung
bestatigen; denn, und zwar ganz besonders bei der jungen Katze, bei
der die Atrophie der Muskelfasem ausgepragter war, zeigte sich
sehr deutlich auf der Seite der Operation ein Schwund der vertikalen
Fasem (Fig. 13). Beziiglich der feineren Veranderungen der Muskel-
biindel verweisen. wir im iibrigen auf die bereits weiter oben
gegebene Beschreibung.
Das Studium der Verbindungen des Hypoglossuskemes kann
nicht von dem der dorsalsten Fibrae arcuatae intemae, welche
ventral den Hypoglossuskem umzieben (Fibrae afferentes XII,
Kranzfasem) getrennt werden. Die meisten Forscher waren der
Meinung, dass diese die Endausbreitung der zentralen Hypo-
glossusbahn vorstellen und aus der Hirnrinde und zwar speziell
aus der unteren Stimwindung (bei dem Menschen) entspringen und
weiterhin im Knie der inneren Kapsel, dann im zweiten Medial-
fiinftel des Pes pedunculi und in der Pyramide verlaufen.
Schliesslich sollen sie die Raphe kreuzen und zwischen den dor¬
salsten Fasem des hinteren Langsbiindels durchtretend, in zwei
Biindelchen geteilt (Koch) als Fibrae afferentes im kontralateralen
Hypoglossuskem endigen. Gegen diese Auffassung der Fibrae
afferentes in dem Sinne zentraler Hypoglossusfasem sprechen
verschiedene Tatsachen. Staderini fand sie bei Tieren, bei denen
er den Hypoglossus einereeits reseziert hatte, stets gut erhalten.
Auch in den Fallen von Hemiatrophia lingualis bei dem Menschen,
in welchen Atrophie des Hypoglossuskemes bestand, wurden sie
im allgemeinen intakt vorgefunden. So z. B. wiesen sie in dem
von Biancone und mir mitgeteilten Fall von Hemiatrophia linguae
keine nennenswerten Veranderungen auf. Ihre Intaktheit in solchen
Fallen konnte wohl als ein geniigendes Argument betrachtet
werden, um jeden Zusammenhang dieser Fibrae afferentes mit
dem Hypoglossuskeme auszuschliessen. Indes hat schon einer von
uns (Mingazzini) hervorgehoben, dass die Degeneration dieser
Fasem offenbar von der.Degeneration der Pyramidenbahnfasem,
deren Endigungen sie darstellen, abhangt. Ford erhob hiergegen
den Einwand, dass nacb Exstirpation des Rindenzentrums der
Zunge das entsprechende Pyramidenbiindel der Degeneration
iiberhaupt nicht anheimfallt. Auf diese an sich logische Be-
merkung Fords erwiderte einer von uns (Mingazzini), dass die
von Ford operierten Tiere schon nach einer verhaltnismassig
kurzen Zeit getotet worden sind; mankonne daher annehmen, dass
die bezeichneten Fasem dem Degenerationsprozesse gegeniiber
einen bedeutenden Widerstand leisten, und dass daher nach der
Verletzung ihres Rindenzentrums ein sehr langer Zeitraum ver-
treichen miisse, um Veranderungen in diesen Fasem zustande
kommen zu lassen. Die Tatsache, dass bei alien von uns operierten
Tieren die Fibrae afferentes XII intakt geblieben sind, erscheint
immerhin ein geniigender Beweis dafiir zu sein, das3 diese
Fasem mit dem Hypoglossuskem nichts zu tun haben.
Namentlich ist die Tatsache beweiskraftig, dass auch bei dem
Google
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus.
205
Cercopith. griseoviridis, bei welchem rechts die ganze kortiko-
linguale Balm (einschliesslich rechts der Fibrae rectae der Raphe)
vollstandig degeneriert war, trotzdem die Fibrae afferentes auf beiden
Seiten vollstandig erhalten waren.
Ein anderer noch strittiger Punkt betrifft die Bedeutung der-
jenigen Fasem, welche Koch als Fibrae propriae nuclei hypoglossi
bezeichnete. Bekanntlich verstehen die Neurologen hierunter das
unentwirrbare Fasergeflecht, welches im Innem des Kernes samt-
liche Raume zwischen den Zellen ausfiillt (Plexus ,,endonuclearis“,
,.Plexus centralis") und ihn an seiner Peripherie in Gestalt einer
weissen Kapsel umgibt; diese letztere ist besonders an der dorsalen,
inneren und ausseren Flache (Plexus perinuclearis, Plexus peripheri-
phericus, Markfeld von Oberstemer) sehr deutlich. Der Ursprung
und die Bedeutung dieser Fasem war seit langer Zeit Gegenstand
zablrcicher Kontroversen unter den Neurologen. Einige, wie
Koch, meinten, dass sie als Auslaufer der Zellen des Hypoglossus-
kemes dazu bestimmt waren, die verschiedenen Teile der Zellsaule
des Hypoglossuskemes untereinander zu verbinden (daher auch
der Namen ,,Fibrae propriae"). Gegen diese Auffassung spricht
jedoch die Tatsache, dass Muller und Koch-Marie in einem Falle von
Hemiatrophia linguae bei dem Menschen das Netz der Fibrae
propriae auf der Seite, auf welcher der Kern vollstandig atrophisch
war, erhalten fanden. Auch Forel, der verschiedene Kaninchen
untersuchte, bei denen der Hypoglossus einerseits reseziert worden
war, konnte keine Reduktion der Fibrae propriae auf der der
Operation entsprechenden Seite wahmehmen. Ebenso fand Sladerini
bei Kaninchen, Hunden und bei neugeborenen Katzchen, welchen
er den Hypoglossus auf der einen Seite reseziert hatte, trotz
volligen Untergangs der Ganglienzellen des Hypoglossuskemes
das Netz der Fibrae propriae in der ganzen Lange des Kernes
auch auf der Seite der Operation erhalten; dieser Befund war
konstant und unabhangig von der Zeitdauer, wahrend welcher die
Tiere nach der Operation gelebt hatten. Nach der Meinung anderer
Autoren (z. B. Kolliker) sollen die Fibrae propriae vielmehr die
Endigungen der kortiko-bulbaren Bahnen, d. h. der Fibrae afferentes
darstellen (zentrale Bahn des Hypoglossus). Dies stimmt mit einem
Befunde Turners und Bellochs iiberein, welche die Fibrae propriae
in einem Falle normal oder fast normal fanden, in welchem die
Zellen des Hypoglossuskemes und die Wurzeifasem total degeneriert
waren wahrend einer von uns ( Mingazzini ) ihre Abwesenheit bei
einem 8 monatlichen Fotus feststellte, bei dem die Pyramiden noch
nicht markreif waren.
Biancone hat einen vermittelnden Standpunkt eingenommen
und sucht die erste Hypothese mit der zweiten zu vereinigen.
Er nimmt an, dass die Fibrae propriae sowohl aus den Fibrae
afferentes XII wie auch aus den Auslaufern der Nervenzellen des
Hypoglossuskemes hervorgehen; sie wiirden also nicht nur die
Endigungen der zentralen Bahn des Hypoglossus (Kdlliker), sondem
auch Verbindungen zwischen den Zellen des XII-Kemes selbst
14*
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206 M ingazzini-Polimanti, Ueber die kortikalen
(Koch) und den beiderseitigen Kemen untereinander darstellen.
Die neueren Untersuchungen nach der Methode Golgis ergaben in
der Tat, dass die Fibrae propriae XII zum kleinen Teile aus den
Auslaufem der Zellen des Hypoglossuskemes, zum grossten Teile
aber aus Verastelungen der Achsenzylinder der sogenannten Fibrae
afferentes entstehen. Diesen doppelten Ursprung der Fibrae
propriae einmal angenommen, folgt, dass eine Atrophie der Zellen
des Hypoglossuskemes sekundar den Schwund der zugehorigen
Zellfortsatze bedingen muss. Damit dieser eintritt, bedarf es nach
Geronzi keines langen Zeitraumes. In seinem Falle von Hemi-
atrophia linguae reichte in der Tat die Degeneration der Zellen
des Kernes nicht einmal 2 Monate zuriick, und dennoch fand
er, trotz Integritat der F. afferentes, bereits eine leichte aber
merkliche Verminderung dieses Fasersystems. Es muss allerdings
hervorgehoben werden, dass in seinem Falle die Degeneration des
Hauptkemes des Hypoglossus, da dieselbe primar war, auch
gleichzeitig die Zellen und die Fibrae propriae getroffen haben
konnte, wahrend, wenn die Atrophie der Kemzellen sekundar
nach einer Verletzung des Hypoglossusstammes auftritt wie im
Falle von Biancone und Mingazzini, es eines langeren Zeitraumes
bedarf, damit eine Atrophie der Fibrae propriae eintritt. Sodann
fiigt Bianconi hinzu, dass der Schwund der Fibrae propriae, wenn
er nur durch Zerstorung der Nervenzellen des Kll-Kemes ent-
steht, leicht iibersehen werden kann, da er stets nur einige wenige
Fasem betrifft. Dies ist vielleicht auch der Grund, warum er in
manchen Fallen von primarer und sekundarer Erkrankung des
XII-Kemes vermisst worden ist (Koch, Marie, For el, Turner und
Staderini). Die vorausgegangenen Erwagungen lassen auch er-
kennen, warum dieser Schwund ausgepragter sein muss, wenn die
Fibrae afferentes XII befallen sind, die den hauptsachlichsten
Bestandteil der Fibrae propriae darstellen, und den hochsten
Grad erreichen muss, wenn eine gleichzeitige Zerstorung der Fibrae
afferentes und der Zellen des Hypoglossuskemes besteht. Dies
zeigt sich in dem Falle von Sclerosis lateralis amyotrophica, den
einer von uns ( Mingazzini) beschrieben hat, in welchem gleich¬
zeitig vollstandige bilaterale Degeneration der Fibrae afferentes
und der Ganglienzellen des Hypoglossuskemes bestand.
Gegner der vorstehenden Lehre ist Schiitz (dem sich Staderini
anschliesst). Schiitz behauptet, dass die Fibrae propriae einen Teil
eines grossen Fasersystems bilden, dem er die Bezeichnung ,,dor-
sales Langsbiindel“ beilegt. Dies System ware nicht auf das Gebiet
des Nucleus hypoglossi beschrankt, sondem soli sich viel weiter,
namlich von der Commissura mollis bis zur Pyramidenkreuzung
erstrecken.
Bevor wir unsere Befimde zu Hiilfe ziehen, scheint es geboten,
besonders die Definition der Fibrae propriae XII zu erwagen. Sie
umfassen namlich nach Obersteiner sowohl den Plexus perinuclearis
als auch die endonuklearen Fasem. Andere Autoren sind jedoch
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus.
207
nicht dieser Meinung, denn einerseits meinen Koch, Staderini und
Forel, wenn sie von den Fibrae propriae sprechen, stets (wie aus den
Erlauterungen ihrer Abbildungen und aus den von ihnen gegebenen
Definitionen hervorgeht) den Plexus perinuclearis, andererseits
haben Biancone, Mingazzini u. A. unter Fibrae propriae XII das
eWonukleare Geflecht verstanden. Dies Missverstandnis hat zu
unerquicklichen Diskussionen Anlass gegeben. So ist es begreiflich
dass wir von Anfang an die Notwendigkeit gefiihlt haben, das
perinukleare von dem endonuklearen Geflecht zu unterscheiden.
In der Tat stimmt namlich das Verhalten des perinuklearen und
endonuklearen Geflechts in Fallen sekundarer oder primarer
Atrophie resp. Degeneration der Ganglienzellen des Hypoglossus-
kernes nicht iiberein. Aus unseren Befunden ergibt sich, dass gerade
das perinukleare Geflecht bei den beiden Katzen und samtlichen
operierten Affen erhalten war. Es ist also sehr wahrscheinlich, dass,
im Einklange mit den Ansichten von Schiitz, das perinukleare
Geflecht wenig oder nichts mit den Zellen des Hypoglossuskemes
zu tun hat; was iibrigens auch aus Sagittalschnitten durch den Kern
des Hypoglossus bei dem Menschen hervorgeht, wie einer von uns
(Mingazzini ) kiirzlich nachgewiesen hat. Ganz anders ist das Ver-
balten der Fasem des Plexus endonuclearis bei unseren operierten
Tieren. Dieselben waren in der ganzen Ausdehnung des Hypoglossus¬
kemes bei den von uns operierten Katzen und Affen rarefiziert, mit
Ausnahme des Inuus, bei dem die Rarefizierung nur im distalen Ab-
schnitt und in der Nahe der Peripherie festgestelltwurde. Letzteres
ist urn so wichtiger insofem, als gerade bei diesem Affen die Zellen des
Hypoglossuskemes im Vergleich mit den anderen weniger gelitten
hatten. Bedenkt man nun, dass das System der Fibrae afferentes
bei alien diesen Tieren unversehrt und die Rarefizierung des endo¬
nuklearen Geflechts verhaltnismassig gering war, so ist es ausser
Zweifel, dass wenigstens ein Teil der endonuklearen Fasem von Ver-
astelungen der Zellfortsatze des Hypoglossuskemes abzuleiten ist.
Da nun der Faserschwund des endonuklearen Geflechtes bei dem
zentral und peripher operierten Cercopithecus griseoviridis viel er-
heblicher war als bei den anderen, ausschliesslich peripher operierten
Tieren, so muss man schliessen, dass auch die Endverastelungen
der Fasem der zentralen Hypoglossnsbahn sich an der Bildung dieses
Plexus beteiligen. Auch bei diesem Tiere war jedoch noch ein Teil
der Fasem des in Rede stehenden Geflechts unversehrt, und man
kann als wahrscheinlich betrachten. dass dieser Teil mit den noch
erhaltenen XII-Kemzellen in Verbindung steht.
An der Bildung der Fasern des Plexus endonuclearis miissen
sich also drei Klassen von Fasem beteiligen, die den Endigungen
ebensovieler Fasersysteme entsprechen. Ein Teil steht im unmittel-
baren Zusammenhange ausschliesslich mit den Wurzelfasem
des N. hypoglossus; ein anderer Teil steht in Verbindung nicht nur
mit den Wurzelfasem des Hypoglossus, sondem auch mit den End¬
verastelungen der Fasem der zentralen Bahn dieses Nerven;
cine dritte Klasse endlich steht wahrscheinlich mit jener Gruppe
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208 Mingazzini-Polimanti, Ueber die kortikaien
von Hypoglossuszellen in Verbindung, die selbst nach Aufhebung
jeder Verbindung mit den Wurzelfasem und der zentralen Bahn
noch erhalten bleibt, und die, wie wir bereits erwahnten, von sen-
siblen Bahnen und vielleicht auch vom Vagus abhangig ist. Dies
stimmt iibrigens auch mit dem iiberein, was uns das Studium der
Markreifung des in Rede stehenden Gebietes lehrfc; wahrend in
einem ersten Zeitabschnitte (wenigstens bis zum ersten Monat des
extrauterinen Lebens) nur die Wurzelfasem und einige Fasern des
endonuclearen Geflechts gut markhaltig sind, geht in einer zweiten
Periode (vom 5. Monat des extrauter. Lebens ab), wie sich aus den
kiirzlich von Mingazzini veroffentlichten Beobachtungen ergibt,
die Markumhiillung der iibrigen Fasem des endonuklearen Ge¬
flechts vor sich, d. h. derjenigen Fasem, die der zweiten Klasse
der Nervenzellen des Hypoglossuskemes entsprechen.
Auch das Verhalten der elektrischen Erregbarkeit der atro-
phischen Zungenhalfte hat bereits wiederholt Beachtung gefunden.
In drei von den vier von Biancone beschriebenen Fallen von
Hemiatrophia linguae wurde eine einfache Herabsetzung der
elektrischen (direkten und indirekten) Erregbarkeit in der atrophi-
schen Zungenhalfte festgestellt. Auch bei dem vierten Patienten
Wiersmas, bei welchem der Hypoglossus durch den Drack einer
geschwollenen Lymphdriise in Mitleidenschaft gezogen war, fand
sich keine Entartungsreaktion der Muskulatur derZunge. Hingegen
in einem anderen Falle Biancones und in den Fallen von Bernhardt ,
Erb, Brugia, Montesano , Dinkier, Marina und im 5., 6., 7. Falle
Wiermas fand sich Entartungsreaktion der atrophischen Zungen¬
halfte. Dies hangt nach Biancone von der Tatsache ab, dass die
Hypoglossuslahmung nicht immer schwer genug war, um im Nerven
und in den Muskelfasem der Zunge denjenigen Prozess hervor-
zurufen, der die anatomische Basis fiir die Entartungsreaktion
bildet. In der Tat war in einem der Falle Biancones der Hypo¬
glossus nicht durchschnitten, sondem nur in Narbengewebe ein-
gebettet und geschrumpft; daher ist anzunehmen, dass vieleNerven-
fasem und folglich auch viele Muskelfasem unverandert geblieben
waren. Die mikroskopische Untersuchung der Zunge zeigte auch
wirklich in seinem Falle, dass nur wenige Muskelfasem der Zunge
geschwunden oder degeneriert waren.
Bei unseren Versuchstieren war das elektrische Verhalten
der atrophischen Zungenhalfte nicht gleichformig, denn bei zwei
Affen(Cercoc. fulig., Inuus caud.)wardie elektrische Erregbarkeit in
der atrophischen Halfte herabgesetzt, bei dem Cercopith. griseo-
viridis und bei Cercop. patas zeigte sich schon nach 3 Monaten
partielle Entartungsreaktion, die bis zum Tode fortbestand. Dieses
verschiedenartige Verhalten kann von keinem der Operation selbst
anhaftenden Moment abhangen, denn bei den beiden letzten Affen
war die Ausreissung des zentralen Stumpfes des Nerven hinter
der Ansa vorgenommen worden, ganz ebenso wie bei dem Cerco-
cebus fuliginosus.
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und bulbaren Verbindungen des Hypoglossus.
209
Das Studium der Serienschnitte des Gehims des Cercop.
griseoviridis wirft etwas Licht auf den Verlauf der zentralen Hypo-
glossusbahn. Schon oben haben wir die infolge der Exstirpation
des (rechten) kortikalen Zentrums des Hypoglossus degenerierten
Abschnitte in der inneren Kapsel, im Pes pedunculi, im Biindei
von der Schleife zum Fusse, in den Pyramidenbiindeln der Briicke
und in der Pyramide beschrieben. Der Schluss, dass dies
Degenerationsgebiet ausschliesslich der zentralen Bahn des Hypo¬
glossus entspricht, wiirde natiirlich nur zulassig sein, wenn die
Exstirpation sich wirklich genau auf die Rinde des Gyrus frontalis
lateralis und seinen Stabkranz beschrankt hatte. Dies war nieht
der Fall, die Lasion erstreckte sich vielmehr auch auf den vorderen
Schenkel der inneren Kapsel und das Putamen. Trotzdem geben
uns einige indirekte Argumente das Recht zu behaupten, dass die
soeben angegebene Bahn fast ausschliesslich der Leitung der
zentralen Impulse des kortikalen Zungenzentrums dient. In erster
Linie sprechen hierfiir Griinde der Analogie. Bei dem Menschen
nimmt die zentrale Hypoglossusbahn das dorsale Drittel des
vorderen Segmentes der inneren Kapsel ein, gelangt dann (als
Tractus corticobulbaris) in den medialen Teil des Pes pedunculi
medial vom Facialisbiindel, wendet sich von hier zur medialen
Schleife und steigt endlich langs der Raphe zum Hypoglossuskem
der entgegengesetzten Seite auf. Wie man sieht, ist diese fiir den
Menschen angegebene Bahn mit Ausnahme der Strecke in der
inneren Kapsel mit der von uns gefundenen degenerierten zen¬
tralen Bahn der Zunge des Cercopithecus griseoviridis identisch.
Zweitens miissen wir einige anatomische Beobachtungen von
Flatau an Affen beriicksichtigen, denen einzelne motorische Rinden-
zentren mit Ausnahme des kortikalen Hypoglossuszentrums ex-
stirpiert worden waren. Die Ergebnisse unserer Ver3uche stimmen
nun mit denjenigen Flataus sehr gut iiberein, insofern wir eine De¬
generation gerade derjenigen Biindei der motorischen Bahn fanden,
welche in den Versuchen Flataus von der Degeneration verschont
geblieben waren. Flatau fand namlich nach Exstirpation des
kortikalen Halszentrums, dass in der inneren Kapsel bald die
unteren Fasem des vorderen Schenkels, bald samtliche Fasem des
oberenTeilesder inneren Kapsel degeneriert waren; nachExstirpation
des kortikalen Zentrums der Vorderpfote fand er entweder den
dorsalen Teil des hinteren Schenkels oder den ganzen hinteren
Schenkel der Kapsel degeneriert; endlich nach Exstirpation des
Rindenzentrums des Hinterbeins fand er Degeneration des dorsalen
Abschnittes der inneren Kapsel in ihrer ganzen Ausdehnung. In
unserem Falle hingegen waren im Niveau des Kapselknies die
Fasem des ventralen Drittels und im Niveau des vorderen
Schenkels der inneren Kapsel die laterale Halfte des ventralen
Drittels degeneriert; gerade dieser Teil der Kapselfaserung war
in alien Versuchen Flataus mit Ausnahme des ersten unversehrt
geblieben, und eben bei diesem ersten Versuch hatte die Operation,
wie man aus den Abbildungen Flataus ersieht, zum Teil auch
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210 Mingazzini - Polimanti, Ueber die kortikalen
das Hypoglossuszentrum getroffen, und dementsprechend waren
im Niveau des Knies der Capsula interna die Fasem des ventralen
Viertels derselben degeneriert.
Was den Pes pedunculi betrifft, so fand Flatau nach Ex-
stirpation des Rindenzentrums des Vorderbeins Degeneration im
lateralen Teile des Pes, nach Exstirpation des Halszentrums
Degeneration bald im mittleren, bald mehr im medialen Teile des
Pes, wahrend wir proximalwarts die Fasem des zweiten medialen
Sechstels und distalwarts einen Teil der im medialen Fiinftel
desselben verlaufenden Fasem degeneriert fanden. Die Abbil-
dungen Flataus zeigen femer, dass im Pons bei seinen Versuchen
nur die medialen Biindel der Pyramidenbahnen auf der Seite
der Exstirpation von der Degeneration verhaltnismassig verschont
geblieben waren, also gerade diejenigen, die in unserem Falle fast
vollstandig degeneriert waren. Man konnte annehmen, dass die
Degeneration des medialen Abschnitts des Pes und der medialen
Pyramidenfasem der Briicke in unserem Falle nicht nur auf die
zentrale Hypoglossusbahn, sondern auch auf die frontocerebellare
Bahn zu beziehen ware, die nach Mingazzini in den medialen und
ventromedialen Biindeln der Briickenpyramide verlauft. Indessen,
wenn dies der Fall ware, so hatten wir in der Briicke Schwund
eines bedeutenden Teiles der Zellen und der Fasem des homo-
lateralen paramedialen Gebietes und der kontralateralen Fasem
des Stratum superficiale und profundum finden miissen. Dies war
nicht der Fall, vielmehr fehlte in dem paramedialen Gebiete mit
Ausnahme des Schwundes einiger Nervenzellen irgend welche
Veranderung; die fronto-cerebellaren Bahnen konnen also nur in
sehr geringem Masse verletzt gewesen sein.
Was das Biindel von der Schleife zum Fusse betrifft, so ist
beach tens wert, dass in diesem der mediale Teil vollstandig de¬
generiert war.
Endlich waren in der rechten Pyramide des Cercopith. griseo-
viridis die dorso-medialen Biindel degeneriert, d. h. gerade die,
welche in den entsprechenden Figuren Flataus gut erhalten sind.
Man kann also auch per exclusionem behaupten, dass im all-
gemeinen in der inneren Kapsel, im Fuss, in den Pyramidenbiindeln
der Briicke und der Oblongata der von uns operierten Tiere gerade
diejenigen Fasem fast vollstandig degeneriert waren, die Flatau
bei Exstirpation der Rindenzentren fur Extremitaten und Nacken
besser erhalten fand.
Ein Punkt, den wir noch besonders hervorheben mochten,
ist folgender: Die Fibrae afferentes des Hypoglossuskerns wurden
bei keinem von uns operierten Tiere verandert gefunden, nicht ein-
mal bei dem Cercop. griseoviridis, der peripher und kortikal operiert
worden w'ar. Dies weist darauf hin, dass diese Fasem nicht nur mit
der peripherischen Bahn, sondem auch mit der zentralen Bahn des
Hypoglossus nichts zu tun haben. Es ware in der Tat sehr be-
fremdend, dass die Degeneration dieser Bahn bei dem Cercopith.
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Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologie. Bd. XXVH.
JMJM
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und bulbiiren Verbindungen des Hypoglossus.
211
griseoviridisgeradebei den Fibrae rectaeder Raphe Halt gemachtund
nichtbis zu den distalstenEndigungen fortgeschritten ware, wahrend
der Hypoglossuskem selbst unter dem Einfluss der Rinden-
abtragung Veranderungen erfahren hat. Es ist also nicht unwahr-
scheinlich, dass die Fibrae rectae der Raphe, sich etwas nach aussen
verschiebend, mitten in der Formatio reticularis alba emporsteigen
und mit den Wurzelfasem in den XII-Kern eindringen. Wir
hoffen, dass weitere Forschungen etwas mehr Licht in diese Frage
bringen werden.
Mit der Frage der Verbindungen zwischen der Rinde und den
Kemen des Thalamencephalon hangt die Frage der Beziehungen
des Corpus Luysii eng zusammen. Es ist bekannt, dass dasselbe
direkte Verbindungen zum Teil mit der Hirnrinde und zum Teil
mit der Ansa nuclei lenticularis hat; letztere tritt anscheinend
mit den ventralen Zellen des Corpus Luysii in Verbindung, wahrend
andere Fasem der Ansa in die Markkapsel desselben ziehen
(Monakou'). Da in unserem Falle die Nervenzellen des medialen
Drittels des Corpus Luysii schwer degeneriert waren, so ist an-
zunehmen, dass zu dem Reste der Zellen (d. h. den mittleren und
lateralen) des Corpus Luysii Fasern ziehen, die direkt von dem
latero-posterioren Teile der konvexen Oberflache des Lobus fron¬
talis, d. h. dem von uns bei dem Cercopithecus griseoviridis
exstirpierten Gebiete stammen.
Wir diirfen nicht schliessen, ohne noch einen wichtigen Punkt
beziiglich der Verbindungen zwischen dem Thalamus und der
Grosshimrinde zu beriihren. Nach Monakou • entwickelt sich nach
Exstirpation des Lobus prafrontalis (sowohl bei dem Menschen wie
beim Affen) eine sekundare Degeneration im medialen Teile
des Pes pedunculi (der sogenannten frontalen Briickenbahn),
ausserdem im Nucleus anterior und medialis des Thalamus, und
teilweise auch im vorderen Teile des Nucleus lateralis thalami.
Da bei dem zentral und peripher operierten Cercopithecus griseo¬
viridis der Nucleus anterior unversehrt, hingegen der Nucleus
medialis und der dorsale Teil des Nucleus lateralis thalami stark
degeneriert waren, so kann derNucleus anterior thal. nichts mit dem
exstirpierten Teile des Lobus frontalis zu tun haben. Was den
Nucleus medialis und lateralis thal. betrifft, ware es nicht zulassig,
ihre Degeneration ausschliesslich der Exstirpation des G. frontalis
lateralis zuzuschreiben, da bei der Operation auch das frontale Ende
der inneren Kapselund ein(obgleich unbedeutender)Teil des Nucleus
lentiformis (Putamen) zerstort worden war.
Erklarung der Abbildungen auf Taf. XIII — XVI.
Durchgehende Bezeichnungen: n. XII. Hypoglossuskem, pp Plexus
perinuclearis; pe Plexus endonuclearis. — f. XII. Wurzelfaaem des Hypo¬
glossus; D. rechts, — S. links, — faff (sogenunnte) Fibrae afferentes XII,
fc (sogenannte) Fibrae eonnnissurules nucleorum hypoglossi.
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212 Mingazzini-Polimanti, Ueber den kortikalen
Fig. 1. Photogramm der rechfcen Grosshirnhemisphare dee Cerco-
E i thee us griseoviridis: Zerstorimg dee unteren Drittele dee G. frontalis
tteralis.
Fig. 2. Schema derselben Hemisphere, um das Lasionsgebiet scharf er
hervorzuheben.
Fig. 2 bis. Gercop. griseoviridis. Photogramm eines durch den hinteren
Toil dee G. frontalis lateralis gefiihrten Frontalschnittes. Rechte sieht man
die Zerstbrung dee G. frontalis lateralis, die sich bis zum vorderen Ende
dee Nucleus lentiformis erstreckt.
Kg. 3. Cercopith, griseoviridis . Photogramm eines durch den mittleren
Teil dee Pee pedunculi gefiihrten Frontalschnittes (Farbung nach Pal). Im
rechten Pee pedimeuli bemerkt man ein vorwiegend auf das zweite mediale
Sechstel beschranktes Degenerationsgebiet.
Fig. 8 bis. Cercopith. griseoviridis. Frontalschnitt cm der Grenze von
Briicke imd Himschenkel. Rechte sieht man das Biindel ,,von der Haube
zum Fusse“ und das dorsomediale Biindel der Pyramidenbahnen degeneriert.
Fig. 4. Cercopithecus griseoviridis. Ausreiesung des linken Nervus
hypoglossus. Frontalschnitt der Oblongata an der Grenze des distalen
und des dritten Drittels des Hypoglossuskems. Rechte sieht man die
Degeneration der dorsomedialen Fasem (p) der Pyramide; ausserdem sind
auf dieser Seite fast samtliche Fibrae rectae der Raphe (fr) verschwunden.
Links hat derHypoglossuskern an Volumenverloren, der Plexus endonuclearis
isterheblich rarefiziert,vieleZellendesHypoglossuskemee sindverschwunden,
besonders die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; besser erhalten,
wenn auch atrophisch, sind die im Zentrum gelegenen.
Fig. 5. Cercopith. griseoviridis. Dorsomedialer Teil eines Frontal¬
schnittes im Niveau des mittleren Teiles des Hypoglossuskems. Links er-
scheint das Gebiet des Hypoglossuskemes um ungefahr x /, verkleinert,
nur wenige Zellen sind erhalten, und diese fast alle geschrumpft; der Plexus
endonuclearis ist stark rarefiziert, die Wurzelfasern des Hypoglossus, be¬
sonders die lateralen sind zum Teil verschwimden. Die anderen Formationen
sind beiderseits gut erhalten.
Fig. 6 . Cercopithecus patas. Ausreissung des linken Nervus hypo¬
glossus. Dorsomedialer Teil eines Frontalschnittes im Niveau des distalen
Drittels des Hypoglossuskemes (Farbung nach^Pal und mit Fuchsin). Links
ist der Plexus endonuclearis rarefiziert, viele^Nervenzellen des Hypoglossus¬
kemes und zwar besonders die lateralsten, und auch viele zentrale sind
verschwimden, besser erhalten sind die medialen. Die Fibrae afferentes,
die Fibrae commissurales und der Plexus perinuclearis sind auf beiden
Seiten gut erhalten.
Fig. 7. Gercop . pcUas. Schnitt wie oben, im Niveau des mittleren Teiles
des Hypoglossuskemes. Man bemerkt links ungefahr die gleichen Ver-
anderungen wie in vorhergehender Figur; ausserdem sind von den Zellen
des Hypoglossuskemes diejenigen besonders atrophisch oder verschwunden,
welche an der dorsolateralen Peripherie liegen.
Fig. 8 .. Cercocebus fuliginosus. Ausreissung des linken Nervus hypo¬
glossus. Teil eines Schnittes wie oben, im Niveau des mittleren Teiles des
Hypoglossuskemes (Farbung Pal-Fuchsin). Die Fibrae afferentes des
Hypoglossuskemes sind beiderseits wenig sichtbar; die Fibrae commissurales
und der Plexus perinuclearis sind beiderseits gut erhalten. Links sind
der Plexus endonuclearis und die lateralsten Wurzelfasern des N. hypo¬
glossus zum grossen Teile verschwunden; die peripherischen Nervenzellen
sind fast alle verschwunden, die zentralen zum grossen Teile geschrumpft.
Fig. 9. Inuus caudatus. Ausreissung des linken Nervus hypoglossus.
Schnitt wie oben im Niveau der mittleren Teile des Hypoglossuskemes.
Links bedeutender Schwund der Zellen des Hypoglossuskemes; am meisten
betroffen sind die an der dorsolateralen Peripherie gelegenen; der Plexus
endonuclearis ist etwas rarefiziert, imd zwar seinem lateralen Rande
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Monatsschrift fiir Psychiatrie und Neurologie . Bd. XXV11,
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Fig. 10.
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und bul baron Verbindungen des Hypoglossus.
213
entsprechend; die lateralsten Wurzelfasern sind verschwunden. Die anderen
Formationen (Fibrae oommissurales und die F. afferentes XII) sind beider-
seits gut erhalten.
Fig. 10. Erwaohsene Katze. Ausreissung des linken Nervus hypo-
gloasus h in ter der Ansa. Teil eines Sohnittes wie oben, im Niveau des
distalen Drittels des Hypoglossuskemes (Farbung Pal-Fuchsin). Im
Hypoglossuskern sieht man links, dass die dorsolateralen ZeUen zum Teil
verschwunden sind; di zentralen und die lateralen des ventralen Poles
sind besser erhalten, doch fast alle geschrumpft. Der Plexus perinuclear is
und die Wurzelfasern sind zum Teil rarefiziert. Die Fibrae afierentes und
die Fibrae (fco) commissurales XII sind beiderseits unversehrt.
Fig. 11. Erwachsene Katze. Schnitt wie oben, im Niveau des mittleren
Teiles des Hypoglossuskemes. Im linken Hypoglossuskern sind die Ganglien-
zellen des Zentrums und einige der medialen und ventralen Peripherie zum
ffuten Teil erhalten; die dorsolateralen sind verschwunden oder haben an
volumen verloren. Die iibrigen Teile verhalten sich wie in der vorher-
gehenden Figur.
Fig. 12. Junge Katze. Ausreissung des linken Nervus hypoglossus
hinter der Ansa. Frontalschnitt wie oben, an der Grenze des mittleren
und distalen Drittels des Hypoglossuskemes. Links: Der Plexus
endonuclearis ist fast vollstandig verschwunden; von den Kemzeilen dea
Hypoglossus sind viele, und zwar besonders die peripherischen, vollstandig
zerstort; die anderen, also die zentralen und auch die ventralen, sind blass
und haben wenig scharfe Konturen. Die Fibrae afferentes XII und der
Plexus perinuclearis sind gut erhalten. Von den Wurzelfasern sind die
lateralen verschwunden.
Fig. 18. Junge Katze. Frontalschnitt des vorderen Abschnittes der
Zunge (Farbung mit Hamatoxylin). fm Muskelfasem, die auf der linken
Seite (S) zum grossen Teile, besonders in dem ventralen Teile der lateralen
drei Viertel atrophiert (fm) oder verschwunden sind; man vergleiche die-
selben mit den gut erhaltenen der rechten Seite. Die feinen im Texte be-
8chriebenen Verander ungen sind bei dieser Vergrosserung nicht sieht bar.
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(Aus dem Stoffwechsellaboratorium der Kgl. Univereitats-Nervenklinik
Gottingen.)
Untersuchungen iiber die Atmung der Geisteskranken.
III. Teil. Weitere Beobachtungen iiber den Energieumsatz
der Hebephrenen.
Von
Dr. med. A. BORNSTEIN und Dr. phil. v. OVEN.
Vor einiger Zeit hatte der eine von uns iiber Versuche be-
richtet 1 ), aus denen hervorzugehen schien, dass bei einer Anzahl
— nicht bei alien — Hebephrenen eine Verminderung des Umsatzes
chemischer Energie besteht, die in Form von Warme bei der Ver-
brennung von Eiweiss, Fett und Kohlehydraten frei wird und die
man am einfachsten aus dem respiratorischen Stoffwechsel, aus
der Produktion der Kohlensaure und der Assimilation des Sauer-
stoffs berechnet. Als Massstab wurde dabei der ,,Grundumsatz“
der Versuchsperson (auch Erhaltungsumsatz genannt) angenommen,
d. h. der Umsatz des niichternen Menschen (10—15 Stunden nach
der letzten Mahlzeit) bei vollstandiger Korperruhe, gemessen mit
dem Zwn/zschen Respirationsapparate.
1 ) Monateschr. f. Psych, und Neurol. Bd. 24. S. 392 ff.
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uber die Atmimg der Geisteskranken.
215
Es erschien wiinschenswert, die begonnenen Versuche nach
mehreren Gesichtspunkten fortzufiihren. Zuerst muasten die damals
gemachten Beobachtungen natiirlich bestatigt werden, was um so
notiger erschien, als Frenkel-Heulen bei drei von ihra untersuchten
Fallen diese Storung nicht hatte finden konnen. Dies beweist
zwar nichts gegen die Richtigkeit der friiheren Versuchsreihen —
denn auch wir batten derartige Hebephrenen und Katatoniker
mit normalem Stoffwechsel gefunden —, spricht aber jedenfalls
nicht gerade zu ihren Gunsten. Wenn wir nun auch subjektiv
davon iiberzeugt waren, dass unsere Versuchstechnik einwandfrei
war und ein Irrtum bei unseren zahlreichen Beobachtungen
auszuschlieasen war, so erschien es uns doch erforderlich, wenigstens
an einem unserer Kranken die erhaltenen Resultate von auto-
ritativer Seite bestatigen zu lassen. So wandten wir uns denn
an Herm Prof. Adolf Lowy in Berlin, dessen Kompetenz in diesen
Fragen nicht bezweifelt werden diirfte, mit der Bitte, einige Gas-
proben eines Patienten im Zuntzschen Laboratorium zu analysieren.
Dieser Bitte kam Herr Prof. Lowy mit gewohnter Liebens-
wiirdigkeit nach, wofiir wir ihm auch an dieser Stelle unseren
warmsten Dank aussprechen mochten. Femer danken wir auch
Herm Dr. Glikin von Zuntzschen Institute fur die Analyse einer
weiteren Reihe von Gasproben des gleichen Kranken, so dass die
erhaltenen Resultate mehrerer, unabhangiger Beobachter mitein-
ander verglichen werden konnen. Die Mittelwerte der gefundenen
Zahlen gibt die folgende Tabelle I 1 ).
Tabelle I.
M. St., 29 Jahre alt, 160 cm, 60—63,5 kg, normaler Grund-
umsatz: 1650 Kalorien.
Pro Minute ver-
brauchter Sauerstoff
Grundumsatz in
24 Stunden
Analysator
184,4 cm*
1302 Kalorien
Bornstein 1908*)
171,2
1207
Bornstein u. v.Oven 1909
168,1 cm*
1204 „
Lowy 1909
179,2 cm*
1224 „
Glikin 1909*)
Es geht aus dieser Tabelle hervor, dass die erhaltenen Resultate
fur den Grundumsatz bei den drei neuen Versuchsreihen so gut
wie vollig miteinander ubereinstimmen, und zwar liegen die Werte
noch niedriger als bei den im vorigen Jahre angestellten Versuchen.
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass der Grundumsatz im Verlaufe
der Krankheit noch weiter gesunken ist, doch mochten wir nicht
mit Sicherheit behaupten, dass bei den Versuchen im Jahre 1908
alle und jegliche Muskelspannung auszuschliessen war, wodurch
*) Betr. d. Einzelwert© s. Tab. VI.
*) 1. c.
3 ) Erhielt Ovarialtabletten, s. weiter imten.
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216
Bornstein-Oven, Untereuchungen
damals etwas zu hohe Werto hatten vorgetauscht werdon konnen.
Die gefimdenen Werte betragen etwa 7S-—74 pCt. der Norm, d. h.
sic sind — wenigstcns nach der herrschenden Ansicht — durchaus
pathologisch und liegen noch erheblich niedriger als alle von uns
bei friiheren Untereuchungen gefundenen Zahlen. Es ist also bei
diesern Hebephrenen von drei verschiedenen, mit der gasanalytischen
Technik vertrauten Heobachtern eine Herabeetzung des Grundumsatzes
beobachtet warden; und zwar liegen die erhaltenen Werte noch er¬
heblich niedriger, als die im Jahre 1908 beim gleichen Kranken ge¬
fundenen.
Es kann somit die Frage, ob es Falle von Jugendirresein mit
herabgesetzter Gesamtoxydation gibt, als im bejahenden Sinne
entschieden betrachtet werden. Eine andere Frage ist es, ob diese
Fade haufig oder gar die Regel sind. Bei den friiheren Vcreuchen
war bei einem ziemlich hohen Prozentsatz der Fade (6 von 12 Faden
sicher 3, an derGrenze des Pathologischen liegend) die Stoffwechscl-
stdrung beobachtet worden. Nicht so bei den jetzigen Versuchen.
Zwar wurde noch bei zwei daraufhin nachuntersuchten Kranken
(mit dem obenerwahnten also bei drei) die Stoffwechselstorung
als unvermindert weiterbestehend gefunden; die Tabelle II gibt
eine Resume dieser Vereuchsreihen. An den anderen konnten aus
verschiedenen Griinden keine neuen Vereuche angestedt werden;
die eine Patientin war nach einer Diphtherie einer chronischen
Pneumonic erlegen, andere waren aus der Behandlung entlassen
oder in andere Anstalten verlegt worden.
Tabelle II.
| Pro Minute
gebildete
ab-
Respirat.
Dat.
Kohlen-
sorbierter
Quotient
Bemerkungen
saure
Sauerstoff
om*
cm*
CO,: O,
8. VIII 08 1 )
147,8
161,0
0,918
L. E., 48 kg, 148 cm
11. VIII. 08
156,2
163,7
0,956
Vergl. Bd. 24, S. 422
11. vm. 08
156,4
164,6
0,953
2.1. 09
117,4
147,8
0,795
P. W., 44 kg, 157 cm
4.1. 09
113,9
143,7
0,794
5.1. 09
115,3
157,5
0,732
Soporos. Spann ungen
der NackenmuBkulatur
Bei einem |46 Jahre alien Kranken wurden die Versuche
deswegen nicht wiederholt, weil man die gefundone Oxydations-
verminderung zur Not auch auf das Alter des Kranken hatte
zuriickfiihren konnen. In den Faden jedoch, in denen wir den
ausseren Umstanden nach in der Lage waren, die friiheren Resultate
nachzupriifen, haben wir sie bestatigt gefunden.
') Mittel aus zwei gut ubereinstimmenden Versuchen. •
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liber die Atmung der Geisteskranken.
217
U nter den 12 neuen Kranken, die zur Beobachtung gelangten,
haben wir jedoch nur in 2—3 Fallen eine mehr oder weniger grosse
Herabsetzung des Grundumsatzes beobachten konnen. Der
Prozentsatz ist also sehr viel geringer als bei den Versuchen der
friiheren Reihe. In der folgenden Tabelle III geben wir die Versuchs-
protokolle von 2 Kranken, die einen recht niedrigen Grundumsatz
hat ten, die einer dritten Kranken finden sich in Tabelle VII.
Tabelle III.
Pro Minute
Dat.
produ-
zierte
Kohlen-
saure
I aufge-
nommener
Sauerstoff
Respirat.
Quotient
Bemerkungen
i
cm*
cm 1
CO,: O,
28. X. 08 i
28. X. 08 j
31. X. 08 1
1. XI. 08 !
i 139,5
I 139,7
133.8
153.9
184,0
186.5
190.5
194.6
0,758
0,749
0,703 1
0,791
Frl. U., ca. 30 Jahre,
161 cm, 57—61,5 kg
Nicht ganz ruhig
■Hustet ofters wahrend
des Versuches
7. XI. 08
7. XI. 08
151,6
148,3
200,0
192,8
0,758
0,775
j Frau 0., 37 Jahre, 53 kg
Starke Spannungen
wahrend beider Versuche
Die Grosse des Kraftumsatzes eines Kranken kann man noch
auf anderem Wege feststellen als der ist, den wir beschritten haben.
Setzt man namlich einen Menschen mit einer bestimmten Nahrung
ins Korpergleichgewicht, d. h. bleibt das Korpergewicht dieses
Menschen wahrend einer Reihe von Tagen bei dieser Nahrung
unverandert, so kann man annehmen, dass sein Energieumsatz
dem Energiegehalt der zugefiihrten Nahrung entspricht, abzfiglich
des Energiegehalts von Urin und Stuhlgang, die man im allge-
meinen leicht bestimmen resp. in vielen Fallen schatzen kann.
Diese Methode ist vielleicht etwas weniger genau als die Methode
der Respirationsversuche, ist aber, besonders wenn man die Ver-
suche fiber eine genfigende Reihe von Tagen ausdehnt, im Prinzip
richtig. Sie gibt jedoch, wie ausdrficklich hervorgehoben werden
muss, eine etwas andere Funktion als der Respirationsversuch am
Zunfeschen Apparat, und zwar den,, Gesamtumsatz“, d. h. den Grund¬
umsatz vermehrt um den Leistungszuwachs ftir Korperbewegungen
und ffir Verdauungsarbeit. Die Grosse dieses Gesamtumsatzes
muss natfirlich, falls der Grundumsatz herabgesetzt ist, auch er-
niedrigt sein; doch wfirde eine solche Aenderung nur unter be¬
sonders gfinstigen Umstanden wahmehmbar sein, im allgemeinen
nur, wenn der Leistungszuwachs ffir Muskelarbeit so gering ist,
dass er nicht allzu stark ins Gewicht fallt, also z. B. bei ruhigen,
bettlagerigen Kranken. Diese Bedingung erffillte am ehesten noch
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218 Bornstein-O ven, Untersuchungen
die Patientin U., an der eine derartige Schatzung des Grund-
umsatzes vorgenommen werden konnte. Die Resultate zeigt
Tabelle IV.
TabeUe IV. Frl. U.
Dat.
Korper-
gewicht
kg
Perspira- |
tio insensi-
bilis
g !
Bemerkungen
10. XI.
50,860
> 875
Patientin hat seit 2 Tagen fast
vollig gehungert. 2 Liter Milch,
25 g Sanatogen, 150 g Zucker
11. XI.
51,010
546
desgl.
12. XI.
51,900
626 !
desgl.
13. XI.
52,720
il 73 |
desgl.
14. XI.
53,420
917 ;
desgl.
15. XI.
53,380
1023
desgl.
16. XI.
53,750
907
desgl.
17. XI.
54,000
925
desgl.
18. XI.
54,110
905
2 Liter Milch, 100 g Zucker
19. XI.
54,100
919
desgl.
20. XI.
54,090
892
desgl.
21. XI.
54,160
912
desgl.
22. XI.
54,120
887
desgl.
23. XI.
54,110
907
desgl.
Die Patientin war mit einer Zufuhr von etwa 1720 Kalorien
im Korpergleichgewicht. Nach Abzug der Abgange durch Stuhlgang,
Sputum u. s. w. mogen etwa 1600 Kalorien wirklich im Korper
verbrannt sein. Magnus-Lewy schatzt den Gesamtumsatz einer
derartigen bettlagerigen normalen Person auf ca. 1800 Kalorien.
Bei unserer Patientin wiirden wir eher einen noch hoheren Wert
zu erwarten haben, weil dieselbe nicht ruhig im Bette lag, sondern
oft stundenlang wippende Bewegungen im Bette machte. Leider
musste der Versuch abgebrochen werden, weil die Patientin die
Anstalt verliess. Ohne dass wir also auf diesen kurzen Versuch be-
sonderes Gewickt legen wollen, scheint uns doch der niedrige Wert
des Gesamtumsatzes ganz in den Rahmen der anderen Versuche zu
passen, die wir an der gleichen Kranken angestellt haben.
An der grossen Mehrzahl der neuen Kranken, die wir unter-
suchten, konnte, wie schon erwahnt, eine Storung des Kraft-
wechsels nicht wahrgenommen werden. Das kann verschiedene
Griinde haben. Einmal ist es nicht leichfc, aus dem Material einer
mittelgrossen Irrenanstalt Versuchspersonen auszusuchen, die sich
gegen das Atmen in den Respirationsapparat nicht strauben und
auch sonst die notige Korperruhe innehalten. Nachdem natur-
gemass bei den friiheren Versuchen gerade die ruhigeren Kranken
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iiber die Atmung der Geisteskranken.
219
ausgesucht waren, blieben im allgemeinen nur Kranke iibrig,
die nicht so ruhig lagen, wie bei den friiheren Versuchen. Andere
Versuchspersonen lagen zwar scheinbar ruhig, bliesen aber nach
Leibeskraften in den Apparat hinein, so dass 7—10—12 Liter Luft
pro Minute die Lunge passierten. Dass bei diesen Versuchen Werte
gefunden wurden, die normal oder oft auch hoher als normal waren,
beweist noch nicht mit Sicherheit, dass der Grundumsatz wirklich
normal war.
So musste denn die Frage berechtigt erscheinen- Gibt es
iiberhaupt typische Falle von Dementia praecox, die eine Herab-
setzung des Grundumsatzes nicht zeigen ? Wir glauben, diese
Frage bejahen zu miissen.
In der folgenden Tabelle geben wir die Versuche an den-
jenigen unserer Hebephremen, die einen normalen Grundumsatz
zeigten imd bei denen dennoch eine wesentliche Beeinflussung
durch Muskelspannungen und Muskelbewegungen nicht zu konsta-
tieren war. Es gibt also in der Tat Falle von Dementia praecox,
die einen vollig normalen Kraftwechsel haben, und es wiirde sich
jetzt noch darum handeln, zu untersuchen, ob die Falle mit Herab-
setzung des Grundumsatzes einem einheitlichen Krankheitsbilde
entsprechen. Das hat sich bis jetzt nicht feststellen lassen; weder
das Krankheitsbild noch die Schwere der Erkrankung scheint in
einem offensichtlichen Zusammenhange mit der Stoffwechsel-
storung zu stehen. Vielleicht deckt aber spater eine genaue
psychische Analyse einen solchen Zusammenhang auf.
Tabelle V.
Datum
Pro ll
gebildete
Kohlen-
saure
cm 3
linute
ver-
brauchter
Sauerstoff
cm 3
Respirat.
Quotient
0O 2 : 0 2
Be merk ungen
13. XI. 08
j 152,4
217,4
! 0,701
Frl. L., 18 Jahre, 52 kg
13. XI. 08
j 152,3
215,7
0,706
21. XI. 08
175,0
220,9
0,792
5. XII. 08
167,3
221,0
0,757
19. XII. 08 !
1
166.0
207,6
0,800
i
1
10. XII. 08 !
169,8
222,4
0,764
M., ca. 25 Jahre, ca. 65 kg.
10. XII. 08 '
: 172.0
225,1
0,764
18. XII. 08 '
k ■ I
! 163,2
208,2
0,784
27. XI. 08
196,3
1
236,5
0,830
D., 20 Jahre, 61,5 kg
175 cm
19. XII. 08
j 194,3
254,8
0,762
21. XII. 08
| 188,4
249,6
0,757
;
Es war in der friiheren Arbeit die Moglichkeit diskutiert
worden, dass es sich bei der Stoffwechselstorung um eine mit der
Monatascbrift fUr Paychiatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 15
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220 Bornstein-Oven, Untersuchungen
Pubertat im Zusammenhang stehende Entwicklungsanomalie
handeln konnte; diese Moglichkeit war damals schliesshch als die
wahrscheinlichste hingestellt worden. Wenn man dieser Vorstellung
im einzelnen nachgehen wollte, so wiirde man zwei Analogien
dazu aus der menschJichen Physiologie heranziehen konnen, einmal
die Herabsetzung des Energieumsatzes bei Greisen, anderseits die-
jenige bei kastrierten Tieren. Die psychischen und physischen Er-
scheinungen, die bei diesen beiden analogen Kraftwechselstorungen
auftreten, sind bekanntlich trotz mancher Analogien voneinander
und von dem Symptombild der Hebephrenie grundverschieden;
gerade deswegen aber erschien es niitzlich, der moglichen Analogic
in bezug auf den Stoffwechsel noch weiter nachzugehen, schon um
prazisere Anbaltspunkte fur spatere Fragestellungen zu erhalten.
A. Lowy, der die Herabsetzung des Energieumsatzes bei
kastrierten Tieren als erster mit einwandfreien Methoden nach-
wies, zeigte gleichzeitig, dass diese Herabsetzung durch Verfiittern
von Ovarialsubstanz sowohl bei weiblicben als auch bei mannlichen
Versuchstieren vollig aufgehoben werden kann. Wie verhalten sich
nun unsere Hebephrenen gegeniiber der Zufuhr von Ovarial¬
substanz ? Die Beantwortung dieser Frage ist wichtig ehe man
zu weiteren Erklarungsversuchen schreitet.
Wir haben, diesem Gedankengang folgend, zwei unserer
Kranken Ovarialtabletten verabreicht. Die Resultate dieser Ver-
suche zeigen die folgenden Tabellen VI und VII.
Tabelle VII.
Datum
Pro M
produ-
zierte
Kohlen-
saure
cm*
[inute
aufge-
nomine*
ner
Sauer-
stoff 1
cm 3 ;
Respira¬
tor.
Quotient
i
CO t :0, ;
Bemerkungen
10 . XII. 08
167,4
191,2 !
i
! 0,876
i
Schl., ca. 20 Jahre;
55,5 kg
17. XII. 08
| 161,8
188,9 i
1 0,857
17. XII. 08 i
163,4
188,9
0,866
1
18. XII. 08 !
i
s
1
172,0
188,7 '
0,912 |
Seit 18. XII. mittags
9 Oophorintabletten
(Landau) taglich. Heute
etwas Leibschmerzen
21 . XII. 08
171,5
197,6
0,868
22 . XII. 08 :
145,0
184.7
0,786
2. 1. 09 1
163,7
199,4 ;
: 0,821
5.1. 09
l 172,8
206,6
0,836
6 .1. 09
1 180,6
224,9 ,
t
| 0,803
! i I
Seit 7. I. 12 Oophorin-
j tabletten taglich
8. 1. 09
180.9
220,1 i
i 0,822 |
i
11 . I. 09
, 163,9
212,8
0,770
j Seit 9. I. kein Oophorin
mehr
13. 1. 09
178.3
223.4
0.798
1
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iiber die Atmung der Gemteskranken.
TabeUe VI.
221
Dat.
Pro M
gebildete
Kohlen-
saure
cm 8
inute
ver-
brauchter
Sauerstoff
cm*
Respirat.
Quotient
CO, : O,
Bemerkungen
7. I. 09
136,1
1
146,2
0,931
St., 29 Jahre,
Grew. 60 kg,
Lange 160 cm
7. I. 09
149,2
16G,5
0,896
11. I. 09
137,5
l J
161,4
0,852
l
I
Seit 9.1. tagl. 12 Ta-
bletten Ovarial
( Merk ), seit 11. I.
18 Tabletten
13. I. 09
147,1
146,3
1,005
15.1. 09
132,4
175,6
0,754
desgl.
29. IV. 09
132,4
151,3
0,875
1. V. 09
159,6
194,4
0,8211
Gew. 62 kg
4. V. 09
144,6
181,5
0,796
6 . V. 09
145,7
174,2
0,836
8 . V. 09
135,3
162,6
0,832
11 . V. 09
152,4
203,0
0,751
Grew. 63 kg
13. V. 09
175,2
151,7
0,866
15. V.'OO
135,1
177,0
0,763
17. V.'09
149,8
160,5
0,934
20 . v: 09
143,7
160,6
• 0,894
22 . V. 09
153,5
159,3
| 0,964
25. V.*09
144,9
182,4
0,795
1 g Veronal
25. V. 09
157,0
196,8
0,798
1 g Veronal
27. V. 09
157,2
175,0
0,899
1 g Veronal
27. V. 09
167,3
176,1
0 950
1 g Veronal
29. V. 09
145,0
148,3
0,978
1 g Veronal
29. V. 09
152,6
155,5
0,982
1 g Veronal
10. VI. 09
131,3
151,4 ;
|
0,867
seit 7. VI. 09
18 Ovarialtabletten
(Merk) taglich.
1 g Veronal
12. VI. 09
149,9
162,3
i 0,924
12. VI. 09
163,9
179,0
0,916
15. VI. 09
176,8
176,6 |
1,002
1 g Veronal
15. VI. 09
170,1
171,0 j
0,995
1 g Veronal
17. VI. 09
134,9
177,0
0,762
17. VI. 09
142,1
178,3
0,797 !
19. VI. 09
133,2
183,3
0,726 j
1 g Veronal
19. VI. 09 ;
j 129,2
177,0 j
0,730 i
1 g Veronal
22. VI. 09 I
i 135,8
175.6 i
0,773 ;
22. VI. 09
1 134.3
s 183.8 |
0,731
5*
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA*'
222 Arndt, Ueber die GJykosurie der Alkoholdeliranten.
Der am langsten beobachtete Kranke St. der Tabelle VI zeigt
keine wesentliche Beeinflussung des Grundumsatzes durch die
Zufuhr von verhaltnismassig grossen Mengen der Eierstock-
substanz (18 Tabletten zu 0,5 g). Dagegen scheint der Grund-
umsatz des Kranken der Tabelle VII durch die Ovarialtabletten
etwas erhoht zu sein (um etwa 15 pCt.); doch isfc einerseits bei
diesem Kranken die Herabsetzung des Grundumsatzes iiberhaupt
nur sehr gering, anderseits die Erhohung nach Verabreichung
derOvarialtabletten ebenfalls nicht gross genug, um starkes Gewicht
darauf zu legen. Wir werden deshalb sagen miissen, dass bei unseren
Kranken eine erhebliche Beeinflussung des Grundumsatzes durch
die Ovarialtabletten jedenfalls nicht festgestellt werden konnte,
und dass der Zustand des Kraftwechsels unserer Kranken daher eher
den durch das Senium als den durch die Kastration geschaffenen
Verhaltnissen verglichen werden kann
Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
Von
Dr. MAX ARNDT,
Heilanstalt M Waldhaus‘ 4 bei Wannaee-Berlin.
Als ich im Jahre 1896 auf Veranlassung von H. Strauss Unter-
suchungen iiber das Vorkommen von alimentarer Glykosurie bei
Gehirn- bezw. Geisteskrankheiten anstellte, ergab sich, dass bei
Alkoholdeliranten nicht nur verhaltnismassig oft nach Verab¬
reichung von 100 g Traubenzucker in dem wahrend der nachsten
Stunden gelassenen Urin Zucker nachgewiesen werden konnte,
sondern dass auch ein nicht unerheblicher Prozentsatz der Deli-
ranten schon bei der gewohnlichen gemischten Krankenhauskost
Zucker im Urin ausschied. Von 15Deliranten zeigten 7 eine spontane
Glykosurie (e nutrimentis), und bei 4 weiteren trat nach Dar-
reichung von 100 g Traubenzucker (alimentare) Glykosurie auf,
so dass also von 15 Deliranten 11 eine Herabsetzung der Assimi-
latioDsfahigkeit fur Kohlehydrate bezw. Traubenzucker erkennen
liessen 1 ). Ich habe damals darauf hingewiesen, dass vorher nur
Bumm 2 ) einen Fall von Delirium tremens mit Melliturie ausfvihrlich
beschrieben und gleichzeitig hervorgehoben hatte, dass er bei
weiteren Untersuchungen einen analogen Befund nie wieder hatte
l ) Max Arndt, Ueber alimentare und transitorische Glykosurie bei
Gehirnkrankheiten. Deutsehe Zeitsehr. f. Nervenheilk. 1897. 13d. X. 8.419.
*) Ueber transitorische Albuminuric und Melliturie bei Delirium
tremens. Berliner klinische Woehensehr. 1882. No. 25. S. 378.
Google
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 223
erheben konnen, ud<1 dass femer von De Wolf 1 ) erwahnt worden war,
,.Glykosurie fande sich als sekundare Komplikation uoter aoderem
auch beim Delirium tremens.“ Unbekannt war mir, dass auch schon
v. Jaksch, wie ich bei Raimann (s. unten) sehe, im Ham von Deli-
ranten auch ohne vorausgegangene Zuckerzufuhr nicht gerade
selten Dextrose gefunden hatte. In der Folge ist dann jedenfalls
das Vorkommen von Zucker im Urin der Alkoholdeliranten von
verschiedenen Autoren bestatigt worden, so insbesondere von
Laudenheimer 2 ), J. Strauss 3 ) und Raimann*). Dagegen hat sich
dieser fur die Symptomatologie und die Pathologie cles Delirium
tremens, wie mir scheint, nicht ganz unwichtige Befund bisher in
die Lehrbiicher der Neurologie und Psychiatrie noch keinen Ein-
gang verschafft, und, wahrend als korperliche Begleiteraclieinung
bezw. Urinbefund beim Trinkerdelirium stets das Vorhandensein
von Eiweiss angegebcn ist, finde ich z. B. in den Lehrbiichern von
Binsuvmger-Siemerling 6 ), Kraepelin 9 ), Oppenheim 7 ), Reichardt 9 ),
Wernicke 9 ), Ziehen 10 ) keinerlei Hinweis darauf, dass der Ham der
Deliranten in einem nicht geringen Prozentsatz der Falle Zucker
enthalt. Ich halte es deshalb fur angebracht, die Aufmerksamkeit
erneut auf diese Tatsache hinzulenken, und will zu diesem Zwecke
iiber die Ergebnisse ausgedehnter Untersuchungen iiber das Vor¬
kommen von Zucker im Ham der Deliranten berichten, die ich in
Fortsetzung und zur Vervollstandigung meiner schon mitgeteilten
ersten Beobachtungen vor nunmehr beinahe einem Jahrzehnt
ausgefiihrt habe.
Zunachst muss ich kurz mitteilen, welche neuen Tatsachen
iiber das Vorkommen und welche neuen Theorien iiber das Wesen
der Delirantenglykosurie von den schon genannten Autoren
seit meiner ersten Publikation gefunden bezw. aufgestellt worden
sind. Ich konnte dam als, wie eingangs bereits erwahnt, bei 7 unter
15 Deliranten spontane und bei 4 von den 8 iibrigen alimentare
l ) Glycosuria, its complications and therapeutics. Ref. im Zentralbl.
f. Nervenheilk. 1884. S. 263.
*) Rudolf Laudenheimer, Diabetes und Geistesstorung. Berliner klin.
Wochenschr. 1898. No. 21.
*) Untersuchungen iiber alimentare, „spontane“ und diabetische
Glykosurien, unter besonderer Beriicksichtigung des Kohlehydratstoff-
wechsels der Fiebernden und der Potatoren. Zeitschr. f. klinische Medizin.
1900. Bd. 39. Heft 3 und 4. S.-A. S. 66.
*) Emil Raimann, Ueber Glykosurie und alimentare Glykosurie bei
Geisteskranken. Zeitschr. f. Heilk. 1902. Bd. 23. Heft 2. S.-A. S. 79 ff.
s ) O. Binswanger und E. Siemcrling, Lehrbuch der Psychiatrie. 2. Aufl.
Jena 1907. Abschnitt iiber Alkoholpsychosen von A. Cramer. S. 251.
•) Emil Krapelin, Psychiatrie. Ein Lehrbuch fiir Studierende und
Aerzte. VII. Aufl. 1904. Bd. II. S. 99.
’) H. Oppenheim, Lehrbuch der Nervenkrankheiten. 6. Aufl. Berlin
1908. Bd. II. S. 1601.
') M. Reichardt, Leitfaden zur psychiatrischen Klinik. Jena 1907.
S. 97 ff.
*) Carl Wernicke, Grundriss der Psychiatrie in klinischen Vorlesungen.
Zweite revidierte Auflage. Leipzig 1906. S. 270 ff.
'•) Th. Ziehen, Psychiatrie. III. Aufl. Leipzig 1908. S. 434.
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224 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeiiranten.
Glykosurie — letztere auch bei 2 unter 4 Fallen von Delirium
tremens abortivum — nachweisen. In welchem Stadium des
Deliriums der Versuch der alimentaren Glykosurie angestellt wurde,
schien fur den positiven oder negativen Ausfall desselben von
keiner entscheidenden Bedeutung zu sein; denn wahrend bei einigen
Kranken im Hohestadium des Deliriums kein Zucker nach Dex¬
trose-Verabreichung im Urin gefunden wurde, konstatierte ich ali-
mentare Glykosurie bei anderen, die im abklingenden Delirium
dem Versuche unterworfen worden waren. Auch iiber den Einfluss
des Deliriums auf die Dauer der spontanen Glykosurie hatte ich
keine sicheren Resultate erhalten, da in 5 Fallen, trotzdem der Urin
dieser eben aufgenommenen Deliranten schon Zucker enthielt,
noch der Versuch der alimentaren Glykosurie gemacht und dadurch
das Bild getriibt worden war; der sechste Rranke starb am Tage
nach der Aufnahme, und nur bei dem siebenten konnte die Dauer
der spontanen Glykosurie bestimmt werden; sie bestand noch 2 Tage
nach dem Abklingen des Deliriums fort. Immerhin ergab sich mit
volliger Sicherheit, dass sowohl die alimentare wie die spontane
Glykosurie bei Delirium tremens durch dieses selbst bedingt sein
mussten, denn einige Zeit nach dem Ablauf der Psychose war in
den Fallen mit spontaner Glykosurie der Zucker aus dem Ham
verschwunden, und es gelang dann auch nicht mehr, durch Trauben-
zuckerzufuhr Glykosurie hervorzurufen. In analoger Weise ergab
bei den Deliranten, bei welchen wahrend des Deliriums der Ver¬
such der alimentaren Glykosurie positiv ausgefallen war, derselbe
ein negatives Resultat, wenn er einige Tage nach Ablauf des
Deliriums wiederholt wurde. Ich wies darauf hin, dass der Unter-
schied zwischen spontaner und alimentarer Glykosurie im Delirium
nur ein gradueller sei und allerlei Uebergange vorhanden waxen;
die Starke des Deliriums schien mir in dieser Beziehung von keiner
ausBchlaggebenden Bedeutung zu sein, da sich die FaUe mit spon¬
taner Glykosurie klinisch gar nicht von denen mit alimentarer
unterschieden, wie ubrigens letztere auch nicht von denen ohne
nachweisbare Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Trauben-
zucker. Da ich nun bei meinen Versuchen ausserdem gefunden hatte,
dass chronische Schnapstrinker, wenn sie unter der direkten schadi-
genden Einwirkung des Alkoholmissbrauches standen und akute
Intoxikations-Erscheinungen darboten, d.h. also nicht delirierende,
eben in die Anstalt aufgenommene Trinker oder selbst solche,
welche sich nach langerer Abstinenz grade nur einmal tiichtig be-
trunken hatten, fast regelmassig eine Herabsetzung der Assi¬
milationsfahigkeit fur Traubenzucker zeigten, so kam ich zu dem
Ergebnis, dass es ,,die akute Exazerbation der Alkoholintoxikation
mit ihrer direkten Nachwirkung sei, welche zur Ausscheidung von
Zucker im Urin disponiere; von der Starke der Intoxikation, der
Widerstandsfahigkeit des Individuums und wahrscheinlich von
noch mehr Faktoren hange die Intensitat dieser Stoffwechsel-
storung und ihre Dauer ab“. Ich legte besonderen Nachdruck darauf
dass die Glykosurie der Schnapstrinker die Folge akuter toxischer
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
225
Zustande sei, da ja bei diesen selben Personen und bei Schnaps-
trinkem iiberhaupt der Versuch der alimentaren Glykosurie fast
durchgehends negativ ausfiel, wenn sie langere Zeit alkohol-
abstinent gewesen waren. Dabei habe ich allerdings das Delirium
einfach als „direkte Nachwirkung der Alkoholintoxikation“ auf-
gefasst und nicht als einen spezifischen, wenn auch selbstverstand-
lich auf der Basis des chronischen Alkoholmissbrauch.es ent-
standenen. toxischen Prozess, als welcher es doch wohl richtiger
anzusehen sein diirfte 1 ). Laudenheimer i ), der meine Befunde im
grossen und ganzen bestatigte, lehnt deshalb die Annahme, dass
es sich bei der spontanen und alimentaren Glykosurie der Deliranten
um eine einfache Alkoholvergiftungserscheinung handele, ab,
fasst sie vielmehr als einen spezifisch deliriosen Stoffwechselvorgang
auf, ahnlich wie dieAlbuminurie, und erblickt darin eine interessante
Vervollstandigung der Analogie des Delirium tremens und der
akuten fieberhaften Infektionskrankheiten, mit denen es ja den
typisch kritischen Abfall der Krankheit, Blut- und Pulsbefund,
Albuminurie gemeinsam hat und die ja auch nur im Fieber-
stadium zu alimentarer Glykosurie disponieren.“ Er hatte unter
29 Deliranten der Leipziger psychiatrischen Klinik, deren Urin
wahrend der Dauer des Deliriums taglich untersucht worden war,
bei 7 Zucker in Mengen bis zu 1 pCt. gefunden, und zwar war der-
selbe stets erst mehrere Tage nach Ausbruch der Psychose auf-
getreten, um spatestens einen Tag nach dem kritischen Abfall des
Deliriums wieder zuverschwindeD. Ob der betrachtlicheUnterschied
in der Frequenz der Delirantenglykosurie zwischen meinen (7:15)
und seinen (7:29) Ergebnissen auf Zufall oder lokale Verhaltnisse,
z. B. verschiedene Zusammensetzung des alkoholischen Getranks
oder Unterschiede der Krankenhausernahrung, zuriickzufiihren sei,
liess er dahingestellt. Uebereinstimmend mit den Angaben von
H. Strauss 3 ) und mir, konnte er bei mehr als 50 pCt. seiner Deliranten
(nach Darreichung von 120—150 g Traubenzucker) alimentare
Glykosurie konstatieren, eine Disposition, die nach Abfall des
Deliriums rasch verschwand und selbst bei Deliranten mit spontaner
Glykosurie schon am zweiten Tage nach dem kritischen Schlaf nicht
mehr nachzuweisen war. J.Strauss*) konnte auf Grund seiner Unter-
suchungen das Vorkommen von alimentarer und spontaner Glyko¬
surie im Delirium tremens bestatigen. Er ist der Meinung 5 ), dass
die direkte, sich aus verschiedenen Faktoren zusammensetzende
Wirkung des Potatoriums und der unmittelbare Einfluss des
‘) Uebrigens sind die Ansichten der Autoren dariiber, ob das Delirium
tremens nur eine Exacerbation der chronischen Alkoholvergiftung oder die
FoJge von durch den Alkoholmissbrauch imKorper entstandenen (evtl. Stoff-
wechsel-) Giften sei, recht geteilt (s. Wassermeyer, Delirium tremens. Archiv
f. Psychiatrie. Bd. 44. Heft 3. S. 906 ff).
*) 1. c. S. 8/9.
s ) Hermann Strauss, Zur Lehre von der neurogenen und der thyreo-
genen Glykosmie. Deutsche ined. Wochenschr. 1897. No. 18 und 20.
*) t. c. S. 56.
‘) 1. c. S. 56.
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226
Arndt, Ueber die Glykosurie der Aikoholdeliranten.
deliriosen Prozesses als solcher gemeinsam an dem haufigen Auf-
treten der Glykosurie bei Deliranten ursachlich beteiligt waxen.
Speziell die von ihm nachgewiesene Tatsache des Vorkommens
spontaner Glykosurie bei nicht delirierenden Potatoren weise
darauf hin, dass der direkte Einfluss des Potatoriums auf das
Eintreten der spontanen Glykosurie der Deliranten nicht ganz
geleugnet werden konne. Eine ganz erhebliche Erweiterung unserer
Kenntnisse vom Wesen der Delirantenglykosurie brachte die Arbeit
Baimanns 1 ). Er ging bei seinen ausgedehnten Untersuchungen
xiber Glykosurie und alimentare Glykosurie bei Geisteskranken
von dem etwas schematischen Verfahren ab, das die meisten bis-
herigen Autoren angewandt hatten, indem sie den Kranken eine
bestimmte Menge, meist 100 g, Traubenzucker verabreichten und
dann die Falle, je nachdem im Urin Zucker nachgewiesen werden
konnte oder nicht, in solche mit positivem und solche mit nega-
tivem Versuchsausfall sonderten. Er bestimmte vielmehr fur jeden
Kranken die Assimilationsgrenze fur Traubenzucker, d. h. diejenige
Menge Dextrose, welche in den Organismus eingefuhrt werden
musste, damit in dem darauffolgend entleerten Ham mit den
gebrauchlichen klinischen Proben Zucker eben nachweisbar war
(0,2pCt.). Hierzu waren in der Hegel mehrere Versuche mit ver-
schieden grossen Zuckerdosen erforderlich. Die schliesslich als
notwendig erkannte Traubenzuckermenge ergab, dividiert durch
das Korpergewicht, einen allgemein vergleichbaren Wert. Es bedarf
keiner Auseinandersetzung, dass diese Art der Versuchsanordnung
einen Fortschritt gegeniiber der bisher iiblichen bedeutet und ge-
eignet war, neue Aufschliisse zu bringen. Baimanns Untersuchungen
erstreckten sich — sein gesamtes Versuchsmaterial umfasst 101
Geisteskranke — auf 28 Deliranten und ergaben folgendes be-
merkenswerte Resultat: ,,Bei alien diesen Patienten nahm die
Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand ein unmittelbar nach
dem kritischen Abschlusse des Delirs; sie stieg von da binnen wenig
Tagen zu durchwegs hohen Werten an.“ 9 Falle zeigten nach dem
kritischen Schlafe spontane Glykosurie bis zu 1,3 pCt., bei weiteren
10 Patienten konnte Zucker in Spuren nachgewiesen werden;
4 andere Patienten sind ausser Betracht zu lassen, da bei ihnen nur
ein ganz rudimentares Delirium vorlag oder aber eine transitorische
Glykosurie vielleicht iibersehen worden sein konnte, weil aneinzelnen
Tagen der Ham nicht untersucht worden war; und bei den 5 iibrigen
Fallen ergaben die Versuche mit Traubenzuckerzufuhr, dass zu
der angegebenen Zeit die Assimilationsgrenze immer herunter-
gedriickt war. Es bestand also kein durchgreifender Unterschied
der Falle mit und ohne Glykosurie. Eine relative Verschiedenheit
glaubt B. insofern wahrgenommen zu haben, als die Assimilations¬
grenze um so mehr herabgedriickt zu sein schien, je schwerer die
Vergiftung war, je grosser die Hohe, welche das Delirium erreichte.
Die Falle, in denen es zu keiner spontanen Zuckerausscheidung
*) 1. c.
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A r ndt , Ueber die CJlykosurie der Alkoholdelirantcn. 227
kam, waren vorwiegend leichte. Er lehnt die Annahme, dass es
sich bei der Delirantenglykosurie um eine direkte Nachwirkung dee
Potatoriums handeln konnte, mit einem Hinweis auf die zeitlichen
Verhaltnisse des Auftretens der Zuckerausscheidung ab. Auch
Komplikationen des Deliriums, wie Fieber, entzundliche Prozesse
oder andere Faktoren, wie Alter, Ernahrungszustand (Adipositas),
Sehad el trail men, schliesslich die Art des vorausgegangenen Pota¬
toriums (Bier oder Schnaps) spielten keine nachweisbare Rolle,
und es bliebe deshalb nichts iibrig, als einen direkten Kausalnexus
zwischen Delirium und Glykosurie anzunehmen. Fiir diesen spricht
nach R. vor allem die Gesetzmassigkeit im zeitlichen Auftreten
der Zuckerausscheidung, welche ausnahmslos erst erfolgte, wenn
das Delirium kritisch abgeklungen war, um dann binnen wenig
Tagen wieder zu verschwinden. Als bemerkenswert ergab sich
noch, dass die Assimilationsgrenze wahrend des Deliriums haufigen,
oft stiindlichen Schwankungen unterworfen war; die Glykosurie
trat intermittierend auf, bestand an gewissen Tagen, zu gewissen
Stunden, um dann zeitweilig zu fehlen. R. hat dann noch Unter-
suchungen bei 9 nicht deliranten Alkoholikern gemacht; er konnte
unter dem Einflusse des Potatoriums allein nie spontane Glykosurie
beobachten, allerdings war nur ein einziger Fall frisch, am Tage
nach einem Rausche, untersucht worden. Mit Riicksicht auf die
positiven Befunde anderer Autoren und auf Grund seiner Versuche
schliesst er, dass die Herabsetzung der Assimilationsgrenze bei
Trinkern ohne Geistesstorung sich ausserordentlich rasch ausgleiche,
sobald die Abstinenz beginne. Als Unterschiede in dem Auftreten
der Glykosurie bei deliranten und nichtdeliranten Alkoholikern
bezeichnet R. die folgenden: Die Erniedrigung der Assimilations¬
grenze war bei den Deliranten eine viel hochgradigere, indem recht
oft spontane Glykosurie auftrat; dort, wo keine akute Geistes¬
storung auftrat, war dagegen die Assimilationsgrenze niemals
negativ; es bestand also ein gewisser Parallelismus zwischen
Psychose und Glykosurie. Ferner riickte die Assimilationsgrenze
bei den Deliranten rasch, beinahe kritisch, herauf, wahrend sie
in der einfachen Alkoholabstinenz nur langsam hinaufzuschleichen
schien. Endlich stand die Assimilationsgrenze bei den Deliranten
am tiefsten nach dem kritischen Schlafe, nachdem die Alkohol¬
abstinenz doch schon eine gewisse Zeit gedauert hatte; von diesem
Punkte an erfolgte dann erst der Aufschwung. Die Herabsetzung der
Assimilationsgrenze bezw. die spontane Glykosurie der Alkoholiker
ist als eine toxische anzusehen und der Glykosurie bei anderen
Vergiftungs- und Stoffwechselkrankheiten an die Seite zu stellen.
Dagegen ist die postdeliriose Glykosurie nur auf Rechnung des
Deliriums zu setzen; sie wird vielleicht durch ein Stoffwechsel-
produkt hervorgerufen, das sich erst mit Beginn der Rekonvaleszenz
bildet. Zur Erklarung der taglichen oder gar stiindhchen Inter-
missionen dieser Glykosurie sei vielleicht eine Vermittelung des
Nervensystems anzunehmen.
Es eriibrigt noch, kurz darauf hinzuweisen, dass ausser diesen
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228 Arndt, Leber die Giykosurie der Alkoholdeliranten.
3 Autoren noch einige andere das Vorkommen von Zucker im Urin
der Deliranten erwahnen. So berichtet Hasche-Kliinder' 1 ), dass
bei 39 von 372 Delirium-Fallen, die in der Zeit vom 1. I. 1903
bis zum 1. III. 1905 im allgemeinen Krankenhaus Hamburg-
Eppendorf behandelt wurden, Zucker im Urin nachgewiesen worden
war, d. i. also in 10,5 pCt. der Falle. Dollken 2 ) fand Giykosurie
in 3 Fallen von Delirium tremens, Wassermeyer 3 ) in 4 Fallen, und
Kauffmann*) gibt an, dass er manchmal, aber verhaltnismassig
selten, Traubenzucker bei Deliranten gefunden habe.
Die Untersuchungen, iiber welche ich jetzt berichten will,
sind zu derselben Zeit ausgefiihrt worden wie die soeben referierten
Raimanns. Ich hatte aber davon Abstand genommen, wie bei
meinen friiheren Versuchen, durch Darreichung einer bestimmten
Quantitat von Traubenzucker eine eventuell vorhandene Herab-
setzung der Assimilationsgrenze feststellen zu wollen, habe mich
vielmehr darauf beschrankt, den Urin einer grossen Reihe von
Deliranten und nichtdeliranten Alkoholikern fortlaufend auf das
etwaige Vorhandensein einer spontanen Giykosurie hin zu unter-
suchen. Die Ergebnisse, zu denen ich hierbei gelangt bin, sind
infolgedessen nicht so eindeutig und prazis wie die, welche Raimann
bei seinen systematischen experimentellen Untersuchungen er-
halten hat. Doch ist das Krankenmaterial, welches ich zu benutzen
Gelegenheit hatte, ein verhaltnismassig sehr viel grosseres als
das Raimanns, und so werden meine Beobachtungen, insbesondere
in Hinblick auf die von ihm festgestellten Tatsachen, manche Be-
statigungen und Erganzungen bringen.
Als ich wahrend der Jahre 1899—1901 als Assistenzarzt an
der Manner-Aufnahme-Abteilung der Irrenanstalt Dalldorf tatig
war, habe ich etwa 2% Jahre lang den Urin aller auf die Abteilung
zur Aufnahme gelangten Deliranten wahrend der ganzen Dauer des
DeHriums und auch noch einige Zeit lang nachher auf das Vorkommen
von Zucker (und Eiweiss) untersucht. Es wurde grundsatzlich der
24 stiindige Tagesurin (von 8 Uhr morgens bis zum nachsten Tage
um dieselbe Zeit) gesammelt, die Gesamtmenge und das spezifische
Gewicht bestimmt und dann auf Eiweiss und Zucker gepriift. Zum
Nachweis des Albumens wurden die Kochprobe und die Unter-
schichtung mit Salpetersaure angewandt, zum Nachweis des Zuckers
die Trommersche und Nylandersche Probe und, sofern diese ein
positives Ergebnis gehabt hatten, die Gahrungsprobe. Nur wenn
diese letztere unzweifelhaft positiv ausgefallen war, wurde das
*) Zur Pathologie das Delirium aicoholicum. Mitteilungen aus don
Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1905. S. 43.
a ) Die korperlichen Erscheinungen des Delirium tremens. Leipzig 1901.
3 ) Delirium tremens. Eine klinische Studie. Arch. f. Psych. 190^.
Bd. 44. S. 861.
4 ) Max Kauffmann , Ueber Kohlehydraturie beim Alkoholdelirium.
Miinchner med. Wochenschr. 1907. S. 2185. Derselbe, Stoffwechseluntor-
suchimgen bei Alkoholdeliranten. Journal fiir Psychologic und Neurologic.
Bd. X. p. V*. S. 28. 1907.
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Arndt, I’obor die Glykosurie dor Alkoholdeliranten.
229
Vorhandensein von Zucker ala sicker angenommen. Zumeist
wurde dann noch eine quantitative Bestimmung des Zuckergehaltes
mittels des Polarisationsapparates gemacht. Ich wiU gleich hier
erwahnen, dass in einer Reihe von Fallen durch die Trommersche
und Nylandersche Probe die Anwesenheit reduzierender Sub-
stanzen im Urin angezeigt wurde, durch Anstellung der Galirungs-
probe aber der Nachweis nicht gefiihrt werden konnte, dass es sich
wirklich um Zucker gehandelt hat.
Ich komme nachker noch auf diese Falle zuriick und hebe
hier nur folgendes hervor: Ein Teil der Deliranten wurde der Anstalt
aus der eigenen Wohnung, ein nicht unerheblicher aber aus Kranken-
hausern zugefiihrt. Den letzteren waren fast regelmassig in den
betreffenden Krankenhausem allerlei Arzneimittel, insbesondere
Chloralhydrat und Morphium, verabreicht worden. Ich habe da-
gegen prinzipiell — bis auf einige wenige Ausnahmen — den
Deliranten wahrend der ganzen Dauer des Anstaltsaufenthaltes
keinerlei Narkotika gegeben. Wenn also auch bei vielen, aus
Krankenhausem in die Anstalt uberfiihrten, Deliranten durch die
daselbst verabreichten narkotischen Mittel das Auftreten redu¬
zierender Substanzen (Glykuronsauren) im Urin hervorgerufen
sein kann, so ist eine solche Wirkung in diesen Fallen wohl immer nur
am ersten oder auch am zweiten Tage des Anstaltsaufenthaltes
anzunehmen. Bei den aus der eigenen Hauslichkeit der Anstalt
zugefiihrten Deliranten waren in der Regel keine Arzneimittel
gegeben gewesen.
Die Massnahme. bei der Behandlung der Deliranten prinzipiell
die Verabreichung narkotischer Mittel zu vermeiden, hatte zur
Folge, dass haufig eine Isolierung dieser auf der ohnehin stets iiber-
fiillten und unruhigen Station sehr storenden Kranken notwendig
wurde. Die Isolierung brachte nun wieder mancherlei Uebel-
stande fiir das Sammeln des Urins mit sich. In dem Einzelraum
urinierten die Kranken oft auf den Fussboden, und wenn es auch
haufig gelang, sie durch Zureden dazu zu bewegen, ihren Urin in
ein Gefass zu entleeren, so scheiterte dies doch hin und wieder,
und es war deshalb in manchen Fallen unmoglich, an einem Tage
oder gar an mehreren Tagen des Deliriums den gesamten Urin
zu sammeln oder manchmal selbst nur eine Urinprobe zur Unter-
suchung zu erhalten. So sind denn leider bei einer Anzahl von
Deliranten die Untersuchungsprotokolle nicht vollstandig, indem
oft gerade der Urin zur Zeit der Akme des Deliriums nicht gepriift
werden konnte.
Ich habe dann ferner auch den Urin der in die Abteilung auf-
genommenen nichtdeliranten Trinker wahrend der ersten Tage nach
der Aufnahme untersucht. Es wurde stets die 24 stiindige Tages-
menge in der oben geschilderten Weise gepriift. Und zwar geschah
dies einmal in der Absicht, festzustellen, in einem wie hohen
Prozentsatz der nicht delirierenden Potatoren unmittelbar nach
einer Periode fortgesetzten, mehr oder minder starken Alkohol-
missbrauches Zucker imUrin, und wie langeZeit hindurch, nachweis-
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230 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
bar sei, ferner aber auf Grund der bekannten Erfahrung, dass gar
nicht so selten Potatoren im Prodromalstadium eines Deliriums
in die Anstalt kommen, bei der Aufnahme noch keine eigentlich
charakteristischen Symptome des Deliriums darbieten und dann
einige Tage spater delirant werden: Gerade in solchen Fallen bot
sich ja die Moglichkeit, den Urin der Kranken schon vor Beginn
und wahrend der ganzen Dauer des Deliriums zu untersuchen,
wahrend bei den schon delirierend in die Anstalt eingelieferten
Kranken die Urinuntersuchung des ersten Tages oder gar der
ersten Tage des Deliriums fehlte.
Die Untersuchungen erstreckten sich demnach auf Deliranten
und nichtdelirante Trinker, welche in dem 2V 4 jahrigen Zeitraum
vom 14.1.1899 bis 14. IV. 1901 in die Manner-Aufnahme-Abteilung
der Anstalt Dalldorf zur Aufnahme gelangten. Wahrend dieses
Zeitraumes wurden nun im ganzen 763 Trinker, d. h. Personen,
die an Alcoholismus chronicus, einer alkohologenen Psychose oder
einer anderen Psychose litten, bei deren Entstehung der Alkohol
mitgewirkt oder zu welcher Alkoholmissbrauch sich hinzugesellt
hatte, aufgenommen. Doch nur bei etwa Vaj namlich bei 194 von
diesen Trinkem, sind brauchbare fortiaufende Urinuntersuchungen
gemacht worden. Bei einer Beihe von Kranken war es aus ausseren
Griinden gar nicht, bei anderen nur in unvollkommener und un-
genugender Weise moglich, den Urin zu untersuchen. Viele Trinker
kamen aus anderen Anstalten oder Krankenhausern zur Aufnahme
und waren seit langerZeit derEinwirkung des ubermassigenAlkohol-
genusses entzogen gewesen, so dass von einer fortlaufenden Urin¬
untersuchung von vornherein Abstand genommen wurde. Auch
bei alien Fallen von Korsakowscher Psychose, akutem Wahnsinn
der Trinker etc.,ebensobeidurch Alkoholismus komplizierten anders-
artigen Psychosen (Paralyse pp.) habe ich auf fortiaufende Unter¬
suchungen verzichtet. Zu erwahnen ist ferner, dass unter den
763 „Aufnahmen“ sich eine Reihe von Trinkem befinden, die
wahrend des 2 1 / 4 jahrigen Zeitraumes mehrfach, manche 4—6 mal,
zur Anstalt kamen und jedesmal wieder als ,,Aufnahme" gerechnet
sind; unter den 194 Kranken, bei denen Urinuntersuchungen
gemacht worden sind, befindet sich denn auch eine ganze Anzahl
,,mehrfach aufgenommener ‘ ‘, doch sind sie in die Statistik nur als
eine Person eingestellt worden. Dies war nur dann nicht angangig,
wenn, wie es ofters vorkam, der betreffende Trinker einmal im
Delirium, ein anderes Mal mit einem abortiven Delirium, ein drittes
Mai vielleicht ohne akute psychotische Symptome zur Aufnahme
gelangte. Ich werde die wenigen derartigen Falle besonders hervor-
heben.
Die 194 Falle, deren Urin vom Tage der Aufnahme ab eine Zeit
lang untersucht worden ist, verteilen sich auf die folgenden drei
Gruppen:
1 . 99 Falle von Delirium potatorum;
2. 26 Falle von Delirium potatorum abortivum;
3. 69 Falle von Alooholismus chronicus.
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
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Zu dieser Klassifizierung sei bemerkt, dass in die Gruppe
„Delirium potatorum 41 nur vollig einwandfreie Falle von Trinker-
deliriumgerechnet worden sind. In der Gruppe 2, ,,Abortivdelirium“,
vereinigte icb die leichteren Falle von sehr kurzer Dauer, in denen
das eine oder andere Symptom des Deliriums nur unvollstandig
oder gar nicht ausgepragt war. Endlich befinden sich in der dritten
Gruppe alle diejenigen Trinker, bei denen kein Delirium vorhanden
war. Es handelt sich in fast alien Fallen dieser letzten Kategorie
um chronische Alkoholisten, die frisch in die Anstalt aufgenommen
worden waren, entweder direkt aus der eigenen Hauslichkeit,
bezw. ihrem sonstigen bisherigen Aufenthaltsorte (von der Strasse
etc.) oder indirekt aus diesen durch Vermittelung der Polizei;
im letzteren Falle ist dann oft durch den Aufenthalt auf den Polizei-
wachen ein mehrstiindiger (bis zu einem Tage!) Zwischenraum
zwischen Hauslichkeit (letzterAlkoholgenuss!) undAufnahme in die
Anstalt eingeschaltet worden. Ich Hess dagegen alle diejenigen
Trinker ohne weiteres ausser Betracht, welche schon langere Zeit
(einige Tage) dem chronischen Alkoholmissbrauch entzogen gewesen
waren, also z. B. alle aus Rrankenhausem der Anstalt uberwiesenen
Alkoholisten. Die in dieser Gruppe 3 zusammengefassten Trinker
boten deshalb samtlich irgend welche Zeichen akuter Alkohol-
intoxikation oder lange fortgesetzten Alkoholmissbrauches dar,
wie mehr oder weniger schwere Betrunkenheit, Benommenheit,
Tremor linguae et manuum, kongestioniertes Gesicht, belegte
Zunge, neuritische Symptome (Schmerzen in den Waden etc.),
allgemeinen Tremor, Unruhe, Angst, unruhigen Schlaf, schreck-
hafte Traume, vereinzelte Visionen, voriibergehende Delirien,
einen Krampf- oder Schwindelanfall am ersten Tage oder wahrend
der paar ersten Tage nach der Aufnahme usw. Es konnte deshalb
vielleicht auch der eine oder andere Fall aus dieser Gruppe eben
noch als Abortivdelirium aufgefasst werden.
Die Ergebnisse der Urinuntersuchungen sind kurz zusammen-
gefasst folgende:
1 . Von den 99 Deliranten zeigten 30, also 30 pCt., spontane
Glykosurie, wahrend bei den 69 iibrigen kein Zucker im Urin ge-
funden wurde.
2 . Bei 4 von den 26 Kranken mit Abortivdelirium, d. i. bei
15,4 pCt., warZucker imUrin vorhanden, bei den anderen 22 nicht.
3. Von den 69 frisch aufgenommenen, nichtdeliranten Trinkern
hatten 21=30,4 pCt. Zucker im Urin, die iibrigen 48 nicht.
Ich gehe zunachst auf die Gruppe der 30 Deliranten mit
spontaner Glykosurie naher ein. Unter ihnen ist einer, der wahrend
der 2% jahrigen Beobachtungszeit 4 mal ein Delirium in der An¬
stalt durchmachte (s. unten Fall 17) und jedesmal Zucker im Urin
ausschied; ein zweiter (Fall 3) iiberstand 2 Dehrien, beide mit
spontaner Glykosurie. Wie verhalt sich die bei diesen 30 Kranken
beobachtete Zuckerausscheidung hinsichtlich ihrer Dauer und ihrer
Intensitat, und welcher Art sind ihre zeitlichen und sonstigen Be-
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232 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
ziehungen zum Delirium ? Ein fliichtiger Durehblick der Unter-
suchungsprotokolle zeigt, dass hier ganz erhebliche Differenzen
zwischen den einzelnen Fallen bestehen, und da die Falle auch in-
sofern nicht ganz gleichwertig sind, als der eine im Prodromal-
stadium, ein anderer vielleicht am zweiten Tage, ein dritter am
letzten Tage des Deliriums aufgenommen wurden, so erscheint
eine kurze Skizzierung der einzelnen Falle unerlasslich. Ich kann
mich dabei fur jeden Fall auf wenige Zeilen beschianken, denn
das Krankheitsbild ist ja in alien Fallen das gleiche und deshalb
nur beziiglich seiner Dauei festzulegen, und auch die Angaben
iiber die Glykosurie werden sich hauptsachlich auf ihre Dauer
beschranken.
1. A. R., am 11.11. 1899 delirierend aufgenommen; Delirium bestehfc
seit 10. II. Deliriert 12. II.—17. II. (am 15. II. Glykosurie:+, sonst wurde
der Urin nicht untersucht). Krisis am 18. II.
Res. : Der Urin enthalt am 6. Tage de6 Deliriums, am 3. vor der
Krisis, Zucker; an alien iibrigen ist er nicht untersucht worden.
2. E. E., am 19. II. 1899 im Prodromalstadium aufgenommen. Am
21. II. abends setzt das Delirium ein. (Glykosurie: + .) 22. II.—24. II. De¬
lirium (an allen3Tagen Glykosurie: -f-), am 25.11. Krisis (Glykosurie: + ), am
26. II.—28. II. Glykosurie: —.
Res.: An den beiden ersten Tagen des Prodromalstadiums Urin nicht
untersucht, am dritten (Beginn des Delirs) enthalt er Zucker, ebenso an alien
3 Tagen des Delirs und am Tage der Krisis, an den drei folgenden nicht
mehr. a
3 a. G. S., am 25. IV. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er
angeblich bereits seit 3 Tagen deliriert hat (Glykosurie:—); 26. IV. deliriert
(Urin nicht untersucht). 27. IV. Krisis (Urin nicht untersucht), 28. IV. ruhig,
aber noch desorientiert (Glykosurie: + ), 29. IV. desgleichen (Glykosurie: -f-),
30. IV. orientiert (Glykosurie: + ?)> 1* V.—3. V. Glykosurie: weiterhin
(4. V.—11. V.) Glykosurie: —.
Res.: Am 1. (4. Deliriums-) Tage enthalt der Urin keinen Zucker,
am folgenden (letzten Deliriumstage) und am Krisis-Tage ist er nicht unter¬
sucht worden; an den 6 auf die Krisis folgenden Tagen besteht Glykosurie,
weiterhin nicht mehr.
3 b. Wiederaufgenommen am 11. II. 1901 im Prodromalstadium.
Beginn des Delirs am 13. II. abends. Deliriert am 14. II. (kein Urin), 15. II.
(Glykosurie: —) und 16. II. (Glykosurie: —); am 17. II. Krisis (Glykosurie:
+ )• Am 18. H. Glykosurie: —.
Res.: An den 2 Tagen des Prodromalstadiums und den beiden ersten
Tagen des Deliriums wurde der Urin nicht untersucht; an den beiden letzten
Tagen des Deliriums enthielt er keinen Zucker, wohl aber am Krisis tage,
am Tage darauf nicht mehr.
4. D., am 7. V. 1899 delirierend aufgenommen; ist am Tage zuvor er-
krankt (Glykosurie: —); 8. V. deliriert (Glykosurie: —), 9. V. desgleichen,
doch orientiert (Glykosurie: + ), 10. V. ruhig und orientiert (Glykosurie: -f- ?),
11. V. abends Delirium (Glykosurie: +), 12. V. Delir. (Glyk.: +), 13. V.
Delir. (kein Urin), 14. V. Delir. (Glykosurie: —), 15. V. Krisis (Glykosurie:
+ ?), 16. V.—20. V. Glykosurie: —.
Res.: An den ersten beiden Tagen enthalt der Urin keinen Zucker,
am 3. und 4. besteht unter Riickgang des Deliriums Glykosurie, ebenso,
nachdem das Delirium erneut eingesetzt hat, am 5. und 6.; am 7. kein Urin
untersucht, am 8. kein Zucker; am Krisistage ist Glykosurie zweifelhaft,
an den 5 folgenden ist sie nicht vorhanden.
5. F., am 10. V. 1899 delirierend aufgenommen. 11. V. deliriert
(Glykosurie: —). 12. V. deliriert (Glykosurie: —). 13. V. Xachlass der Un-
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Arndt, Ueber dio Glykosurie dor Alkoholdoliranton.
233
ruhe, orientiert (Glykosurie: —), 14. V. vollig ruhig, hat gut geschlafen
(Glykosurie: +); Glykosurie: 15. V. —, 16. V. + 18. V.: —, 19. V.: —.
Res.: Am 2.—4. Tage enthiilt der Urin keinen Zucker, wohl aber am
5. (dem Tage der Krisis); an den folgenden Tagen keine Glykosurie mehr.
6. E. H., am 20. V. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er an
den beiden vorhertrehenden Tagen 3 Krampfanfalle gehabt hatte; 21. V.
deliriert, 22. V. deliriert, aber viol ruhiger (Glykosurie: +)> 2*1. V. desorien-
tiert, Tiervisionen, ruhiger (Glykosurie: -[■*)• 24. V. orientiert, ruhig (Gly¬
kosurie: —), 25. V. Glykosurie: —.
Res.: An den beiden ersten Tagen ist der Urin nicht untersucht worden,
am 3. und 4 enthielt er Zucker; an diesen beiden Tagen war das Delirium
ohne typische Ivrise im Abklingen; weiterhin war Pat. klar und zeigte
keine Glykosurie mehr.
7. F. K., am 24. V. 1899, naehdem er bereits'3 Tage deliriert" hatte,
aufgenommen, deliriert; 25. V. orientiert. ruhig, aber Tremor und Visionen
(Glykosurie: —); 26. V. hat nach 1.0 Trional gut geschlafen. Tremor geringer
(Glykosurie: -f-), 27. V. Wohlbefinden (Glykosurie: —), 28. V. Glykosurie: —.
Res.: Am 1. Tage (dem 4. des Deliriums) Urin nicht untersucht, am
2. (abklingendes Delirium) enthalt er keinen Zucker, wohl aber am 3. (nach
dem Schlaf), an den folgenden nicht mehr. e c- , k %
8. F. G.. am 27. V. 1899, nachdem er angeblich bereits 4 Tage deli¬
riert hatte, delirierend aufgenommen (Glykosurie: + ); deliriert am 28. V.
(Urin nicht untersucht); am 29. V. Schlaf, doch noch starker Tremor und
Desorientiertheit (Glykosurie: +), 30. V. ruhiger, Tremor geringer, mangel-
haft orientiert (Glykosurie: + ), 31. V. orientiert, Wohlbefinden (Glykosurie:
+ )> 1. VI. Glykosurie: —.
Res.: Am 1. Tage (den 5. [?] des Delirs) enthalt der Urin Zucker
am 2. wurde er nicht untersucht; am 3. und 4. (wahrend des allm&hlichen
Abklingens des Delirs) ist er wieder zuckerhaltig, ebenso am folgenden
(nachdem das Delirium vollig verschwunden), weiterhin nicht mehr.
9. M., am 23. VI. 1899, nachdem er nachts zuvor erkrankt war, zur
Anstalt: Sinnestauschungen, Wahnideen, Tremor, ist aber orientiert (Gly¬
kosurie: —); 24. 6. deliriert (Glykosurie: +), 25. VI. deliriert (geringe Gly¬
kosurie), 26. VI. desgl. (Glykosurie: + *)> 27. VI. desgl. (Glykosurie: +),
28. VI. desgl. (Glykosurie: —), 29. VI. ruhiger (Glykosurie: —). Halt noch
einige Tage an Wahnideen sexuellen Inhalts fest.
Res.: Am 1. Tage kein Zucker im Urin, wohl aber am 2.—5. in wech-
selnder Starke, nicht mehr am 6. (letzten) Tage des Deliriums, ebenso wenig
am folgenden.
10. P., am 11. IX. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er bereits
2 Tage lang in einem Krankenhause behandelt worden war (Glykosurie: -f-).
12. IX. deliriert (Glykosurie: -{-), hatte abends 1,6 Trional erhalten; 13. IX.
deliriert (Glykosurie: —); 14. IX. Schlaf, orientiert (Glykosurie: +); 16. IX.
und 16. IX. Glykosurie: —.
Res.: Am 1. Tage (dem 3. des Delirs?) enthalt der Urin Zucker,
ebenso am 2., am 3. (letzten) nicht, dagegen wieder am Tage der Krisis
und dann nicht mehr.
11. T. Sch., am 7. X. 1899 delirierend aufgenommen (kein Urin unter-
sucht); 8. X. deliriert (Urin nicht untersucht), 9. X. schlaft (Glykosurie: +),
10. X. noch ungenau orientiert (Glykosurie: +)> H- X.—13. X. Gly¬
kosurie: —.
Res.: An den beiden ersten Tagen (den letzten des Deliriums) konnte
der Urin nicht untersucht werden, an den beiden folgenden (wahrend und
nach der Krisis) enthielt er Zucker, weiterhin nicht mehr.
12. H., am 16. X. 1899 aufgenommen, macht in den nachsten Tagen
cin Delirium durch, wahrend dessen er an einem Tage (18. X.) Zucker im
Urin hatte; an alien ubrigen (16. X., 17. X. und 19. X.—22. X.) enthalt
dor Urin keinen Zucker. Die genaueren klinischen Notizen iiber diesen Fall
stohen mir leider nicht zur Verfiigung; es ist vor ullem unbestimmt, wie
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234 Arndt, Uebor die Glykosurie dor Alkoholdeliranten.
lange das Delirium dauerte und an welchem Tage desselben die Glykosurie
bestand.
13. O. B., am 21. X. 1899 aufgenommen, nachdem er am Tage zuvor
erkrankt war; ist ruhig, fangt naehts an zu delirieren (Urin ist nicht unter-
sucht); 22. X. deliriert (Urin nicht untersucht); 23. X. deliriert (Glykosurie:
+ ?); 24. X. Delirium im Abklingen (Glykosurie: +); 25. X. hat geschlafen,
ist unruhig und orientiert (Glykosurie: -f- ?); 26. X. Glykosurie: -f- gering.
Res . : An den beiden ersten Deliriumtagen ist der Urin nicht unter¬
sucht worden, am 3. (letzten Delirium-)Tage enthielt er Zucker, ebenso am
4. (Delirium ist im Abklingen), 5. und 6. (den beiden ersten Tagen nach der
Krisis).
14. A. H., am 25. X. 1899 delirierend aufgenommen, hat hohes Fieber,
rechtsseitige Pneumonie (Glykosurie: —); 26. X. deliriert, hohes Fieber,
(Glykosurie: +); 27. X. desgl., etwas ruhiger (Glykosurie: —); 28. X. desgl.
(Glykosurie: —). 29. X. vdllig verwirrt, hohes Fieber (Glykosurie: —);
30. X. desgl. (Glykosurie: —); 31. X. desgl.; 1. XI. frtih Exitus.
Res. : Am 1. (wievielten des Deliriums ?) Tage enthalt der Urin keinen
Zucker, dagegeu am 2., weiterhin 4 Tage nicht mehr; der Fall ist durch
Pneumonie kompliziert und flihrt am 8. Tage zum Exitus.
15. F. E., am 26. X. 1899 delirierend aufgenommen, nachdem er bereits
am Tage zuvor in einem Krankenhause deliriert hatte; 27. X. deliriert
(Glykosurie: —); 28. X. desgl. (Glykosurie:—); 29. X. Krisis (Glykosurie:—):
30. X. orientiert, noch leichter Tremor (Glykosurie: 31. X. und 1. XI.
Glykosurie: —.
Res . : Am 1. Tage Urin nicht untersucht, am 2. und 3., sowie am
Krisis-Tage enthalt er keinen Zucker, dagegen am folgenden (dem Tage nach
der Krisis); spaterhin nicht mehr.
16. H. O., am 28. X. 1899 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —);
29. X. deliriert (Glykosurie: —); 30. X. desgl. (Glykosurie: 31. X. ruhig.
Urin nicht weiter untersucht.
Es ist moglioh. dass es sich in diesem Falle um eine Paralyse, kom¬
pliziert durch Alkoholismus (seit 8 Jahren in grossem Masse) handelt; jeden-
falls ist das Delirium fraglos als alkohologenes zu betrachten.
Res . : Am 1. und 2. Deliriumstage enthalt der Urin keinen Zucker.
wohl aber am 3. (letzten); spater ist er nicht mehr untersucht worden.
17 a. H. M.. 43 Jahre alt, Hutarbeiter; Vater an ^Gehirnerweichung* 4
gestorben, sonst erblich nicht belastet. Klein, starke Kyphoskoliose, leidlich
gut genahrt. Arteriosklerose, Leberschwellung, sonst korperlich keine Ab-
weichungen von der Xorm. Potus seit 1890 fiir 15—30 Pfennig Schnaps und
ca. 10 Flaschen Bier taglich. Keine Kopfverletzungen oder Krankheiten
durchgemacht. Keine Krampfe mid Schwindelanfalle. Delirium 1896, 1898
und Marz 1899. Hat bis zum 11. XL 1899 gearbeitet, erkrankte daim mil
Gehors- und Gesichtstauschungoii. Ain 14. XI. 1899 vvieder aufgenommen.
Ist orientiert, starker allgemeiner Tremor, Yisionon bei Druck auf die Bulbi.
(Glykosurie: 15. XI. deliriert (Glykosurie: -(-); 16. XI. deliriert (Gly¬
kosurie: -f-); 17. XL deliriert (Urin nicht untersucht); 18. XI. schlaft, de¬
liriert aber abends wieder (Glykosurie: 4-); 19. XL Tremor universalis,
zeitlieli nicht orientiert, ruhiger, keine Yisionon mehr (Glykosurie: -(-);
20. XL gut geschlafen, keine Yisionen (Glykosurie: -f-); 21. XI. nur noch ge-
ringer Tremor, vdllig orientiert, etc. (Glykosurie: -(-). Befindet sich weiter¬
hin vdllig wohl. ist aber leicht erregbar, zeigt starkes Hunger- und Durst-
gefiihl. Der Urin enthielt noch bis zum 24. XL Zucker in geringer Menge.
claim (untersucht bis zum 3. XII.) nicht mehr.
Res. : Der Urin enthalt wahrend des ganzen Deliriums (4 Tage, ausser-
dem 1 Tag nicht untersucht), am Krisistage, sowie noch 5 Tage nachher in
abnehmender Menge Zucker.
17 b. VViederaufgenornmen am 28. IV. 1900, nachdem er erst vor ca.
6 Wochen entlassen worden war. Hat wieder stark getrunken gehabt. Sehr
starker allgemeiner Tremor, mangelhaft orientiert, keine Sinnestauschungen
(Glykosurie: -f-); 29. IV. desgl. (Glykosurie: —); 30. IV. deliriert (Gly-
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 235
kosurie: + ); 1-V. war nachts sehr unruhig, zittert sehr stark, ist aber orien-
tiert (Glykosurie: -f- ?); 2. V. war nachts sehr unruhig, schlaft am Tage
(Glykosurie:+); 3. V. ausser Bett (Glykosurie:-f-); V.—0. V. Gly¬
kosurie : —.
Res.: Am 1. Tage (Prodromalstadium) enthalt der Urin Zucker, am
2. (desgl.) nicht, am folgenden (Deliriumstage) ist er wieder zuckerhaltig,
ebenso an den beiden nachsten Tagen des bereits abklingenden Delirs
und dem Tage darauf, dann nicht mehr.
17 C. Wiederaufgenommen am 15. XI. 1900, nachdem er 4% Monate
ausserhalb der Anstalt gewesen war: Hat seit 4 Tagen nicht geschlafen,
Visionen gehabt, nicht arbeiten konnen. Ist orientiert, Tremor. (Glykosurie:
16. XI. desgl. (Glykosurie: -f- ?); 17. XI. nicht geschlafen, keine Sinnes-
tauschungen, Tremor (Urin nicht untersucht); 18. XI. gut geschlafen, Wohl-
befinden (Glykosurie: +}. Der Urin enthalt noch bis zum 24. XI. Spuren
von Zucker.
Res. : In diesem Anfalle von Abortivdelirium enthielt der Urin an
den beiden ersten Tagen Zucker, am 3. ist er nicht untersucht worden, und
dann bestand noch 7 Tage lang, wahrend welcher die deliriosen Symptorne
bereits verschwunden waren, Glykosurie.
17 d. Wieder aufgenommen am 15. II. 1901. Seit 5 Tagen bestehen
Schlaflosigkeit und Visionen; ist ruhig, orientiert, Tremor (Glykosurie: —);
16. II. desgl., nicht geschlafen, viele Visionen gehabt (Glykosurie:
17. II. deliriert (Glykosurie: -f - ); 18. II. deliriert (Glykosurie: +); 19. II.
deliriert (Glykosurie: + ); 20. II. ruhiger, beginnende Orientierung (Gly¬
kosurie : -j-); 21. II. Krisis Glykosurie: -f-); 22. II. und 23. II. Glykosurie: +;
24. II.—26. II. Glykosurie: —.
Res. : Am 1. Tage, (dem 5. dee Prodromalstadiums) besteht keine
Glykosurie, dagegen enthalt der Urin am 2. (6. des Prodromalstadiums),
w&hrend der 4 folgenden Delirientage, am Tage der Krisis und noch 2 Tage
nach derselben Zucker, dann nicht mehr.
18. P. P., am 17. XII. 1899 delirierend aufgenommen; hat am 15. XII
3 Krampfanfalle gehabt, am 16. XII. in einem Krankenhause zu delirieren
begonnen. 18. XII. deliriert (Glykosurie: -f-), 19. XII. deliriert, aber
ruhiger (Glykosurie: -f~ *); 20. XII. Krisis (Glykosurie: —).
Res.: An den ersten beiden Delirientagen ist der Urin nicht unter¬
sucht worden, an den beiden folgenden (letzten) enthalt er Zucker, am
Krisistage nicht mehr.
19. F. W., hat am 21. XII. 1899 einen Bruch des linken Unterschenkels
erlitten, kam in ein Krankenhaus, fing dort an zu delirieren, wurde am
23. XII. delirierend in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: +), starb am
Nachmittage des folgenden Tc^es im Collaps.
Res.: Am 1. (dem 3. Delirium-) Tage onthielt der Urin Zucker, am fol¬
genden starb der Kranke; Urin nicht mehr untersucht.
20. A. G., am 21. XII. 1899 Rippenbruch, katarrhal. Lungen-
entziindung, am 23. XII. in ein Krankenhaus, am 24. XII. beginnendes
Delirium, am 26. XII. in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: —); 27. XII.
ruhiger, desorientiert. Tremor (Urin nicht untersucht); 28. XII. ruhig, des-
orientiert, erhohte Temperatur (Glykosurie: —); 29. XII. deliriert (Gly¬
kosurie: —), 30. XII. deliriert (Glykosurie: —), 31. XII. nachts sehr unruhig,
schlaft am Tage (Glykosurie: —); 1. I. hat geschlafen, ruhig, nicht ganz
orientiert (Glykosurie: +), 2. I.—4. I. 1900 Glykosurie: —.
Res. : Von 5 beobachteten Delirium-Tagen (2 waren bereits voraus-
gegangen) enthielt der Urin an vier keinen Zucker, am 1. wurde er nicht
untersucht; auch wahrend der beiden Krisistage bestand beine Glykosurie,
sondem nur am Tage nach der Krisis war sie vorhanden, um dann wieder
zu verschwinden.
21. F. B., 40 Jahre alt, Bauerngutsbesitzer, gut genahrt, starker
Potus (bis zu 3 Litem Kombranntwein taglich), hat im Januar 1899 ein
Delirium durchgemacht, fing am 28. XII. 1899 wieder an zu delirieren und
Monataschrlft ftlr Psychiatric and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 3. 16
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236 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
wrirde am 29. XII. delirierend in die Anstalt aufgenommen (Glykosurie: —);
30. XII. deliriert (Glykosurie: —); 31. XII. deliriert (Glykosurie: —);
1. I. 1900 ruhiger, leidlich orientiert (Glykosurie: +); 2. I. hat geschlafen,
ist ruhig und vollig orientiert (Glykosurie: +). Die Glykosurie bestand noch
weiter bis zum 6. I., an welchem Tage der Kranke entlassen wurde, und zwar
in einer Starke von 0,8—1,7 pCt. Es war starkes Hungergefiihl, aber kein
vermehrter Durst vorhanden; volliges Wohlbefinden.
Res . : Am 2.—4. Deliriumtage enthalt der Urin keinen Zucker; da-
gegen bestand Glykosurie am 5. Tage (Krisis), sowie noch wahrend aller
5 weiteren Beobachtungstage, und zwar in einem solchen Grade, dass man
an Diabetes denken musste, zumal der Kranke nieht weiter beobachtet und,
wie in alien iibrigen Fallen, das Verschwinden der Glykosurie konstatiert
werden konnte. Doch spricht gegen das Vorliegen eines Diabetes vor allem
wohl die Tatsache, dass wahrend der ersten 3 Tage des Deliriums keine Gly¬
kosurie bestand.
22* P. W., am 3. IV. 1900 aufgenommen, nachdem er seit dem 1. IV.
in einem Krankenhause gewesen war und dort deliriert hatte; deliriert
(Glykosurie: + ?); 4. IV. deliriert (Glykosurie: —); 5. TV. deliriert (Gly¬
kosurie: —); 6. IV. deliriert, croupose Pneumonie (Glykosurie: + ?); 7. IV.
hohe Temperatur, ruhiger, orientiert (Glykosurie: +)? 8. IV. hohe Tem-
peratur, vollig orientiert (Glykosurie: +); 9. IV. hohe Temperatur, vollig
orientiert (Glykosurie: 10. IV.—12. IV. neues Delirium, dauernd hohe
Temperatur (Pneumonie), 13. IV. Delirium im Schwinden; 14. IV. Krisis der
Pneumonie, ist vollig orientiert (Glykosurie vom 10. IV.—14. IV.: —).
Res .: Am 1. Tage (3. des Deliriums ?) enthalt der Urin vielleicht etwas
Zucker, am 2. und 3. nieht, am 4. vielleicht; am folgenden (dem Tage der
Krisis) und den beiden Tagen darauf besteht Glykosurie, die dann wieder
verschwindet, wahrend ein neues Delirium von dreitagiger Dauer auftritt
und zugleich mit einer seit der Krisis des ersten Deliriums bestehenden
crouposen Pneumonie kritisch endet; wahrend der Dauer dieses zweiten De¬
liriums und auch nach Ablauf desselben enthielt der Urin keinen Zucker.
23. F. M., am 7. V. 1900 delirierend aufgenommen, nachdem er seit
dem 4. V. in einem Krankenhause gewesen war, dort am 4. V. und 5. V.
Krampfanfalle gehabt und am 7. V. begonnen hatte zu delirieren (Glykosurie:
—); 8. V. desorientiert, schwitzt, angstlich, zittert, Visionen (Glykosurie: —);
9. V. mangelhaft orientiert, leicht benommen, Visionen (Glykosurie: -{-);
10. V. ruhig (Glykosurie: +); 11. V. heiter, mangelhaft orientiert (Gly¬
kosurie: 12. V. desgl. (Glykosurie: -f); 13. V. desgl. (Glykosurie: + );
14. V. erst heute vollig orientiert etc. (Glykosurie: —); 15. V. —17. V.
Glykosurie: —.
Res.: Am 1. und 2. Tage des Deliriums enthalt der Urin keinen Zucker,
wohl aber am 3. (Delirium im Abnehmen), am folgenden (Krisis) und noch
3 weitere Tage, wahrend deren er zwar ruhig ist und keine Sinnestauschungen
hat, aber doch sehr heiter und mangelhaft orientiert ist, so dass es sich hier
wohl urn ein nochmaliges Aufflackern des Deliriums, wenn auch nur in
abortiver Form, handelt; erst am 8. Tage ist er vollig orientiert, und von da
an ist der Urin zuckerfrei.
24. F. O., am 5. VII. 1900 delirierend aufgenommen, nachdem er seit
dem 3. VII. in einem Krankenhause gewesen war und dort am 5. VII. an-
gefangen hatte zu delirieren (Glykosurie: —); 6. VII. deliriert (Glykosurie:
—); 7. VII. deliriert (Glykosurie: —); 8. VII. Krisis (Glykosurie: —); 9. VII.
ruhig, orientiert (Glykosurie: -f); 10. VII. und 11. VII. Glykosurie: —.
Res . : An alien drei Tagen des Deliriums und am Tage der Krisis
enthalt der Urin keinen Zucker; nur am Tage nach der Krisis besteht Gly¬
kosurie, die dann wieder verschwindet.
25. O. F., am 5. VIII. 1900 delirierend aufgenommen (Glykosurie: +);
war am 1. VIII. vom Wagen gefallen, Kopfwunde, vom 3. VIII.—5. VIII.
in einem Krankenhause, begann dort zu delirieren; 0. VIII. deliriert (Gly¬
kosurie: —); 7. VIII. schliift am Tage (Glykosurie: -f-); 8. VIII. ruhig,
orientiert (Glykosurie: -(-); 9. VIII. Glykosurie: —.
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Arndt, Ueber die Giykosnrie der Alkoholdeliranten. 237
Res. : Am 1. Tage des Deliriums enthalt der Urin Zucker ,~am 2. nicht;
am 3. (Krisis) und am Tage darauf besteht wieder Glykosurie, die dann ver-
schwindet.
26. A. G. t am 20. VIII. 1900 aufgenommen; Krarapfanfall. 21. VIII.
mangelhaft orientiert, ruhig. Tremor universalis, deliriert naehts (Urin nicht
untersucht); 22. VIII. deliriert (Glykosurie: —); 23. VIII. deliriert (Gly-
koeurie: —); 24. VIII. ruhiger, mangelhaft orientiert (Glykosurie: +).
25. VIII. noch nicht ganz klar (Glykosurie: -f-); 26. VIII. geordnet (Gly¬
kosurie:—); 27. VIII. Urin nicht untersucht; vom 28. VIII. bis 4. IX.
enthielt der Urin (ausser am 2. IX.) noch Zucker, dann nicht mehr (5. IX.
bis 7. IX.)
Res.: An den ersten beiden Tagen (Prodromalstedium) ist der Urin nicht
untersucht worden, an den beiden Delirium-Tagenenthielt er keinen Zucker;
an den beiden Tagen des abklingenden Deliriums bestand Glykosurie, die
dann einen Tag verschwand, um (am nachsten Tage wurde nieht untersucht)
noch acht Tage lang anzuhalten.
27. W. B., am 6. X. 1900 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —);
7. X. deliriert (Glykosurie: —); 8. X. desgl. (Glykosurie: —); 9. X. desgl.
(Glykosurie: + ); 10. X. ruhig, mangelhaft orientiert, Tremor (Glykosurie:
-f- ?); 11. X. geschlafen, ruhig (Glykosurie: —); 12. X. Glykosurie: —.
Res . ; An den ersten 3 Delirium tagen enthalt der Urin keinen Zucker,
wohl aber am 4. und spurenweise am 5., an welch* letzterem das Delir bereits
im Abklingen war; an den beiden folgenden Tagen keine Glykosurie mehr.
28. W. Sch., am 4. I. 1901 delirierend aufgenommen, nachdem er
zu Hause am 1. I. angefangen hatte zu delirieren und am 3. I. deswegen in
ein Krankenhaus aufgenommen worden war (Glykosurie: —(-); 5. I. deliriert
(Glykosurie: -|~); 6. 1. Krisis (Glykosurie: 7. I. ortlich noch ungenau
orientiert (Glykosurie: +); 8. I. nicht geschlafen, ortlich noch ungenau
orientiert (Glykosurie: -(-); 9. I. nicht geschlafen, aber jetzt vbllig orientiert
(Glykosurie: +); die Glykosurie dauerte noch weiter bis zum 15. I.; vom
16. I.—20. I. Glykosurie: —.
Res . : Wahrend der ganzen Zeit des beobachteten Deliriums (2 Tage
lang, wahrscheinlich 4. und 5. Tag des Deliriums), am Tage der Krisis und
noch 9 Tage nachher bestand Glykosurie; von den letzten 9 Tagen weisen
die ersten 3 noch deliriose Symptome (schlechten Schlaf, mangelhafte
Orientierung) auf.
29. H. F., am 21. III. 1901 delirierend aufgenommen (Glykosurie: —);
22. III. deliriert (Glykosurie: —); 23. III. deliriert (Glykosurie: -f-); 24. III.
ruhig, ungenau orientiert, Tremor (Glykosurie: + ?); 25. III. orientiert
(Glykosurie: -+-?).
Res. : An den ersten beiden Deliriumtagen enthielt der Urin keinen
Zucker, dagegen am dritten (letzten), sowie in geringen Mengen am Tage
der Krisis und am Tage darauf.
30. F. M., am 7. IV. 1901 aufgenommen, hat seit einigen Tagen Ge-
sichtstauschungen gehabt; 8. IV. ruhig, mangelhaft orientiert, kongestio-
niertes Gesicht, iingstlich (Glykosurie: 9. IV. ruhig, geschlafen, geringer
Tremor (Glykosurie: + ); 10. IV. ruhig, kongestioniertes Gesicht, Schweiss-
ausbruch (Glykosurie: -}-); 11. IV. Wohlbefinden (Glykosurie: —).
Res. : Das Delirium hat sich in der Hauptsache schon vor der Auf-
nahme in die Anstalt nbgcspielt, doch zeigt er noch 3 Tage lang lcichte
deliriose Erscheinungen (mangelhafte Orientierung, Sehweissausbruch,
kongestioniertes Gesicht, am ersten Tage auch Angst), und wahrend aller
drei Tage enthielt der Urin Zucker.
Ich muss zunachst darauf hinweisen, dass in 2 unter diesen
30 Fallen, namlich den Fallen 1 und 2, nicht, wie bei alien iibrigen,
durch die Anwendung der Gahrungsprobe der strikte Beweis dafiir
erbracht worden ist, dass es sich bei der im Urin nachgewiesenen
reduzierenden Substanz zweifellos um Zucker gebandelt hat. Indes:
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238 Arndt, Ueber die Glykoaurie der Alkoholdeliranten.
In beiden Fallen waren die Trommersche und N ylanderache Probe
in einem solchen Grade positiv, wie sie es eigentlich nur bei stark
zuokerhaltigem Urin zu sein pflegen; im Falle 2 zeigten sie wahrend
aller 4 Tage des Deliriums und am Tage der Krisis das Vorhanden-
sein grosser Mengen von reduzierender Substanz an, wahrend sie
nach der Krisis dauernd negativ waren. Ferner hatte dieser Kranke
(2) auch in einem friiheren Anfalle von Delirium potatorum
spontane (durch Gahrungsprobe erwiesene) Glykosurie gezeigt
und ist bereits in meiner ersten Arbeit iiber diesen Gegenstand
(s. Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. Bd. X. S. 441. Fall 26) ver-
wertet worden. Kurzum, ich habe geglaubt, auch diese beiden
Falle, trotz der fehlenden Gahrungsprobe, in die Gruppe derer
mit Glykosurie einreihen zu diirfen.
Ich will gleich hier bemerken, dass diese beiden Kranken, als
sie ein anderes Mai ohne deliriose Symptome, aber unter anderen
Folgeerscheinungen des chronischen Alkoholmissbrauches zur
Aufnahme gelangten, ebenfalls eine transitorische (durch die
Gahrungsprobe erhartete) Glykosurie zeigten.
An der Hand der im Vorstehenden gegebenen klinischen
Notizen iiber diese 30 Falle und auf Grand der jedem Falle bei-
gefiigten Zusammenfassung iiber die Dauer der Zuckerausscheidung
lasst sich nun ein Ueberblick iiber die zeitlichen Beziehungen
der Glykosurie zum Delirium geben. Es erscheint mir zweckmassig,
die Mitteilung und Besprechung meiner Ergebnisse an die von
Raimann gemachten Beobachtungen und Schlussfolgerangen an-
zukniipfen. Bei samtlichen Deliranten Raimanns nahm, wie oben
erwahnt, die Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand unmittelbar
nach dem kritischen Abschlusse des Deliriums ein, um von da
binnen wenig Tagen zu durchwegs hohen Werten anzusteigen.
Aber es war nicht etwa nur die Intensitat der Zuckerausscheidung
nach der Krisis am grossten, sondern in alien Fallen von Delirium
mit spontaner Glykosurie, die Raimann beobachtete, trat die Zucker¬
ausscheidung stets erst nach der Krisis auf; auf der Hohe der Er-
krankung sah er nie eine spontane Glykosurie, und er bezeichnete
dieselbe deshalb folgerichtig als „postdeliri6se“.
Unter meinen 30 Kranken befindet sich eine Anzahl, bei denen
wie in Raimanns Fallen die Zuckerausscheidung erst nach der
Krisis des Deliriums auftrat. Bei der Mehrzahl meiner Falle da-
gegen bestand die Glykosurie bereits wahrend des Deliriums selbst.
Ich habe nun aus den Fallen der letzten Kategorie aus dem weiter
unten erorterten Grimde noch diejenigen ausgesondert, in denen eine
Zuckerausscheidung nur am Ende des Deliriums, d. i. also nur am
letzten Tage oder auch nur an den beiden letzten Tagen des De¬
liriums, beobachtet wurde, und konnte so die 30 Falle zunachst in
3 Grappen einteilen:
1. Falle, in denen die Glykosurie erst nach der Krisis des
Deliriums auftrat. Hierher gehoren die Falle 3 (a und b), 5, 7, 11,
15, 20, 21, 22, 24 = 9 Falle;
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Arndt, Ueber die GlykoBurie der Alkoholdeliranten. 239
2. Falle, in denen die Glykosurie wahrend des Deliriums, aber
nur am Ende desselben, d. i. am letzten Tage oder an den beiden
letzten Tagen, auftrat. Hierber gehoren die Falle 6, 13, 16, 18,
23, 26, 27, 29, 30 = 9 Falle;
3. Falle, in denen die Glykosurie wahrend des Deliriums,
und zwar schon betrachtliche Zeit vor dem Ende desselben, auf¬
trat. Hierher gehoren die Falle 1, 2, 4, 8, 9, 10, 14, 17 (a, b und d),
19, 25, 28 = 11 Falle.
4. Der Fall 12 muss hier ausser Betracht bleiben, da nicht sicher
feststeht, an welchem Tage des Deliriums die Glykosurie bestanden
hat.
Bei 5 von den 9 Fallen der ersten Gruppe, namlich den Fallen
5, 15, 20, 21 und 24, war die Glykosurie sicher nur eine postdeliriose,
da wahrend des Deliriums keine Zuckerausscheidung stattfand;
im Falle 22 sind am ersten und vierten (letzten) beobachteten De-
liriumstage vielleicht Spuren von Zucker im Urin gewesen, doch
waren sie so gering, dass man sie wohl ausser Betracht lassen und
den Fall wegen seiner postdeliriosen Glykosurie in diese Gruppe
rechnen kann. Endlich ist in den Fallen 3 (und zwar in den beiden
Delirium-Anfallen dieses Mannes), 7 und 11 zwar auch nur eine
Zuckerausscheidung nach dem kritischen Abfall des Deliriums
beobachtet worden, doch darf nicht ausser Acht gelassen werden,
dass wahrend eines mehr oder minder grossen Teils des Deliriums
der Urin nicht untersucht worden ist, also immerhin Zucker ent-
halten haben kann. Mit dieser Einschrankung bilden aber die Falle
dieser Gruppe eine vollkommene Bestatigung der Raimann schen
postdeliriosen Glykosurie.
In den 9 Fallen der zweiten und den 11 Fallen der dritten
Gruppe trat die Glykosurie bereits wahrend des Deliriums auf.
Der Zeitpunkt des Beginns der Zuckerausscheidung war ein recht
verechiedener; in manchen Fallen wurde nur am letzten Tage,
in anderen an den beiden letzten, in anderen schon an den ersten
Tagen des Deliriums Zucker im Urin konstatiert. Ich habe nun,
wie gesagt, diejenigen 9 Falle, in denen die Glykosurie nur am
letzten Tage oder nur an den beiden letzten Tagen des Deliriums
beobachtet wurde, zu einer besonderen Gruppe vereinigt. Doch ist
der Unterschied zwischen diesen Fallen und den iibrigen, in der
Gruppe III zusammengefassten, nur ein kUnstlich und willkiir-
lich geschaffener. Ich habe diese Trennung, die iibrigens nicht
einmal ganz strong durchgefiihrt ist, aus folgendem Grunde vor-
genommen. In 4 Fallen der zweiten Gruppe, namlich den Fallen 6,
13, 23 und 26, befanden sich die deliriosen Erscheinungen an den
Tagen, an welchen die Glykosurie auftrat, bereits im Abklingen.
Es handelte sich in diesen Fallen nicht um das gewohnlichere
kritische, sondern um ein mehr allmahliches Aufhoren des De¬
liriums. Zwar war dieses zur Zeit, als die Zuckerausscheidung ein-
setzte, sicher noch vorhanden, und die Glykosurie ist demnach
fraglos als eine „deliri6se“ zu bezeichnen, doch konnte man immer¬
hin daran denken, dass das langsame Abklingen des Deliriums in
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240 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
diesen Fallen der typischen Krisis der meisten anderen Falle
analog und mithin auch die wahrend dieses allmahlichen Abklingens
beobachtete Glykosurie der postdeliriosen gleichzusetzen ware.
Hierher gehort auch wohl der Fall 30, bei welchem das Delirium,
sich anscheinend in der Hauptsache schon vor der Aufnahme in
die Anstalt abgespielt hatte, wahrend der Kranke in der Anstalt
noch drei Tage lang unter leichten deliriosen Erscheinungen Zucker
ausschied; ich fasste den Fall als abklingendes Delirium auf und
reihe ihn deshalb den soeben besprochenen 4 Fallen an. Es liegt
also immerhin die Moglichkeit vor, die bei diesen 5 Fallen der
Gruppe II beobachtete Glykosurie als eine der postdeliriosen
analoge anzusehen. Die anderen 4 Falle dieser Gruppe (No. 16, 18,
27,29) habe ich aber nur aus dem rein ausseren Grunde in dieselbe
eingereiht, weil auch bei ihnen die Glykosurie nur am letzten Tage
bezw. an den beiden letzten Tagen des Deliriums beobachtet wurde.
Das Delirium endete in diesen Fallen kritisch, die Glykosurie ist
zweifellos als eine echte „deliri6se“ zu bezeichnen, und die Falle
sind eigentlich besser der Gruppe III zuzurechnen. Die Falle der
Gruppe II bilden gewissermassen einen Uebergang zwischen denen
der Gruppen I und III. Die Zuckerausscheidung beginnt wahrend
des Deliriums, aber nur am Ende desselben, mehr oder weniger
unmittelbar vor der Krisis, in einigen Fallen im schon abklingenden,
lytisch endigenden Delirium. Zu erwahnen ist noch, dass bei 3 von
den 9 Fallen der zweiten Gruppe, namlich den Fallen 6, 13 und 18,
der Urin in der ersten Zeit des Deliriums nicht untersucht worden
ist, so dass immerhin die Moglichkeit besteht, dass er auch schon
in dieser Zeit, also nicht nur am Ende des Deliriums, Zucker ent-
halten hat.
Ich komme schliesslich zu den 11 Fallen der dritten Gruppe,
bei denen die Glykosurie schon so betrachtliche Zeit vor dem Ende
des Deliriums, in der Regel schon vor den beiden letzten Tagen
desselben, auftrat, dass es vollig ausgeschlossen ist, sie etwa
als eine Erscheinung des schwindenden Deliriums aufzufassen.
Im Falle 1 enthielt der Urin am 3. Tage vor der Krisis Zucker,
wahrend er an alien iibrigen nicht untersucht worden war; im
Falle 8 enthielt er am ersten Tage Zucker, am zweiten ist er nicht
untersucht worden, an den beiden folgenden des abklingenden
Delirs war wieder Zucker vorhanden; im Falle 14 (mit Pneumonic
kompliziert) bestand am 2. Tage Glykosurie, dann 4 Tage nicht
mehr; der Kranke 19 hatte am 3. Deliriumtage Glykosurie und
starb am folgenden; im Falle 25 fand sich am ersten Tage Zucker,
am folgenden nicht mehr, am Krisistage erschien er wieder. Inter-
essant ist Fall 4. Wahrend an den ersten beiden Deliriumtagen
keine Glykosurie bestand, konstatierte man sie am 3. und 4. Tage
unter allmahlichem Abklingen und am 5. und 6. Tage unter er-
neutem Einsetzen des Deliriums. Man konnte hier, wenn man
etwa der Anschauung Raimanns gerecht werden wollte, die Gly¬
kosurie des 5. und 6. Tages auch als eine postdeliriose Fortsetzung
einer im abklingenden Delirium (am 3. und 4. Tage) aufgetretenen
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Aikoholdeliranten.
241
Glykosurie auffassen, die nur zufallig mit dem erneuten Einsetzen
des Deliriums zusammenfallt, aber im iibrigen der postdeliriosen
Glykosurie gleichzusetzen ist; doch ware diese Annahme recht ge-
zwungen, und es ist wohl viel plausibler, die Zuckerausscheidung
des 5. und 6. Tages als eine „deliriose“ anzusehen. Endlich konnte
in den 5 Fallen No. 2, 9, 10, 17 und 28 an alien oder fast alien
beobachteten Deliriumtagen Zucker im Urin nachgewiesen werden,
namlich im Falle 2 an samtlichen 4 Tagen und am Krisistage, im
Falle 9 am 2. bis 5. Tage, wahrend am 1. und 6. (letzten) keine
Glykosurie bestand, im Falle 10 an den beiden ersten und am
4. (Krisis-) Tage, wahrend am 3. (letzten Deliriumtage) keine
Glykosurie vorhanden war. Im Falle 17 bestand in 3 Delirium-
Anfalien und 1 Abortivdelirium dieses Mannes wahrend der ganzen
Dauer der Delirien Glykosurie, und im Falle 28 schliesslich wurde
eine Zuckerausscheidung wahrend der beiden letzten Tage des
Deliriums, am Tage der Krisis und an den darauffolgenden Tagen
beobachtet.
Falle, wie die 5 zuletzt erwahnten, aber auch die meisten
anderen Falle der Gruppen II und III beweisen jedenfalls zur
Geniige, dass die Delirantenglykosurie nicht nur, wie Raimann
es beobachten konnte, eine postdeliriose ist, sondern dass in einer
grossen Zahl von Fallen die spontane Glykosurie bereits wahrend
des Deliriums auftritt, und zwar nicht nur am Ende desselben, im
abklingenden Delirium, sondern oft schon vom Beginn an. Von
meinen 30Fallen zeigten rund je ein Drittel postdeliriose Glykosurie,
Glykosurie am Ende und Glykosurie wahrend des Verlaufes des
Deliriums. Es erhebt sich nun die Frage: Lassen sich diese von
mir gemachten Befunde in Einklang bringen mit der von Raimann
aufgestellten Behauptung, dass bei den Deliranten die Assimilations-
grenze ihren tiefsten Stand erreiche unmittelbar nach dem kritischen
Abschlusse des Deliriums ? Meine 9 Falle der ersten Gruppe mit
postdelirioser spontaner Glykosurie sprechen ohne weiteres fiir die
Richtigkeit dieses Satzes. Von den 20 Fallen der Gruppen II und III
konnen ebenfalls einige mit spontaner Glykosurie im abklingenden
Delirium in diesem Sinne aufgefasst werden. Von alien iibrigen
Fallen mit spontaner Glykosurie wahrend des Deliriums miisste
aber zu erweisen sein, dass diese Zuckerausscheidung auch nach
der Krisis noch bestanden habe und womoglich noch starker ge-
wesen sei als wahrend des Deliriums. Denn wenn die Assimilations-
grenze schon im Delirium einen so niedrigen Stand hatte, dass es zu
spontaner Zuckerausscheidung gekommen war, so musste letzteres
gewiss der Fall sein, wenn sie nach der Krisis den tiefsten Stand
einnahm. Wenn wir nun die Falle der Gruppen II und III daraufhin
durchmustern, ob bei ihnen die Zuckerausscheidung bis in die
Zeit nach der Krisis hineinreichte, so ergibt sich Folgendes: Von
diesen 20 Fallen mit spontaner Zuckerausscheidung im Delirium
war bei 3 (No. 1, 16, 19) der Urin nach der Krisis nicht untersucht
worden. Fall 4, in dem das Delirium nach voriibergehendem Ab-
klingen erneut zum Ausbruch kam,bleibt hier besser ausserBetracht,
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242
Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
ebenso Fall 14, der durch Pneumonie kompliziert war and, ohne dass
vorher eine eigentliche Krisis des Deliriums gewesen ware, am
8. Tage zum Exitus fiihrte. Von den iibrigen 15 Fallen war nur bei
2 nach der Krisis kein Zucker im Urin gefunden worden. Es sind
dies die Falle 9 und 18. Im Falle 9 enthielt der Urin am 2.—5. Tage
des Deliriums Zucker in wechselnder Starke, nicht mehr aber am
€. (letzten) und am folgenden Tage. Im Falle 18 war an den beiden
letzten Deliriumtagen Glykosurie vorhanden, am Krisistage aber
nicht mehr. Die iibrigen 13 Falle zeigten dagegen samtlich auch
nach der Krisis eine mehr oder minder langdauernde Glykosurie.
Ich mache auf die Falle 10 und 25 aufmerksam, in denen eine am
drittletzten und vorletzten bezw. am vorletzten Tage beobachtete
Glykosurie am letzten Tage des Deliriums verschwand, um am
Krisistage wiederzuerscheinen. In den iibrigen Fallen dauerte die
Zuckerausscheidung vom Beginn ihres Auftretens im Delirium
bis zum Krisistage oder iiber ihn hinaus kontinuierlich an.
Wie verhalten sich nun diese Falle im Hinbhck auf das andere
Postulat, dass namlich die Glykosurie nach der Krisis intensiver
gewesen sei als vor derselben? Leider bin ich nicht in der Lage,
diese Frage auf Grand meines Materials in einwandfreier Weise
zu entscheiden. Von den in Betracht kommenden, nur 13, Fallen
der Gruppen II und III sind die meisten ungeeignet: In einigen
setzte die Glykosurie erst im bereits abklingenden Delirium ein,
und eine eigentliche Krisis war gar nicht vorhanden. In anderen
war entweder vor oder nach der Krisis eine polarimetrische Unter-
suchung nicht gemacht worden; in 2 von diesen Fallen war bei der
vor der Krisis angestellten Gahrungsprobe der ganze Urin vergoren,
in und nach der Krisis aber nur ein Teil des Urins, so dass immerhin
eine grosse Wahrscheinlichkeit dafiir spricht, dass der Urin vor
der Krisis einen starkeren Zuckergehalt hatte. Im Fall 23 enthielt
der Urin an 2 Deliriumtagen keinen Zucker, am dritten (letzten)
Tage 0,2 pCt. in 1310 ccm = 2,62 g, am Krisistage 0,3 pCt. in
1310 ccm = 3,93 g, am nachsten Tage 0,2 pCt. in 920 ccm = 1,84 g,
weiterhin 0,2 pCt. in 1040 ccm = 2,08 g und 0,3 pCt. in 1000 ccm
= 3,0 g. Die ausgeschiedene Zuckermenge war also am Krisistage
etwas grosser als am letztenDeliriumstage, fiel dann, um schliesslich
noch einmal wieder anzusteigen; doch sind diese Differenzen sehr
gering. Im Falle 27 enthielt der Urin an den ersten 3Deliriumstagen
keinen Zucker, am 4.1,2 pCt. in 800 ccm = 9,6 g, am 5. (abklingendes
Delir) nur noch Spuren. Endlich enthielt im Falle 28 der Urin am
vorletzten Deliriumstage in ? ccm = 1,5 pCt. Zucker, am letzten in
620 ccm = 1,0 pCt. = 6,2 g, am Krisistage in 820 ccm = 1,3 pCt.
— 10,66g. Die folgenden 9Tage zeigen folgendeZuckerausscheidung:
1. 1,5 pCt. in 900 ccm = 13,5 g; 2. 2,0 pCt. in 1320 ccm = 26,4 g;
3. 1,2pCt. in 2620ccm = 31,44g; 4. l,0pCt. in 1520ccm = 15,2g;
5. 1,2 pCt. in 1400 ccm = 16,8 g; 6. 0,6pCt. in 2720 ccm = 16,4 g;
7. 0,2 pCt. in 1400 ccm = 2,8 g; 8. ?? pCt. in 2600 ccmm.
9. 0,7 pCt. in 2400 ccm = 16,8 g; weiterhin war kein Zucker mehr
im Urin naehweisbar. Auch in diesem Falle war also am Tage
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 243
der Krisis die Zuckerausscheidung etwas grosser als am vorher-
gehenden; sie stieg wahrend der drei folgenden Tage, an denen
iibrigens noch leichtere delirioseErscheinungen bestanden, gradatim
an und dauerte dann noch sechs weitereTage in geringerer Intensitat
fort. Es war also in den beiden einzigen fur die Entscheidung
dieser Frage verwertbaren Fallen (23 und 28) die Zucker¬
ausscheidung am Krisistage oder an den darauffolgenden Tagen
grosser als wahrend des Deliriums. Mithin war in diesen beiden
Fallen auch das zweite oben aufgestellte Postulat erfiillt: Die
Assimilationsgrenze hatte also bei ihnen nach dem kritischen Ab-
schlusse des Deliriums einen tieferen Stand als wahrend des
Deliriums.
Eine Betrachtung meiner 30 Falle von spontaner Glykosurie
bei Delirium tremens mit Riicksicht auf Raimanns Angabe, dass
die Assimilationsgrenze ihren tiefsten Stand unmittelbar nach
dem kritischen Abschlusse des Deliriums einnehme, ergibt also,
dass ein Teil der Falle, namlich die mit postdelirioser Glykosurie,
diese Behauptung vollauf bestatigt; dass eine Reihe anderer Falle,
namlich solche mit Zuckerausscheidung am Ende oder im Ab-
klingen des Deliriums, wahrscheinlich ebenfalls in diesem Sinne
aufgefasst werden konnen; und dass schliesslich auch alle iibrigen
Falle mit Glykosurie wahrend des Deliriums, sofern dieselbe iiber
die Rrisis hinaus andauert, jedenfalls nicht gegen Raimanns An¬
gabe sprechen. Ja, zwei Falle der zuletzt erwahnten Kategorie,
deren Beobachtungsergebnisse hierfiir verwendbar waren, be-
statigen direkt den von Raimann aufgestellten Satz. Dagegen lassen
sich in keiner Weise mit demselben in Einklang bringen die bei
zwei anderen Fallen (9 und 18) erhobenen Befunde; denn in diesen
beiden Fallen bestand eine Glykosurie wahrend des Deliriums,
aber nicht mehr nach der Krisis; sie sprachen also direkt gegen
die Annahme, dass die Assimilationsgrenze unmittelbar nach dem
kritischen Abschlusse des Deliriums ihren tiefsten Stand einnehme.
Es erscheint mir deshalb fraglich, ob diese Anschauung Raimanns
eine ganz allgemeine Geltung beanspruchen kann, wenn ich auch
zugeben muss, dass sie fur den grossten Teil der Falle zuzutreffen
scheint. Aus meinen Beobachtungen ergibt sich jedenfalls, dass das
Maximum der Zuckerausscheidung bei der spontanen Glykosurie
der Deliranten post crisem gelegen ist, denn von 30 Deliranten
zeigten 22 — und von den iibrigen Fallen miissen 6 ausser Betracht
bleiben —. d. h. also fast alle, entweder nur oder (ausser einer
deliriosen) auch eine postdeliriose Zuckerausscheidung.
Die Glykosurie der Alkoholdeliranten kann also, wie Raimann
es in seinen samtlichen Fallen von spontaner Glykosurie gefunden
hat, „postdeliri6s“ auftreten. Dass dies durchgehend so sein muss,
entspricht nicht den Tatsachen, denn in etwa 2 / a meiner 30 Falle
von spontaner Glykosurie trat dieselbe bereits vor der Krisis auf.
Es existiert also fraglos bei Alkoholdeliranten eine richtige „deli-
ribse 11 Glykosurie. — Raimann gibt dann noch an, dass die Assi¬
milationsgrenze von ihrem tiefsten Stand unmittelbar nach dem
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244
Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
kritischen Abschlusse des Deliriums binnen wenig Tagen zu durch-
wegs hohen Werten ansteige. Dass dies im allgemeinen richtig ist,
unterliegt keinem Zweifel. Ich habe selbst in meiner ersten Arbeit
darauf hingewiesen (s. oben), dass in den Deliriumfallen mit spon-
taner Glykosurie der Zucker einige Zeit nach dem Ablauf der Psy-
chose aus dem Urin verschwunden war und dass es dann auoh
nicht mehr gelang, durch Traubenzuckerzufuhr Glykosurie her-
vorzurufen; dass femer bei den Deliranten, bei welchen der Versuch
der alimentaren Glykosurie wahrend des Deliriums positiv aus-
gefallen war, derselbe ein negatives Ergebnis hatte, wenn er einige
Tage nach der Krisis wiederholt wvirde. Auch in meinen samtlichen
jetzt mitgeteilten Fallen von spontaner Glykosurie bei Deliranten
— mit Ausnahme des Falles 21, der am 5. Tage nach der Krisis
entlassen wurde, ohne dass die Glykosurie verschwunden war —
konnte mehr oder weniger lange Zeit nach dem Ende des Deliriums
das Aufhoren der Zuckerausscheidung konstatiert werden. Diese
Tatsache ist vor allem auch ein Beweis gegen die Annahme, dass
in dem oder jenem Falle etwa ein Diabetes vorgelegen haben konnte;
dass dies wohl auch im Falle 21 nicht zutraf, geht, wie schon oben be-
merkt, vielleicht daraus hervor, dass der Urin am 2.—4. Deliriums-
tage keinen Zucker enthielt. Es handelte sich also in alien Fallen
urn eine transitorische Glykosurie. Doch iiberdauerte diese mehr-
fach das Deliriumende um eine ganze Reihe von Tagen, so im Falle
3a = 6 Tage, 17a = 5 Tage, 17c = 7 Tage, 21 — mindestens 5 Tage,
26 = 8 Tage und 28 sogar 9 Tage. Es steigt also jedenfalls nicht
durchgehends die Assimilationsgrenze binnen wenig Tagen zu hohen
Werten an, da in 6 Deliriumanfallen noch 5—9 Tage lang nach der
Krisis Zucker im Urin ausgeschieden wurde.
Die Intensitat der Zuckerausscheidung war im allgemeinen
nur gering. Bei der grossen Mehrzahl aller Falle betrug der polari-
metrisch festgestellte Prozentgehalt des Urins an Zucker 0,2 bis
0,4 pCt., in 2 Fallen 0,5 pCt. und nur in 4 Fallen war er hoher.
So schied der Kranke No. 17 einmal 0,8 pCt. aus, und zwar geschah
dies in dem Anfalle von Abortiv-Delirium (17 c) am Tage der
Aufnahme. Der Kranke 21 hatte am Krisistage 0,2 pCt. und an
den folgenden Tagen 0,7 bis 0,8—1,0—1,7 pCt. Zucker im Urin;
dann wurde er entlassen, sodass eine weitere Beobachtung des
Yerlaufes dieser Glykosurie leider nicht moglich war. Der Kranke 27
schied am 4. Tage des Deliriums 1,2 pCt. und am 5. Spuren von
Zucker aus, und der Kranke 28 endlich zeigte eine ganz besonders
starke und langdauernde Glykosurie; sie iiberstieg 8 Tage lang
1,0 pCt. und erreichte einmal sogar 2 pCt. (s. oben). Berechnungen
der in dem 24 stiindigen Tagesurin ausgeschiedenen Zuckermengen
zu geben, erscheint mir deshalb von nur geringem Wert, weil, wie
ich bereits wiederholt gesagt habe, es nur selten gelang, fortlaufend
den gesamten Tagesurin der Deliranten zu sammeln. Nur soviel
ergab sich aus meinen Beobachtungen, dass die Menge des Urins,
wie das ja seit langem bekannt ist, wahrend des Deliriums regel-
massig vermindert ist, und dass nach Ablauf des Deliriums in den
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 245
meisten Fallen eine mehr oder weniger erhebliche Polyurie eintritt.
Doch habe ich eine so hochgradige Polyurie, wie sie Hasche-
Kliinder 1 ) in 2 Fallen beobachten konnte (bis 7000 und bis 9000 ccm
Urin pro die), nie gesehen. In der Regel betrug die Urinraenge
am Tage oder an den ersten Tagen nach der Krisis 2000 bis 3000 ccm.
Von den 69 Deliranten, welche keine spontane Glykosurie
zeigten, hatten 3 wahrend der Beobachtungszeit je 2 Delirien durch-
gemacbt und beide Male keinen Zucker im Ham ausgeschieden;
ein vierter kam auch in einem abortiven Delirium zur Aufnahme
und zeigte in diesem ebenfalls keine Glykosurie.
Bei 21 unter diesen 69 Deliranten fielen die Reduktionsproben
positiv aus, wahrend die Galirungsprobe ein negatives Resultat
ergab. Es erscheint mir zweifellos, dass es sich in einem Teil dieser
Falle um geringe Spuren von Zucker gehandelt hat, die aber eben so
gering waren.dass eineVergahrung nicht nachweisbarwar. Undzwar
wiirde ich dies fur etwa die Halfte dieser Falle annehmen; es sind
das diejenigen, in denen die beiden Reduktionsproben mitten im
Delirium, am Ende desselben oder nach der Krisis positiv waren,
wahrend sie spaterhin wieder negativ ausfielen. Es ist ja an und
fur sich wahrscheinlich — und unter Raimanns Fallen ist eine
Reihe solcher —, dass bei einzelnen Deliranten die Assimilations-
grenze nur so weit herabgesetzt ist, dass Zucker im Urin allenfalls
in Spuren erscheint. Prinzipiell verhalten sich, wie Raimann fest-
gestellt hat, die Falle ohne spontane Glykosurie nicht anders wie
die mit solcher, da sich ja auch bei den ersteren experimented
* durchweg eine Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Kohle-
hydrate nachweisen lasst. Immerhin hat es eift gewisses Interesse,
zu wissen, wie haufig bei Deliranten spontane Glykosurie vorkommt,
zumal doch die Versuche der alimentaren Glykosurie in der Regel
nicht gemacht werden. Wenn man nun zu den 30 Deliranten mit
sicherer Glykosurie noch etwa 10 von diesen Fallen, bei denen sich
Spuren von Zucker fanden, zuzahlt, so wiirden unter 99 Deliranten
40, d. s. 40 pCt., mit Glykosurie sein.
Bei der anderen Halfte der soeben erwahnten 21 Falle diirfte
die im Urin nachgewiesene reduzierende Substanz wohl kaum
Traubenzucker gewesen sein. Die Reduktionsproben waren hier
zumeist am ersten oder zweiten Tage nach der Aufnahme positiv,
und es ist am wahrscheinlichsten, dass es sich da um Glykuron¬
sauren gehandelt hat, wie sie nach Verabreichung mancher Medi-
kamente (Chloralhydrat etc.) im Urin auftreten. Doch scheinen
auch, abgesehen von diesen „postmedikamentosen“, noch andere
Glykuronsauren im Harn der Deliranten vorzukommen. Wenig-
stens gibt Kauffmann 2 ) an, dass der Urin der Deliranten haufig
reduzierende Substanzen enthalte, die mit dem Aufhoren des
Delirs ziemlich rasch verschwanden; es handele sich um gepaarte
Glykuronsauren. Traubenzucker hat Kauffmann dagegen, wie
*) 1. c. S. 48.
*) 1. c.
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246 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
oben bereits erwahnt, nur verhaltnismassig selten im Harn der
Deliranten gefunden. Wie weit es sich in meinen Fallen um der-
artige, durch das Delirium bedingte Glykuronsauren gehandelt
hat, vermag ich nicht zu entscheiden. In einem Falle war mir
aber das Vorhandensein solcher Substanzen sehr wahrscheinlich;
es ist der folgende:
G. R., seit dem 10. XII. 1899 krank, am 14. XII. delirierend durch
die Polizei zur Anstalt (Tromm: -f-, Nyl.: —); 15. XII. deliriert (Tromm: -f-,
Nyl.; —); 16. XII. deliriert (Trom: + , Nyl. +); 17. XII. ruhiger, leidlich
orientiert (Tromm: -|-> Nyl. Polar: 0,5 nach links); 18. XII. vollig
orientiert (Tromm: +, Polar: 0,05 nach links); der Urin zeigte noch vom
19. XII. bis 21. XII. Tromm: + und Polar = 0,05 bis 0,1 nach links, vom
22. XII. ab war die reduzierende Substanz verschwunden.
Es bestand also wahrend der ganzen beobachteten Dauer
des Deliriums (3 Tage) eine Ausscheidung reduzierender Substanzen,
die auch wahrend des Abklingens des Deliriums und eine Reihe
von Tagen danach (im ganzen noch 5 Tage lang) anhielt; durch
Polarisation konnte nachgewiesen werden, dass es sich um links-
drehende Substanzen handelte; sie waren nicht vergarbar.
Von den 26 Kranken mit Delirium tremens abortivum zeigten
nur 4 spontane Glykosurie, wahrend bei den 22 anderen kein Zucker
im Urin gefunden wurde. Der Prozentsatz der Falle mit Glykosurie
ist also ein erheblich geringerer (15,4 pCt.) als beim typischen
Delirium (30 pCt.). Dieser Befund wurde fur Raimanns Angabe
sprechen, dass die Schwere des Deliriums von Einfluss auf dieHerab-
setzung der Assimilationsgrenze sei. Er glaubte (s. oben) eine .
relative Verschiedenheit der Falle insofem wahrgenommen zu haben,
als die Assimilationsgrenze umso mehr herabgedriickt zu sein schien,
je schwerer die Vergiftung war, je grosser die Hohe, welche das
Delirium erreichte. Die Falle, in denen es zu keiner spontanen
Zuckerausscheidung kam, waren vorwiegend leichte.
Ich erwahne, dass bei 5 von den 22 Abortiv-Deliranten ohne
Glykosurie die Reduktionsproben positiv ausfielen, die Gahrungs-
probe aber ein negatives Ergebnis hatte. Fiir diese Falle gilt natiir-
lich das oben Gesagte; wahrscheinlich hat es sich bei 4 von ihnen
um Ausscheidung geringer Zuckermengen gehandelt.
Die vier Falle mit spontaner Glykosurie sind folgende:
1. G., am 15. V. 1899 aufgenommen: Starker Tremor, schwatzt sehr
viel, sehr riihrselig, orientiert; 16. V. ,.traumt“ von seinem Beruf, keine
Visionen. (Tromm und Nyl.: -)-); 17. V. Glykosurie: 4-, 0.8 pCt.; 18. V.
Glykosurie: -f- ?; 19. V. ist noch sehr euphorisch. riihrselig, schwatzt viel,
Zittern geringer (Glykosurie: + , 0,1 pCt.); 20. V. Glykosurie: —, 21. V.
Glykosurie: -j- T; 22. V. ist bedeutend ruhiger. docli immer noch etwas
Tremor (Glykosurie: —); 23. V. Glykosurie: —; 24. V. Glykosurie: -f-
(0,2pCt.); 25. V. Glykosurie: -f- (0,3 pCt.); 26. V. bis 29. V. Glykosurie: —.
Nach Darreichung von 100 g Traubenzucker am 31. V. zeigt der Urin keinen
Zucker.
Rea. : Es handelte sich also um eine intermittierende Glykosurie, die in
den ersten Tagen in wechselnder Starke auftrat, einige Tage verschwand und
dann wieder 2 Tage anhielt.
2. P. St., zum 25. Male wegen alkoholischer Geistesstorung in An-
staltsbehandlung, am 21. XII. 1899 aufgenommen; 25. XII. hat nicht ge-
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247
schlafen, allgemeine motorische Unruhe, Tremor, ist zerfahren, matt (Gly¬
kosurie: + *1*0 pCt.); 20. XII. desgl.(Glykosurie: + ?); 27. XII. ausser Bett
(Glykosurie: + ?); 28. XU. riihrselig, angstlich, verwirrt, leieht benommen
(Glykosurie: + * 1*5 pCt.); 29. XII. leichteVisionen bei Druck auf die Bulbi,
orientiert, ruhig, kein Tremor (Glykosurie: + , 1,3 pCt.); 30. XII. orientiert,
ruhig etc. (Glykosurie: +1,3 pCt.); 31. XII. wieder ausser Bett (Gly¬
kosurie: + , 0,8 pCt.); 1. I. bis 3. I. 1900 Glykosurie: —.
Rea. : Eine am Tage nach der Aufnahme konstatierte Glykosurie
war wahrend der beiden folgenden Tage minimal, zugleich traten die
Deliriumerscheinungen sehr zuriick; als diese am folgenden Tage in ver-
starktem Masse hervortraten, wurde auch die Glykosurie wieder starker
und hielt jetzt 4 Tage an, 2 Tage langer als die leichten Delirium-Symptome
dauerten.
3. J. W., zum 17. Male wegen alkoholischer Geistesstorung in An-
staltsbehandlung, am 4. 1. 1900 wieder aufgenommen, ist sehr erregt (Gly¬
kosurie: —); 5. I. orientiert, keine Halluzinationen, ziemlich unruhig,
schwatzt viel, Tremor universalis, hochrotes Gesicht (Glykosurie: —);
6. I. gut geschlafen, orientiert, ruhig, starker, allgemeiner Tremor (Gly¬
kosurie: +, 0,3 pCt.); 7. I. ausser Bett. 7. I. bis 10. I. 1900 Glykosurie: —.
Res . .* Am 3. Tage enthielt der Urin Zucker, nachdem Pat. bereits
gut geschlafen hatte; die Glykosurie ist wohl als „po8tdeliridse“ anzusehen.
4. F. W., 35 Jahre alt, Schutzmann, hereditar nicht belastet, trinkt
seit langer Zeit fiir 20 bis 30 Pfennig Schnaps und 5 Glas Bier taglich; vor
% Jahr 1 Krampfanfall, im Laufe des letzten Jahres oft Schwindelanfalle,
Kopfschmerzen, Erregungszustande, Eifersuchtsideen, bedroht die Frau,
will die Kinder (4) umbringen, usw. Am 22. VI. 1899, nachdem er seit
6 Tagen wegen Rheumatismus keinen Dienst getan hatte, fing er wieder an,
die Frau zu beschuldigen und zu bedrohen, zertriimmerte Stubenmobiliar,
glaubte, dass ein Mann unter dem Bett versteckt sei, erschien nachher ganz
benommen und wurde an demselben Abend in die Anstalt aufgenommen
(Glykosurie: +, gering); 23. VI. war und ist ruhig, leieht benommen, hoch¬
rotes Gesicht, Tremor linguae et manuum, glaubt in der Kaserne zu sein,
weiss nicht, wie lange er hier ist. ist zeitlich ungefahr orientiert (Gly¬
kosurie: + ); 24. VI. hat gut geschlafen, ist voilig ruhig, ortlich und zeitlich
orientiert, weiss nicht, wie er hierhergekommen ist usw., macht einen be-
deutend freieren Eindruck. (Glykosurie: +); 25. VI. gut geschlafen, be-
deutend freier; abends ein Krampfanfall von 5 Minuten Dauer mit Zuckungen
am ganzen Korper und Bewusstlosigkeit (Glykosurie: +, 0,3 pCt.). In
der Folgezeit war er dauernd ruhig, hot keinerlei psyehische Anoinalien dar,
klagte aber noch eine Zeit lang (ca. 4 Wochen) iiber Kopfschmerzen, Blut-
andrang nach dem Kopfe, etc. Spater trat volliges Wohlbefinden ein, und
am 21. IX. 1899 wurde er entlassen. Der Urin enthielt vom 20. VI. bis zum
17. VII. Zucker in Mengen von 0,1 bis 0,8 pCt., nur am 0. VII. war er zucker-
frei; am 20. VII. und 23. VII. waren vielleicht noch Spuren vorhanden,
im iibrigen war vom 18. VII. bis 28. VII. kein Zucker mehr nachweisbar,
ebensowenig in den am 1. VIII., 19. VIII. und 2. IX. gemachten Proben.
Rea,: Ich habe diesen Fall etwas eingehender mitgeteilt, weil hier eine
Glykosurie bestand, die wahrend der 2—3 Tage des Abortivdeliriums und dann
noch mehr als 3 Wochen andauerte. Dass es sich nicht um Diabetes handelte,
ergibt sich wohl daraus, dass weder Poly uric noch Polydipsie oder Polyphagie
oder sonstige Symptome von Diabetes bestanden, und dass die Glykosurie
ohne Anwendung irgendwelcher diatetischer Massnahmen nach nahezu
4 Wochen verschwand, um wahrend der weiteren, mehr als zweimonatigen
Beobachtungszeit nicht mehr in die Erscheinung zu treten. Das Abortiv-
delirium war nur von kurzer Dauer und wesentlich durch Desorientiertheit
und Tremor, Angst und Benommenheit charakterisiert. Dieser Fall bildet
mit seiner langdauernden Glykosurie wohl schon einen Uebergang zu
einigen Fallen der nachsten Kategorie, umsomehr, als das Abortivdelirium
nur wenig ausgepragt war.
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248 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
Ich wende mich schliesslich zur Besprechung der dritten
Gruppe, der 69 nichtdeliranten Trinker. Von den 48 dieser Kranken
welche nach der Aufnahme keinen Zucker im Urin ausschieden —
3 von ihnen wurden iibrigens wahrend der Beobachtungszeit zwei-
mal aufgenommen—, zeigten 15 einen positiven Ausfall der Trommer
schen und Nylanderschen Probe, wahrend die Garungsprobe negativ
war. Ich verweise beziiglich dieser Falle auf das oben Gesagte und
lasse es vollig dahingestellt, ob es sich um Spuren von Zucker oder
um andere reduzierende Substanzen gehandelt hat; es wird ver-
mutlich hier das eine, dort das andere der Fall gewesen sein.
Von den 21 Trinkern mit spontaner Glykosurie kann ich 17
ganz kurz gemeinsam besprechen, da die Zuckerausscheidung bei
ihnen alien in ganz derselben Weise in die Erscheinung trat. Der
Urin enthielt namlich bei den meisten (11) nur am ersten Tage nach
der Aufnahme, bei den anderen wahrend der zwei (5) oder drei (1)
ersten Tage des Anstaltsaufenthaltes Zucker. Und zwar schwankte
die Menge desselben zumeist von Spuren bis zu 0,3 pCt.; nur in
2 Fallen betrug sie erheblich mehr, namlich einmal 0,9 pCt. und in
dem anderen Falle am ersten Tage 0,9 pCt., am zweiten 1,5 pCt.
Bei zwei von diesen 17 Fallen trat die Glykosurie nicht wie bei alien
iibrigen nach einem mehr oder weniger lange Zeit fortgesetzten
Alkoholmissbrauch, sondern nach einem nur einmaligen Alkohol-
exzess auf; beide Trinker waren nur einen Tag lang ausserhalb der
Anstalt gewesen und in trunkenem Zustande wieder aufgenommen
worden; der eine schied zwei Tage lang Spuren, der andere ebenso
lange 0,1 bis 0,2 pCt. Zucker aus. 2 von den 17 Kranken hatten
bei einem anderen Anstaltsaufenthalt im Delirium ebenfalls Zucker
ausgeschieden.
Von besonderem Interesse ist folgender von diesen Fallen.
Ein Kranker zeigte nach der Aufnahme Glykosurie, welche dann
verschwand und auch bei einem jetzt einsetzenden Delirium
nicht wieder in die Erscheinung trat.
K. D., am 31. VII. 1900 durch die Polizei zur Anstalt gebracht, weil
er zu Hause getobt hatte; 1. VIII. war und ist ruhig, hat viel getraumt,
keine Sinnestauschungen, ist orientiert, Tremor universalis, hochrotes
Gesicht (Glykosurie: + , 0,2 pCt.); 2. VIII. gut geschlafen, ausser Bett
(Urin nicht untersucht); 3. VIII. nachts Visionen gehabt, jetzt ruhig, Wohl-
befinden; abends beginnt er zu delirieren (Glykosurie: —); 4. VIII. bis
6. VIII. Delirium (Glykosurie: —); 7. VIII. Ivrisis (Glykosurie: —); 8. VIII.
Wohlbefinden (Glykosurie: —). — Ich erwahne noch, dass dieser selbe
Kranke auch in einem anderen Deliriumanfalle keine Glykosurie hatte.
Der Fall ist ein pragnantes Beispiel dafur, dass die durch die
Alkohol-Intoxikation und die durch das Delirium hervorgerufene
Glykosurie nichts miteinander zu tun haben und scharf von ein-
ander zu sondern sind, wie dies Raimann besonders hervorgehoben
hat. An und fur sich sollte man doch erwarten, dass einlndividuum,
welches infolge von alkoholischer Intoxikation Zucker ausscheidet,
eine Vermehrung der Glykosurie zeigen wird, wenn nun noch ein
Delirium einsetzt, dass doch ebenfalls in gewissem Masse die Ten-
denz zur Herabsetzung der Assimilationsgrenze besitzt. Doch das
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 249
Gegenteil ist hier der Fall: Die Glykosurie versohwindet nach
einem Tage und erscheint weder wahrend des nach 2 Tagen be-
ginnenden Delirs, noch auch nach der Krisis wieder.
Ueber die letzten 4 Falle dieser Gruppe muss ich ein wenig aus-
fiihrlicher berichten.
In dem ersten Falle handelt es sich um einen 55 Jahre alten
Mann, der am 7. VI. 1899 in die Anstalt aufgenommen wurde
(Glykosurie: —). Er war sehr angstlich, lief unruhig umher, ausserte
Versiindigungsideen, furchtete, ermordet zu werden; 8. VI. Glyko¬
surie: + 0,6 pCt.; am 9. VI. (Trom.:+, Nyl.:-)-, Garung und
Polar:—) und 10. VI. (Glykorusie: +, 0,1 pCt.) dauerte derselbe
Zustand an, und auch in den nachsten Wochen beherrschten Angst
und depressive Wahnideen das Krankheitsbild. Der Urin enthielt
noch am 11. VI. Zucker in geringer Menge, weiterhin aber konnte
trotz taglicher Untersuchung bis zum 2. VII. keine Glykosurie mehr
konstatiert werden, wenn auch die Reduktionsproben hier und da
ein positives Resultat ergaben. Der Mann war dem Potus in hohem
Masse ergeben gewesen, und ich trage kein Bedenken, die transi-
torische Glykosurie des 2. bis 5. Tages auf Rechnung der Alkohol-
intoxikation zu setzen. Als konkiuTierendes atiologisches Moment
tritt hier vor allem die Angst auf, die das Hauptsymptom des als
,,Ang8tpsychose“ im Wernicke schen Sinne aufzufassenden Krank-
heitsfalles ausmacht. Laudenheimer 1 ) hat wohl als erster auf die
kausalen Beziehungen zwischen depressiven Affekten bezw. Angst
und Glykosurie hingewiesen und die transitorische Glykosurie
gewissermassen als ein Herdsymptom des Angstaffektes bezeichnet.
Weiterhin haben dann Raimann 2 ) und Schultze 3 ) die Haufigkeit
von Glykosurie bezw. Herabsetzung der Assimilationsgrenze bei
Depressionszustanden bestatigt, und Schultze kommt auf Grund
seiner Beobachtungen zu dem Ergebnis, dass die Glykosurie die
iiberwiegend grossere Zahl von Fallen krankhafter Depression ver-
schiedenster Art und Genese begleitet und dass ihre Starke im
allgemeinen der Starke der Depression entsprach. In unserem
Falle kann also sehr wohl die heftige Angst des Kranken als Ur-
sache der Zuckerausscheidung in Betracht kommen. Indes, der
friihere starke Alkoholmissbrauch und die Tatsache, dass die Gly¬
kosurie nur wahrend der ersten Tage des Anstaltsaufenthaltes be-
stand, wahrend die Angst noch weiter anhielt, lassen es mir doch
viel plausibler erscheinen, dass die Alkoholintoxikation den haupt-
sachlichsten atiologischen Faktor bildet.
In dein zweiten Falle handelt es sich um einen 47 Jahre alten Potator
strennus, der in den Jahren 1891 bis 1899 schon 10 mal wegen alkoholischer
Psychose in der Anstalt gewesen war. Er war sehr fettleibig und hatte im
Jahre 1888 eine ziemlich schwere Kopfverletzung erlitten. In den Jahren
1899 bis 1900 wurde er wiederum 4 mal in schwer trunkenem und erregtem
*) 1. c. S. 5.
>) 1. c. S. 9 ff.
3 ) Ernst Schultze . Ueber Storungen des Kohlehydratstoffwechsels
bei Ueisteskranken. Neurol. Zentralbl. 1908. S. 982.
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250 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
Zustande in die Anstalt aufgenommen. Die schwereren Erscheinungen
schwanden gewohnlich in 2—4 Tagen, doch blieben Reizbarkeit, Erregbar-
keit, Kopfschmerzen usw. in mehr oder weniger hohem Grade dauernd be-
stehen. Wahrend aller 4 Aufenthalte schied er Zucker im Urin aus, und zwar
das erste Mai acht Tage lang Spuren, das zweite Mai 17 Tage lang zuerst
0,2 bis 0,4 pCt., dann Spuren, das dritte Mai 14 Tage lang 0,2 bis 0,3 pCt.,
das letzte Mai acht Tago lang Spuren. Es erfolgte also in alien 4 Fallen
eine ziemlich langdauernde (1—2 Wochen) Glykosurie, die aber imraer ver-
schwand und sich so als transitorische dokumentierte. Als atiologische
Faktoren konunen Trauma capitis, Neurasthenic und Fettleibigkeit neben
dem Alkohol in Frage, doch diirfte dem letzteren wohl die Hauptrolle zu-
kommen, da mit seinem Fortfall auch die Glykosurie schwindet.
Der dritte Fall betrifft einen 30 Jahre alten Mann, der seit etwa
12 Jahren stark trinkt. Er wurde zweimal unter den Folgerscheinungen des
iibermassigen Alkoholmissbrauches aufgenommen, bot ausserdem neur-
asthenische und polyneuritische Erscheinungen dar. Das erste Mai schied
er 9 Tage lang Zucker in Mengen bis zu 0,2 pCt. und dann noch eine Zeit
lang Spuren aus, das zweite Mai 5 Tage lang 0,2 bis 0,3 pCt. und auch
spaterhin noch Spuren. Es handelt sich also hier ebenfalls um eine langer-
dauemde transitorische Glykosurie.
Fall 4. B. G., pensionierter Gendarm, 43 Jahre alt; aufgenommen am
19. IX. 1900, weil er seine Ehefrau bedroht, Mobiliar zertriimmert hatte etc.
Er war friiher stets gesimd, trinkt seit etwa 13 Jahren fur ca. 1 Mark Bier und
Schnaps taglich, war bis auf einen Rippenbruch (1896) stets gesund. Hatte
in letzter Zeit ofters Schwindelanfalle, einmal Krampfe, oft Erregungszu-
stande, beschimpfte und misshandelte die Frau etc. Bei der Aufnahme ist
er ruhig, orientiert, etwas deprimiert; allgemeiner Tremor, kongestioniertes
Gesicht. 20. IX. < Jesicht nicht mehr so rot. Tremor universalis etwas ge-
ringer, Sehnenreflexe gestcigert; hat gut geschlafen, keine Visionen. Die
beschriebenen Erscheinungen verloren sich im Laufe der nachsten Tage,
G. bot keinerlei sonstige Anomalien dar und wurde am 13. X. 1900 entlassen.
Die Untersuchung des Urins ergab, dass in der Zeit vom 19. IX. bis 4. X.
Zucker ausgeschieden wurde, und zwar am 19. IX. = 0,3pCt., 20. IX. —0,5pCt.,
21. IX. =0,5 pCt. und dann weiterhin stets noch Spuren. die zumeist mit
der Garungsprobe und polarimetrisch nicht nachweisbar waren, wahrend
die Reduktionsproben positiv ausfielen; von 5. X. bis 12. X. waren auch
diese, mit Ausnahme des 9. X., negativ. Es handelt sich also auch hier um
eine ziemlich langdauernde transitorische Glykosurie, die wahrend der
ersten drei Tage 0,3 bis 0,5 pCt. betrug und dann noch 13 Tage lang in Spuren
auftrat.
Diese letzten 3 Falle unterscheiden sich von den 17 anderen
dieser Gruppe dadurch, dass bei ihnen die Glykosurie langer als
1—3 Tage dauerte. Ihnen ist wohl noch der Fall 4 (F. W.) der vorher-
gehenden Gruppe beizuzahlen, bei dem nach einem kurzdauernden
Abortivdelirium eine mehrwochige Glykosurie fortbestand. Es
scheint so, als wenn die nach langer dauerndem Alkoholmissbrauch
ohne delirante Symptome auftretende Glykosurie in der Regel nur
wenige Tage dauert, und dass, wenn ihre Dauer eine langere ist,
vielleicht doch noch andere Faktoren (eine diabetische Pradis*
position ?) vorliegen. Ich konnte mich wenigstens bei diesen 4 Fallen
der Verrautung nicht erwehren, dass hier vielleicht doch eine all-
gemeinere Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit fur Kohle-
hydrate vorhanden gewesen sein diirfte, als sie durch Alkohol¬
missbrauch hervorgerufen zu werden pflegt.
Ich will zum Schlusse kurz auf das Wesen und die Pathogenese
der Glykosurie bei deliranten und nichtdeliranten Alkoholisten
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A milt. Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 251
etwas naher eingehen. Verhaltnismassig einfach ist die Deutung
der spontanen Glykosurie bei den nichtdelirierenden Potatoren.
Der Vollstandigkeit halber sei darauf hingewiesen, dass ausser den
bereits erwahnten Untersuchungen von J. Strauss (s. oben) eine
ganze Reihe von Beobachtungen iiber das Auftreten von Zucker
im Urin von Trinkern in der Literatur niedergelegt sind. So hat
Sauvage 1 ) bereits im Jahre 1763 beobachtet, dass nach reichlichem
Genuss alkoholischer, besonders siisser, Getranke im Urin Trauben-
zucker in deutlich nachweisbarer Menge auftrat. Kratschmer 2 )
fand, dass der Harn von Personen, welche Bier in grossen Mengen
zu sich nahmen, ab und zu deutlich Zucker enthielt; und zwar war
es besonders der nahezu farblose, spezifisch leichte Ham, welcher
wahrend des Biergenusses zur Ausscheidung gelangte, in dem sich
Zucker nachweisen liess. Auffallend war, dass sich in dieser Bezie-
hung nicht alle Personen gleich verhielten, auch wenn sie zum
Zwecke des Versuchs grosse Mengen von Bier zu sich genommen
hatten; bei einigen wurde regelmassig Zucker gefunden, bei anderen
nicht. Moritz 3 ) konnte bei den meisten Teilnehmern zweier Soupers,
bei denen viel Siissigkeiten und Champagner genossen waren, ein-
wandsfreiZucker imHarn nachweisen. v. Striimpell*)stellte fest, dass
habituell starke Biertrinker nach reichlichem Biergenuss in einzelnen
Fallen spontane Glykosurie zeigten, aber nur dann, wenn das Bier
verhaltnismassig rasch in grosserer Menge (1 V 2 —2 Liter) getrunken
wurde. Er betont, dass individuelle Verhaltnisse eine grosse
Rolle bei der Entstehung dieser Glykosurie spielen, und schreibt
ausser der individuellen Disposition der chronischen Alkohol-
intoxikation und der mit dem Bier erfolgenden anhaltenden iiber-
reichen Zufuhr geloster Kohlehydrate eine ursachliche Bedeutung
zu. L. Krehl 6 ) stellte ausgedehente Untersuchungen bei Studenten
und Brauern an und fand, dass nach Biergenuss ziemlich haufig
Zucker im Harn auftrat; er gelangte zu dem Ergebnisse, dass die
Individuality und der Verdauungszustand von Bedeutung fur die
Entstehung der Glykosurie waren, dass aber femer zu ihrer Er-
klarung die Wirkungsweise gewisser Stoffe, welche im Biere ent-
halten waren, anzunehmen sei. Weiterhin hat Reuter*) bei 9 Pota¬
toren des Hamburg-Eppendorfer Krankenhauses Zucker im Harn
nachgewiesen; sie waren frei von komplizierenden Organerkran-
J ) Zitiert bei Claude Bernard , Lecons sur le diabete. Paris 1877. Leg. 1.
*) Zur Frage der Glykosurie. Zentralbl. f. d.medizinisch. Wissenschaften.
1886. No. 15. 257.
*) Ueber die Kupferoxyd reduzierenden Substanzen des Harnes unter
physiologischen und })athologischen Verhaltnissen usw. Deutsches Arch,
f. klin. Medizin. 1890. S. 269.
4 ) Zur Aetiologie der alimentaren Glykosurie und des Diabetes mellitus.
Berliner klin. Woehenschr. 1896. No. 46. S. 1017.
*) Alimentare Glykosurie nach Biergenuss. Zentralbl. f. innere Medizin
1897. 40. S. 1033.
•) Karl Reuter . Ein Beitrag zur Frage der Alkoholglykosurie. Mit-
teilungen a us den Hamburgischen Staatskrankenanstalten. 1900. Bd. 7.
2. S. 77.
Monataaehrift f. Psychiatric u. Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. 17
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252 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten.
kungen und, bis auf einen, welcher Anzeichen von Delirium zeigte
ganz ruhig und ohne schwere nervose Storupgen; sie erhielten im
Krankenhaus bia auf jeeinenkeinen Alkohol undkeineMedikamente;
ihre Kost war gemischt und massig kohlehydrathaltig. Alle 9
schieden entweder vom Tage der Aufnahme ab oder erst einige
Tage spater ganz voriibergehend oder geraume Zeit hindurch
Zucker im Harn aus. p-
Das Auftreten von Zucker im Urin nach dem Genuss alkoho-
lischer Getranke ist mithin durcb eine grosse Reihe von Autoren
iibereinstimmend festgestellt worden. Weniger Uebereinstimmung
besteht fiber die Pathogenese dieser Glykosurie. Als gemeinsame
ursachliche Faktoren werden individuelle Disposition, toxische
Wirkung des Alkohols und, bei der nach Biergenuss auftretenden
Zuckerausscheidung, reichliche Zufuhr von Kohlehydraten wohl
mit Recht angeschuldigt. Leo 1 ) sieht auf Grund seiner Experimente
in der nach reichlichem Biergenuss auftretenden Glykosurie eine
toxische Wirkung der Hefezellen, wahrend Naunyn 2 ) die gleich-
zeitige Wirkung der Zuckerfiberschwemmung und der durch Wein
und Bier gesteigerten Diurese als ursachliches Moment in An-
spruch nimmt. Endlich ist J. Strauss 8 ) geneigt, dem Zustande der
Betrunkenheit eine besondere Bedeutung ftir das Auftreten der
Glykosurie zuzuschreiben.
Die Frage der Pathogenese der Glykosurie nach Alkohol-
genuss ist also durchaus noch nicht geklart. Dass die individuelle
Veranlagung, die toxische Wirkung des Alkohols und die reichliche
Zufuhr der Kohlehydrate von ursachlicher Bedeutung sind, ist wohl
zweifellos. Der letztgenannte Faktor kommt bei Schnapstrinkem,
aus denen z. B. mein Material fast ausschliesslich besteht, in Fort-
fall, ebenso sind die von Leo und Naunyn angeschuldigten Moments
hier nicht in Anwendung zu bringen. Ob die Betrunkenheit als
solche, d. h. die Benommenheit des Sensoriums, der rein psychische
Faktor, einen Einfluss auf die Entstehung der Glykosurie hat,
wage ich nicht zu entscheiden. Gegeben ist diese Moglichkeit gewiss,
da ja auch andere psychische Momente, z. B. die Angst (s. oben),
von atiologischer Bedeutung ftir die Glykosurie sind. Doch mochte
ich jedenfalls betonen, dass in einer Reihe meiner Falle keine Be¬
trunkenheit bei der Aufnahme vorhanden war, und dass ferner bei
einer grosseren Reihe von Fallen die Glykosurie 2 und mehr Tage
bestand, also die Betrunkenheit weit fiberdauerte. Mir erscheint
es am plausibelsten, dass ausser der individuellen Veranlagung
wesentlich die toxische Wirkung des Alkohols auf irgend welche
mit dem Kohlehydratstoffwechsel in Verbindung stehende Organe
es ist, auf welche man die Glykosurie der Alkoholisten zurtick-
zuffihren hat. Sie steht dann auf einer Linie mit der nach anderen
Vergiftungen auftretenden Glykosurien, eine Annahme, die ich
l ) Zitiert bei Naunyn .
*) B. Naunyn , Der Diabetes mellitiis. II. Aufl. 1906. S. 36.
’) 1. c. S. 62.
Google
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Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeliranten. 253
(fur die alimentare Glykosurie) bereits vertreten habe 1 ) und die
auch Raimann 2 ) als die wesentlichste ansieht.
Viel schwieriger erscheint mir die Deutung der DeliraDten-
Glykosurie. Dass das Delirium als solches den wesentlichen atio-
logischen Faktor dieser Glykosurie bildet, ist wohl zweifellos. Aber
in welcher Weise das Delirium wirksam ist, lasst sich nur vermuten.
Raimann, der nur eine postdeliriose Glykosurie beobachtet hat,
kaim natiirlich nicht das Delirium direkt als ursachlichen Faktor
in Anspruch nehmen, denn es ware ja sonst wunderbar, dass die
Glykosurie sich niemals wahrend des Deliriums zeigt. Er nimmt
also an, dass sie durch ein Stoffwechselprodukt hervorgerufen wird,
das erst im Beginn der Rekonvaleszenz sich bildet. Ich selbst habe
ja recht oft wahrend des Deliriums Glykosurie beobachten konnen,
und es steht nichts im Wege, diese Zuckerausscheidung als direkte
Wirkung des deliriosen Prozesses zu bezeichnen, wie es Lauden-
heimer angenommen hat. Die eigentliche Pathogenese der Glyko¬
surie ist damit natiirlich noch in keiner Weise erklart. Fiir die post¬
deliriose Glykosurie diirfte aber folgendes Moment in Betracht
kommen: Ein Teil der Deliranten nimmt wahrend des Deliriums
wenig Nahrung zu sich, beginnt aber nach dem kritischen Schlaf
wieder mit Appetit zu essen; es ware immerhin moglich, dass bei an
und fiir sich bestehender Herabsetzung der Assimilationsfahigkeit
fiir Kohlehydrate diese vermehrte Nahrungsaufnahme bezw. Kohle-
hydratzufuhr zu spontaner Glykosurie fiihrt. Des weiteren will
ich nicht unterlasen darauf hinzuweisen, dass eine im Beginn des
Deliriums beobachtete Zuckerausscheidung bei einem eben auf-
genommenen Kranken auch durch direkten Alkoholgenuss ver-
ursacht sein kann. Ich verweise in dieser Beziehung auf den oben
geschilderten Fall. Dass ausser dem Delirium als solchem indivi-
duelle Momente fiir das Auftreten der spontauen Glykosurie mass-
gebend sein miissen, ist selbstverstandlich. Denn sonst ware es
ja nicht zu verstehen, weshalb es in vielenFallen zu einer spontanen
Zuckerausscheidung kommt, in zahlreichen anderen nicht. Wenn
auch in den letzteren eine, durch Traubenzuckerzufuhr zu ei weisende
Herabsetzung der Assimilationsgrenze besteht, so ist doch nioht
einzusehen, warum sie nicht so hochgradig ist wie in den anderen
Fallen. Denn auf die Starke des Deliriums zu rekurrieren,
ist nicht angangig, da zahlreiche Falle von sehr schwerem
Delirium vollig ohne Glykosurie verlaufen. Dass der geringere
Prozentsatz der Falle mit Glykosurie beim Abortiv-Delirium immer¬
hin in diesem Sinne verwendet werden kann, habe ich oben schon
erwahnt. Aber es bleibt doch die von mir bereits in meiner ersten
Arbeit erwahnte Tatsache bestehen, dass die Deliriumfalle ohne
Glykosurie sich klinisch gar nicht von denen mit Glykosurie unter-
scheiden. Da bleibt eben nichts iibrig, als auf individuelle Momente
zuriickzugreifen, und das hat auch Raimann 8 ) tun miissen, um die
») 1. c. S. 437.
*) 1. c. S. 119.
3 ) 1. c. S. 80.
17*
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254 Arndt, Ueber die Glykosurie der Alkoholdeiiranten.
Tatsache zu erklaren, dass die Assimilationsgrenze bei den einzelnen
Fallen in so verschiedenem Grade herabgesetzt war. Er nimmt zwei
Faktoren an, 1. die individuell verschieden hohe Assimilations¬
grenze und 2. die individuell verschieden grosse Toleranz fur Al-
kohol. Ich bin fest iiberzeugt, dass diese individuellen Momente
eine sehr grosse Rolle spielen. Wie gesagt, die Tatsache, dass viele
Deliranten Zucker ausscheiden und andere nicht, lasst sich sonst
gar nicht erklaren. Man miisste denn sonst annehmen, dass bei
gleichem klinischen Bilde die Stoffwechselstorungen ganz ver¬
schieden sein konnen. Fur die Bedeutung der individuellen Dispo¬
sition sprechen auch die Falle, die bei vied er hoi ten Anfallen von
Delirium stets Glykosurie zeigten oder stets ohne Glykosurie ver-
liefen. Ich verweise auf die Falle 3 und 17: Bei ersterem wurde in
zwei Delirium-Anfallen postdeliridse Glykosurie beobachtet, bei
letzterem enthielt der Urin in 3 Delirien und einem Abortiv-De-
lirium wahrend des Deliriums und der darauffolgenden Tage
Zucker. In gleichem Sinne sprechen folgende Beobachtungen:
Unter deD 69 Deliranten ohne spontane Glykosurie sind 3, welche
zweimal ein Delirium durchmachten und beide Male keinen Zucker
ausschieden. 2 Deliranten mit spontaner Glykosurie zeigten die-
selbe auch, als sie zu einer anderen Zeit ohne deliriose Er-
scheinungen, aber unter den Folgesymptomen des chronischen
Alkoholmissbrauches aufgenommen wurden. Auch die beiden
Falle von Alcoholismus chronicus, welche bei 4 resp. 2 Aufnahmen
jedesmal fur mehr oder weniger lange Zeit Zucker ausschieden,
sind hier anzufiihren. Der Einfluss der individuellen Momente ist
also sicher ein grosser. Doch davon abgesehen, besteht die Tatsache,
dass das Delirium als solches, bezw. die ihm zugrundeliegenden
Stoffwechselstorungen oder Organveranderungen eine Herab-
setzung der Assimilationsfahigkeit fiir Kohlehydrate herbeifiihren,
die oft wahrend oder nach dem Delirium in spontaner Glykosurie
sich kundgibt. Ueber die Pathogenese dieser Glykosurie wissen
wir ebenso wenig wie iiber die des Deliriums selbst.
Ich mochte dann noch ganz kurz meine Beobachtungen iiber
das Vorkommen von Eiweiss im Urin der Deliranten mitteilen. Dass
eine mehr oder weniger starke, transitorische Albuminurie bei
Deliranten sehr haufig ist, wird iibereinstimmend von fast alien
Autoren angegeben. Ueber den Grad der Haufigkeit gehen die
FeBtstellungen der verschiedenen Beobachter allerdings ganz er-
heblich auseinander, und zwar schwanken sie nach einer Zusammen-
stellung von Wassermeyer 1 ) zwischen 16 und 76 pCt., ja Hertz 1 )
und Dollken 3 ) fanden die Albuminurie nahezu konstant. Wasser¬
meyer 4 ) selbst fand unter 241 Fallen der Kieler psychiatrischen
Klinik 159 mal Eiweiss, d. i. in 66 pCt. der Falle, betont aber, dass
diese Prozentzahl jedenfalls zu gering sei, da bei vielen Kranken
») 1. c. S. 886.
*) Zitiert bei Wassermeyer.
>) 1. c.
4 ) 1. c.
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W e i h s , Uefcer Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn. 255
nur eine einzige Urinuntereuchung angestellt worden war und er
sich. selbst wiederholt davon iiberzeugen konnte, does das Eiweiss
ofters erst im Verlauf des Deliriums auftrat. „Es verschwindet
zuweilen gleichzeitig mit dem Delirium oder auch schon vorher,
oder aber es iiberdauert den Anfall um einen oder einige Tage.
Die Menge des Eiweisses war sehr verschieden, von leichter Opalee-
zenz beim Kochen bis zu 2 pCt. nach Esbach. .
Der Urin meiner Deliranten ist wahrend der ganzen Beobach-
tungszeit taglich (bis auf die eingangs erwahnten Ausnahmen)
auf das Vorhandensein von Albumen untersucht worden. Von
106 Delirium-Fallen zeigten 72, d. s. 68 pCt., zu irgend einer Zeit
des Deliriums Albuminurie; unter diesen 72 Fallen befinden sich
4 mehrfach aufgenommene, so dass es sich tatsachlich nur um
68 Personen handelt. Ein Delirant zeigte in einem Delirium Albu¬
minurie, in einem zweiten nicht. Unter 26 Fallen von Delirium
tremens abortivum war bei 15, also etwa57,7 pCt.,Albuminurie vor-
handen; die Gesamtzahl dieser Falle ist an und fiir sich nur gering,
und die Differenz zwischen der Prozentzahl dieser Falle mit Albu¬
minurie und der bei Deliranten gefundenen ist zu gering, um daraus
irgend einen Unterschied herzuleiten. Es ergibt sich demnach also
auch aus meinen Beobachtungen, dass in dem grossten Teil der
Falle von Delirium tremens Eiweiss im Urin gefunden wird.
Herm Geheimrat Dr. Sander , Dalldorf, und Herm Direktor
Sanitatsrat Dr. Richter in Buch bin ich fiir die Erlaubnis zur Aus-
fiihrung meiner Untersuchungen zu Dank verpflichtet.
{An8 dim physiologischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven-
klinik in Berlin. Geh.-Rat Prof. Ziehen.)
Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
namentlich im Hirnschenkelfuss des Kaninchens.
Von
ALICE WEIHS
in Prag.
(Hierzu Taf. XVII—XVIII.)
Der Grundgedanke der folgenden Arbeit war, durch sehr kleine
Exstirpationen innerhalb eines motorischen Rindenzentrums,
welche weder an sich noch durch komplizierende Entziindungs-
prozesse iiber das einzelne Zentrum hinausgreifen konnten, die
Lokalisation der einzelncn Teilbahnen innerhalb des Pyramiden-
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256 Weihs, Ueber Lokalisationeninnerhalbder Pyramidenbahn.
bahnquerschnittes zu bestimmen. Die wichtigsten Vorarbeiten sind
folgende:
Flechsig 1 ) hat bekanntlich zuerst mit Hiilfe einer entwicklungs-
ge8chichtlichen Methode den Verlauf der Pyramidenbahn genau
bestimmt. Nach seinen Ermittlungen nehmen die Pyramidenfasern
im Himschenkelfuss das 3. Viertel 2 ) von innen nach aussen gerechnet,
bezw. (in distalen Ebenen) das mittlere Drittel 3 ) und in der inneren
Kapsel das mittlere Drittel des hinteren Schenkels ein. Die zentrale
Bahn der motorischen Himnerven schliesst sich medial an. Der
Eintritt der Pyramidenbahn in das Centrum semiovale erfolgt im
3. Viertel des Schwanzkemes (von vom nach hinten gezahlt). Sie
zeigt beim Menschen keine Beziehung zu den Hinterstrangen, wohl
aber fand Flechsig bei Mus decumanus starke Biindel, die in die
Hinterstrange kreuzten.
Wahrend sich bis heute viele Autoren dieser Ansicht im
wesentlichen anschlossen, wurden sie von Dejerine 4 ) in folgender
Weise modifiziert. Im Himschenkelfuss soli der Extremitatenteil
der Pyramidenbahn vorwiegend die 3 mittleren Fiinftel (vor
allem das 4. Fiinftel, wenn man das medialste als erstes bezeichnet)
einnehmen. Sie gibt sowohl Fasem an die Substantia nigra wie an
das Briickengrau ab. Ferner soli sie Biindel durch die Substantia nigra
zur medialen Schleife schicken, welche den ,,Pes lemniscus profond“,
d. h. einen Teil der lateralen pontinen Schleifenbiindel Schlesingers 5 ),
bilden. Das medialste Fiinftel enthii.lt vorwiegend Fasern aus der
facio-pharyngo-laryngealen Rindenregion 6 ), also den Hirnnerven-
teil der Pyramidenbahn. Diese Fasem enden grosstenteils in der
Substantia nigra und zwar in ihrem medialen Abschnitt. Ein anderer
Teil endet im vorderen Briickengrau. Nur sehr wenige dieser
Fasern gelangen durch die Pyramidenkreuzung in das Riickenmark.
Obwohl Dejerine diesen Schluss nicht ausdriicklich zieht, so ist
offenbar anzunehmen, dass diese letzte Fasergruppe des medialen
Fiinftels zum Extremitatenanteil der Pyramidenbahn 7 ) gehort.
') Flechsig, namentlich: Leitungsbahnen im Gehim und Riickenmark,
Leipzig 1876; Systemerkrankungen im Riickenmark, Arch. d. Heilk. Bd. 18.
1877. 8. 293 ff. (vergl. auch Naturforscher-Versammlung in Miinchen 1877);
Arch. f. Anatomie und Phys. 1881, nam. S. 15 ff; Plan des menschlichen Ge-
hims. Leipzig 1883. S. 7.
*) Dejerine, namentlich: Mom. de la Soc. de Biol. 1893; Compt. rend.
Soc. de Biol. 1897 und Anatomie des centres nerveux. Paris 1901. T. II.
8. 73 ff.
*) Sie soil namlich hier in das zweite Viertel etwas hineinragen; an
anderer Stelle (Plan, 8. 7) heisst es, dass sie in hoheren Ebenen mehr in
die aussere Halfte hineinreicht.
4 ) Charcot (Lemons sur les localisations. Paris 1876—1880. S. 202)
weist der Pyramidenbahn das mittlere Drittel zu.
4 ) Obersteinersche Arbeiten aus dem Inst. f. Anatomie und Phys. des
Zen tralnervensys terns. 1896. H. 4. S. 76. ScMesinger deutet die Biindel als
zentrale sensible Trigeminusbahn (S. 82).
*) Schon Brissaud hatte im medialen Fussabschnitt ein „faisceau
g4nicul6“ unterschieden, welches die Facialis- und Hypoglossusfasem
enthalten sollte (These de Paris 1880).
’) Strong genommen gehort die zentrale Bahn der motorischen Him-
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namentlich im Himschenkelfuss des Kaninchens.
257
Ausdriicklich behauptet ubrigens Dejerine (S. 78 und 129), dass in
den medialen vier Fiinfteln des Fusses die Extremitatenfasem der
Pyramidenbahn, die Himnervenanteile der Pyramidenbahn und
die Rinden-Briickenfasem gemischt verlaufen und nur von einem
Vorherrschen der einen und anderen Fasergattung in diesem oder
jenera Fiinftel gesprochen werden kann. Andererseits gibt er
insofem eine speziellere Lokalisation an, als er z. B. der Bein-
faserung speziell das 4. Fiinftel zuweist (S. 133). Aus diesem
4. Fiinftel soil auch der ,,Pes lemniscus profond“ hervorgehen.
Dejerine macht ausserdem noch Angaben iiber aberrierende
Biindel (S. 543 und 51, auch 81). Zu diesen gehoren namentlich
die oben schon erwahnten lateralen pontinen Biindel (,,Pes lemnicus
profond“), die nach Dejerine nicht zu den motorischen Hirnnerven-
kemen ziehen, sondern nach langerem Verlauf in der Bahn der medialen
Schleife zur Pyramidenbahn zuriickkehren und in die Pyramiden-
kreuzung gelangen. Das Biindel von der Schleife zum Fuss (Spitzka-
sches Biindel, Pes lemniscus superficiel) wird von Dejerine als
eine Varietat des Pes lemniscus profond, d. h. also der lateralen
pontinen Biindel betrachtet (1. c. S. 52) und soli ebenfalls aus dem
4. Fiinftel des Fusses entspringen und in diePyramide der Oblongata
gelangen oder auch im vorderen Briickengrau endigen. Keine Be-
ziehung zur Pyramidenbahn scheint De/m'we denjenigen aberrieren-
den Fussfasern zuzuschreiben, die er als Fibres aberrantes postero-
ext6rnes beschreibt; diese sollen vielmehr aus dem vierten Fiinftel
des Fusses zur Haube und zum Vordervierhiigel ziehen (S. 54
und 543). Dagegen be.schreibt er (S. 547) „Fibres aberrantes
protuberantielles“,die imPonsgebiet ausderFussbahn in die mediate
Schleife iibertreten sollen 1 ), um schliesslich wieder zur Pyramiden¬
bahn in der Oblongata zuriickzukehren. Analoge Fasern sollen
in kleiner Zahl die Pyramidenbahn sogar erst distal von der Briicke
verlassen, um fiir eine kurze Strecke sich dem Verlauf der Schleife
anzuschliessen (,,Fibres aberrantes bulbaires“, S. 549).
Obersteiner 2 ) unterscheidet im Hirnschenkelfuss ausser dem
Stratum intermedium nicht 5, sondern 6 Abschnitte; von diesen
enthalten der zweite und dritte Pyramidenfasern, und zwar der
zweite die kortiko-bulbare Bahn zu den Kernen der motorischen
Himnerven, der lateral angrenzende dritte die kortikospinale Ex-
tremitatenbahn. Das medialste (erste) Sechstel wird von den
frontalen Briickenbahnen gebildet. Im vierten Sechstel vermutet
nerven nicht zur Pyramidenbahn, da sie zum grossen Teil nicht bis in die
Pyramiden der Medulla oblongata gelangt. Es soli jedoch zur Abkiirzung
die gesamte Pfrojektionsfaserung der motorischen Region, soweit sie zu
Vorderhomzellen oder diesen homologen KemzeUen gelangt, als Pyramiden¬
bahn bezeichnet werden.
') Falschlich glaubt Dejerine ( S. 549), dass nur diese Fibres aberrantes
protuberantiolles den lateralen pontinen Schleifenbiindeln Schlesingers ent-
spreohen. Tatsachlich ist auch der Pes lemniscus profond im wesentlichen
den letzteren zuzurechnen.
’) Obersteiner, Anleitung beim Studium des Baues der nervosen
Zentralorgane. 1901. 4. Aufl. S. 398.
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258 W e i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
0. Bahnen fiir die Muskelsensibilitat, im fiinften liegt die temporale
Briickenbahn, im sechsten iibrigens relativ unbedeutenden Ab-
schnitt das Biindel von der Schleife zum Fuss.
Die funktionelle Topographie der Pyramidenbahn in der
inneren Kapsel wurde namentlich auch von Beevor und Horsley 1 )
untersucht. Auf Grund ihrer sehr genauen Reizversuche an Affen
stellten sie folgende Anordnung der Faserziige in der inneren Kapsel
von vom nach hinten fest: Auge, Mund, Kopf, Zunge, Schulter,
Ellbogen, Hand, Finger, Rumpf, Hiifte, Knie, Fuss, Zehen. Manche
klinische Befunde machen diese Anordnung auch fiir den Menschen
wahrscheinlich 2 ). Andererseits hat Melius 3 ) nach Exstirpation des
Facialisfeldes bei dem Affen gerade im Knie der inneren Kapels
keine Degeneration gefunden. Ebenso ist ein Fall Bergers 4 ) —
Hemiplegie ohne Zungenbeteiligung bei einem Herd im Knie und
im vordersten Drittel des hinteren Kapselschenkels — der Lokali-
sation der Zungenfasem im Kapselknie nicht giinstig.
Bechterew 5 ) nimmt im Gegensatz zu Dejerine im Himschenkel-
fuss eine Zusammenordnung funktionell zusammengehoriger Fasem
an, insofern als im zweiten Viertel desselben, das die Pyramiden-
fasem enthalt, der laterale Abschnitt die Fasem aus dem hinteren
Teil des Gyrus sigmoideus, der mediale die Fasem aus dem vorderen
Teil desselben Gyms fiihren soli. Dorsolateral von der Extremitaten-
bahn liegen die Fasem fiir die motorischen Hirnnervenkeme*), die
Bechterew aus seiner „zerstreuten accessorischen Schleife" herleitet,
welche mit den lateralen pontinen Schleifenbiindeln identisch ist.
Er stiitzt sich dabei auf experimentelle Untersuchungen Trapezni-
koffs beim Hunde. In der inneren Kapsel soli die Pyramiden¬
bahn das mittlere Drittel bezw. das dritte Viertel des hinteren
Schenkels einnehmen.
Ziehen 1 ) fand nach isolierter Exstirpation des Vorderbein-
zentrums beim Hund zerstreute Degenerationen in der inneren
Kapsel. Im Himschenkelfuss und zwar im mittleren Drittel des¬
selben sah er das Degenerationsfeld der Substantia nigra anliegen.
Weiterhin bildeten die degenerierten Fasem im Pons ein geschlossenes
Biindel; in die Pyramidenkreuzung traten sie vor den Hinterbein-
fasem ein. Im Seitenstrang des Riickenmarks lagen sie der grauen
Substanz zunachst, aber nicht als kompaktes Biindel, denn es
fanden sich zwischen den degenerierten auch normale Fasem.
*) Beevor and Horsley, An experimental investigation etc. Philos.
Transactions. 1890.
*) Vergl. z. B. Vetter, Ueber die feinere Lokalisation in der Caps. int.
Volkmanns Sammlung klinischer Vortrage. 1896. No. 166.
’) Relations of the frontal lobe etc. Amer. Journal of Anat. Bd. 7.
*) Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1899. Bd. 6. S. 114.
5 ) Bechterew, Die Leitungsbahnen in Gehim und Ruckenmark. 1899.
S. 279.
*) 1. c. S. 318 und 236. Vergl. auch Neurol. Centralbl. 1890. S. 739 und
1891, S. 107.
7 ) Ziehen, Sekundare Degeneration nach Exstirpation etc. Arch. f.
Psych, und Nervenkr. 1887. S. 300.
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namentlich im Himschenkelfuss des Kaninchens.
259
Die klinischen Falle, in welchen die sekundare Degeneration
nach Zerstorung eines motorischen Zentrums innerhalb des Gehirns
gewissenhaft untersucht wurde, sind leider sehr sparlich. Ich ver-
weise beispielsweise auf den Fall von Thiele 1 ), in welchem die Zer-
storung des obersten Drittels der motorischen Region eine De¬
generation an der Grenze des mittleren und hinteren Drittels des
hinteren Schenkels der inneren Kapsel hervorgerufen zu haben
scheint (siehe auch oben Fall Berger).
Gad und Flatau 2 ), die am blossgelegten Riickenmarksquer-
schnitt Reizversuche machten, beobachteten, dass die fiir proximale
Korperteile bestimmten Fasern der grauen Substanz der Vorder-
homer anliegen, wahrend die fur distale Teile bestimmten Fasern
weiter hinten und an der Peripherie des Riickenmarkes verlaufen.
Diese Verteilung wiirde dem von Flatau spater fiir die sensible
Leitung aufgestellten Gesetz der exzentrischen Lagerung der langen
Bahnen entsprechen.
Dagegenglaubte Hoche 2 ) eineLokalisation innerhalb desRiicken-
markes ablehnen zu miissen, da er bei einem Fall von anscheinend
Monoplegie der Hand schon vom Pons an das ganze Gebiet von
degenerierten Fasern iibersat fand; der grosste Teil derselben
kreuzte in die gegenseitigen Seitenstrange, nur 30—40 Fasern blieben
als Pyramidenvorderstrang auf der gleichen Seite. Im dritten
Siebentel des Hirnschenkelfusses bildeten die degenerierten Fasern
ein Dreieck, dessen Spitze die Substantia nigra beriihrte. Der
motorische Schleifenanteil war frei.
DieFrage der Gruppierung der motorischen Bahnen im mensch-
lichen Riickenmark behandelte femer sehr genau Fabritius*).
Er untersuchte mehrere Falle von Verletzung des Riickenmarks
durch Messerstiche und kam dadurch und durch den Vergleich
ahnlicher Falle in der Literatur zu dem Ergebnis, dass die Bahnen
fiir die einzelnen Bewegungen voneinander getrennt verlaufen,
und zwar die fiir das Bein im hinteren inneren, die fiir den Arm
im vorderen ausseren Abschnitt der Pyramidenseitenstrangbahn;
innerhalb dieses Gebietes sollen die Fasern fiir proximal gelegene
Abschnitte mehr medial, die fiir distal gelegene mehr lateral liegen.
Also finden sich z. B. im Gebiet fiir das Bein die Fasern fiir die
Hiifte am weitesten hinten innen, dann folgen die fiir das Knie,
hierauf am weitesten nach vom aussen die fiir den Fuss; eine
analoge Anordnung besteht fiir die obere Extremitat. Zu einem
ahnlichen Ergebnis gelangt Halhtrom 5 ) auf Grund einer klinischen
Beobachtung.
>)■ Thiele, Brain, 1901. Bd. 24. S. 509.
*) Gad und Flatau, Ueber die grobere Legalisation etc. Neurol. Central-
blatt. 1897. S. 481.
3 ) Hoche, Ueber die Lage der f. die Innervation der Handbew. etc.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. 1900. XVIII. S. 149.
4 ) Fabritius, Finska Sak. Handlingar, zitiert nach Jahresbericht fiir
Neurologie und Psychiatrie. 1907. und Gruppierung der motorischen
Bahnen etc. Arbeiten aus dem Pathologischen Institut Helsingfors. II.
*) Deutsche Zeitschr. f. Chirurgie. Bd. 97. S. 167.
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260 W o i h 3 , Ueber Lokalisationen innorhalb der Pyramidenbahn,
Flatau x ) nahm in seinen spateren Arbeiten einen isolierten
Verlauf der einzelnen Pyramidenbahnenteile nur fur die innere
Kapsel an. Distalwarts sollen sich die Bahnen vermnchen, doch
nehmen im Fuss die fur den Oberkorper bestimmten den medialen
Abschnitt, die fiir den Unterkorper bestimmten den lateralen Ab-
schnitt ein. Von den dorsomedialen Partien der Pyramidenbahn
gehen feine Biindel entweder durch die Substantia nigra oder
direkt in die medialen Teile der Schleife iiber. Einige Biindel ziehen
durch die Schleife zum dorsalen Teil der Substantia reticularis
tegmenti, wie er nach Exstirpationen im Gebiei des Zentrums des
Kopfes, Nackens und der oberen Extremitaten sah. Der Pyramiden-
anteil der Schleife enthalt Fasern fiir die motorischen Hirnnerven-
kerne und endigt in der Haube; er verbindet also die kortikalen
Pyramidenneurone mit den motorischen Schaltneuronen der Haube.
Von hier sollen extrapyramidale Bahnen stammen, die den Riicken-
marksvorderhornern zustreben.
Sand 2 ) weist den Pyramidenfasern das mittlere Drittel des
Fusses an. In der Briicke sollen sich die kortikobulbaren und
kortikospinalen Fasern vermischen. Erstere losen sich entgegen
Hoches Beobachtung besonders von den medialen Biindeln der
Pyramide ab. Die Degeneration soil im verlangerten Mark am
starksten im dorsolateralenWinkel der Pyramide sein, von wo homo-
laterale Fasern abgehen, wahrend die kontralateralen Fasern
durch den dorsalen Rand und den dorsomedialen Winkel die
Pyramide verlassen. Jacobsohn 3 ) hatte gezeigt, dass die medialen
und dorsalen kortikospinalen Fasern der Pyramiden sich kreuzen,
die lateralen den Pyramidenvorderstrang bilden. Sand findet fiir
diekortikoft ftf&aren Fasern diesel be Anordnung; die zu den homo-
lateralen Kemen ziehenden Fasern liegen lateral, die zu den kontra¬
lateralen Kernen gelangenden Fasern medial. Schleifenfasern zu
den motorischen Hirnnervenbahnen existieren nach Sand nicht,
sondern letztere ziehen nur von der Pyramide durch das Areal der
Schleife oder die Raphe zu den Kernen. In der Hohe der Trochlearis-
kreuzung verlassen die ersten Fasern die Pyramide und ziehen von
ihrer dorsolateralen Ecke zu den mittleren Abschnitten der Schleife.
Zwischen oberem und mittlerem Ponsdrittel verlassen zahlreiche
kortikobulbare Fasern den Pyramidentrakt in charakteristischen
schragen Biindeln.
Ausser der Sandschen Arbeit beschaftigen sich viele alt ere
Untersuchungen mit der speziellen Verlaufsweise der zentralen
Bahnen der motorischen Hirnnerven.
’) Flatau, Ueber die Pyramidenbahnen. Poln. Arch. f. biologische
und medizinische Wissenschaft. 1906. III.
*) Sand, Zur Kenntnis der kortikobulbaren und kortikoprntinen
Pyramidenfasern. Arbeiten aus dem Neurologischen Institut von Ober-
steiner. 1903. Heft 10.
*) Jacobsohn, Ueber die Lage der Pyramiden - Vorderstrangbahn.
Neurol. Oentralbl. 1895.
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namentlich im Hirnschenkelfuss des Kaninchens.
261
Nach Kolliker 1 ) kommt eine gekreuzte Verbindung des Facialis-
kerns mit der Rinde dadurch zustande, dass starke Biindel aus
der Pyramide medialwarts austreten, sich sofort in der Raphe
kreuzen und dorsalwarts vom Lemniscus medialis quer und schief
lateralwarts zum Facialiskem ziehen.
Auf demselben Weg verfolgte Hoche 2 ) degenerierte Fasern der
Facialisbahn zu dem gleichseitigen und dem gekreuzten Kern.
Der grossere Teil derselben stammte aus dem medialen Abschnitt
der Pyramidenbahn und zog zum gegenseitigen Kern, der kleinere
Teil der Fasern gelangte aus dem lateralen Abschnitt der Pyramide
zum gleichseitigen Kern. Die Fasern der zentralen Hypoglossusbahn
sah Hoche — ebenfalls in Uebereinstimmung mit Kolliker — von
der Pyramide teils in der Raphe, teils neben der Raphe, teils lateral¬
warts durch die Olive im Bogen durch dieFormatio reticularis, teils
zum gleichseitigen 8 ), teils zum gekreuzten Hypoglossuskem ziehen.
Ausserdem beschreibt H. auf Grand seiner Degenerationsbefunde
eine zweite Bahn von der Himrinde zum Facialis- und Hypo¬
glossuskem. Diese zweite zentrale Bahn soil nach Hoche im Pes
pedunculi aussen von der Pyramidenbahn liegen; von den obersten
Ponsebenen ab bis zum Niveau des Hypoglossuskernes soil sie der
medialen Schleife angehoren (daher die Bezeichnung ,,motorischer
Schleifenteil“) und mit den lateralen pontinen Biindeln Schlesingers
identisch sein, aber die Kreuzung der medialen Schleife nicht mehr
mitmachen. Ob ausserdem auch das Spitzka sche Biindel (Biindel
von der Schleife zum Fuss) zu der zentralen Bahn der motorischen
Himnerven gehort, lasst H. dahingestellt; jedenfalls war es in seinen
beiden Fallen von Hemiplegie mit Beteiligung des Facialis und
Hypoglossus intakt.
Weidenhammer*) fand die zentrale Hypoglossusbahn in Fasern,
die aus der Olivenzwischenschicht zum gekreuzten und zum gleich¬
seitigen Hypoglossuskem ziehen; die zentrale Facialisbahn sucht
auch er im ,,Tractus lemnisco-peduncularis“. Ueber die Fasciculi
pontini laterales sind seine Aeusserungen widersprechend. In der
ersten Mitteilung spricht er nur von absteigender Degeneration
und nimmt ihre Endigung in der Briicke an, in der zweiten Mit¬
teilung behauptet er auf- und absteigende Degeneration und be-
zieht erstere auf die sensible Trigeminusbahn.
Zu ziemlich komplizierten Ergebnissen ist Probst 6 ) bei seinen
Experimentaluntersuchungen gelangt. Allerdingsmochteichglauben
dass die bekannten Fehlerquellen der Marchischen Methode
*) Kolliker , Gewebelehre. 1893. S. 275.
*) Hoche, Beitrage zur Anatomie der Pyramidenbahn. Arch. f. Psych.
1898. Bd. 30. S. 103:
*) Verbindungen mit dem gleichseitigen Kern hatte Edinger schon
friiher nachgewiesen (Deutsche med. Wochenschr. 1886).
4 ) Wetdenhammer, Neurol. Centralbl. 1896. S. 191 und 1897. S. 712.
•) Probet, Zur Kenntnis der Pyramidenbahn. Monatsschr. f. Psych, u.
Neurol. 1899. S. 91 und Zu den fortsohreitenden Erkrankungen der mo¬
torischen Leitungsbahnen. Arch. f. Psych. 1898. S. 766.
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262 W © i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
ihm bin und wieder auch eine Degeneration vorgetauecht haben.
Nach Probst gehen in der Medulla oblongata aus dem Pyramiden-
areal Fasem ab:
1. zur gleichseitigen Olivenzwischenschicht,
2. zur Raphe, urn nach Durchkreuzung derselben in die
Gegend der gekreuzten Olive zu gelangen.
3. ein ,,gekreuztes accessorisches Pyramidenbfindel“,
4. ein ,,gleichseitiges accessorisches Pyramidenbiindel“.
Die Pyramidenbahnen sollen durcb solcbe Fasem auch mit
dem Vorderstrang, den beiden ventralen und lateralen Randzonen,
den beiden vorderen Grenzzonen, beiden Strickkorpem und dem
Oberwurm in Verbindung treten.
Ausserdem erkennt Probst in der Schleife verlaufende
Pyramidenfasem an, welche namentlich ,,die dorsale, mediale
und laterale Partie“ liber dem Himschenkelfuss einnehmen und in
der Brficke und im verlangerten Mark feinste Faserchen in die
Substantia reticularis abgeben. An der medialen Seite der Pyramide
steigen hier ausserdem Faserchen in der Raphe auf und ziehen durch
die Schleifenformation namentlich zum gekreuzten, aber auch zum
gleichseitigen Facialiskem und anderen motorischen Himnerven-
kemen.
Den motorischen Trigeminuskern fand Probst bei Verletzung
des zugehorigen Rindenzentrums frei von Degeneration. Ebenso
vermochte er in anderen Fallen nicht mit Htilfe der iforcAi-Methode
eine Degeneration in der grauen Substanz nachzuweisen. Er nimmt
daher an, dass noch besondere Schaltneurone eingeschoben sind
oder die Fasem schliesslich marklos werden.
Das Picksche Bfindel ist ebenfalls zu der Pyramidenbahn bezw.
zur Bahn der motorischen Hirnnerven in Beziehung gebracht
worden. Pick 1 ) selbst betrachtete es als eine abnorme Verbindung
zwischen Seitenstrang und Strickkorper, vielleicht auch Kleinhim.
Hoche 2 ) stellte fest, dass es abwarts degeneriert, und vermutete,
dass es sich um eine abnorm hohe einseitige Pyramidenkreuzung
handele. Ranschoff 3 ) fand, dass es gleichzeitig mit den Pyramiden¬
bahnen markhaltig wird. Zu einer etwas abweichenden Auffassung
ist neuerdings Leuy 4 ) gelangt. Andere „aberrierende“ Pyramiden-
faserbfindel sind von Sjriller 6 ), Dejcrive 8 ) u. A. beschrieben worden.
Auch Lewandowsky 1 ) konnte mit Hfilfe der J/arcta'-Methode
') Pick, Ueber die abnormen Faserbtindel in der Medulla oblongata.
Arch. f. Psych. 1890. Bd. 21. S. 636.
*) Hoche, Arch. f. Psych. Bd. 30. S. 103. Vergl. auch UgoloUi. Riv. di
pat. nerv. u. ment. 1902.
*) Neurolog. Centralbl. 1899.
*) Folia neuro-biolog. 1908. Bd. 2. S. 25. Daselbst finden sich auch
weitere Literaturangaben.
*) Brain 1899. S. 563.
*) Rev. neurol. 1900. No. 15.
’) Lewandowsky, Die Funktionen des zentralen Nervensysterns. Jena
1907. S. 313.
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namentlich im Himschenkeliuss dee Kaninchens.
263
Endigungen der PyTamidenfasem in den Hirnnervenkemen oder
in den Vorderhornem selbst nicht nachweisen, sondern die Fasern
im Riickenmark nur bis in die Zwischenzone zwischen Hinter- und
Vorderhom, im Himstamm bis in die Formatio reticularis ver-
folgen. Er vertritt die Ansicht, dass „die von der Rinde anlangende
Erregung bereits auf gewisse physiologische Zusammenfassungen
treffen diirfte, in die sie freilich in jeder Weise einzugreifen vermag“.
Auch Monakow und Flatau nehmen zu der Hypothese von Schalt-
neuronen ihre Zuflucht.
Weit vager noch sind die Vermutungen von Adamkiewicz 1 ).
Die wahren motorischen Zentren sollen im Kleinhirn liegen und
durch den im Grosshim entstehenden ,,Willen“ angeregt werden.
Die Bahn der motorischen Innervation wiirde durch Stabkranz >
Bruckenarme ins Kleinhirn, durch die Kleinhimseitenstrangbahn.
zu den grauen Vorderhornem ziehen. Fur die Pyramidenbahn
wiirden die Grosshirnganglien an Stelle des KJeinhirns als Zentren
fungieren. Da bei den Operationen an subkortikalen Zentren stets
die Rinde verietzt wurde, konnten die durch diese Experimente
herbeigefiihrten Lahmungen wohl auf letztere bezogen werden.
Die vergleichende Anatomie der Pyramidenbahn, namentlich
derPyramidenkreuzung behandelt a. A.. Ziehen 2 ). VondenUngulaten
wurde die des Schafes untersucht. Die physiologisch bestimmten
Leitungsbahnen sind nach Ziehen oft auch anatomisch durch ihre
eigentiimliche Gliaanordnung, ihr Faserkaliber, ihre Gefassver-
teilung und schliesslich auch ihre Tinktionsfahigkeit scharf charak-
terisiert. Die Kreuzung beginnt in einerHohe, in welcher die Vorder-
horner noch gut ausgebildet sind, und verlauft sehr steil. Die Fasern
lassen sich teils zu dem Maschenwerk des Proc. retie., teils aber
auch in den Burdachschen Strang verfolgen. Sie nehmen in seinem
lateralen Teil ein etwa dreieckiges Feld ein, dessen Spitze zur
Nische zwischen Angulus int. und Hinterhomkopf gerichtet ist
und lateral an die spinale Trigeminuswurzel grenzt. Bei den
Marsupialiem verlauft nach Kollikers und Ziehens 3 ) Forschungen
die Pyramidenbahn ganz oder grosstenteils im Hinterstrang, nach
vollstandiger Kreuzung. Die diirftigen Pyramiden der Monotremen
gehen wahrscheinlich in den Hinterstrang. Die Pyramidenbiindel
der Insektivoren stammen aus dem Vorderstrang, teilweise vielleicht
aus dem Hinterstrang, die der Chiropteren und Edentaten aus
Seiten- und Hinterstrang, die einiger Rodentien (Maus, Ratte,
Eichhom) aus dem ventralen Hinterstrangsfeld. Die Leporinen
zeigen einen mehr karnivorenahnlichen Typus. Stieda hatte den
Verlauf der Pyramidenbahn des Kaninchens im Hinterstrang,
Lenhossek ausschliesslich im Seitenstrang angegeben. Ziehen fand
') Adamkiewicz, Der Doppelmotor im Gehim. Neurol. Centralbl. 1907
S. 590.
*) Ziehen, Ueber die Pyramidenkreuzvmg des Schafes. Anatomischer
Anzeiger 1900. XVII. S. 237.
3 ) Ziehen, Das Zentralnervensystem der Marsupialier und Monotremen.
S. 881.
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264 W e i h e , Ueber Lokalisationen inner halb der Pyramidenbahn.
ihn vorwiegend im Seitenstrang, doch einige Pyramidenfasem auch
im Vorder- und Hinterstrang. Beziiglich weiterer Einzelheiten ver-
weise ich auf die eingehende Darstellung Ziehens in seiner Mono¬
graphic iiber das Aplacentaliergehirn und iiber das Orycteropus-
gehim 1 ).
Bei den vorliegenden Untersuchungen wurde zunachst durch
Reizung mit moglichst schwachem faradischen Strom das Zentrum
fiir moglichst isolierte Bewegungen im Gebiet des Mund- und Ohr-
facialis, des motorischen Trigeminus, des Hypoglossus und einer
Extremitat festgestellt (stets links) und sodann ein kleiner Teil
dieser Stelle im Durchmesser von 1—2—4 mm mit einem feinen
Messerchen unter anti- bezw. aseptischen Kautelen oberflachlich
exstirpiert; die Tiere, meist Kaninchen, ausnahmsweise Hunde.
wurden nach ungefahr 3 Wochen getotet, Gehim und Riickenmark
nach Mar chi behandelt und in Serienschnitte zerlegt. Bei der
Deutung der Befunde, welche grosstenteils von Herm Geh.-Rat
Ziehen kontrolliert wurden, beobachtete ich die bekannten, fiir die
Marchinche Methode so iiberaus wichtigen Vorsichtsmassregeln.
Die motorische Erregbarkeit der Tiere und dann wieder der
einzelnen Zentren durch den elektrischen Reiz erwies sich als sehr
ungleich. Einige Tiere zeigten sich bei schwachen Stromen fast ganz
unerregbar. Die Anwendung starker Strome wurde ganz vermieden,
da es gerade auf genaueste Lokalisation des Reizes ankam. Hie
und da ermiideten die Zentren so leicht, dass die Reizung nur wenige
Male mit Erfolg wiederholt werden konnte. Allgemein sprachen die
Facialiszentren am leichtesten an. Besondere Schwierigkeiten
bot nur die isolierte Reizung des Hinterbeinzentrums, wie dies auch
Garville-Duret und Fiirslner beobachtet haben. Sie gelang beim
Kaninchen nur in einem Fall, und da dieses Tier bald nach der
Operation zugrunde ging, wurden fiir die Untersuchung der
Hinterbeinfaserung Hunde verwendet. Aber auch bei einem der
Hunde war das motorische Hinterbeinzentrum fiir die in Betracht
kommenden Strome unerregbar, obwohl die bekannten Schadi-
gungen der Rindenerregbarkeit durch Narkose, Blutverlust usw.
sorgfaltig vermieden wurden. Diese Erscheinung mag darauf
zuriickzufiihren sein, dass der schwache Reiz fiir die grossen
Massen der Hinterbeinmuskulatur nicht geniigt, wie schon Munk
hervorgehoben hat. Da aber beim Affen Bewegungen auch vom
Hinterbeinzentrum aus stets auszulosen sind, gewinnt die Annahme
an Wahrscheinlichkeit, dass bei dem fast vollstandigen Mangel von
isolierten und hoher koordinierten willkiirlichen Bewegungen des
Hinterbeins beim Kaninchen und der relativ geringen Ausbildung
derselben beim Hund auch nicht regelmassig eine ausgiebige Ver-
tretung solcher Bewegungen in der Hirnrinde vorhanden ist. Das
Vorderbein nehmen hingegen auch die Nager haufig auch ganz
1 ) Denkschriften der medizinisch-naturwissenBchaftlichen Geeellschaft
in Jena. Bd. 6. Teil 2. S. 884 und 1909. Bd. 16. S. 477.
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namentlich im Hirnschenkelfuss dea Kamnchens.
265
isoliert in Anspruch; es ist daher wohl auch in der motorischen
Region ausgiebiger vertreten.
Die Lage der Zentren entsprach meist mehr oder minder
genau dem Ferrierschen Schema; eine deutliche Abweichung zeigte
sich nur in einem Falle, wo Zehenbewegung des Vorderbeins ganz
vom medial, etwas weiter liinten und lateral Adduktion des Vorder¬
beins ausgelost wurde und das Facialiszentrum sich weiter hinten
fand.
Es sollen nun die Befunde bei den einzelnen Versuchstieren
kurz beschrieben werden. Die einzelnen Tiere sind mit grossen
lateinischen Buchstaben bezeichnet.
1 . Mundfacialisbahn,
11.1.1909. 3 /j jahriges Kaninchen G. Trepanation in der linken Parietal-
gegend, Erweiterung der Oeffnung mit der Knochenzange. Das Hinterbein-
zentrum erweist sich als unerregbar. Vom Facialiszentrum durch Reizung
bei 9 cm Rollenabstand Retraktion der rechten Oberlippe. Exstirpation
eines etwa 4 mm* grossen diinnen Stiicks Rinde.
13.1. Die Barthaare stehen rechts weiter nach vom gerichtet. An beiden
Ohren hangend gehalten, kreuzt das Tier stets das rechte Vorderbein liber
das linke. Auf Stiche in der Lippengegend scheinbar gleichmassige Reaktion.
2. II. Totung durch Chloroform. Keine Spuren von Meningitis. Das
Gehim wird fiir 3 Stunden in Formalin, 21 Tage in MiMersche, 28 Tage in
Marchische Losung gelegt.
13. I. 3 /j jahriges Kaninchen H. Bei Reizung der Rinde bei 7*4 cm
Rollenabstand Zittem der Barthaare rechts. Exstirpation.
15. I. Weder Reiz- noch Ausfallserscheinungen deutlich.
12. II. Totung durch Chloroform, 6 Stunden Formalin, 24 Tage
MiiUersche, 28 Tage Marchische Losung.
Die mikro8kopischen Befunde in diesen beiden Fallen von Exstirpation
des Zentrums fur den Lippenfacialis deckten sich im wesentlichen fast voll-
standig, so dass eine gemeinsame Beschreibung zulassig erscheint. In der
Gegend der unteren Olive (vergl. Fig. 1) zeigt sich bei G Degeneration der
linken Pyramide, die im medialen Teil am dichtesten ist und lateralwarts
langsam abnimmt. Nur die medialste Randzone der Bahn erscheint fast ganz
frei. Dorsalwarts schliesst sich an letztere ein stark degenerierter Streifen
entlang dem medialen Rand der Olive. Einzelne degenerierte Fasern iiber-
schreiten die Raphe und ziehen entlang dem medialen und ventralen Rand
der Olive, ohne in die gekreuzte Pyramide einzugehen. In derFormatio retie,
sieht man Degeneration besonders im dorsalen Teil in der Nahe der Hypo-
glossuskeme, vielleicht links etwas starker als rechts. Die Kleinhimseiten-
strangbahn zeigt eine leichte, aber deutliche Degeneration, und zwar iiber-
wiegend rechts, die spinale Trigeminuswurzel eine symmetrische, ebenfalls
sehr leichte Degeneration rechts und links.
Bei H sind die schwarzen Tropfchen mehr diffus iiber das Pyramiden-
areal verteilt. Ein degeneriertes Biindel drangt sich durch die Olive und lasst
sich durch die Form. ret. dorsalwarts bis an den Hypoglossuskem verfolgen.
Proximalwarts wird die Degeneration der Pyramide auch bei G diffuser
und nimmt etwas an Starke ab. In der Hohe der oberen Olive (vergl. Fig. 2)
ist die Degeneration bei beiden Tieren am starksten am ventralen Rand
in den beiden medialen Dritteln. Dorsalwarts ist sie in der Form, retie.,
zum Teil in den Fibrae rectae langs der Raphe zu verfolgen. Das Facialis-
knie zeigt beiderseits eine etwa gleiche leichte Degeneration. Im gekreuzten
Facialiskem findet sich eine etwas starkere Degeneration aJbs in dem
gleichseitigen. Auch der gekreuzte Lemniscus medialis zeigt eine grossere
Zahl degenerierter Fasem. Die schwarzen Schollen in den austretenden
Nervenstammen sind wohl auf Zerrung, Quetschung u. dgl. zuriick-
zufuhren. Eine starke Degeneration findet sich weiterhin im Bereich des
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2(36 Weihs, Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
Corpus trapez. (vergl. Fig. 3) und der Olivenzwischenschicht. Es handelt
sich dabei jedoch fast nur um quer- oder schraggeschnittene, also nicht zum
C. trapezoides zu rechnende Fasem. Ein Unterschied zwischen rechts und
links ist nicht wahrnehmbar. In der Formatio reticul. ist in diesem Niveau
die Menge der degenerierten Fasern nur sehr gering, und sie beschranken
sich auf den dorsalen Teil, wo sie bis in die Raphe hinein zu finden sind.
Die spinale Trigeminuswurzel zeigt bei H rechts ein leichte, aber deutliche
Degeneration, links ist sie fast frei.
In der Hirnschenkelregion (vergl. Fig. 4) zeigen sich recht charakte-
ristische Veranderungen. Ira raedialen Drittel beschrankt sich die Dege¬
neration auf einen schraalen ventralen Randstreifen. Im mittleren Drittel
erstreckt sie sich liber den Fuss in seiner ganzen Hohe und nimmt dabei an
Dichtigkeit lateralwarts zu. Sehr deutlich heben sich die degenerierten
Biindel der Flechsigschen Fussschleife (laterale pontine Biindel) von der
Subst. nigra ab. Im lateralen Fussdrittel findet sich nur am dorsalen
Rand eine schmale Degenerationszone. Der Lemniscus medialis ist nahezu
degenerationsfrei. Dieselbe Anordnung der degenerierten Fasem findet sich
auch bei H.
Proximalwarts werden die Schwarzpunkte im mediaien Drittel immer
sparhcher. Dew mittlere Drittel ist jetzt besonders in seinern mediaien Ab-
schnitt dicht von schwarzen Punkten wie iibersat. Die Biindelquerschnitte
der Flechsigachen Fussschleife sind als solche nicht mehr zu sehen. statt ihrer
findet sich ein zusammenhangender schmaler Degenerationsstreifen (vergl.
Fig. 5).
In den untersten Ebenen der inneren Kapsel ist ihr vorderer Schenkel
frei von Degenerationen. Dieselben beginnen vielmehr erst im Knie imd
nehmen etwa ein Drittel des hinteron Schenkels ein. Das Maximum der
Dichtigkeit entspricht etwa der Mitte des hinteren Schenkels. Die dege¬
nerierten Fasern sind in den hintersten Ebenen auffallig schichtweise an-
geordnet, so dass sich immer schmale nicht degenerierte Felder zwischen
die degenerierten schieben. Die nicht degenerierten Felder sind wohl
durchweg als Fasciculi perforantes (Kolliker) zu deuten. Im ganzen bildet
das Degenerationsareal ein etwa gleichschenkliges Dreieck, dessen Spitze
ventral und lateral gerichtet ist. Dorsal von der inneren Kapsel finden sich
links degenerierte Partien entspreehend dem Corpus geniculatum laterale.
Diese Degeneration scheint auch mit dem Stabla’anz des Thalamus und
vielleicht auch mit seinem Nucleus ant. ventralis zusammenzuhangen. An
der Operationsstelle in der Rinde findet sich bei G eine kleine cystische
Hohle, bei H nur der durch die Operation gesetzte Defekt.
23. XI. 1 jahriges Kaninchen D. Starke Blutung beim Spalten der
Dura. Reizung der Hirnrinde zunachst erfolglos, dann von einer Stelle 8 mm
links von der Mediallinie bei 7 1 . cm Rollenabstand Oeffnen des Mimdes und
Verziehung des rechten Mundwinkels. Exstirpation.
25. XI. Passiven Bewegungen, beispielsweise der Streckung der
Extremitatenwird rechts ein geringerer Widerstand entgegengesetzt als links.
Beide Ohren hangen etwas nach links. Barthaare rechts mehr nach vorn
hangend.
10. XII. Totung. Das Gehirn wird 4 Stunden in Formalin, 3 Wochen
in Miillersche, 4 Wochen in Marchische Losung gelegt.
Der mikroskopische Befund unterscheidet sich bei diesem Versuch
von den vorhergehenden durch die Mitbeteiligung der gekreuzten Pyramide.
In der Medulla oblongata ist die linke Pyramide ziemlich gleichmassig von
degenerierten Fasern iibersat; linienformig angeordnet gehen degenerierte
Fcwem iiber die Mittellinie etwas liinaus und finden sich dann vereinzelt
in der rechten Pyramide, besonders in ihrem ventralen Teil. In der Subst.
retie, liegen sie links mehr medial liber der Olive, rechts sind sie in den late¬
ralen Partien zahlreicher. Im Facialiskem finden sich auf der gekreuzten
Seite deutlich mehr degenerierte Fasem. Im Himschenkelfuss ist die
Degeneration ahnlich verteilt wie bei G und H: das mediale Drittel ist
fast frei, die starkste Degeneration findet sich an der Grenze des mittleren
und lateralen DritteLs. Das letztere ist noch ziemlich stark beteiligt. Im
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namentlich ira Himschenkelfuss des Kaninchens.
267
ventralen Teil des Lemniscus med. findet sich beiderseits eine leichte
Degeneration, links starker als rechts. Ebenso ist der von Miinzer und
Wiener l ) beschriebene Tractus tectobulbaris cruciatus links sehr stark,
etwas aber auch rechts deutiich degeneriert. In der inneren Kapsel deckt
sich das Bild vollstandig mit dem fiir H und G beschriebenen.
2. Ohrfadalisbahn.
16. I- 1 jahriges Kaninchen J. Operation wie oben. Bei 7 cm Rollen-
abstand Aufrichten des rechten Ohres. Exstirpation.
18. I. Rechtes Ohr hangt schlaff herab. An den Ohren hangend ge-
halten, kreuzt das Tier die Beine rechts iiber links.
13. II. Totung. Gehirn 3 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Miillersche,
4 Wochen in Marchisehe Losung.
Mikroskapischer Befunrt. Schon in den unteren Ebenen der Medulla
oblongata'ist die gauze linke Pyramide ziemlich dicht mit Degenerationen
iibersat, die nur am lateralen Rand etwas sparlicher werden. Die rechte
Pyramide zeigt nur wenig degenerierte Fasern, deren Uebergang durch die
Raphe zu verfolgen ist. Die Form, retie, scheint rechts und links in etwa
gleichem Moss leieht beteihgt. Am Boden der Rautengrube findet sich eine
recht erhebliche Degeneration beiderseits, die auch in das Areal der Hypo-
glossuskerne iibergreift. Die Kleinhimseitenstrangbahn zeigt namentlich
rechts degenerierte Fasern. Etwas starkere Degeneration findet sich auch
zwischen der rechten Olive und dem rechten Nucleus lateralis. Proximal-
warts nimmt die Dichtigkeit der Degeneration in der Pyramide ab und
nimmt die medialen 3 Viertel des Areals ein, rechts ist sie unbedeutend.
Der gekreuzte Facialiskem ist von Schwarzpunkten durchsetzt, auch der
gleichseitigo zeigt eine deutliche Degeneration. Ebenso verhalt sich das
Facialisknie und das Corpus restiforme. Die sensible Trigeminuswurzel zeigt
iiberall vereinzelte degenerierte Fasern. Die Olivenzwischenschicht ist be-
sonders links etwas starker degeneriert; dies gilt in geringerem Mass auch
von der Langsfaserung im Bereich des C. trapez. In der Briickengegend,
woselbst die Ponsfasem das Pyramidenareal in mehrere Biindel spalten,
ist das ganze linke Pyramidenareal betroffen. Der Lemniscus med. zeigt
nur in seinem ventralen Teil links etwas starkere Degeneration. Der Him¬
schenkelfuss erscheint in seinem lateralen Drittel bis an die Orenze zum
mittleren Drittel fast frei. Das mittlere Drittel ist samt den Flechsigschen
Fussschleifenbiindeln mit Degenerationspunkten iibersat. In sehr geringem
Mass ist auch das mediale Drittel beteiligt. Die mediate Schleife ist in den
proximalen Ebenen ebenso wie die gekreuzte Pyramide ganz frei von De¬
generation. In noch hoheren Ebenen nimmt die Degeneration beinahe aus-
schliesslich das mittlere Drittel des Fusses ein. In dem hinteren Schenke!
der inneren Kapsel ist ausser dem ventralsten und dem dorsalsten Ab-
schnitt alles „schichtweise“ degeneriert, und zwar am dichtesten die Um-
gebung des Knies; doch sind die Befunde nicht ganz einwandfrei. Das
Corpus gen. lat. und die Gitterschicht zeigt eine ziemlich starke Degeneration,
ebenso der obere Thalamusstiel und zum Teil auch die Lamina medullaris
lateralis. Die Himrinde zeigt nur den kleinen der Exstirpation entsprechenden
Defekt.
3 . Motorische Trigeminusbahn.
18. I. 3 j&hriges Kaninchen K. Operation wie oben. Weit vom, iiber
der Orbita bei 6,8 cm Rollenabstand Kaubewegungen der Kiefer auslosbar.
Exstirpation.
20. I. Weder Reiz- noch Ausfallerscheinungen erkennbar.
13. II. Totung durch Chloroform. Cehim 6 Stunden in Formalin,
4 Wochen in Miillerache f 6 Wochen in Marchiache Losung.
12. XII. 2 jahriges Kaninchen F. Hinterbeinzentrum nicht erregbar.
Von einer Stelle 9 mm von der Medianlinie nach links, iiber der Orbita bei
l ) Miinzer und Wiener , Das Zwischen- und Mittelhim des Kaninchens.
Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1902. S. 241.
Honataschrift ftir Paychlatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 3. ] g
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268 W e i h a , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
7,5 cm Roll enabetand Kaubewegungen, dabei allerdingB etnmal auch Kopf-
drehung nach rechts. Exstirpation.
10.1. Totung. Gehim 20 Stunden in Formalin, 3WocheninAftJ#ersche,
4 Wochen in Marchiache Loeung.
19. I. % jdhriges Kaninchen L. Bei 8^ cm Rollenabstand Aufein-
anderdriicken der Kiefer. Exstirpation.
21.1. Einfiihren eines Stucks Mohrriibe zwischen die Lippen und Z&hne
von links her lost prompt Kaubewegungen aus, ixm rechts niemals.
14. II. Totung. Gehim 4 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Aftftfersche,
4 Wochen in Marchiache Losung.
Mibroakopischer Be fund : Bei L. finden sich schon in der Medulla oblon¬
gata, weit kaudal vom Austritt des Trigeminus degenerierte Fasem. Die-
selben nehmen im H tnterstrang beiderseits eine ganz umschriebene Stelle
am Hinterhomkopf lateral vom Processus cuneatus ein (vergl. Fig. 6).
Man kann den Weg der degenerierten Fasem aus der linken Pyramide deut-
lich verfolgen. Der Seitenstrang zeigt eine leichte fast symmetrische Dege¬
neration. In den unteren Ebenen der Olive ist in alien drei Fallen die
linke Pyramidenbahn leicht diffus degeneriert, ausserdem durchziehen einige
wenige degenerierte Fasem die rechte Pyramide in ihrem dorsals ten Ab-
schnitt Die spinale Trigeminuswurzel und die Kleinhimseitenstrangbahn
zeigen beiderseits eine sehr schwache Degeneration. Die Zahl der dege¬
nerierten Fasem in der Pyramide nimmt nach oben zu. In der Hohe der
starksten Entwicklung der Olive liegen sie am dichtesten in den mittleren
Partien des Pyramidenareals ( vergl. Fig. 7); sehr sparlich sind sie im medialen
Teil, ziemlich zahlreich im lateralen. Die mediale Schleife ist beiderseits,
namentlich in den Randpartien, die der rechten Pyramid© zunachst liegen,
leicht degeneriert. Auch in der Briickemaserung finden sich einzelne
degenerierte Fasem. Der Aquaduktkem des Trigeminus zeigt in alien
Schnitten degenerierte Fasem, und zwar der qleichseitige mehr als der ge-
Jcreuzte. Der motorische Hauptkem des Trigeminus ist frei von Dege¬
neration. Dort, wo die Pyramide rings von der Briicke eingeechlossen
wird, lagert sich die Degeneration besonders in die dorsalen Partien; weiter
oben erfolgt eine Verschiebung, indem die degenerierten Fasem vorzugs-
weise den dorsomedialen Teil einnehmen. Die gekreuzte Pyramide ist durch-
weg frei von Degeneration. In der Briicke und im Lemniscus medialis findet
sich proximalwarts eine symmetrische leichte Degeneration. Bei dem Ueber-
gang in den Himschenkelfuss riickt die Degeneration am medialen Rand
der Pyramide weiter ventral und gelangt in das mediale und zum Teil auch
mittlere Drittel des Fusses. Sie ist am starksten am ventralen Rand, nimmt
aber auch die weiter dorsal zwischen den ventralen Maschen der Substantia
nigra gelegenen Biindel ein (vergl. Fig. 8). Auch der rechte Himschenkelfuss
zeigt ein kleines Degenerationsfeld bei L im ventralen lateralen Teil des
medialen Drittels. Der Lemniscus medialis zeigt beiderseits eine gleiche, sehr
unbedeutende Degeneration. Die lateralen pontinen Biindel heben sich
durch dunklere Farbung ab 1 ), sind aber nirgends degeneriert. Bei K und F
ist die Degeneration im ganzen schwacher, aber ebenso lokalisiert. Proximal¬
warts ist die Degeneration an der Grenze des medialen und des mittleren
Fussdrittels am starksten. Das laterale Drittel ist frei von Degeneration,
das mediale Drittel ziemlich stark beteiligt. Auch in der inneren Kapsel
zeigt sich in alien Fallen ein charakteristisches Bild. Der hintere Schenkel ist
ganz frei, im vorderen Schenkel grenzt sich die nicht degenerierte dorsale Halfte
scharf von der ventralen stark schichtweise degenerierten ab. Nur ein kleiner
vorderster Teil ist wiederum frei von Degeneration. In hoheren Ebenen
breitet sich die Degeneration fast liber die ganze ventrale Halfte der inneren
Kapsel aus, lasst aber den hinteren Schenkel und das vorderste Achtel
des vorderen Schenkels frei. Das Corpus geniculatum lat. ist vollkommen
intakt, doch findet sich im Innera dee Thalamus ein grosserer degenerierter
l ) Bei Anwendung der ftzlschen Method© erscheinen sie eher hell
gefarbt.
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namentlicb im Hirnsehenkelfuss dee Kaninchens.
269
Bezirk. Der Rindendefekt ist von geringem Umfang; in seiner Umgebung
finden sieh keine Ver&nderungen.
4. H ypogloaausbahn.
20.1. % jahriges Kaninchen M. Bei 8% cm Rollenabstand von einer
Stelle an der orbitalen Flache der Rinde aus (etwa entepreohend dem
Punkt 9 von Ferrier 1 ) deutliche Bewegung der Zungenspitze nach rechte.
Exstirpation.
25. I. Zunge weicht nach links ab. Keine Hemiatrophie.
15.11. Totung. Gehim 3 Stunden in Formalin, 4 Wochen inilfttfZersohe,
6 Wochen in Marchische Losung.
21. I. % jahriges Kaninchen N. Bei 9 cm Rollenabstand Zungen-
bewegung. Exstirpation.
26. I. Derselbe Befund wie bei M.
17. U. Totung. Gehim 3 Stunden in Formalin, 4 Wochen inMiiUerscihe,
6 Wochen in Marchische Losung.
Mikroskopischer Be fund: Das oberste Cervikalmark weist keine Ver-
knderungen auf, speziell sind die in den Hinterstrang kreuzenden Pyramiden-
biindel trei von Degeneration.
Erst in der Medulla oblongata zeigt sich eine schwache diffuse Dege¬
neration in der linken Pyramids. Eine grosse Zahl von schwarzen Punkten
findet sich ausserdem beiderseits in der Formatio retie, und in der Raphe
bis an den Hypoglossuskem. Das feine Fasernetz des Kerns selbst zeigt bei N
beeonders links eine eben wahmehmbare Degeneration, bei M ist der Befund
nicht sicher. Dorsal von den Oliven ziehen stark degenerierte Biindel durch
die Substantia ret. dorsalwarts. Die Kleinhimseitenstrangbahn weist links
etwas starkere Degeneration auf als rechts. Die iibrigen Himnervenkeme
sind frei. Das Facialisknie zeigt vereinzelte degenerierte Fasem. Im distalen
Briickengebiet erscheinen die den Pyramiden benachbarten horizontalen
Fasem leicht degeneriert. Im proximalen Briickengebiet wird die Dege¬
neration der Pyramiden starker, besonders in der medialen Halfte, wenn
man sich eine Halbierungslinie im langsten schrdgen Durchmesser gezogen
denkt. Im Hirnsehenkelfuss ist die Degeneration so angeordnet, dass der
mediale Winkel am dichtesten mit schwarzen Punkten bedeckt ist; dieselben
werden schon in der lateralen Halfte des medialen Drittels sparlicher, finden
sich nur ganz vereinzelt noch im mittleren Drittel und lassen dew laterals
ganz frei. Die mediale Schleife ist frei,ebenso der rechte Fuss und die lateralen
pontinen Biindel Schlesingers beiderseits. Die Degeneration der inneren
kapsel ist im vorderen Schenkel am starksten. Sie ist noch in der Hohe
der vorderen Kommissur sehr deutlich zu erkennen. Der hintere Schenkel
ist relativ frei. Das Corp. gen. lat. zeigt wie auch der Thalamus keinerlei
Veranderung. An der Operationsstelle findet sich ein kleiner, ziemlich tief-
gehender Defekt, die Umgebung ist unversehrt.
5. Vorderbeinbahn.
10. XI. 1 jahriges Kaninchen A . Bei 8 cm Rollenabstand Anziehung
des rechten Vorderbeins. Exstirpation.
14. XI. Keine Gehstoriing. Beim Hangen an den Ohren st&rkeree
Beugen und Anziehen des rechten Hinter- und Vorderbeins.
16. XII. Totung. Gehim 6 Stunden in Formalin, 3 Wochen in Miitter-
sche Losung, 4 Wochen in Marchische Losung.
22. V. % jahriges Kaninchen V . Bei 7% cm Rollenabstand isolierte
Zehenbewegung in der rechten Pfote, spater auch Hebung der rechten
Schulter. Exstirpation.
25. V. Die rechte Pfote wird langere Zeit in imbequemer Stellung,
z. B. mit dem Fussriicken nach unten, gelassen. Das rechte Bein wird, iiber
Die Funktionen des Gehims. Braunschweig. 1879. S. 173 und
Fig. 36.
18 *
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270 W e i h s , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
die Tischkante herabhangend, spontan nicht angezogen. In Schwebehaltung
werden die rechten Extremitaten starker angezogen.
14. VI. Totung. Gehirn 3 Stunden in Formalin, 14 Tage in Mtillereche,
20 Tage in Marchiache Losung.
29. V. V 2 jahriges Kaninchen Z. Anziehung des rechten Vorderbeins
bei 8 cm Rollenabstand. Exstirpation.
1. VI. Deutliche Storung des Muskelgefiihls im rechten Vorderbein
ohne merkliche Gehstorung.
19. VI. Totung. Gehirn 5 Stunden in Formalin, 20 Tage in Mailer -
sche, 20 Tage in Marchiache Losung.
Mikroskopischer Befund: Das Dorsalmark ist unverandert, nur im
Vorderstrang ganz vereinzelte degenerierte Fasem. In der Halsanschwellung
werden dieselben alsbald haufiger und treten auch in Seiten- und Hinter-
strangen auf. Am zahlreichsten sind sie im gekreuzten Seitenstrang.
Einzelne degenerierte Fasem treten zu den grossen Zellen des gekreuzten
Vorderhoms; das gleichseitige Vorderhom erscheint fast ganz frei. — In
der Gegend der Pyramidenkreuzung ist das linke Pyramidenfeld dicht
mit degenerierten Fasem iibersat, am starksten in seinem medialen Ab-
schnitt. Von hier aus (iberschreiten sie in Biindeln die Raphe und kreuzen
zum Teil unter einem Winkel von etwa 45° in den rechten Hinterstrang; den
letzteren erreichen sie in der Nische zwischen Processus cuneatus (Angulus
cornu post.) und Hinterhomkopf. Der gleichseitige Hinterstranc erhalt
keine degenerierten Fasern. Unter einem etwas grosseren Winkel kreuzen
Fasem in die medialen Partien des rechten Seitenstrang 8 . In der Hohe der
unteren Olive ist die Degeneration iiber die ganze linke Pyramide verteilt.
In der Formatio ret. finden sich beiderseits nur vereinzelte schwarze Punkte,
die dorsal gegen die Raphe zu etwas dichter werden und in den Hypoglossus-
kem hineinreichen. Die Kleinhirnseitenstrangbahn ist beiderseits in gleichem
Masse schwach degeneriert, auch die spinaJe Trigeminuswurzel erscheint
namentlich links nicht ganz frei. In der Gegend der oberen Olive bleibt der
Befund in der Pyramide unverandert. Es zeigt sich auch eine leichte De¬
generation in der Olivenzwischenschicht, bezw. im Lemniscus medialis be-
sonders links. ImGebiet des Corpus trapezoides findet sich eine starkere Dege¬
neration, welche jedoch grosstenteils auf die dasselbe durchsetzenden langs-
verlaufenden Fasem zu beziehen ist. Weiter proximal zeigt die Pyramide
nur in ihrem ventralen Abschnitt dichte schwarze Tropfchen, die sich auch
in den ventralen Briickenfasem finden. In den distalsten Ebenen des Pea
ped. zeigt sich die starkste Degeneration im ventralen Teil des medialen
Drittels; in abnehmender Dichte besetzt sie auch noch das mittlere Drittel
in seiner ganzen Ausdehnung; das laterals Drittel ist fast frei. Proximal-
warts verschiebt sich die Degeneration mehr und mehr in das mittlere
und laterals Drittel, das mediale ist nur in seinem lateralen Teil noch
etwas betroffen. Der Lemniscus med. ist beiderseits kaum merklich de¬
generiert. Bemerkenswert erscheint die wenn auch recht leichte Degeneration
der lateralen pontinen Biindel, die in alien 3 Fallen nachzuweisen ist. In
hoheren Ebenen besteht eine Differenz zwischen dem Tier V und den beiden
anderen Fallen. Bei V findet sich namlich ausserdem noch ein ziemlich aus-
gepragtes Degenerationsfeld im lateralen Drittel des Pes, welches sp&ter
in den hinteren Schenkel der inneren Kapsel iibergeht. Bei dem Uebergang
des Pes in die innere Kapsel ist bei A und Z die Degeneration am dichtesten
im letzten Viertel des vorderen Schenkels nachst dem Knie, sie nimmt dann
in den anschliessenden 2 Vierteln immer mehr ab, um im ersten zu ver-
schwinden; im hinteren Schenkel ergreift sie nur den dem Knie anliegenden
Abschnitt. An den nicht degenerierten hinteren Schenkel der Kapsel
sohliesst sich ein mit vereinzelten Tropfchen besetztes Feld, entsprechend
dem Gebiet des Corpus gen. lat. Oralwarts geht diese Degeneration direkt in
eine solche im Thalamusstiel und seiner lateralen Marklamelle iiber. Die
Umgebung der exstirpierten Rinde ist unverandert.
6. Hinterbeinbahn.
Wie oben berichtet, blieben diese Vereuche bez. des Kaninchens
ohne Ergebnis. Mitteilungen iiber die Beobachtungen bei dem Hund behalte
ich mir vor.
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namentlich im Himschenkelfuas dee Kaninchens.
271
Nach den im vorstehenden mitgeteilten Befunden ist eine
gewisse Legalisation innerhalb der Pyramidenbahn des Kaninchens
distalwarts nur bis in den Hirnschenkelfuss sicher nachweisbar. In
der inneren Kapsel wiirde sich die Lage der einzelnen Bahnen so
gestalten, dass die Hypoglossusbahn vorzugsweise im vorderen
Schenkel, z. T. auch in dem grauen Maschenwerk zwischen Nucleus
candatus und Nucleus lentiformis verlauft, wahrend die Facialis-
bahn, soweit die Praparate einen Schluss erlauben, vorzugsweise
das Knie und die angrenzenden Teile des hinteren Schenkels ein-
nimmt. Die motorische Trigeminus bahn scheint im vorderen
Schenkel der inneren Kapsel sehr zerstreut zu verlaufen 1 ).
Im Pes pedunculi fiihrt nur das laterale Drittel fast keine
Pyramidenfasem. Der medialste Teil des medialen Drittels gehort
der zentralen Hypoglossusbahn an; dann folgt mit ihr z. T. zu-
sammenfallend die motorische Trigeminusbahn; die Mundfacialis-
bahn nimmt vorzugsweise das mittlere Drittel, vielleicht z. T.
noch das laterale und mediale, die Ohrfacialisbahn wahrscheinlich
fast ausschliesslich das mittlere Drittel ein. Die Vorderbeinbahn
verlauft namentlich im ventralen Teil des medialen Drittels und
im anschliessenden Teil des mittleren Drittels.
In den -oberen Ebenen der Briicke sind die Degenerationen
in den Fallen von Verletzung des Trigeminus- und Hypoglossus-
zentrums auf die dorsale, resp. die dorsomediale Halfte beschrankt,
bei Vorderbeinzentrumslasionen auf die ventrale Halfte; in den
iibrigen Fallen bestand keine deutliche und fur identische Ope-
rationen konstante und charakteristische Anordnung der De¬
generation.
Dasselbe gilt fiir die Pyramide im verlangerten Mark; nur die
Trigeminusbahn liegt anscheinend konstant im mittleren und
lateralen Abschnitt des Areals, die des Facialis am medialen Rand.
Dabei ist allerdings zweifelhaft, ob eine so weit spinalwarts herab-
reichende Degeneration noch auf die Trigeminus- und Facialisbahn
bezogen werden darf. Man konnte meinen, dass es sich um Fasem
der Extremitatenbahn handeln miisse, welche in irgend einer Weise
bei der Operation in Mitleidenschaft gezogen worden waren.
Gegen diese Deutung spricht die Tatsache, dass die Degeneration
im Riickenmark ganz oder fast ganz vermisst wurde. Man wird
also doch wenigstens auch mit der Moglichkeit rechnen miissen,
dass einzelne Fasem der Facialis- und Trigeminusbahn unverhalt-
nismassig weit spinalwarts ziehen und dann schleifenartig riick-
laufig zu ihrem Kern ziehen. Nur bei dem Kaninchen L, bei
welchem sich (vergl. Fig. 6) eine ganz ausgesprochene Degeneration
imHinterstrang des Cervikalmarks fand, wird man wohl sicher eine
Mitbeteiligung der Extremitatenbahn annehmen miissen. -
Beziiglich des Verlaufs der Vorderbeinbahn erscheint mir der
Uebergang ziemlich zahlreicher Fasem in den gekreuzten Hinter-
*) Vielleicht hangt dies mit der relativ grossen Ausdehnung des
kortikalen Kauzentrums bei dem Kaninchen zusammen.
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272 W e i h a , Ueber Lokalisationen innerhalb der Pyramidenbahn,
strung x ), der mit aller Bestimmtheit nachzuweisen war, besonders
interessant; die iibrigen Fasem verteilten sich auf den gekreuzten
Seiten- und den gleichseitigen Vorderstrang.
Die alte Angabe Stiedas und die neuere Angabe Ziehens ge-
langen damit wieder zu ihremRecht. Es ware auch in der Tat recht
auffallend, wenn bei dem Kaninchen der Hinterstrangs verlauf
der Pyramidenbahn, wie er bei den meisten iibrigen Nagem besteht,
vollstandig verschwunden sein sollte. Freilich scheint die Pyramiden-
hinterstrangsbahn des Kaninchens lateraler zu iiegen als beispiels-
weise diejenige der Murinen: bei letzteren nimmt sie die ventrale
Kuppe des Hinterstrangs ein, bei dem Kaninchen eine Nische,
die lateral vom Angulus cap. post. (bezw. Processus cuneatus)
liegt.
Im Kemgebiet der entsprechenden Hirnnerven waren fast
immer Degenerationen nachweisbar. So fanden sich im Facialiskem
nach Lasion seines Zentrums beiderseits degenerierte Fasem,
und zwar namentlich auf der gekreuzten Seite. Nach Exstirpation
im Gebiet des motorischen Trigeminuszentrum fand sich nur im
Aquaduktkem Degeneration, wahrend der motorische Hauptkem
auffalliger Weise fast frei bheb. Im Hypoglossuskem fanden sich
keine sicheren und konstanten Veranderungen. Es wird noch vieler
Nachuntersuchungen bediirfen, um in dieser Beziehung zu sicheren
Ergebnissen zu gelangen. Namentlich scheint es erforderlich,
einerseits die Leberisdauer der Tiere nach der Operation und
andererseits die Dauer des Aufenthaltea der Gehimstiicke in den
einzelnen Fliissigkeiten zu variieren. Die grossen Zellen des Vorder-
homs der Halsanschwellung waren bei Lasion des Vorderbein-
zentrums von degenerierten Fasem umgeben.
Der Verlauf der kortikobulbaren Bahn der motorischen Hirn¬
nerven ist durch meine Versuche noch nicht eindeutig aufgekart.
Weitaus am wahrscheinlichsten ist nach meinen Befunden, dass
die meisten Fasem aus dem Pyramidenareal in die Formatio
reticularis abbiegen und in dieser, zum Teil auch in der Raphe
zu den Kemen aufsteigen. Die Kreuzung scheint auf diesem Weg
schon bald nach dem Austritt aus dem Pyramidenareal statt-
zufinden. Die mediale Schleife wird wohl nur passiert, ohne dass
die in Frage stehenden Biindel sich ihrem Verlauf auch nur strecken-
weise anschliessen. Eher konnte man daran denken, dass uberhaupt
imventralenAbschnittder medialen Schleife auch einige aberrierende
Pyramidenfasem verlaufen. Die lateralen pontinen Biindel kommen
nur fur die zentralen Facialisbahnen in Betracht.
Bemerkenswert scheint mir noch die in den Fallen von Ex-
stirpationen im Facialis- und im Vorderbeinzentrum aufgetretene
rein einseitige Degeneration im Bereich des Corpus gen. lat.,
die weiter oral warts in den oberen Stiel des Thalamus opt.
zu verfolgen war. Eine ausreichende Erklarung dieses Befundes
vermag ich noch nicht zu geben. Es liegt natiirlich nahe, an eine
l ) Bei L. auch in den gleichseitigen Hinterstrang.
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namentlich im Hirnschenkelfuss dee Koninohens.
273
in der Rinde entspringende kortikothalamische Bahn zu denken.
Das Corpus geniculatum laterals scheintvondiesenFasem nurdurch-
zogen zu werden.
Endlich weise ich darauf hin, dass auch bei meinen Versuchen
einzelne nicht konstante und grosstenteils auch unerhebliche
Degenerationen in Gebieten gefunden worden sind, die ganz un-
erklarlich erscheinen, so im Corpus restiforme, in der s^inalen
Trigeminuswurzel,in motorischenBahnen ;weiterOrdnung(Facialis-
knie) u. s. f. Es ist sehr zweifelhaft, ob diese uberhaupt mit der
Exstirpation als solcher zusammenhangen. Zerrungen, Gefass-
verletzungen bezw. -Kompressionen und andere akzidentelle
Moments spielen wahrscheinlich hier eine Rolle. Es muss ktinf tigen
Untersuchungen vorbehalten bleiben, in dieser Beziehung end-
giiltige Aufklarung herbeizufiihren.
Zum Schluss gestatte ich mir noch meinem hochverehrten
Lehrer Herm Geheimrat Professor Ziehen fur seine giitige An-
regung und die weitgehende Forderung dieser Arbeit den warmsten
Dank auszusprechen.
Erklarung der Abbildungen auf Taf. XVII—XVIII.
Fig. 1—5. Kaninchen G. Exstirpation im Bereich dee Mundfacialis-
zentrumfl. Weitere Erklarung siehe Text.
Fig. 6—8. Kaninchen L. Exstirpation im Bereich dee Kauzentrums.
Br cj
C g m
Cgr
Cm
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CQ
DB
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H S
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Klsstrb
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m M
M
N o i
Nos
Nr
P c m
Po
Po'
PP
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S n
tM
Bezeichnungen
= Brachium coniunctivum.
= Corpus geniculatum mediale.
= Hohlengrau
= Corpus mamillare.
= Commissura posterior.
= Commissura corporum quadrigeminorum.
= Decussatio brach. conjunct.
= Fasciculus retroflexus.
= Formatio reticularis.
= Ganglion interpedunculare.
= Hinteres Langsbiindel.
= Hinterstrang.
= Hinterer Vierhiigelarm (darunter mediale Schleife).
= Kleinhirnseitenstrangbahn.
= Lemniscus med.
= Lemniscus later.
= Mittleres Mark.
= Meynertache fontanenartige Haubenkreuzung.
= Nucleus oliv. inf.
= Nucleus oliv. sup.
= Nucleus ruber.
= Pedunc. corp. mamillar.
= Pons.
= Distalste, eben zur Mittellinie absteigende Ponsfasern.
= Pes pedunculi.
= Pyramide.
= Subst. nigra.
= Tiefes Vierhugelmark.
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274
S a n o , Beitrag zur vergleichenden. Anatomic
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Tptr
Tr
V m a
v Va
V Aq
Vm H
VII K
= Tractus peduncularis transversus.
== Corpus trapezoidee.
= Velum med. ant.
= Vorderer Vierhiigelarm.
= Aquaeduktkem des Trigeminus.
= Motorisoher Hauptkem des Trigeminus.
= Facialisknie.
(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven-
klinik der Charity.)
Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra,
des Corpus Luysii und der Zona incerta.
Von
Dr. TORATA SANO.
(Hierzu Taf. XIX—XX.)
(Fortsetzung.)
2. Macacus rhesus.
Der Schnitt 231 1 (vgl. Fig. 8), welcher ventral das vordere
Briickenfiinftel schneidet, zeigt die Substantia nigra zum ersten
Male deutlich, und zwar ganz lateral zwischen dem Lemniscus
medialis und einer ziemlich machtigen langs getroffenen Faser-
schicht, die ich vorlaufig als S bezeichne und spater besprechen
werde, als ein kleines, halbmondformiges Feld. Ihre Dicke betragt
0,7 mm.
Man kann hier innerhalb der Substantia nigra schon Fasern
meist feinen Kalibers sehen, die in verschiedenen Richtungen ver-
laufen. In die dorsale Ecke der Substantia nigra scheinen Fasern
aus dem randstandigen Grau lateral von der aufsteigenden Vier-
hiigelschleife einzutreten. In den medialen bezw. ventralen Teil
der Substantia nigra treten ausserdem Fasern ein, welche aus dem
benachbarten Haubengebiet stammen. Dorsal vom laterals ten Teil
des sich eben formierenden Pes pedunculi sieht man ein graues,
unscharf begrenztes Feld, das zweifelsohne dem Feld M beim
Menschen entspricht. Dieses Feld M zeigte sich schon ziemlich
deutlich in einem Niveau, wo die Substantia nigra noch nicht als
ein deutliches einheitliches Feld zu erkennen ist, namlich auf dem
Schnitt 234 2 .
Der Schnitt 226 1 (vgl. Fig. 9) trifft ventral noch immer das
vordere Bruckenfiinftel.
Die Substantia nigra nimmt rasch an Umfang zu; ihre Dicke
betragt 1,5 mm.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 275
Die im vorigen Schnitte innerhalb der Substantia nigra gleich-
massig verteilten feinen Fasem zeigen hier schon den ersten deut-
lichen Anfang der Differenzierung zweier komplizierter Faser-
gebiete. Diese beiden Fasergeflechte entsprechen den bei dem
Menschen besprochenen Geflechten D 1 und D m . Das Geflecht D m
ist etwas grosser als das Geflecht D l . Beide Geflechte bestehen
aus Fasern, welche in D m mehr transversal und in D 1 transversal
und longitudinal verlaufen. In der medialsten Partie lateral von
der Substantia perforata posterior sieht man eine Gruppe schief
getroffener Biindel. Sie erinnern sofort an die Fasciculi pontini
mediales, die wir beim Menschen beschrieben und im wesentlichen
mit dem Biindel von der Schleife zum Fuss (also dem S’pitefcaschen
Biindel) identifiziert haben (vgl. S. 121). Die weitere Verfolgung
dieser Biindelschnitte ergibt beim Macacus folgendes: Spinalwarts
lassen sich diese Biindel wenigstens bis Schnitt 240 verfolgen. Sie
stehen dabei einerseits fortwahrend in Zusammenhang mit dem
Lemniscus medialis, andererseits scheint es, als ob diese Fasern
sich z. T. auch nach der gekreuzten Briickenformation ver-
heren. Auf Fig. 9 sind diese Fasern mit FS bezeichnet. Aehnliche
Biindel hat Ziehen bei Echidna naehgewiesen. Cerebralwarts ge-
sellen sie sich den wurzelformig aus der Substantia nigra auf-
steigenden Fasem bei, wenden sich dann aber allmahlich dorso¬
lateral und lassen sich, wenigstens z. T., mit voller Sicherheit bis
in das Areal der Sehhiigelschleife verfolgen. Danach unter-
liegt es keinem Zweifel, dass wir es hier wenigstens nicht nur mit
dem Biindel von der Schleife zum Fuss, sondern auch mit einem
Biindel der Sehhiigelschleife zu tun haben. Bis jetzt ist iiber
solche Biindel nur wenig bekannt, etwas ausfiihrlicher sind sie
neuerdings von Ziehen 1 ) beschrieben worden.
Die mit Prop bezeichneten Fasern sind vielleicht als Propons
aufzufassen 2 ).
Die auf der Figur mit S bezeichnete Schicht ist spinalwarts
auf dem Schnitt 235 ganz im Bereich des Lemniscus medialis ge-
legen und von diesem nicht zu trennen. Auf noch weiter spinal¬
warts gelegenen Schnitten stellt sie einen schmalen Streifen dar,
welcher den medialen Abschnitt der medialen Schleife mit dem
lateralen Abschnitt der medialen Schleife verbindet. Cerebralwarts
bleibt sie in ihrer Lage und entfernt sich immer mehr vom Haupt-
teil des Lemniscus medialis, der bekanntlich immer weiter dorso¬
lateral ruekt. so dass sie auf dem Schnitt 221 mit dem letzteren
nur mittelst der spater zu schildernden ,,wurzelformig aufsteigen-
den“ Fasern zusammenhangt. Weiter cerebralwarts verschwindet
') Ziehen, Th., Das Zentralnervensystem der Monotremen und Mar-
supialier. IV. Teil. S. 906 ff.
*) Prof. Ziehen macht mich darauf aufmerksam, dass die Bezeichnung
Propons neuerdings in zwei ganz verschiedenen Bedeutungen verwendet
wird. Obersteiner (Anleitung etc., S. 72) versteht darunter ein Querbiindel
an der spinalen Ponsgrenze, Marburg (Atlas, Fig. 34 u. 35) ein solches an
der cerebral en Ponsgrenze.
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276
Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomic
ihr medialer Teil immer mehr, und da die Substantia nigra sich
vergrossert und medialwarts riickt, wahrend die Schicht S immer
dem Fuss angeschmiegt bleibt, so sieht man auf dem Schnitt 208
ihren Rest dorsal vom medialsten Fussteil. Schliesslich bleibt nur
ein kleiner medialer Rest iibrig, der sich an der Bildung des Faser-
geflechts C zu beteiligen scheint (siehe unten).
Auf mehreren Schnitten sieht man aus der Schicht S auch
ziemlich zahlreiche Fasern ventrolateral ziehen imd in das Fuss-
areal eintreten. Es scheint, dass diese Fasern das Fussareal dann
durchsetzen und so schliesslich auf kiirzerem Wege an die ventrale
Seite des Fusses gelangen. Auf die Bedeutung der Schicht S
komme ich spater zuriick.
Der Schnitt 221 2 (vgl. Fig. 10) schneidet ventral das vorderste
Briickensechstel.
Die Substantia nigra ist grosser geworden; ihre Dicke betragt
2,5 mm. Ein Zerfall der Substantia nigra in eine dorsale kompakte
Zone und eine ventrale retikulierte Zone ist in diesem Niveau noch
kaum zu erkennen; vielmehr scheint die Substantia nigra hier in
ihrer ganzen Breite ziemlich kompakt. Man sieht deutlich zwei
kleine Gruppen schief getroffener Bundel, die lateralen pontinen
Biindel und die Biindelgruppe, die auf der Figur mit C bezeichnet
ist, in den Fuss eintreten. Die Biindelgruppe C, die auf dem
Schnitt 223 zuerst aufgetretene war, ist starker als die lateralen
pontinen Bundel, die nur eben zu erkennen sind.
In der ventralsten Partie der Substantia nigra sieht man
schief und quer getroffene Fasern. Sie formieren sich spater zum
Stratum intermedium.
Die Substantia reticulata medialis pedis lasst sich von dem
Stratum profundum pontis hier noch nicht abgrenzen.
Die feinen Fasern des Propons lassen sich fiber die dorso-
laterale Spitze des Fusses hinweg bis in den dorsolateralsten Teil
der Substantia nigra bezw. das von der letzteren nicht scharf ab-
grenzbare Randfeld M verfolgen. Einzelne Fasern des Propons
durchbrechen auch den Fuss in seinem dorsolateralsten Abschnitte.
Aus der Schicht S steigen Fasern auf, die oben bereits kurz
als „wurzelfdrmig aufsteigende“ Fasern erwahnt wurden. Auf Fig. 10
sind sie mit Wf bezeichnet.
Die Fibrae efferentes tecti sind z. T. deutlich bis in die mittlere
Partie der Substantia nigra zu verfolgen. Sie sind zwischen den
Querschnitten der Schleifenbiindel bei Fet auf der Figur eben zu
erkennen.
Auf einem Schnitt (208), welcher ventral noch eben den vor-
deren Rand der Briicke schneidet, hat sich die Substantia nigra
stark ventral- und namentlich medialwarts ausgedehnt. Ihre
Form ist etwa langlich viereckig; ihre Dicke betragt 3,7 mm.
Der ventrolaterale Abschnitt ladt sich ziemlich breit in den Fuss aus.
Diese Ausladung entspricht wohl dem beim Menschen beschrie-
benen Processus lateralis. Medialwarts stosst die Substantia nigra
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 277
ohne scharfe Grenze an die Substantia perforata posterior und
das in diese eingelagerte Ganglion interpedunculare. Dorsal grenzt
sie an den Rest der medialen Schleife. Ventral stosst sie an den
Pes pedunculi, welcher den dorsolateralen Pol der Substantia nigra
klammerartig umgreift. Der direkte Zusammenbang der Fibrae
efferentes tecti mit der Substantia nigra ist wegen der dichten
Faserung der medialen Schleife nicht so deutlich wie im vorigen
Schnitt.
Das graue Feld M findet sich dorsal vom dorsolateralen Pol
der Substantia nigra; es ist grosser geworden und birgt einen
grossen versprengten Biindelquerschnitt des Pes pedunculi in sich.
Auch auf diesem Schnitte gelingt es nicht, innerhalb der Sub¬
stantia nigra mit Sicherheit einen dorsalen und ventralen Ab-
schnitt abzugrenzen; nur insofem im dorsalen Abschnitte die
Fasem vorzugsweise diffus und langsgetroffen, im ventralen Ab¬
schnitte hingegen mehr biindelweise und quergetroffen erscheinen,
bekommt der letztere gegeniiber dem ersteren ein retikuliertes
Aussehen. Die Biindelgruppe C und die lateralen pontinen Biindel
treten in ventrolateraler Richtung in den Fuss ein. Die Biindel-
gruppe C ist auch hier erheblich starker als die lateralen pontinen
Biindel. Die Gefechte D 1 und D m zeigen meist longitudinal ver-
laufende gewundene Fasern, und zwar zeigt D 1 im ganzen grobere
Fasern als D m .
Ventromedial vom Feld M erkennt man erst hier 1—2 Biindel-
querschnitte, die den beim Menschen genannten Q-Biindeln ent-
sprechen. Ueber den Verlauf und das Schicksal dieser Biindel
wird spater gesprochen werden.
Die Substantia reticulata lateralis pedis ist noch ganz schwach
angedeutet.
Die Substantia reticulata medialis pedis, die auf dem Schnitte
214 zuerst deutlich als solche auftrat, findet sich auf diesem Schnitt
als Anhangsel der medialen Partie des Stratum profundum pontis,
wobei ihre Zugehorigkeit zu demselben ebenso deutlich bleibt
wie auf dem Schnitt 221*; sie verursacht die Zerkliiftung der
medialen Partie des Fusses.
Die Schicht S und der Lemniscus medialis sind hier schon
weit auseinander gewichen.
Im dorsalen Teile der Substantia nigra, und zwar nur im
medialen Abschnitt. sieht man einige wenige transversal verlaufende
Fasern, die dem beim Menschen beschriebenen Faserzug B ent-
sprechen.
Der Schnitt 190 * (vgl. Fig. 11) schneidet ventral die Austritts-
bundel des Oculomotorius.
Die Substantia nigra ist hier sehr machtig entwickelt und
enthalt noch mehr Fasern als friiher. Ihre Form ist etwa langlich
viereckig, ihre Dicke betragt 6,1 mm. Hier lasst sich schon recht
deutlich innerhalb der Substantia nigra eine dorsale Zona compacta
und eine ventrale Zona reticulata abgrenzen. Die Biindelgruppe C
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278
Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie
tritt etwas zuriick, dagegen treten die lateralen pontinen Biindel
erheblich mehr hervor. Das Geflecht D l ist sehr machtig entwickelt
und besteht grosstenteils aus dichten, starken Fasern, wahrend das
Geflecht D m locker angeordnete und im Vergleich zu D 1 sparlichere
Fasern zeigt. In beiden Feldern herrschen jetzt die longitudinalen
Fasern mehr als friiher vor.
Ausser dem Feld C und den lateralen pontinen Biindeln findet
man auf diesem und auf den vorhergehenden Schnitten im ven-
tralsten Grenzgebiete der Substantia nigra viele feine langs- und
zum Teil auch quergeschnittene Faserbiindel; sie stellen offenbar
das bei der Beschreibung des Schnittes 221 schon erwahnte Stratum
intermedium dar.
Die Fibrae efferentes tecti sind deutlich direkt in die Zona
compacta substantiae nigrae zu verfolgen.
Der Faserzug B ist besser entwickelt, langer ausgedehnt und
ist vom Lemniscus medialis etwas abgeriickt. In der Nahe von B
verlauft noch ein feiner zweiter Faserzug (B ?), dessen Deutung
zweifelhaft ist.
Die ventral vom roten Kern gelegene, der halbmondformigen
Schicht beim Menschen entsprechende Schicht ist bei Macacus
kurz und breit. Die ventral von ihr gelegene, beim Menschen nur
auf eine sehr kurze Strecke sichtbare zellarme Schicht scheint bei
diesem Tier ganz zu fehlen.
Die halbmondformige Schicht vom Faserzug B zu trennen,
ist auf einzelnen Schnitten kaum moglich; nur die Verfolgung der
B-Fasern auf der Serie bis zu ihrem Uebergang in die Hatschek-
sche Kreuzung gestattet, sie von der halbmondformigen Schicht
zu unterscheiden.
Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis
mamillaris, das schon auf dem Schnitt 200 auftritt, ist deutlich
zu sehen.
Das Pedamentum laterale wird teilweise von den die Sub¬
stantia perforata posterior und die Substantia nigra scharf
trennenden groben Wurzelbiindeln des Oculomotorius verdeckt.
Es geht ubrigens in die Substantia perforata posterior allmahlich
iiber; man sieht viele feine Fasern in dorsomedialer Richtung in
ihm verlaufen.
Die Substantia reticulata medialis pedis ist schon auf dem
Schnitt 201 ganz verschwunden.
Die Substantia reticulata lateralis pedis ist grosser als friiher
und ziemlich faserreich. Die A-Felder sind ahnlich wie bei dem
Menschen zu erkennen und hangen mit dem Hakenfeld H F zu-
sammen.
Das Feld M ist ziemlich faserreich und weniger scharf be-
grenzt als friiher.
Das Feld A hebt sich durch seine Faserarmut deutlich ab.
Ausser dem Hauptfeld A liegen in der Nahe des Hakenfeldes noch
mehrere schmalere Lamellen grauer Substanz, die ich ebenfalls zu
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 279
den A-Feldern rechne. Von der Substantia reticulata lateralis
pedis der distalen Schnitte sind diese A-Felder auch bei dem
Macacus nicht scharf getrennt.
Medial von M und in der lateralen Partie des dorsalen Ab-
schnittes der Substantia nigra finden sich viele quer- oder schief-
getroffene Biindel, deren Zusammenhang mit dem Lemniscus
medialis sehr fraglich ist. Es handelt sich um die auf dem Schnitte
208 zuerst aufgetretenen Q-Biindel.
Lateral vom roten Kern sieht man vielleicht schon eine An-
deutung des Forelschen Feldes H.
Auf Schnitt 179 erreicht die Substantia nigra ihr Maximum.
Ihre Dicke betragt 6,4 mm. Lage und Form sind nicht wesentlich
verandert. Medial ist sie von den Wurzelbundeln des Oculo-
motoriums, ventrolateral vom Hirnschenkelfuss begrenzt. Die Reti-
kulation des ventralen Abschnittes hat noch etwas zugenommen,
namentlich im Bereich des Feldes C. Im lateralen Teil des dor¬
salen Abschnittes fallt das Auftreten besonders dicht gedrangter
Ganglienzellen auf.
Die Fibrae efferentes tecti sind nicht mehr bis in die Zona
compacta substantitie nigrae zu verfolgen.
An der ventralen Peripherie des Fusses kann man stellenweise
ganz vereinzelt langsgetroffene zirkular verlaufende Fasern sehen.
Das Hakenfeld zerfallt in zwei Teile, einen dorsalen trans-
versalen, sehr undeutlich begrenzten und einen ventralen, jetzt
dreieckig gestalteten. Der erstere bildet den Vorlaufer der Zona
incerta, wie die spateren Schnitte zeigen, der letztere wird von
sehr vielen Fasern durchsetzt, die anscheinend von der Gegend
des Feldes M und des transversalen Schenkels des Hakenfeldes
stammen.
Das Stratum intermedium ist deutlicher und etwas breiter
als friiher.
Dorsal vom lateralen Pol der Substantia nigra ist jetzt eine
eigentiimliche Zone aufgetaucht, aus welcher ziemlich zahlreiche
Fasern im Bogen zu Fussfeld ziehen; dabei durchsetzen sie zum
Teil die A-Felder. Es handelt sich, wie die weitere Verfolgung
der Serie ergibt, um die kaudale Spitze des Corpus Luysii. Schon
jetzt sind hier einzelne ziemlich grosse Ganglienzellen und auffallig
starke Gefassliicken zu erkennen.
Die halbmondformige Schicht erstreckt sich ventral vom
Lemniscus medialis von der medialsten Partie der Substantia nigra
zum transversalen Schenkel des Hakenfeldes.
Das Feld M ist im Begriff, zu verschwinden; auf Objekt-
trager 174 ist es nicht mehr zu erkennen.
Die Q-Biindel sind starker geworden und etwas medialer ge-
riickt.
Ein Zug von Fasern, die hauptsachlich von der ventralen
Seite des Fusses und zum Teil vom Pedamentum laterale stammen
und zwischen der medialen Grenze des Fusses und der lateralen
des Pedamentum laterale dorsolateral in die Substantia nigra
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280
S a d o , Beitrag zur vergleiohenden Anatomie
ziehen (vgl. Kolliker, Handbuch, Fig. 708), ist wohl als Tractus
peduncularis transversus zu deuten. Sein erstes Auftreten fallt
etwa auf Schnitt 190, doch ist er hier nur durch wenige Fasem
vertreten. Das Geflecht D 1 ist besonders gut, das Geflecht D™
nur wenig entwickelt.
Das Pedamentum laterals birgt in sich wenige vereinzelte
langsgetroffene dorsomedial verlaufende Fasern, deren weiterer
Verlauf nicht festzustellen ist.
Die A-Felder sind auf diesem Schnitt weiter ventral geriickt
und finden sich hauptsachlich zwischen den Biindeln des Fusses,
also im wesentlichen schon ausserhalb der Substantia nigra. Das
Aussehen der A-Felder, namentlich des grossten A-Feldes, unter-
scheidet sich von demjenigen des hakenformigen Feldes schon auf
den ersten Blick durch die eigentiimlich gelbliche, an die gelatinose
Substanz erinnernde Farbe.
Einen Zusammenhang der A-Felder mit dem Corpus geni-
culatum laterals weist die Betrachtung der Schnittreihe nicht nach,
wohl aber verschmelzen sie alien thal ben mit dem hakenformigen
Feld.
Der Schnitt 171 * (vgl. Fig. 12) liegt an der Basis eben oral
vom Oculomotoriusaustritt. Auf der rechten, nicht abgebildeten
Schnitthalfte sind die Wurzelbiindel des Oculomotorius eben noch
getroffen.
Die Substantia nigra ist kleiner geworden; in ihrem lateralen
Bereich ist das Corpus Luysii aufgetreten. Die Substantia nigra
ist ventraler geriickt. Sie zeigt beinahe Halbkreisform. Die letztere
wird nur dadurch gestort, dass sich an die Hauptmasse lateral noch
der Best des Processus lateralis substantiae nigrae anschliesst.
Ihre Dicke betragt 5,5 mm.
Die Dicke des Corpus Luysii betragt 2,3 mm. Seine dorsale
Markkapsel ist ziemlich gut entwickelt, die ventrale hingegen
schwach und zerkliiftet. Aus dem Corpus Luysii ziehen Fasern
durch den Fuss, um sich in der Zone zwischen dem Fuss und dem
Tractus opticus zu verlieren.
In Bezug auf den Zusammenhang der Zona incerta, der Gitter-
schicht und der halbmondformigen Schicht ergibt sich folgendes:
Wie beim Menschen bildet der dorsale transversale Abschnitt des
Hakenfelds den Vorlaufer der Zona incerta. Auf dem abgebildeten
Schnitt erscheint letztere bereits als selbstandiges Gebilde. Spater
geht sie allmahlich medialwarts in die halbmondformige Schicht
bezw. in die Zona transitoria (vgl. S. 126) tiber. Noch weiter cere-
bralwarts hangt sie lateral mit der Gitterschicht zusammen. In
der halbmondformigen Schicht und in der Zona incerta finden sich
zahlreiche Biindelquerschnitte, welchc unter der Bezeichnung
„Q-Bundel“ bereits wiederholt erwahnt wurden. Sie treten zuerst
auf dem Schnitt 208 deutlich in Gestalt quer oder leicht schrag
geschnittener Biindelquerschnitte auf und finden sich immer im
dorsalen Abschnitt der Substantia nigra. Ihre Verschiebung er-
folgt ganz allmahlich in ventromedialer Richtung, so dass sie
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der Substantia nigra, dee Corpus Luysii und der Zona incerta. 281
schliesslich an die Stelle gelangen, wo in distalen Ebenen das
Biindel aus der Substantia nigra zum Pedunculus corporis mammil-
laris gelegen ist.
Das Stratum intermedium ist noch ziemlich breit.
Die ventrale Hauptmasse der Substantia nigra zeigt trotz des
Schwindens der lateralen Partie das Geflecht D 1 immer noch ganz
deutlich, wahrend das Geflecht D m fast verschwindet.
Die Fibrae efferentes tecti sind nicht mehr deutlich nachzu-
weisen. Dagegen sind die Fasem des Tractus peduncularis trans-
versus an der ventralen Seite des Pes pedunculi in dorsolateraler
Richtung bis in das Gebiet der Substantia nigra sehr deutlich zu
verfolgen.
Die Felder H 1 und H 2 lassen sich erst hier eben als getrennte
Felder unterscheiden. Wahrend H 1 ziemlich gut entwickelt ist,
ist das Feld H 2 nur durch eine Gruppe ganz vereinzelter Fasem
eben angedeutet.
Der Fuss zeigt in der lateralen Halfte eine starke Zerkliiftung,
die z. T. von den sog. Stillingschen Fasem bedingt wird.
Das Pedamentum laterals ist medial von der Substantia nigra
als eine sehr kleine Zone zu sehen.
Die A-Felder sind noch immer in grosser Zahl vorhanden und,
wie oben bereits bemerkt, durch ihr gelatinoses Aussehen ausge-
zeichnet. Besonders bemerkenswert ist das lateralste dieser A-
Felder, welches durch seine ansehnliche Breite und seine haken-
formige Gestalt sofort auffallt und geradezu das friiher besprochene,
inzwischen aber in Auflosung begriffene hakenformige Feld vor-
tauschen kann. Die Stillingschen Fasem drangen sich zum Teil
in Biindeln durch diese A-Felder hindurch. Die Grenze des Pro¬
cessus lateralis substantiae nigrae gegen die A-Felder ist nicht mehr
scharf. Es steht nichts im Wege, diese ganzen Anhaufungen grauer
Substanz auch hier noch als Substantia reticulata lateralis pedis
zusammenzufassen. Die Biindelgruppe C ist stark zusammenge-
schrumpft und ist beinahe mit den noch ziemlich gut entwickelten
lateralen pontinen Biindeln verschmolzen. Auf Schnitt 158 kann
man sie nicht mehr sicher erkennen.
Der Schnitt 152 1 (vgl. Fig. 13) trifft an der Basis den Fasciculus
mamillaris princeps. Da der Schnitt etwas schrag verlauft, streift
er zugleich eben den hinteren Chiasmarand.
Die A-Felder riicken noch ventraler und medialer. Die Sub¬
stantia nigra ist jetzt zwischen die zerkliifteten Biindel des medialen
Fussteils eingelagert. Bei dGrSn liegt ihre dorsale Grenze.
Der Processus lateralis substantiae nigrae ist seit Objekttrager 165
vollstandig verschwunden. Der Rest der Substantia nigra wird
durch machtige Faserbiindel, die aus dem Fuss dorsalwarts steigen
und sich in dem Xuysschen Korper verheren, in zwei Teile ge-
spalten, die auf der Figur als Sn 1 und Sn 2 bezeichnet sind. Die
Substantia reticulata medialis pedis ist, soweit sie iiberhaupt noch
vorhanden war, mit dem Teil Sn 2 verschmolzen. Hand in Hand
.mit dieser Yeranderung haben sich auch massenhafte Faserbiindel
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282
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomie
eingestellt, die aus dem medialsten Teil des Fussfeldes zum Corpus
Luysii ziehen. Die Deutung dieser Fasern ist sehr schwierig.
Wahrscheinlich handelt ea sich einerseits um sehr weit medial ge-
legene Stillingsche Fasern und andererseits im Biindel des Fusses,
die sich zum Aufstieg in die innere Kapsel anschicken.
Das Corpus Luysii ist grosser. Seine Dicke betragt 2,3 mm.
Es zeigt eine stark entwickelte dorsale und eine undeutliche ven-
trale Markkapsel.
Die Faserverbindungen des Corpus Luysii sind oben bereits
wiederholt erwahnt worden. Ich beschranke mich daher jetzt
darauf, sie nochmal kurz aufzuzahlen:
1. Mediale Fasern zur Ansa peduncularis.
2. Ventrale imd laterale Fasern zum Fussareal, die weiterhin
teils in den Tractus opticus, teils in den Globus pallidus zu ge-
langen scheinen.
3. Fasern zum Feld H 2 .
4. Fasern, die ventromedial gegen das Tuber cinereum und
die Corpora mamillaria verlaufen.
Die Seite 24 genau geschilderten Q-Biindel sind jetzt bis an
die mediale Grenze des Fusses gelangt und scheinen sich der Ansa
peduncularis zuzugesellen. Dieser letzteren gesellen sich auch
Fasern zu, die aus dem Luysschen Korper, und zwar aus seinem
medialen Pol, austreten und sich im Bogen um den medialen Rand
des Fusses herum ventralwarts wenden (vgl. namentlich Objekt¬
trager 156).
Das Feld H 2 ist machtiger geworden, es hilft einerseits die dor-
sale Markkapsel des Corpus Luysii bilden, andererseits teilt es mit
einem dorsolateralen, gegen das Feld H 1 ziehenden Fortsatz die
Zona incerta unvollkommen in zwei Teile, einen medialen und
einem lateralen. Ein dritter Teil der Fasern des Feldes H 2 zieht
in vereinzelten Biindelchen in die Gittersohicht. Das Feld H 1 ist
etwas reduziert, jedoch noch mindestens ebenso stark entwickelt
wie das Feld H 2 .
Die Decussatio hypothalamica anterior Fords lasst sich spinal-
warts nur bis Objekttrager 156 verfolgen, auf noch weiter spinal-
warts gelegenem Schnitte verlieren sich ihre Fasern seitlich sehr
rasch im Grau des Tuber cinereum. Auf Objekttrager 160 sind
sie iiberhaupt nicht mehr sicher nachzuweisen. In cerebraler Rich-
tung lassen sich die Fasern erheblich weiter verfolgen. Auf ein-
zelnen Schnitten fallt es allerdings sehr schwer, sie von der Meynert-
schen bezw.Guddenschen Kommissur (Kreuzung) scharf zu trennen.
Ich mochte auch nicht ausschliessen, dass die spater auf Objekt¬
trager 142 sichtbaren Fasern zum Teil der Ouddenschen Kommissur
angehoren. Auf Objekttrager 145 und folgenden steigen die Fasern
der Fore/schen Kreuzung einzeln in der Tiefe des Hohlengraus
dorsolateral auf und wenden sich schliesslich teils durch die Fomix-
biindel hindurch, teils im Bogen um die Fomixbiindel herum
lateralwarts, um wenigstens zum Teil in die Ansa peduncularis
iiberzugehen. Da in dieser Gegend das Corpus Luysii bereits fast
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Buchan zeigen.
2 S3
verschvvunden ist, so ist ein Zusammenhang der Forelschen Kreu-
zung mit dem Corpus Luysii fiir den Affen unwahrscheinlieh.
Die Zona transitoria ist ziemlich breit und wird von der
Hauptmasse der Zona incerta nur unvollstandig durch die Fasern
des Feldes H 2 getrennt.
Der Schnitt 132 1 (vgl. Fig. 14) trifft ventral das Chiasma
etwa in seiner Mitte.
Die Substantia nigra ist selbstverstandlich schon langst ver-
schwunden, dagegen findet sich noch immer im medialen Teile
des Fusses ein starkes Netzwerk grauer Substanz, welches spinal-
warts ganz kontinuierlich in die A-Felder und in die Substantia
nigra iibergeht. Man bezeichnet dieses graue Netzwerk am besten
wieder als Substantia reticulata (medialis) pedis.
Das Corpus Luysii lasst sich bis zum Schnitt 140 allmahlich
abnehmend bequem verfolgen. Auf Objekttrager 140 ist es im
gefarbten Schnitte sogar noch makroskopisch leicht zu erkennen.
Auf den folgenden Schnitten nimmt es nicht nur sehr rasch ab,
sondern wird es auch von Nervenfasem so dicht durchzogen, dass
von grauer Substanz kaum noch etwas zu sehen ist. Schon auf
dem Schnitt 138 bleibt es zweifelhaft, ob iiberhaupt noch graue
Substanz vorhanden ist, immerhin lasst sich bis zu dem auf
Fig. 18 abgebildeten Schnitt 132 mit einiger Sicherheit die Stelle
imgeben, wo das Corpus Luysii zu suchen ist.
Das Feld H 1 ist etwas schwacher geworden, aber noch gut
entwickelt. Das Feld H 2 , das jetzt machtiger geworden ist, gibt
noch immer viele Fasern durch den Fuss zum Globus pallidus ab.
Auf Schnitt 112 1 , welcher ventral das Tuber cinereum und den
Pedunculus inferior thalami trifft, wird die Zona incerta medial
vom Pedunculus inferior thalami begrenzt. Sie geht in den un-
mittelbar lateral vom Pedunculus inferior thalami noch iibrig blei-
benden Ueberrest der Substantia reticulata pedis uber.
(Fortsetzung folgt.)
Buchanzeigen.
Handbuch der Physiologic des Menschen. Herausgegeben von W. Nagel.
Bd. 4. 2. Halfte. 3. Toil. Braunschweig. 1909. Fr. Vieweg & Sohn.
In diesem Teilband behandelt M. Cremer die allgemeine Physiologie
fler Xerven. Klar und vollstandig werden die wichtigsten Tatsachen dieses
Gebiets erortert. Fiir den Neuropathologen ist der Schlussabschnitt iiber das
Zuckungsgesetz am interessantesten (S. 970 ff.). Freilich tritt auch hier
wieder die tiefe Kluft. zutage, welche zwischen den Beobachtungen am
herauspraparierten Nerven und den Beobachtungen am lebenden Menschen
beeteht. V T erf. widinet wohi auch deshalb dem Zuckungsgesetz bei dem
Menschen nur etwa 1 Druckseite. Im Gegensatz zu Verf., Achelis u. A., glaube
ich nicht, dass die Helmholtzeche Erklarung dae abweichende Veriiaiten bei
dem lebenden Menschen schon in ausreichender Weise verstandlich macht.
Die physiologische Literatur ist — wenigstens bis zum Jahre 1907 — sehr
sorgfaltig beriicksichtigt und angegeben.
A.Antheaume und Roger Mignot: Les maladies mentales dans 1’armde fran^aise.
Paris. 1909. Delarue <fc Cie.
Dies Buch, welches die Militarpsyohosen auf Grund der Erfahrungen
Monatuchrift tllr Paychiatrle and Neurologie. Bd. ZZVtl. Heft 3. 19
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284
Tagesge.se hichtliche.s. — Personal ion.
bei deni franzosischen Heer behandelt, bietet znm Toil can ausscrordentlich
grosses In ter esse. Insbesondere der statistische Teil bringt ein sehr wert-
volles tatsachliches Material. Der zweite Teil ist spaziell klinisch. Dio
Klassifikation lohnt sieh an diejenigo von Berieux an. Allenthalben sind
einzelne, znm Teil rceht interessante Krankengeschichten eingefiigt. Der
dritteTeil behandelt administrative, forensische nnd prophylaktische Fragen.
im vierten sind einsehlagige Gesetzesparagraphen, Sitzungsberichte der
Deputiertenkammer u. a. zusammengestellt. Die Literaturiibcrsieht ist
beziiglieh der nicht franzosischen Literatur unvollstandig, hingegen ausserst
willkommen wegen des Hinweises auf viele franzosische Spezialarbeiten.
Z.
Die Gemiitsbewegungen, ihr Wesen und ihr Einfluss auf korperliche,
besonders auf krankhafte Lebenserseheinungen. Von C\ Lange. 2. Aufl.,
besorgt und eingeleitet von H . KureUa. Wurzburg. C. Kabitzsch. 1910.
Langes Sehrift erschien zuerst im Original im Jahre 1885, die erste
deutsche Ueborsetzung von KureUa im Jahre 1887. Die vorliegende neue
Auflage ist ein nur wenig veranderter Abdruck der ersten Auflage. Jeden-
falls hat sich KureUa ein grosses Verdienst ervvorben, indom or uns die Lehre
Langes durch eine gute 1 'ebersetzung bequem zuganglich gemacht hat.
Er sc-hickt der 2. Auflage eine interessante, aber freilieh auch sehr einseitige
Darstcllung der bisherigen Einwirkung der Xanf/eschen Sehrift auf die zeit-
genossische Wissenschaft voraus. Z.
Tagesgeschichtllches.
Vom 18—24. September d. Js. findet die Versammlung deutscher
Xaturforscher und Aerzte in Konigsberg i. Pr. statt. Es sollen auf der 3 elben
besonders die gemeinsehaftlichen Sitzungen gepflegt warden.
Anmeldungen von Vortragen fiir die Sektion fiir Psychiatric und
Notirologie warden baldigst erbeten an Prof. Dr. E. Meyer in Konigsberg
i. Pr., Psychiatrische Klinik.
Bisher sind von Vortragen und Referaten angemeldet:
1. Bdi'dny- Wien: rntersuohung.smethoden des Vestibularapparates
und ihre praktische Bedeutung (insbesondere fiir die Diagnose der Er-
krankungen der hinteren Schadelgrube, sowie fiir die Beurteilung der
Unfallsfolgen naeh Schadelverletzungen).
2. BonAo//er-Breslau: Ref.: Ueber Degenerationspsychosen.
3. Higier- Warschau: Tay-Sachsscho familiare Idiotie und verwandte
Zustande.
4. Isserlin-Miinehim: Ueber den Ablauf von Willkurbewegungen.
5. Liepmann- Berlin: Ueber Pseudobulbarparalyse.
6. Mingazzini- Rom: Ueber pathologisch-anatomische Untersuchungen
zur A])hasiefrage.
7. Reichardt-Wiirz biirg: Ueber die Hirnmaterie.
Personalien.
Edouard Brissaud ist im Dezember 1909 im Alter von 57 Jaliren ge-
storben. Die Neuropathologie verdankt ihm zahlreiche grosso Arbeiten.
Besonders sind hervorzuheben die Abhandlungen iiber Rire et Pleurer
spasmodic] ties, iiber den Tortioolis mental, den Infantilisme dysthyroidien.
die Choroe variable des degeneres. den Reflex der Fascia lata. Gigantismus
und Akromegalie, die Little *ehe Krankheit, die spinale Metamerie, die
,,Aphasie d’intonation** u. s. f. Seine Anatomic du cerveau do Hiomme,
welche auf Anregung Charcots entstand, war fiir das Studium dev Him-
anatomie in Frankreich bahnbrechend. Die Arbeit iiber Angoisse und Anxieto
greift in psychiatrisches Gebiet iiber. Von seiner grossen Vielseitigkeit
zeugen ausserdern zahlreiche Arbeiten iiber Tuberkuloso. Geschwulstlehre
u. s. f. Er war Professor an der medizinischen Fakuitat in Paris und Mitglied
der Akademie. Auch in Deutschland wird sein Andenken lange lebendig
bleiben.
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(Alls der steiermark. L.-Irrenanfltalt Feldhof und der Klinik fiir
Geisteekranke ip Gras.)
Zur pathologlsehen Anatomie der Dementia praeeox.
Von
H. ZINGERLE
in Graz.
(Hierzu Tafel XXI—XXII.)
Trotzdem sich seit den grundlegenden Arbeiten Kraepelins und
seiner Schule das Interesse dem Studium der Dementia praeeox
wie kaum einer anderen Form der Psychosen zugewendet hat, sind
durch die zahlreichen Untersuchungen bisher verhaltnismassig
wenig sichere Ergebnisse zutage gefordert worden, und es sind immer
neue Ratsel, vor welche sich der Forscher gestellt sieht.
Noch ganz unklar sind die Faktoren, welche fiir die Aetiologie
in Betracht kommen. Es ist zwar sicher. dass der Hereditat, be-
sonders bei den Katatonen-Formen, eine Bedeutung zukommt —
es fanden Belastung zu 67 pCt. Schulze 1 ), zu 50 pCt. Kolpin 2 ),
80 pCt. Ziehen 3 ) —, aber ausschliesslich ist dies sicher nicht der
Fall; — auch angeborene Keimesschadigungen kommen nur in
einem Teile der Falle in Betracht, der aber z. B. nach den Erfahrun-
gen Schulzes nicht gerade klein ist. In 30 pCt. konnte dieser Autor
schon vor dem Beginn des Leidens das Vorhandensein von Imbe-
zillitat oder Debilitat nachweisen. — Damit geht gewissermassen
in Parallele der von Ziehen und anderen Autoren wiederholt er-
hobene Befund einer hereditaren Syphilis. Ob und welche Rolle
aber die Lues oder andere Gifte, wie z. B. Alkohol, sowie sonstige
Schadigungen, Traumen etc. spielen, ist noch ganzlich unbekannt.
Von besonderer Wichtigkeit ist es, dass auch der ursprunglich an-
genommene enge Zusammenhang mit den Stoffwechselvorgangen
der Pubertatszeit sich nicht ais zweifellos sicher erwiesen hat,
seitdem das Vorkommen dieser Krankheitsform sowohl in der
fruhen Kindheit, als auch jenseits der 40 er Jahre bekannt ge-
worden ist.
*) Ueber die Bez. des angeb. u. friih erworb. Schwachs., sowie der
psychopath. Konstitution zur Dem. praec. Inaup.-Diss. Jena 1908.
*) Ueber Dem. praec. etc. Allg. Zeitschr. f. Psych. 65.
*) Psychiatric. 1908.
Monatsschrift fiir Psychimtri© und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 9Q
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286
Zingerle, Zur pathologist* hen Aiiatomie
Unleugbar grosse Fortschritte sind in klinisch- symptomato-
logischer Hinsicht zu verzeichnen, und haben gerade die modernen
Bestrebungen^auf Sonderung der klinischen Symptome nach ihrer
Wertigkeit, klarer Prazisierung der Elementarsymptome und ihrer
Beziehungen untereinander [Blevler 1 ), Stranaky 2 ), Kleiat 3 )] ver-
heissungsvoile Ausblicke fur kiinftige Forschungen eroffnet. Be-
sonders interessante Ergebnisse bat auch die Untersuchung der
korperlichen Erscheinungen der D. praecox zutage gefordert
[Weatphal 1 ), Meyer 6 ), Hiifler 9 ), u. A.], unter welchen einige, wie
z. B. die mannigfachen Augensymptome, kortikale Herd-
erscheinungen, besonders aber die sogenannten Katatonen-Anfalle
in auffalliger Weise eine Analogic mit den Befunden bei progressiver
Paralyse nahelegen und auf das Bestehen einer organischen Him-
erkrankung hinzuweisen scheinen.
Wie weit man aber trotz alledem von abgeschlossenen Ergeb-
nissen entfemt ist, beweisen die vielfachen Schwierigkeiten bei der
Differentialdiagnose gegeniiber sonstigen funktionellen Krank-
heitsformen. Je nach dem Standpunkte, den eine Schule vertritt,
variiert auch die Haufigkeit der Diagnose ,,Dementia praecox",
und zeigen dann nur die katamnestischen Erhebungen, wenn
solche in so anerkennenswerter objektiver Weise gemacht werden
wie z. B. in der Kraepelinschen Klinik —, inwieweit Fehler gemacht
worden sind. — So hat die jiingste derartige Untersuchung von
Zendig 1 ) ergeben, dass unter 468 in den Jahren 1904—06 auf-
genommenen Fallen 29,8 pCt. als Fehldiagnosen sich darstellten,
die dem manisch-depressiven Irresein zugehorten.
Es laufen also zweifellos fiir die Feststellung der klinischen
Symptomatik in der Literatur genug Falle mit, welche falschlich
der Dementia praecox zugerechnet werden und das Bild ver-
falschen. Femer ist die Diskussion dariiber noch nicht endgiiltig
geschlossen, ob die von Kraepelin vorgenommene Gruppierung in
3 Formen den tatsachlichen Verhaltnissen entspricht und ob die
klinischen Gesichtspunkte berechtigt sind, nach welchen im Beginn
und Verlaufe so verschiedenartige Prozesse vereinigt werden
[Ranke 6 )].
Nach Meyer 9 ) ist ein Teil der unter dem Begriff der Dementia
') Endzustande der Dem. praec. Allg. Zeitschr. f. Psych. 1908.
*) Ueber die Dem. praec. Wiesbaden 1909.
*) Untersuchungen zur Kenntnis der psychomot. Bewegungsstorungen
bei Oeisteskranken. Leipzig 1908.
4 ) Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 64.
‘) Die korperlichen Erscheinungen der Dem. praec. Allg. Zeitschr.
f. Psych. Bd. 66.
•) Ueber katatone Anfalle. Versamml. d. deutsohen Vereins f. Psych.
1908.
’) Beitrage zur Differentialdiagnose des manisch-depress. Irres. u.
der Dem. praec. Verein bayr. Psychiater. Bericht in Allg. Zeitschr. f. Psych.
Bd. 66. p. 932.
’) Ueber den heutigen Stand der Histopathologic der Himrinde.
Miinch. med. Wochenschr. 1908.
*) Die Prognose der Dem. praec. Arch. f. Psych. 1909.
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der Dementia praecox.
287
praecox zusamraengefassten Falle fiberhaupt als nicht hierher-
gehorig abzutrennen. Ziehen') scheidet die Katatonie [Kahl-
bauvn\ ganz aus der Dementia praecox aus, weil bei dieser erst
sekundar ein Intelligenzverfall sich entwickelt, und spaltet sie
dadurch von der katatonischenVarietat der Dementia hebephrenica
ab. Auch Tamburini 2 ) schlagt vor, die heilbaren Formen von den
unter dem Bilde einer progressiven unheilbaren Erkrankung ver-
laufenden Formen abzusondern, da sie zweifellos anderen Krank-
heitsformen angehoren.
Eine weitere Schwierigkeit erwachst dadurch, dass katatone
Symptombilder vorkommen konnen, ohne dass eine Dementia
praecox besteht. Meyer 3 ) hat seinerzeit mit Naclidruck darauf
hingewiesen, und hat sich dies auch weiterhin bestatigt. Und zwar
kommen derartige Symptombilder nicht nur bei funktionellen
Psychosen, sondem auch bei organischen Gehimerkrankungen
vor, so dass Riche') eine wahre Katatonie und katatoniforme
Erkrankungen bei organischen Hirnlasionen unterscheidet. Man
findet sie bei Arteriosklerose, Hydrocephalie, Lues, Tumor und
nicht selten bei Paralysis progressiva. Der Unterschied zwischen
beiden ware demnach etwa so aufzufassen, wie der zwischen
genuiner und symptomatischer Epilepsie bei organischen Gehirn-
erkrankungen.
Nach dem Bisherigen ist es nicht zu verwundem, dass die
Anschauungen fiber das Wesen der Erkrankung sehr geteilt, viel-
fach direkt widersprechend sind. So wird z. B. noch in jtingster
Zeit bei der Besprechung der Klassifikation der Psychosen auf
dem internationalen medizinischen Kongresse in Budapest von
Keraval 5 ), Ballet und Maillard*) die Dementia praecox unter die
funktionellen Psychosen neben Manie und Melancholie eingereiht,
wahrend Bresler 1 ) sie den toxischen Psychosen angliedert und mit
der Dementia senil., Paralys. progr., den alkoholischen Geistes-
storungen etc. in einer Gruppe vereinigt.
Der Anschauung, dass der Dementia praecox toxische Prozesse
zugrunde liegen, neigt fibrigens eine grossere Zahl der Autoren zu,
ohne dass jedocli fiber das Wesen und die Herkunft der supponierten
Toxine irgend etwas Sicheres bekannt ist. Die schon von Kraepelin
geausserte Vermutimg einer Autointoxikation erhielt durch
neuere Erfahrungen fiber haufiges Vorkommen von Osteomalacie
bei Dementia praecox eine gewisse Stfitze [5or6o®), Haberkandt*)].
Die Haufigkeit dieser Kombination lasst nach diesen Autoren ein
zufalliges Zusammentreffen ausschliessen und an Erkrankungen
>) L c.
*) Ueber Dementia primitive. Intern. Aerztekongreas in Pest 1909.
*) L c.
4 ) 1. c.
5 — 7 ) Klassifikation der Geisteskranken. Intern. Aerztekongreas
in Pest 1909.
*) Osteomalacie bei Geisteskranken. Allg. Zeitachr. f. Psych. Bd. 66.
*) Osteomalacie u. Dem. praec. Arch. f. Psych. 1909.
20 *
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288
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
der Thyreoidea und Ovarien denken, infolge welcher normal©
Abbauprodukte des Organismus zuriickgehalten werden und durcb
ibre Ansammlung zu Vergiftungserscheinungen im Gehim fiihren.
Zur Begriindung dieser Hypothese liess sich auch anfiihren, dass
bei Osteomalacie, Morb. Basedowii und Myxodem psyohische
Storangen nach Art der Dementia praecox beobachtet wurden
[Honniclce 1 )].
Auf einem ganz anderen Stundpunkte stehen jene Autoren,
welche den endogenen, auf einer degenerativen Anlage beruhenden
Charakter des Leidens betonen (Sommer u. A.) und das Wesen des-
selben in einer vorzeitigen Invaliditat des Zentralnervensystems
infolge hereditarer Schwache erblicken, wie dies z. B. Danneman 2 3 * * )
prazisiert.
Fur eine derartige Annahme, die mit den bisherigen Erfahrun-
gen iiber angeborene Minderwertigkeit grosserer oder kleinerer
Verbande des Zentralnervensystems und der daraus resultierenden
friihzeitigen Erschopfung der Funktion derselben in guter Ueber-
einstimmung steht, lasst sich — neben anderen Punkten — vor
allem die grosse Zahl der erblichen Belastung, sowie die Haufigkeit
des familiaren Auftretens von Psychosen, die der Dementia praecox
zugehoren [Berze 8 )], heranziehen. Der Einwand, dass sich auf Grand
einer derartigen Anschauung die eigenartige Symptomatik nicht
widerspruchslos erklaren lasse, ist in dieser Allgemeinheit nicht
stichhaltig. Schon bei Wernickes*) Schilderang der Pubertats-
psychosen kommt der Gedanke zum Ausdracke, dass nicht die Art
der Erkrankung, sondem das Alter, also der Entwicklungszustand
des Gehirnes, alien hebephrenen Psychosen gemeinsame charak-
teristische Ziige verleiht. Spater hat Urstein 6 7 ) die Bedeutung des
Alters und der personlichenVeranlagung fiir die symptomatologische
Gestaltung des Krankheitsbildes hervorgehoben. Ebenso haben
Weygandt*) und Vogt 1 ) betont, dass das uberwiegende Vorkommen
gerade der katatonen Formen des Jugendirreseins im Kindesalter
in physiologischen Erscheinungen desselben begriindet sei.
Andererseits muss man sich dabei doch wieder vor Augen
halten, dass die — selbst anatomisch im Gehirne nachweisbaren
Zeichen einer degenerativen Anlage nicht sicher auf den endogenen
Charakter einer geistigen Stoning schliessen lassen, sondem, wie
dies ja fiir die Paralysis progr. und andere organische Gehimleiden
nachgewiesen ist, erst den giinstigen Boden bilden konnen, auf
welchem exogene Schadlichkeiten sich leichter und fester festsetzen.
l ) Zit. nach HaberJcandt.
*) Kura f. Familienforschung u. Vererbungslehre. Mitteil. d. Zentral-
stelle f. deutsche Personen- und Familiengesch. 1909. H. 5.
3 ) Die manisch - depressive Familie. Monatsschr. f. Psych. 1909.
*) Grundriss 1900.
6 ) Die Dem. praec. Wien 1909.
•) Kritische Bemerkungen zur Psychologie der Dem. praec, Monats-
schrift f. Psych. 22. 1907.
7 ) Ueber Falle von Jugendirresein im Kindesalter. Allg. Zeitschr.
f. Psych. Bd. 66.
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der Dementia praecox.
289
Wo man die Erkrankung fasst, iiberall stosst man somit auf
Unsichere8 und Unklares, und ist es begreiflich, dass man sich mit
allem Eifer der pathologisch-anatomischen Untersuchung zu-
wandte und von dieser alles Heil erwartete.
Leider hat der Erfolg den Erwartungen bisher nicht ent-
sprochen; trotz der grossen Zahl der Untersuchungen liegen ein-
deutige Befunde und sichere Ergebnisse nicht vor und kann heute
von einer pathologischen Anatomie der Dementia praecox noch
nicht gesprochen werden. Es ist schon die Differentialdiagnose
gegeniiber den Veranderungen, welche bei Tuberkulose, Infektions-
erkrankungen. chronischen Emahrungsstorungen etc. im Gehirn
sich entwickein, unsicher und lasst sich schwer entscheiden, ob
primare, auf das Grundleiden zu beziehende, oder sekundare Ver¬
anderungen vorliegen. Auch die Frage beziiglich der Berechtigung
der Einteilung der Dementia praecox hat durch diese Unter¬
suchungen bisher keine merkbare Forderung erfahren; ja selbst die
Grundlage der gewiss schwere Storungen verratenden katatonen
Anfalle ist noch unbekannt.
Wir stossen somit auch hier wiederum auf wenig bebauten
Boden, und erscheint eine Fortfiihrung dieser Untersuchungen
dringend notwendig. Els wird aber dabei weniger von Wert sein,
moglichst viele Falle kursorisch zu untersuchen, als jeden klinisch
gut beobachteten Fall griindlich durch zu arbeiten.
Die Gelegenheit hierzu erhielt ich durch die Direktion der
Landesirrenanstalt Feldhof, welcher ich fur die Ueberlassung der
Krankengeschichte und des Gehirnes meinen herzlichen Dank
abstatte.
Krankheitsgesohichte.
Anamnese .
M. I., geb. 1870, k. 1. Keuschlerssohn aus Fiirstenfeld in St. Mark,
wurde am 3. vTI. 1902 in die psychiatrische Klinik in Graz gebracht und am
23. VII. 1902 nach Feldhof uberstellt. Der Vater ist gesund, die Mutter und
eine Schwester sind geisteskrank, ein Bruder war ebenfalls geistesgestort,
ist aber genesen. Ein Bruder und eine Schwester sind gesund.
Pat. war ein fieissiger Arbeiter, nach Alkoholgenuss sehr aufgeregt.
Nach Angabe des Bruders bildete er sich alle moglichen Krankheiten em,
glaubte, er miisse sterben, w r eii ihm Niemand helfen konne. Er spreche oft
wirres Zeug durcheinander; Lues negiert. In der Klinik war er ruhig, be-
antwortete zutreffend alle Fragen; er gab an, seit einem Jahre krank zu sein,
und sitze sein Leiden im Halse. Ein Arzt bezeichnete es als unheilbare
Syphilis und glaube er dies und meine bestimmt, sterben zu miissen. Er war
ortlich vollkommen, zeitlich unvollstandig orientiert, ausserte auch, dass es
ihm zeitweise am Verstande fehle, und klagte iiber Schmerzen in der Nase;
die Haut sei am Kopfe angedorrt, die Nase zerfressen, der Leib schon ganz
zerfalien und stinke schon, das Blut sei Gift und Wasser. Dementsprechend
war die Stimmung deprimiert.
Die Intelligenzpriifung ergab massige, seiner Vorbildung entsprechende
Kenntnisse. Korperlich: Pat. war kraftig gebaut, etwas abgemagert, deut-
licher Tremor der Zunge und Hande, prompte Pupillenreaktion, keine
Augenmuskelstorungen. Sehnenreflexe etwas erhoht. Innere Organe normal.
Gk>norrhoe. In der Nase links starke Spina septi und leichte Verdickung der
Schleimhaut der mittleren Muschel.
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290
Zinger 1 e , Znr pathologischen Anatomie
Verlauf der Erkrankung in der Anstalt .
25. VII. 1902. Bei der Aufnahme mit zerknirschter Miene und
Haltung, beginnt aber schon bei der ersten Antwort zu lacheln. Er wisse
nicht, wo er daheim sei und auch wo er hier sei, sei ihm fremd. Als Knabe sei
er in Steinbach gewesen, das gehore dem Kaiser. Wo der Kaiser ist, weiss
er nicht. Nach der Volksschule verrichtete er Bauemdienste; die Mutter
sei seit dem Jahre 1881 narrisch, hore Stimmen.
Seit vorigem Jahre habe er eine Liebschaft, friiher onanierte er, ofters
auch mehrmals wahrend der Nacht; schon als Kind in der Schule habe
man mit seinem Gliede gespielt. Die geographischen Kenntnisse beschranken
sich auf die engste Heimat, die 10 Gebote leiert er nach Kinderart herunter,
deren Erklarung fallt ausserst mangelhaft aus. Die Weltgegenden nennt er:
Siiden, Westen, Asien, Afrika.
Seit April vorigen Jahres fiihle er sich so krank, liess sich die Nase
behandeln und war nach 14 tagiger Kur gesund. Im Herbste wurde er wieder
kranklich, konnte aber iiber den Winter noch arbeiten. Im Friihjahr machte
er eine Gonorrhoe durch; von da ab tat er nichts mehr, weil seine Krankheit
erblich sein solle. Verschiedene Medikationen blieben erfolglos. Zu Hause
horte er Stimmen, behauptet aber dann gleich wieder, gehort habe er nichts,
es habe ihn nur von Weibem getraumt, die er coitierte, und hatte er dabei
Pollutionen. Die Leute sagten ihm, er sei ein Narr, auch auf der Klinik
schimpfte man iiber ihn: „Pfui Teufel, ewiger JucT, pfui Tschanker“;
er glaubt syphilitisch zu sein, es stinke ihm bei der Nase und dem Munde
heraus.
Aufgefordert, seine Leiden zu erzahlen, beginnt er gleich, es krache
im Halse imd Genick, steche im Kopfe und in den Schultem, die Nase habe
keine Luft, der Magen sei hin. Das Genitale sei ganz faul.
Schadel von gewohnlichen Dimensionen, Stimnaht gewulstet. Uvula
langer, als normal. An der Innenseite des linken Oberschenkels ein behaarter
Naevus.
26. VII. 1902. Wahrend der Nacht of ter wach, beklagte sich iiber*
die Nahe des Teufels. Heute sitzt er verstimmt im Garten, aussert sich,
dass ihm ein stinkender Hund vorgemacht werde, dass im Essen Kot sei.
8. VIII. 1902. Steht oft am Fenster oder an der Tiire, lauscht,
springt plotzlich auf, rennt in den Garten, springt in den Graben und ver-
sucht zu fliichten. Als Motiv gibt er die endlosen Schimpfereien, welche
manchmal drohend werden, und das Auftauchen des Teufels an. Gegen
Abend meist weinerlich, angstlich, legt sich nur widerstrebend zu Bett
und schlaft auch mit Chloral wenig.
28. VIII. 1902. Steigt in hastiger Flucht bis zum hochsten Gipfel
eines Baumes, lasst sich auf Zuspruch bewegen, herabzukommen, motiviert
sein Verhalten damit, es sei ihm plotzlich alles fremd und verandert vor-
gekommen, alles hatte so drohend ausgesehen; er ist sehr verstort, weicht
auch vor dem Arzte zuriick.
19. IX. 1902. Wird bei Tag und Nacht durch fortwahrendes Gerede
belastigt; dazu kommen noch verschiedene Organgefiihle, wie Stechen und
Schlagen, Durchstromen der Adem, wahrscheinlich von Gift, verschiedene
Geriiche, teuflische Blendungen, eigentiimliche Lichterscheinungen. Genital-
sensationen leugnet er. Zum Essen muss Pat haufig genotigt werden.
Schlaf mangelhaft.
13. X. 1902. Steht auf der Abteilung traumhaft herum, halt sich
mit Vorliebe im Vorraume des Abortes auf, wurde gegen den Warter, der
ihn hinausweisen wollte, aggressiv. Zwei Tage isoliert.
10. XI. Steht ganz in sich versunken herum, lachelt und spricht
leise vor sich hin.
13. XI. Erzahlt heute auf Befragen, dass er fortwahrend rufen hore,
die Luft gehe ihm kreuzweise im Kopfe aus und ein; wenn er stehen bleibe,
habe er das Gefiihl, als wenn er gehen solle und um^ekehrt. Er werde auch
von elektrischen Stromen beeinflusst, die durch die Luft kommen; seine
Nase stinke und sei ganz faul, durch das Genitale gehe das Gift herunter,
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der Dementia praecox.
291
das er am Schlossberg eingenommen habe, es treibe ihm das Genital© an
und dann wieder zuriick. Zeitweise Nahningsverweigerung, weil es ihm vom
Magen heraufdriicke.
2. XII. Agnosziert einen seit Wochen hier befindlichen Kranken
als seinen Bruder; habe auch seinen Vater hier sterben gesehen. Hat an-
dauernd Sensationen; sei durch stinkige Luft aufgeblasen, sehe und hore
nichts mehr, werde langsam versteinert, wackle mit dem Kopfe, bewegt
die Schultem, um das Steinerasseln zu demonstrieren. Macht einen miiden,
schlafrigen Eindruck, verkehrt nur wenig.
18. XII. Habe seinen Vater bei der Tiir hereinkommen sehen,
wundert sich dariiber, dass dieser lebend kam, da er doch dessen Leichen-
geruch deutlich spiirte. Das durch den Ham abgehende Strychnin macht
ihm Kitzeln. Er sei schon wie ein Fass aufgeblasen, ganz hohl, das Klopfen
und Reden in den Ohren halle so wider, dass er nicht schlafen konne.
26. XII. Sieht schlecht aus, fahl, blass. Puls frequent, schwach;
Pat. kugelt am Boden herum, kommt ins Bett.
23. I. 1903. Beklagt sich, dass der Magen und die Eingeweide
herausgeschnitten seien, dass er durch das Telephon verhohnt werde etc.
22. II. Hort seine Angehorigen und Geschwister; die hinter der Tiire
stehen sollen; seine Schwester befiehlt ihm, vor dem Arzte nieder zu knieen,
er werde fort und fort elektrisiert, habe ein Loch im Kopfe, das er sich an-
geblich mit Watte ausstopfen rniisse. Vom Magen steige ihm Gestank auf;
steht ratios herum, versteckt sich in Winkeln, zieht haufig das Gewand iiber
den Kopf, zieht sich beim Liegen auf den moglichst kleinsten Raum zu-
sammen. Nachte ruhig.
20. IV. Stellt heute Sensationen und Halluzinationen als Tr&ume
hin, sei ganz gesund, sucht seine friiheren Ideen in ganz schwachsinniger
Weise zu entkraften, objektiv ist er andauerad Halluzinant, wahnt seme
Eltem und Bruder hier.
7. V. Er habe gestem Gift fressen mu seen, man solle ihn hinausfiihren
und erschieesen.
12. V. Liess sich von einem dementen Paralytiker bewegen, diesem
bei einem F uchtversuche behiilflich zu sein.
16. VI. Aeussert offers Todesahnungen, heute wurde er hingemacht
und vergiftet; sonst unverandert. Haufig schlaflos.
25. VIII. Lag die letzten Wochen viel auf den Banken herum
oder separierte sich in einem Winkel, ruhig verschlossen, Bewegungen
langsam, miide. Vor einigen Tagen zu Bette gebracht, bleibt er ruhig liegen,
ist zufrieden mit dieser Aenderung. Psychisch sonst unverandert, aussert zeitr
weise Vergiftungsideen, klagt, dass ihm die Zahne im Munde klappem,
seine Gedarme undurchgangig seien. Durch 2 Tage abstinent.
23. IX. Pat, lag wahrend der letzten Wochen stuporos dahin, musste
zur Nahrungsaufnahme genotigt werden; Aeusserungen waren nur ausserst
sparlich zu erhalten. Behauptet, heute nicht langer hier bleiben zu wollen,
er gehe hinunter in die Glashalle, wo der Operationssaal sei, er konne nicht
mehr leben. Er wolle sich operieren lassen,fiihle am ganzen Korper Schmerzen;
er sei schon stinkig geworden und gehore in den ailerletzten Winkel.
12. X. Tiefer Hemmungszustand, bewegt sich in eigentiimlichen
Posen. Bestandig mutazistisch. Nach Ian gem Fragen gibt er an, dass er der
Schacher sei.
5. XI. Pat. liegt regungslos zu Bette, exquisit katatonisch, magert
ab. Puls frequent, weich.
5. XII. Liegt meist ruhig, zusammengekauert, steigt zeitweilig aus
dem Bette, geht mit steifen Beinen im Zimmer auf und ab. Lasst sich
selten in ein Gesprach ein. Heute zuganglich, behauptet, er habe seinen
Vater nicht gekannt, habe nie seine Mutter gesehen; es sei ihm die Zunge
wecgegangen, seine ganzen Gedarme seien in den Abort verschwunden.
Haft sich rein.
25. I. 1904. H< bestandig sein Sacktuch vor den Mund, behauptet,
er habe die Pest im Bauche, muss© unter die Erde, damit die anderen nicht
von ihm vergiftet werden.
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292
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
10. III. Dauemd zu Bette, voller Sensationen, zeitweiae Nahrungs-
verweigerung. An manchen Tagen liegt er lethargisch dahin, manchmal
wieder reger, sitzt auf, spricht iiber seine Zustande.
17. VI. Nimmt trophisch ab. Ueber beiden Lungenspitzen ver-
sch&rftes Atmen und trockene Ronchi.
22. Vm. Unverandertes Verhalten, beklagt sich haufig iiber den
Gestank, der von ihm ausgehe. 1
26. XII. Liegt an manchen Tagen bewegungslos dahin; manchmal
reger, spricht von derPestkrankheit, an der er leide; er sei hier, um zu sterben.
Nahrungsaufnahme wechselnd.
22. II. 1905. Nach wie vor voller Sensationen, sei vergiftet, faul,
stinke, verpesteteLuft gehe von ihm aus; verlangt in die Zelle, um die anderen
nicht zu verpesten.
4. VIII. Liegt meist bewegungslos zu Bette, den Blick gegen die
Decke gerichtet, steht manchmal plotzlich auf, stellt sich neben das Bett,
bleibt statuenhaft stehen. Am 14. V. versuchte er, die Stiicke eines zer-
brochenen Loffels zu schlucken, wollte Kaffee durch die Nase trinken. Erzahlt
heute, dass er einen Bisswurm in seinen Beinen habe, der von seinem Fleisch
fresse.
24. IX. Stuporoses Verhalten, lie^t regungslos, mit gesohlossenen
Augen im Bette, muss zum Essen genotigt werden, gibt nur auf wieder-
holtes Befragen mit leiser Stimme Antwort. Bittet um einen Schneider,
denn nur dieser konne ihm helfen; er sei ganz hohl und werde mit Blut ge-
fiittert.
7. VIII. 1906. Liegt stets zu Bette, meist mit gespreizten Fingern
in exquisit katatonischem Zustande, murmelt zeitweise unverstandlich vor
sich hm, erwahnt etwas vom Kegelschieben, Gift, Blitz u. a. Nach vollig
regunglosen Wochen springt er manchmal plotzlich auf, wirft Bettzeug-
stiicke von sich und stosst dabei zusammenhangslose Worte heraus. Daim
lasst er sich wieder ruhig ins Bett fiihren und bleibt wie friiher regungslos
liegen.
12. XI. Zeigt Befehlsautomatie, halt nach geringem passivem
Widerstande Hand oder Bein in der gegebenen Stellung auch bis zu einer
Stunde steif, lasst dann die Extremitat langsam und allmahlich in Ruhe-
stellung herab. Nachts ruhig, oft unrein.
14. V. 1907. Immer regungslos, mit halbgeschlossenen, zwinkernden
Augenlidem im Bette, spricht manchmal etwas vom „Blutwurm“ und von
Stechen in den Gliedem. Fiexibilitas cerea besteht unverandert.
9. XI. Magert zusehends ab, verweigert manchmal die Nahrung
mit der Motivierung, „es stinke“ oder Gift sei drinnen. Im Munde ver-
spiire er einen Geschmack ,,wie nach Kot aus dem altenJAborthausel“. Be-
ldagt sich iiber den Blitzschlag im Riickenmark, weshalb er sich nicht zu
bewegen getraue; auch sehe er ofter Feuererscheinungen und hore „die
Sprache“. Was er hore, sei nicht immer deutsch, er wisse selbst nicht, was
gesprochen wird, wahrscheinlich sei dies aber auf ihn gerniinzt. In seinem
Leibe habe er Wurmblut, das krabble und steche oft im ganzen Korper.
Auch die Schadeldecke sei eingesehniirt, am besten ware es, man wurde ihm
den Schadel einschlagen. In der Nase stinke es grauslich nach dem Spitz-
wurm; in den Gedarmen sei alias faul.
31. XII. Seit 2 Wochen hartnackige Diarrhoen, Puls zwischen
80 und 90, Temperatur normal. Im linken Oberlappen der Lungen Er-
scheinungen von Tuberkulose. Pat. ist verhaltnismassig agil, zeigt nur an-
deutimgsweise Fiexibilitas; psychisch sonst unverandert.
9. I. 1908. Diarrhoe halt unverandert an. Pat. wird immer schwacher,
seit 2 Tfi^en Fieber, heute um %2 Uhr nachmittags Exitus.
Obduktionsbefund
(am 10. I. 1908, vormittags).
Schadeldach rundlich, Knochen mitteldick; Langsdurchmesser 177.
Breitendurchmesser 151. Gehirngewicht 1430 g.
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der Dementia praecox.
293
Weiche Gehimhaute gross ten toils zart, durchsichtig, ohne Substanz-
verlust abziehbar, nur iiber den oberen Stimwind ungen und den oberen
Anteilen der Zentral wind ungen, ebenso an der Basis der Umgebung dee
Chiasma milchig getriibt. Gefasse massig injiziert, Gefassbaum an der
Basis ohne Besonderheiten.
Das Gehim ist im ganzen gut geformt, in seinen beiden Half ten von
gleicher Grosse, reichlich gegliedert. Die Windungen sind glatt, nicht auf-
fallig atrophisch; eine Verbreiterung der Sulci ist nur in den Stirnlappen,
rechts starker als links, und zwar imBereiche des S, fs. und S. pres bemerkbar.
Die typischen Hauptfurchen und Windungen sind alle deutlich ge-
bildet. Bemerkenswert ist nur, dass die Oberflachengliederung in beiden
Hemispharen differiert, rechts viel reichlichor ist als links. In der rochten
Hemisphare ist der Stirnlappen durch zahlreiche Furchen 2. und 3. Ordnung
eingeschnitten und sind auch Tiefen wind ungen an die Oberflache getreten.
Besonders reichlich und atypisch gegliedert ist aber der Scheitel- und Hinter-
hauptslappen, wahrend die Oberflachengestaltung im Schlafelappen einen
relativ emfachen Charakter tragt.
Die linke Hemisphare zeigt einen viel einfacher gefurchten Stirnlappen,
die Windungen sind breiter und weniger durch sekundare Furchen unter-
brochen als rechts. Auch die Zentral wind ungen sind hier etwas breiter
als rechts. Immerhin finden sich auch in dieser Hemisphare atypische
Furclienzweige, weiche Verbindung zwischen typischen Furchen schaffen;
Die postzentrale Furche verlauft ganz parallel dem Sulc. Rolando, die
interparietale Furche ist in mehrfache Teilstiicke gesondert.
Die Fissura Sylvii ist beiderseits geschlossen. Die Himnerven liegen
in gewohnlicher Zahl und Dicke vor.
Auffallig ist eine starke Steilstellimg der Briicke, durch weiche die
Himschenkel steiler abfallen als gewohnlich. Die linke Kleinhimhalfte
ist etwas kleiner als die rechte, aber etwas starker gewolbt. Im Bau der
Kleinhim-Hemispharen sowie der. Briicke sonst ausserlich keine Ab-
weichimgen vom Normalen.
In der linken Lunge verstreute Miliartuberkel mit hamorrhagischem
Hofe. In der rechten Lunge einzelne, bis erbsengrosse, verkalkte Tul>erkel.
Pleuritis fibrinosa sinistra, Herz klein; chronischer Milztumor. Enteritis
ulcerosa. Das Gehim wurde in lOproz. Formol gehartet. Zur Bearbeitung
wurden aus den verschiedenen Windungsgebieten der einzelnen Lappen,
sowie aus dem Kleinhim, den basalen Ganglion und dem Halstnarke
kleine Stiicke entnommen imd nach den verschiedenen Methoden (Carmin,
Hamotoxylin - Eosin, v . Gieson , Nigrosin, Thionin, Weigerts che Mark-
scheiden- imd Gliafarbung, Marchi) gefarbt. Da nach der Angabe von
SchiUz 1 ) dor Zerfall der Fibrillen schon 12 Stunden post mortem beginnt,
wurde in Hinsicht auf die spate Obduktion von der Fibrillenfarbung Ab-
stand genommen. Um Einsicht zu gewinnen, inwieweit bei der Katatonie
Entwicklungss tor ungen des Gehirns eine Rolle spielen, wurde ausserdem
das ganze Gehim bis zum oberen Halsmarke in Serienschnitte zerlegt und
nach der Weigrertschen Markscheidenmethode gefarbt.
Histologischer Befund.
Schwerere Entwicklungsstorungen in Form von Agnesien einzelner
Teile, heterotoper Lagerung grauer oder weisser Substanz, oder von
Mikrogyrie liessen sich nirgends auf finden. Nur im Kleinhim kommt
eine Storung dor Ordnung dor Purkin /eschen Zellen, Verlagerung derselben
in die Kornorschicht vor. In der Grosshimrinde komrnen Bilder vor, die
an eino stellenweise verzogerte histologischo Differenzierimg von Ganglien-
zellen denken lassen, die spater Erwahnung finden werden.
Residuen von mit Nnrbonbildung ausgeheilten hamorrhagischen
Gewebszerstorimgen oder Erweichungen fehlen vollstandig. Die nachweis-
J ) Zur pathologischen Anatomie der Nervenzellon und Neurofibrillen
Monatsschr. f. Psych. Bd. 26.
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294
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
baren krankhaften Veranderungen sind nicht ausschliesslich auf die Gross*
hirnrinde lokalisiert. Sie erstrecken sich auf die basalen Ganglien, das Klein-
him und sind selbst in dem untersuchten obersten Riickenmarksanteile
noeh vorhanden.
Sie sind aber nicht uberall von gleicher Intensitat; am starksten be-
troffen sind beiderseits das Stimhim sowie die Windungen der Scheitel-
lappchen und der Nucl. dentatus des Kleinhims. Am geringsten ein-
bezogen erscheinen beide Hinterhauptslappen. Ausserdem bestehen auoh
in den einzelnen Windungen selbst starke Unterschiede, indem an den
Windungskuppen die Veranderungen regelmassig schwerere sind als an den
F\ irehen wandungen.
1. Qrosshimhemisphdren .
Die Dura kam nicht zur Untersuchung. Die Pia ist zum grosseren Teile
diinn und ohne Veranderungen. Nur stellenweise sind die Bindegewebsziige
verdickt, von spindelformigen Fibroblasten mit saftigen Kemen durchsetzt.
In den Maschen des adventitiellen Gewebes der Gefasse liegen dabei ver-
einzelte Lymphozyten, wenige, Plasmazellen ahnliche Formen (runder Zell-
leib, Protoplasma dunkel homogen, exzentrischer nuider oder halbmond-
formiger Kern mit dicker Kemmembran, wandstandigem Chromatin und
zentraler Lichtung), sowio einzelne langlich ovale Formen, in deren lichtem,
fein gekomtem Zelleibe 2—3 kleinere dunkle Kerne sichtbar sind. In der
Tiefe einzelner Furchen ist die Pia mit der zonalen Schicht mitunter ver-
wachsen, wobei die Grenzen beider verwischt sind. Die gliose Randzone ist
dabei grobfaseriger, wie aufgelockert und kemreicher. Zum grosseren Teile
sind es kleine dunkle Gliakeme mit unregelmassiger Kontur, wie sie auch
normal in der Randzone vorkommen, die aber bier einen formlichen Wall
bilden. Daneben finden sich auch runde und langliche Kerne mit spinnen-
zellenahnlichem Zellleibe.
Gefasse: Die grossen Gefasse an der Basis zeigen, abgesehen von
Pigmentkomchen-Einlagerung in die Wand, keine Veranderung. Die Be-
funde an mittelgrossen und kleinen Gefassen der Rinde sind wechselnde.
Nur zum geringeren Teile bieten dieselben nichts Abnormes dar. Die Gefasse
sind nicht iibermassig stark mit Blut gefullt, kleine Blutaustritte gehoren
zu den Seltenheiten. Eine Neubildung von Kapillaren in irgend erheb-
licherem Masse fehlt ganzlich. Nur an einer der Stellen war ein Querschnitts-
biindel sichtbar, das am 2. oder 3. Gefasschen aufgebaut ist. In manchen
Gefassen bildet das Blut eine homogene hyaline Masse oder mit Hama-
toxylin sich stark blau farbende Kugeln, von denen ganz vereinzelte auch im
adventitiellen Gewebe gefunden wurden und ganz den Amyloidkugeln ahnlich
sind. Hyaline Entartung der Gefasswande selbst kommt — wenn auch nicht
haufig — in grosserer oder geringerer Ausdehnung vor. Relativ haufig ist aber,
dass kleine Gefassquerschnitte ganz kernlos erscheinen und hellglanzende
Hinge darstellen, die bei alien Farbungen unverandert bleiben und nur mit
Fuchsin einen leichten Stich ins Rotliche annehmen, Haufig ist eine starke
Schwellung der Endothelkeme, durch welche die Wand nach aussen buckelig
vorgewolbt wird. In den mittelgrossen Rindengefassen sind stellenweise auch
die Kerne der Media und Adventitia vergrossert. Eine starkere Verdickung
des adventitiellen Gewebes fehlt.
Die adventitiellen Lymphraume der Gefasse sind fast durchgehends
erweitert und enthalten Kernhaufchen, die niemals aus Plasmazellen be¬
stehen. Es sind Lymphozyten, sowie grossere Kerne mit lichter Zeichnung
ahnlich den mittelgrossen Ghakemen, ferner, besonders in den Markgefaasen,
grossere runde Pigmentkomchenzellen, die mitunter in erheblicher Menge
die Lymphscheiden ausfiillen und bei Thioninfarbung sich strotzend gefiillt
mit verschieden grossen, schwarzlich dunkelblauen Komchen oder Schollen
erweisen. Ausserdem kommen noch — wohl aus gewucherten cwiventitiellen
Elementen herstammende — langliche, biskuitformige, keulenformige Kerne
mit auffallend dunkler Kemmembran vor, an denen stellenweise auch
Degenerationserscheinungen, wie Schrumpfung, dunkle homogene Farbung,
auffaliig sind.
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der Dementia praeeox.
295
Zweifellos sind einzelne Gefasse such von perivaskularen Schrumpfungs-
raumen umgeben und liegen in diesen Lymphozyten vermischt mit deutlichen
Uliakernen, deren Zellleib nur mehr als schmaler Saum einer gekomten
Substanzerhaltengebliebenist. Ueberhaupt sind haufig kleinerundeGliazellen
in der Umgebung der Gefasse vermehrt nnd reihenformig oder in Haufchen
(Gliarasen) langs des Gefassverlaufes angeordnet. In manchen Rindengebieten
sieht man dagegen zellarme Hofo um die Gefasse, die in einiger Entfemung
durch einen Kernwall abgegrenzt warden. Sehr haufig ist dieser Befuna
von zellarmen Gefasshofen im allgemeinen nicht; kommen solche auch bei
chronischen Degenerationsprozessen haufig vor, so fehlen nach Alzheimer 1 )
dieselben auch m normalen Gehirnen nicht vollig und sind daher nur mit
Vorsicht zu be war ten.
Nebst den Kornchenzellen liegen in den Adventitiazellen. den Gref ass-
wand ungen, selbst in den Endothelien, Komchenablagerungen in Haufchen
oder Reihen. Diese Ablagerungen sind reichlicher in den Mark- als in den
Rindengefassen, erscheinen bei Hamatoxylinfarbung hellgelb, mit Marchi
schwarz, mit Thionin zum Tt'il blau, zum Tail griinlich. Die Zellanhaufungen
um die Gefasse wechseln in ihrer Ausdehnung, und findet man bald nur
einige wenigo, bald die grossere Menge derselben. Sie gehen nicht parallel
dem Grade der vorhandenen Rindenveranderungen, sind oft sparlich an
Rindenstellen mit starker Zellerkrankung und umgekehrt.
Der Gefassbefund ergibt somit im wesentlichen Ansammlung von
hamatogenen Elementen in Form von Lymphozyten innerhalb der Gefass-
scheiden, die nach Nissl 2 ) im normalen Gehime niemals vorkommen und
gewohnlich bei nichteitrigen entzundlichen Prozessen gefunden warden.
Dazu kommen noch gewucherte Adventitia-Elemente und schliesslich Abbau-
produkte, in Form von freien und in Zellen angeschlossenen Pigmentkomem
und Fettsubstanzen, die bei Zerfall nervoser Substanz regelmassig gefunden
werden und durch den Lymphstrom in die Gefassscheiden und Wandungen
uberfiihrt und dort deponiert werden [Alzheimer 2 ), Gehry*)].
Nervenzellen der Rinde. Die Rinde ist nirgends auffalhg verschmalert
und gegen das Mark zu scharf abgegrenzt. Der Schichtenaufbau ist in der
Grundlage ein dem Normalen entsprechender und erfahrt nur durch die
pathologischen Veranderungen vielfach eine Storung.
Die Molekularzone ist teils gleichmassig breit und eher keroarm; stellen-
weise ist sio jedoch oberflachlich uneben und in der giiosen Randschicht
aufgelockert, sowie kemreicher. In einzelnen Windungen des Stirn- und
oberen Scheitellappens wird das Gewebe durch Haufchen eines gelb-
schwarzen Pigmentes formlich getiipfelt. Die Veranderungen an den Ver-
wachsungsstellen mit der Pia wurden schon friiher beschrieben. Hinsichtlich
der Ganglienzellen der Rinde ist in erster Linie auffallig, dass in alien Rinden¬
gebieten in mehr weniger ausgedehntern Masse, am starksten an denWindungs-
kuppen ZellausfalJe bestehen, die iiberwiegend in den Pyramidenschichten,
in geringerem Masse in der Schicht der polymorphen Zellen vorkommen.
DieZellverminderung istentweder eine diffuse, oder es treten grossere ganglien-
zellenlose Stellen hervor, welche aus einem kernarmen, grobfaserigen Grund-
gewebe, dem veranderten Grau, gebildet sind. Diese Ausfalle reichen oft
bis in die obersten Lagen der kleinen Pyramidenzellen hinein, und grenzt
sich dann die ausserste Zellage mit einem welligen, gezackten Rande gegen
die Molekularzone ab, der auch Bilder vortauscht. wie sie in der Embryonal-
zeit zur Zeit der Bildung der Retzius schen Warzchen gefunden werden. In
der Nachbarschaft solch lichter Flecken und auch im Bereiche der diffusen
Ausfalle sind die Zellen meist schwer verandert und, was besonders auffallig
ist, vielfach auch nicht mehr typisch gelagert, schief, quer, mitunter direkt
J ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats-
schrift f. Psych. 3.
*) Histologische und histopathologische Arbeiten etc. Bd. 1.
'*) Ueber den Abbau des Ner\ y engewebes. Versamml. d. deutschen
Vereins f. Psych. 1906.
4 ) Zur Histopathol. der tuberk. Meningitis. Arch. f. Psych. 1909.
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296
Zingerle, Zur pathologischen Anatomic
verkehrt, rait dem Spitzenforteatze mark warts gestellt, liegen auch manch-
mal in kleinen Gruppen zu 3—4 dioht aneinander. (Fig. 1.)
Die ausgesprochensten Bilder einer derartigen Rindendestruktion
oharakterisierten die am schwersten betroffenen Windungsgebiete, wie im
Stim- und Scheitellappen. In den weniger veranderten Rindengebieten
•ind die Ausfalle weniger ausgedehnt und zahlreich. und erweist sich auch die
BinsteUung nicht in so hohem Grade gesch&digt.
Selbst an den Stellen derartiger schwerster Veranderung lokaiisiert
ich dieselbe haupt3achlich auf die Pyramidensehichten. In der inneren
Komerschicht, sowie der Schicht polymorpher Zellen koramen aus-
gedehntere Liicken nicht vor, und sind nur sparliche, kleinere Ausfallszonen
vorhanden. Tn der Regel kontrastiert also bei Verddung der ausseren
Schichten eine im Verh<nisse dazu zellenreiche tiefe Rindenlage.
Bei oberflachlicher Uebersicht fallt noch auf, dass im Gegensatze zu
der Zellverarmung an den Kuppen an einer Oder beiden Seitenflachen der
Windungen sich Bilder zeigen, die an eine Entwicklungshemmung denken
lassen (Fig. 2). Die Ganglienelemente sind daselbst zahlreich. liegen dicht
aneinander und lassen wenig Zwischensubstanz zwischen sich. Die Zellen sind
dabei kleiner, in den einzelnen Pyramidensehichten in der Gross© wenig
different und machen den Eindruck von unfertigen Zellformen. Die typische
Form der Pyramidenzellen kommt wenig zum Ausdrucke. Sie sind mehr
abgerundet, birn-, auch spindelformig, zeigen wenig Fortsatze. Der Kern
ist im Verhaltnis zum Zelleibe gross, gut gezeichnet, mit deutlichem Kern-
korperchen, der Protoplasmaleib schmal, feingekomt, ohne die typisch
angeordneten Chromatinschollen. In der Schicht der kleinen Pyramiden¬
zellen, resp. der ausseren Komerschicht gleichen die Formen meist voll-
kommen dem Typus unentwickelter Korner, 1 yei welchem der Zelleib gerade
noch einen schrnalen Sanm urn den Kern bildet, der sich nach einer Seite
in einen kurzen Spitzenfortsatz verlangert. Im Bereiche dieser Rinden-
formation sind in der vorderen Zentralwind ung auch fast keine Betz&chen
Riesenpyramidenzellen sichtbar. Die Rinde der Fissura calcarina tragi
fast durchaus ein derartig unentwickeltes Geprage. In der Schicht der
polymorphen Zellen sind birnformige Elemente seltener.
Zerfalls- und Degenerationserscheinungen kommen an diesen Zellen
ebenso — wenn auch nicht so ausgedehnt — vor, wie im Bereiche der iibrigen
Rinde.
In Hinsicht auf die sp&te Obduktion und auf die Moglichkeit post-
mortaler Veranderungen kann dieser Befund nur mit Vorsicht und grosser
Zuriickhaltung verwertet werden. Der Verdacht, dass derselbe eine ver-
zogerte Reifung von Ganglienelementen zum Ausdruck bringt, ist jedoch ein
naheliegender.
Die iibrigen Veranderungen an den Ganglienzellen sind recht aus-
gebreitete, zum Teil schweren Grades und stellen sich in den verschiedensten
Formen dar. Vollkommen normal aussehende Zellen kommen bald reich-
licher, bald nur vereinzelt vor, sind aber in der Minderzahl. Das Vorkommen
von intakten Zellen neben den verschiedensten Arten der Zellv r eranderung
ist nach Nissl ein Zeichen, dass der Krankheitsprozess noch nicht abgelaufen
ist. Haufig ist eine Form rnit kurzen, zum Teil ganz fehlendcn Fortsatzen,
bei welcher der Protoplasmaleib nur wenige Chromatinkornchen enthalt,
die entweder dor Kernperipherie in Reihon anliegen oder in kleinen, zu-
sammengebackenen Schollen ganz an die Peripherie, besonders an die Basis
des Zelleibes, geriickt sind. Besonders haufig sieht man einen hellen Ring um
den Kern, als Zeichen einer Retraktion des Protoplasma vom Kern (Fig. 3).
Dieser perinukleare Ring erreicht oft eine solche Grosse, dass nur mehr ein
schmaler Saum des Protoplasma den.selben umgrenzt, der auch an einer oder
mehreren Stellen unterbrochen sein kann. Diese Formen fiihren unmittelbar
zu den schweren Veranderungen liber, bei welchen der Kern in einem Hohl-
raum liegt, der an einer Stelle noch Haufchen gekornten Protoplasmas und
Pigment in sich schliesst, als Reste des urspriingiichen Zellleibes.
Diese Zeilveranderung ist in ganz charakteristischer Weise schon von
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der Dementia praecox.
297
Alzheimer') beobachtet worden; er schlieest ihr Zustandekommen durch eine
Leichenveranderung aus, und ist ee von Intereese, dass er sie in Beziehung
zu einer starken serosen Durchtrankung der Zellen, z. B. bei Himodem,
bringt. Nur soli durch die wasserentziehende Eigenschaft des Alkohols,
auf deren Bedeutung auf die Erweiterung schon bestehender Hohlraume
auch SchiUz *) hinweist, nachtraglich bei der Hartung eine noch starkere
Schrumpfung eintreten, die selbst zur Zerreissung des Zelleibes fiihrt.
Kommen auch Pigmentablagerungen schon normalerweise in den Zellen
Erwachsener vor [Da Fano *)] und tritt eine Fettpigmententwicklung schon
in der Pubertat in Form von hellgelb glanzenden Kornem auf [Miihlmann A )\
so ist doch die Pigmentmenge, die in vorliegendem Falle in den beschriebenen
Zellen — iibrigens in vielen Zellen mit andersartigen Veranderungen — vor-
handen ist, eine ungewohnlich grosse, meist liber den ganzen Zelleib verteilte,
und lasst darauf schliessen, dass, wie dies bei chronisch verlaufenden
Psychosen iiberhaupt haufig vorkommt [Schulz*)], Alzheimer l * * 4 * 6 * * ) u. A., eine
pathologische Pigmentierung der Ganglienzellen eingetreten ist. Die
Komchen bleiben bei Haematoxylin-Eosin, Nigrosinfarbung hellgelb, er-
scheinen bei Thionin-Farbung zum Teil blau, zum Teil griinlich. Mit
Marchifarbung farbt sich mindestens ein Teil derselben, ebenso wie in den
Gefassseheiden, schwarz, und erhalt das Marchibild der Rinde dadurch ein
eigenartiges Aussehen (Fig. 5). Es scheint, dass hier verschiedene Abbau-
produkte vorliegen und dass, wie dies Alzheimer 9 ) in Fallen von Dementia
praecox beschrieben hat, der Eiweisszerfall zum Teil bis zur Bildung ein-
facher Fettkorper vorgeschritten ist, zum Teil auch nur bis zur Bildung
protagonoider Korper gediehen ist. Die Kerne dieser Zellen zeigen mannig-
fache Veranderungen. Zum Teil sind sie grosser, abgerundet, das Kemkorper-
chen erscheint gequollen, auch verdoppelt. enthalt vielfach im Zentmm eine
Vakuole; der Kernsaft ist vermehrt resp. das Chromatinnetz fleckweise wie
aufgelost und verschwtmden. Man trifft nicht selten wandstandige Kerne,
die fast ganz wasserhell, ohne Chromatinzeichnung sind und nur mehr das
Kernkorperchen enthalten. Es scheint, dass diese Befunde mit der An-
nahme Alzheimers von einer vermehrten serosen Durchtrankung der Zellen
gut in Uebereinstimmung stehen. Andere Kerne sind gleichmassig triib, die
Kemmembran ist gerunzelt, auch undeutlich und schlecht vom Protoplasma
sich abhebend, die Form verandert, langlich und schmal; stellenweise
scheinen sie mit dem Zelleibe zugrunde gegangen zu sein. Man sieht dann
iiberhaupt nur mehr strukturlose Reste in einem Hohlraume liegen oder
Zellschatten ohne Kern, welche keine deutliche Struktur erkennen lessen
und eine unregelmassige, unscharfe Kontur besitzen.
Neben dieser Form, bei welcher chromolytische Prozesse vom Zentrum
gegen die Peripherie zu schreiten und die Veranderungen des Zelleibes
durch eine anscheinende Ablosung desselben vom Kern eingeleitet werden,
gibt es nun ebenso haufig solche, bei welchen die aussere Kontur der Zelle
uneben, wie angenagt aussieht, und in den Buchten gewucherte Trabant-
zellen eingelagert sind welche bei der friiheren Form haufig fehlen, zum
mindesten nicht merklich vermehrt sind. Auch bei dieser Veranderung ist
die meist verkleinerte Zelle auf einen Teil eines Hohlraumes zuriickgezogen,
und von oft 8 und mehr Trabantzellen im grosseren Teile ihres Umfanges
l ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats-
schrift f. Psych. Bd. 3.
*) 1. c.
*) Studien liber Veranderungen im Thai. opt. etc. Monateschr. f.
Psych. 26.
4 ) Weitere Untersuchungen iiber die Veranderungen der Nervenzellen
in verschiedenem Alter. Arch. f. makroskopische Anatomie. 1901.
6 ) Zur path. Anatomie chron. Geistesstonmgen. Allg. Zeitschr. f.
Psych. 57. Beitr. z. pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats-
schr. f. Psych. 2.
•) Ueber den Abbau des Nervengeweb^. Vers. d. deutschen Vereins
f. Psych. 1906.
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298
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
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eingekreist, wahrend normalerweise die Trabantzellen vorwiegend an der
Basis der Zeilen sich ansammeln [Alzheimer, Ramon y Cajal 1 )]. Die Kerne
schmiegen sich vielfach eng den Einbuchtungen der Zellkontur an,
scheinen dabei durch ihr Vorbauchen mitunter zu einer Verdrangung und
nierenformigen Eindellung des Zellkemes Veranlassung zu geben. Manchmal
scheint ein Trabantkem direkt innerhalb des Zelleibes, wie eingeschlossen
vom Protoplasma, zu liegen. Auch bei diesen Formen sieht man die ver-
schiedensten Uebergange zu schweren Zelldestruktionen, wobei nur mehr
Protoplasma und mannigfach geformte Kernreste innerhalb eines Haufchens
von Trabantkemen liegen. Nicht selten ist iiberhaupt nur mehr ein Haufchen
von Pigment- und anderen Kornem ubrig geblieben oder sind alle Reste
der Nervenzellen verschwlinden. Diese Zellveranderung findet sich am aus-
gedehntesten und haufigsten in den tiefen Rindenlagen, in der Schicht
der inneren Korner und polymorphen Zeilen, vereinzelter in den ausseren
Lagen (Fig. 6). In letzteren ist haufiger die Form der zentralen Auflosung
des Zelleibes; neben dennoch zu besprechenden Veranderungen ist ubrigens
auch der Zellzerfall in den tiefen Schichten nicht immer von der Vermehrung
der Gliazellen begleitet, sondern kommt auch unabhangig da von vor.
Wenn auch schon normalerweise in den tieferen Rindenschichten die
Trabantzellen etwas reichlicher sind als in denPyramidenlagen [( Alzheimer 2 )]
so ist doch zweifellos, dass hier die Veranderungen ganz das Geprage des
Prozesses an sich tragen, der als Neuronophagie bezeichnet wird. Hierfur
spricht nicht allein die Massenhaftigkeit und die formlich zu einer peri-
cellularen Infiltration [Sand*)] gediehene Lagerung der Trabantkerne,
sondern auch die gleichzeitige schwere Zellveranderung selbst. Es ist derzeit
noch nicht vollkommen sichergestellt, in welchem Verhaltnisse die Wucher-
ung der Trabantzellen und die Ganglienzellenerkrankung zueinander stehen
Alzheimer 1 ) neigt zur Annahme, dass die Gliaelemente in den durch Atrophie
der Ganglienzellen freiwerdenden Rauin eintreten, wogegen aber zu
sprechen scheint, dass mitunter die Kerne so gegen die Zello andrangen,
dass selbst der Ganglienzellenkern eine Formveranderung erfalirt. I ebrigens
lasst Alzheimer es of fen, ob bei Wucherung der Trabantzeile eine Ganglien-
zelle notwendig immer krank sein muss. Laignel-Lavaetine und Voiein*) %
auch Sand sehen in ihr eine sek undare Reaktion auf eine verminderte
Vitalitat der Zelle, wobei freilich unverstandlich bleibt, dass so viele Zell-
veranderungen nicht von dieser Wucherung begleitet sind. Im wesentlichen
beruhren sich diese Anschauungen in ihrem Kerne mit den H'ei^ertechen
Darlegungen vom biologischen Gleichgewichte der Gewebe, auf Grund
welcher Ntssl^) hinweist, dass pathologische Einfliisse die nervosenElemente
derart schadigen konnen, dass sie keine Wachstumshindernisse fiir die sie
umgebenden Gliazellen mehr darstellen und diese zur Wucherung veranlasst
werden. Bei einem derartigen Vorgange ware aber verstandlich, dass unter
Umstanden die gewucherten Zeilen iiber die einfache Raumausfiillung
hinaus die Nervenzelle selbst bedrangen. Auch mit dieser Annahme bleiben
aber die speziellen Umstande, insbesondere welcher Art gerade die Schadi-
gung der Nervenzellen sein muss, welche zur Storung des biologischen
Gleichgewichts fiihrt, noch vollig unbekannt.
In den Pyramidenschichten, vorwiegend in den Windungskuppen im
Bereiche der zellverarmten Gebiete, kommen besonders reichhch auch Bilder
schwerer chronischer Zellveranderung ziu* Beobachtung (Fig. 4). Bei relativ
noch besser erhaltenerForm des Zelleibes liegt der ganz homogene, dunkel ge-
farbteKem exzentrisch, istohne Struktur,geschrumpft, langhchbis stabchen-
formig. Der Zelleib ist vergrossert, farbt sich gleichmassig mit Thionin blau,
J ) Ueber die Beziehungen der Nervenzellen zu den Neurogliazellen etc.
Monatsschr. f. Psych. 1.
*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats-
schrift f. Psych. 2.
*) La neuronophagie. Bruxelles 1906.
4 ) Referiert Jahresbericht f. Neur. u. Psych. 1906.
6 ) Histologische und histopathologische Arbeiten. Bd. 1.
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der Dementia praecox.
299
enthalt mitunter auch zusammengebackene dunklere Chrornatinmassen in
der Peripherie oder er ist verkleinert, bildet nur mehr einen schmalen
blassen Saum mit unregelmassig gezackter, fetziger Kontur um den
Kern. Andere Zellen sind gleichmassig verkleinert, das Protoplasma zeigt
wabige Stmktur mit blasser Farbung, erscheint oft eigentiimlich glasig, die
Fortsatze sind auf weite Strecken sichtbar, gleichmassig dunkel, besonders
der Spitzenfortsatz ist oft unterbrochen, geringelt, auch verbreitert und
der Lange nach gespalten (Fig. 3). Im Grau zwischen den Zellen heben sich
derartige Fortsatze, die von Zellen abgeschnitten sind, oft in grosserer
Anzahl hervor. Vereinzelt kommen solche degenerierte Zellen auch in der
Schicht der polymorphen Zellen vor, wo sie dann in enger Nachbarschaft
mit Zellen liegen, deren Kerne schon gezeichnet und rund sind. In den
ausseren Zellagen sind alle Pyramidenschichten davon durchsetzt.
In anderen Zellen sind die Veranderungen weniger intensive; die Fort¬
satze sind aber ohne typische Chromatinanordnung, zum Teil ganz licht,
verbreitert oder abgebrochen, die Kemmembran ist ofters verschwommen;
im schmutzig blau gefarbten Keminhalte hebt sich noch das Kem-
korperchen ab.
Schliesslich kommen noch Zellen vor, die zu ganz amorphen, struktur-
losen dunklen Kliimpchen zusammengeschrumpft sind, welche ihre ur-
spriingliche Form ganz verloren haben und an deren Zelleib und Kern
nicht mehr von einander zu differenzieren sind.
Bemerkenswert ist, dass im Bereiche dieser chronischen Zell-
degenerationen die Rinde armer an Gliazellen ist und auffallige Erscheinungen
von Neuronophagie und Wucherung der Trabantzellen fehlen. An vielen
Zellen mangeln uberhaupt anlagernde Gliakeme.
Natiirlich gibt es an alien Rindenschnitten Uebergangsgebiete, in
welchen die verschiedenen Formen der Zellveranderungen sich untereinander
mischen. Das Hauptgebiet der schweren chronischen Zelldegenerationen
mit ausgebreiteter Verminderung der Elemente und S tor ungen der Ein-
stellung und Lagerung der Elemente sind aber iiberall die Pyramiden¬
schichten indenWindungskammen undgreiftderProzess von hier ingeringerer
oder grosserer Ausdehnung auf die Seitenflachen des Gyrus liber.
Das Rindengrau zwischen den Zellen zeigt im ganzen ein eigentiimlich
getupfeltes, gekomtes Aussehen, das besonders auf den photographischen
Reproduktionen auffallig ist. Im Bereiche der Zellausfalle hat das Gewebe
einen mehr grobnetzformigen Bau, inwelchem helle, rundeMaschen hervor-
treten. Man hat den Eindruck, dass das Gewebe von einer serosen Fliissigkeit
durchtrankt ist, und ist dieser Befund wohl — in Uebereinstimmung mit
einem Teile der Ganglienzellenveranderungen — Ausdruck eines Gehirn-
odems.
Qliagewebe. Die Gliazellen sind, wie schon erwahnt, in der Molekular-
zone stellenweise, in der iibrigen Rinde besonders im Bereiche der inneren
Komerschicht und der polymorphen Zellen vermehrt. In der Fissura
calcarina ist die Wucherung am starksten in der Lage zwischen beiden
Komerschichten. Die Gliavermehrung der Rinde ist also eine ungleich-
massige. Stellenweise, z. B. in der linken vorderen Zentralwindung, sind
die Gliazellen auch in den Pyramidenschichten in grosserer Zahl vorhanden.
So wohl in der Rinde, als auch im Marke findet man auch reihenweises
Aufmarschieren von Gliazellen, langs der Gefasse oder Haufchen um die-
selben. Auch im Marke sieht man oft solche Reihen oder grossere Zellhaufen
(Gliarasen). Die Mannigfaltigkeit der Zellformen ist eine grosse. Neben
solchen mit kleinen, runden, dunklen Kernen kommen solche mit mittel-
grossen und grosseren lichteren, runden oder eiformigen Kernen vor. Im
Mark liegen auch vereinzelt Zellen mit deutlich abgegrenztem, blassblauem,
langlich ovalem Zelleibe, grosserem Kern mit Kernkorperchen, die den
von Nissl 1 ) beschriebenen entsprechen. Progressive Veranderungen in
Form von Mitosen, mit der charakteristischen Zunahme der Chromatin-
J ) Histologische und histopathologische Arbeiten. Bd. I.
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300
Zingerle, Zur pathologischen Anatoinie
mibetanz der Kerne bei Undeutlichwerden der Kemmembran sind selten.
Haufig sind dagegen regressive Veranderungen sowohl in der Rinde, als im
Marke; man sieht geschrumpfte, langliche oder eckige, ganz homogene,
stark farbbare Kerne, die mitunter noch von einem etwas vergrosserten
Protoplasmaleibe mit spinnenzellenartigen Auslaufem, als Zeichen friiherer
Schwellung, umgeben sind. Auch unter den gewucherten Trabantzellen
liegen inmitten unveranderter Kerne solche Degenerationsformen, die auch
auf kleine Krumeln zusammengeschrumpft sind. Im Marke liegen dies© Kerne
oft strichweise in grosserer Zahl zeretreut. Andere Kerne sind vergrossert,
wie gequollen und zeigen infolge Abnahme der Chromatinsubstanz eine auf-
fallend lichte Farbung. Einzelne sind nahezu ganz wasserhell, wie aus-
gelaugt, und enthalten nur mehr vereinzelte Chromatinpiinktchen. Die
Kemmembran zeigt dabei, ausser einer Verdunnung, keine Veranderung.
Auffallig sind femer stark vergrosserte Gliakeme mit buckeliger, gelappter
Form, mit zierlichem Chromatingeriiste. In viel reicherer Zahl kommen
diese im C. striatum vor und werden daher bei den Befunden in den basalen
Ganglien naher beriicksichtigt werden. Die Protoplasmatischen Auslaufer
der Gliazellen sind im allgemeinen wenig sichtbar. Der Zelleib ist meist
kaum sichtbar, bildet eine zumeist maschenartig angeordnete Substanz, und
sind, wie dies normal haufig ist, die Maschenraume oft so gross, dass die Zelle
innerhalb eines Hohlraumes zu liegen scheint. Spinnenzellen in grosserer
Menge fehlen, kommen aber vereinzelt vor. Die von Alzheimer 1 ) beschriebene
charakteristische Umklammerung der Ganglienzellen durch Spinnenzellen
konnten wir nicht beobachten. Haufig sind im Zelleib der Gliaelemente
Pigment- und Fettkomchen abgelagert, die sich in Haufchen dem Kerne
wie eine Kappe anlagem oder zwischen den Maschen liegen. Die Komchen
verhalten sich bei Farbungen so wie die im Bereiche der Nervenzellen.
Solche Haufchen kommen auch freiliegend im Gewebe vor oder auch
zwischen den gewucherten Trabantzellen. Stellenweise sind sie in einer
Kreisform aneinandergelagert, so dass man den Eindruck gewinnt, als ob
beim Zugrundegehen eines Kernes nur mehr die veranderte Chromatin¬
substanz zuriickgeblieben sei.
Hinsichtlich der Gliafaserung lasst sich die Moglichkeit nicht aus-
schliessen, dass die Weigerta che Methode nicht alle vorhandenen Fasem
gefarbt hat. Sicher ist aber, dass die Fasern nicht in dem Masse vermehrt
sind wie die zelligen Elements. Dort, wo die Molekularzone kemreicher
und verbreitert ist, zeigt sich auch der Gliafasersaum verdickt, bildet einen
dichten Filz, aus welchem meist feine Faserchen pallisadenartig gegen die
oberflachlichen Rindenschichten absteigen. Wahrend normal die inneren
Rindenschichten sehr faserarm sind [Weigert 2 ), NissI], sind hier die faserigen
Elements entschieden, wenn auch nicht sehr stark und niemals wie etwa
bei der Paralyse vermehrt, langs und querverlaufend, bald zart und
netzartig verflochten, bald von dickerem Kaliber. Sicher warden solche
Fasern auch von den Trabantzellen produziert. Sie laufen zwischen denselben
und ihnen eng angeschmiegt und legen sich ofters, wie dies auch Alzheimer 1 )
gefunden hat, dem Leibe der Ganglienzellen an. Die Fasem bilden oft ganze
Bogen und Schlingen um diese Zellen. An besonders schwer geschadigten
Rindenstellen reicht die Faserwucherung uber die innere Komerschicht
bis in die Pyramidenzellenschichten hinein. Bemerkenswerter Weise fehlt
aber gerade im Bereiche der Zellausfalle eine auffallige Faservermehrung.
Die Fasem, die sich in den Markleisten gefarbt haben, liegen nicht
sehr dicht und erscheinen so angeordnet wie an Kontrollpraparaten. Auf¬
fallig sind nur stellenweise dicke, lange Fasem, die mit gewelltem Verlaufe
ofters auf lange Strecken zu verfolgen sind. Man sieht sie auch bei den
anderen Farbungen und konnte sie mit Achsenzylindem von Nervenfasem
1 ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Himrinde etc. Monats-
schrift f. Psych. 2.
*) Kenntnis der normal, menschl. Neuroglia. 1895.
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der Dementia praecox.
301
verwechseln, wenn nicht die prazise Gliafarbung diese Annahme aus-
schliessen liesse.
Hinsichtlich der Markfaserung ergab sich in der Rinde ein ziemlich
gleiohmassiger Befund. An alien untersuchten Teilen besteht eine starke
Reduktion der ausseren Hauptschicht (Kaes). Die innere Hauptschicht ist
besser erhalten, obwohl auch in dieser stellenweise eine Faserverminderung
auffallt, die aber niemals hohere Grade erreicht. Auffallig ist, dass in der
Fig8iira calcarina die Verdoppelung des Baillargerschen Streifens fehlt. Die
radiaren Markstrahlen zeigen keine nachweisbare Verkummerung.
In der ausseren Hauptschicht sind nur mehr sparliche atrophische
und mit varikosen Anschwellungen versehene Fasern der Tangentialschicht
und des supraradiaren Flechtwerkes sichtbar. Streckenweise fehlen auch
diese ganz und zeigt sich die aussere Hauptschicht ganz licht- und faserlos.
Bei Marchifarbung fehlen durchaus Zeichen frischen Zerfalles, auch in den
Markleisten. Schwarze Schollen wurden in der ganzen Rindendicke nirgends
in entsprechender Menge und Anordnung gefunden, obwohl sich die Fett-
komchen in den Zellen- und Gefassscheiden sehr prazis farbten.
Die Anordnimg der Faserareale im weissen Marklager ist eine
normale, und treten dabei irgendwelche abgrenzbaren Systemausfalle nicht
zu Tage. Diese fehlen auch im Bereiche der basalen Ganglien, und sind
auch im Hirnstamm keine sekundarenDegenerationen nachweisbar. Hier sei
auch kurz erwahnt, dass die Ventrikel im allgemeinen nur ganz massig
erweitert sind; die Wande sind glatt, das Ependym ist nicht verdickt, ohne
Granulationen.
Basalt Qanglien. Die Thai. opt. und Corp. striat. sind von normaler
Form und Grosse. An den Gefassen kommen dieselben Veranderungen vor,
wie im Himmantel; auch die Zellveranderungen sind, abgesehen von den
nicht so ausgesprochenen Zellausfallen, im wesentlichen die Gleichen und
kommen neben normal gezeichneten, aber viel Pigment fiihrenden Zellen die
verschiedensten Formen des Zellunterganges vor. Man sieht Verminderung
und mehr feinkornige Verteilung der Chromalinsubstanz, Bildimg von
perinuklearen hellen Ringen, allmahlichen komigen Zerfall des Zelleibes
bis auf wenige Rest©. Der Kern ist oft triib verschwommen, verzogen,
vielfach ganz licht mit verfliissigtem Chromatingeriiste. Haufig ist die
Kemmembran gerunzelt und liegen die Kerne exzentrisch. Wie in der
Rinde sind auch hier haufig — wenn auch nicht durchgehends — die Trabant-
zellen stark vermehrt und zeigen sich die ausgesprochenen Biider der
Neuronophagie. Die grossen Zellen des N. caud. sind oft von einem Kranze
von Trabantkemen umgeben. Auffallig ist die reichliche, mit Thionin gelb
gefarbte Korachenmasse, die sich in alien Zellen findet und den Leib oft
ganz ausfiillt, mit Thionin eine griinliche Farbung annimmt. Zerstreut
linden sich atrophische und chronisch veranderte Formen mit homogenem
Protoplasma und geschrumpftem Kerne, die sich durch ihre dunkle Farbung
von den iibrigen Zellen stark abheben. Hie und da farbt sich der Zelloib
mit Eosin glanzend rot. In anderen Zellen mit relativ besserer Protoplasma-
struktur ist der Kern allein in eine derartige homogene Masse umgewandelt.
Nebst dem kommen auch ganz amorphe Zellreste und Zellschatten vor. Es
sei aber hervorgehoben, dass sich noch reichlich Zellen erhalten haben,
die aus8er einer Verminderung der Chromatinsubstanz und Mangel an
typischer Anordnimg derselben nichts Abnormes zeigen.
Unter den nicht nervosen Zellen, die im ganzen vermehrt sind, fallt
das stellenweise reichere Vorkommen von den Formen mit eigentiimlich
gelappten Kemen auf, die schon in der Rinde erwahnt wurden. Dieselben
nnden sich vorwiegend im Bereiche des Corp. striat.; die Kerne erreichen
3—4 fache Grosse der mittelgrossen Gliakerne und haben die verschieden-
artigste Form: keulen-, hahnenkamm-, Flachenkiirbis-, retortenformig;
haufig sind sie auch langgestreckt, stabchenformig, aber auch ovale Formen
kommen vor. Es ist auffallig, dass an einer Seite der Kern haufig mehr
abgeflacht ist, wahrend auf der anderen Seite die Ausbuchtungen und Ein-
schniirungen sich zeigen. Die Kerne liegen ausserdem haufig nicht plan,
sondem mit ihren Polen aus der Horizontalebene herausgedreht. Bei hoher
Monatsschrift fiir Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4.
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302 Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
Einstellung sieht man dann diese daher wie 2 Kerne nebeneinander liegen,
bei tieferer kommt erst das verbindende Mittelstiick zur Ansicht. Auch die
seitlichen Auswiichse fur sich zeigen oft derartige Niveaudifferenzen in der
Vertikalebene. Die Kerne sind hell, besitzen ein bald mehr. bald weniger
dichtes Chromatingeriist, dessen Knotenpunkte meist in der Peripherie am
deutlichsten und grosser sind und der Kemmembran anliegen. Haufig sind
1—2 Kemkorper ahnliche Piinktchen vorhanden. Der Zelleib dieser Kerne
ist sehr undeutlich, oft nur in Spuren nachweisbar und bildet ein Maschen-
werk von, sich sehr blass farbender komiger Substanz, ahnlich wie in den
kleinen Gliazellen, so dass die Kerne meist in einem Hohlraum zu liegen
scheinen.
Derartige Formen kommen auch als Trabantzellen der Ganglienzellen
vor imd zeigen auch regressive Veranderungen. Oefters ist der Kern vakuolen-
haltig, stark abgeblasst oder erscheint im ganzen wie von einer triiben
Fliissigkeit erfiillt. Auch Schrumpfungen sieht man, wobei die Kerne
schmal und zugespitzt erscheinen. Es kann kein Zweifel sein, dass diese
Zellen eigentiimlich veranderte Gliaelemente sind, und sieht man auch
Uebergangsformen zu den mittelgross en, lichteren Gliazellen.
An den iibrigen Gliaelementen kommen wie in der Rinde regressive
imd hier etwas haufiger auch progressive Veranderungen vor, wobei die
Kerne reichlich mit grosseren Chromatinkornem angefiillt sind, die auch
Mitosenform zeigen. Eine Vermehrung der Gliafasersubstanz ist nicht
nachweisbar.
Kleinhim • Die Pia ist stellenweise verdickt und in der Furchentiefe
verwachsen, in der grosseren Ausdehnung aber diinn und zart. Das Klein¬
him selbst ist ausserlich ohne Veranderung, zeigt auch auf dem Durch-
schnitte normalen Bau. Die Gefasse sind wie im Geium teilweise mit Lympho-
zyteninfiltraten und Komchenzellen besetzt.
Die Komerschicht der Rinde ist von normaler Breite und Dichte.
An ihrem Uebergange in die Molekularzone ist ein Streifen grosserer ovaler
und runder Kerne eingeschoben, die lichter gefarbt sind als die Komer.
In diesem Streifen liegt die Mehrzahl der Purkinjeschen Zellen. Beziiglich
der Anordnung dieser ist auffalhg, dass sie auf weite Strecken ganz fehlen,
dann wieder wie gehauft dicht aneinander gedrangt liegen. Sehr haufig
findet man auch solche in die Komerschicht bis zur Markleiste hinab
verlagert.
Neben normalen Zellen kommen solche mit den verschiedensten Ver¬
anderungen vor. Man findet vermehrten Pigmentgehalt, staubartigen
Zerfall des Chromatins, diffus schmutzig-blauliche Farbung des Zelleibes,
exzentrische Kerne, Schrumpfung und zum Teil auch Schwellung des Zell-
korpers. Die Fortsatze sind aber fast iiberall auffallig verbreitert und auf
weite Strecken scharf abgesetzt und treten mit ihren bandartigen Ver-
astelungen bei alien Farbungen ungemein deutlich hervor und geben der
Molekularsubstanz ein gebandertes Aussehen. Die Fortsatze enthalten meist
keine abgegrenzten Chromatinspindeln, sondem erscheinen mit Thionin
diffus blaulich. Manche sklerotisch veranderten Zellen besitzen homogenen
wandstandigen Kern von Stabchenform und diffus licht gefarbtes Proto¬
plasma ohne bestimmte Struktur.
Zwischen und liber den Purkinjeschen Zellen kommen ausserdem
in nicht scharf abgegrenzter Schichtung und oft weit in die Molekular-
schicht verstreut stern-, spindel- und birnformige Zellen vor, die an Grosse
auch die grossten Komer und Gliaelemente iibertreffen.einen runden, saftigen
Kern mit Kemkorperchen und Kristalloid besitzen. Das Protoplasma ist von
Chromatinkornern durchsetzt, die haufig sich an der Zellperipherie an-
sammeln. Manche Zellen sind ganz rund; die Fortsatze der iibrigen sind
ahnlich verandert, wie bei den Pur kin j eschen Zellen. Regressive Verande¬
rungen, wie Verflussigung des Zelleibes kommen vor.
Das Markfasemetz der Rinde ist sowohl in der Komerschicht, als
auch im Bereiche der Pur Arm; eschen Zellen deutlich gelichtet. Einzelne
Markfaserchen steigen in die Molekularschicht auf, und findet man in
dieser stellenweise auch tangential verlaufende Fasem. Die Gliakerne
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der Dementia praecox.
303
in der Molekularzone bieten nichts beeonderes, sind nur im Bereiche der
Verwachsungen mit der Pia vermehrt.
Im Marke kommen vorwiegend mittelgrosse und grossere lichte Glia-
kerne vor, deren Zelleib zum Teil vergrossert und mit spinnenformigen Proto-
plasma- Auslaufern versehen ist. Auch Pigmenthaufchen wie im Gross-
him sieht man haufig. Ein Teil der Kerne ist eckig, ganz homogen, auch
Kemgruppen und Kemreihen langs der Gefasse kommen vor, ebenso wie
mitotische Veranderungen. Die Gliafasem im Marke bilden ein feines,
zartes Netz, ohne Zeichen von Verdichtung. Schwere Veranderungen
bestehen im Nucl. dentatus. Die Zellen enthalten viel Komchenhaufen,
die sich mit Thionin griinlich farben, sind zum Teil vergrossert und stark
geschwellt; ihre Kontur ist unscharf, das Protoplasma ist wenig farbbar
und haufig komig zerfallen und verfliissigt, der Kern exzentrisch, blase und
das Kemkorperchen vergrossert. Dane ben liegen Zellen mit dunklem,
homogenem Kern, der zackige Form, hat; manchmal sieht man nur mehr
Komchenreste in einem Hohlraum liegen oder Zellschatten von ganz un-
scharfer Umgrenzung und blasser Farbung ohne Kern. Die Gliakeme sind
im Bereiche dieser Veranderung deutlich vermehrt. Nirgends aber besteht
eine Wucherung der Trabantzellen um die nervdsen Elements, wie in der
Rinde. Im Ruckenmark (oberes Halsmark) ist die Pia von schwarzlichen
Pigmentkernhaufen und S treif en reichlich durchsetzt. Lyraphozyteninfiltrate,
Komchenzellen in den Gefassscheiden kommen ebenfalls vor, besonders
im Bereiche der Gefasse in der Tiefe des Sulc. anterior. Die Vorderhom-
zellen sind vermindert, zum Teil sklerotisch, geschrumpft, die Gliazellen
vermehrt.
Epikrise.
Mit seiner charakteristischen Symptomatik und dem typischen
Verlaufe erweist sich der Fall zweifellos als der katatonen Form
der Dementia praecox zugehorig.
Die Anamnese gibt leider keine sicheren Anhaltspunkte fiber
den Zeitpunkt des Beginnes der Erkrankung. Nach den Angaben
des Patienten kam sie 1901, also im 31. Lebensjahre, zum Aus-
bruche, jedenfalls nicht auf Basis der Gonorrhoe, da nervose
Symptome schon vorher bestanden hatten. Wahrscheinlich hat
aber diese Infektion im Sinne von Blevler und Jahrmdrker 1 ) auf
die Gestaltung des Krankheitsbildes und Entwicklung einzelner
Symptome, z. B. seiner Wahnvorstellungen, einen Einfluss ge-
nommen.
Unter Berficksichtigung der Haufigkeit erblicher Belastung
und des Vorkommens psychopathischer Konstitution bei dieser
Erkrankungsform ist die anscheinend schwere erbliche Belastung
von Interesse, die in Verbindung mit der wahrscheinlichen In-
toleranz gegen Alkohol, so wie den Asymmetrien im Oberflachen-
bau beider Hemispharen auf eine aborigine geschwachte Gehim-
konstitution schliessen lasst.
Das Leiden begann unter dem Bilde einer schweren hypo-
chondrischen Verstimmung mit Halluzinationen des Gemeingeftihls
und Muskelsinnes, wozu sich bald Sinnestauschungen auf anderen
Sinnesgebieten, nicht systematisierte Wahnvorstellungen, zer-
fahrener Gedankengang, Personenverkennung mit Erinnerungs-
falschungen gesellten. Die anfangliche, oft angstliche Depression
*) Endzustande der Dem. praec. Allg. Z. f. Psych. 1908.
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304
Z i n g e r 1 e , Zur pathologisch9n Aiiatomie
ging bald in eine mifc den oft monstrosen Wahnvorstellungen
auffallig kontrastierende Apathie iiber.
Dieses erste Stadium dauerte etwa bis zum Jahre 1904 und
entwickelte sich aus demselben allmahlich ein typischer Stupor
mit Negativismus, Stereotypie, Befehlsautomatie, der von zeit-
weisen katatonen Erregungen unterbrochen wurde, in seiner In-
tensitat ausserdem Schwankungen zeigte, innerhalb welcher eine
bessereRegsamkeit, mit einer gewissenKrankheitseinsicht gemengt.
zu beobachten war. Der hypochondrische Grundzug blieb wahrend
des ganzen Yerlaufes durch andauernde abnorme Organempfindun-
gen und somatopsychische Wahnvorstellungen erhalten.
Katatone Anfalle wurden nicht beobachtet, von korperlichen
Symptomen der Katatonie war nur friihzeitiges fibrillares Zittern
vorhanden. Pupillenerscheinungen fehlten.
Nach verhaltnismassig kurzer Dauer (6 Jahre) kam es — vor
allem wohl infolge korperlicher Erschopfung durch den ente-
ritischen Prozess und durch Tuberkulose — zum Exitus.
Fur die anatomische Untersuchung erschien der Fall durch
das verhaltnismassig jugendliche Alter des Patienten, die nicht zu
lange Dauer der Erkrankung bei schwerer Intensitat aller Er-
scheinungen, sowie durch die geringe Schwere der tuberkulosen
Veranderungen im Korper gunstig.
Hinsichtlich der makroskopischen Gehirnveranderungen ergab
sich, abgesehen von den erwahnten Anomalien der Oberflachen-
Gliederung, ausser einer stellenweisen milchigen Triibung der Pia
nichts Abnormes. Es bestand keine Atrophie der Windungen,
keine bemerkenswerte Erweiterung der Ventrikel, das Ependym
ist glatt und zart.
Makroskopisch nachweisbare Veranderungen sind bei Kata¬
tonie — im Gegensatze zu den Befunden bei progr. Paralyse und
Dementia senilis — iiberhaupt seltener und wenig ausgesprochen.
Von wenigen Autoren wird Atrophie der Windungsziige [Klippd
und Lhermitte 1 )), Verschmalerung von Mark und Rinde [Zimmer-
mann 2 ), Obregia 8 )] beschrieben. Speziell franzosische Autoren er-
wahnen auch Hemiatrophie oder lobare Atrophie des Kleinhimes.
Etwas haufiger wird iiber Verdickungen der Haute ohne Infil¬
tration (. Klippd und Lhermitte), Pachymeningitis, Leptomeningitis,
iiberhaupt iiber leichtere meningitische Veranderungen berichtet
[Obregia 2 ), Schiitz 4 ), Lukacs 5 ), Marchand •)]. Schutz erwahnt auch
das Vorkommen von Hydrocephalus ini. und extemus; in Goldsteins
*) Un cas de d4mence pr6coce. L’Enc6phale. 1909, u. Ref. in Riche,
Barb6, Wickersheimer. Arch, de Neurologic, 1907.
*) Kasuistischer Beitrag zur Aetiologie u. pathologischen Anatomic d.
Dem. praec. Mitteil. aus den Hamburger Krankenanstalten. 1908.
*) Contribution k I’etude de l’anatomiepatholog. de la d^mence precoce.
Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1906.
*) I. c.
®)> Beitrage zur pathologischen Anatomie d. Dem. praec. Ref. Mendel,
Neur. Centralbl. 1908.
*) Zit. nach Riche, Barbe u. Wickersheimer.
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der Dementia praecox.
305
Falle bestand eine sulzige Verdickung der Pia und Piaodem, wie
es auch Weber 1 ) beobachtete.
In der Mehrzahl der Falle fehlen aber meningeale Veranderun-
gen bis auf eine fleckweise Triibung; die Ventrikel sind nicht er-
weiterfc, und findet man nicht nur keine Spur einer Atrophie und
Schrumpfung der Rinde und des Markes, sondern ist im Gegenteile
das Gehimgewicht — trotz vorgeschrittener Verblodung — mit-
unter bis zu 200 g schwerer — ohne eigentliclies Oedem oder
Hyperamie etc. [Reichardt 9 )]. Derselbe Autor hat gefunden, dass
die Substanz dabei ungewohnlich trocken und konsistent sein kann.
Die Beziehungen dieser makroskopischen Veranderungen zum
Wesen des Krankheitsprozesses sind nicht ohne weiteres klar fest-
zustellen und nicht immer dieselben. Zum Teile sind sie Reste
fruhzeitig abgelaufener Erkrankungen, wie der Hydrocephalus und
die Verwachsung des Foramen Magendi im Falle Potzel 3 ) oder die
Piacyste im Falle Goldstein 4 ), und mogen Ausdruck dafiir sein,
dass die Erkrankung auf einem vorbereiteten Boden zur Ent-
wicklung gekommen ist. Zum Teile mogen Veranderungen wohl
auch durch die begleitenden korperlichen Erkrankungen, wie z. B.
die so haufige Tuberkulose, zustande kommen. Ob und wie die
Himschwellung Reichardts mit dem eigentlichen Krankheits-
prozesse selbst im Zusammenhange steht, ist noch vollig ungeklart.
Erwahnt muss femer werden, dass von mehreren Autoren auf
das Vorkommen von Entwicklungsstorungen im Gehim aufmerk-
sam gemacht wurde, die sich durch Asymmetrien [Mondio*)] in kon-
stante Anomalien [Klippel und Lhermitte 9 )] oder auch durch Ano-
malien der histologischen Struktur, wie mangelhafte Ausbildung der
inneren Komerschicht im Stimlappen [Zimmermann' 1 )], abnorme
Gestaltung und Reihenanordnung der Ganglienzellen [Weber*)]
kenntlich machen. Klippel und Lhermitte, Deny und Barbe 9 )
beschrieben auch Falle mit Syringomyelie im R. M. Diese kongeni-
talen Deformitaten miissen wohl als Zeichen erblicher Belastung und
angeborener minderwertiger Anlage aufgefasst werden. So neigt
Weber zur Ansicht, dass insbesondere bei den so schwer und letal
verlaufenden Psychosen des Jugendirreseins eine derartige minder-
wertige Anlage (he Ursache einer so friihzeitigen totalenErschopfung
der gesamten Leistungsfahigkeit des Gehirnes ist. Doulrebente und
Marehand 10 ) nehmen neben einer Dementia praecox auf chronisch
entziindlicher Basis eine solche konstitutioneller Natur an, welche
’) Ueber akute todlich verlaufende Psychosen. Monatsschr. f.
Psych. Bd. 16.
*) Ueber die Himmaterie. Monatsschr. f. Psj^ch. 24.
s ) Verein f. Psychiatrie in Wien. 1907. Neurol. Central!)!. 19U8.
4 ) Zur pathologischen Anatoniie d. Dem. praec. Near. Centralbl. 1909.
b ) Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1905.
•) 1. c.
•) 1. c.
*) 1. c.
*) L’Encephale. 1909.
10 ) Zit. nach RicheQBarbe u. \Yickersheimer.
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306 Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
bei erblich Betasteten auftritt, deren schlecht entwickelte Ganglien-
zellen einer psychischen Schadigung im Momente der Pubertat
raach unterliegen.
Es muss aber hervorgehoben warden, dass schwerere Storungen
derEntwicklung, wie sie bei Idioten, Mikrocephalen etc. in Form von
auflgedehnten Heterotopien, Mikrogyrien, Porencephalien etc. oft ge-
f unden werden, in keinemFalle beschrieben wurden ,die Entwicklungs-
stdrungen sich also innerhalb bescheidener Grenzen halten und
bisher iiberhaupt nur in der geringeren Zahl der Falle vorkamen.
Makroskopische Abnormitaten zeigten sich in unserem Falle in
Anomalien der Oberflachengliederung und einer Asymmetrie der
Grosshim- und Kleinhimhemispharen. Histologisch liegt im Gross-
him moglicherweise eine verhinderte Reife von Ganglienzellen und
Storung von Einstellung derselben vor. Auf eine solche muss wohl
die oft ganz verkehrte Stellung von Ganglienzellen bezogen werden.
Die iibrigen Verlagerungen von Zellen stehen aber wohl mit dem
Erkrankungsprozesse selbst in Beziehung. Im Kleinhirn beschrieb
Claude 1 ) eine auf kongenitalen Wachstumsstorungen beruhende
Atrophie und Storung der Entwicklung der Purkinjeschen Zellen.
In unserem Falle ist es von Interesse, dass Entwicklungsanomalien
am Kleinhirn starker ausgepragt sind als am Grosshim und
zwar gehort hierher die unregelmassige Anordnung und Lagerung
der Purkinjeschen Zellen, die Verlagerung derselben in dieKomer-
schichte und ihre zum Teil mangelhafte Ausbildung. Die zwischen
und uber den Purkinjeschen Zellen gelegenen kleineren und viel-
gestaltigen Ganglienzellen sind wohl nichts anderes als verlagerte
und nicht ausgewachsene Purkinjesche-Zel\en, denen sie mit ihren ver-
zweigten Fortsatzen oft auffallend ahneln. Wir konnten derartige
Formen auch bei verschiedenen Entwicklungsstorungen beob-
achten. Ebenso erwahnt Rondoni 2 ), dass er an Stelle der Pur kinje-
schen Zellen kleinere Elemente verschiedener Form fand, die er
fiir nicht ausgewachsene Ganglienzellen halt.
Man muss sich aber wohl hiiten, diesen verhaltnismassig ge-
ringgradigen Zeichen von Entwicklungsstorung eine zu grosse Be-
deutung beizumessen. In solchem Umfange findet man sie auch
bei Individuen, welche niemals geisteskrank waren.
Histologische Veranderungen im Gehime wurden — mit ganz
wenigen Ausnahmen [Dreyfuss 3 ), 1 Fall von Lukacs\ — in der schon
grossen Zahl der untersuchten Gehirne mit Sicherheit nachge-
wiesen, und stimmt der Befund in unserem Falle damit iiberein,
dass eine Lokaliaation der Veranderungen auf bestimmte Ge-
hirnleile nicht besteht. Sie sind uber die ganze Gehimrinde aus-
gebreitet. wie es von Eisath 1 ), Goldstein, Sioli 6 ) u. A. gefunden
I ) A propos de 1’atrophie cerebclleuae etc. L‘Enc£phale 1909.
*) Beitrage zum Studium der Entwicklungskrankheiten des Gehirns.
Arch. f. Psych. 1909.
J ) Tod im katatonen Anfall. Centralbl. f. N. 1907.
4 ) Ueber normale und pathologische Glia. Monatsschr. f. Psych. 20.
5 ) Histologische Befunde bei Dem. praec. Allg. Zeitschr. f. Psych.
1909.
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der Dementia praecox.
307
wurde, und dariiber hinaus noch sind mitbetroffen die basalen Gang-
lien, das Kleinhirn und selbst das obere Riickenmark. Es erscheint
somit das ganze Zentralnervensystem erkrankt, was auch von
Moryasu 1 ), Goldstein, Klippel und Lhermitte beobachtet wurde. In
Uebereinstimmung mit den Angaben von Zalplachta 2 ) und Goldstein
sind die Veranderungen in den vorderen Gehimteilen starker aus-
gepragt und nehmen gegen den Hinterhauptslappen zu ab.
Moryasu leugnet auch eine derartige topographische Abgrenzung
nach der Intensitat der Veranderungen. Immerhin muss erwahnt
werden, dass die Veranderungen nicht gerade am starksten im
Stirnlappen sind und allmahlich gegen das Hinterhaupt zu ge-
ringer werden. Ein derartiger kontinuierlicher Abfall besteht
nicht und ist z. B. der obere Scheitellappen viel starker be-
troffen, als es die Zentralwindungen sind.
Auch innerhalb der einzelnen Windungen gibt es topo¬
graphische Verschiedenheiten; erstlich bestehen gewisse Unter-
schiede hinsichtlich der Intensitat derart, dass die Kuppen viel
schwerer verandert sind als die Rinde im Bereiche der Furchen-
wandungen. Zweitens sind auch die einzelnen Rindenschichten
selbst nicht ganz gleichartig erkrankt; die ausseren Lagen (Pyra-
midenschichten) zeigen regelmassig Zellveranderungen, welche in
den tiefen Schichten nur vereinzelt vorkommen. In diesen tritt
dagegen eine starkere Wucherung der Gliaelemente hervor, auf
welche zuerst Alzheimer *) aufmerksam gemacht hat.
Fur die Auffassung des Krankheitsvorganges ist die Frage,
welche Gewebe des Gehimes in den Prozess einbezogen sind, von
grosser Bedeutung. Die bisherigen Untersuchungen haben dariiber
nicht zu ubereinstimmenden Resultaten gefiihrt.
Eine Reihe von Autoren, darunter besonders franzosische
Forscher, wie Klippel und Lhermitte, Laignel und Lavastine*),
fanden die Veranderungen auf das Nerven- und Gliagewebe be-
schrankt, den Gefass- und Bindegewebsapparat intakt. Ladame s ),
Zalplachta betrachten eventuell gefundene Gefassveranderungen
als nebensachlich und interkurrenter Natur. Zweifellos sind auch in
einzelnen Fallen, wie z. B. von Zimmermann •), Veranderungen an
den Gefassen nachgewiesen worden, welche sicher erst sekundar
auf Basis sender Involution und Arteriosklerose entstanden waren.
In einer Anzahl von Beobachtungen wurden aber Befunde an
den Meningen und den Gefassen erhoben, fur welche es nicht ohne
*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Katatonie. Arch. f.
Psych. 1909.
*) Ref. Jahresbericht f. Neur. u. Psych. 1906.
3 ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der ■Himrinde. Monatsschr.
f. Psych. 2. Einiges zur pathologischen Anatomie chron. Geistesstorung.
A]lg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 57. Nissls histologische u. histopathologische
Arbeiten. Bd. 1.
*) Zit. nach Riche, Barbe, Wickereheitner.
5 ) L’ histologie pathologique des malad. mental. L’Enc£phale 1909.
•) 1. c.
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308
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
weiteres sicher steht, dass sie accidentell durch anderweitige Er-
krankungsvorgange erzeugt sind.
Die in unserem Falle vorhandene fleckige Pia-Infiltration und
das stellenweise Verwachsen mit dem Rindensaume beschreiben
auch Moryasu und Zimmermann und ist dies wohl fur alle
Falle anzunehmen, in denen makroskopisch Lepto- und Pachy¬
meningitis gefunden wurde. Auch die Anhaufuung von Lympho-
zyten in den zum Teile erweiterten perivaskularen Lymphraumen
ist nicht so selten [Ladame, Moryasu, Lukacz, Vogt 1 )]. Die in un¬
serem Falle angedeutete Zellproliferation der Gefassadventitia be-
stand auch im Falle von Obregia 2 ), wiederholt wurden auch ver-
einzelte Stabchenzellen gefunden [Behr z )~\\ die stellenweise Wuche-
rung der Endothel- und Adventitiakerne erwahnen Vogt und
Moryasu. Ueber das Vorkommen von Plasmazellen in den
perivaskularen Raumen berichtet Ladame. Moryasu rechnet
seinen 9. Fall mit starker Gefassinfiltration und Anhaufung von
Plasmazellen wohl mit Recht zur progressiven Paralyse. Wir sahen
nur sparliche Plasmazellen in der infiltrierten Pia, niemals solche
im Gehim selbst.
Es ist bei diesen Befunden sicher, dass die Gefassveranderuhgen
niemals hohere Grade erreichen und mit denen bei progr. Paralyse
und sonstigen entziindlichen Gehimerkrankungen an Intensitat
sich nicht messen konnen.
Erwagt man die Inkonstanz dieser Veranderungen, sowie den
Umstand, dass sie im Verhaltnisse zu den Befunden am Nerven-
und Ghagewebe geringfiigig erscheinen, so drangt sich tatsachlich
die Vermutung auf, dass sie sekundarer Natur sind. Dabei kommt
noch in Betracht, dass in der Mehrzahl der Falle meist schwere
Korpererkrankungen vorlagen — vor allem Tuberkulose —,
welche zur Zirkulation toxischer Produkte Veranlassung geben.
Dagegen ist der in unserem Falle so ausgesprochene Befund,
dass Zerfalls- und Degenerationsprodukte in Form von teils freien,
teils in Zellen eingeschlossenen Pigment- und Fettkornchen-
haufchen, protagonoiden und lipoiden Substanzen in den Lymph-
scheiden und Gefasswandungen abgelagert sind, ein auffallig
haufiger und von einer Anzahl Autoren registriert wurden (Sioli,
Goldstein, Moryasu, Vogt u. A.) Diese Ablagerungen sind wohl
zweifellos Produkte eines Gewebsabbaues, die allmahlich in
den Lymphscheiden der Gefasse aufgeschwemmt werden und
von da in die Gefasswandungen eindnngen. Tatsachlich sieht
man auch derartige Abbauprodukte sowohl frei im Gewebe, als
auch in den Nerven- und Gliazellen in reichlichem Masse an-
gesammelt.
l ) Ueber das Vorkommen von Plasmazellen in der menschlichen
Himrinde. Monatssohr. f. Psych. 1901.
*) 1. c.
3 ) Ueber die Bedeutvmg der Plasmazellen etc. Allg. Zeitschr. f. Psych.
Bd. 66.
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der Dementia praecox.
309
Die Haufigkeit dieser Veranderung lasst auf den Ablauf von
degenerativen Prozessen im nervos-gliosen Gewebe schliessen,
und tatsachlich wurden in fast alien Beobachtungen in diesem die
Zeicben einer mehr minder schweren Erkrankung gefunden, die
aber freilich auch in den schwersten Fallen nicht alle Zellen betraf.
Von der Mehrzahl der Autoren wird das Vorkommen normaler
neben degenerierten Zellen hervorgehoben.
So schwere Storungen der Rindenarchitektur, wie sie bei der
progressiven Paralyse vorkommen, fehlen im allgemeinen bei der
Dementia praecox. Vielfach findet man dabei eine diffuse Ver-
minderung der Nervenzellen [Maschtschenko 1 ), Ladame, Goldstein,
Sioli, Moryasu, Zimmermanri]. Obregia fand kortikale Ge-
biete, in denen nervose Elemente ganz fehlen. Zimmermann er-
wahnt in einem Falle eine unregelmassige Grenzlinie zwischen der
Molekularzone und der Schicht der kleinen Pyramidenzellen, wie
wir sie in unserem Falle auf starkere Ausfalle in dieser Schicht
zuriickfiihren konnten. In keinem Falle wurden aber so schwere,
formlich herdartige Ausfalle von Nervenzellen beobachtet, wie in
unserem, der dadurch eine gewisse Ausnahmestellung einnimmt
und das Bild einer schweren Rindenerkrankung aufweist, bei der
in diesen Herden der Mangel einer entsprechenden Gliawucherung
und Schrumpfung auffallt. Auf das Zugrundegehen von Zellen
ohne Schrumpfung der Rinde hat schon Nissl aufmerksam gemacht.
Neben diesen Zellausfallen erfahrt die Architektur der Rinde
eine weitere Storung durch die unregelmassige Einstellung vieler
Zellen, deren Spitzenfortsatze schief, sogar quergestellt sind. Da
diese Stellimgsanomalien am ausgepragtesten in der Nachbarschaft
solcher Stellen sind, in welchen Zellen zum Schwunde gekommen
sind, und iiberhaupt mehr auf die Pyramidenschichten beschrankt
sind, in welchen sich die schwersten Zellveranderungen finden,
miissen sie wohl mit Erkrankungsvorgangen in Beziehung gebracht
werden. Dass durch solche die Einstellung der Zellen stark ver-
andert werden kann, wissen wir ja durch anderweitige Er-
fahrungen.
Ueber derartige Storungen bei Katatonien ist bisher ver-
haltnismassig wenig berichtet worden. Klippel und Lhermitte
fanden sie in den Pyramidenschichten eines Falles; Cramer*) er-
wahnt eine teilweise Verlagerung von Zellen und mangelhafte Aus-
richtung derselben. Vonlnteresse ist, dass Alzheimer 3 ) in einemFalle
von Delir. acutum eine Schiefstellung nicht weniger Ganglien-
zellen beschreibt, woraus hervorgeht, dass eine solche ohne be-
merkenswerte pathologische Gliafaserbildung und bei einem relativ
kurz dauernden Prozesse sich entwickeln kann. Auch Thoma*)
x ) Ueber pathologische Veranderungen in der Grosshimrinde bei
Dem. secund. Ref. Jahresb. f. Neur. u. Psych. 1899.
*) Zit. nach Moryasu.
J ) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Hirnrinde etc. Monats-
schrift f. Psych. Bd. 2.
4 ) Beitrag z. Klinik u. Pathologie akut letal verlaufender^ Falle.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1909.
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310 Zingerle, Zur pathologischen Anatomic
sah in Fallen von Delir. acutum die Stellung der Ganglienzellen
in Unordnung geraten und Verlagerung derselben.
Die an den erhaltenen Ganglienzellen nachweisbaren Ver¬
anderungen sind recht mannigfaltige, und kann man in der Rinde
die verschiedensten Uebergange von wenig veranderten Zellen
bis zur vollstandigen Nekrose beobachten. Trotzdem sind gewisse
Veranderungen vorherrschender, und lassen sich ca. 3 Haupt-
formen derselben unterscheiden, die nebst dem auch lokalisatorisch
gewisse Unterscheide zeigen und sich nicht gleichmassig auf alle
Schichten verteilen.
In erster Linie bestehen markante chronische Zellverande-
rungen, die unter dem Bilde der chronischen Atrophie und sklero-
tischen Degeneration verlaufen, wie sie auch von fast alien Autoren
beschrieben worden sind, und an sich nichts Charakteristisches
darbieten. Kurz erwahnt sei nur das eigenthmliche glasige Aus-
sehen, welches das Protoplasma mancher Zellen dabei annimmt
und welches schon anderen Autoren ( Schulz , Klippel und Lhermitte)
aufgefallen ist. Die Zellveranderung ist stellenweise bis zur
Bildung ganz strukturloser Kliimpchen vorgeschritten. Im all-
gemeinen ist aber bei diesen Formen trotz der Verlagerung der
Kerne und der oft schweren Umbildung des Protoplasmas, die
aussere Zellform relativ gut erhalten, eine Beobachtung, die von
verschiedenen Autoren ( Moryasu , Schulz u. A.) hervorgehoben
wurde. Ebenso trifft dies fur die leichteren Veranderungen mit
beginnendem Zerfall der chromatophilen Substanz zu.
Dagegen ist auch die aussere Gestalt der Zelle schon starker
in Mitleidenschaft gezogen bei jener zweiten Form der haufigeren
Zell veranderungen, wobei das Protoplasma durch Fliissigkeits-
ansammlung vom Kerne abgehoben erscheint und die wir mit
Alzheimer auf eine starke serose Durchtrankung infolge Gehirn-
odems zuriickfiihrten, womit auch der eigentiimlich maschige Bau
des Gehirngrau in Uebereinstimmung steht. Die Zellen erscheinen,
so lange nur die perinuklearen Ringe gebildet sind, geblaht, die
Fortsatze undeutlich und zeigt sich eine Tendenz zur Abrundung
der Zellen. Mit Zunahme der Fliissigkeit geht die Form der Zelle
ganz verloren und bleiben schliesslich nur mehr Protoplasmareste
mit dem mehr weniger destruierten Kerne iibrig.
Diese Form der Veranderung ist in den Literaturfallen nicht
besonders erwahnt, ausgenommen bei Ladame, der eine Anzahl der
Zellen als hydropisch bezeichnet. Zimmermann, Schulz , Moryasu
beschreiben wohl das Vorkommen von Vakuolen im Zelleibe,
andere Autoren berichten von allmahlicher Unkenntlichmachung
und Verschwinden der Zellen (Zalplachta) oder von zentraler
Chromatolyse (Moryasu), die auch wir nicht selten sahen.
Die meisten Autoren, welche neben den chronischen Zell-
veranderungen noch andere fanden, beschreiben dieselben als
akute Zellerkrankung in Form von homogener Schwellung mit
Chromatolyse, Vergrosserung und Aufhellung des Kernes, die in
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der Dementia praecox.
311
unserem Falle in der Rinde wohl ebenfalls vorkommt, offcers
jedoch in den basalen Ganglien und in den cerebellaren Kernen
zu finden ist.
Auff allend haufig wurde jedoch die dritteForm der Zell verande-
rungen beobachtet, die voneiner Wucherungder Trabantkeme be-
gleitet ist und gewohnlich als Neuronophagie bezeichnet wird. Hierbei
ist die aussere Gestalt der Zelle meist ebenfalls stark verandert, die
Oberflache erscheint uneben, wie angenagt, und auch bei dieserForm
kommt es haufig zu einem Zerfall und Schwund des Protoplasmas,
schliesslich auch des Kernes.
Starker als liber die Art der Zellveranderungen schwanken
in den bisherigen Berichten die Angaben fiber die Lokalisation der
selben. In einer Reihe von Beobachtungen wurden alle Schichten
der Rinde betroffen gefunden (Ladame, Sioli, Zimmermann, Gold¬
stein, Vogt, Klippel und Lhermitte). Zalplachta und Alzheimer fanden
besonders die tiefen Schichten verandert, Laignel und Lavastine
mehr die kleinen und grossen Pyramidenzellen, Maschtschenko
vorwiegend die kleinen Pyramidenzellen. Nach Moryasu sind die
Pyramidenzellen starker betroffen als die Elemente der poly-
morphen Schicht.
In unserem Falle liegen die Verhaltnisse nicht so einfach. Die
Rinde ist fast liberal 1 in ihrer ganzen Dicke erkrankt, die einzelnen
Veranderungen sind jedoch schichtweise verteilt. In den Pyra-
midenlagen finden sich hauptsachlich diedegenerativ-atrophischen,
sowie die hydropischen Formen.
In der inneren Komerschicht und Schicht der polymorphen
Zellen dagegen lokalisiert sich vorwiegend die mit Wucherung der
Trabantkeme einhergehende Veranderung.
Wenn auch der Begriff der akuten und ohronisohen Zell-
veranderung im allgemeinen nichts dartiber aussagt, in welchem
Zeitraum sich eine solche entwickelt hat (Nissl), so lasst sich in
unserem Falle, besonders auch in Hinsicht auf die starken Zellausfalle,
ersehen, dass schwerere und altere Zellerkrankungen mehr die
ausseren Schichten betreffen. Die Neuronophagie stellt sich nach
Schroder 1 ) als Resultat eines kurzdauemden Prozesses dar und kann
also auch jfingeren Datums sein. Auch Weber 2 ) halt die Neupro-
duktion von Gliazellen um die Nervenzellen, ebenso wie am ausseren
Rande der perivaskularen Raume ffir Aeusserung eines akuten
Vorganges, welche bei jeder schweren Schadigung des Gehimes
(Zirkulationsstorungen, Intoxikationen) vorkommt.
Entsprechend dieser vorwiegenden Verteilung alterer chro-
nischer Veranderungen auf die ausseren Schichten der Rinde, zeigen
sich auch weitgehende Defekte in den Assoziationsstraten der-
selben, die auf einen alten Erkrankungsprozess schliessen lassen.
Auffallig ist aber, dass diese Faserdegeneration in ihrer Starke
1 ) Anatomische Befunde bei einigen Fallen von akuten Psychosen.
Allg. Zeitschr. f. Psych. 1909.
*) 1. c.
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312
Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
mit der der Zellveranderungen nicht ganz parallel geht. Sie ist
viel hochgradiger, als man erwarten sollte, und ist die Tangential-
fasernschicht, so wie das supraradiare Geflecht bis auf wenige
Reste ganz geschwunden. Die tieferen Assoziationsgeflechte der
Rinde samt den Radiarstrahlen sind nur in verhaltnismassig
geringem Grade gelichtet. Einen Zerfall von Markfasem, besondere
im supraradiaren Flechtwerke, beobachteten auch Goldstein und
Weber. M or yam, Maschtschenko und Cramer beschreiben einen all-
gemeinen Schwund der Markfasem. Unter den Fallen von Zimmer-
mann fand sich nur einer mit Lichtung der Rindenfasem. Im
ganzen sind im Verhaltnis zur Zahl der Beobachtungen die An-
gaben uber Veranderungen der Markfasem auffallig sparlich. Am
Nervenparenchym finden wir somit eine Mischung von chronischen
und akuten Veranderungen und unter letzteren speziell solche,
welche durch ein Himodem entstanden sind, ohne dass klinisch
einer der plotzlichen Todesfalle beobachtet wurde, auf welche
Goldstein geneigt ist, die akuten Veranderungen zu beziehen.
Eine starke Beteiligung des Gliagewebes an dem Erkrankungs-
prozesse wird von den meisten Beobachtem angegeben, und bietet
dasselbe auch in unserem Falle die Zeichen von Wucherang und
Degeneration, und zwar starker an den zelligen Elementen,
sparlicher an der Faserung. Ein Teil der Zellen, besonders in der
weissen Substanz, ist ohne Veranderung geblieben.
DieWucherungserscheinungen finden sich in Uebereinstimmung
mit Alzheimer, Cramer, Sioli, Weber u. A. am starksten in den
tiefen Rindenschichten; stellenweise, abermehr fleckweise, kommt
auch eine Verdichtung der Randglia mit Kemwucherung
an der Rindenoberflache vor, wie sie auch von Doutrebente und
Marchand 1 ), von Elmiger 2 ), Weber, Sioli u. A. erwahnt wird. Sie
steht dabei mit den vorhandenen meningealen Verdickungen in
deutlichem Zusammenhange. An einzelnen Rindenteilen ist auch
eine massige Kernvermehrung in den ausseren Rindenschichten
sichtbar, zum Teil in Form frei oder um Gefasse liegender Haufchen,
oder als Wucherung von Trabantkemen um die Pyramidenzellen.
Niemals erreicht sie aber so starke Grade wie in den tiefen Rinden-
lagen. Nicht in alien Literaturfallen scheint eine solche schichtweise
starkere Gliawucherung vorhanden gewesen zu sein. Nicht selten
wird die Gliaverdichtung und Kemvermehmng als diffus iiber die
ganze Rindendicke verbreitet angegeben (Klippel und Lhermitte ,
Ladame, Maschtschenko, Moryasu, Goldstein). Wahrend Alzheimer
und Sioli die pathologische Gliafaserbildung sich auch auf die
Markleiste erstrecken sahen, wird in vielen Fallen das im Verhalt-
nisse zur Rinde geringe Betroffensein der Gliafasersubstanz in
der weissen Substanz hervorgehoben. Haufiger ist dagegen die
auch in unserem Falle deutliche Verdichtung von Gliazellen
teils um die Gefasse, teils in Form von freien Haufen inmitten der
weissen Substanz.
1 ) Zit. nacli Riche, Barbe und Wickersheimer.
*) Zit. nach Eisath.
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der Dementia praecox.
313
An den Zellen sind stets mannigfaltige Degenerations- und
Proliferationsvorgange nachzuweisen. Letztere aussem sich durch
Vergrosserung der Zelleiber, charakteristische Anordnung und
dunklere Farbung der Chromatinsubstanz im Kerne, sowie durch
die erwahnte pathologische Faserbildung. Typische Spinnenzellen,
die in unserem Falle nur vereinzelt vorkommen, wurden in anderen
Fallen (Weber, Alzheimer, Vogt) reichlicher gefunden. Alzheimer 1 )
erwahnt, dass dieselben in den tiefen Rindenschichten so zahlreich
sein konnen, wie bei der Paralys. progr.
Eine Vermehrung der protoplasmatischen Fortsatze fand
Eisath bei den chronischen Formen der Dementia praecox.
Die Degenerationserscheinungen stellen sich an den Zellen
in den verschiedensten Formen dar.
Wie Klippel, und Lhermitte, Eisath u. A. beschreiben, sind die
Zellumrisse vielfach nicht mehr feststellbar. Die Kerne sind zum
Teil stark farbbar (Klippel), zum Teil eckig, kriimmelig und ge-
schrumpft, ganz homogen. Haufig sind auch Pigmentablagerungen,
die als Haufchen dem Kerne anliegen. An den regressiven Ver-
anderungen beteiligen sich auch die Trabantkerne, unter welchen
auch Eisath zwergartige Formen fand. Vielfach sind die Kerne
vergrossert, wie gequollen, und armer an farbbarer Substanz.
An solchen Formen ist auch die Membran verdiinnt und manchmal
gerunzelt. Einzelne Kerne sind ganz abgeblasst und scheinen in
Verfliissigung begriffen. In der Literatur sind noch erwahnt ganz
homogene Gliazellen (Eisath), sowie langgestreckte recht grosse
Gliakerne, umgeben von einem hellen, zackigen Zelleibe (Vogt,
Fall 7). Dies fiihrt uns auf die Besprechung jener eigentiimlich
veranderten grossen GUazellen, die wir vereinzelt in der Rinde,
in grosserer Zahl in der Substanz der Stammganglien fanden.
Sie sind weniger durch die Form des Zelleibes, der stellenweise
einfach vergrossert ist, stellenweise mit seinen Umrissen ganz
undeutlich ist, als durch die mannigfaltige lappige Gestaltung
des Kernes auffallig, und fand ich sie bisher in keinem Falle er¬
wahnt.
Es haben wohl, abgesehen von Vogt, andere Autoren grosse
Zellformen beobachtet, ohne aber dieser auffalligen Veranderung
an den Kemen Erwahnung zu tun. So fand Zimmermann in zwei
seiner Falle eine „enorme“ Aufquellung der Kerne. Alzheimer
sah unter den Trabantkemen sehr grosse, blasse Kerne. Eisath
beschreibt bei den akuten Formen neben kleinen Gliakemen grosse,
helle, stark geschwellte Kerne, die das 4—5 fache der normalen
Grosse erreichten. Bei den chronischen Formen der Dementia
praecox vermisste er dieselben.
Bei der von uns beobachteten Form sieht man allmahliche
Uebergange von grosseren, blassen, mehr ovalen Kemformen und
fragt es sich, wodurch diese auffallige, lappige Umgestaltung der
l ) Einiges zur pathologischen Anatomic chronischer Geistesstorungen.
Allg. Zeitschr. f. Psych. Bd. 57.
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314
Z i n g e r 1 e , Zur pathologischen Anatomie
Kerne zustande gekommen ist. Wir konnen uns hierbei wohl auf die
Anschauungen Albrechts 1 ) beziehen, welcher auf Grand der An-
nahme eines flussigen Zustandes des Zelikernes derartige Ver-
anderangen auf eine Verminderung der Oberflachenspannung
zuriickfuhrt. ,,Es konnen dabei flache, lappige Yorwolbungen
entstehen, oder als anderes Extrem, es konnen ganz umschriebene,
trommelschlagelartige Vorwiichse dadurch entstehen, dass an
einem Punkte plotzlich eine starke Verringerung der oberflachlichen
Spannung erzeugt wird, wodurch an der betreffenden Stelle ein
plotzliches Hervorpressen von Inhalt in den Zelleib erfolgen muss.
Die Form des Vorwuchses wird sich modifizieren je nacb den
Widerstanden, die derselbe im Zelleibe findet.“ Er erwahnt auch,
dass derartige Knospen durch Verdiinnung des Stieles vollkommen
frei werden konnen und nun als freie Kerne in der Zelle liegen.
Er sah derartige Sprossbildung an den verschiedenartigen Gewebs-
zellen, besonders an den Gefassendothelien.
Wir haben diese Schilderung hier wiedergegeben, um zu
zeigen, wie sehr sie mit den Befunden an den hier gefundenen Zellen
ubereinstimmt. Auch bei diesen hat man vielfach den Eindruck,
dass ein zweiter kleinerer Kern in der Zelle liegt, der aber noch
ofters deutlich durch einen diinnen Stiel mit dem Mutterkeme
zusammenhangt.
Gibt nun die Albrechts che Anschauung eine Erklarung fiir die
Genese dieser eigentiimlichen Zellform, so bleibt freilich noch
ganz offen, worauf diese umschriebene Verminderung der Ober¬
flachenspannung des Kernes in unserem Falle zuriickzufuhren ist;
jedenfalls miissen im Zelleibe Veranderungen vor sich gegangen
sein, welche zu einer eingreifenden Storung des normalen endo-
cellularen Spannungsverhatlnisses gefiihrt haben; vielleicht spielen
hierbei physikalische Aenderangen der Himmaterie eine grossere
Rolle als rein chemische. Wenn wir an der Albrechts chen Er¬
klarung festhalten, kann die Veranderung nur in einer Zeit ent-
standen sein, in welcher die Kemsubstanz noch fliissig war, also
postmortale Gerinnungen noch fehlten. Die Annahme eines
Kunstproduktes kann daher wohl ausgeschlossen werden. Das
Verhaltnis der Gliafasern zu den Zellen stellt sich zum Teil in der
Art dar, wie es Eisath beschrieben hat, der die kurzen Fasern bei
den Trabantzellen derart an die Kerne gelagert fand, dass eine
sichelformige Figur entstand. So wie Eisath sahen wir auch von
den Begleitzellen ausgehende Faserfortsatze sich der Oberflache
der Nervenzellen anschmiegen, dieselben in Bogen umkreisen.
Auch Alzheimer erwahnt, dass man von Trabantzellen produzierte
Gliafasern oft dem Leibe der Ganglienzellen sich anlegen sieht.
Die von ilim beschriebene charakteristische Anordnung der Art,
dass die starksten Fasern die Zelle klammerartig umschliessen,
die diinneren Fasern auf der der Zelle abgelegenen Seite liegen,
■) Pathologic der Zelle in Lubarsch und Osteriag, Ergebnisse d. path.
Anatomie. 1902.
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der Dementia praecox.
315
fehlt in unserem Falle. Starkere Gliamantel um die Markgefasse,
wie sie von einzelnen Autoren ( Vogt, Ladame u. A.) gefunden wurden,
kommen in unserem Falle nur ganz vereinzelt zur Ansicht.
Die Befunde in den Stammganglien, im Hirnstamm und
im Halsmarke decken sich im wesentlichen mit denen in der Gehim-
rinde, und finden sich, wie auch von Goldstein, Moryasu,
Klippel und Lhermitte beobachtet wurde, dieselben Veranderungen
an den Gefassen, Nervenzellen und am Gliagewebe. Es bestehen
nur gewisse Unterschiede darin, dass je nach dem Orte gewisse
Veranderungen starker hervortreten. So sind im Riickenmark
sklerotisch veranderte Zellen haufiger als in den Stammganglien,
in welchen die Bilder der Neuronophagie und Formen mit peri-
nuklearen hellen Ringen iiberwiegen. Ebenso fehlen im Riicken-
marke die erwahnten gelappten Gliakeme, die besonders im
Nucl. caudat. reichlich sind. Die Gliafaserung zeigt nirgends eine
nachweisbare Vermehnmg. An den nervosen, als auch an den
Gliazellen ist durchgehends der reiche Gehalt an Pigment- und
Fettkomem auffallig, ebenso wie auch die Pia des Riickenmarks
von Pigmentansammlungen in grosseren Haufchen formlich in-
filtriert ist. Leider konnten wir nur einen kleinen Teil des Hals-
markes untersuchen und konnen daher nichts iiber die Clarke -
schen Saulen angeben, die Moryasu stets erkrankt fand.
Nach Moryasu sind bei langer Dauer der Erkrankung auch die
Markfasern des Riickenmarks vermindert, desgleichen beschreiben
Klippel und Lhermitte eine Lasion der Gollschen Strange mit Ent-
artung der hinteren Wurzeln. Wir haben iiber derartige Verande¬
rungen, deren Beurteilung bei dem Vorkommen von Him-
schwellungen und Steigerung des Hirndruckes im Verlaufe dieses
Leidens grosste Vorsicht erfordert, keine Erfabrung.
Eine gesonderte Besprechung verdienen die Befunde im
Kleinhime, da sowohl Kleist die katatonen Bewegungserscheinungen
in Beziehung zu einer Lasion kortiko-cerebellarer Bahnen bringt,
als auch eine Reihe franzosischer Autoren [Babinski 1 * ), Du four*),
Claude 3 )] unter den motorischen Symptomen solche zu finden
glaubten, welche auf einer Funktionsstorung des Kleinhimes be-
ruhen, und welche in manchen Fallen so ausgepragt sind, dass
die Aufstellung einer besonderen cerebellaren Form der Katatonie
berechtigt sei. Als pathologisch-anatomischer Befund wurde bei
dieser Form eine Atrophie des Kleinhims gefunden ( Klippel und
Lhermitte), die entweder ausschliesslich eine Hemisphere und
ganze Lappen betrifft (Hemiatrophie cerebelleuse), oder sich nur
auf die Lamellen ohne Mitbeteiligung der grauen Kerne beschrankt
(globale Atrophie). Bei der ersten Form sind die Purkinjeschen
Zellen vermindert, in ihrerForm aber erhalten, bei der zweitenForm
zeigen sie nebst dem Veranderungen der Struktur, Verminderung der
1 ) Zit. nach Dufour.
*) D6mence precocc etc. L’Enc6phale 1909.
3 ) A propos de l’atrophie c4r6bell. etc. L’Encephale 1909.
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31 () Zingerle, Zur pathologischen Anatomie
chromatophilenSubstanz und exentrische Lage der Kerne. Ebenso
sind die Elemente der Komerschichten vermindert. Die Glia ist
nicht beteiligt. Die Hemiatrophie ist nach Klippel und Lhermitte 1 )
keine Folge sekundarer Veranderungen und geht der Entwicklung
der psyehisehen Symptome voraus. Die Oberflaehenatrophie ist
sekundarer Natur, manchmal auch Folge der Tuberkulose. Claude
unterscheidet ebenfalls zwei Arten von Lasionen, eine Atrophie,
charakterisiert durch eine Verminderung des Volumens der
Lamellen rait Verschmalerung der Molekular- und Korner-
schicht, infolge einer kongenitalen Entwicklungshemmung, so-
wie 2. Veranderungen der Purkinje schen Zellen, infolge Einwirkung
einer toxi-infektiosen Schadlichkeit, welche auch die Rinden-
affektion hervorgerufen hat.
Ausfalle und Erkrankung der Zellen beobachtete auch Goldstein ,
Moryasu sah an den Purkinj eschen Zellen die Fortsatze stellen-
weise fehlend und Vakuolen im Zelleibe.
Dass auch in unserem Falle Zeichen einer Entwicklungs-
hemmung im Kleinhirn deutlich vorhanden waren, wurde schon oben
erwahnt. Eine Atrophie einer Kleinhim-Hemisphare war angedeutet.
Nirgends aber bestand eine starkere Atrophie der Molekular- oder
Kornerschicht, wie sie Claude beschreibt. Immerhin kann das
Kleinhirn als Sitz einer kongenitalen Wachstumsstorung bezeichnet
werden, die also sicher schon vor Entwicklung der Erkrankung
bestanden hatte. Daneben aber bestanden noch Veranderungen
an den Purkinje schen Zellen, die sich mit den von Goldstein ,
Moryasu . Klippel und Lhermitte gefundenen decken und wohl
erst im Verlaufe des Leidens entstanden sind. Bemerkenswert ist
dabei die Verminderung des Markfasernetzes der Rinde. Von be-
sonderem Interesse ist nebstdem die schwere Veranderung in dem
N. dentat., in welchem neben der Ganglienzellerkrankung auch
eine ausgesprochene Gliawucherung vorhanden ist, die im Bereiche
der Lage der Purkinje schen Zellen nicht nachweisbar ist. Wohl
aber sind auch die Gliakerne an den Stellen deutlich vermehrt,
an welchen Verwachsungen der Pia mit der Rindenoberflache
vorhanden sind. Wir konstatieren somit, in Uebereinstimmung
mit den genannten Autoren, dass die im Kleinhirn vorhandenen
Veranderungen der zweiten Art im wesentlichen mit denen im Gross-
him identisch sind. In unserem Falle scheinen dieselben ausge-
dehntere zu sein als in den bisherigen Beobachtungen. Ob es
Falle gibt, in welchen sich das Verhaltnis derart gestaltet, dass das
Kleinhirn starker betroffen ist als das Grosshirn, also ein be-
sonders ausgesprochener Typus der cerebellaren Form entsteht,
ist derzeit unbekannt.
Der pathologisch-anatomische Prozess ist in unserem Falle
in Uebereinstimmung mit einer grosseren Zahl von Literatur-
beobachtungen somit 1. ein ausgedehnter, im ganzen Zentralnerven-
system verbreiteter, 2. aussert er sich durch eine schwere Affektion
*) De l’atrophie du cervelefc dans la d6m. pr£c. L’Enc^phale 1909.
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tier Dementia praecox.
317
der Nervenzellen und Fasern der grauen Substanz, unter Mitbeteiligung
des Gliagewebes, der aber nur zumTeil den Charakter einer Reaktion
auf die nervose Destruktion zukommt; denn ausgebreitet sind
degenerative Veranderungen der Glia vorhanden, und ausserdem ist
die Gliawucherung selbat zum Teil eine selbstandige, besonders in
der Umgebung der kleinen, noch mehr aber der grosseren Gefasse
in der weissen Substanz, wobei gar keine Degeneration der Mark-
fasern nachweisbar ist.
Veranderungen in den Meningen und Gefdssen treten dagegen
in den Hintergrund und fehlen in einigen Fallen ganz. Starkere
Infiltrationen, encephalitische Herde, Erweichungsprozesse wurden
niemals beobachtet. Trotzdem ist man berechtigt, von einer aus-
gesprochenen organisehen Veranderung des Nervensystems zu
sprechen, deren Intensitat freilich in einzelnen Fallen grossen
Schwankungen unterworfen ist. Manchmal nahem sich die Zell-
veranderungen und der Faserschwund fast dem Bilde der Paralyse
(Moryasu), oder findet man kaum weniger Spinnenzellen, als bei
dieser (Alzheimer). Auch in unserem Fall erinnem die starken Zell-
ausfalle und die Stoning der Rindenarchitektur an Befunde bei
dieser Erkrankung.
Die Zell veranderungen als solchehabennichtsCbarakteristisches
oder Spezifisches an sich, wie dies auch von einer Reihe von Autoren
hervorgehoben wird (Goldstein, Ladame, Moryasu, Schiitz); sie sind
— auch hinsichtlich der Fibril lenbefunde — ihrer Art nach die-
selben tvie bei anderen organisehen Erkrankungen. Da aber fur
die Beurteilung einer Rindenerkrankung die Berucksichtigung aller
Gewebebestandteile in Betracht kommt, so bedarf es keiner aus-
fiihrlichen Erlauterung, dass das Gesamtbild einer Reihe von
organisehen Veranderungen bei Gehirnerkrankungen, wie bei der
Paralysis progressiva, der Lues cerebri, der Arteriosklerose, bei
encephalitischen Prozessen, infantilen Erkrankungen nach Art der
atrophischen Hirnsklerose, sich von dem bei Katatonie deutlich
unterscheidet und diesbeziiglich differentialdiagnostische Schwierig-
keiten nicht entstehen konnen. Auch die Abtrennung von den
Veranderungen bei Alkoholismus chronicus diirfte nicht zu schwer
sein. Nach Alzheimer 1 ), Ziehen 2 ) u. A. fehlt dabei auch in schweren
Fallen eine Storung der Rindenarchitektur, ein schwerer Mark-
seheidenzerfall und ist die Gliawucherung verhaltnismassig be-
seheiden und mehr auf die ausserste Rindenschicht beschrankt
[Meyer* •*) ]], dagegen zeigen die Gefasse ausgesprochen regressive
Veranderungen.
Eine gewisse Aelinlichkeit besteht mit den Rindenbefunden
bei der einfachen, nicht durch arteriosklerotische Zerstorungen
komplizierten Dementia senilis. Neben den verschiedenartigen
Zellveranderungen, Verlust der Markfasem der Rinde, regressiven
*) Nissls histologische u. hi6topathologische Arbeiten. Bd. 1.
: ) Psychiatrie. 1908.
•*) Die pathologiache Anatomic der Psychosen. Orth-Festschrift. 1903.
MonatBschrift fiir Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 4. 22
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318
Z i n g e r 1 e , Zur pathologischen Anatomie
und progressive!! Veranderungen an der Glia wird von alien
Autoren der grosse Pigmentreichtum in den Zellen, wie im Grund-
gewebe hervorgehoben. Auch in der Gefasswand findet man
solches abgelagert und Mastzellen. Es sind auch die Trabantzellen
vermehrt und scheinen ofters in den Leib der Nervenzellen ein-
gedrungen [ Moryasu 1 ), Meyer]. Freilich sindsolche unkomplizierte
Falle selten: haufig kommen doch daneben Gefassveranderungen
vor, Schrumpfungen der Rinde und perivaskulare Gliosen, die bei
der unkomplizierten Katatonie fehlen.
Auch bei genuiner Epilepsie kann man starken Zerfall des
nervosen Gewebes, Auftreten myelin- und fettartiger Substanzen
in den Nervenzellen, Glia- und Gefasselementen finden in Ver-
bindung mit sonstigen Veranderungen an den Nervenzellen und
der Glia, sowie mit Ausfall in der Tangentialfaserschichte und im
supraradiaren Flechtwerke, [Alzheimer 2 ), Ranke 3 ,) Weber]. Nur ist
im Gegensatze zu den Befunden bei Katatonie die Gliawucherung
vorwiegend in den oberen Rindenschichten lokalisiert, und ist be-
sonders der subpiale Faserfilz verdickt.
Schwieriger wird die Differentialdiagnose, wenn man eine
Reihe von Erkrankungen zum Vergleiche heranzieht, wie chronische
Infektionen, Zirkulations- und zu Kachexie fuhrende Ernahrungs-
storungen, bei welchen die Gehimveranderungen oft eine weit-
gehende Aehnlichkeit mit denen bei Katatonie aufweisen.
Unter den chronischen Infektionen ist es in erster Linie die
Tuberkulose, die hier in Betracht kommt, da sie ja eine haufige
Komplikation der Katatonie bildet und dadurch dieser scheinbar
zugehorige Befunde vortauschen kann. Besonders franzosische
Autoren (Riche, Barbi und Wickersheimer) haben auf die Wichtig-
keit der Beriicksichtigung dieser interkurrenten Erkrankungen hin-
gewiesen. Laignd-Lavastine und Leroy*) kamen auf Grand ihrer
Untersuchungen von Gehimen Tuberkuloser zu dem Ergebnisse,
dass die Lasionen derselben Art sind wie bei der Dementia praecox
und sich nur durch ihre geringere Intensitat unterscheiden.
Vogt) 3 fand in einigen Fallen von Tuberkulose chronische Ver-
anderangen der Nervenzellen, zum Teil leichten, zum Teil schweren
Grades. Er beschreibt langgestreckte, stark gefarbte Kerne inner-
halb des intensiv geschrumpften Zelleibes mit sichtbaren Axonen,
auch leichtere Zerfallserscheinungen mit Bildung von hellen Raumen
um die Kerne. Gliakernwucherung fehlte oder war vorhanden.
Piere 8 ) fand Chromatolyse bis zur fast volligen Zerstorung des
*) Beitrage zur pathologischen Anatomie der Psychosen. Arch. f.
Psych. 1909.
*) Bericht auf der Jahresvers. d. deutschen Vereins f. Psych, in
Frankfurt. 1907.
s ) Ueber den heutigen Stand der Histopathologic der Hirnrinde.
Miinch. med. Wochenschr. 1908.
4 ) Zit. nach Riche, Barbe, Wicker sheimer.
*) Das Vor kommen von Plasmazellen etc. Monatsschr. f. Psych. 1901.
•) Zit. nach Jensen : Lungenschwindsucht und Nervensystem. Jena
1905.
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der Dementia praecox.
319
Protoplasmas, nebst Deformation der Kerne, geringe Verande-
rungen am Gliazellkorper. Er konnte die Erkrankung auch im
Kleinhim nachweisen. Erwahnung verdient ferner das wiederholt
beobachtete Oedem der Haute und der Gehirnsubstanz in Begleitung
einer Erhohung des Gehimgewichtes [Oppenheimer 1 ), Ducamp *)].
Auch wir fanden in einem Falle von Tuberkulose bei einer
jungen Frau ausgesprochene Veranderungen, Ausfall und chronische
Degeneration von Nervenzellen, sowie massige Vermehrung der
Gliakeme. Es fehlte aber jede starkere Faserverdichtung, speziell
das Vorkommen von Spinnenzellen.
Von grossem Interesse fiir unsere Frage sind ferner die Befunde
bei psychischen Erkrankungen in Begleitung von Zirkulations-
storungen, wie sie neuerdings von Jakob 3 ) erhoben wurden. Er
sah im Gehime dabei ausgedehnte akute und chronische Zell-
veranderungen mit Zerfall der intracellularen Fibrillen, Ersatz der
chromophilen Substanz durch liellbraunes (mit Osmium schwarzes)
Pigment; um die Ganglienzellen bestand eine auffallige Vermehrung
der Gliabegleitzellen, mit deutlicher Beeinflussung der Form der
ersteren. Daneben zeigten sich progressive Veranderungen an
den Gliazellen und haufige Rasenbildung. Ein Unterschied gegen
unseren Befund liegt darin, dass sich die Veranderungen mehr
in den kleineren Zellelementen als an den grossen Ganglienzellen
lokalisierten, und dass dieselben gradweise gegen die Oberflache
zunahmen, am meisten ausgesprochen in der zweiten Rindenschicht
waren. Ebenso erwahnt Jakob nichts von einer pathologischen
Gliafaserbildung.
Vergleicht man diese Gehirnbefunde bei korperlichen Er¬
krankungen mit denen, wie sie von einer Reihe von Autoren bei
Katatonie erhoben wurden, so lasst sich vielfach zwischen beiden
kein Unterschied auffinden. Dagegen tritt ein solcher gegeniiber
anderen, schwereren Fallen hervor, wie sie z. B. von Alzheimer, Gold¬
stein u. A. beschrieben wurden und zu welchen auch der unsere ge-
hort. Hier zeigen sich Abweichungen beziiglich der Lokalisation
der Veranderungen, an welchen besonders die tiefen Zellschichten
der Rinde beteiligt sind, in der starken Degeneration der Mark-
fasem der Rinde, der eigenartigen Anordnung der Gliafasern,
Neuproduktion derselben, eventl. auch in der Storung der Ein-
stellung der Zellen. Eine so starke Wucherung von Spinnenzellen,
wie sie Alzheimer beobachten konnte, wurde bei den erwahnten
korperlichen Erkrankungen iiberhaupt niemals beschrieben.
Diese Gliawucherung in den tiefen Schichten der Rinde ist
aber kein fiir Katatonie typischer Befund. Alzheimer *) selbst wies
*) 1. c.
») 1. c.
*) Zur Klinik und pathologischen Anatomie der Kreislaufpsychose.
N. C. Bl. 1909 u. Joum. f. Psych. 1909.
*) Einiges zur pathologischen Anatomie chronischer Geistesstorungen.
AUg. Zeitschr. f. Psych. 57.
22 *
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320
Zingerle, Zur pathologtschen Anatomie
auch bei Melancholie eine Anhaufung von Fasem produ-
zierenden Gliazellen in den tiefen Rindenschichten nach.
Die Tatsache, dass bei den haufig die Katatonie komplizieren-
den korperlichen Erkrankungen, wie Tuberkulose, Zirkulations-
storungen etc., anatomische Gehirnveranderungen auftreten, welche
sich mit den bisherigen Katatoniebefunden ganz oder teilweise
decken, ist somit von grosster Wichtigkeit. Es ist vorderhand
auch nicht mit Sicherheit entschieden, ob die Haufung derartiger
korperlicher Erkrankungen, wozu noch eventuelle Erschopfung,
Fieber, Kachexie infolge mangelhafter Emahrung kommen konnen,
nicht das Bild einer schweren Rindenerkrankung hervorrufen
kann, das an Intensitat an das in unserem Falie hinanreicht.
Bevor daher nicht weitere Untersuchungen von sicher ganz
unkomplizierten Fallen von Katatonie vorliegen, sind wir nicht mit
Sicherheit in der Lage, die bisherigen Ergebnisse zur Feststellung
des pathologisch anatomischen Prozesses zu verwenden und einen
Schluss auf die Art der Erkrankung zu machen.
Die Annahme einer Reihe von, besonders franzosischen Autoren
(Klippel u. Lhermitte, Ladame), welche die pathologisch-anato-
mische Grundlage in einer Lasion der neuroepithelialen Gewebs-
bestandteile, wahrscheinlich toxischer Genese, erblicken,kann somit,
so naheliegend sie erscheint, doch nicht als einwandssicheres, fest-
stehendes Ergebnis anerkannt werden. Man muss vielmehr Ranke 1 )
beipflichten, dass wir von einem Verstandnisse der gefundenen
pathologischen Veranderungen noch weit entfemt sind.
Sicher erscheint als Resultat des Grossteils der bisherigen
Untersuchungen nur das eine, dass eine starkere Lasion des Gefass-
bindegewebsapparates fehlt und sich die Dementia praecox
pathologisch-anatomisch in keine Parallele zur Paralysis progressiva
stellen lasst, wie dies auf Grund des zu Analogien verlockenden
klinischen Verlaufes mehrfach versucht worden ist.
Es ist entschieden erstaunlich, dass eine Erkrankung, die in
ihren typischen ausgebildeten Formen das so ausgesprochene Ge-
prage einer schweren organischen Psychose mit der Generalprognose
in der Richtung zurDemenz (Bleuler) an sich tragt, pathologisch-
anatomisch so wenig charakteristische Befunde gibt, aus welchen
sich derzeit gar kein sicherer Riickschluss auf das Bestehen des
Leidens intra vitam machen lasst, und welche sich in ahnlicher
oder selbst gleicher Form auch bei korperlichen Erkrankungen
erheben lassen, die ohne oder mit ganz anderartigen geistigen
Storungen verliefen. Ja, wenn man bedenkt, dass es noch gar nicht
feststeht, ob und wie weit die bisher gefundenen Veranderungen
iiberhaupt die Grundlage der psychischen Erkrankung bilden
und nicht vielmehr durch sekundare Komplikationen hervorgerufen
sind, muss man gestehen, dass hier noch alles ungeklart ist, und dass
moglicherweise Veranderungen eine Rolle spielen, deren Nachweis
*) 1. c.
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I
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Monatssckrift fiir Psychiatric und Neurologie Bd. XXVJl.
Tafel XXI—XXII.
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Verlag von S . Karger in Berlin.
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der Dementia praecox.
321
bis heute noch nicht gelungen ist. Abgesehen vom Verhalten des
Rindengrau ware unseres Erachtens bei kiinftigen Untersuchungen
ein besonderes Augenmerk auf den Zustand der Assoziations-
fasersysteme der Rinde zu richten. In unserem Falle wenigstens
scheint der fast komplette Schwund der Assoziationsfasern in den
ausseren Rindenschichten nicht im Verhaltnis zu der Ausdehnung
der Zellasionen zu stehen, und wiirde eine derartige schwere
Faserdegeneration der Eigensysteme der Rinde wohl geeignet sein,
einLicht auf den eigenartigen dissoziativen Charakter der Erkran kung
zu werfen. Ein Fall ist fur diese Frage natiirlich ohne Bedeutung
und soil diese Bemerkung nichts anderes als eine Anregung geben.
Schliesslich waren auch noch Untersuchungen der Himmaterie im
Sinne Reichardts weiter zu verfolgen.
Erkjarung der Abbildungen auf Tafel XXI—XXII.
Pig. l. Schnitt aus der rechten 3, Stimwindung. Sehicht der Pyra-
midenzellen. Thioninfarbung. Vergross. 131. Zeigt die zellarmen Horde und
die schweren Veranderungen der Pvramidenzellen.
Pig. 2. Schnitt durch die linke untere Stirnwindung. Thioninfarbung.
Vergr. 131. Zeigt lichte, mehr rundhche Zellen in der Pyramidenschicht.
Man sieht auch Zwillingazellen, sowie Kerne mit 2 Kemkorperchen.
Pig. 3. Schnitt aus dem Gyrus angularis. Thionin. Camera- Auszug 67.
Proj. Ocular (Zeiss) 2, Objektiv 4.
Der Schnitt stellt die grossen Pyramidenzellen und die angrenzende
innere Komerschicht dar. Auffallig ist die Veranderung des Protoplasma,
die Bildung von perinuklearen hellen Ringen, sowie das Vorkommen von
schief, selbst verkehrt gestellten Ganglienzellen.
. Fig. 4. Schnitt durch die linke vordere Zentralwindung. Hamatoxylin-
Eosin. Camera-Auszug 67, Ocular 2, Objektiv 4.
Chronische Veranderung der Ganglienzellen mit starker Beteihgung
der Kerne, links an einer Zelle starke Veranderung mit Vermehrung der
Trabantkeme.
Fig. 5. Schnitt durch die linke obere Stirnwindung. Marchif&rbung.
Camera-Auszug 67, Ocular 2, Objektiv 4.
Zeigt die Anhaufung von myelinoiden Abbauprodukten in den
Pyramiden- und Gliazellen.
Fig. 6. Schnitt durch die linke obere Stirnwindung. Thionin. Vergr.
wie 5.
Vermehrung der Trabantzellen um die Zellen der tiefen Rindenschicht.
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322 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
(Aus der psyehiatriaohen Klinik der kgl. Charit6
[Geh. Rat Prof. Ziehen] in Berlin.)
Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallucinatoria
(Westphal) zur Amentia (Meynert).
Von
Dr. M. BRESOWSKY
in Jurjew (Dorpat).
Die akute halluzinatorische Paranoia wird heute noch von vielen
Psychiatem nicht zur Paranoia gerechnet, von denjenigen namlich,
die die akute Paranoia fur wesensungleich mit der chronischen
halten, sie daher ganzlich von dieser trennen und die Bezeichnung
„Paranoia“ fiir die chronischen Formen vorbehalten. Sie halten
damit fest an den Anschauungen der alteren Psychiater iiber das
Wesen der Paranoia, Verriicktheit, wie sie sich ergeben hatten nach
Ueberwindung der altesten Ansichten, wonach namlich paranoische
Zustande nur sekundar vorkommen sollten. In diesem Sinn spricht
sich Griesinger folgendermassen aus: „ . . . es gibt namentlich
auch hochst interessante Zustande, wo die beiden Hauptarten
der Primordialdelirien sich sehr langsam neben einander entwickeln,
wo bei dieser Langsamkeit, die sich iiber eine Reihe von Jahren
eretreckt, die sich widerstrebenden Vorstellungen (Grossenwahn
und Verfolgungswahn) Zeit haben, sich allmahlich zusammen-
zuordnen, zu durchdringen und zu festen Gedankenverbindungen,
zu einem sogenannten System von Wahnvorstellungen aufs engste
zusammenzuwachsen. Es bildet sich oft hier eine hochst eigen-
tumlich ineinander gearbeitete Mischung von Verfolgungs- und
von Grossenideen . . . Diese eigentiimliche, sehr chronische
Storung halte ich nicht mehr . . . fiir sekundar, habe mich viel-
mehr von der protogenetischen Bildung dieser Zustande iiberzeugt
und bezeichne sie jetzt als primare Verriicktheit.“ „Die Primordial¬
delirien entstehen nicht aus Ealluzinationen oder Ulusionen . . .
Der Kranke glaubt es nur, weil die Halluzination seinem eigenen,
schon vorhandenen normalen Vorstellungsinhalte Worte gab; das
sinnlicheBild fiir dieWahnvorstellung hat nicht diese erst gemacht.“
Es ist klar, dass das von Griesinger gezeichnete Bild der
Psychose die chronische Paranoia mit Entwicklung eines Wahn-
systems darstellt. Es fragt sich nunmehr: Was ist das Wesentliche
der Paranoia ? Ist auch der chronische Verlauf und die Entwicklung
eines Wahnsystems wesentlich ? Oder ist das Wesentliche nur die
primare Beteiligung der intellektuellen Sphere an dem Aufbau
des Krankheitsbildes ? Von der verschiedenen Beantwortung
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
323
dieser Frage hangt die systematisohe Steilung der akuten Paranoia
ab. Westphal, der als das Wesentliche der Paranoia den abnormen
Vorgang im Vorstellen betrachtete, macht zuerst genauere Mit-
teilungen fiber die akute Paranoia.
Die Verrficktheit ist nach Westphal eine primare Geistes-
storung, deren Wesentliches der abnorme Vorgang im Vorstellen
ist; der aUgemeine Inhalt der Vorstellungen bleibt sich immer
gleich (d. h. Verfolgungs- und Grossenideen). Sie entwickelt sich:
1. aus Hypochondrie; 2. entstehen von vomherein Wahnideen und
Sinnestauschungen, die den Wahn weiter stfitzen und ausbilden;
3. entstehen plotzlich und mit grosser Gewalt (anscheinend in
voller Gesundheit) und in grosser Ausdehnung aufspringende
Halluzinationen; 4. aus der originaren Verrficktheit (Sander). Das
Bild der Verrficktheit und der Verlauf ihrer Erscheinungen kann
sich sehr verschieden gestalten, je nachdem 1. die sogenannten
formalen Vorgange im Denken ungestort oder mehr weniger gestort
sind, 2. das motorische Verhalten nach der einen oder anderen
Seite beeintrachtigt ist. Das motorische Verhalten kann bald mehr
vortibergehend, bald mehr dauernd bis zur Tobsucht gesteigert
sein, besonders bei der akut, unter massenhaften Sinnesdelirien
vor sich gehenden Entwicklung. Der formale Ablauf des Denkens
kann mehr oder weniger erheblich gestort sein, die Storung kann
ganz fehlen.auf der anderen Seite sich zu vollkommenerVerwirrtheit
steigem. Die intellektuelle Schwache gehort nicht zu den wesent-
lichen Charakterzfigen der Verrficktheit. In zahlreichen Fallen
findet sich keine Spur davon, in anderen bestand sie von jeher und
ist nicht als Produkt der Krankheit zu betrachten. Der Ablauf ist
ein sehr mannigfaltiger. Es gibt eine akute Entstehung mit akutem
Verlauf, welcher zur Heilung ftihrt.
Diese hier in kfirzester Form angeffihrten Anschauungen
Westphals sind nicht ohne Widerspruch geblieben, die Zusammen-
fassung aller der Westphalschen Paranoia angehorigen Krankheits-
bilder in eine Psychose ist vielfach abgelehnt und die Aufstellung
„psychologischer“ Krankheitsformen als irrationell bezeichnet
worden. Andererseits ist die Westphals, che Lehre weiter ausgebaut
worden. Ziehen wies nach, dass bei der Paranoia, die er kuiz als
diejenige Psychose definiert, welche primar Storungen des Intellektes
und nicht der Affekte bedingt, nicht nur primare Wahn vorstellungen
und Halluzinationen, sondem auch primare Inkoharenz vorkommt,
erweiterte somit das Gebiet der Paranoia um Krankheitsformen,
die von anderen Forschem zum Teil als selbststandige Psychosen
be8chrieben worden waren. Freilich erweiterte sich der Umfang
der Paranoia so ganz ausserordentlich, und da nach Ziehen u. a.
die Intellektpsychosen mit den Affektpsychosen durch fliessende
Uebergange verbunden sind, so unterscheiden sich samtliche ein-
fache funktionelle Psychosen von einander nur duroh die vor-
herrschenden psychologischen primaren Hauptsymptome. Speziell
die Paranoiagruppe zeriallt demgemass in die Paranoia hallucina¬
toria acuta mit der ideenflfichtigen, stuporosen und inkoharenten
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324 Bersowsky, Ueber die Beziehimgen der Paranoia acuta
Varietat, die Paranoia hallucinatoria chronica, Paranoia simplex
acuta und chronica.
In gleicher Weise aussert sich Cramer. „Haben wir es somit
bei der Paranoia mit einer primaren Stoning der Verstandestatig-
keit zu tun, bei der erst sekundar die Stimmung des Gemiits in
Mitleidenschaft gezogen wird, so handelt es sich bei den Stimmungs-
anomalien um eine primare Erkrankung des Gemiits, bei welcher
erst sekundar die Verstandestatigkeit beeinflusst wird.“
Die Resultate seiner Untersuchungen iiber Abgrenzung und
Differentialdiagnose der Paranoia fasst Cramer in einigen kurzen
Satzen zusammen, von denen besonders bemerkenswert sind, dass
Verwirrtheit (Amentia), Wahnsinn und Verriicktheit klinisch und
genetisch eine Reihe wichtiger Erscheinungen gemeinsam haben;
dass die differentiell-diagnostischen Momente, welche geltend ge-
maoht werden, um Verwirrtheit, Wahnsinn und Verriicktheit zu
trennen . . . geeignet sind, diese drei Krankheitsbilder auf dem
gemeinsamen Boden der Paranoia zu differenzieren; dass . . . die
Definition der Paranoia lauten muss: die Paranoia ist eine einfache,
funktionelle Psychose. Sie ist charakterisiert durch eine Er¬
krankung der Verstandestatigkeit, wobei die Affekte nur eine
sekundare Rolle spielen.“
Diese von den erwahnten Forschern durchgefiihrte Aufstellung
von Krankheitsformen auf Grand des psychologischen Prinzips
ist vielfach angegriffen worden, hauptsachlich weil sie Aetiologie,
Verlauf und Ausgang nicht geniigend beriicksichtige, somit die
Moglichkeit offen lasse, dass die verschiedensten Krankheitsformen
auf Grand eines ihnen gemeinsamen Symptomes zu einer Form ver-
einigt wiirden. Indessen stosst auch das atiologische Prinzip auf
nicht geringe Schwierigkeiten. Denn abgesehen davon, dass die
Ursache so mancher Psychose nicht zu ermitteln ist, ist es denkbar,
und nach sicheren Erfahrungen sogar sehr wahrscheinlich, dass
infolge der verschiedenen individuellen Disposition dieselbe Ur¬
sache bei verschiedenen Personen verschiedene Psychosen aus-
losen kann, und femer, dass verschiedene Ursachen die Wirkung
haben konnen, die nervose Substanz in derselben Weise zu schadigen.
Obgleich die ,,halluzinatorische Verwirrtheit" unter diesem
und anderen Namen schon eine Reihe von Jahren bekannt war,
hat erst Meynert ihr eine besondere systematische Stellung ange-
wiesen. „Ich fand das Bediirfnis, von letzterer (der primaren Ver-
riicktheit) den akuten Wahnsinn zu trennen, als dessen Grand-
lage ich die Verwirrtheit erkannte." — „Von der Paranoia unter-
scheidet sich die Verwirrtheit durch den klaren Bewusstseinszustand
der ersteren . . .“ Mit diesen Satzen ist Meynerts Ansicht iiber
die systematische Stellung der Amentia ausgesprochen. Was nun
das fur die Amentia charakteristische Symptom die Verwirrtheit
anbelangt, so ist sie Folge des Assoziationsmangels, des — ganzhchen
oder teilweisen — Ausfalls der Assoziationsleistung. Zu diesem
Assoziationsmangel treten sehr haufig Sinnestauschungen —
Halluzinationen und namentlich Illusionen. — Als tvpischste Form
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hallucinatoria (Weatphal) zur Amentia (Meynert).
325
bezeichnet Meynert die halluzinatorische Verwirrtheit, „das An-
fangsstadium eines Bildes der zusammengesetzten Amentia,
welche mit halluzinatorisoher Verwirrtheit einsetzt und zwei Ver-
laufsrichtungen nehmen kann, in eine maniscbe Form . . . und in
eine stuporose Form, selbst bis zu fast ganzlichem Aufhoren
psychischer Aeusserungen.“ Meynert betont femer die Mannig-
faltigkeit der Erscheinungsformen der Amentia, deren er fiinf
Typen aufzahlt, erwahnt bezuglich des motorischen Verhaltens,
dass es in der Breite zwischen Tobsucht und Stupor sohwanke,
gibt an, dass ,,in fliichtiger oder in andauemder, doch erkennbarer
Weise . . . Grossenwahn und Verfolgungswahn der Inhalt der
Delirien der Amentia sind.“ Es gibt auch eine periodische
Amentia. Wie leicht ersichtlioh, entspricht die Gesamtheit der
von Meynert zur Amentia gerechneten Krankheitsbilder der ge-
samten Paranoia acuta Ziehens, ohne dass aber die von beiden
Forschem aufgestellten Typen oder Varietaten einander entsprechen.
Auch ist in beiden Fallen die Aetiologie die gleiche, obschon
Meynert die Amentia in eine idiopathische und eine symptomatische
Form zerlegt. „Die idiopathische fallt grosstenteils mit den
psychisohenUrsaohen und mit den nutritiv erschopfenden Momenten
zusammen. Die symptomatische ist die fieberhafte Amentia, die
an Epilepsie und Hysteroepilepsie in ihren Anfallen gekniipfte,
endlich die intoxikatorische und bazillare Form.“ Aus dem An-
gefiihrten geht hervor, dass trotz des von Meynert auf die Er-
schopfung bezogenen und physiologisch motivierten Krankheits-
bildes die Auffassung der Krankheitsform sich dem sympto-
matologischen und psychologischen Prinzip nahert. In ahnlicher
Weise, von symptomatologischen Erwagungen ausgehend, fasst
Chaslin die Confusion mentale primitive als akute Psychose auf,
deren typische Falle nur die primare lnkoharenz aufweisen.
Kahlbaum hat zuerst auf den Unterschied zwischen Zustands-
bild und Krankeitsform hingewiesen und die Forderung aufgestellt,
Krankheitsformen nur auf Grund des Gesamtverlaufs, ohne Ueber-
schatzung der Einzelsymptome, aufzustellen. Da bei den auf
Grund der KahJbaurmchen Prinzipien aufgestellten Krankheits¬
formen Aetiologie, Verlauf und Ausgang ausschlaggebend sind,
Verlauf und Ausgang ganz besonders bei unklarer Aetiologie, so
decken sicb diese Krankheitsformen nur zum Teil mit den auf
Grund der Symptomatologie ermittelten. Was nun die Amentia
Meynerts anbelangt, so schrankt Kraepelin, der nach den oben
erwahnten Kahlbaumachen Grundsatzen verfahrt, das Gebiet der
Amentia stark ein, indem er, im Sinne Meynerts die Amentia als
Erschopfungspsychose, und nur als solche, definierend, ihr nur die
erwiesenermassen auf Erschopfung, auf ,,eine greifbare aussere
Schadlichkeit“ zuruckgehenden Falle zuweist, wobei gewisse
Formen als „Kollapsdelirium“ und „chronische nervose Er-
schopfung“ von der Amentia im engeren Sinne getrennt werden.
Die symptomatologisch wohl so gut wie identischen, auf Infektion
und Intoxikation zuruckgehenden Falle werden als besondere
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326 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
„Infektionspsychosen“ und ,, Vergiftungspsychosen“ aufgefiihrt.
Die periodische Amentia Meynerts gehort nach Kraepelin dem
manisch - depressiven Irresein an. Ausserdem wiirde ein grosser
Teil der von Meynert der Amentia zugerechneten Falle zur Dementia
praecox Kraepelins gehoren. In der Auffassung Kraepelins erscheint
die Amentia Meynerts und ebenso die Paranoia acuta hallucinatoria
Westphals als eine Zusammenfassung von nur symptomatologisch
gleichen oder ahnlichen Zustandsbildem. Eine solche Beurteilung
von Gesichtspunkten aus, die sich ganz vorwaltend auf Aetiologie,
Verlauf und Ausgang stiitzen, notigt uns im Hinblick auf die von
vielen Psychiatem vertretenen anderen Anschauungen die Fragen
auf: 1. Besteht eine konstante, innere Abhangigkeit zwischen der
Aetiologie und der klinischen Erscheinungsform der genannten
Psychose ? 2. Besteht eine solche Abhangigkeit zwischen den Er¬
scheinungsformen und dem Verlauf und Ausgang ? 3. Besitzen die
Defektzustande des Ausgangs etwas fiir die Psychose Spezifisches ?
Die Beantwortung dieser Fragen ist ebenso verschieden wie die
Auffassung der genannten Psychosen.
Fragen wir nun: wie verhalt sich Westphals akute halluzina-
torische Paranoia in der Ausgestaltung, die ihr Ziehen gegeben hat,
zur Amentia Meynerts und im besonderen, wie verhalt sich die
Paranoia hallucinatoria acuta in ihren klinischen Erscheinungs-
formen und Varietaten zu den Erscheinungsformen der Amentia,
deren Meynert fiinf angibt, so wird die Antwort zuerst auf psycho-
logischem Gebiete zu suchen sein. Wir finden denn auch, class die
Amentia Meynerts im grossen und ganzen der akuten halluzina-
torischen Paranoia entspricht: sowohl die Aetiologie und Sym¬
ptomatology, als auch Verlauf, Dauer und Ausgang der Amentia
entsprechen der Paranoia acuta hallucinatoria. Es ist aber die
psychologische Analyse der Erscheinungsformen nicht durchgefuhrt:
die Amentia umschhesst sowohl die halluzinatorischen als auch die
dissoziativen Formen, das Vorkommen der rein dissoziativen Form
wird nur angedeutet, die Inkoharenz als psychopathologisches
Grundsymptom insofem, als sie auch primar auftritt, nicht ihrer
tatsachhchen Bedeutung gemass behandelt. Trotzdem ist die weit-
gehende Uebereinstimmung des Meynerts chen klinischen Bildes
und der akuten halluzinatorischen Paranoia unverkennbar.
Die zur Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia ge-
borenden Formen sind auch in der Zeit nach Westphals Mitteilung
und vor Meynerts definitiver Ausgestaltung der Amentia Gegen-
stand von Untersuchungen gewesen, die die Ansatze zur spateren
Entwicklung nach beiden Richtungen hin zeigen, insofem als einer-
seits im Vordergrimd der Betrachtung der akute und voriiber-
gehende Charakter und die „Storung des Bewusstseins“ stehen,
andererseits aber das Wesen der psychischen Storung. Mendel
fasst diese Formen unter dem Begriff des halluzinatorischen
Deliriums zusammen: „Ist die Besonnenheit aber nicht in normaler
Weise vorhanden, und treten dann krankhafte Storungen . . .
ein, dann entsteht das Delirium. Es sind demnach Delirien im Ge-
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
327
biete der inneren Sinneswahrnehmung oder der Assoziation der
Denkvorstellungen oder der Gefiihle oder in mehreren dieser
Fnnktionen gleichzeitig sich vollziehende, pathologische Vorgange,
die von dem Kranken wegen krankhaft gestorter Besonnenheit
als krankhafte nicht anerkannt werden. Wir unterscheiden dem-
nach 1. SiDnesdelirien, 2. Verstandesdelirien (Delirien im engeren
Sinn) . . 1st auch die Grundlage dieser Begriffsbestimmung,
die Annahme einer ansserhalb oder liber der Assoziationstatigkeit
existierenden oder funktionierenden besonderen „Besonnenlieit“
fur uns nicbt mehr annelimbar, so gebt aus der Beschreibung
des psychologischen Aufbaus der Mendelschen Sinnes- und Ver¬
standesdelirien hervor, dass darunter halluzinatorische und para-
noische Zustande und Krankbeitsformen zu verstehen sind 1 ). Zeigt
diese Auffassung Mendels viele Aehnlichkeit mit Meynerts Amentia-
begriff, so fasst Schiile akute und cbroniscbe Formen unter dem
gemeinsamen Merkmal der Stdrung im Vorstellungsleben zusammen
als „primaren, chronischen und akuten Wahnsinn“, von dem er
folgende Definition gibt: „Der innerste Kern dieser grossen Rrank-
heitsgruppe ist eine primare Stoning im Vorstellungsleben, enti¬
ty eder in Form einer Hemmung oder Forderung der Ich-Gruppe
mit allegorisierender (illusionarer) Apperzeption; oder aber einer
Auflosung des Icb-Verbandes durch jah einbrechende und iiber-
macbtige Sinnestauschungen . . . Im ersten Falle bleibt das Ioh
erhalten . . .; im zweiten wird das Ich verdunkelt . . . Im ersten
Falle besteht . . . das Wesen der Storung psyohologisoh in einer
Illusion oder falschen Apperzeption; im zweiten in einem hallu-
zinatorischen Traumzustand. Jene setzt das Wesen des chronischen
primaren Wahnsinns zusammen, diese das Wesen des akuten.“
Von den aus neuerer Zeit stammenden Ansichten sind ferner
bemerkenswert die von Krafft-Ebing , dessen „halluzinatorischer
Wahnsinn“ im allgemeinen der Amentia Meynerts entspricht
(vergl. die Definition von Pilcz: „Die Amentia ist gekennzeichnet
durch das Auftreten massenhafter Halluzinationen euf alien Sinnes-
gebieten und durch Verwirrtheit) und ferner die Ansicht Sommers.
Sommer , der auf streng atiologischer Basis steht, fiihrt unter den
funktionellen Geisteskrankheiten die halluzinatorische Verwirrt-
heit, den halluzinatorischen Wahnsinn und die Katatonie auf. Da-
mit stellt er gesonderte klinische Krankheitsformen aut, die in den
engsten Beziehungen zur Paranoia acuta hallucinatoria stehen. Die
Existenz von idiopathischen Psychosen dieser Art wird somit von
Sommer anerkannt, wahrend sie nach der Auffassung Kraepelins
nur die Bedeutung von Zustandsbildern haben (im Verlauf der
Dementia praecox oder des manisch - depressiven Irreseins).
*) „Dae Delirium hallucinatorium ist eine funktionelle Psychose, deren
Symptomenkomplex in seinem Beginn und Verlauf wesentlich durch Sinnee-
tauschungen bestimmt wird, welche mit inkoharenten Reden, irrem Handeln
und einer erheblichen Beeintrachtigung des Selbstbewusstseins verbunden
sind. . . . Die Krankheit entwickelt sich sodann in aktiver, agitierter oder
in passiver Form."
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328 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Ausserdem fiihrt Sommer dieselben Formen als symptomatische
Aeusserungen bestimmter zu Grunde liegender Erkrankungen
und Intoxikationen an. Sohliesslich sei nooh die Definition
Siemerlings erwahnt, der unter Amentia Geistesstorungen ver-
steht, die ausgezeichnet sind durch „das plotzliche Einsetzen
traumhafter Bewusstseinstrubung mit Verwirrtheit, zablreicbe ....
meist unzusammenhangende Halluzinationen und Illusionen, Ver-
anderungen in der motorischen Sphare . . Andererseits kennt
Siemerling eine Paranoia acuta, bei der es sich um ,,schnelle Ent-
wicklung von Wahnideen mit systematisiertem Charakter der Ver-
folgung oder Grosse“ handelt, die er in eine einfache und eine
halluzinatorische Form zerlegt.
Aub den angefiihrten Ansichten ersehen wir, dass im grossen
und ganzen in bezug auf die akute halluzinatorische Paranoia
Krafft-Ebings Meinung zu Recht besteht, wenn er aussert: ,,Die
hier als Wahnsinn abgehandelten Krankheitszustande entsprechen
grossenteils dem, was andere Autoren akute primare Verriicktheit
(Westphal ), halluzinatorische Verwirrtheit, Mania hallucinatoria
(Mendel), delusional stupor (Neivington) benannt und beschrieben
haben.“ Tatsachlich ist aber die Gesamtauffassung der Autoren
verschieden, obschon es sich offenbar um dieselbe Psychose handelt:
wir finden teils eine Zusammenfassung der genannten Psychosen
mit der chronischen Paranoia zu einer hoheren Einheit, teils eine
ganzliche Trennung von der chronischen Paranoia, teils eine Be-
urteilung nach ausschliesslich atiologischen Gesichtspunkten,
schliesslich eine weitere Zerlegung nach symptomatologischen
Gesichtspunkten.
In der alteren franzosischen Literatur wird die von uns Paranoia
acuta hallucinatoria genannte Psychose mit der Manie und dem
Delirium acutum, mit der Stupiditat und der akuten Demenz zu-
sammengefasst. Von den Autoren der neuesten Zeit fasst Chaslin
alle Formen in der Confusion mentale primitive zusammen. Seglas
erkennt eine Paranoia acuta an, die nichts mit der Confusion
mentale zu tun hat; andere fassen die Confusion mentale als rein
exogenes Symptom auf und betrachten nach Magnans Vorgang
das Delire systematise aigu als untrennbar von der hereditaren
psychopathischen Konstitution. Regis z. B. gibt eine sehr genaue
Einteilung der Confusion mentale in Unterformen, halt sie fiir eine
exogene Psychose und trennt sie vollstandig von dem auf heredi-
tarer Basis entstehenden Deiire systematise aigu. Dieses Delire
systematise aigu oder d’embiee ( Magnan) — „Deiire multiple,
polymorphe, sans evolution determinee des degeneres“ — ent-
spricht nach Magnans Auffassung der Paranoia acuta, was fiir die
Paranoia acuta simplex zutreffend ist, wahrend die Paranoia acuta
hallucinatoria fraglos ein ganz anderer Begriff ist. Im grossen imd
ganzen macht sich die Auffassung Magnans insofern geltend, als
die akute Paranoia als Manifestation einer latenten, hereditaren
Predisposition betrachtet wird, die mit der Confusion mentale nichts
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
329
zu tun hat: letztere sowie das D&ire aigu warden als exogene
Syndrome aufgefasst.
In der alteren englischen Literatur wird die Paranoia acuta
hallucinatoria gewohnlich mit der Manie zusammengefasst.
H. Maudsley unterschied zwischen affektivem und Vorstellungs-
irresein (ideational insanity), doch fasste er die ideational insanity
als Unterart der affektiven Psychosen auf, und zwar als mit Stoning
der Vorstellungstatigkeit komplizierte affektive Psychosen; iiber-
haupt erscheinen bei ihm die intellektuellen Storungen als sekundare
Storungen. Unsere akute halluzinatorische Paranoia erscheint bei
Maudsley als Manie, als manisches Delirium und als Monomanie.
Fielding Blandjord zerlegt die Manie in die akute Manie, die akute
delirante Manie und das Delirium acutum. Die Monomanie
identifiziert er mit der chronischen Manie. Auch Bucknill und
Hack Tube rechnen unsere akute halluzinatorische Paranoia zum
Teil zur Manie, zum Teil zur akuten Dementia, und unterscheiden
daneben eine delusional insanity, d. h. die Monomanie, von der sie
sich aussem: ,,Delusional insanity . . . exemplifies undue intensity
of the conceptive and perceptive faculties** (im Gegensatz zum
Damiederliegen derselben bei der Dementia). Neunngton unter¬
schied zwischen dem anergic stupor und dem delusional stupor.
In gewissem Sinn entspricht dieser Stupor Unterformen der akuten
halluzinatorischen Paranoia. H. Berkley rechnet zu den Unter¬
formen der Manie die akute hallucinatory confusional insanity, die
er aber als der Manie tatsachlich nicht verwandt ansieht, und das
akute Delirium; femer kennt er als selbstandige Gruppen die Fieber-
dehrien, die Intoxikationspsycbosen u. s. w., eine akute Paranoia
fiihrt er nicht an. Berkley unterscheidet die chronische progressive
Paranoia von den Intoxikationspsychosen, der chronischen
sekundaren Verriicktheit, der akuten halluzinatorischen Ver-
wirrtheit ( Meynert ); er rechnet die chronische Paranoia zu den auf
Degeneration zuriickgehenden Psychosen. Den gleichen, stark von
atiologischen Erwagungen abhangigen Standpunkt vertreten auch
noch andere englische Autoren; die chronische Paranoia wild von
der akuten getrennt. Unter delusional insanity versteht Cloueton
,,states of fixed and limited delusion**; ,,delusional insanity“ ist
gleichbedeutend mit Monomanie, Monopsychosis; es ist unsere
chronische Paranoia. (Unter Amentia verstehen die englischen
Psychiater einen angeborenen Defektzustand, gleichbedeutend mit
Idiotie.)
In den Schilderungen der zur Gruppe der akuten halluzina¬
torischen Paranoia geborenden Psychosen findet sich gewohnlich
als wichtiges, die Psychose kennzeichnendes Merkmal die Bewusst-
seinsstorung. Dieser Begriff ist nicht bestimmt genug, insofern ala
viele Autoren zwischen Bewusstlosigkeit und vollem Bewusstsein —
im Gebiete der Bewusstseinstriibungen — eine ganze Reihe von
Helligkeitsgraden des Bewusstseins unterscheiden. Was unter
„Bewusstsein“ zu verstehen ist, haben die Psychiater in ver-
schiedener Weise zu bestimmen versucht. Krafft-Ebing gibfc folgende
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330 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Definition: „Das Bewusstsein reprasentieren die in der Zeiteinbeit
im wissenden Icb gegenwartigen Vorstellungen.“ Es ist also unter
Bewusstsein nach Krafft-Ebing zu verstehen: der vollstandige
Zusammenhang der laufenden Assoziationskette mit den gegen¬
wartigen Empfindungen und Vorstellungen und mit den Er-
innerungen. Kraepelin aussert sich in dieser Frage folgendermassen:
,,Ueber all, wo aussere Eindriicke in psychische Vorgange umgesetzt
werden, ist Bewusstsein vorbanden . . . Das Wesen des Be-
wusstseins ist fiir uns vollig dunkel, doch wissen wir, dass der Be-
stand desselben . . . von den Verrichtungen der Himrinde ab-
hangig ist.“ Es wird hier also das Bewusstsein als von dem Zu-
stande der Himrinde unmittelbar abhangig gedacht, aber auf eine
psychologische Analyse der Komponenten des Bewusstseins nicht
eingegangen. Als Bewusstseinstrtibung wird ein solcher Zustand
der Himrinde aufgefasst, bei welchem der Schwellenwert fiir die-
jenigen Reize, die einenpsychischen Eindmck hervorrufen, fiber
die Norm gestiegen ist; nach der Grosse des Schwellenwertes kann
man verschiedene Helligkeitsgrade des Bewusstseins unterscheiden.
„Unter Umstanden kann anscheinend der Schwellenwert ffir
aussere und ffir innere Reize in ungleichmassiger W eise verandert
werden; wahrend die Einwirkung ausserer Eindriicke erbeblich
erschwert ist, konnen dennoch durch innere Erregungen lebhafte
Bewusstseinsvorgange ausgelost werden. Das ist der Fall bei den-
jenigen Zustanden, die wir ils Delirien zu bezeichnen pflegen. Urn-
gekehrt sehen wir bei den Verblodungen nicht selten aussere Reize
noch verhaltnismassig leicht Empfindungen erzeugen, wahrend
sich innere Vorgange fast gar nicht mehr im Bewusstsein geltend
machen.“ Von ahnlichen Gesichtspimkten wie Kraepelin gehen
viele andere Autoren aus.
Ziehen fasst bekanntlich die Trfibung des Bew'usstseins als
Storung im Zusammenhang der Ideenassoziation auf; „psychisch“
ist nach Ziehen gleichbedeutend mit „bewusst“; ein psychischer
Vorgang ist nicht in einem hoheren Masse bewusst als der andere;
wir brauchen zur Erklarang der Bewusstseinsstorung nicht ver¬
schiedene Helligkeitsstufen eines Bewusstseins im Sinne einer be-
sonderen Seelenfunktion anzunehmen: wir erklaren tins solche Zu-
stande durch die Schadigung oder Unterbrechung der normalen
Ideenassoziation oder auch die Ausschaltung grosser Vorstellungs-
kreise.
Wernicke steht auf einem ahnlichen Standpunkt. Als Bewusst¬
sein bezeichnet er sowohl Inhalt als auch Tatigkeit des Bewusst¬
seins, d. h. die sich im Bewusstseinsinhalte abspielenden Erregungs-
vorgange; zur Erklarung der komplizierten Bewusstseinsvorgange
nimmt er verschiedene Grade des Bewusstseins an und bringt den
bekannten Vergleich mit dem Wellengipfel. Jede Bewusstseins¬
storung ist nach Wernicke Storung (Verlust) des Bewusstseins-
inhaltes oder Storung (Verfalschung) der Bewusstseinstatigkeit
oder boides.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
331
N &cb.Binsuxinger bedeutet der Ausdruck„Bewusstseins8tdrung“
„nichts anderes als krankhafte Abweicbungen des gesetzmass igen
Ablaufes der psycbischen Vorgange, welche uns am deutlichsten
in den Anfangsteilen der assoziativen Tatigkeit, in dem Yorgang
des Aufmerkens und des Wiedererkennens und in den Endgliedem,
den sogenannten Willenshandlungen, erkennbar werden.** Unter
Bewusstsein versteht Binsvoanger „die Summe der zeitlich zu-
sammentreffenden psychischen Vorgange**. Unter Besonnenheit
versteht Binswanger diejenige Bewusstseinstatigkeit, bei der Merk-
fahigkeit, Aufmerksamkeit und der Ablauf der Ideenassoziation in
formaler Hinsicht nicht gestort sind; dabei konnen trotz erhaltener
Orientierung weitgehende Storungen des Denkprozesses vor-
handen sein. Vergleichen wir damit die Ansicht von Regis: „La
meilleure id4e qu’on puisse se faire de la conscience c’est de la
conskterer, avec Th. Ribot et son 6cole, comme un ph6nomene
d’origine organique dans la constitution duquel entrent comme
616ments principaux: la perception exacte, l’appropriation perso-
nelle et le classement mn4monique de nos sensations.** Wir er-
fahren femer, dass die Bewusstseinstriibung in einer Storung
einee der genannten drei Komponenten bestehe. Wie wir sehen,
wird das Bewusstsein von Regis ebenfalls psychologisch erklart,
der Begriff der Bewusstseinstriibung aber weit ausgedehnt: er
umfasst nach Rigis nicht nur samtliche Psychosen, die mit „Be-
wusstseinstriibung** verlaufen, sondem auch z. B. die Hysterie und
dieNeurasthenie; selbst einzelne Symptome, Halluzinationen z. B.,
sind Zeichen eines getriibten Bewusstseins, andererseits erlautert
Rigis den Begriff „iijconscient“ folgendermassen: „On entend
par lit non que le sujet a cess6 de percevoir, de s’approprier ou
d’enchainer ses id4es et ses sensations; mais simplement qu’il en
m6connait la nature pathologique. Et c’est la un caractdre tellement
important qu’il sert 4 distinguer les psychoses avec perte complete
de la raison et de la responsabilit6 de celles ou il peut rester encore
une part plus ou moins grande de ces attributs, et qu’on ddsigne
pour ce motif sous le nom de conscientes (d61ire conscient, halluci¬
nations conscientes, impulsions conscientes).“ Vergleichen wir
damit Krafft-Ebinq: „Eine Storung des Bewusstseins als einer
integrierenden Funktion der Himrinde ist a priori in jedem
Psychosenprozess zu erwarten. Tatsachlich ist jene auch das
bleibende Merkmal in der Flucht und klinischen Fulle der Er-
scheinungen.** Von anderen Autoren wird der Begriff wesentlich
enger gefasst und nur angewandt in Fallen einer solchen, aus ver-
schiedenen Ursacben zustande gekommenen Storung der assozia¬
tiven Tatigkeit, bei der die Beziehungen zurAussenwelt gestort sind,
d. h. die zusammenhangende und normale Auffassung der Wahr-
nehmungen nicht vorhanden ist. Wie wir sehen, ist der Begriff der Be-
wusstseinsstorung nicht nur unbestimmt, sondem er lasst sich stets
durch eine psychologische Analyse auf eine Assoziationsleistung
zuruckfiihren und ist somit ein entbehrlicher Hiilfsbegriff, der aber
noch vielfach gebraucht wird, und zwar ganz im allgemeinen als Aus-
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332 Bersowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
druck fiir gewisse Schadigungen der physiologischen Leistung der
Himrinde, besonders im Hinblick darauf, dass das Gehim an
Allgemeinerkrankungen des Korpers wie die anderen Korperteile
teilnimmt und in spezifischer Weise mit „Bewusstseinsst6rungen“
reagiert. Wenn wir als physiologische Leistung der Himrinde das
Umsetzen der durch die Sinnesorgane vennittelten Reize in
Empfindungen und die femere Auslosung von Assoziationen be-
trachten — was der Zustand ist, den wir als „ voiles Bewusstsein“
bezeichnen —, so ist das Bewusstsein die physiologische Leistung
der Himrinde. Schadigungen, die das Gehim in seiner Eigenschaft
als Assoziationsorgan oder Bewusstseinsorgan treffen, bewirken
eine Storung oder Triibung des Bewusstseins, die sich durch eine
psychologische Analyse als durch die verschiedensten Ausfalls-
und Reizerscheinungen zusammengesetzt erweist, entsprechend der
Kompliziertheit der Assoziationsleistung, die wir Bewusstsein
nennen. Zu solchen Schadigungen gehoren fieberhafte Er-
krankungen, Infektionen, Intoxikationen, Inanition; die auf diesem
Boden entstandene Psychose weist gewohnlich das Bild der Ver-
wirrtheit auf; unter dieser Bezeichnung hat man bekanntUch
nichts anderes als die Inkoharenz der Ideenassoziation zu verstehen.
Diese Inkoharenz nun ist es, welche der ganzen Amentiagruppe
ihr spezifisches Geprage verleiht, so dass viele Psychiater sie von
der Paranoia — auch von der Paranoia acuta — trennen zu miissen
glauben. Indessen ist aber (durch Ziehen) nachgewiesen worden,
dass die Inkoharenz bald gelegentlich, bald als Hauptsymptom
im Verlaufe der akuten halluzinatorischen Paranoia auftritt, d. h.
die akute halluzinatorische Paranoia s. str. und die dissoziative
Paranoia sind klinisch ganz nah verwandte Krankheiten. Die
Mannigfaltigkeit der auf der genannten Grundlage erscheinenden
Krankheitsbilder ist so gross, dass von vielen Seiten Versuche
gemacht worden sind, bestimmte Typen aufzustellen. Die von
Ziehen und von Sommer gegebenen Varietaten sind schon erwahnt;
Krafft-Ehingkennt nur eineForm.den halluzinatorischenWahnsinn;
Kraepdin trennt das ,,Erschopfungsirresein“ in drei Gruppen: das
Kollapsdelirium, die Amentia, die chronische nervose Erschopfung;
als besondere Gruppe fiihrt er ausserdem die Infektions- und die
Vergiftungspsychosen an. Nach Chadins Auffassung gehoren alle
Falle der von uns Paranoia acuta hallucinatoria genannten
Psychose der primaren Verwirrtheit, „Confusion mentale primitive**
an. Rigis fiihrt diese Falle als zur Confusion mentale 1 ) gehorend
an, die er in zwei Formen einteilt: Confusion mentale typique und
Confusion mentale aigue; erstere zerfallt in 2 Typen: C. m. simple
oder asth^nique und C. m. delirante (delire onirique); letztere (die
Confusion mentale aigue) zerfallt in drei Typen: C. m. aigue stupide
(Stupidity), C. m. agit^e (Confusion hallucinatoire aigue), C. m.
m6ningitique (d61ire aigu). Von der systematisierenden Paranoia
*) Ausserdem reehnct er die Dementia praecox zur Confusion mental©
chronicjue.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
333
trennt Rigis die genannten Formen ganzlich, die akuten syste-
matisierenden Formen teilt er ebenfalla in mebrere Gruppen ein.
Aehnlich verhalt sich Anglade in dieser Frage, der die genannten
Psychosen als blosse ,.Syndromes psy chopathiques“ betrachtet und
die Confusion mentale einteilt in: 1. C. m. asthAnique mit 3 Formen:
Torpeur c6rebrale, D6mence aigue und Stupidity, und 2. C. m.
hallucinatoire mit 3 Formen: k forme depressive, k double forme und
avec delire systematise.
Von Interesse ist die von Rigis gegebene Einteilung. Das
Delire onirique diirfte der sogenannten „traumhaften Verworren-
heit“ entsprecben, einem Zustande, in welcbem neben Inkoharenz
namentlich Sinnestauschungen vorberrschen, wahrend unter Deiire
asthenique einfacbe Inkoharenz verstanden wird, deren Typus
sich dem der Stupiditat nahert. Regis halt diese Zustande fiir ganz
spezifisch: „Cet ensemble morbide, fait de confusion mentale et
de deiire onirique, est vraiment caracteristique, caracteristique k
ce point qu’il implique toujours, k mon avis, le diagnostique
d’intoxication. J’ai pu ainsi, par la seule constatation d’un
deiire onirique k base plus ou moins confuse, conclure & l’existence
d’une autointoxication restee latente ou ignoree et qui, dds lors, se
reveiait manifestement.“
Aus dem Angefiihrten geht hervor, dass von mehrerenGesicbts-
punkten aus Versuche gemacbt worden sind, die einzelnen Typen
der genannten Psychosen zu erforschen und ihre Beziehungen zu
einander festzustellen. Es handelt sich dabei stets um die
„primaren“ paranoischen Symptome (Halluzinationen und Wahn-
vorstellungen) auf der einen Seite und die primare Inkoharenz, die
Verwirrtheit, auf der anderen und die aus ihrer Wechselwirkung sicb
ergebenden Krankheitsbilder. Die innere Verwandtschaft dieser
Krankbeitsbilder macht sich darin geltend, dass zwischen beiden
Extremen — der reinen akuten halluzinatorischen Paranoia, der
Halluzinose, und der reinen primar inkoharenten Varietat, der
Amentia—eine iinunterbrochene Reihe vonZwischenstufen existiert,
und zwar derart, dass die beiden genannten Formen gewissermassen
die selten erreichten aussersten Grenzen vorstellen, zwischen denen
sich die ungeheure Mehrzabl der hierher geborenden Falle bewegt.
Dabei aussert sich bei den dem Typus der akuten halluzinatorischen
Paranoia i. e. S. naher stehenden Fallen die Verwandtschaft mit der
inkoharenten Form in der geringenBestandigkeit der auftauchenden
psychischen Gebilde, in ihrer mangelnden logischen Begriindung
sowie in ihrer diirftigen Systematisierung, wahrend andererseits das
Auftreten von fliichtigen Halluzinationen und Wahnvorstellungen
den Typus der Inkoharenz, der reinen Verwirrtheit, in der Richtung
zur Halluzinose verschiebt. Femer treten zuweilen im Verlauf der
akuten halluzinatorischen Paranoia in interkurrenterWeise Zustande
von Inkoharenz auf, und zwar handelt es sich dabei nicht immer
um eine sekundare Inkoharenz, etwa infolge von massenhaften
Halluzinationen und Wahnvorstellungen oder heftigen Affekten,
MonAtssehrift fttr Ptyohiatrie and Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 23
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334 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
sondem die Zustande von Inkoharenz sind auf ein zeitweises An-
wachsen der Intensitat des zugrunde liegenden Prozesses zuriickzu-
fiihren. Da ausser den genannten Grundsymptomen, die samtlich
zum Gebiet der Storungen der Empfindungs- und Assoziations-
tatigkeit gehoren, noch andere primare und sekundare dauemde
Symptome auch auf affektivem und motorischem Gebiet auf-
treten konnen, so geht hieraus hervor, dass auf dem Grunde der
akuten hailuzinatorischen Paranoia die Entwicklungsmoglichkeit
fiir eine ganze Reihe von Varietaten gegeben ist. Aber aucb die
Inkoharenz, die Verwirrtheit, ist nichts Einheitliches, ihr Zustande-
kommen kann sehr verschieden bedingt sein, und nur das Ergebnis,
namlich die Erschwerung oder Aufhebung der einheitlichen, zu-
sammenhangenden Assoziationstatigkeit ist scheinbar gleichartig.
Bei der akuten hailuzinatorischen Paranoia i. e. S. haben wir es
zunacbst mit einer „halluzinatorischen“ Verwirrtheit zu tun, d. b.
es handelt sich urn eine sekundare Inkoharenz als Eolge von massen-
haften Sinnestauschungen. „DieAssoziation als solcheisthiernormal,
aber sie arbeitet mit einem pathologisch veranderten Vorstellungs-
und Empfindungsmaterial, dessen Bewaltigung sie nicht gewachsen
ist“ (Ziehen). Fritsch nimmt an, dass aus einem solchen halluzinato-
rischen Stadium mit Notwendigkeit die Verwirrtheit hervorgeht,
indes die Verwirrtheit dieser Art muss zu den nicht alltaglichen
Erscheinungen gerechnet werden, denn vielfach oder sogar gewohn-
lich bleibt der Zusammenhang der Assoziationen bei denjenigen
Kranken erhalten, deren Krankheitserscheinungen sich auf
Sinnestauschungen beschranken. Genau dasselbe Uesse sich von
der sekundaren Inkoharenz infolge von massenhaften Wahn-
vorstellungen sagen, die allerdings hauptsachlich bei gewdssen
Formen der Paranoia simplex acuta vorkommen. Nichts Patho-
gnomonisches bietet die in vielen Fallen der akuten halluzinatori-
schen Paranoia vorkommende sekundare Inkoharenz infolge von
Affektsteigerung. Es gibt femer noch eine Form der sekundaren
Inkoharenz, die nur eine scheinbare Inkoharenz ist und nicht
selten im Verlauf der akuten hailuzinatorischen Paranoia beobachtet
werden kann. Eine solche scheinbare Inkoharenz kommt dann
zustande, wenn der Bewusstseinsinhalt vorw'iegend oder aus-
scbliesslich von den Halluzinationen und Wahnvorstellungen ge-
bildet wird und die Aufmerksamkeit des Kranken vorzugsweise
diesen Bewusstseinsinhalten zugewandt ist. Unter solchen Um-
standen konnen die Eindriicke der Aussenwelt, da sie keine Auf¬
merksamkeit erregen, unter der Schwelle des Bewusstseins
bleiben oder aber Ulusionar oder wahnhaft aufgefasst werden. Der
Zusammenhang der Assoziationen braucht dabei nicht gestort
zu sein, die Assoziationen konnen sich in normaler Weise an die
hailuzinatorischen und illusionaren Wahmehmungen ankniipfen
und weiter verarbeitet werden, auch in wahnhafter Weise. Die Be¬
ziehungen zur Aussenwelt sind in den Hintergrund getreten, der
stete innere Zusammenhang mit der Aussenwelt ist unterbrochen
oder aufgehoben: das Verhalten des Kranken, seine sprachlichen
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 335
Aeusserungen, erscheinen mehr oder weniger inkoharent, aber eine
echte Inkoharenz der Ideenassoziation liegt nicht vor.
Die primare Inkoharenz pflegt haufig als ,,traumhafte Ver-
wirrtheit“ aufzutreten; dieser Zustand ist vielfach beschrieben
worden, deshalb sei hier kurz erwahnt, dass in diesen Fallen
hauptsachlich das Gesamtgebiet der Auffassung gestort ist.
Aeussere Reize werden illusionar aufgefasst, eine Kontrolle durch
die Assoziationstatigkeit findet nicht statt. Die Merkfahigkeit ist
erloschen oder doch sehr schwer beeintrachtigt. Der Gedankengang
ist ganz vorzugsweise von sinnlichen, pathologisch veranderten und
pathologischen Reizen abhangig, d. h. von Illusionen und fluchtig
und wechselnd auftretenden Halluzinationen und wird durch die
Assoziationstatigkeit nicht einer Urte.Iskontrolle unterworfen. Diese
Form der primaren Inkoharenz ist typisch fur akute, delirante
Zustande.
Femer tritt die Inkoharenz auf in der Form der „zerfahrenen
Verwirrtheit“ (Kraepelin). Die Auffassung ist erhalten, aber es
„findet hier ein Forfcschreiten des Gedankenganges nach irgend
einer Richtung iiberhaupt nicht statt, sondern nur ein planloses
Herumfahren in denselben allgemeinen Bahnen mit zahlreichen,
verbliiffenden Abirrungen. Vielfach wiederholen sich ahnliche
Wendungen, freihch meist in ganz unklaren und widerspruchs-
vollen Formen. Die Ablenkbarkeit durch innere und aussere
Einfliisse kann hier ebenfalls sehr gross sein, aber die neu erweckten
Vorstellungen bedingen keine Richtungsanderung, sondern schieben
sich einfach zusammenhang^los in die zerfahrenen Gedankengange
ein. Es gelingt oft ohne Schwierigkeit, durch Fragen mitten in
dem Wirrwarr von Vorstellungen eine Reihe vollstandig geordneter
Antworten zu erzielen.“ Diese Form ist den chronischen Fallen
eigentiimlich.
Femer gibt die Komplikation der Inkoharenz mit motorischer
Erregung oder Stupor oder mit primaren Affektstorungen dem
Rrankheitsbilde ganz eigenartige, charakteristische Ziige, die viele
Forscher zur Aufstellung besonders klinischer Typen angeregt
haben.
Wenn wir unter den vielseitigen und zahlreichen Forschungs-
ergebnissen, die aus den Untersuchungen iiber die Erscheinungs-
formen der uns beschaftigenden Psychosen hervorgegangen sind,
diejenigen besonders beriicksichtigen, die sich einem einheitlichen
Gesichtspimkt bei der Analyse der Krankheitsbilder imterordnen
lassen, so gelangen wir zur folgenden Reihe von klinischen Typen,
die samtlich im Begriffe der akuten halluzinatorischen Paranoia
im weiteren Sinne enthalten sind. Zunachst werden die Varietaten
mit primaren Affekt- und Assoziationsstorungen nicht mit ange-
fiihrt, ausgenommen die doch wohl mit Recht eine Sonderstellung
einnehmenden Falle mit primarer Inkoharenz.
Wir konnen unterscheiden:
1. Die Halluzinose (Wernicke), den halluzinatorischen Wahn-
sinn (Sommer), „es handelt sich um eine durch Halluzinationen
23*
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336 Bresowsky, Uelier die Bezielningen <ie” Paranoia acuta
bedingte Wahnbildung, welche bei Wegfall der Halluzinationen
spurlos verscbwindet.“ Die Halluzinationen konnen fliichtig sein
und wechseln, mit ihnen wechseln die Wahnvorstellungen; die
Orientiertheit und Besonnenheit konnen erhalten sein, es kann aber
auch zu sekundarer Inkoharenz infolge massenhafter Sinnes¬
tauschungen kommen. Die Form entspricht wohl auch der von
Westphal erwahnten halluzinatorischen Form. ,,Der Inhalt der
Halluzinationen und die sich daran kniipfenden Wahnvorstellungen
sind Verfolgungs- und Grossenideen.“
2. Die Form der halluzinatorischen Paranoia, bei der ausser
den Halluzinationen und Hlusionen primare, nicht-halluzinatorische
Wahnvorstellungen auftreten. An die Sinnestauschungen und Wahn¬
vorstellungen kniipfen sich zuweilen weitere Wahnvorstellungen
an, doch kommt es nicht zu einer logischen Systembildung, da die
Wahngebilde zu unbestandig sind und der Kranke sie nicht durch
Einbeziehung seiner sonstigen Wahmehmungen stiitzt oder
kontrolliert. Die Orientiertheit und die Besonnenheit konnen er¬
halten sein, haufig ist sekundare Inkoharenz.
3. Eine Form der akuten halluzinatorischen Paranoia, bei
der primar Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen auftreten,
die Sinnestauschungen aber bald verblassen, so dass die Wahn¬
vorstellungen in den Vordergrund des Krankheitsbildes treten.
Es kommt zur Ausbildung eines zuweilen ausserlich leidlich ge-
schlossenen Systems, das aber nur diirftig oder gar nicht von den
sonstigen Wahrnehmungen des Kranken gestiitzt oder ausgebaut
wird. Die Orientiertheit und die Besonnenheit sind gewohnlich er¬
halten, es kommen aber auch interkurrente Zustande mit reich-
lichen Sinnestauschungen und sekundarer Inkoharenz vor, anderer-
seits kann der Zustand dem Bilde der chronischen einfachen
Paranoia sehr ahnlich sein.
Diese Formen stellen nichts von einander streng Geschiedenes
dar; man beobachtet nicht selten, dass eine in die andere ubergeht;
charakteristisch ist nur das primare Auftreten der paranoischen
Symptome bei erhaltener Orientiertheit und bloss gelegentlicher,
sekundarer Inkoharenz. Gewissermassen eine Steigerung dieser
Formen in der Richtung zur Inkoharenz stellt die von Sommer
speziel) als
4. halluzinatorische Verwirrtheit bezeichnete Form vor. Wir
haben es hier mit primarer Inkoharenz und Sinnestauschungen zu
tun, wozu noch gewohnlich gesteigerte affektive Erregbarkeit
kommt. Diese Form entspricht im wesentlichen der Meynerts chen
klinischen Darstellung. Infolge der Inkoharenz ist eine systema-
tische Wahnbildung ausgeschlossen, die Orientiertheit geht verloren.
In der Richtung zur Stupiditat, die iibrigens von vielenForschem
ebenfalls zu den hierher gehorenden klinischen Formen gerechnet
wird, steht die reine, einfache
5. primare Inkoharenz, die von Chaslin besonders eingehend
beschriebene Form, bei der aber ebenfalls haufig sich ganz fliichtige,
abgerissene Wahnvorstellungen und Halluzinationen finden; aller-
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hallucinatoria (Wastplial) zur Amentia (Meynert). 337
dings gehoren sie nicht zum klassischen Bilde der prim&ren In¬
koharenz, es zeigt sich darin aber die Verwandtschaft zu den schon
erwahnten Formen. Es ist fiir diese Form die Schwerbesinnlichkeit
charakteristisch, franzosische Autoren reden von Prostration —
torpeur c6r6brale — stupidity, sie entspricht zum Teil Meynert's
Form der Amentia obne Reizerscheinungen. Damit ist aber die
Formeniibersicht nicht erschopft. Namentlich franzosische Autoren
bestehen auf der gesonderten Stellung der ,,traumhaften Verwirrt-
heit“, des D61ire onirique, dem die psychopathologischen Eigen-
tiimlichkeiten zukommen, die den Zustand der traumhaften Ver-
w irrtheit bedingen und die oben bereits erwahnt sind. Grosse
Schwierigkeiten diirfte zuweilen die Abgrenzung dieser Form
von der gewdhnlicben halluzinatorischen Verwirrtheit machen;
Meynert beschreibt diese Zustande eingehend, ohne ihnen eine
Sonderstellung einzuraumen, doch passt seine Varietat der „hallu-
zinatorischen oder illusorischen Verwirrtheit durch die ganze
Krankheitsdauer“ sehr gut auf die „traumhafte Verwirrtheit". Be-
merkenswert ist, dass Regis, der ein Ineinander-Uebergehen der
anderen Typen der von ihm als Confusion mentale bezeichneten
Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia annimmt, ein
solches Verhalten des Delire onirique nicht anfiihrt, wohl aber
bemerkt, dass diese Form nichts anderes sei als die einfache Ver¬
wirrtheit mit Delirien. Rovbinowitsch trennt das D61ire onirique
ganzlich von der Confusion mentale.
Gemeinsam ist, vvie wir sehen, den letzterwahnten Formen die
primare Inkoharenz, d. h. im einzelnen die Inkoharenz des Ge-
dankenablaufs, die Unorientiertheit und die motorische Inkoharenz,
was alles zusammen das Zustandsbild der Verwirrtheit ergibt. Ob-
gleich die psychologische Grundlage der inkoharenten Formen sich
in charabteristischer Weise von denjenigen der anderen Formen
der akuten halluzinatorischen Paranoia unterscheidet, lehrt die
klinische Erfahrung, wie schon erwahnt, ihre enge Zusammen-
gehorigkeit mit den letzteren, so dass alle erwahnten Formen als
Verietaten einer und derselbenKrankheit auftreten; femer stimmen
sie auch darin mit den iibrigen Erscheinungsformen der akuten
halluzinatorischen Paranoia iiberein, dass sie in gleicher Weise
komplizierende primare Symptome auf affektivem und motorischem
Gebiet aufweisen. Von der Analogie oder vielmehr Identitat der
Aetiologie wird spater die Rede sein.
Die klinische Erfahrung lehrt weiter, dass das von Meynert
als charakteristisch fiir die Amentia bezeichnete Symptom, die
Verwirrtheit, die Zusammenhangslosigkeit in den Aeusserungen und
Handlungen, sich keineswegs auchnur voriibergehend in allenFallen
der halluzinatorischen akuten Paranoia findet; es gibt Falle, in
denen die Ordnung des Gedankenganges und der adaquate
Stimmungszustand nicht im geringsten krankhaft verandert sind,
so dass die Bezeichnung „Verwirrtheit“, „Amentia“ fiir das Ge-
samtgebiet der akuten halluzinatorischen Paranoia nicht zutreffend
ist und die Verwirrtheit nicht stets als Grundlage des „akuten
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338 B r e s owsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Wahnsinns“ zu gelten hat. Der Bewusstseinszustand vieler Falle
unterscheidet sich nicht von demjenigen der cbronischen Paranoia
simplex, es unterscheidet sich nur der Verlauf und die Aetiologie,
wenigstens in den meisten Fallen.
Im Gegensatz zu den meisten iibrigen Psychosen ist die Aetio¬
logie der zur Gruppe der akuten halluzinatorischen Paranoia ge-
horenden Psychosen in der grossen Mehrzahl der Falle bekannt und
ergibt sich aus der Anamnese: in den meisten Fallen werden als
Ursache der Erkrankimg akute Erschopfung, akute Infektion und
akute oder chronische Intoxikation exmittelt. Es ist augenschein-
lich, dass die infolge von Infektionen und Intoxikationen (auch
Autointoxikationen) entstehenden Falle als Folgen von Gift-
wirkungen betrachtet werden miissen, die ihren Einfluss auch nach
der direkten Einwirkung aussem, und zwar weil sie Veranderungen
hervorgebracht haben, die nunmehr die Grundlage sind von
selbstandigen, von der direkten Einwirkung der erwahnten
atiologischen Faktoren unabhangigen Psychosen. Wir konnen uns
somit vorstellen, dass in diesen Fallen eine organische Veranderung
der Gehimsubstanz vorliegt, welche die Folge einer chemischen
Einwirkung ist; diese Veranderung kann sich wieder ausgleichen,
sie kann aber auch in schweren Fallen einen solcben Umfang an-
nebmen, dass die Psychose sowohl klinisch wie pathologisch-
anatomisch zu den organischen zu rechnen ist. Aehnlich verhalt
es sich mit den Erschopfungspsychosen, die kaum von den oben
erwahnten zu trennen sind. In den ganz reinen Fallen miisste es sich
um eine Erkrankung handeln, die als Folge des zu raschen Ver-
brauchs oder ungeniigenden Ersatzes der zur normalen Funktion
der Gehimzellen notwendigen Substanzen auftritt. Wir haben es
also auch hier mit einer veranderten Zusammensetzung der Gehim¬
substanz zu tun; es lasst sich aber wohl kaum etwas dariiber sagen,
wie gross der Anted der moglicherweise eine Giftwirkung aussera-
den Zerfallsprodukte am Zustandekommen der Psychose ist;
Kraepelin spricht von der narkoseahnlichen Wirkung der „Er-
miidungsstoffe". Es wiirde sich also auch in einem solchen Fall um
eine Art Intoxikation handeln. Uebrigens ist die Zahl der aus-
schUesslich auf eine Erschopfung im Sinne von gesteigerter Er-
miidung zuriickzufiihrenden Fade von psychischer Erkrankung
nur ganz gering oder vielleicht gleich Null, denn man wird wohl
stets neben dem einfachen Verbrauch und fehlenden Ersatz von
notwendigen Substanzen andere Faktoren annehmen miissen, zum
mindesten nicht ausschliessen konnen, vergl. Kraepelin, der an-
fiihrt, dass das Gebiet der Amentia ,,bei sorgfaltiger Priifung und
Verfolgung der Falle bis auf eine kleine Gruppe im Gefolge von
ansteckenden Krankheiten zusammenschrumpft; auch hier wird
die Verursachung durch Gifte immer wahrscheinlicher“. Uebrigens
entsteht die Psychose haufig durch das Zusammenwirken der ge-
nannten Ursachen, besonders gem treten kombiniert auf die In¬
fektion und die Erschopfung. Krafjt-Ebing gibt an, dass die
Krankheitsbilder des halluzinatorischen Wahnsinns auf dem Boden
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
339
der funktionellen Erschopfung, der Asthenie des Nervensystems
stehen. Diese Abhangigkeit der Erkrankung von einem exogenen
Paktor, der eine chemische Beeinflussung und somit eine materielle
Veranderung der Gehimsubstanz hervorzubringen imstande ist,
veranlasst viele Psychiater, die auf dem Boden der Infektion und
Intoxikation entstehenden Falle der akuten halluzinatorischen
Paranoia nicht in demselben Sinn als selbstandige Psychosen zu
betrachten wie z. B. die chronische Paranoia simplex, sondem sie
fassen sie nur als symptomatische Aeusserungen eines anderen
„Grundleidens“ auf, dass fur die Diagnosestellung massgebend ist.
Cf. neben vielen anderen Autoren Toulouse: ,,Au fond la confu¬
sion mentale n’est encore qu’un symptome, un gros symptome
qui ne parait pas constituer une maladie essentielle primitive . .
Es wird also diesen Fallen die Bedeutung eines Symptomes zuer-
kannt, das nicht weit von den verschiedenen Formen der Delirien
steht, zu denen ubrigens bekanntlich Uebergangsformen existieren
und gegen die eine feste Abgrenzung kaum moglich erscheint.
Schon Fiirstner wies darauf hin, dass sich der Differentialdiagnose
zwischen Puerperalpsychosen, d. h. ,,Zustanden von Angst, Auf-
regung und Verwirrtheit“, und Fieberdelirien Schwierigkeiten in den
Weg stellen, ja, sie unmoglich machen konnen. Meynert bemerkt:
„Die fieberhaften Krankheiten sind Ursachen der Amentia, ja, das
Fieberdelirium selbst eine Form derselben . . . Der Zusammen-
hang einer akuten Krankheit mit Amentia ist ein doppelter, 1. durch
das floride Stadium und 2. durch die Erschopfung in der Rekon-
valeszenz.“ Die Bedeutung der Erschopfung ids unmittelbare
Krankheitsursache im Sinne Meynerts wird von den Vertretem der
oben erwahnten Anschauungen meist nicht gewiirdigt und der
Zusammenhang zwischen Ursache und Erkrankung dadurch als fast
unmittelbar gedacht. Wahrend einige (hauptsachlich franzosische)
Psychiater die Psychosen der Amentiagruppe lediglich als „Syn-
drome“ auffassen, ohne ein Gewicht auf den Unterschied der Ent-
sehungsweise zu legen, zerlegen andere die Gruppe in besondere
Infektions-, Vergiftungs- und Erschopfungspsychosen; Ziehen
endlich (wie auch Krafft-Ebing) betrachtet im Sinne Meynerts die
Gruppe als eine klinische Einheit von Krankheitsbildem, und zwar
von der Bedeutung einer vollentwickelten, selbststandigenPsychose.
Die verschiedenen Gesichtspunkte, von denen aus eine solche ver-
schiedene Beurteilung derselben Krankheitsbilder erfolgt, sind uns
bekannt; was Meynert anbelangt, so widmet er seine Aufmerksam-
keit vorwiegend der klinischen Erscheinung der Amentia, ohne sich
eingehend mit der Aetiologie zu befassen. Es fragt sich nun im Hin-
blick auf die erwahnte verschiedene Beurteilung, ob tatsachlich
ein von der Aetiologie abhangiger Unterschied in der Erscheinungs-
form der aus diesen Ursachen hervorgehenden Psychosen sich in
konstanter Weise beobachten lasst, und ob dieser Unterschied so
wesentlich ist, dass er eine Trennung in verschiedene Gruppen recht-
fertigt. Denn wenn es sich ergibt, dass die aus den erwahnten ver¬
schiedenen Ursachen hervorgehenden Psychosen das gleiche
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340 Bresoweky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
klinische Bild darbieten — was im grossen und ganzen der Fall ist—,
so hat eine Zerlegung der ganzen Gruppe der akuten halluzina-
torischen Paranoia in verschiedene Psychosen nach atiologischen
Gesichtspunkten doch wohl nur ein vorwiegend theoretisches
Interesse. Anglade, Sottier, Regis, auch Chaslin u. A. lehnen eine
solche Trennung dnrchaus ab, die erstgenannten mit dem aus-
driicklichen Hinweis auf die klinische Identitat der Krankheits-
bilder, die sie zur Confusion mentale rechnen. Ziehen aussert sioh
in dieser Frage folgendermassen: „Selbst wenn ein bestimmtes
atiologisches Moment eine Psychose mit besonderer Vorliebe hervor-
bringt oder alien typischen Psychosen eine besondere „schatten-
werfende" Farbung verleiht, so scheint mir damit die Aufstellung
einer atiologisch definierten Psychose noch nicht ausreichend ge-
rechtfertigt, wenigstens dann nicht, wenn damit der Verzicht auf
die Einreihung in eine andere, nicht atiologische Klassifikation
ausgesprochen werden soil . . . Eine Ausnahme ware nur dann
statthaft, wenn eine bestimmte, klinisch charakterisierte Psychose
stets nur aus einem atiologischen Momente sich entwickelte . . .
Der umgekehrte Satz, dass ein bestimmtes atiologisches Moment
stets dieselbe Psychose hervorbringe, ist erst recht falsch: die Er-
schopfung erzeugt in einem Fall eine Manie, in einem anderen eine
akute Demenz, in einem dritten vielleicht die sogenannten asthe-
nischen Delirien usw.“ Uebrigens bemerkt Ziehen, dass bei den
Erschopfungs- und Infektionsformen sich haufig schon sehr friih
primare Inkoharenz einstelle, so dass das Krankheitsbild der
dissoziativen Form, der Amentia im engeren Sinn, entstehe, wahrend
bei den toxischen Formen die Massenhaftigkeit der Sinnes-
tauschungen auffallend sei und Inkoharenz seltener und meist
sekundar auftrete.
Aehnliche Angaben finden wir haufig in der Literatur, aller-
dings ohne nahere Angaben fiber die Rolle der Inkoharenz in dem
angegebenen Krankheitsbilde; eine nahere, konstante Beziehung
zwischen Ursache und Erscheinungsform ist nicht nachgewiesen
worden; die sich speziell mit der Aetiologie der Geisteskrankheiten
befassenden Arbeiten, z. B. von Toulouse und von Meyer, stehen
auf demselben allgemeinen Standpunkt. Ueber die Erscheinungs¬
form der Infektionspsychosen bemerkt Toulouse: „Toutes les
formes vesaniques ont 4te observes. Cependant l’une d’elles, la
confusion mentale, a 6te souvent notee . . und an anderer
Stelle: „En resume les delires f4briles sont comparables 4 ceux
produits par une intoxication minerale, alcool ou plomb.“ Damit
istgesagt, einerseits,dass die Intoxikations- und Infektionspsychosen
dieselbe klinische Erscheinungsform haben konnen, also dass ver-
schiedene Ursachen Psychosen von gleicher Art ergeben konnen,
und andererseits, dass die Infektionspsychosen zwar haufig unter
dem Bilde der „Verwirrtheit“ (Amentia) auftreten, dass aber auch
andere Erscheinungsformen beobachtet werden, d. h. dass gleiche
Ursachen Psychosen von verschiedener Art ergeben konnen.
Was nun die Ursachen und die von ihnen in konstanter Weise
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
341
hervorgerufenen Symptome anbelangt, so wird allerseits die Tat-
saohe festgestellt, dass die Intoxikationen vorwiegend Krankheits-
bilder mit Sinnestauschungen hervorzurufen pflegen, diese Krank-
heitsbilder gehoren vorzugsweise zur akuten halluzinatorischen
Paranoia i. e. S. Nehmen wir z. B. die praktisch wichtigste In-
toxikation, den Alkoholismus. Mit Bonhoffer unterscheiden wir
nnter den akuten Alkoholpsychosen das Delirium tremens, die
Korsahnoaohe Psychose und die akute Halluzinose der Trinker. Von
den oben erwahnten klinischen Spielarten der akuten halluzina-
torischen Paranoia wiirde wohl die „halluzinatorische Verwirrtheit“
dem Delirium tremens und der Korsakowschen Psychose entsprechen,
wahrend die akute Halluzinose der Trinker sowohl als reine Hallu-
zinose als auch als akute „halluzinatorische Paranoia d. e. S.“
anzusehen ware. Femer gibt es (nacb Wernicke) Falle, in denen
nach dem Schwinden der Halluzinationen die Wahnideen noch
weiter festgehalten werden, ehe die Genesung eintritt. Bei der be-
kannten Neigung dieser Falle zur Systematisierung bieten sie also
wenigstens zeitweilig das Bild der Paranoia simplex dar, die in den
chronischen Formen als „Eifersuchtswahn“ aufzutreten pflegt.
Nach den sehr zahlreichen Angaben in der Literatur treten die
Infektionspsychosen vorzugsweise als „halluzinatorische“, „traum-
hafte“ oder auch einfache Verwirrtheit auf, also zeigen sie ge-
wohnlich inkoharente Formen. Meyer bemerkt zu den Infektions¬
psychosen: „Ihr klinisches Bild steht . . . den Fieberdelirien
sehr nahe und setzt sich aus Bewusstseinstriibung, Erregung und
Sinnestauschung zusammen.“ Mit diesen Worten ist die haufigste
Erscheinungsform der Infektionspsychosen charakterisiert, die also
den inkoharenten Varietaten der akuten halluzinatorischen Paranoia
angehort. Es kommen aber ebenfalls — abgesehen von ganz
anderen Psychosen, wie z. B. Melancholie — Falle vor, die den
Typus der Paranoia mit primaren Wahnbildungen und Hallu¬
zinationen aufweisen.
Das Moment der Erschopfung spielt bei den Infektions¬
psychosen eine wichtige Rolle — haufig ist die Infektionskrankheit
die Ursache der Erschopfung, und die entstehende Psychose muss
als Folge der auf das erschopfte Gehirn einwirkenden, der In¬
fektionskrankheit entstammenden Einflusse angesehen werden.
Es ist nicht moglich, in solchen Fallen eine zuverlassige Trennung
zwischen den Infektions- und den Erschopfungspsychosen durch-
zufiihren. Es gibt Autoren, die Erschopfungspsychosen gar nicht
anerkennen und die hierher gehorenden Falle zu den Intoxikations-
und Infektionspsychosen rechnen. Vergleiohen wir damit die An-
schauung Meyers von der chronischen Erschopfung: sie bewirkt
„wohl sicher eine Herabsetzung der allgemeinen Widerstands-
fahigkeit des Korpers und begiinstigt auf diese Weise die Ent-
wicklung von Storungen, welche ohne ihre Mitwirkung vielleicht
nicht zustande gekommen waren“. Meynert halt die nutritive Er-
schopfung fur die eine der Ursachen der idiopathischen Amentia,
auf eine vorzugsweise infolge der nutritiven Erschopfung auftretende
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342 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
bestimmte Erscheinungsform weist er nicht hin. Die klinische
Erfahrung lehrt, dass alle oben erwahnten Formen der akuten
halluzinatorischen Paranoia, sowohl die typischen Formen wie auch
die Varietaten, diese Ursache haben konnen, allerdings muss dabei
die Moglichkeit, dass es sich dabei zuweilen auch um autotoxische
Vorgange handeln kann, nicht iibersehen werden. Sommer gibt die
halluzinatorische Verwirrtheit als Symptomenkomplex an, der
u. a. auch bei Erschopfung auftritt. Ziehen weist darauf hin, dass
auf diesem Boden am haufigsten neben den Inanitionsdelirien
die Stupiditat und die halluzinatorischen und die inkoharenten
Foimen der akuten Paranoia vorkommen, sowie alle Uebergangs-
formen zwischen diesen Typen. Hier waren noch die auf experimen-
tellem Wege ermittelten Angaben Kraepelins zu erwahnen, welche
uns eine Vorstellung da von geben, in welcher Richtung die Sym-
ptome einer nur auf Erschopfung beruhenden Psychose zu finden
waren: wir werden etwa an die Symptome der Stupiditat und an die
Inkoharenz denken miissen, auch an den Symptomenkomplex des
Kollapsdeliriums. Die praktische Erfahrung lehrt, wie schon er-
wahnt, dass ein bestimmter Zusammenhang zwischen der Aetiologie
und der Erscheinungsform der Erschopfungspsychosen nicht fest-
zustellen ist. Wir stellen das auch dann fest, wenn wir die Aetiologie
einschranken, d. h. aus der Zahl der Erschopfungspsychosen die
auf ein bestimmtes Moment zuriickgehenden allein untersuchen,
z. B. die Puerperalpsychosen; allerdings stossen wir bei diesem Bei-
spiel auf die verschiedenste Beurteilung: werden sie doch nicht
nur als Folgen der Erschopfung, sondem auch als Folgen der In-
fektion und der Autointoxikation angesehen, und wird schliesshch
die Entbindung selbst nicht als Ursache, sondem als Gelegenheits-
ursache, als Anstoss zur Manifestierung eines latent schon vor-
handenen Leidens betrachtet.
Fassen wir alles Erorterte kurz zusammen, so konnen wir
nur die von Ziehen gemachten Bemerkungen wiederholen, namlich
dass die toxischen Formen am haufigsten mit vorwaltenden Sinnes-
tauschungen und die infektiosen und Erschopfungsformen am
haufigsten mit vorwaltender Inkoharenz verlaufen, genauere An¬
gaben lassen sich dariiber nicht machen. Selbst die viel einfachere
Frage, warum in einem Falle auf der Basis des chroniscben Alko-
holismus ein typisches Delirium, bei einem andero eine Halluzi-
nose sich entwickelt, beantwortet Bonhoffer mit einem Hinweis
auf die Differenz in individuellen Momenten und mit einer auf die
Lokalisationslehre sich stiitzenden Hypothese, neben welcher auch
Intensitatsunterschiede der Intoxikation von Bedeutung sein
wiirden, d. h. eine eindeutige Beziehung zwischen Ursache und
Symptomenkomplex kann auch unter verhaltnismassig giinstigen,
einfachen Bedingungen nicht angegeben werden.
Von weiteren atiologischen Faktoren ist das Trauma nach
Meynert eine wichtige Ursache, ,,hauptsachlich der amnestischen
und transitorischen Formen“. Unter dieser Bezeichnung versteht
Meynert die Dammerzustande, die ja tatsachlich symptomatisch der
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
343
akuten halluzinatorischen Paranoia nahe stehen, und zwar so nahe,
dass man sie von der Psychose kaum trennen kann. Nach Ziehen
ist das Krankheitsbild „durch massenhafte Halluzinationen,
Unorientiertheit, Inkoharenz, Schwindel, Koordinationsstorungen,
tobsiichtige Erregung und Angstaffekte“ charakterisiert, anch be-
merkt Ziehen, dass bei den Dammerzustanden ,,Halluzinationen
und Wabnvorstellungen ausnahmsweise fehlen konnen, wahrend
die Orientierung und der Zusammenhang der Ideenassoziation
stets gestort ist“. Ob wir nun nach den heutigen Anschauungen die
Dammerzustande von den Psychosen trennen oder sie mit Meynert
als amnestische oder transitoriscbe Form einer Amentia betrachten,
wir wissen, dass diese Krankheitsbilder ganz vorzugsweise den
Formen mit Inkoharenz und Sinnestauschungen, der ,,halluzina¬
torischen Verwirrtheit“ i. e. S. angehoren.
Die Frage der Bedeutung der hereditaren Belastung bei den
an akuter halluzinatorischer Paranoia erkrankenden Individuen ist
insofern von ganz besonderem Interesse, als die Annahme einer
solchen Belastung viele Autoren veranlasst hat, besondere Er-
scheinungsformen aufzustellen, die zum Teil nur bei hereditiir
Belasteten vorkommen, zum Teil durch den Einfluss der hereditaren
Belastung vom gewohnlichen Typus abweichen. Zu den exogenen
„Gelegenheits“ursachen kommen die endogenen Ursachen, die bei
manchen Formen eine ganz uberragende Bedeutung haben.
Nach Ziehen lasst sich in ungefahr 50 pCt. aller Falle eine
hereditare Belastung nachweisen; Meynert steht wohl ungefahr auf
demselben Standpunkt; er fiihrt aber an, dass nach KaMbaum und
WiUe die Vererbung bei der Amentia eine geringe Rolle spiele. Eine
bestimmte Beziehung der hereditaren Belastung zur Erscheinungs-
form wird bei den genannten Autoren nicht erwahnt. Diejenigen
Psychiater, welche die akute halluzinatorische Paranoia vorzugs¬
weise als Reaktion des Gehirns gegen eine scbadliche Einwirkung
von Infektion und Intoxikation betrachten — namentlich als
Reaktion eines erschopften Gehirns —, sind geneigt, den Einfluss
der Belastung in diesen Fallen gering anzuschlagen, die ganze Gruppe
ist ihrer Meinung nach zu den exogenen Psychosen zu rechnen.
Aber auch andere Autoren, die die akute halluzinatorische Paranoia
nicht ausschliesslich als aus exogenen Ursachen hervorgehende
Psychose betrachten, kommen einer solchen Auffassung ziemlich
nahe: Regis z. B. gibt an, dass in der Aetiologie der Confusion
mentale das wichtigste die Gelegenheitsursache, die Infektion oder
Intoxikation sei, weniger wichtig seien die „influences h6r6ditaires
diath6siques“, und noch weiter im Hintergrunde stehen die
„influences v6eaniques“. Aber aus der Auffassung der akuten
halluzinatorischen Paranoia als Reaktion des Gehimes gegen eine
schadliche Einwirkung ergibt sich die Frage: reagiert ein bereditar
belastetes Gehirn auf eine solche Einwirkung ebenso oder anders
als ein normales ? Einen solchen besonderen Typus, der ausser dem
abweichenden Symptomenbilde namentlich einen besonderen Ver-
lauf hat, nehmen z. B. Krajjt-Ebing und auch Schiile an, doch be-
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344 Bresowsky , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
zieht sich diese ihro Angabe keineswegs bloss auf die Paranoia acuta
halluzinatoria: es ist eine allgemeine, charakteristische Abweichung
vom normalen Typus, die lediglicb eine Folge der hereditaren Be-
lastung des „invaliden Gehims“ (Schiile) ist.
Diejenigen Psychiater, die die akute halluzinatorische Paranoia
fiir eine einfache funktionelle Psychose halten, schreiben der
Hereditat etwa die Bedeutung zu, die sie bei den affektiven ein-
faohen Psychosen hat. Der Prozentsatz der Falle mit nachge-
wiesener hereditarer Belastung muss aber sich als viel kleiner bei
der akuten halluzinatorischen Paranoia herausstellen als bei der
Manie oder Melancholie, weil namlich die erstere tatsachlich viel-
fach bloss als Reaktion aufzufassen ist, wie oben erwahnt. Wir
finden denn auch in den Lehrbiichem betrachtlich hohere Zahlen
fiir den Prozentsatz der hereditaren Belastung bei den affektiven
Psychosen. Dazu iiussert sich Anglade: . . . „Le terrain sur lequel
6volue la confusion mentale ne differe de celui des psychonevroses
que par la part plus restreinte qui y revient 4 l’ber6dite.“
Fiir eine ganz spezifische, nur bei hereditar Belasteten vor-
kommende Form wird von franzosischen Psychiatern (Regis) eine
Form der akuten halluzinatorischen Paranoia gehalten, bei der der
systematisierte Wahn besonders bemerkenswert ist, doch wird an-
gegeben, dass die?e Form sich nicht sicher von den nicbt auf here¬
ditarer Basis entstehenden Varietaten der Confusion mentale
trennen lasst (z. B. von der Confusion hallucinatoire avec d61ire
systematise). Die Sonderexistenz dieser Form ist, wie zugegeben,
etwas zweifelhaft, um so mehr, als das „D<Slire d’emblee, multiple,
polymorphe des d6g6n6res“, das wohl zur akuten Paranoia simplex
zu rechnen ist und das als spezifische Psychose der hereditar Be¬
lasteten gilt, ebenfalls mit der erwahnten Form viel Gemeinsames
hat imd nichts fin- eine strikte Trennung Verwertbares angegeben
werden kann.
Die klinische Erfahrung lehrt, dass ausser den auf exogene und
endogene Ursachen zuriickzufiihrenden Fallen eine betrachtliche
Zabl von mit den Symptomen der akuten halluzinatorischen
Paranoia verlaufendenErkrankungen nicht mit Sicherheit auf irgend
eine bekannte Ursache zu beziehen ist. Einer solchen Spontan-
erkrankung kommen vielleicht die Falle nahe, in denen trotz einer
bekannten exogenen Ursache der Verlauf der Krankheit ein vom
gewohnlichen, typLschen Bilde abweichender ist, sei es durch das
Auftreten von besonderen Symptomen, sei es durch eine ab-
weichende Verlaufsart. Die Spontanerkrankungen \veisen namlich
besonders haufig diese Abweichungen auf. Diese Eigentiimlichkeiten
sind von vielen Psychiatern als hinreichend charakteristisch und
wdchtig aufgefasst worden, um sie als typische Symptome von
anderen, von der Paranoia acuta hallucinatoria zu trennenden
Psychosen, anzuerkennen.
Anderereeits gibt es unzweifelhaft (cf. Thomsen) Falle von
akuter halluzinatorischer Paranoia, die auf keine bestimmte Ur-
.sache zuriickzufuhren sind, die aber den gewohnlichen Typus der
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 345
Psychose zeigen und weder besondere Komplikationen nooh eine
abweichende Verlaufsart zeigen. Die Erscheinungsform dieaer
Falle ist entweder die systematisch paranoische oder die ver-
wirrt paranoische, auch bier gehen diese Zustande haufig inein-
ander fiber. An der selbstandigen Existenz dieser Falle zu
zweifeln oder sie als episodischc Exazerbationen im Lauf einer
chronischen Psychose aufzufassen, liegt kein Grund vor, da in der
Literatur zahlreiche hierher gehorige Falle mit sich fiber eine ganze
Reihe von Jahren erstreckenden Katamnesen angeffihrt werden.
Zwar sind diese Falle nur dann sicher fiberzeugend, wenn sie mit
Genesung enden — und namentlich solche Falle sind veroffentlicht
worden, — es liegt aber doch wohl kaum ein Grund vor, die hierher
gehorenden Falle deshalb ffir ungeeignet ftir eine Durchmusterung
zu halten, weil sie nicht in Genesung, sondern in Heilung mit
Defekt oder in sekundare Demenz ausgingen. Es ist nur der Nach-
weis erforderlich, dass diese in Heilung mit Defekt oder sekundare
Demenz ausgegangenen Falle in ihrem Endstadium die charakte-
ristischen Merkmale der analogen Erkrankungsfallj mit typischer
Aetiologie aufweisen.
Ausser den erwahnten exogenen und endogenen Momenten,
die bei der Entstehung der Paranoia acuta hallucinatoria in Be-
tracht kommen, haben wir noch die psychischen Faktoren zu be-
rticksichtigen: wir finden ungemein haufig eine Gemfitserregung
teils als auslosende Ursache neben anderen Momenten, teils schein-
bar oder tatsachlich als einzige Ursache der Psychose. Diese Tat-
sache ist bereits von vielen Autoren untersucht worden. Zweig
kommt zu folgendem, die Beziehungen zwischen den korperlichen
und den psychischen Ursachen beim Zustandekommen der Amentia
(Krae'pdins) beleuchtendem Schluss: „Aetiologisch scheint bei der
Amentia das Zusammentreffen korperlicher und psychischer Ur¬
sachen wichtig zu sein. Bei Fallen, die durch akute Erkrankungen
ausgelost sind, dtirfte der psychische Faktor die Rolle des pradis-
ponierenden Moments spielen, wahrend chronische Erkrankungen
den pradisponierenden Boden abgeben, auf dem das psychische
Moment auslosend wirkt.“
Wenn wir Verlauf und Ausgang der zur akuten halluzina-
torischen Paranoia gerechneten Psychosen einer kurzen Durch¬
musterung unterwerfen, mit besonderer Bezugnahme auf das Ver-
halten der paranoischen i. e. S. und der inkoharenten Formen, so
finden wir neben vielem Gleichartigem, alien symptomatologischen
und atiologischen Sondergruppen in gleicher Weise Zukommendem
einige bemerkenswerte, diesen Sondergruppen eigentfimliche Be-
sonderheiten. Das Bemerkenswerteste ist aber der Ausgang, der
Endzustand, sofem es sich nicht um Genesung oder Exitus letalis
handelt; dem Ausgangszustand soli hier eine besondere Besprechung
vorbehalten bleiben.
Von den meisten Autoren wird angegeben, dass die Psychose
von einem Prodromalstadium eingeleitet wird; dieses hat haufig
eine ganz kurze Dauer, manchmal beginnen die Krankheitser-
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346 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
scheinungen ganz plotzdch, „ansoheinend aus voller Gesundheit“
(Westphal). Irgendwelche Beziehungen zur Aeiiologie seheinen nicht
zu bestehen, ebenso ist das anbrechende Hauptstadium der Psychose
nicht in eine innere oder auch nur konstante Verbindung mit dem
Prodromalstadium zu bringen, kurz: aus den Symptomen des
Prodromalstadiums lassen sich keine Schliisse auf die Erscheinungs-
form und den Verlauf der Psychose ziehen.
Der Verlauf der Psychose ist bekanntlich sehr verschieden-
artig, sie verlauft zuweden in mehreren Stadien, auch mit Wieder-
holung derselben Erscheiungsform. Meynert unterscheidet einfache
Formen und zusammengesetzte Formen; letztere setzen mit reiner
Verworrenheit und Reizerscheinungen ein, gehen dann in Stupor
oder Manie iiber, „konnen aus dem Stupor unmittelbar oder erst
durch Wiederkehr von Verworrenheit und Reizerscheinung in
Genesung iibergehen, auch durch ein Schlussstadium von Manie,
das dem Stupor unmittelbar oder auf die emeute Verworrenheit
folgt“. Auch Ziehen gibt an, dass der Verlauf oft ein remittierender
sei, auch konne man haufig zwei Stadien unterscheiden, das erste
mit vorwaltender Erregung, das zweite mit vorwaltender Hemmung;
das zweite Stadium ist manchmal ein pseudomelancholisches, sehr
selten ein pseudomanisches. Was die Dauer anbelangt, so sind die
zusammengesetzten Formen, die ebenso wie die einfachen in Heilung
ausgehen konnen, durch ihre ungemein lange Dauer ausgezeichnet;
Meynert fuhrt an, dass die Krankheit mehr als 1000 Tage dauern
konne, und wamt vor Verwechselung mit sekundarer Geistes-
storung: „Die ganze Geisteskrankheit kann scheinbar versumpfen,
ungezahlte neue Erregungsstadien mit besseren Zeiten und zahl-
reichen tiefen Erschopfungen wechseln lassen.“ Die Aussicht auf
Genesung diirfte noch festgehalten werden, „so lange langlaufige
Umformungen des Krankheitsbildes noch mit einander wechseln“.
Immerhin ist eine mit zweitem pseudomelancholischem oder
pseudomanischem Stadium zusammengesetzte Form als durchaus
seltenes Vorkommnis zu bezeichnen, wenn man von den nicht
seltenen Fallen absieht, die nach einem bloss einige Tage oder mehr
dauemden aufgeregten halluzinatorischen oder Verwirrtheitszustand
mit Inkoharenz in einen ruhigeren, melancholisch, manisch oder
paranoisch gefarbten Zustand ubergehen. Die Dauer solcher Falle
wie uberhaupt der Falle von einfacher, unkomplizierter Amentia
im Sinne Meynerts wird von ihm als zwischen zwei bis drei Wochen
und 100 bis 200 und 300 Tagen schwankend angegeben; letztere
Zahlen sind nach heutigen Erfahrungen fiir den Durchschnitt viel
zu gross; Ziehen gibt als Dauer des durchschnittdchen Gesamt-
verlaufs sechs Monate an, ahndche Angaben finden wir bei den
meisten Autoren.
Was die verschiedenen Erscheinungsformen der akuten
haduzinatorischen Paranoia anbetrifft, so lasst sich ein Unterschied
in der Dauer der Psychose etwa zwischen den haduzinatorischen
und systematisierenden Formen einerseits und den inkoharenten
andererseita nicht feststeden, die in der Literatur veroffentlichte
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 347
Kasuistik der hierher gehorenden Falle lasst keinen anderen Schluss
zu. Es handelt sich dabei vielfach um solche Falle, die in Heilung
ausgingen, bezuglich der Falle mit ungiinstigem Ausgang lasst sich
zunachst bloss sagen, dass ihre Beurteilung von Seiten der Autoren
sehr schwankt: das Krankheitsbild wird vielfach. nur als episo-
disches Zustandsbild im Lauf einer chronischen Psychose be-
trachtet und die Zeit, die bis zum Schwinden der akuten Symptome
vergeht, ziemlich unbestimmt angegeben, auch abgesehen von
Remissionen. Von der Amentia gibt Meynert , wie schon erwahnt,
an, dass die Hoffnung auf Genesong auch bei langerer Bauer der
Krankheit (Meynert gibt gegen 3 Jahre an) nicht aufgegeben zu
werden braucht; wir konnen mit ziemlicher Bestimmtheit an-
nehmen, dass sich in weitaus den meisten Fallen ein annahernd
sicheres Urteil iiber den weiteren Verlauf bereits viel friiher abgeben
lasst. Nach Meynert sind die Aussichten auf einen giinstigen Aus¬
gang trotz abnorm langer Bauer der Psychose solange als vorhanden
zu betrachten, als das Zustandsbild wesentliche Aenderungen zeigt,
d. h. so lange es noch nicht zum charakteristischen einformigen
Ausgangsstadium gekommen ist. Eine so lange dauemde Verlaufs-
art gebort jedenfalls zu den seltensten Vorkommnissen, die klinische
Erfahrung lehrt, dass in weit kiirzerer Zeit, etwa in 5 bis 6 Monaten,
zuweilen sogar noch friiher, die Psychose eine Wendung nimmt,
die einen best imm ten Schluss auf den weiteren Verlauf zu ziehen
gestattet, und zwar trifft dieses namentlicb fur die inkoharenten
Formen zu; die halluzinatorisch-paranoischen i. e. S. diirften etwas
weniger sicher auf ihren femeren Verlauf zu beurteilen sein, am
wenigsten sicher lasst sich der weitere Verlauf der akuten systema-
tisierenden Formen mit vereinzelten Halluzinationen voraussehen.
Innerhalb der angegebenen Zeit, namlich im Laufe von etwa 5 bis
6 Monaten, hat in den meisten Fallen der Verlauf der Psychose eine
deutliche Aenderung oder Wendung nach irgend einer Richtung
bin gezeigt; wir sehen z. B. in den giinstig verlaufenden Fallen
mit dem Verblassen der akuten Krankheitserscheinungen eine
unzweifelhafte Besserung des psychischen Gesamtzustandes ein-
treten, in den ungiinstig verlaufenden Fallen zeigt das Krankheits¬
bild entweder kein Fortschreiten nach irgend einer Richtung,
dagegen Fortbestehen und Einformigwerden der psycbischen
Aeusserungen, sowie haufigAuftreten oder Fortbestehen von ausser-
lich unvermittelten voriibergehenden Erregungszustanden — oder
aber bei Wiedergewinnung der verlorenen Orientiertheit und
Verblassen von Sinnestauschungen Fortbestehen einer erhebliohen,
haufig in der Intensitat wechselnden Inkoharenz der sprachlichen
Aeusserungen und des Gedankenablaufs — oder aber wir kon-
statieren einen einfachen psychischen Befekt. Bie Falle dagegen,
iiber deren mutmasslichen weiteren Verlauf man innerhalb der
angegebenen Zeit nichts Bestimmtes aussagen kann, gehoren wohl
zum grossten Teil der chronischen halluzinatorischen und einfachen
Paranoia an: es hat sich in diesen Fallen um einen verhaltnis-
massig akut einsetzenden Beginn einer chronischen Paranoia
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348 Bre sowsky, Ueber die Beziehungen der Parjmoia acuta
oder aber um eine den Eindruck einer akuten Psychose machende
Exacerbation eines schon bestehenden chronischen psychiscben
Leidens gehandelt oder schliesslich, nach Meynert, um eine wahrend
einer bestehenden Paranoia voriibergehend auftretende Er-
schopfungsamentia, die als akute Psychose ablauft, ohne ursachliche
Beziehungen zur schon bestehenden chronischen Psychose zu haben.
Ueberschauen wir diese Verhaltnisse, d. h. Verlauf und Dauer
bei den Fallen mit nachweisbarer Aetiologie, so finden wir, dass die
einfachsten und auch gxinstigsten Verhaltnisse bei den Intoxi-
kationspsychosen vorwalten. In der Tat wird iiberall in der Literatur
angegeben, dass z. B. die akuten halluzinatorischen Alkohol-
psychosen in den weitaus meisten Fallen in ganz kurzer Zeit, einigen
Tagen bis einigen Wochen, verlaufen, nur ganz ausnahmsweise
erstreckt sich der Verlauf iiber einige Monate (nach Ilberg bis auf
15 Wochen). Die Verlaufsart ist so gut wie immer eine einfache,
d. h. es handelt sich nur um einen einzigen psychopathischen Zu-
stand, der im ganzen Verlauf der Psychose das Krankheitsbild
darstellt. Femer steht fest, dass die Formen mit systematisierender
Wahnbildung die langste Dauer haben, die geringste Zeit zur Riick-
bildung brauchen die mit akuter halluzinatorischer Verwirrtheit aus-
brechenden Falle; ein Delirium tremens kann sich im Laufe einiger
Tage ausgleichen. Was den Ausgang anbelangt, so erweist es sich,
dass die akuten Alkoholpsychosen neben kurzer Dauer und einfacher
Verlaufsart auch einen giinstigen Ausgang zeigen, nur bei wieder-
holtem Rezidiv beobachten wir einen Ausgang in psychischen
Defekt. Eine wesentlich schlechtere Prognose scheinen die Intoxi-
kationen mit anderen Stoffen, namentlich Metallgiften, zu haben,
doch handelt es sich hier hauptsachlich um chronische Er-
krankungen.
Die auf Erschopfung zuriickgehenden Falle der akuten
halluzinatorischen Paranoia scheinen gewohnlich unter den Sym-
ptomen einer akuten halluzinatorischen Verwirrtheit zu verlaufen,
die spaterhin in ein ruhiges Stadium ohne Sinnestauschungen
iibergehen. Nach Kraepelin haben diese Falle keine ungiinstige
Prognose. Obschon die Versuche Aschaffenburgs richtige Hinweise
auf die spezielle Symptomatologie der Erschopfungspsychosen geben,
sind diese Symptome doch nicht charakteristisch in dem Sinn, dass
sie ein brauchbares Unterscheidungsmerkmal gegeniiber den Fallen
der akuten halluzinatorischen Paranoia mit anderer Aetiologie
abgaben, es lasst sich aus dem Verlauf nicht auf die Aetiologie
schliessen. Plotzlich ausbrechende Falle auf dem Boden der akuten
Erschopfung verlaufen haufig unter dem Bilde des Collapsdeliriums,
das von vielen (u. A. Kraepelin, Binswanger) als stiirmischste Form
der Erschopfungspsychose betrachtet wird, mit kurzer Dauer und
im ganzen ernster, aber nicht ungiinstiger Prognose. Es lasst sich
nichts besonders Charakteristisches fur den Verlauf der auf Er¬
schopfung zuriickgehenden Falle anfiihren. Raecke gibt an, dass
es moglich ist, in manchen Fallen mehrere Verlauifsstadien zu
unterecheiden; diese Stadien wiirden sich aber nur in den Fallen
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
349
mit primarer Inkoharenz abgrenzen lassen, und femer lehrt die
klinisohe Erfahrung, dass es nur ein Teil der zugehorigen Psychosen
ist, an dem man diese Stadien tatsaohlich beobachten kann und
dass femer auch andere, namentlich postinfektiose Falle, zum Teil
ebenso verlaufen.
Ueber den Verlauf und die Dauer der infolge von Infektion
oder mit Infektion kombinierten atiologischen Momenten zum
Ausbruch gekommenen Falle lasst sich kaum etwas Bestimmtes,
aligemein Giiltiges, sagen. Die Dauer schwankt ganz ungemein,
ebenso der Verlauf; es kommt hier wohl in ganz besonderem Masse
das Verhaltnis zwischen der Sohwere der Erkrankung, gewisser-
massen der Intensitat der den psychischen Erscheinungen zugrunde
liegenden abnormen materiellen Vorgange und den vorhandenen
Kraften, der Widerstandsfahigkeit des erkrankten Organes oder
Kdrpers in Betracht. Beziiglich des Verlaufes muss bemerkt werden,
dass wir in diesen Fallen die grosste Mannigfaltigkeit der Er-
scheinungsformen beobachten; es scbeint jedoch, dass auf diesem
Boden am haufigstender Symptomenkomplex der halluzinatorischen
Verwirrtheit angetroffen wird, auch scheinen Unregelmassigkeiten,
Komplikationen des Verlaufs, Wechsel des psychopathischen Zu-
standes, haufiger vorzukommen als bei den auf Intoxikation und
Erschopfung beruhenden Fallen. Vielleicht konnte man zur Er-
klarung dieser Tatsachen die Annahme heranziehen, dass es sich in
diesen Fallen besonders haufig um sekundare Einfliisse handelt,
bedingt durch die infolge der Psychose entstandene cerebrale Er¬
schopfung, die nun ihrerseits das Bild der Erkrankung in ihrem
Sinn zu verandem und ebenso auf Verlauf und Dauer des Falles
einzuwirken vermag. Ueber Verlauf und Dauer der einzelnen
Erscheinungsformen — der inkoharenten und der halluzinatorisch-
und systematisiert-paranoischen — lasst sich nichts Bestimmtes
angeben, es kommt am haufigsten ein Mischtypus vor; iibrigens
ist es haufig, namentlich bei langere Zeit dauemdenFallen, sohwierig
oder fast gar nicht moglich, im einzelnen nachzuweisen, ob es sich
um eine echte Inkoharenz der Ideenassoziation oder bloss um eine
scheinbare Inkoharenz der sprachlichen Aeusserungen bei besser
erhaltener Assoziation handelt, die vielleicht von Sinnestauschungen
und Wahnvorstellungen abhangig ist. Die primare Inkoharenz
bildet haufig das primare und dominierende Symptom, ist aber doch
gewohnlich auf eine im Verhaltnis zur Gesamtdauer der Krankheit
kurze Zeit beschrankt; es scheint, dass das langere Zeit hinduroh
unveranderte Fortbestehen der inkoharenz von Bedeutung fur
den weiteren Verlauf ist, insofem als diese Falle gewohnlich nioht
zur Heilung kommen.
Von den anscheinend ganz ohne nachweisbare Ursache auf-
tretenden Fallen der akuten halluzinatorischen Paranoia lasst sich
in Bezug auf Dauer und Verlauf ebenfalls nichts Bestimmtes sagen;
in vielen Fallen ist der Verlauf ganz analog dem gewohnlichen.
bekannten Typus, die Psychose hat keine abnorm lange Dauer,
weist auch keine symptomatologischen Eigentiimlichkeiten auf,
Monatsschrlft fOr Psychlatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 4. 24
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350 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
zeigt keinen komplizierten Verlauf, hat einen giinstigen Ausgang;
in andem Fallen tritt ein ungiinstiger Ausgang ein, ohne dass wir
imstande waren, aus dem symptomatologischen Zustandsbilde
und dem anfanglichen Verlauf einen solchen ungiinstigen Ausgang
vorauszusehen; vielfach tritt die Psychose von vornherein mit
primaren dauernden Affekt- und Assoziationsstorungen im Sinne
der Varietaten der akuten halluzinatorischen Paranoia auf, um
dann nicht selten in gewissen Fallen einen Ausgang zu nehmen,
der zum Teil in so charakteristischer Weise mit der symptomato¬
logischen Erscheinungsform verbunden zu sein scheint, dass viele
Psychiater annehmen, dieser Ausgang sei bereits in der Psychose
enthalten, gehore zu ihrem Wesen, d. h. der ungiinstige Ausgang
hange in diesem Falle nicht von der Schwere der Erkrankung oder
der mangelnden Widerstandsfahigkeit des erkrankten Gehiroes
ab, sondem der Ausgang stelle gewissermassen das Ziel vor, zu dem
die gesamte Entwicklung des Krankheitsvorganges hinleite, oft
unter Stillstanden und scheinbaren Besserungen. Auch hier handelt
es sich grosstenteils um Formen, die weder dem inkoharenten,
noch dem halluzinatorischen oder systematischen Typus ganz an-
gehoren, es treten alle Typen auf, haufig mit episodischen Er-
regungszustanden. Diesen Fallen stehen nahe oder sind wahr-
scheinlich ganz gleichwertig solche Erkrankungsfalle, bei denen
die Psychose zwar nicht ganz spontan ausbricht, in welchen aber
die Wirkung zur Geringfiigigkeit der Ursache in gar keinem Ver-
haltnis steht; man geht wohl nicht fehl, wenn man annimmt, dass
hier doch wohl kein innerer Zusammenhang zwischen der Psychose
und ihrer scheinbaren Ursache besteht, sondem dass es sich um
eine Gelegenheitsursache handelt bei einem aus andem, inneren
Griinden zum Ausbruch der Psychose reifen oder fahigen Gehim.
Damit nimmt aber die Wahrscheinlichkeit zu, dass in diesen Fallen
anscheinend spontaner Erkrankung der Verlauf und vielleicht
auch der Ausgang in einem hohem Masse an das Wesen der Psychose
gekniipft sind als in den andem Fallen, d. h. dass in diesen Fallen
der Einfluss der Individualitat und der Widerstandsfahigkeit des
Erkrankten und femer der Schwere der Erkrankung auf den Ver¬
lauf und den Ausgang geringer sind als sonst, doch ist dies nur eine
Annahme, die sich allerdings dem Beobachter mit einer gewissen
Wahrscheinlichkeit aufdrangt.
Wenden wir uns nunmehr den Varietaten der akuten halluzina¬
torischen Paranoia zu. Der Verlauf der ideenfliichtigen Varietat,
die bekanntlich nicht selten zu gleicher Zeit mit primarer Exaltation
verbunden ist, zeigt gewohnlich das Bild der Psychose mit gelegent-
licher, sekundarer und auch primarer Inkoharenz; es gibt aber
unzweifelhafte Falle, in denen die Inkoharenz primar und vor-
waltend auftritt, wahrend das Krankheitsbild deutliche Anzeichen
der Ideenflucht aufweist, es handelt sich in einem solchen Fall um
eine ideenfliichtige Amentia. Die Tatsache, dass die Inkoharenz
in diesen Fallen primar ist und nicht Folge der Ideenflucht, kann
oft nur unter Schwierigkeiten festgestellt werden; sie muss ausser
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
351
aus den sprachlichen Aeusserungen auch noch aus andem Um-
standen erschlossen werden, um als erwiesen gelten zu konnen.
Ueber den Verlauf und die Dauer dieser Falle, der ideenfliichtig-
paranoischen und der viel selteneren ideenfliichtig-inkoharenten,
lasst sich nur im allgemeinen sagen, dass die Falle ohne Inkoharenz
einen einfacheren Verlauf und wohl gewohnlich eine kiirzere Dauer
aufweisen, der Ausgang ist nach Ziehen giinstiger als beim Durch-
schnitt der akuten halluzinatorischen Paranoia. Die ideenfliichtige
Amentia scheint einen langer dauemden Verlauf und vor alien
Dingen einen viel weniger giinstigen Ausgang zu haben; wir werden
bei diesem Umstand an die Ansicht Schides und Krajlt-Ebingn er-
innert, die eine derartige Entwicklung der Symptome und des
Verlaufs dem invaliden oder pradispon^erten „belasteten“ Gehim
zuschreiben. Uebrigens sind beide Varietaten, die inkoharente und
die einfach ideenfliichtige, eng mit einander verwandt und bilden
den Uebergang von der akuten halluzinatorischen Paranoia zur
Manie, man beobachtet hin und wieder bei einem rezidivierenden
Fall dieser Art, dass von den Anfiillen die einen den Typus der
Manie zeigen, wahrend die andem das Bild der ideenfliichtigen
Varietat oder der inkoharent-ideenfliichtigen Form der akuten
halluzinatorischen Paranoia aufweisen. Es kommt auch zuweilen
vor, dass bei haufigen Rezidiven der Typus sich vom rein ideen-
fluchtigen allmahlich zum inkoharenten verschiebt, um schliesslich
in einen echten sekundaren Defektzustand auszugehen, der den
Typus der Erregung und Inkoharenz zeigt. Die Varietat mit
primarer Exaltation ohne Ideenflucht verhalt sich ebenso. Die
Tatsache, dass diese Varietaten Uebergange zur Manie vorstellen,
hat viele Psychiater bewogen, sie zur Manie zu reehnen; Wernicke
spricht von der verworrenen Manie, Kraepelin rechnet alle diese
Falle zum manisch-depressiven Irresein, schon vor langerer Zeit
hatte Mendel sie als Mania hallucinatoria beschrieben.
Wahrend die ideenfliichtige Varietat in vielen Fallen zugleich
eine exaltierte ist, lasst sich bei der depressiven Varietat eine Kom-
bination mit der stuporosen weit seltener beobachten, so kommen
aber zweifellos alle Zwischenstufen vor. Die depressive Varietat
bildet den Uebergang zur entsprechenden Affektpsychose und wird
daher von vielen als Melancholie mit Wahnbildung aufgefasst.
Wir beobachten neben rein halluzinatorischen und systematisierten
Formen der depressiven Varietat auch Formen mit primarer
Inkoharenz; bei diesen schliessen wir auf die depressive Stimmung
teils aus den inkoharenten, aber doch die Stimmung verratenden
Aeusserungen, teils aus dem typischen depressiven Gebahren,
das noch lang nach dem Verlust des Zusammenhangs der Ideen-
assoziation fortbestehen und erkennbar sein kann. Ueber Verlauf
und Dauer dieser depressiven Varietat mit und ohne Inkoharenz
lasst sich nichts Spezielles aussagen, es mtissen hier dieselben
Erwagungen geltend gemacht werden, wie sie uns nach dem Vor-
gange von Schiile und Krafft-Ebing fiir die exaltierten Formen
massgebend erschienen.
24 *
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352 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Die stuporose Varietat stellt den Uebergang zwischen der
akuten halluzinatorischen Paranoia und der Stupiditat dar; wir
beobachten in diesen Fallen neben den Grundsymptomen der
Paranoia eine primare Hemmung, und zwar ausser einer primaren
Denkhemmung eine motorische Hemmung. Dieses Symptom —
die motorische Hemmung — und die Rolle der motorischen Er-
scheinungen im Krankheitsbilde der hierher gehorenden Fall©
iiberhaupt ist bekanntlich der Gegenstand und der Ausgangspunkt
zahlreicher Untersuchungen ge worden, die zu den verschiedensten
Ergebnissen geffihrt haben, vor alien andero bat KaMbaum auf
Grund seiner Untersuchungen solcher Falle die Katatonie auf-
gestellt. Von vielen Psychiatem wird dieser Begriff in dem Sixm
verstanden, dass mit der Bezeichnung Katatonie eine besondere,
durch motorische Symptome ausgezeichnete Varietat der akuten
halluzinatorischen Paranoia gemeint wird. Schiile z. B. aussert
sich in folgender Weise iiber den „attonischen Wahnsinn — die
Katatonie": „Die Katatonie ist eine spezielle Erscheinungsform
des akuten halluzinatorischen Wahnsinns und dadurch gekenn-
zeichnet, dass als wesentliches Krankheitselement eine motorische
Spannungsneurose sich einstellt, bald anhaltend, bald fliichtig
intermittierend, wahrend zugleich das Bewusstsein durch Halluzina-
tionen und Illusionen tiberffillt, sich vor den Perzeptionen von
aussen mehr oder minder vollstandig abschliesst.... Der psychische
Zustand kann ... entweder inhaltlich auf derTraumstufe des akuten
Wahnsinns bleiben, oder aber auf die des wirklichen temporaren
Blodsinns (Stupors) herabsinken. Aus beiden Phasen ist voll-
standige geistige Erholung moglich. . . . Der Verlauf ist stets ein
zyklischer. . . . Der Ausgang ist Genesung oder bleibende (eigen-
artige) Geistesschwache." Heben wir das Wesentlichste noch be-
sonders hervor, so finden wir, dass nach Schiile die Katatonie eine
Psychose ist mit kompliziertem (,,zyklischem“) Verlauf, eigen-
artigen motorischen Symptomen, zwischen der akuten halluzma-
torischen Paranoia und der Stupiditat stehend, mit einem Ausgang
in Genesung oder sekundaren Schwachsinn. Fasst so Schiile die
Katatonie als spezielle Erscheinungsform der akuten halluzina¬
torischen Paranoia auf, so ist die Beurteilung der Katatonie von
Seiten vieler anderer Psychiater aus verschiedenen Griinden eine
ganz andere; es wiirde den Rahmen dieser Arbeit iiberschreiten,
wenn wir uns hier mit den Ergebnissen der zahkeichen Arbeiten
iiber diese Fragen beschaftigen wollten, nur insofem, als die ge-
ausserten Ansichten sich direkt auf die uns hier beschaftigende
Frage beziehen, d. h. Verlauf, Dauer und Ausgang der stuporosen
Varietat der akuten halluzinatorischen Paranoia betreffeD, sei hier
das Wesentlichste kurz angefiihrt.
Kahlbaum aussert sich fiber seine Katatonie in folgender Weise:
„Die Katatonie ist eine Gehimkrankheit mit zyklisch wechselndem
Verlaufe, bei der die psychischen Symptome der Reihe nach das
Bild der Melancholie, der Manie, der Stupeszenz, der Verwirrtheit
und schliesslich des Blodsinns darbieten, von welchen psychischen
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hallucinatoria (Weetphal) zur Amentia (Meynert).
353
Gesamtbildem aber eins oder mehrere fehlen konnen, und bei der
neben den psychischen Symptomen Vorgange in dem motorischen
Nervensystem mit dem allgemeinen Character des Krampfes als
wesentliche Symptome erscheinen“. Diese Definition steht voll-
standig auf dem Boden der Anschauungen der alteren deutschen
Psychiatrie, die Katatonie erscheint hiemach etwa als Mania
typiea mit motorischen Symptomen. Dagegen gewinnt bei der schon
erwahnten Forderung Kahlbaumt, das Wesentliche einer Psychose
im Gesamtverlauf und Ausgang zu sehen, der Ausgang der Psychose
in ,,Blodsinn“ eine ganz wesentliche Bedeutung, da dieser Ausgang
nunmehr als das der Psychose innewohnende, sozusagen normale
Ende oder Ziel erscheint. Die Katatonie ist also nach Kahlbaum
eine Psychose mit kompliziertem („zykhschem“) Verlauf, eigen-
artigen motorischen Symptomen und Ausgang in einen Defekt-
zustand.
Kraepelin glaubt nicht, dass alle von Kahlbaum vereinigten
Krankheitsbilder zusammengehoren, er schrankt den Begriff der
Katatonie ein, nach Kraepelin handelt es sich im wesentlichen um
das Auftreten eigentiimlicher, meist in Schwachsinn ausgehender
Zustande von Stupor oder Erregung mit den Erscheinungen des
Negativismus.derlmpulsivitat undVerschrobenheit, derStereotypie
und Suggestibility in Ausdrucksbewegungen und Handlungen.
Aus der eingehenden Beschreibung des Krankheitsbildes ent-
nehmen wir, dass auch Sinnestauschungen und Wahnvorstellungen
auftreten; diese Symptome gehoren mit zum Krankheitsbilde,
freilich olme eine wesentliche Rolle zu spielen. Dagegen erscheint
die motorische Seite des Krankheitsbildes durch die Einbeziehung
von Erregungszustanden ganz wesentlich erweitert. Wie bei Kahl¬
baum erscheint auch hier als das Wesentliche der Verlauf und Aus¬
gang, wobei die einzelnen Symptome, trotz ihres vielfach ganz
spezifischen Charakters, nicht massgebend sind, sondem ihre
Gesamtheit oder Kombination. Die Katatonie erscheint als Form
der Dementia praecox.
Nach Sommer ist die Katatonie ein idiopathischer Symptomen-
komplex, ,,in welchem Stereotypie vonHandlungen undBewegungen
sich mit wechselnden Zustanden von Melancholie, Manie, Wahn-
sinn und Verwirrtheit verbunden zeigt“. Hiernach sind die moto¬
rischen Eigentiimlichkeiten das Eigentlicbe, Wesentliche des
Krankheitsbildes, die psychischen Symptome sind zu Neben-
symptomen geworden, eine Betrachtungsweise, die der Auffassung
der Katatonie als einer blossen „Myopsychie“ nicht allzu fern steht.
In der Auffassung Kraepelins erscheinen die paranoischen Sym¬
ptome als Merkmale oder Aeusserungen eines fur den Gesamt¬
verlauf belanglosen Zustandsbildes, doch ist das Krankheitsbild
der Katatonie ohne die charakteristischen psychischen Symptome
undenkbar, diese Symptome sind in ihrer Eigenart fur die Psychose
pathognomonisch. Gehort somit nach Kraepelin' s Auffassung
ein Zustandsbild mit den Merkmalen der akuten halluzinetorischen
und stuporosen Paranoia zu den Phasen des Verlaufs der Katatonie,
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354 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
so fehlt bei Sommer jede bestimmte Beziehung zu den akuten
paranoisch-halluzinatorisehen Zustanden, doch gibt er an, dass die
Katatonie bei dem Uebergang zum Schwachsinn eine Reihe von
Ziigen zeigt, welche symptomatisch Beziehung zur Paranoia, zum
Wahnsinn und zur halluzinatorischen Verwirrtheit haben. Dagegen
erscheint bei Kraepdin als ganz wesentlich der Ausgang in einen
eigenartigen psychischen Schwachezustand, der somit nicht in der
Heftigkeit der Erkrankung, der Individualitat oder der Wider-
standsfahigkeit des Erkrankten liegt, sondem in dem Wesen der
Psychose.
Es fragt sich nun, ob diese, als Katatonie beschriebene Psychose
iiberhaupt noch zur stuporosen Varietat der akuten halluzina¬
torischen Paranoia gerechnet werden kann, und wie sich die spezielle
Symptomatologie der stuporosen Varietat zur Katatonie verhalt.
Zunachst muss festgestellt werden, dass es unzweifelhaft Falle der
stuporosen Varietat gibt, in denen ausser den paranoischen Sym-
ptomen mu' primarer Stupor beobachtet werden kann. Diese Falle
miissen als tatsachliche Zwischenstufe zwischen der akuten hallu¬
zinatorischen Paranoia und der Stupiditat betrachtet werden;
fiir die Bedeutung der Inkoharenz in diesen Fallen, sowohl der
gelegentlichen, als auch der vorwaltenden, gilt das schon bei den
anderen Varietaten Gesagte in gleicher Weise. Anders aufgefasst
und keineswegs in einheitlicher Weise beurteilt werden die Falle,
in denen es sich um akute halluzinatorische Paranoia mit
Stereotypie von Haltungen und Bewegungen handelt. Nach Schiile
ist, wie schon erwahnt, diese Form eine Untergruppe des Wahnsinns,
der Paranoia, und wie wir aus seiner Beschreibung des klinischen
Bildes solcher Krankheitsfalle entnehmen, halt er die symptomato-
logischen Eigentiimlichkeiten der Psychose, die von ihm deutlich
und eingehend beschrieben werden, nicht fiir so bedeutungsvoll,
dass ihr Auftreten fiir die Kennzeichnung einer besondem, von
dem „akuten Wahnsinn“ prinzipiell zu trennenden Psychose aus-
reichend ware. Rechnet man diese Falle zur akuten halluzina¬
torischen Paranoia, so muss man beziiglich des Verlaufs und Aus-
gangs annehmen, dass die katatonischen Symptome ein ungiinstiges
Zeichen sind, insofem als sie zwar nicht wegen der der Psychose
zugrunde liegenden Tendenz, sondern aus andem, gewissermassen
„ausseren“ Griinden die Prognose ganz erheblich versch lech tern,
d. h. gewohnlich zur sekundaren Demenz fiihren oder vielmehr
diesen Ausgang mit grosser Wahrscheinlichkeit anzeigen. Ziehen
aussert sich in diesem Sinne, wenn er angibt, dass der Ausgang in
sekundare Demenz besonders in denjenigen Fallen zu befurchten
ist, in denen zahlreiche primare (d.b.nicht durch Sinnestauschungen,
Wahnvorstellungen oder Affekte bedingte) stereotype (katatoniscbe)
motorische Erregungen auftreten. Nach anderen Psvchiatem hat
das Auftreten von katatonischen Symptomen keine so ungiinstige
prognostische Bedeutung.
Wenden wir uns nunmehr zur Frage, wie sich innerhalb des
gelegentlich als Varietat der akuten halluzinatorischen Paranoia
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
355
aufzufassenden Krankheitsbildes der Katatonie die paranoischen
Symptome und die primare Inkoharenz verhalten. Die klinische
Erfahrung lehrt, dass wir in diesen Fallen haufig eine eigentumliche
Mischung oder ein Nebeneinanderbestehen von halluzinatorischen,
wahnhaften und inkoharenten Zustanden feststellen konnen, im
grossen und ganzen beobachten wir aber, dass es vorzugsweise
Halluzinationen und Wabnvorstellungen sind, die das psychische
Krankheitsbild der Katatonie charakterisieren, Inkoharen 7 . kommt
nicht selten nur gelegentlich zur Beobachtung, urn dann wieder
den primar paranoischen Symptomen Platz zu machen. Nament-
lich in diesen Fallen beobachteten wir eine scheinbare Inkoharenz,
die dadurch hervorgerufen wird, dass der Kranke seine Aufmerk-
samkeit auf die inneren Vorgange konzentriert und den Zusammen-
hang mit der Aussenwelt nur notdiirftig oder gar nicht aufrecht
erhalt, auch wohl wahnhaft beurteilt, wenn er unter der unein-
geschrankten Herrschaft des Wahnes steht. Aus den Beschreibungen
des klinischen Bildes dieser Psychose konnen wir zahlreiche ahnliche
Beobachtungen entnehraen, z. B. aussert sich Schiile: „Der Kranke
geht immer mehr in einem wahnhaften Innenleben, in dessen Bann
nun auch Sinnestauschungen aller Art einriicken, unter.“ Ferner:
„Auf der Hohe der vollentwickelten Krankheit bleibt das Bewusst-
sein oft durch Wochen hindurch annaher nd oder ganz auf der
Traumstufe mit entsprechendem Abschluss der Aussen-Perzeption.
Um so reicher entfaltet sich ein halluzinatorisches Innenleben;
doch konnen auch einzelne dammerbafte, meist illusorisch um-
deutete Wahmehmungen sich einmischen. Zeitweilig sogar iiber-
rascht plotzlich eine ganz richtige Perzeption mit planvoll be-
messener Entausserung. Alle Phasen der Bewusstheit spielen in
einander.“ Auch in den Schilderungen Kraepelins wird wiederholt
auf die dem aus-eren Anschein durchaus widersprechende erhaltene
oder wenig geschadigte Auffassung und Orientiertheit hingewiesen.
Wir finden aber aucb hier die Angabe, dass der Ged&nkengang
,,zerfahren“, unzusammenhangend sei. Es gehort nun allerdings
zu den Eigentiimlichkeiten dieser Zustande, dass die motorischen
Eigentiimlichkeiten sich auch auf das sprachliche Gebiet erstrecken
imd uns damit haufig eine Beurteilung des Gedankenablaufs sehr
erschweren. Uebrigens machen wir sehr haufig die Beobachtung,
dass die erwahnten motorischen und anderen Eigentiimlichkeiten
bei den Katatonikern sicher sekundar sind, bedingt durch Hallu¬
zinationen oder Wahnvorstellungen. Es kann auch namentlich
eine scheinbare Inkoharenz vorgetauscht werden, meist aber handelt
es sich um Storungen des Sprachzusammenhanges, des Satzbaues
usw., um „Sprachverwirrtheit“ (Kraepelin). Wir haben es zwar
oft mit schwerer Inkoharenz der sprachliohen Aeusserungen zu
tun, es ist aber fraglich, ob dieser sprachliohen Inkoharenz auch
tatsachlich eine entsprechende Inkoharenz der Ideenassoziation
zugrunde liegt. In vielen Fallen gelingt es uns, festzustellen, dass
die Inkoharenz anscheinend ganz vorzugsweise die sprachliche
Funktion ergriffen A hat, wahrend Auffassung und Orientiertheit
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356 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
wenig oder gar nicht gelitten haben. Aus dieser Tatsache folgern
manche Psychiater, dass die Storung der sprachlicben Funktion
in diesen Fallen sich in analoger Weise wie viele andere motorische
Eigentiimlichkeiten unbewusst, unbeabsichtigt, ohne irgend einer
Vorstellung zu entsprechen, vollzieht und somit als motorische
primare Inkoharenz aufgefasst werden kann. Andererseits lasst
das Bestehen von Stereotypien in Stellungen und Bewegungen mit
grosser Wabrscbeinlichkeit darauf schliessen, dass wohl auch die
Halluzinationen und Wahnvorstellungen in diesen Fallen bestandig
sind, nicht fliichtig und wechselnd wie bei der typischen inko-
barenten Paranoia acuta. Die sprachliche Inkoharenz, die be-
kanntlich sehr weitgehend sein und bis zur volligen Auflosung der
Sprache in einzelne Silben und Laute fortscbreiten, andererseits
zur vollig zusammenhanglosen Rede bei erbaltener ausserer Form
und scheinbar erhaltenem Satzbau werden kann, wird, ebenso
wie die Inkoharenz der Ideenassoziation, manchmal dadurch vor-
getauscht, dass die Kranken die verbindenden Vorstellungen nicht
in Worte kleiden. Die dauernde vollige Dissoziation zwischen
Oedankengang und Sprache bei sonst fehlenden Storungen der
Ideenassoziation ist wohl schon ein Symptom des Endstadiums,
des Ausgangs. Wir miissen also in diesen Fallen von der primaren
Inkoharenz unterscheiden: die Falle von Inkoharenz infolge von
,.Bewusstseinseinengung“, die Falle scheinbarer Inkoharenz infolge
von sprachlicher Inkoharenz bei erhaltener Ideenassoziation und
schliesslich, im Ausgangsstadium, die Inkoharenz infolge von
eingetretener Demenz. Sehr zu gunsten der Annahme, dass die
Inkoharenz bei den katatonischen Formen nur eine gelegentliche,
vorvibergehende Rolle spielt, scheint die von alien Psychiatem
bemerkte Tatsache zu sprechen, dass das Gedachtnis, die Erin-
nerung selbst an die Zeiten scheinbar tiefster Benommenheit und
Verwirrtheit iiberraschend gut erhalten ist. Bei echter primarer
Inkoharenz wiirden wir nichts ahnliches feststellen konnen.
Wie wir sehen, entsprechen die psychischen Symptome der
katatonischen Formen der halluzinatorischen Paranoia teils der
stuporosen und teils der inkobarenten Varietat, doch spielt letztere
nur eine geringe Rolle, erst im Ausgangsstadium wird die Inkoharenz
allgemein, d. h. bei den nicht in Genesung ausgehenden Fallen;
sie kann bereits als Symptom des unheilbaren Endzustandes auf¬
gefasst werden, der hcchstens durch hohere Grade der Demenz
mit sekundarer Inkoharenz abgelost werden kann. • Diese Reihen-
folge ist bereits von den alteren deutschen Psychiatem beobacbtet
worden, Neumann gibt an, dass ,,die Geisteskrankheit“ drei Stadien
durchlaufe: den Wahnsinn, die Verwirrtheit, den Blodsinn. Wenn-
gleich unter „Wahnsinn“ im Sinne Neumanns keineswegs bloss
paranoische Zustande zu verstehen sind, so ist Verwirrtheit im
Sinne Neumanns tatsachlich Inkoharenz, eine ,,Lockerung des
Zusammenhanges“ der Assoziationen, „es lockem sich die Bande
des Denkens“. „Aus diesem Lehrsatze folgt,“ setzt Neumann fort,
,,dass ein Wahnsinn, der nicht geheilt wird, sicherlich in Verwirrtheit
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
357
und scbliesslich in Blodsinn verfallen wird.“ Tatsachlich ist diese
Beobachtung fiir den allgemeinen Verlauf und Ausgang der Paranoia
acuta hallucinatoria auch noch heute zutreffend, was nicht zugunsten
der Auffassung spricht, dass die in Demenz ausgehenden Falle
einem ganz besonderen, spezifischen Verlaufstypus folgen.
Auf die Bedeutung der primaren Inkoharenz im Verlauf der viel-
gestaltigen, zur akuten halluzinatorischen Paranoia gehorenden
Rrankheitsbilder zuriickschauend, miissen wir feststellen, dass
dauernde Inkoharenz stets einen schweren und ungiinstigen Verlauf
anzeigt, namentlich aber dann, wenn sie einem anderen psycho-
pathischen Zustand, d. h. einem halluzinatorisch- oder systemati-
siert-paranoischen, folgt. Die primare Inkoharenz hat aber in Bezug
auf den Verlauf keine andere Bedeutung als die paranoischen
Symptome, wenn sie im Verlauf derKrankheit gelegentlich, voriiber-
gehend auftritt, wenn sie als Ausdruck grosserer Intensitat der
Erkrankung oder auch als Reaktionsform eines invaliden oder
belasteten Gehims erscheint und endlich wenn sie tatsachlich im
Sinne Meynerts „mit den nutritiv erschopfenden Momenten“
zusammenhangt, d. h. zweifelsohne Reaktion des Gehirns im Sinn
einer akuten Psychose auf akute Erschopfung, Infektion und auf
Intoxikation ist.
Es ist soeben im einzelnen erwahnt worden, wie sich der Ver¬
lauf und die Prognose bei den verschiedenen atiologischen und
symptomatologischen Gruppen verhalten, die unter den der akuten
halluzinatorischen Paranoia zugehorigen Fallen un terschieden werden
konnen. Die Prognose der akuten halluzinatorischen Paranoia im
grossen und ganzen wird als nicht ungiinstig bezeichnet; bei der Zer-
legung der Psychose in einzelne, atiologisch bestimmbare oder
wenigstenssymptomatologisch umgrenzte Formen ergibt es sich, dass
diese Gruppen im einzelnen eine ganz verschiedene Prognose haben.
Eine Erldarung fur dieses verschiedene Verhalten der Gruppen
sowie fur die Ausgangsmoglichkeiten des Einzelfalles gibt uns
zum Teil die Aetiologie, allerdings ist sie nur in einem Teil der Falle
zu ermitteln oder mit Sicherheit als bestimmend fur den Ausgang
anzusehen. Die klinische Erfahrung lehrt, dass die iiberwiegend
giinstige Prognose sich hauptsachlich auf die Falle bezieht, die auf
Intoxikation, Infektion und Erschopfung und nur auf diese Momente
zuriickzufiihren sind. Es sind das also die die Falle mit exogener
Aetiologie, die in manchen Beziehungen den sogenannten orga-
nischen Psychosen nahe stehen; wir konnen uns in den nicht zur
Genesung gekommenen Fallen den Grund des ungiinstigen Aus-
gangs und Endzustandes in einer bleibenden irreparablen Schadi-
gung des Himgewebes vorstellen. Hieraus ergibt sich die wichtige
Rolle, die in diesen Fallen die Intensitat, die Schwere der Er¬
krankung spielt. Natiirlich erkranken auch pradisponierte oder
belastete Individuen, ausser dem exogenen tritt auch ein endogener
Faktor hinzu, der in der Herabsetzung der Widerstandsfahigkeit
besteht, die Prognose ist in diesen Fallen viel weniger giinstig.
Im allgemeinen sind die Aussichten auf Genesung in denjenigen
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358 B r e s o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Fallen am besten, die keinen Wechsel des Zustandsbildes aufweisen
(Anglade u. A.) und bei denen der Allgemeinzustand am wenigsten
gelitten hat. Die schlechtesten Aussichten haben die periodischen
Falle. Eine vollstandige Restittio ad integrum ist nach Ansicht
vieler Psychiater kaum zu erwarten; Seglas z. B. halt sie auch bei
den einfachen Fallen von Confusion mentale fur nahezu aus-
geschlossen.
Weit schwieriger ist es, sich vorzustellen, worin der Grund
besteht, dass eine Anzahl solcher Falle, die als einfache halluzina-
torische Psychosen auftreten, aber eine hereditare Belastung wie
die sogenannten akuten einfachen Affektpsychosen aufweisen,
einen ungiinstigen Ausgang nimmt. Besonders haufig ist dieser
Ausgang bei rezidivierenden Fallen. In solchen Fallen beobachten
wir zuweilen, wie schon erwahnt, einen Ausgang in Demenz,
nachdem die Inkoharenz im Krankheitsbilde mit jedem neuen
Anfalle einen breiteren Raum eingenommen hatte. In diesen Fallen
scheint die Inkoharenz der Ausdruck oder die Aeusserung eines
bereits geschadigten Gehims zu sein, der endgiiltige Ausgang in
Schwachsinn lasst sich aus der steten Verschlechterung des Zu-
standes, die in den anfallsfreien Zeiten deuthch ist, voraussagen.
Aehnliches beobachten wir zuweilen bei abnorm langer Dauer einer
solchen Psychose. Bekanntlich entstehen diese Psychosen ge-
wohnlich auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung.
Noch weniger klar oder verstandlich ist der Zusammenhang
zwischen der Psychose und dem vorwiegend ungiinstigen Ausgang
bei vielen anscheinend spontanen Erkrankungen, denen augen-
scheinlich keine besondere Veranlagung, ahnlich den soeben er-
wahnten Fallen, zugeschrieben werden kann. Bekanntlich wird
in solchen, mehrere Verlaufstypen aufweisenden Fallen von vielen
Psychiatern der Ausgang in Schwachsinn, in ,,eigenartige Schwache-
zustande“, als zum Wesen der Psychose gehorend gedacht. Wenn
der Schwachsinn in diesen Fallen wirklich immer eine charak-
teristische Eigenart oder Farbung aufwiese, so konnte diese Tat-
sache als Beweis dafiir aufgefasst werden, dass die Psychose die
Tendenz zeigt, eben diesen speziellen eigenartigen Ausgangs-
zustand hervorzubringen. Die Beobachtung lehrt aber, dass diese
Endzustande keineswegs gleichartig sind: sie weisen alle moglichen
Grade der Demenz, aus dem akuten Verlauf persistierende Eigen-
tiimlichkeiten und schliesslich Uebergange zu Endzustanden auf,
die von den Endzustanden ganz anderer Psychosen nicht zu unter-
scheiden sind. Verschiedene individuelle Eigentiimlichkeiten sowie
Bruchstiicke der ehemaligen psychischen Personlichkeit konnen
wir nahezu bei alien in Schwachsinn ausgegangenen Psychosen
antreffen. Es braucht daher z. B. das Persistieren von motorischen
Eigentiimlichkeiten nicht als ganz besonders eigentiimliches,
spezifisclies Merkmal angesehen zu werden, da es sich aus dem
vorhergehenden Stadium ergibt und es nur in dem Sinn spezifisch
ist, wie das Persistieren von andern rudimentaren psychotischen
Ziigen bei den nicht in Genesung ausgegangenen Fallen. Ferner
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 35^
wird der ungiinstige Ausgang in vielen Fallen nicht nur nicht im
vollen Umfange erreicht, sondem bleibt ganz aus, obschon er nach
Analogic mit den anderen Fallen zu erwarten ware. Jedenfalls
wird die Ansicht von der Zusammengehorigkeit von Verlauf und
Ausgang im Sinne einer dem Wesen der Psychose eigentiimlichen
Tendenz zum Teil fiir hypothetisch gehalten, zum Teil abgelehnt.
Indessen gibt es unzweifelhaft manche Anzeiohen, die schon
wahrend des akuten Verlaufs der Psychose auf einen ungiinstigen
Ausgang hinweisen. Rechnet man nur diese Falle zu einer be-
sonderen Gruppe mit der Tendenz zum Ausgang in Demenz,
besonders in Demenz mit eigenartiger Farbung, so wird man die
Existenz solcher Gruppen mit besonderem Verlaufs- und Ausgangs-
typus innerhalb der akuten halluzinatorischen Paranoia nicht fiir
unwahrscheinlich oder unmoglich halten konnen, doch erscheint
eine sichere Umgrenzung dieser Gruppen wahrend des akuten
Verlaufs vielfach ausserst schwierig oder fast unmoglich, und erst
die wahrend des weiteren Verlaufs auftretenden Veranderungen
lassen auf den Charakter des Falles schliessen. Der Ausgang in
Schwachsinn schlechthin scheint nicht geeignet zu sein, um als
Merkmal fiir besondere Formen aufgefasst zu werden, da dieser
Ausgang, wie schon erwahnt, auf verschiedenen, auch ausseren
Griinden beruhen kann. Wenn dagegen der Endzustand tatsachlich
bestimmte eigenartige Merkmale, einen charakteristischen, psycho-
logischen Aufbau aufweist, der sich unabhangig von der Intensitat
der Erkrankung entwickelt und stets einem bestimmten Verlaufs-
typus der akuten halluzinatorischen Paranoia folgt, so werden wir
einer solchen Psychose eine Sonderstellung innerhalb der akuten
halluzinatorischen Paranoia zuerkennen konnen.
Der Ausgang der akuten halluzinatorischen Paranoia ist
bekanntlich sehr vielgestaltig. Bei dem Ausgang in Heilung fragt
es sich, ob es sich um tatsachliche Heilung oder um eine Remission
handelt und ob ein Rezidiv zu erwarten ist; Rezidive sind nicht
selten, sie fiihren schliesslich doch zu den ubrigen Ausgangs-
moglichkeiten, die von der Heilung mit Defekt bis zur sekundaren
Demenz reichen, und dem Ausgang in chronische halluzinatorische
Paranoia. Was nun die Beurteilung dieses Ausgangszustandes
anbelangt, so muss zunachst bemerkt werden, dass eine nicht
geringe Schwierigkeit in vielen nicht zur Genesung gelangenden
Fallen die Abgrenzung des akuten Stadiums der Psychose vom
chronischen darbietet. Fiir eine grosse Anzahl von Fallen trifft
es allerdings zu, dass der Endzustand ein ganz anderes sympto-
matologisches Bild darbietet als das akute Stadium; ausser dem
Hervortreten oder Deutlichwerden eines psychischen Defektes
von verschiedener Ausdehnung beobachten wir ein Schwinden der
akuten psychotischen Symptome, d. h. Sinnestauschungen und
Wahnvorstellungen verblassen allmahlich und vermogen keine
Affekte auszul6sen,ebenso schwinden allmahlich die etwaigen andern
primaren Symptome, und es stellt sich ein dauemd unveranderlicher
Zustand ein. Dieser unveranderliche Defektzustand ist der Aus-
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360 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
gang der Psychose; solange noch Aenderungen des Zustandes vor-
kommen, ist nach Meynert die Hoffnung auf einen giinstigen Aus-
gang nicht aufzugeben. Eine zu keinerlei Hoffnungen berechtigende
Ausnahme stellen die haufig zu beobachtenden, zuweilen periodisch
innerhalb des abgeschlossenen Defektzustandes auftretenden Er-
regungszustande vor, die nicht nur anscheinend unmotivierte
affektive und motorische Erregung aufweisen, sondern auch Zu-
stande von eventuell supraponierter schwerer Inkoharenz, rudi-
mentaren Wahnvorstellungen und auch Sinnestauschungen. Nach
einer solchen Entladung stellt sich der vorher beobachtete un-
veranderte Defektzustand wieder ein. Bilden die unzweifelhaft
der sekundaren Demenz angehorenden Endzustande die Grenze
der Ausgangsmoglichkeiten nach einer Seite, so sind es nach der
andern Seite die in chronische halluzinatorische Paranoia aus-
laufenden, mit Persistieren von Wahnvorstellungen und Sinnes¬
tauschungen und Ausbleiben eines psychischen Defektes, sogar mit
Fortentwicklung und Ausdehnung der Wahnvorstellungen einher-
gebenden Falle. Innerhalb dieser Grenzen werden auch die
Ausgangszustande der von vielen Psychiatern als Dementia para¬
noides bezeichneten Formen beobachtet. Wir konnen hier nur be-
merken, dass dieser Begriff vorlaufig ganz verschieden aufgefasst
wird, auch zeigt er mehrere Verlaufstypen, die betreffenden Autoren
stimmen nur darin iiberein, dass sie diesen Formen einen Ausgang
in ,,schwachsinnige Verwirrtheit" zuschreiben.
Die nicht dem oben erwahnten Typus des Ausgangs in einen
typischen Defektzustand folgenden Falle zeichnen sich dadurch
aus, dass der Endzustand nicht durch ein gemeinsames allmahliches
Schwinden der im Laufe des akuten Stadiums koordinierten
Symptome angezeigt wird, sondern dass sie trotz Ablaufs anderer,
dem akuten Stadium angehcrender Erscheinungen in verschiedenem
Umfange persistieren. Das wesentliche Merkmal solcher persi-
stierenden Wahnvorstellungen und Halluzinationen ist ihre Un-
veranderlichkeit, ihre Einfdrmigkeit; sie werden nicht weiter aus-
gestaltet oder irgendwie mit der Lebenserfahrung in Einklang
gebracht und erscheinen im spateren Verlauf als fremde Bestand-
teile des Bewusstseins. Eine nicht geringe Schwierigkeit bietet
die Beurteilung dieser Falle dann, wenn der endgiiltige psychische
Defekt nicht sehr erheblich ist, so dass der aus dem akuten Stadium
der Psychose stammende ,,residuare“ Wahn zwar nicht in seinem
Sinn fortgebildet wird, aber doch sekundare Wahnvorstellungen
im Sinne des Erklarungswahnes hervorzurufen imstande ist.
Bezieht sich die Beurteilung in diesen Fallen auf den Endzustand
selbst, so ist das Auseinanderhalten von akutem und Ausgangs-
stadium erschwert oder unmoglich dann, wenn der Defekt des
Ausgangszustandes sich ganz unmerklich, allmahlich und im Laufe
von langer Zeit ausbildet, wobei der Gesamtkomplex der akuten
Symptome anscheinend unverandert weiter fortbesteht. Diesen
Zustanden begegnen wir gewohnlich in den Fallen, in welchen eine
scheinbare Inkoharenz besteht infolge von Ausschaltung der
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
361
Aussenperzeption und Beschrankung der Aufmerksamkeit auf
innere Vorgange.
Die Anzeichen eines ungiinstigen Ausgangs treten manchmal
verhaltnismassig friih auf und haben gewissermassen eine pro-
gnostisch iible Bedeutung, friih insofern, als die Psychose im grossen
und ganzen noch das Bild de3 akuten Stadiums darbietet. Wir
konnen im allgemeinen sagen, dass diese Anzeichen samtlich auf
einer Storung des gewohnlichen intrapsychischen Zusammenhanges
oder Zusammenwirkens zu beruhen scheinen; sie stellen ein gewisses
Selbstandigwerden von Krankheitserscheinungen vor, die sonst
nur im Zusammenhang mit anderen Symptomen oder nur sekundar
auftreten; dahin gehoren z. B. die selbstandig auftretenden un-
motivierten affektiven Erregungen, ebenso wie die unmotivierte
Affektlosigkeit, die selbstandigen, unmotivierten stereotypen
motorischen Erscheinungen, sprachliche Inkoharenz bei augen-
scheinlich weit besser erhaltenem Zusammenhang der Ideen-
assoziation, kurz, es ist der normale Zusammenhang zwischen
Vorstellungen, Assoziationen imd Affekten, wie zwischen Vor-
stellungen, Affekten und motorischem Verhalten gestort, zerfallen;
die Gefiihlsbetonung entspricht nicht mehr dem Vorstellungs-
inhalte; daher kommt es, dass eine Korrektur des Gesamtverhaltens
trotz augenscheinlich bestehender oder nach voriibergehenden,
stiirmischeren Erscheinungen wieder gewonnener Orientiertheit
und Besonnenheit ausbleibt und schliesslich, nach Schwinden
samtlicher akuten Krankheitserscheinungen, der intrapsychische
Zerfall deutlich hervortritt. Diese Erscheinungen sind nicht nur
auf Demenz im gewohnlichen Sinn zu beziehen; sie sind nicht die
Folge des Verlustes, der Verarmung an Vorstellungen und Asso¬
ziationen schlechthin, sondern fur diese Falle kann die von Wernicke
gegebene Hypothese der Sejunktion in Anspruch genommen
werden als hypothetische Erklarung fur den psychischen Mecha-
nismus des Zerfalls der einheitlichen Personlichkeit.
In alien erwahnten Endzustanden spielt die Demenz, abgesehen
von den sonstigen, fast nur mit ibr vereint anzutreffenden Sym¬
ptomen, eine mehr oder minder erhebliche Rolle. Echte Demenz
ist stets als Ausgangssymptom aufzufassen.
Zu den Endzustanden gehort zum Teil auch der unter der
Bezeichnung „Zerfahrenheit“ in der Literatur erwahnte Sym-
ptomenkomplex. Wir konnen ihn als dauemde primare Inkoharenz
der Ideenassoziation auffassen; der Gedankengang hat in diesen
Fallen keine Zielvorstellung, infolgedessen wird er von der Ausgangs-
voretellung aus in keiner bestimmten Richtung fortentwickelt,
sondern die Ausgangsvorstellung lost nur eine sich inhaltlicb in
ganz einformiger, stereotyper Weise in denselben Vorstellungs-
kreisen bewegende assoziative Reaktion aus, die von der nachsten
Empfindung briisk unterbrochen wird, da mit ihr eine neue Aus¬
gangsvorstellung auftritt. Die Inkoharenz erstreckt sich nioht
selten auch auf die Beziehungen zwischen Empfindung und Vor-
stellung; die Empfindung vermag Vorstellungen auszulosen, die
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3t>2 Bresowsky, Ueber die Beziehungen. der Paranoia acuta
mit ihr in gar keinem Zusammenbange steben. Dazu ist die Ablenk-
barkeit der Aufmerksamkeit, die Abhangigkeit des Gedankenganges
von Empfindungen, hauptsachlich ausserer Herkunft, so gross,
dass sich das betreffende Individuum ihnen nicht entziehen kann,
doch ist diese im hochsten Masse gesteigerte Ablenkbarkeit, die
Hyperprosexie, nicht der Grund oder der alleinige Grund der
Inkoharenz, sondem vielleicht eine koordinierte Erscheinung,
denn wir beobachten, dass auch bei Abschluss von alien ausseren
Reizen die Kranken nicht zu assoziieren vermogen, und wenn wir
auch nicht selten imstande sind, eine Antwort zu erzielen, die eine
richtige Auffassung und Orientiertheit verrat, so ist docb die
Zusammenfassung der einzelnen Vorstellungen und Assoziationen
zu hoheren Einbeiten, nicht das ganz elementare, im Begriff schon
enthaltene Urteilen, sondem das sich aus Ueberiegung oder Kom-
binationergebendeUrteilen vollstandig unmoglicb. Diese, zusammen
mit der Hypervigilitat der Aufmerksamkeit fiir alle ausseren Ein-
driicke auftretende Inkoharenz ist zugleicb mit einer abnorm ge-
ringen Ansprechbarkeit der Innenwelt des Kranken verbunden,
trotz leidlicb erhaltener Auffassung des Kranken gelingt es uns
nur unter den grossten Schwierigkeiten, ein auch nur momentanes
Eingehen des Kranken auf unsere Fragen oder Aufforderungen
zu erzielen. Unter „Zerfahrenheit“ ware also in solchen Fallen ein
Zustand zu verstehen, der sich aus primarer Inkoharenz, abnormer
Ablenkbarkeit, d. h. Hyperprosexie, und abnorm geringer Ansprech¬
barkeit der Innenwelt zusammensetzt. Erfahrungsgemass kann
dieser Zustand unmerklicb in Demenz tibergehen.
Ebenfalls unter den Begriff der Zerfahrenheit fallend und ihr
rein ausserlich nicht unahnlich, aber von ganz anderer Zusammen-
setzung sind diejenigen Falle, bei denen es sich um sekundare
Inkoharenz handelt infolge von krankhafter Ablenkung der Auf¬
merksamkeit auf innereVorgange. Auch hier gelingt es nur unter den
grossten Schwierigkeiten, den Kranken zu einem auch nur Momente
dauernden Eingehen auf unsere Fragen oder Aufforderungen zu
veranlassen, nichts vermag seine Aufmerksamkeit auch nur auf
mehr als Augenblicke von seiner Innenwelt abzulenken. Die sprach-
Jichen Aeusserungen erscheinen inkoharent, haufig nur weil die
verbindenden Gedanken nicht ausgesprochen werden. Auch in
diesen Fallen bewegen sich die sprachlichen Aeusserungen schliess-
lich in stereotyper Weise in denselben Vorstellungskreisen, und die
Inkoharenz nimmt den Charakter einer primaren an. Diese Wen-
dung gibt dem Zustand eine absolut ungiinstige prognostische Be-
deutung, oder er ist vielmehr schon der Ausgangszustand. Auch
dieser Zustand vermag unmerklich in Demenz iiberzugehen,
manchmal entwickelt sich aus ihm der zuerst erwahnte Typus
und dann erst die Demenz.
Schliesslich sind Zustande, die als Zerfahrenheit aufgefasst
werden konnen,bei denEndzustanden der akuten halluzinatorischen
Paranoia nicht selten als Folgen der Demenz zu beobachten: sie
treten wegen Verarmung an Erinnerungsbildern und Assoziationen
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363
ein. Neben dem Fehlen der richtunggebenden Zielvorstellung
beobachten wir in manchen Fallen Perseveration und Inkoharenz,
in anderen Hyperprosexie und Inkoharenz; auch hier finden wir
vielfach eine stereotypes Wiederkehren derselben Aeusserungen,
ein Sichbewegen in immer denselben Vorstellungskreisen.
Es ist also der Begriff der ,,Zerfahrenheit“ nicht bestimmt
genug, da er fiir mehrere Zustande gebraucht werden kann. Fassen
wir ihn in der oben erwahnten Begrenzung als zusammengesetzt aus
primarer Inkoharenz, Hyperprosexie und Stereotypie auf, so gehort
er zu den prognostisch ungiinstigen Anzeichen. Der Zustand kann
ohne wesentliche Aenderung in sekundare Demenz iibeigehen.
Wenden wir uns nunmehr zur Frage, wie sich das akute
Stadium zum Ausgang, besonders zum Ausgangszustand verhaJt;
lasst sich der Endzustand in seiner Zusammensetzung aus dem
akuten Stadium voraussagen? Hierzu wiirde die weitere Frage
kommen: entspricht oder f olgt ein solcher Endzustand immer nur
einem bestimmten Verlaufstypus ? Nach unseren Erfahrungen
konnen wir uns nur in ganz beschranktem Masse ein Bild vom
Ausgangszustand des vorliegenden Falles machen, wenn wir tms
bei unserer Beurteilung auf den symptomatologischen Aufbau des
Zustandsbildes beschranken. Allerdings gibt es, wie oben an-
gefiihrt, mehrere Symptome von prognostisch iibler Vorbedeutung,
doch sind sie wohl zum Teil schon als Symptome des Ausgangs-
zustandes, nicht des akuten Stadiums aufzufassen. Ein ebenfalls un-
vollkommenes, aber doch ganz wesentlich besseres Bild vom End¬
zustand konnen wir uns machen, wenn wir ausser der Erscheinungs-
form auch die Aetiologie des betreffenden Falles unserer Beurteilung
zugrunde legen: die Erfahrung lehrt, dass das Zusammenwirken
dieser beiden Faktoren auf einen im grossen und ganzen sich inner-
halb gewisser Moglichkeiten bewegenden Endzustand hinweist,
allerdings ist das Gebiet dieser Moglichkeiten recht weit. Von den
rein exogenen Formen konnen wir sagen, dass sie, wenn nicht in
Heilung, so in einfache Demenz verschiedenen Grades ausgeben,
die sich von der residuaren psychopathischen Konstitution bis zur
scbweren Demenz erstreckt. Auch kann es sich um einfache Demenz
mit vereinzelten einformigen Wahnvorstellungen und Sinnes-
tauschungen handeln, die aus der Zeit des akuten Stadiums persi-
stieren. Der Endzustand ist seinem Charakter nacb vom akuten
Stadium verschieden, der Verlauf der Psychose ist ein akuter, der
Uebergang in den Endzustand erfolgt rasch. Eine bemerkenswerte
Ausnahme bilden viele Falle von Puerperalpsychosen, ihr Verlauf
nimmt einen von vornherein ungiinstigen Charakter an, sie gehen
schnell in chronische, unveranderliche Inkoharenz iiber, in Zustande
von ,,Zerfahrenheit“ mit oder ohne Sinnestauschungen, Wahn-
vorstellimgen und unvermittelten Affekte. Dieses Verhalten der
betreffenden Falle von Puerperalpsychosen hat vielfach die Ver-
mutung angeregt, dass es sich um eine vom Puerperium ausgeloste
endogene Psychose handele. Ueber die Berechtigung einer solchen
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364
Bresowsky, Ueber die Beziehungen etc.
Auffassung lasst sich streiten; beachtenswert ist, dass in diesen
Fallen — im Gegensatz zu Fallen mit anderer Aetiologie — der
unveranderliche Endzustand haufig sich verhaltnismassig friih-
zeitig entwickelt. Die mit primaren Affekt- und Assoziations-
storungen auftretenden Falle zeigen meist beim Ausgang in den
endgiiltigen Defektzustand einen allmah lichen Uebergang in den
Defektzustand. Die nur langsam fortschreitende allgemeine Ver-
schlechtenmg des psychischen Zustandes kann prognostisch ver-
wertet werden, namentlich wenn es sich um periodische oder
rezidivierende Falle handelt. Der Ausgangszustand pflegt eine
manchmal mit periodischen Aufregungszustanden komplizierte
allgemeine Demenz zu sein. Es scheint, dass wahrend des akuten
Stadiums lange anhaltende Zustande von Verwirrtheit eine beson-
ders schwere Demenz des Ausgangszustandes anzeigen. Die iibrigen
spontan austretenden Falle der akuten halluzinatorischen Paranoia
haben bekanntlich verschiedene Verlaufs- und Ausgangstypen,
von welcheneinige von vielenPsychiatem als selbstandige Psychosen
aufgefasst werden. Wenngleich man auch vom Ausgangszustand
zuriickblickend die Entwicklung des Endzustandes verfolgen
kann, so ist es doch vorlaufig ganz unmoglich, noch wahrend des
Verlaufes den Endzustand vorauszubestimmen, bevor die oben
angefiihrten, den Endzustand anzeigenden Symptome aufgetreten
sind. Freilich geht man am wenigsten fehl, wenn man annimmt,
dass der Verlauf der nicht greifbar exogenen Falle ungiinstig ist,
was tatsachlich fur die meisten Falle zutrifft, doch ist diese Be-
trachtungsweise zu hypothetisch, ein zwingender Grund nicht
vorhanden, der Analogieschluss in vielen Fallen nicht anwendbar.
Uebrigens lasst uns auch die Annahme eines ungiinstigen Ausgangs
iiber den Charakter des Endzustandes im Dunkel, wo nicht die
Vorlaufer des Endzustandes Hinweise geben: der Ausgangs-
moglichkeiten sind zu viele, und sie sind unter einander zu ver-
schieden. Im akuten Stadium vorherrschende halluzinatorisch-
paranoische und inkoharente Zustande lassen keinen besonderen
Einfluss auf die Entwicklung des Endzustandes erkennen.
Aus dem Gesagten ergibt sich, dass ein Ruckschluss aus dem
Ausgangszustand auf das akute Stadium und den Verlauf nur in
ganz allgemeinen Ziigen moglich ist, und zwar am besten in den
Fallen, in denen persistierende Eigentiimlichkeiten auf das akute
Stadium hinweisen. (Fortsetzung folgt.)
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Albrecht, Experimentelle Unfcersuchungen etc.
365
(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz.
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.)
Experimentelle Untersuehongen iiber die Grundlagen der
sogenannten galvanlschen Hautelektrizit&t 1 ).
Von
Dr. OTHMAR ALBRECHT,
k. und k. Reglraentaant.
Einleitung. — Auffaasung der Autoren. — Fragestellung: 1. Wo ist
der Sitz der elektromotorischen Kraft 7 — 2. Welches ist die Quelle der
elektromot. Kraft 7 — 3. Wie Bind die Stromschwankungen zu erkiaren 7 —
Allgemeine Versuchsanordnung.
Versuchsiibersicht:
1. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft 7 Versuch 1—4. —
Ergebnis. — 2. Welches ist die Quelle der elektromotorischen Kraft ?
Versuch 6—13. — Ergebnis. — 3. Wie aind die Stromschwankungen zu
erkiaren? Versuch 14. — Spezielle Fragestellung. — Spezielle Versuchs¬
anordnung. Versuch 15—20. — Ergebnis. — Schlussbemerkungen. —
Schlusssatze. — Benutzte Literatur.
Mit dem Namen des paychogalvanischen Reflexes hat Vera-
guth eine Erscheinung bezeichnet, welche ihrem Wesen nach schon
liingere Zeit bekannt war. Im Jahre 1888 hat Fir 4 der Soci6t6 de
Biologie eine kurze diesbeziigliche Mitteilung gemasht, welche nur
als Vorlaufer der eigentlich grundlegenden Beobachtungen Tar-
chanoffs (1890) angesehen werden kann. Seither haben sich mehrere
Forscher ohne beaonderen Erfolg mit dem Thema beschaftigt,
bis die systematischen Untersuchungen Veraguths neue Anregungen
zum Studium der hier vorliegenden Probleme brachten. Dieses
Studium erscheint um so interessanter, als die Auffassungen iiber
das Wesen und die Bedeutung der fraglichen Tatsachen seitens
der verschiedenen Autoren vielfach stark auseinander gehen.
Einer Anregung Prof. Hartmanns folgend, habe ich mich in
einer Reihe von Versuchen bemiiht, den Gegenstand vom physi-
ktdischen und neurologischen Standpunkte aus zu studieren. Die
») Eine vorlaufige Mitteilung der Ergebniase dieser Arbeit ist untor
dem gleiohen Titel in Band II der Folia neurobioiogica, p. 224, erschienen.
MooAtaaehrift filr Piychiatrie und Neurologic. Bd. XXV(I. Heft 4. 25
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3(5(5 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
vorliegende Publikation bringt die Ergebniaae bloaa eines Teilea
deraelben 1 ).
Die noch nicht abgeachloaaenen Kapitel werden folgen.
Da meine Experimente begreiflicherweiae enge an die von
anderen angestellten ankniipfen und mit denaelben kritisch in
Zuaammenhang gebracht werden miiaaen, eracheint vor allem notig,
eine kurze Zusammensteliung zu geben iiber:
Die Auffassung der Autoren.
Fer^*) (1888) atellte zwei Elektroden von gleichemDurchmeaaer
in einiger Entfernung voneinander auf die Vorderflache dea Unter-
armes oder die Aussenflache dea Beinea und beobachtete, wenn er
einen niasaig atarken Strom durch dieaelben leitete, dasa die Gal-
vanometemadel nach verschiedenen aenaoriellen Reizungen dea
Individuuma, 80 wie nach heftigen Emotionen einen lebhaften Aua-
schlag zeigte. Daa Fehlen einea Reizea rief die entgegengesetzte
Wirkung hervor. So zeigte sich bei einem Individuum achon nach
dem Schlieaaen der Augen eine Verminderung dea Auaachlagea der
Nadel.
Fere faa8t die Eracheinungen ala Veranderungen im Leitunga-
wideratande der Gewebe auf.
Tarchanoff *) (1890) verwendete unpolariaierbare Tonelek-
troden und ein Spiegelgalvanometer und achaltete die Verauchs-
peraon ohne Anwendung einer Batterie in den Galvanometerkreia.
Er beobachtete, daaa in alien Formen der Erregung dea Nerven-
systems ein Strom nachweiabar wird, welcher von den an Driiaen
reicheren Hautpartien zu den driiaenarmeren Partien verlauft, mit
anderen Worten, ea entatehe ein aktiver eingehender Sekretiona-
atrom der Hautdriiaen [Sekretionaatrom Herrmanns*)].
,,Ea weiat alao die Beobachtung der Hautatrome mittelat einea
empfindlichen Galvanometera die wichtige Tataache einer Teil-
nahme der Hautdriiaen an faat alien Vorgangen der Nerven- oder
paychischen Tatigkeit dea Menachen nach.“
,,Wenngleich auch zeitlich begrenzt, iat der Verlauf beinahe
jeder Art von Nerventatigkeit, von den einfachaten Eindriicken
und Empfindungen bis zu hochster geiatiger Anstrengung und will-
kiirlichen motoriachen Aeuaaerungen von veratarkter Tatigkeit der
Hautdriiaen beim Menachen begleitet.“
1 ) Es sind dies hauptsachlich diejenigen Versuche, welche ich im Grazer
physikalischen Universitatsinstitute (Direktor Hofrat PfauncUer) ausge-
fiihrt habe. Fur die mir hierbei zuteil gewordene unermiidliche Unter-
stutzung und Anregung bei der Anordnung der physikalischen Unter¬
suchungen sowie fiir die Kontrolle der Resultate derselben bin ich Herrn
Professor Benndorf und Herrn Assistenten Dr. Rozic zu ganz besonderem
Danke verpflichtet.
2 ) Fere t Notes sur des modifications de la resistance electrique sous
Pinfluence des exitations sensorielles et des emotions. Oomptes rendus do
la Soc. de Biologie. 8. S6rie 5.
3 ) Tarcfianoffy Ueber die galvanischen Erscheinungen in der Haut etc.
Pfliigers Arch. 46. Bd.
4 ) Vergl. Biedermanriy Elektrophysiologie. Jena 1895.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 367
„Der gegenwartige Stand unseres Wissens erlaubt nur, die als
Begleiterscheinung fast jeder Betatigung des zentralen Nerven-
systems auftretende Verstarkung der Hautdriisenfunktion als Folge
gleichzeitiger, zur Entwicklung von Hautstromen fiihrender Er-
regung der der Schweisssekretion vorstehenden Nervenzentren auf-
zufassen."
Sticker 1 ) (1897) kniipfte an die Versuche Tarchanoffs an, um
eine objektive Darstellung von Sensibilitatsstorungen zu versucben.
Er verwendete ein mochfiziertes, astatisches Galvanometer von
Dubois und Rubens und unpolarisierbare Elektroden.
Die Experimente mit gesunden Personen bestatigten die Er-
gebnisse Tarchanoffs, wahrend die Versuche an Kranken mit An-
asthesien, auch solchen, welche durch periphere Nervenlasion her-
vorgerufen waren, insofem negativ ausfielen, als auch von den
anasthetischen Stellen aus Reaktionen zu erzielen waren. Er ver-
wies in seiner Auffassung der Vorgange auf die grosse Aehnlich-
keit der Erscheinungen mit den Sekretionsstromen Herrmanns,
weiter auf die Uebereinstimmung der hier gewonnenen Resultate
mit den von HaUion und Comte gefundenen Veranderungen in den
Kapillargefassen der Finger, und meint: „Es handelt sich beim
Erregungsstrom zum mindesten um einen zusammengesetzten Vor-
gang, in welchem Sinnesreizung und Sekretionsstrom mit lokaler
Kapillarreizung und allgemeiner Kapillarkreislauferregung sich
gegenseitig beeinflussend in wechselndem Masse zur Geltung
kommen.“
Sommer 2 ) (1902) ging von der Annahme aus, dass beetimmte
Aenderungen des Stromes zustande kommen, fur welche eine Ver-
anderung der Leitungsfahigkeit an den Handflachen infolge
psycho-physiologischer Vorgange angenommen werden. Er kon-
struiert deshalb in dem Bediirfnis, die Elektroden zu verbessern,
einen Apparat, welcher im wesentlichen aus zwei isolierten Kaut-
schukballons besteht, deren Oberflache mit Stanniol iiberzogen
ist. Vom Stannioluberzug konnen durch geeignete Klemmen
Strome abgeleitet werden. Ueberdies rieb er bei einem Teil der
Versuche die Hande bezw. Finger der Versuchspersonen mit Bronze-
pulver ein. Er kam auf Grund seiner Untersuchungen zu folgenden
Resultaten:
,,1. Die elektromotorischen Vorgange sind an den Fingern
ausserordentlich viel starker als an den Handtellem.
2. Bei ihrem Zustandekommen spielen Muskelinnervationen,
welche die Finger mehr oder weniger stark an die Elektroden an-
driicken, eine wesenthche Rolle.
3. Insofern, als diese unwillkiirliche Ausdrucksbewegungen
sind, kann von einem elektromotorischen Endresultat psycho-
’) Sticker, Ueber Versuche einer objektiven Darstellung von Sensi¬
bilitatsstorungen. Wiener klin. Rundschau. II. No. 30, 31.
*) Sommer, Zur Messung elektromotorischer Vorgange an den Fingern.
Beitrage zur psych. Klinik. I. j Hoft 3.
25*
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368 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
physiologischer Vorgange gesprochen werden, ohne dass dies©
selbst ohne weiteres als elektrodynamisch aufgefasst werden
konnten.
4. Die sekretorische Theorie ist unzureichend, urn alle Beob-
achtungen zu erklaren, es muss neben derselben eine muskelphysio-
logische Komponente anerkannt werden.
&. Auch beide Theorien zusammen sind nicht geeignet, um
die Tatsache der ausserordentlich starken elektromotorischen Wir-
kungen an den Fingern auch bei leichtem Auflegen auf die Elek-
troden vollig zu erklaren.“
In einer spateren Publikation 1 ) (1905) sagt Sommer: „Fest-
gestellt habe ich die Tatsache, dass die mit dem Spiegelgalvano-
meter nachweisbaren Strome wesentlich durch Druckdifferenz an
den Elektroden bedingt sind.“
Er konnte die gleichen Erscheinungen rein physikalisch da-
durch erzeugen, dass er metallisch verbundene, mit isoherenden
Handgriffen versehene Elektroden auf die Elektroden der Ver-
suchsanordnung verschieden stark andriickte.
Fiirstenau 2 ) (1906) versuchte, angeregt durch Sommers Unter¬
suchungen, die physikalischen Elemente der elektrischen Vorgange,
welche in diesen Experimenten zum Ausdruck kommen, zu er-
griinden, und kam mittelst systematischer Versuche zu der An-
schauung, dass der menschlichen Haut in der elektrischen Span¬
nungsreihe eine Stellung zwischen Zink und Aluminium zukommt,
so dass wir bei der bekannten Versuchsordnung das Bestehen
zweier Elemente an den Beriihrungsstellen zwischen Elektroden
und Haut anzunehmen hatten. Daraus ergibt sich, dass in dem
die beiden Elektroden verbindenden Korper zwei gegeneinander
gerichtete Strome verlaufen.
Sommer und Fiirstenau 8 ) (1906) gaben in einer weiteren Publi¬
kation die Stellung der menschlichen Haut in der elektrischen
Spannungsreihe zwischen Kupfer und Antimon an und zeigten,
dass die Stromintensitat wesentlich erhoht wird, wenn als Elek-
trodenKorperverwendetwerden,die in der galvanischen Spannungs¬
reihe von der fur die Haut gefundenen Stelle einerseits und anderer-
seits so weit entfemt sind, dass an den Beriihrungsstellen der
Elektroden zwei hintereinander und nicht gegeneinander ge-
schaltete Elemente entstehen. Sie verwendete deshalb fur die eine
Elektrode Zink, fur die andere Kohle.
Veraguth*) machte im Jahre 1906 nach langeren Studien die
*) Sommer, Die Natur der elektrischen Vorgange an der Haut. Munch,
med. Wochenschr. 1905. No. 51.
*) Fiirxtenau, Die Stellung der menschlichen Haut in der elektrischen
Spannungsreihe. Zentralbl. f. Physiol. 1906.
*) Sommer und Fiirstenau, Die elektrischen Vorgange an der mensch¬
lichen Haut. Klinik f. psych, u. nerv. Krankheiten. I. Heft 3.
4 ) Veraguth, Ueber den galvanischen psychophysischen Reflex. Ber.
iiber den II. Kongr. f. experim. Psychologic. Wurzburg 1906. — Das
psychogalvanische Reflexphanomen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol.
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Grand!agen der sogenannten galvanischen Hautelektrizit&t. 369
ersten Mitteilungen von seinen bis dahin gewonnenen Resultaten.
Er kam, wie er angibt, ohne Kenntnis von Tarchanoffs Arbeit auf
dem Wege einer etwas geanderten Versuchsanordnung zu im
wesentlichen gleichen Resultaten. Er leitete durch den mensch-
lichen Korper den Strom zweier Leclanch6-Elemente, verwendete
ein Spiegelgalvanometer und einen Shunt und stellte eine An-
ordnung zur direkten graphischen Darstellung mittelst photo-
graphischer Films zusammen. Er driickte sich hinsichtlich der
Auffassung der von ihm gewonnenen Resultate und ihrer Ursachen
mit grosser Vorsicht aus.
Die wesentlichsten seiner diesbeziiglichen Anschauungen sollen
im folgenden zusammengefasst werden:
Es ist unwahrscheinlich, dass die Spiegelschwankungen der
Ausdruck einer einfachen Veranderung des Leitungswiderstandes
sind. Die Veranderung der Blutmenge in den Handen der Ver-
8 uchsper8on kaim die Drehung des Galvanometer-Spiegels nicht
verursachen. (Esmarchsche Blutleere, venose Stauung).
Es ist unwahrscheinlich, dass der Schweiss eine wesentliche
Rolle bei dem Zustandekommen der Galvanometerschwankungen
spielt (formalinisierte Hande).
Unwillkiirliche Veranderungen der Kontaktgrosse konnen
nicht alleinige Ursache der Reizkurvenschwankungen sein (Finger-
hutelektrode).
„Es sind nicht die spinalen Nerven, die das anatomische Sub-
strat des zentrifugalen Schenkels des Reflexbogens bilden, denn
wenn ein zweiter galvanischer Strom durch den Korper geschickt
wird, so addiert oder subtrahiert sich dessen Wirkung (je nach
Gleichheit oder Ungleichheit der Richtung des zweiten Stromes)
zur, bezw. von der primaren Kurve, gleichviel ob die differente
Elektrode des zweiten Stromes auf den Verlauf der Armnerven
aufgesetzt sei oder anderswo am Arm.“
Seine erste ausfiihrliche Publikation iiber den Gegenstand
(1907) schliesst Veraguth mit der Konstatierung dreier Probleme.
Das erste sieht er darin, dass in den Ruhekurven die Stromstarke
stetig abnimmt, das zweite darin, dass die Hohlhand die beste
Applikationsstelle fiir die Elektroden ist. Das dritte Problem for-
muliert sich in der Frage: Wo entsteht dieser Strom?
Die Aufgaben, welche er weiterhin gegeben erachtet, sind:
„1. Neue Fragen beziiglich des Leitungswiderstandes des
menschlichen Korpers.
2 . Nachweis der elektromotorischen Quellen im oder am
Korper, die unter Reizen im psychogalvanischen Reflexphanomen
variabel sind.
3. Nachweis der anatomischen Substrate des zentrifugalen
Reflexschenkels bis hinaus zur Elektrode. “
Mai 1907 und Marz 1908. — Ueber die Bedeutung des psychogalvanischen
Reflexes. I. Jahresversamml. d. Gesellsch. d. Nervenarzte. Dresden 1907 etc.
Veraguth und Clotta, Klinischo und experimentelle Beobachtungen.
Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilk. 1907.
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370
Albrecht, Experimented Untersuchungen iiber die
In der Marz 1908 erechienenen Publikation beantwortet Vera-
guth die Frage, ob der psychogalvanische Reflex zum objektiven
Existenznachweis von sensiblen Erapfindungen nach relativ kurz
andauemden exogenen Reizen und von pathologischer Reiz-
schwellenverschiebung dieser Empfindungen dienen kann.
- In der Jahresversammlung der Gesellschaft Deutscher Nerven-
arzte, 1908, sprach Veraguth vom Leitungswideretand der mensch-
lichen Hand und berichtete, dass derselbe nach seinen Experi-
menten nicht nur von der Applikationsstelle der Elektroden,
sondern auch von der Dauer der Durchstromung und der Spannung
des Stromes abhangig und danach verechieden ist.
In einer 1909 erechienenen Monographic 1 ) hat Veraguth seine
bisherigen Arbeiten zusammengefasst und einige neue Kapitel an-
geschlossen, in denen bei kritischer Verwertung des Materials der
anderen Autoren die angefiihrten Anschauungen teilweise modi-
fiziert, teilweise ausgebaut werden.
Wir entnehmen dieser Arbeit, besondere dem Kapitel iiber
die Entstehung des Phanomens, folgende Auffassungen:
In alien Anordnungen handle es sich im psychogavanischen
Reflex um Schwankungen der elektromotorischen Kraft (E) und des
Wideretandes (W).
Die verechiedenen Anordnungen unterecheiden sich nach der
Eigentiimlichkeit dieser zwei Grossen folgendermassen:
In der Anordnung Tarchanoff-Sticker:
E entstehe in der Haut, endosomatisch (variabel)
konstant: Apparat
W < . , , . episomatisch: Kontakt
v»nabel< e r dosomatUch
In der Anordnung Sommer-Fiirstenau :
E entstehe in zwei Elementen episomatisch (variabel), wobei der
Haut die Bedeutung eines Metalles beigemessen wird, und endo¬
somatisch (variabel).
W wie oben.
In der Anordnung Muller s ):
E exosomatisch (Batterie, konstant) und endosomatisch (variabel);
die an den Elektroden entstehenden Strome seien gegeneinander
gerichtet und heben sich auf.
W wie oben.
Die Ohmsche Formel
ordnung:
- ( J -»)
laute demiiach fiir seine An-
= o
J =
E exos. konst, dr E epis. var. links qF E epis. var. rechts + E endos. var.
VV exos. konst. + W epis. var. + W endos. var.
J ) Veraguth, Das psychogalvanische Keflexphanomen. Berlin 1909.
S. Karger.
2 ) Ingenienr Muller hat in. E. mit alien medizinisch-wissenschaft-
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat, 371
Die endosomatische elektromotorische Kraft stamme von den
Aktionsstromen der Nerven, den Driisenstromen, dann den Begleit-
stromen der Muskelkontraktionen, sekundar von Polarisations-
stromen 1 ).
Bezuglich seiner eigenen Anordnung sagt Veraguth (1. c., p. 172):
„Man kann also in arbitrarer Verdichtung der obigen Ueber-
legungen sagen, dass das p. g. Phanomen in der Anordnung
M. ein Ausdruck der Widerstandsvariation der Haut unter
psychischem Reize sei.“
Er schliesst unter Hinweis auf die elektrischen Organe gewisser
Fische mit dem Satze: „Die Haut der Hohlhand und der Fuss-
flache sind in bevorzugtem Masse das elektrisehe Organ des Men-
schen.“
Jung*) hat die Veraguthsche Methodik im Vereine mit mehreren
Schiilern besonders zu Assoziationsexperimenten ausgebaut, einen
Apparat konstruiert, der die fortlaufende graphische Registrierung
ermoglicht, und ist dabei zu Anschauungen gelangt, welche im
wesentlichen mit denjenigen Veraguths harmonieren.
Er meint u. a.: Die galvanometrischen Schwankungen hangen
nicht bloss ab vom Druck der Hande auf die Elektroden, von der
Blutfiille und von der Schweisssekretion, sondern noch von weiteren,
vorderhand nicht bekannten Faktoren.
L. Binswanger 3 ), ein Schuler Jungs, arbeitete auf dem Gebiete
des Assoziationsexperiments mit der Methodik seines Lehrers.
Knauer 3 ) (1908), ein ehemaliger Assistent Sommers, kniipfte
an die Arbeiten des letzteren und Fiirstenaus an.
Er sagt, dass ,,die Haut als eine sehr komplizierte semiper-
meable Membran zu betrachten sei“, welche zwischen zwei Elektro-
lyten, der Gewebsfliissigkeit innen, dem Schweisse aussen, Uegt.
Es entstehe eine Konzentrationskette. Er fasst die Resultate
seiner Untersuchungen in dem Satze zusammen:
lichen Arbeiten, welche durch die von Veraguth durchgefiihrte Verwortung
seiner zu anderen Zwecken zusammenges tell ten Versuchsanordnung in-
auguriert worden sind, einen so geringen Zusarnmenhang, dass man die
Anordnung besser die von Veraguth nennt.
l ) Veraguth meint offenbar, dass die Quelle der endosomatiseh ent-
standen gedachten elektromotorischen Kraft jene chemischen Vorgange
sind, welche unter anderen Umstanden in den sogenannten Aktionsstromen
etc. in Erscheinung treten.
*) Jung . Diskussionsbemerkung zu Vertiguths Vortrag am II. Kongress
f. experim. Psych. Wurzburg.
Ricksher und Jung , Nouvelles recherches sur le phenomena gal-
vaniqueetc. The Journ. of abnormal Psychol. II. p. 189. Ref. Rev. Neurol.
XVI. p. 750.
Peterson und Jung, Psychophysical Investigations. Brain. Juli 1907/
*) L. Binswanger , Ueber das Verhalten des psychogalvanischen
Phanomens beim Assoziationsexperiment. Inaug.-Diss. Zurich 1907.
4 ) Knauer , Ueber den Einfluss von Ausdrucksbewegungen auf das
elektrolytische Potential und die Leitungsfahigkeit der Haut. Klinik f.
psych, u. nerv. Krankheiten. 3. Bd. Heft 1.
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372 Albrecht, Expeiiirentelle XJntersuchungen iiber die
,,Jede psycho-physische Bewegung scheint mit einer Aende-
rung des elektrolytischen Potentials bezw. der Leitfahigkeit der
Haut einherzugehen, die bei unserer Kombination als Zunahme
der Stromintensitat in die Erscheinung tritt.“
Wie man siebt, sind die Auffassungen iiber das Wesen der uns
beschaftigenden Erscheinungen ausserordentlich mannigfaltige. Wie
schon Veraguth richtig hervorgehoben hat, eroffnen sich auf dem
Felde der Elektrophysiologie wie der Neurologic weite Arbeits-
felder. Das nachste, was uns in dieser Richtung zu beschaftigen
hat, ist, Aufklarung zu bringen iiber die Stromquelle und die Ur-
sachen der Stromschwankungen.
Es ergibt sich daraus die
Fragestellung:
1. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft?
2. Welches ist die Quelle der elektromotorischen Kraft ?
3. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren ?
Weiteren Untersuchungen, mit welchen ich bereits beschaftigt
bin, wird die Beantwortung von Fragen vorbehalten sein, welche
sich auf die Beziehungen zu vasomotorischen Vorgangen, sowie
anderen somatischen Erscheinungen und ihren physiologischen Zu-
sammenhang richten.
Versuchsanordnung.
Zur Nachpriifung der bisherigen Versuche wurden Apparate
verwendet, welche die moglichst gleichen Verhaltnisse bieten
konnten wie diejenigen, welche von den anderen Autoren benutzt
wurden.
Es stand mir dazu ein Galvanometer von Edelmann in Miinchen
zur Verfiigung, welches Herr Prof. Klemensietcicz beizustellen so
liebenswiirdig war.
Dasselbe besitzt einen Widerstand des beweglichen Systems
von 740 Ohm und eine Empfindlichkeit von 1 mm = 2 • 10 —9 Amp.
bei einer Skalendistanz von 2 m. Als Nebenschlusswiderstand
wurde ein Stopsel-Rheostat von Hartmann und Braun mit Einzel-
widerstanden von 0,1—400 Ohm verwendet. Dadurch war es mog-
lich, eine graduelle Abstufung der Ausschlage bei jeder beliebigen
Stromintensitat, welche in Frage kam, zu erzielen.
Als Elektroden standen Metallkorper in der Form von Stangen,
Platten und Fingerringen in Verwendung, und zwar vergoldete und
vernickelte Messingrohren, Aluminium und Zink.
Wurden die Extremitaten in Fliissigkeiten getaucht, hiillte
ich den gleichzeitig eintauchenden Metallstab in eine Glasrohre,
wodurch ein zufalliges Beriihren desselben und dadurch mogliche
Kontaktanderungen vermieden wurden. Selbstverstandlich war die
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 373
Fliissigkeit entsprechend erwarmt und die Extremitaten vorher
wie bei alien Vereuchen griindlich gereinigt 1 ).
Den grossten Teil der Versuche machte ich unter Anwendung
moglichst einfacher Verhaltnisse.
Diese bestanden m. E. in der Anwendung von Nickelgriff-
Elektroden mit Ausschluss einer korperfremden Stromquelle, aber
unter Anwendung eines Shunt, so dass diese Versuchsanordnung
sich am meisten der von Tarchanoff gebrauchten naherte, nur mit
dem Unterschiede, dass hier keine unpolarisierbaren Elektroden
in Verwendung standen*). Wenn auch Veraguth behauptet, dass
die Resultate auf dem Wege seiner Versuchsanordnung mit den
von Tarchanoff erzielten nicht identisch, sondem ihnen nur ver-
wandt seien, so musste doch die bis in alle wesentlichen Einzel-
heiten gehende Uebereinstimmung derselben vermuten lassen, dass
diese Resultate auf gleicliartigen Vorgangen beruhen. Es bedeutet
m. E. demnach die Einschaltung einer korperfremden Stromquelle
eine Komplikation. Von vornherein ist keineswegs auszuschliessen,
dass die elektrolytischen Vorgange, welche in den Korpergeweben
zustande kommen konnen, so wie andere nicht oder schwer mess-
bare Vorgange physiologischer Natur, welche Veranderungen in
der physikalischen Konstitution des Korpers bewirken konnen,
z. B. vasomotorische etc., in der Entstehung der zu untersuchen-
den Erscheinungen eine Rolle spielen. Es war deshalb notwendig,
um den Kern der Erscheinungen moglichst rein herauszuschalen,
auch die einfachsten Versuchsverhaltnisse anzuwenden.
Bei alien Versuchen wurde von der Einstellung des Galvano¬
meters auf 0 ausgegangen, die Skala geht beiderseits (rot und
schwarz) bis 30 cm in Millimeter-Teilung.
Es ist bekannthch ndtig ( Veraguth , Monographie, p. 14), mit
den Reizversuchen erst dann zu begixmen, wenn die Schwankungen
des Galvanometers, die sich anfangs einstellen, aufgehort haben,
wenn der Ausschlag gewissermassen stationar geworden ist. Man
geht also von einem Punkte der Ruhekurve aus. Ein solcher ist
in den folgenden Versuchen mit der Bezeichnung „Ruhestellung“
gemeint.
Eine Reihe von Versuchen 'wurde in der Anordnung nach
Veraguth gemacht und standen dabei ebenfalls als korperfremde
Stromquelle ein oder zwei Leclanche-Elemente in Verwendung.
*) Die Reinigung wurde durch Waschen mit Seife und Bvirate in
fliessendem Wasserleitungswaseer und nachherigem griindlichem Abspiilen
der Seife vorgenommen. Zum Abtrocknen standen besonders gereinigte
Handtiicher in Verwendung. Wurde destilliertes Wasser als Elektrode
verwendet, so fand vor dem Eintauchen der Hande eine Abspiilung mit
destilliertem Wasser statt. Alkohol erscheint zum Reinigen nicht geeignet.
weil er in Losungen die Elektrizitat nicht leitet und durch das Eindringen
in die Poren der Haut ein iStromhindernis abgeben und die Ursache von
Beobachtungsfehlern werden kann (vergl. Rolof) in Koranyi-Richter, p. 189).
2 ) Das Fehlen eines Galvanometerausschlages bei derartiger Ver¬
suchsanordnung, von dem Verayuth in seiner Monographie, p. 160, berichtet,
ist jedenfalls auf die eeringe Empfindlichkeit seines Tnstrumentes zuriick-
zufiihren.
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374
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen viber die
Schliesslich habe ich eine eigen© Versuchsanordnung zur
Losung bestimmter Problem© zusammenge3tellt, deren Einzel-
heiten spater beschrieben werden sollen.
I. Wo ist der Sitz der elektromotorischen Kraft?
Die Antwort auf die in der Ueberschrift ge3tellte Frage konnen
wir bei der Anordnung ohne korperfremde Stromquelle in drei
Richtungen suchen:
Entweder:
1. Der Sitz der elektromotorischen Kraft befindet sich im
Korper oder
2. im Korper und am Korper oder
3. am Korper (an der Kontaktstelle der Elektroden) allein.
1st der Sitz der elektromotorischen Kraft im Korper gelegen,
dann miissen, sobald ©3 zu einem Strom kommt, d. h. zum Aus-
gleich von Potentialdifferenzen durch den ausseren Kreis, diese
Potentialdifferenzen im Innern des Korpers schon ausgebildet sein.
Die Richtung des Stromes ist dadurch bestimmt. Wenn die Elek¬
troden demnach nur dem Kontakte dienen, so muss notwendiger-
weise dann, wenn man die Elektroden in den Handen wechselt,
eine Umkehr der Stromrichtung im Galvanometer eintreten.
Ist das Zweite der Fall (Sitz der elektromotorischen Kraft am
und im Korper), dann miissen ebenso wie im ersten Fall© bei Be-
riihrung der Korperteile, welche die Elektroden tragen, unterein-
ander Intensitatsschwankungen entstehen, weil durch diesen Kurz-
schluss der aus dem Korperinnern abgeleitete Strom zum Teil
einen anderen Weg nimmt.
Trifft die dritte Annahme zu, dann miissen sich entgegen-
gesetzte Verhaltnisse ergeben.
Zur Beantwortung dieser Frage wurden zunachst die folgenden
Versuche angestellt.
Versuchsreihe 1.
Wenn ich mit der oben beschriebenen Anordnung: Nickel- oder
Goldelektroden in den Handen ohne korperfremde Stromquelle
einen Menschen in den Galvanometerkreis schaltete, war es mir
zu wiederholten Malen moglich, zu beobachten, dass durch das
rasche Wechseln der beiden Elektroden von einer Hand zur andern
keine Veranderung im Galvanometerausschlag entstand. Das
heisst, hatte ich z. B. 35 mm Spiegelausschlag in der Richtung
nach rechts und wechselte ich nun rasch die Elektroden in den
Handen, so blieb in diesen Fallen der Ausschlag nicht nur in der
Richtung nach rechts bestehen, sondern er zeigte auch nur leichte
Schwankungen iiber wenige Millimeter und stellte sich die Skala
eventuell gleich wieder auf 35 mm ein. Diese Versuche gelangen
mit verschiedenen Versuchspersonen.
Aus diesen Versuchen Idsst sich mit Sicherheit ausschliessen,
dass ein im Innern des Korpers entstandener Strom, also etiva ein
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 375
Muskelstrom, ein Nervenstrom oder ein Sekretionsstrom der Driisen
durch die Elektroden zum Galvanometer abgeleitet worden ist, denti
bet einem solchen hatte uiibedingt das Wechseln der Elektroden eine
Stromwendung im Galvanometer zur Folge haben miissen.
Brachte ich (bei verschiedenen Versuchspersonen) die ange-
feuchteten Fingerriicken der beiden Hande, welche die Elektroden
hielten, miteinander in innigen Kontakt, so entstand dadurch
keine Aenderung der Stromintensitat.
Es geht daher aus diesen Versuchen hervor, dass der Strom
an den metallischen Elektroden selbst entstanden sein muss. Die
Elektroden sind dabei wie die Pole eines Elementes aufzufassen,
welche ihre Qualitat durch das Wechseln in den Handen ebenso
wenig anderten, wie wenn man die beiden Pole eines galvanischen
Elementes in einem Elektrolyten im Glase zueinander in der
Stellung verandert.
Diese Versuche stehen zum Teil in Widerspruch mit den
Resultaten, welche Fiirstenau bei seinen Untersuchungen erhielt.
Fiir8tenau ging von der Auffassung aus, man konne sich die Haut
aktiv an der Stromerzeugung betatigt denken, wie ein Metall, so
dass ausschhesslich der Hautfeuchtigkeit die Funktion eines Elek-
trolyten zukommt. Diese Vermutung scheint von vornherein
einigermassen gewagt. Was soli man sich als Haut in diesem Sinne
vorstellen? Das lebende Gewebe ist von Elektrolyten durchsetzt
und umspiilt. Ihm kann man wohl nicht die Eigenschaften eines
Metalles zumuten. Es bliebe hochstens die Hornschicht der Epi¬
dermis iibrig, um die Rolle eines Metalls in der galvanischen
Spannungsreihe zu spielen.
Seiner Vermutung glaubte Fiirstenau einen beweisenden Halt
durch eine Beobachtung zu geben. Er versuchte, wie sich die Aus-
schlagsrichtung des Galvanometers bei verschiedenen Verhalt-
nissen zwischen rechter Hand-Elektrode, linker Hand-Elektrode
und beim Wechseln der Elektroden verhalt, wenn man immer nur
eine Hand in innigen Kontakt brachte, wahrend die andere eben
nur beriihrt. Er bemerkte dabei ein Wechseln der Ausschlags-
richtung und schloss daraus auf das Entstehen zweier verschieden
gerichteter Strome an den beiden Elektroden.
Ich konnte seine Beobachtungen nicht bestatigen. Meine Ver¬
suche ergaben unter anderem:
Versuch 2.
Versuchs-Person Sophie H., 18 Jahre alt, rothaarig, gesund,
Nickelhand-Elektroden S. W. (Seiten-Wideretand) = 40 Ohm.
Beide Hande ruhig
-1.8 1 )
Rechts festerer Druck
— 2,6
Locker lassen
— 1,7
Links fester Druck
— 2.1
Locker lassen
— 1,4.
') Die Zahlen, welche den Ausschlag angegeben, bedeuten durcli-
wegs, wenn etwas anderes nicht besonders gesagt wird, Zentirneter, also:
1,8 = 18 Millimeter.
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376 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die
Dann entsprechend der Tabelle 2 von Fiiretenau unter gleichen
Verhaltnissen wie im letzten Vereuche, nur mit S. W. von 200 Ohm,
ergaben sich folgende Zahlen:
Versuch 3.
Anordnung:
1. R. voile Hand
L, Fingerepitze
2. L. voile Hand
R. Fingerepitze
Elektroden gewechselt, — 4,3 geht zuriick auf — 0.9.
3. R. voile Hand
L. Fingerepitze
4. L. voile Hand
R. Fingerepitze
Aus diesen Vereuchen ergibt sich: durch den Druck der Hande
wurde ebenso wenig wie durch das vorwiegende Einwirken einer
Hand eine Aenderung der Ausschlagsrichtung hervorgerufen. In
der zweiten und der vierten Anordnung tritt aber eine um das
Dreifache grossere Wirksamkeit der linken Hand zutage (0,9 gegen
0,3 und 3,1 gegen 0,9, dieVereuchspereon istLinkshandem). Etwas,
was uns erlauben konnte, an die Existenz zweier Elemente — je eine
Elektrode und eine Hautstelle — zu denken, liegt nicht vor.
Weitere Untersuchungen Fiirstenaus bezogen sich auf das Ver-
halten des Galvanometerausschlages bei verechiedenen Stellungen
der Elektroden zum Galvanometer und den Handen.
Er ging dabei so vor, dass er die Elektroden „vertauschte“ —
„d. h. die rechte Elektrode mit der Galvanometerlkemme verbindet,
mit welcher vorher die linke verbunden war und umgekehrt“.
Bei einem einfachen Elemente (z. B. zwei Elektroden, die durch
einen befeuchteten Faden verbunden sind) ist der Effekt deraelbe
wie bei einfacher Stromwendung mittels Kommutator. Bei der
Einschaltung des menschlichen Korpers kommt noch das Wechseln
der Hande mit in Frage. Nach unseren Vereuchen (Vereuch 1)
ist zu erwarten, dass beim Vertauschen der Elektroden die Strom-
richtung umschlagt. Denn das Wechseln der Elektroden in den
Handen soli nach unseren Vereuchen bedeutungslos sein, so bliebe
also nur die Stellungsanderung gegeniiber dem Galvanometer in
Wirksamkeit.
Fursienau berichtet andere Resultate in seiner Tabelle IV.
Durch das Vertauschen der Elektroden (zweite Zeile) erhalt er nicht
eine Wendung der Stromrichtung, sondem nur eine Verminderung
der Stromintensitat bei gleicher Stromrichtung. Erst durch das
Kreuzen der Hande (dritte Zeile) erzielt er die Stromwendung. Diese
ist selbstverstandlich, denn die dritte Zeile der Tabelle unter-
scheidet sich der Anordnung nach von der' ersten nur dadurch,
dass der Strom umgekehrt durch das Galvanometer geschickt
wird. Es bleibt also zunachst die Frage offen, warum seine zweite
Zeile nicht unseren Erwartungen entspricht.
— 0,9
-3,1
— 0,3
— 0,9
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 377
Zur Nachprdfung der Furstenausohen Ergebnisse wurde der
folgende Versuch gemacht:
Es wurden dabei aus beetimmten Griinden nicht die ganz gleichen
Versuchsbedingungen, wie FiirsUnau eie anwendete, beibehalten. Dae
„Vertauschen“ der Elektroden ist ein Vorgang, welcher nicht gleichgiiltig
eein kann, weii er 1. Zeit benotigt, 2. ein ManipuJieren an Klemmen inner -
halb dee Stromkreises bedingt, wodurch bekanntlich iramer Stromschwan-
kungen hervorgerufen werden, 3. ein Abeetzen der Hande von den Elek¬
troden fur mindestens einige Sekunden zur Folge hat. Verwendet man
hingegen einen Quecksilbernapfkommutator und zylinderformige Elek¬
troden, so konnen die von Fiirstenau erreichten Stellungen mit Verroeidung
der oben erwahnten Momente, deren Folgen wir nicht ganz ermeesen konnen.
zustande gebracht werden.
Versuch 4.
Versuchsperson
Sophie H.
S. W. =
40 Ohm.
Elektroden
Gold
Nickel
Alumin.
Zink
1
Erste Schaltung
+ 2,7
+ 1,8
+ 2,2
+ 2,2
2
Nach Wendung
— 2,6
-1,9
— 1,6
-1,9
3
Erste Schaltung
+ 2,6
+ 2,1
+ 1,6
+ 2,0
4
Hande gewechselt
+ 1,7
+ 2,0
— 3,5
— 0,3
5
Nach Wendung
— 1,6
-2,1
+ 0,5
+ 0,8
Unsere erste Zeile (erete Schaltung) entspricht der ersten Zeile
Furstenaus. Es fiihren hier wie dort alle Zahlen + Vorzeichen.
Unsere zweite Zeile (nach Wendung) entspricht seiner dritten. Es
sind hier und dort allenthalben — Vorzeichen vorhanden.
Die Stellung entsprechend der zweiten Zeile Furstenaus ist bei
tins in der fiinften Zeile (Hande gewechselt, nach Wendung) erreicht.
Hier setzen die Unterschiede ein. Unsere Ergebnisse mit Nickel
und Gold entsprechen den von uns vorhin angefiihrten Erwar-
tungen und stehen im Widerspruche zu den Resultaten Furstenaus.
Wir haben — Vorzeichen, er + Vorzeichen. Hingegen entsprechen
die Erscheinungen bei Aluminium und Zink den Angaben Furstenaus.
Auch wir haben hier gleiche Vorzeichen wie in der Ausgangsstellung,
nur verminderte Stromintensitat.
Wir wollen hier einen Versuch zur Erklarung dieser Erschei-
nungen unterlassen, nur einige Tatsachen hervorheben.
Ein fliichtiger Ueberblick iiber die Zahlen lehrt u. a. folgendes:
Die Aenderungen in den Zahlengrossen, welche wir bei Gold und
Nickel konstatieren, wird sehr unbedeutend, die bei Aluminium
und Zink hingegen teilweise sehr bemerkenswert. So sehen wir bei
Aluminium zwischen Zeile 1 und 2 Differenzen von 0,6 (6 mm oder
27 pCt. des Ausschlages), zwischen 4 und 5 Differenzen von 3,0
(30 mm oder 85 pCt. des Ausschlages) gegen die zu erwartenden
Grossen, ohne dass in der ganzen Anordnung etwas anderes vor
sich gegangen ware als ein einfaches Umlegen des Hebels im Kom-
mutator. Das allein berechtigt uns zur Folgerung, dass bei den
beiden weichen Metallen Aluminium und Zink andere (spater zu
besprechende) Momente wirksam sind als bei Gold und Nickel.
Durch die Hypothese Furstenaus werden diese Erscheinungen nicht
geklart. Finden wir bei Aluminium und Zink nach dem Wechseln
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378 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
der Hande ein Umschlagen der Stromrichtung, also scheinbar eine
Bestatigung der Anschauung Fiirstenaus, so stehen doch die anderen
Ergebnisse dieser Versuche mit seinen Resultaten im Widerspruch.
Wir konnen letztere demnach keineswegs als beweisend ansehen,
wahrend die vorhin gegebenen Daten die Annahme zweier Ele-
mente einfach ausschliessen.
Wir rniissen deshalb daran festhalten, doss sick der Sitz der elek~
tromotorischen Kraft an den Elektroden befindet, tvobei diese die Pole
einer galvanischen Kette darstellen.
II. Welches 1st die Quelle der elektromotorischen Kraft?
Die vorstehenden Versuche haben bereits gezeigt, dass es sich
bei dem durch das Galvanometer konstatierten Strom nicht um
einen im Korper als Sekretionsstrom der Driisen oder als Muskel-
oder Nerven-Strom entstandenen Strom handeln kann, sondem
die elektromotorischen Krafte konnen nur an der Beriihrungsstelle
zwischen Haut und Elektrode entstehen.
Nach den allgemeinen Verhaltnissen ist von vomherein wahr-
scheinlich, dass die chemischen Einwirkungen auf die beiden Elek¬
troden hierbei von wesentlicher Bedeutung sind, wenngleich auch
Thermostrome vorhanden sein konnen. Indes liess sich zeigen, dass
die Thermostrome von sehr geringer Intensitat waren, und in
unserer Versuchsanordnung hochstens einige Millimeter Ausschlag
ergaben, wahrend die durch die Verb indung der Elektroden mit
den Handen erzielten Ausschlage entsprechend den gleichen Ver¬
haltnissen mehrere Zentimeter betrugen. Um dies zu erweisen,
wurde folgender Versuch angestellt.
Versuch 5.
Es wurde sowohl in der Anordnung Tarchanoffs wie in der
Anordnung Veraguths der Versuchsperson in die eine hohle Nickel-
elektrode, wahrend der Stromkreis geschlossen war, ein erhitztes
Metallstuck auf die Dauer mehrerer Sekunden eingefiihrt. Dabei
zeigte sich das erstemal, wahrend die Person angab, lebhafte
Warme zu fiihlen, ein deutlicher Galvanometerausschlag.
Nachdem die Elektroden rasch wieder auf die gleiche Tempe-
ratur gebracht worden waren, wurde der Versuch wiederholt, ohne
dass sich ein Ausschlag zeigte. Nur bei der Anordnung nach
Tarchanoff zeigten sich kleine Schwankungen, welche als Wir-
kungen von Thermostromen angesprochen werden konnten. Daraus
ist zu entnehmen, dass der zuerst registrierte Ausschlag so zu be-
werten ist wie alle anderen Reizwirkungen. Bekanntlich fehlt bei
rascher Wiederholung desselben Reizes die psycho-galvanische
Reaktion. Hatte mm die Erwarmung als solche eine erhebliche
Wirkimg gehabt, d. h. namlich, hatte sie einen Thermostrom er-
zeugt, dessen Intensitat auch nur einen erheblichen Bruchteil der
Intensitatsdifferenz, welche in der psycho-galvanischen Reaktion
in Erscheinung tritt, betragen hatte, so ware das Entstehen eines
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 379
Ausschlages abseits jeder psychogalvanischen Reaktion eine not-
wendige Folge. Das Ausbleiben eines Ausschlages des Galvano¬
meters nach der zweiten Erwarmung lasst deshalb um so eher mit
Sicherheit annehmen, dass Thermostrome bei den in Rede stehen-
den Erscheinungen keine Rolle spielen, als die durch die Hand be-
wirkte Erwarmung unverhaltnismassig geringer ist als die im Ex-
perimente zur Wirkung gebrachte.
Haben wir demnach Ursache, die Entstehung des Stromes
wesentlich in einer chemischen Aktion, welche sich zwischen den
beiden Metallelektroden und ihrer Umgebung vollzieht, zu suchen,
so werden wir unser Augenmerk neben den Elektroden in erster
Linie auf die Hautsekrete als das nachstliegende und wichtigste
Moment zu richten haben.
Es erscheint von vomherein merkwiirdig, dass bei Anwendung
von Elektroden aus dem gleichen Metalle sich zwischen denselben
Potentialdifferenzen bilden sollen. Wir konnen uns aber davon,
dass dies tatsachlich geschieht, in folgender Art leicht iiberzeugen.
Wenn wir zwei Zinkstabe, wie sie in diesen Versuchen zur
Verwendung kamen, in ein Glas mit destilhertem Wasser stellen,
so zeigt sich ein Strom von einer Intensitat, welche Ausschlage von
mehreren MiUimetem bis zu Zentimetem bewirkt. Die beiden
Metallstabe waren eben nicht chemisch rein, sondem hatten wahr-
scheinlich nicht nur eine differente Zusammensetzung, sondem
vielleicht an der Oberflache eine Menge von loslichen Salzen, welche
sofort in die Fliissigkeit iibergehen konnten und dadurch zur Ent¬
stehung von Stromen beizutragen vermochten. Einmal erhielt
ich z. B. am Schluss einer Versuchsreihe, durch welche das destil-
lierte Wasser etwas verunreinigt war, beim Hineinhangen beider
Zinkstabe in ein Glas (S. W\ 100 Ohm) einen Ausschlag von 7 bis
8 cm (0,000001176—0,000001344 Amp.).
Stellen wir uns vor, dass statt des destillierten Wassers der
Schweiss der Hand mit dem Metall in Beriihrung kommt, so ist
die Entstehung von Potentialdifferenzen zwischen den beiden
Metallen um so leichter verstandlieh.
Veraguth hat seinerzeit angegeben, dass das Formalinisieren
der Hande, also die Ausschaltung des Schweisses, keinen Einfluss
auf das Gelingen der Experimente ausiibt. Nach Einwirken von
Belladonnapflaster konnte er jedoch eine wesentliche Verkleinerung
der Erscheinungen konstatieren und ist deshalb geneigt, den
Schweissdriisen eine gewisse Bedeutung beizumessen.
Sommer schloss andererseits aus dem Fehlschlagen des Ver-
suches bei einem Manne, dessen Hande sehr viel mit Alkohol in
Beriihrung gekommen waren, dass die Schweisssekretion von
wesentlichstem Einflusse ist.
Versuch 6.
Um die Angaben Veraguths nachzupriifen, liess ich mir die
beiden Endglieder des rechten Ringfingers und jene des linken
Zeigefingers mit in 10 proz. Formalinlosung getrankter Watte um-
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380
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc.
wickeln und behielt diesen, durch einen wasserdichten Stoff ge-
sicherten Verband 6 Stunden auf den Fingem. 6 Stunden, nach-
dem ich den Verband abgenommen hatte, wurden die Versuche
gemacht. Selbstverstandlich blieben die formalinisierten. Finger
in der Zwischenzeit durch eine schiitzende Wattehiille dem Ein-
flusse fremder Stoffe, insbesondere dem Schweisse der Nachbar-
finger, entzogen. Als Elektroden wurden die Nickelringelektroden
verwendet.
Vor Beginn der Versuche zeigten sich bei Verbindung der bei-
den freihangenden Elektroden Schwankungen von 1—2 mm
(Galvanometer ohne Shimt). Nach dem Aufstecken beider Elek¬
troden auf die formalinisierten Finger ergab sich ein Ausschlag
nach Schwarz 0,3 (6 • 10 -9 Amp.), welcher durch mehrere Minuten
unverandert stehen bheb. Nach dem Abnehmen der Elektroden
stellt sich das Galvanometer auf 0 ein.
Nach dem Aufstecken der Elektroden auf die nicht formalini¬
sierten korrespondierenden Finger zeigt sich ein Ausschlag zuerst
auf Schwarz 4,0, dann auf Rot 6,0, welcher wieder umschlagt, auf
Schwarz 2,0 geht und auf Rot 1,4 (28 • 10~ 9 Amp.) schliesslich
stehen bleibt.
Leichtes Anziehen der rechten Ringelektrode mit dem daran
hangenden Drahte bewirkt eine Verstarkung des Ausschlages von
Rot 1,4 auf R. 3,6. Allmahlich geht der Ausschlag zuriick auf
R. 0,3, steigt beim Nachlassen des Fingers auf R. 6,5, geht wieder
zuriick auf R. 1,9. Beim Anziehen des linken Ringfingers stellt
sich das Galvanometer auf S. 2,3 ein, schwankt dann zwischen
1.0 und 2.0. Beim Nachlassen dieses Fingers ergeben sich Schwan¬
kungen zwischen S. 1,7 und S. 2,5. Nach dem Abnehmen der
Elektroden Einstellung auf 0. Danach werden die Elektroden ab-
gewischt und neuerdings auf die formalinisierten Finger aufge-
steckt, wobei sich das Galvanometer auf R. 0,5 einstellt.
Anziehen oder Auslassen des rechten Ringfingers verursacht
gar keine Veranderung. Anziehen oder Auslassen des linken Zeige-
fingers verursachte Bewegungen im Ausmasse von nicht einmal
y 2 mm. Nun wurden die Elektroden auf die formalinisierten Finger
so fest hinaufgeschoben, dass ein starker, beiderseits gleich schmerz-
hafter Druck zustande kam. Am rechten Ringfinger entstand
eine Cyanose der Fingerkuppe, am linken Zeigefinger eine Anami-
sierung. Der Galvanometerausschlag steigerte sich von R. 0,5 auf
R. 0,7 und ging sehr allmahlich im Verlaufe mehrerer Minuten auf
0,6 zuriick.
Lebhafte Bewegungen der Finger beider Hande, krampfhafte
Muskelanstrengungen in den Armen, welche zu fiihlbarem Schweiss-
ausbruch in den Handen fuhrten, riefen Aenderimgen des Aus¬
schlages von ausserordentlicher Tragheit und im Maximum von
2 mm hervor.
Wir konnen demnach, wenn wir diese Erscheinungen mit jenen
am nicht formalinisierten Finger vergleichen, mit vollem Recht
behaupten, dass die Ausschaltung der Schweisssekretion ein Aus-
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Sano, Beitrag zur vergleiohenden Anatom ie etc. 381
bleiben der normalen und gewohnten galvanischen Vorgange be-
deutet.
Die Beruhrung der Fingerringe untereinander ergibt ein Zu-
riickgehen von 0,8 auf 0,5, wahrend eine Beruhrung der Fixier-
schrauben der Klemmen, durch welche die Lotstelle an den Elek-
troden aus dem Kreise ausgeschaltet wird, ein Zuruckgehen dee
Ausschlages auf 0,4 verursacht. Bei diesen letzten Versuchen be-
fanden sich die Elektroden selbstverstandlich auch an den formalini-
aierten Fingem.
Wahrend des Verlaufes des Versuches Hess sich weiter folgen-
des beobachten: Wenn man die beiden vom Galvanometer fiihren-
den Kabel in den beiden Handen haltend, die daran befestigten
Ringelektroden in Kontakt brachte, so entstanden Ausschliige von
4—5 min, welche sich noch um 2 —3 mm steigerten, wenn man
die Kabel knapp oberhalb oder an der mit einer isolierenden
Schicht umgebenen Austrittsstelle des dicken Kupferdrahtes bezw.
seiner Verbindungsstelle mit den Leitungsdrahten des Kabels anf asste.
Es ist aus diesen Versuchen wohl ohne weiteres klar, dass die
Strome, welche sich nach dem Aufstecken der Elektroden auf die
formalinisierten Finger zeigten, als Thermostrome aufgefasst
werden miissen. Sie sind in ihrer Intensitat von gleicher Grosse
wie die zweifellos als Thermostrome aufzufassenden Strome, welche
sich von den Elektroden ableiten lassen, die in keinerlei Verbindung
mit dem Korper stehen. Sie nehmen adaquat dem hergestellten
Kurzschlusse ab sie zeigen keinerlei Schwankungen wie die Strome,
welche von den nicht formalinisierten Fingem abgeleitet werden,
nur die mit starker Erhitzung und lebhaftem Schweissausbruche
verbundene Muskelanstrengung verursacht eine trage und mini¬
male Vergrosserung des Ausschlages.
Wegen einiger Hindemisse muss ten die oben geschilderten
Versuche unterbrochen werden und konnten erst mehrere Stunden
spater fortgesetzt werden. (Fortsetzung folgt.)
(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerve n-
klinik der CharitA)
Beitrag zur vergleichenden Anatomie der Substantia nigra,
des Corpus Luysii und der Zona ineerta.
Von
Dr. TORATA SANO.
(Fortsetzung.)
(Hierzu Taf. XXIII—XXIV.)
3. Lemur catta.
Unter den Halbaffen habe ich zur Untersuchung die Serie eines
Gehims von Lemur catta gewahlt. Ich werde auch hier die Be-
Monataschrift f. Psychiatrie u, Neurologie. Bd. XXVII. Heft 4. 26
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A
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3$2 Sano, Beitrag but vergleichenden Anatomie
schreibung und die Vergleichung an die Besprechung einzelner
Schnitte bezw. Figuren ankniipfen.
Der distalste Schnitt 34 1 (vergl. Fig. 14) schneidet ventral das
vordere Briickensechstel.
Die Substantia nigra findet sich in der lateralen Partie zwischen
dem Lemniscus medialis und dem Fuss. IbreDicke betragt 1,4 mm.
Der laterale Teil des Fusses ist noch sehr schmal und zeigt etwas
locker gestellte Faserquerschnitte, wahrend der mediale Teil viel
kompakter ist.
Die Substantia reticulata medialis pedis ist andeutungsweise
bereits vorhanden; allerdings lasst sie sich von dem Bruckengrau
nicht scharf abgrenzen. Zwischen dem medialen Fussdrittel und der
medialen Schleife schickt das Bruckengrau einen gezackten Fort-
satz lateralwarts, der in einigen Beziehungen an den Processus
faciniatus 1 ) der niederen Sauger erinnert.
Wie beim Menschen und Macacus und sogar noch viel deutlicher
kann man bei Lemur zwei Hauptteile der Substantia nigra unter-
scheiden, einen dorsalen Teil, der aus ziemlich kompakter grauer
Substanz besteht, und einen ventralen Teil, welcher maschenformig
aufgebaut ist. Den ersteren bezeichne ich auch bei Lemur als Zona
compacta der Substantia nigra, den letzteren als Zona reticulata
der Substantia nigra. Auf dem Schnitt 34 ist nur die Zona com¬
pacta substantiae nigrae in vollem Umfang, die Zona reticulata
nur in ihrem lateralen Teil zu sehen. Der lateralste Teil der Zona
reticulata entspricht dem Processus lateralis unserer friiheren Be-
schreibung. Auch bei Lemur hangt die Zona compacta substantiae
nigrae lateralwarts mit dem schon beim Menschen und dem Makak
nachgewiesenen Randfeld M zusammen, welches seinerseits medial
unmittelbar an die aufsteigende Vordervierhiigelschleife angrenzt.
Die Fasermassen, welche auf diesem Schnitte im Bereich der
Substantia nigra auftreten, sind folgende:
1. Quergetroffene Langsbiindel innerhalb des lateralen Ab-
schnittes der Zona reticulata substantiae nigrae, welche mit den
Fasciculi pontini laterales identisch sind. Die Herkunft dieser Langs¬
biindel zu verfolgen. bietet ein ausserordentlich grosses Interesse.
Um dies klar zu stellen, muss etwas weiter ausgeholt werden.
Die mediale Schleife lasst schon auf dem Objekttrager 25 sehr scharf
die zwei schon von Hatschek 2 ) und anderen beschriebenen Areale,
ein mediales und ein laterales, mmSch und lmSch erkennen.
Ich will dieselben als mediales Areal der medialen Schleife
und laterales Areal der medialen Schleife bezeichnen. Auf
Objekttrager 25 sind dieselben noch durch eine ziemlich breite
Brucke von Bundelquerschnitten verbunden. Auf Objekt¬
trager 30 hat sich das laterale Areal der medialen Schleife von dem
medialen Areal der medialen Schleife schon fast ganz losgetrennt,
1 ) Ziehen, Th., Das Zentralnerven9ystcm der Monotremen und Marsu-
pialier. II. Teil. S. 807.
-') Arbeiten aus demO&ers/emcrschenInstitut. 1904. Bd. 11. S. 144 ff.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inccrta. 383
•
d. h. die verbindende Briicke ist sehr schmal geworden. Zugleich
beginnt der Uebergang des lateralen Areals der medialen Schleife
in die Vordervierhiigelschleife. Auf Objekttrager 32 nisten sich
in dem lateralen Areal der medialen Schleife, namentlich an der
ventralen Seite desselben, Balken grauer Substanz ein, die auf den
folgenden Schnitten sich vorzugsweise lateralwarts ausbreiten.
Diese Balken grauer Substanz stellen den ersten Anfang der Zona
reticulata substantiae nigrae dar. Durch diese Balken werden
zugleich im ventralen Teil des lateralen Areals der medialen Schleife
einzelne Biindelgruppen gewissermassen abgeschniirt, welche in jeder
Beziehung den Fasciculi pontini laterales entsprechen. Zugleich
nimmt die Entbiindelung des lateralen Areals der medialen Schleife
in die Vordervierhiigelschleife, d. h. also in dorsaler Richtung,
ihren Fortgang. Auf dem in unserer Figur dargestellten Schnitte
sieht man noch den Rest dieser sich in die Vordervierhiigelschleife
entbundelnden Fasera. Diese Entbiindelung hat so stattgefunden,
dass zuerst die lateralen und ventralen Fasem des lateralen Areals
der medialen Schleife sich dorsalwarts wendeten und dann die me¬
dialen Fasem desselben Areals folgten. Dabei blieben im ventro-
lateralen Teil des lateralen Areals der medialen Schleife noch zahl-
reiche Biindel zuriick, und diese sind mit den Fasciculi pontini
laterales identisch. In der Tat ergibt sich, dass diese Biindel,
ganz wie es Schlesinger und Flechsig beschrieben haben, allmahlich
dem Fuss einverleibt werden. Mit anderen Worten, der laterale
Teil der medialen Schleife (laterales Areal der medialen Schleife)
geht teils in die Vordervierhiigelschleife, teils als Fussschleife von
Flechsig in den Fuss liber.
2. Zerstreute, d. h. nicht biindelformig zusammengeordnete
langs oder schief getroffene Fasem, die in der Zona compacta
substantiae nigrae ventromedialwarts verlaufen.
3. Ein allerdings erst auf den folgenden Schnitten klar hervor-
tretendes Geflecht in sehr mannigfachen Richtungen verlaufender
Fasem, welches im zweiten Sechstel — das laterale als erstes ge-
zahlt — am starksten entwickelt ist und hier die ganze Breite der
Zona compacta substantiae nigrae einnimmt und sich noch in das
Maschenwerk der Zona reticulata hineinerstreckt, wahrend es gegen
den medialen Abschnitt der Zona compacta hin mehr und mehr
abnimmt. Es ist dies offenbar dasselbe Feld, welches wir bei Maca-
cus und Mensch als D 1 bezeichnet haben. Das Feld D m ist hier noch
nicht deutlich zu sehen.
4. Feme quergeschnittene Fasem im lateralsten Teil der Zona
compacta und im Anschluss an das Feld M. Das auf der Figur mit
mm Sch bezeichnete, medial von der Substantia perforata posterior
gelegene Biindelfeld ist das mediale Hauptfeld der medialen Schleife.
Cerebralwarts geht es grosstenteils ebenfalls in die Vordervierhiigel-
schleife iiber. Verfolgt man die Serie genau, so ergibt sich, dass
sich aus diesem Gebiete nur sehr sparliche Biindel vereinzelt ventral-
warts abzweigen, die dem Biindel von der Schleife zumFusse, also dem
sogenannten Spritzkaschen Biindel und somit den von mir beim
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384 Sado, Beitrag zur vergleichenden Anatomie
Macacus und Menschen beschriebenen Fasciculi pontini mediates
entsprechen. Jedenfalls erscheint die Verkiimmerung dieser Biindel
bei Lemur sehr bemerkenswert.
Die bei Macacus beschriebene Faserschicht S ist unseres
Dafiirhaltens bei Lemur vertreten durch die obenerwahnte Briicke
zwischen dem lateralen Areal und dem medialen Areal der medialen
Schleife. Ebenso wie bei Macacus die SchichtS in spinalerenEbenen,
z. B. auf Objekttrager 234, die Verbindung zwischen den beiden
Arealen der medialen Schleife darstellt und sich erst spa ter von ihnen
loslost, um teils in den Fuss, teils in die Vordervierhiigelschleife iiber-
zutreten, ebenso entbiindelt sich der oben als Verbindungsbriicke
bezeichnete Teil der medialen Schleife bei Lemur teils dorsalwarts
in die Vordervierhiigelschleife, teils ventralwarts gegen das Fuss-
feld hin. Ein Unterschied besteht nur insofem, als der letztere Anted
bei Lemur erheblich geringer ist als bei Macacus.
Das Randfeld M ist schon auf dem Objekttrager 33 3 , wo die
Substantia nigra noch nicht deutlich ist, zu sehen.
Auf Schnitt 36*, welcher ventral die Bindearmkreuzung vor
dem Erscheinen des roten Kerns trifft, ist die Substantia nigra
schon erheblich grosser; sie hat sich namentlich medialwarts aus-
gedehnt. Ihre Dicke betragt 1,6 mm. Die Zona reticulata ist noch
immer nur im lateralen Teil deutlich zu erkennen. Interessant ist,
dass die Substantia nigra im lateralen Teil durch ein ziemlich
dichtes Maschenwerk, welches die Vordervierhiigelschleife durch-
setzt, mit dem dorsolateralen Grau der Haube in Verbindung steht.
In der Zona compacta substantiae nigrae, die jetzt im allgemeinen
faserreicher ist, zeigt sich das Geflecht D 1 starker, und die Fasern
desselben ziehen, wie friiher, in das Maschenwerk der Fasciculi
pontini laterales. Das Feld D m ist noch nicht gut entwickelt
und auch nicht scharf abgegrenzt. Man kann ziemlich deutlich
sehen, dass die Fasern der Geflechte wenigstens zum Teil von den
direkt aus der Haube in die Substantia nigra hineinziehenden
langsgetroffenen Fasern stammen (Fibrae efferentes tecti). In-
sofern ist die Angabe im Marburgschen Atlas 1 ), welcher das Geflecht
D 1 ohne weiteres als Feld der Fibrae efferentes tecti bezeichnet,
sicher nicht ganz zutreffend.
Trotz der schwachen Entwicklung des Geflechtes D n> sieht
man jetzt ein Biindel langsgetroffener Fasern, das sich innerhalb
der Zona compacta substantiae nigrae von der Gegend medial von
D 1 bis zur medialsten Ecke der Zona compacta substantiae nigrae
erstreckt. Seine Fasern scheinen aus den Geflechten und wohl auch
aus den Fibrae efferentes tecti zu stammen. Cerebralwarts bilden
sie grosstenteils das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus
corporis mamillaris. Einzelne Fasern treten auch in das Maschen¬
werk der Substantia reticulata medialis pedis ein, vielleicht auch
in das Stratum intermedium der Substantia nigra; ein Zusammen-
hang mit dem Tractus peduncularis transversus ist sehr zweifelhaft.
') Otto Marburg, Mikroskopisch-topograpliischer Atlas des menseh-
lichen Zentralnervensystems. Wien 1904. Fig. 34, 35.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inoerta. 385
Auf Schnitt 38 a , welcher ventral das Ganglion interpedunculare
schneidet, betragt die Dicke der Substantia nigra 3,3 mm . Sie
kommuniziert cUrekt und breit mit der Substantia perforata
posterior, weil der Fuss und die mediate Schleife jetzt auch medial-
warts auseinanderweichen. Der Processus lateralis ist viel grosser
geworden. Die Zona reticulata ist jetzt nicht nur in der lateralen
Partie, sondern auch in der medialen Partie der Substantia nigra
deutlich zu erkennen; am starksten ausgebildet ist sie noch immer
in dem an den Processus lateralis medial sich anschliessendenGebiet,
in welches auch die Fasciculi pontini laterales (Fussschleife Flechsigs )
noch immer eingelagert sind. In der Zona compacta ist das Geflecht
D 1 sehr machtig entwickelt, wahrend das Geflecht D m immer noch
sehr schwach bleibt.
Das Stratum intermedium,das in den vorhergehendenSchnitten
nicht sehr deutlich hervortrat, zeigt sich hier als ziemlich breite
Schicht meistens schief getroffener Fasern, und zwar fast nur im
Bereich des Processus lateralis. Sie scheinen sich dem Fuss, viel-
leicht auch dem Propons, weiterhin zuzugesellen.
Die Substantia nigra geht ventromedialwarts kontinuierlich
in das Pedamentum laterale fiber. Letzteres ist kurz, aber breit
und enthalt wenige sehr feine, dorsomedial verlaufende Fasern.
Das Bfindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis ma-
millaris in der dorsalen Partie der Zona compacta ist jetzt starker
entwickelt und von derGegend des Geflechtes D 1 bis zum Pedunculus
corporis mamillaris zu verfolgen. Das Randfeld M ist nicht mehr
scharf abzugrenzen. Es scbeint zum Teil die Fasern des Propons
aufzunehmen.
Der Schnitt 42 4 (vergl. Fig. 15) schneidet ventral den Nucleus
ruber und bereits die Wurzelbfindel des OculomotoriUs.
Die Substantia nigra ist noch grosser und sehr faserreich.
Ihre Dicke betragt im Bereich des Processus lateralis 3,5 mm.
In der Zona compacta substantiae nigrae sieht man die beiden
Geflechte, das stark entwickelte D l und das ziemlich starke D m ,
die fast miteinander zusammenfliessen.
Die Zona reticulata substantiae nigrae hat sich im medialen
Abschnitt noch starker entwickelt, wie ein Vergleich mit Fig. 14
sofort ergibt; nur im mittleren Teil bleibt ein Gebiet, in welcbem
das Maschenwerk der Zona reticulata sehr zurficktritt. Ich lasse
dahingestellt, ob das letztere Gebiet, das ich mit O bezeichne,
dem Bfindel C des Macacus entspricht.
Ventral vom roten Kern sieht man zunachst die aufsteigenden
Fasern des medialen Areals der medialen Schleife. Dann folgt eine
medialwarts breite, lateralwarts etwas schmale Zone dichtge-
drangter, schrag dorsolateral verlaufender Fasern, die zum Teil wohl
schon der frfiher besprochenen halbmondfbrmigen Schicht ent¬
spricht. Auf dem Objekttrager 39 zeigt sie sich zum ersten Male als
eine ganz schmale, ventral vom medialen Areal der medialen Schleife
gelegene Schicht. Auf dem jetzt abgebildeten Schnitt wird sie
ubrigens von den medialen Schleifenfasem zum Teil durchsetzt.
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386
S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic
Ein Zug von Fasem ist ventral von dieser Schicht zu sehen.
Er ist vielleicht mit dem Faserzug B bei dem Macacus und dem
Menschen identisch. Er tritt auf den Objekttrager 41 2 zum ersten
Male auf. Er ist iibrigens bei Lemur noch schwerer als bei Macacus
einerseits von der halbmondformigen Schicht und andererseits
vom Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis ma-
millaris und dem Tractus peduncularis trans versus zu trennen.
Ventral von diesem Faserzug sieht man eine schmale, zellarme
Schicht, die der beim Menschen beschriebenen entspricht.
Der Tractus peduncularis trans versus ist hier zum ersten Male
andeutungsweise neben dem Faserzug B zu sehen.
Sehr interessant ist auch ein Faserbiindel, das wurzelartig
aus dem ventralen Teil der Zona compacta entspringt und radiar
die Substantia nigra in ventrolateraler Richtung durchsetzt,
um in der dorsalsten Schicht des Fusses zu enden. In der Zona
compacta scheint dieses Biindel vorzugsweise ventromedial ab-
zubiegen. Vielleicht tritt es auch in Verbindung mit einem hier
gelegenen ziemlich isolierten Zellhaufen, der als K' bezeichnet ist
und auch bei dem Menschen vorhanden ist. Auf dem Objekttrager 42
ist er nur angedeutet, auf Objekttrager 44 ist er ausserordentlich
stark ausgepragt, auf Fig. 15 ist er mit K' bezeichnet.
Die mit Q bezeichnete Biindelgruppe im dorsalen Teil der
Substantia nigra entspricht wahrscheinlich den Q-Biindeln des
Menschen- und Macacus-Gehims.
Der Processus lateralis zeigt jetzt eine eben beginnende Zer-
blatterung.
Das Feld M ist kaum noch als solches zu erkennen.
Die Substantia reticulata lateralis pedis ist im lateralen Teil
des Fusses, also noch lateral vom Processus lateralis substantiae
nigrae, angedeutet.
Auf diesem und auf dem vorhergehenden Schnitt ist die ausser-
ordentliche Schmalheit des lateralen Fussabschnittes im dorso-
ventralen Durchmesser besonders bemerkenswert.
Der Schnitt 45 4 (vergl. Fig. 16) schneidet ventral den vorderen
Rand des Ganglion interpedunculare.
Die Substantia nigra ist etwas kleiner geworden. Ihre Dicke
betragt 3,0 mm.
Die Zona compacta ist viel schmaler geworden. Die jetzt sehr
machtig entwickelte Zona reticulata nimmt den grossten Teil der
Substantia nigra ein. Das Gebiet 0 bleibt wie friiher. Die Fasern
der Geflechte D 1 und D m , die nicht mehr differenziert und
immer noch mit einander verschmolzen sind, sind im allgemeinen
sparlicher geworden.
Die starkere Ganglienzellenansammlung, die oben als K'
bezeichnet wurde, ist jetzt noch ausserordentlich deutlich. Sie
liegt unmittelbar dorsomedial vom Feld 0. Das ausK' entspringende
Biischel ist durch wenige Fasern vertreten. Diese Fasem sind jetzt
grosstenteils in dem Maschenwerk der Zona reticulata zu sehen.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 387
Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis
mamillaris hangt jetzt mit letzterem deutlich zusamm -n.
Das Faserzeug B ist kaum abzugrenzen und scheint in die
Forelsche Haubenkreuzung iiberzutreten.
Die halbmondformige Schicht ist breiter, ihre Fasern ziehen
anscheinend zum Teil in die Hatscheksche, zum Teil in die For eisc he .
Kreuzung.
Man sieht den Tractus peduncularis transversus zwischen dem
Fuss und dem Pedamentum laterale ventralwarts ziehen und den
medialsten Fussteil umschlingen. Er ist jedoch sehr faserarm.
Der Processus lateralis wird jetzt allenthalben von den in den
Fuss eintretenden Biindelschiefschnitten durchsetzt. Die Sub¬
stantia reticulata pedis ist jetzt etwa hakenformig angeordnet.
Sie bildet zusammen mit den Lamellen, in welche der Processus
lateralis zerfallen ist, die A-Felder, welche ich beim Menschen und
Macacus beschrieben habe. Dabei ist allerdings zweierlei zu beriick-
sichtigen. Erstens bestehen die A-Felder hier nicht aus gelatinoser
Substanz, wie ich das fiir einige A-Felder bei Menschen und Macacus
gefunden habe, und zweitens kann selbstverstandlich nicht jede
hellere Schicht ohne weiteres als graue Substanz angesehen werden,
da die den Fuss durchbrechenden Faserschichten zuweilen ebenfalls
infolge der abweichenden Schnittrichtung heller gefarbt erscheinen.
Die Biindelgruppe Q verschiebt sich jetzt in ventrolateraler
Richtung, um vielleicht im Bogen in den Tractus opticus zu ziehen.
Das Pedamentum laterale ist breiter und geht in die zellarme
Schicht iiber.
Der mediate Fussteil hat sich jetzt verschmalert.
Auf einem Schnitt (46‘), der ventral das Corpus mamillaro
etwas spinal von der Mitte schneidet, ist die Substantia nigra
noch kleiner geworden. Ihre Dicke betragt 2,6 mm.
Die Biindelquerschnitte in der Zona reticulata treten sehr
zuriick, das Gebiet O bleibt immer noch deutlich. Das Biischel K
ist hier wieder sehr machtig entwickelt; es stammt aus der Gegend
der halbmondformigen Schicht, vielleicht direkt aus dem roten
Kern. Der Faserzug B, derTractus peduncularis transversus und die
zellarme Schicht sind auf diesem Schnitt verschwunden. Im dor-
salenTeile, undzwarganz lateral, sieht man einFeldeigentiimlicher,
meist ventrolateral verlaufender Fasern, das, wie bei Macacus,
die kaudale Spitze des Corpus Luysii darstellt.
Die Substantia reticulata lateralis pedis wird in zwei Teile
gespalten, einen ventralen, fast dreieckigen und einen dorsalen, fast
transversalen. Der letztere findet sich dorsal von der kaudalen
Spitze des Corpus Luysii und stellt den Vorlaufer der Zona incerta
Ford* dar. Die halbmondformige Schicht, die noch ziemlich breit
ist, geht zum Teil in diesen Vorlaufer der Zona incerta iiber.
Zwischen der halbmondformigen Schicht und der Zona reticulata
sieht man in der Zona compacta die Ganglienzellensammlung K 1 .
Die A-Felder sind machtig entwickelt und nehmen fast die ganze
Breite der lateralsten Partie der Substantia nigra ein.
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388 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic etc.
Die Biindelgruppe Q ist medialer geriickt. Sie lasst sich nicht
mit Siehnheit weiter cerebralwarts verfolgen.
Der Schnitt 48 3 (vergl. Fig. 17) schneidet ventral das Corpus
mamillare vor dem Austritt des Fasc. mamillaris princeps.
Die Substantia nigra ist kaum mehr zu erkennen.
Das Feld H 1 ist machtig, das Feld H 2 hingegen noch sehr
schwach und zeigt nur diffuse Fasem.
Die A-Felder sind ventraler geriickt und finden sich jetzt
grosstenteils zwischen dem Tractus opticus und dem Fuss.
Das Corpus Luysii ist ziemlich gross. Seine Dicke betragt
1,1 mm. Es ist spindelformig, zeigt eine machtige dorsale Mark-
kapsel und eine schwache, unmittelbar dem Fuss anliegende
ventrale Markkapsel. Viele Stillingsche Fasem ziehen durch den
Fuss; es ist schwer zu sagen, ob die medialsten dieser Fasem etwa
als der Rest des Biischels K aufzufassen sind.
Die Zona transitoria findet sich zwischen dem Feld H 2 und dem
medialen Teile der dorsalen Markkapsel; sie wird von der breiten
Hauptmasse der Zona incerta durch die Fasem des Feldes H 2 ,
die in die dorsale Markkapsel iibergehen, unvollkommen getrenni.
Das basale Langsbiindel ist hier zum ersten Male angedeutet.
Der Schnitt 50* (vergl. Fig. 18) schneidet ventral den Fasciculus
mamillaris princeps im Bereich seines Austritts aus dem Corpus
mamillare.
Das Corpus Luysii ist schon sehr klein geworden. Seine Dicke
betragt 0,5 mm. Die dorsale Markkapsel ist ebenfalls etwas
schwacher geworden. Die ventrale Markkapsel wird durch wenige
Fasern vertreten.
Das Feld H 2 hilft zum Teil die dorsale Markkapsel des Corpus
J uysii bilden und trennt die Zona transitoria von der Hauptmasse
der Zona incerta ziemlich scharf. Die ubrigenFasem desFeldes(H 2 *)
ziehen innerhalb der Zona incerta in dorsolateraler Richtung,
und zwar teils in einem dichten Faserzug, teils in Gestalt vieler
vereinzelter Fasem; der dichte Faserzug liegt dem Thalamus
naher, der zerstreute Faserzug liegt dem Fuss unmittelbar an.
Die A-Felder sind noch ventraler geriickt; sie finden sich im
Fuss und auch ventral vom Fuss. Die ventraleren Partien hangen
kontinuierlich mit dem Globus pallidus durch einen schmalen
grauen Verbindungsstreifen zusammen.
Die Fasem zur Meynerts chen Kommissur sind sehr deutlich
(MK).
Der Schnitt 52* (vergl. Fig. 19) schneidet ventral den spinalen
Teil des Tuber cinereum. Das Corpus Luysii ist kaum mehr zu
erkennen.
Das Feld H 1 ist etwas schwacher geworden und zeigt mehr
diffuse Fasem.
Das Feld H 2 ist kompakter; sein dorsolateraler Fortsatz geht
in die Gitterschicht iiber, so dass die Hauptmasse der Zona incerta
noch scharfer in zwei Teile getrennt wird als friiher; ein zweiter
Teil seiner Fasem bildet noch immer hauptsachlich die dorsale
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Lemur 34 Fig . 15 Lemur 42
Monatsschrift fiir Psyohiatrie und Neurologie. Bd. XXVII
Fig. 16. ^ I I [ J Lemur
Zi H 1 dMkcL H 2
Lemur 56
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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung.
389
Markkapsel des Corpus Luysii. Aus letzterem ziehen Fasem im
Sinne der Stillingschen Fasem, den Fuss im Bogen durchbrechend,
in den Tractus opticus bezw. die Meynertsche Kommissur.
Der Fortsatz x von Kolliker taucht hier zum ersten Male auf.
Die Zona transitoria ist ganz verschwunden.
Der Schnitt 56 3 (vergl. Fig. 20) schneidet ventral noch das
Tuber cinereum.
Das Corpus Luysii ist verschwunden. Das Feld H 1 ist noch
schwacher geworden, ebenso das Feld H 2 . Der Fortsatz x von
Kolliker stammt deutlich nur vom Feld H 2 . Seine Spitze reicht
jetzt ziemlich weit ventromedial warts.
Aus der ventralen Partie der Zona incerta und besonders aus
der Gegend des Fortsatzes x von Kolliker strahlen viele Fasem
in ventrolateraler Richtung durch den Fuss, um in den Globus
pallidus oder in die Meynerfcche Kommissur zu ziehen.
Die graue Substanz, die von den ebengenannten Fasem
durchsetzt wird, ist der Rest der Substantia reticulata medialis
pedis und geht ohne scharfe Grenze in den Globus pallidus iiber.
Die A-Felder sind betrachtlich zusammengeschrumpft. Sie
erscheinen nur noch als mediales Anhangsel des Globus pallidus;
zum Teil hangen sie auch mit der oben erwahnten Substantia
reticulata medialis pedis zusammen. (Fortsetzung folgt.)
r
Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung.
Entgegnung auf Professor M. Bernhardts Aufsatz.
Von
Dr. LUDWIG TELEKY,
Privatdozent filr soziale Medizin in Wien.
Bernhardt ist im 27. Band, No. 2 dieser Zeitschrift in einem
Artikel, in dem er sehr viellnteressantes iiber den Anted der Funk-
tion an der Entstehung und Lokalisation von Nervenkrankheiten
ausfuhrt, auch auf die Feilenhauerlahmung zu sprechen ge-
kommen.
Er wendet sich dabei gegen die von mir in meiner Arbeit
„Zur Kasuistik der Bledahmung“, Deutsche Zeitschrift fiir Nerven-
hedkunde, Bd. 37, gemacbte Bemerkung, dass die von ihm und
seinem Schuler Leichtentritt „publizierten Fade von Bledahmung
mit Ausnahme eines einzigen eine auffallende Mitbeteiligung der
Muskulatur des linken Daumens“ zeigen, und meint, ich hatte seine
Publikation nicht mit der notigen Aufmerksamkeit studiert.
Bernhardt hatte vollkommen recht mir daraus einen Vorwurf
zu machen, wenn ich seinen Arbeiten und Leichtentritt ? Arbeit nicht
vollste Aufmerksamkeit gewidmet hatte, da ja diese Arbeiten zu
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390 T c I « k y , Einige YVorte iiber Feilenhauerlahmung.
den interessantesten und wicbtigsten auf diesem Gebiete gehoren.
Weil ich aber diese Arbeiten fiir so bedeutungsvoll halte, mochte
ich mir gestatten, noch mit einigenWorten auf dieselben einzugehen,
und zwar nicht nur um die Unrichtigkeit des mir gemachten Vor-
wurfs darzutun, sondem vor allem aus sachlichen Griinden.
In der Sitzung der Berliner Gesellschaft fiir Psychiatrie vom
13. XII. 1886 sprach Bernhardt in einem Vortrag ,,Beitrag zur
Pathologie der Bleilahmung 1 ' auch iiber Feilenhauerlahmung
(Archiv fiir Psychiatrie, Bd. XIX). Ueber die in diesem Vortrag
mit Nennung der Anfangsbuchstaben des Namens angefiibrten Falle
berichtet auch Leichtentritt in seiner Dissertation (1887) ,,da mir
(Leichtentritt) Gclegenheit gebotenwar, die diesbeziiglichenKranken-
geschichten genauer zu studieren.“ Da Leichtentritt diese Kranken-
geschichten ausfiihrlicher bringt als Bernhardt, habe ich mich —
und dies war vielleicht ein Fehler von mir — soweit beide iiber die¬
selben Falle berichten, an die Krankengeschichten in der Fassung
Leichtentritts gehalten. Ich werde hier zunachst diese Falle be-
sprechen. Dann sollen auch die Falle, die Bernhardt in der Berliner
klinischen Wochenschrift 1900 publiziert hat, besprochen werden.
Was zunachst jene Feilenhauer anbelangt, die weder Lahmung
noch Kolik hatten und die Bernhardt teils summarisch, teils ebenso
wie Leichtentritt einzeln anfiihrt (Feilenhauer C., bei Bernhardt Fall 2
Leichtentritt V), so kommt ihnen, ebenso wie jenem des Feilen-
hauers R. (bei Bernhardt Fall 3, Leichtentritt VI), der anamnestisch
nur unbestimmte Angaben iiber „lahmungsartige Zustande an den
Handen“ macbte, und zur Zeit der Untersuchung ,,nirgends aus-
gesprochene Lahmung oder Atrophie“ zeigte, wohl keinerlei Be-
weiskraft zu; denn es wird ja von keiner Seite behauptet, dass jeder
Feilenhauer an Bleilahmung erkrankt, auch nicht, dass jeder an
Bleivergiftung erkrankte Feilenhauer eine Lahmung aufweisen
miisse, sondern nur, dass die Feilenhauerarbeit das Entstehen
einer Bleilahmung begiinstige, vor allem, dass die Lokalisation der
Bleilahmung bei den Feilenhauern eine eigenartige sei.
Weiter werden von Bernhardt Falle angefiihrt. bei denen nur
anamnestische Angaben iiber Lahmung vorhanden sind; diese
miissen natiirlich auf ihre Verlasslichkeit gepriift werden.
„Ein dritter. noch jetzt einen Bleirand zeigcnd, hatte Koiiken gehabt,
\u\d auch iiber Schirache der linken Daumenmuskeln (jeklagt; zur zeit arbeiteto
or, ohne von Lahmung oder Atrophie speziell links am Daumen etwas aut-
zuweisen.
Ein viertcr endlich hatte vor kurzein wegen Bleilahmung die Arbeit
einstellen miissen (zur Zeit meines Besuehes arbeitete or wieder); hier war
es der rechte M. deltoides, der affiziert gewesen war. der Mann hatte den
recliten Arm in der Schulter nicht heben konnen. Jetzt war er wieder wohl;
von Lahmimg oder Atrophic war zurzeit niehts aufzufinden. speziell nichts
an der linken Hand und dem linken Daumen." (Arch. f. Psych. Bd. XIX.
p. 529).
1st der erste dieser beiden Falle wohl ganz eindeutig. so wird
die ,,Lahmung“ im zweiten Fall kaum sicbergestellt erscheinen;
die Schwache des Daumen ist wohl mit grosster Wahrscheinlichkeit
auf Lahmungserscheinungen zuriickzufiihren, das Nichtheben-
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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung.
391
konnen des Armes, das nach kurzer Zeit, ohne Spuren zu hinter-
lassen, zuriickgegangen war (auch von Bleisaum wird nicht h er-
wahnt) lasst wohl auch die Deutung Omarthritis zu.
Bemerken mochte ich hier auch noch, dass dem Umstand,
dass Lahmung und Atrophie nach einiger Zeit verschwinden —
Bernhardt scheint darauf einen gewissen Wert zu legen — keinerlei
Bedeutung fiir unsere Frage zukommt; es kommen ja selbst schwere
Falle von Bleilahmung nicht gerade selten zu mehr oder minder
vollstandiger Ausheilung.
Nun zu den Fallen, bei denen zur Zeit der Beobachtung Lah-
mungserscheinungen vorhanden waren und iiber die Bernhardt
und Leichtentritt berichten, und die wir nach Leichtentritt zitieren.
Welche Lokalisation weisen nun die Falle Bernhardt-Leichten-
tritt auf ?
Feilenhauer L. ( Bernhardt 1, Leichtentritt IV). Rechts Streckerlahmung,
„die linke Hand war ganz frei“.
Feilenhauer K. ( Bernhardt 4, Leichtentritt VII). November 1875:
Seit 14 Tagen Lahmung der rechten Vorderarmmuskulatur (Streckseite)
„wdhrend links nur der Daumen affiziert schien. Die Erregbarkeit zeigfce
sich nirgends ganzlich aufgehoben, iiberall (am wenigsten in den eigent-
lichen Streckern der Finger) noch erhaltene Reaktion auf den Reiz des
Induktionsstromes. 4 *
Feilenhauer Sch. {Bernhardt 5, ,,Schr.“, Leichtentritt VIII.) ,,Die
Motilitatspriifung ergab, dass rechts die Hand bis zur Horizontalen gestreckt
und bei eingeschlagenen Fingem dorsalflektiert werden konnte. Von den
Fingerstreckem blieb der dritte. weniger der vierte, unter der horizontalen.
Streckung des Daumens war normal; Abduktion unmbglich; Seitenbewegung
der Hand auch Supination waren frei. Mm. deltoideus und biceps waren
gesund. Das I. Spatium interosseum war eingesunken. ebenso der Thenar ; fiir
den induzierten Strom waren die Mm. interossei und Thenarmuskeln schwer
erregbar. Links war die Beweglichkeit der Muskeln eine bessere, doch blieben
auch hier der dritte und vierte Finger unter der Horizontalen. Der Daumen
verhielt sich wie rechts .
Ferner fiel auf, dass (alles gilt fiir rechts, links sind die Verhaltnisse
nur angedeutet) Patient auch nur kraftlos die Mittel- und Nagelphalanx der
Finger strecken und beugen konnte: es ging auch schwach mit den Beuge-
bewegungen der rechten Hand. Vom Stamm aus (Oberarm und Condylus
internus) waren so wohl der N. medianus wie auch der N. ulnaris mit dem
induzierten Strom erregbar, ebenso die Beuger am Vorderarm und bei selir
starken Stromen die Mm. interossei; am schwdchsten reagierten die Thenar¬
muskeln auf den faradischen Strom
Bei Feilenhauer K. {Bernhardt 6, Leichtentritt IX, nicht identisch
mit obenerwahntem K.) im Februar 1886 folgender Befund:
,,Schultern und Ellenbogen sind beiderseits gesund. Links konnen
Hand- und Fingerstrecker extendiert werden, sind elektrisch gut erregbar.
Der Daumen steht stark abduziert . die Basal phalanx kann nicht auf den Meta¬
carpus extendiert werden , dagegen steht die Nagelphalanx auf der Basis
hyperextendiert. Die Mm. interossei reagieren gut, die Daumenmuskulatur
nur bei sehr hoher Stromstdrke auf den induzierten und galvanischen Strom,
und auch bei faradischer Reizung mit trager Zuckung (faradische Ent-
artungsreaktion). Der M. abductor brevis fehlt , an seiner Stelle findet sich
eine Abflachung.
Rechts kann der Daumen ohne Beugung der Nagelphalanx hochstens
noch mit dem Zeigefinger opponiert werden, sonst nicht. Die Atrophic des
M. abductor brevis ist nicht so ausgesprochen wie links, wohl aber die
schlechte Erregbarkeit und faradische Entartungsreaktion der Daumenballen-
rnuskeln. Rechts kann der Daumen nicht so abduziert werden wie links,.
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392 Teleky , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung.
auch die Mm. extensor brevis und longus pollicis wirken schlechter als links;
femer ist die Streckung der drei letzten Finger schlecht, selbst die der Mittel-
und Nagelphalanx. Der M. extensor communis reagiert nicht auf den In-
duktionsstrom, auf den galvanischen nur bei sehr starken Stromen, dann
aber leidlich prompt. Die eigentlichen Handstrecker, namentlich die ra-
dialen (Mm. extensor carpi radialis longus und brevis) sind intakt.“
Nun die Fall© Bernhardts aus der Berliner klinischen Wochen-
schrift, von denen Bernhardt meint, dass sie auch von mir iiber-
sehen worden:
Wiederum zunachst ein nichts beweisender Fall ohne Koliken
und ohne Lahmung. Dann die folgenden:
Feilenhauer B. „Hier (rechts) kommt die Dorsalflexion der Hand nicht
ganz leicht und frei zustande, beim Ausstrecken der Finger zur horizontalen
bleiben der 3. und 4. unter dem Niveau; die langen Daumenmuskeln sind
ganz frei. Das erste Spatium int cross. ist eingesunken, auch die ubrigen
Spatia interossea sind etu'as abgeflacht . Die Adduktion und die Abduktion
der Finger ist erschwert, aber die Adduktion des Daumens , dessen Ballen-
muskulatur nicht atrophisch ist, komrrU gut und jedenfalls leichter zustande ,
als die Opposition. Die Daumenhallenmuskulatur und alle Mm. interrossei
reagieren auf starkere faradische Strome, geben aber bei direkter galvanischer
Reizung langsame , trage Zuckungen (ASZ = KSZ bei 4 M-A).
Links kommt die Streckung der Hand und Finger bedeutend besser als
rechts zustande. Der 5. Finger steht vom 4. ab, das erste Spatium interosseum
ist eingesunken. Annaherung und Entfemung der Finger voneinander
schwierig. Der Daumenballen ist nicht atrophisch, die Opposition wird
im Gegensatz zu links (wohl Druckfehler! Verf.) sehr gut ausgefiihrt, da-
gegen die Adduktion des Daumens erschwert.**
Der 42 jahrige Feilenhauer A. W.,, Rechts ist das Radialgebiet
aktiv und elektrisch frei. Nur die beiden ersten Spat . interossea sind einge¬
sunken. Die Finger konnen gespreizt und adduziert werden (auch der
Daumen). Die atrophischen rechtsseitigen Zwischenknochenmuskeln und die
nicht atrophischen Daumenballenmuskeln zeigen die Mittelform der Ent-
artungsreaktion.
Links ergibt sich als einzige Anomalie eine herabgesetzte Erregbarkeit
der eher hypertrophisch erscheinenden Daumenballenmuskeln. Ein Bleirand
ist nur an den oberen mittleren Schneidezahnen undeutlich ausgepragt.
Pat. hat stets mit einem grossen schweren Hammer Feilen grosseren
Kalibera gehauen."
Lasst man ■— wie ich es wohl mit vollem Recht getan — den
Fall mit angeblich anamnestischer Deltoideslahmung ausser Be-
tracht, so kommt man demnach zu dem Schlusse: Alle die von
Bernhardt und Leichtentritt publizierten Falle von Bleilahmung
mit Ausnahme eines Falles zeigen eine Mitbeteibgung der Mus-
kulatur des linken Daumens (Daumenballens). Allerdings muss
ich zugeben, dass, wenn man sich an den Bericht Bernhardts fiber
seinenVortrag halt,FallK.I. zweifelbaft, FallSch. anders erscbeint.
Ich habe bei meinem Studium der Falle Bernhardts mich teils aus
sachlichen — die Krankengeschichten sind ausftihrlicher — teils
aus ausseren Grfinden an die Publikation Leichtentritts gehalten,
und dieser gibt noch den Fallen K..., Sch...., K.... — nachdem
er vorher fiber Falle ohne Lahmung und Fall C berichtet — fol-
gende Einleitung:
„Zeigen diese Falle (sc. Fall C. und die anderen ohne jede
Lahmung) ganz im Gegensatze zu den von Moebivs beobachteten
keine Spur von paretischen Erscheinungen an dem vom Moebius
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T e 1 e k y , Einige Worte iiber Feilenhauerlahmung.
393
fiir Feilenhauer als Pradilektionsstelle bezeichneten Daumen,
so will ich hieran Falle anreiben, die abweichend von den Unter-
suchungen Moebius ergeben, dass keineswegs vorwiegend oder
gar ausschliesslich die Muskeln des linken Daumens erkranken."
Aus diesen Worten Leichtentritts geht wobl hervor, dass er
bei den auf diese Einleitung folgenden Fallen eine — nur nicht
eine vorwiegende — Beteiligung der linken Daumenballenmuskeln
annahm; und dies ist wohl dort zu beriicksichtigen, wo die
Fassung der Krankengeschichten selbst keine gam klare.
Bernhardt gibt an, wie micb nun ein Vergleich der Kranken¬
geschichten beider lehrt, dass bei K. I. ,,Links nur der Daumen
nicht bewegt werden konnte. Leider habe ich dariiber keine Notizen
mehr, ob die dem Radialgebiet angeborigen Daumenmuskeln
affiziert waren oder die eigentlichen Thenarmuskeln“. Und bei
Sch... heisst es: ,,Links .... Parese auch der Daumenmuskeln,
Thenarmuskeln intakt.“
Bernhardt bezeichnet dann bei der Zusammenfassung Fall K. I.
als ,,zweifelhaft“, bei Sch. habe nur rechts eine Daumenballen-
affektion bestanden.
Diese Differenzen in der Beschreibung und Auffassung der Falle
vermag ich nicht zu erklaren, vermute nur, dass sie auf Mangel
in den Originialkrankengeschichten zuriickzufiihren; ich hielt mich
aber — ich hatte die Differenzen damals iiberhaupt nicht bemerkt'—
und halte mich auch noch heute fiir berechtigt, den ausfuhrlicheren
Krankengeschichten Leichtentritts eben wegen ihrer Ausfiihrhchkeit
den Vorzug zu geben.
Die Mitbeteiligung der Muskulatur des linken Daumens
(Daumenballens) ist, wie ich weiter behaupte, „eine auffallende“.
Dariiber, was als „auffallend u anzusehen, kann man allerdings —
wie ich zugeben muss — verschiedener Meinung sein.
In meiner oben erwahnten Arbeit bespreche ich zunachst die
Lahmung der Anstreicher, zeige — oder wenigstens glaube zu
zeigen — „dass gerade das sogenannte typische Bild der Bleilah-
mung das Bild der Bleilahmung des Anstreichers ist.“ Was die
Mitbeteiligung der Daumen, und speziell des linken Daumens
bei dieser typiscben Lahmung anbelangt, komme ich zu folgenden
Schliissen: Wir sehen bei den Anstreichem in erster Linie die
Strecker der Finger und der Hand ergriffen: fast stets — in alien
Fallen, bei denen es zu einer hochgradigen Streckerparese oder
-Lahmung gekommen — findet sich eine Mitbeteiligung der
Daumenmuskulatur u. zw. der Strecker an beiden Handen, der
kleinen Daumenmuskulatur an der rechten Hand. „Immer treten
die am Daumen vorhandenen Erscheinungen von Parese gam in
den Hintergrund gegeniiber den Paresen oder Lahmungen der
Strecker von Fingern und Hand“. Der rechte Daumen ist stets
(von zwei nicht eindeutigen Ausnahmen unter meinen Fallen
abgesehen) in starkerem Masse gelahmt als der linke. An der
linken Hand blieben in einer betrachtlichen Anzahl von Fallen
trotz Ergriffenseins der langen Strecker des Daumens die Daumen¬
ballenmuskeln frei.
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X
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394
Personation.
Bei Bernhardts und Leichtentritts Feilenhauern (abgesehen vom
1. Fall) liegen die Verhaltnisse ganz anders. Kein einziger Fall
weist eine komplette, ja nicht einmal eine starkere Streckerlahmung
auf, iiberall aber sehen wir eine Mitbeteiligung der kleinen Hand-
muskeln und speziell der Daumenmuskeln, immer ist aucb die
Daumenballenmuskulatur links mitbeteiligt, bei zwei Fallen ist an
der linken Hand nur an der Daumenballenmuskulatur eine Anomalie
zu v r erzeichnen.
Dieses Verhalten der kleinen Hand- und Daumenballen¬
muskulatur in alien erwahnten Fallen erscheint mir auffallend.
Von mehr als ,,auffallender“ Mitbeteiligung der Muskulatur des
linken Daumens habe ich in Bezug auf Bernhardts Falle nicht ge-
•sprochen. Thre regelmassige ,,vorwiegende oder ausschliessliche
Erkrankung“ ware, wie ich in meiner Arbeit selbst des naheren
auseinandersetzte, durch die Art der Beschaftigung des Feilen-
hauers, der mit der Rechten rastlos einen oft schweren Hammer
schwingt, nicht gerechtfertigt.
Wir konnen bei der Feilenhauerlahmung hingegen stets von
einer „vorwiegenden Mitbeteihgung einzelner oder vieler kleiner
Handmuskeln“ sprechen und wir konnen das ,,friihzeitige Auf-
treten dieser Lahmung (sc. der der kleinen Handmuskeln) und die
starke Mitbeteiligung dieser Muskeln (besonders der des linken
Daumenballens) als charakteristisch fiir die Lahmung der Feilen-
hauer ansehen.“
Und wem der Nachweis dieser charakteristischen Eigentiim-
lichkeiten aus dem Material Bernhardts , der diese Eigentiimlich-
keiten leugnet, nicht beweisend erscheint und ebenso nicht die
von anderen deutschen Autoren sowie die von mir publizierten
Falle —, die ich nach dem Gesagten keineswegs denen Bernhardts
„gegeniiber“, sondern nur nebenstellen wollte —, fiir den mochte
ich hier zitieren, was Oliver, der beste englische Kenner der Gewerbe-
krankheiten, iiber die Feilenhauerlahmung, die dort besonders
in Sheffield zur Beobachtung gelangt, sagt:
„Die Besonderheit der Feilenhauerlahmung besteht darin,
dass wahrenddie Strecker der Finger und der Hand ergriffen werden,
so dass es zur Entstehung einer wirklichen. ,,wrist-drop“ kommt,
hier noch haufiger eine Lahmung, die sich auf die kleineren Muskeln
der Finger und des Daumens erstreckt, beobachtet wird. Der
Verlust der Kraft ist gewohnlich beschrankt auf die Finger der
linken Hand. Mit dem linken Zeigefinger und Daumen wird der
Mei'Sel gehalten, und infolgedessen, dass der Arbeiter einen grossen
Teil des Tages den Meissel in dieser seiner Stellung halt, wird hier
eine grosse Muskelarbeit geleistet, die nicht ohne Bedeutung sein
kann fiir Entstehung und Lokalisation der Lahmung. Es ist dies
jedoch nicht ihre einzige Ausdehnung, weil die Lahmung zugleich
auch die Muskeln der rechten Hand ergreift. Es ist die Hammer-
hand, die die harteste Arbeit leistet, aber nicht Arbeit von ebenso
anstrengender Art.“
Personalien.
In Basel hat sich Dr. 0. Hinrichsen als Privatdozent fiir Psychiatric
habilit iert.
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(Aus der Provinzialirrenanstalt zu Rom. Direktor: Prof. G. Mingazzini.)
Ueber tuberose Sklerose.
Von
Oberarzt Dr. RUDOLF BONFIGLI.
(Hierzu Taf. XXV—XXVI.)
Die zuerst von Bourneville und Brissaud beschriebene tube¬
rose Sklerose ist eine der seltensten und nicht sowohl wegen ihrer
klinischen Form als wegen ihrer pathologischen Anatomie um-
strittenste Form der Himsklerose. Nach Pellizzi, der sich besondera
eingehend mit dieser Frage beschaftigt hat, sind manche Falle be-
schrieben worden, imd in den Arbeiten von Perusini 1 ), Geitlin 2 )
und Montei 8 ) findet sich eine zusammenfassende Darstellung alles
dessen, was bisher beziiglich der pathologischen Anatomie dieser
Krankheit bekannt ist. Ich selbst 4 ) habe kiirzlich auf dem neuro-
pathologischen Kongress in Neapel kurz 2 Falle mitgeteilt und
kam zu einigen Schlussfolgerungen, die in vielen Punkten mit
denen der erwahnten Autoren iibereinstimmen. Jedoch behielt
ich mir vor, einige noch sehr umstrittene Einzelpunkte nach einem
weiteren Studium weiter aufzuklaren, und in der vorliegenden
Arbeit bin ich, nach Untersuchung zahlreicher Praparate mit
Hiilfe der meisten neuesten Untersuchungsmethoden, zu Schliissen
gelangt, die in einigen Punkten von jenen der vorher erwahnten
Verfasser und zum Teil auch von meinen friiheren abweichen.
Zunachst gebe ich ausfiihrlich die Krankengeschichten der
beiden Patienten sowie die entsprechenden histopathologischen
Befunde wieder.
Fall 1. P. Remo, 5 Jahre alt. Vater Trinker, Mutter gesund, keine
Aborte; 5 lebende und gesunde Briider, 7 andere Briider sind im zarten
Alter an verschiedenen Krankheiten (Meningitis, Bronchopneumonie,
Enteritis u. s. w.) gestorben. Eine Tante vaterlicherseits war eine Zeit lang
') Ueber einen Fall von Sclerosis tuberosa hypertrophica (Istioatipia
corticale disseminata von Pellizzi), Monatsschr. f. Psych, u. Neur. 1905.
Bd. XVII.
*) Zur Kenntnis der tuberkulosen Sklerose des Gehims. Arbeiten aus
dem path. Inst, der Univ. Helsingfors. Bd. I. H. 3.
*) Recherches sur la Sclerose tubereuse. L’Enc^phale. 3. Ann6e.
No. 2. Fevrier 1908.
*) Due casi di sclerosi tuberosa. II Policlinico. 1908. p. 624.
Monatsschrift fUr Psychiatric und Neurologte. Bd. XXVII. Heft 5. 27
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396
B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
in einer Irrenanstalt. Wenige Tage nach der Geburt traten im linken Arm©
konvulaive Zuckungen von kurzer Dauer auf, die sich innerhalb 24 Stunden
raehrmals wiederholten und nach 15 Tagen ungefahr verschwanden. Im
Alter von 8 Monaten litt P. an anderen konvulsiven, auf den Kopf be-
schrankten Zuckungen; mit 11 Monaten wurden die Konvulsionen allge-
mein, es trat Schaum aus dem Munde und ein ungefahr 2 Stunden langer
Sopor hinzu. Die anfangs seltenen Anfalle sind in der letzten Zeit haufiger
geworden und haben sich 8—10 mal taglich wiederholt. Patient hat erst
mit ungefahr 4 Jahren zu gehen angefangen.
Status praesens: Sch&delkonturen pentagonahnlich, stark hervor-
ragende, fast zugespitzte Scheitelbeinhocker, Stim hoch und schmal, Stirn-
beinhocker weit von einander entfernt und stark vorspringend, besonders
rechts; kleines dem Schadel entsprechendes Gesicht, Statur dem Alter
entsprechend. Allgemeiner Emahrungszustand gut. Leicht arythmischer
Puls. Innere Organs anscheinend normal. Driisen an den Leisten und am
Halse fuhlbar.
N eurologischer Be fund: Die vora Facialis und vom Hypoglossus inner-
vierten Muskeln weisen keine Motilitatsstorung auf. Die oberen Extremi-
taten zeigen athetotische Bewegungen. Gegen passive Bewegungen kein
erheblicher Widerstand. Keinerlei Hypertrophien. Patient ist weder fahig
zu stehen noch zu gehen; bei Gehversuchen sind die Beine starr ausge-
streckt und neigen zur Ueberkreuzung; die Sehnen- und Periostreflexe
dep Oberextremitaten sind leicht erhaltlich; die Patellarreflexe sind lebhaft,
der Bauch- und der Kremasterreflex fehlt; Pupillen gleich, Lichtreaktion
erhalten. Beriihrungs- und Schmerzempfindlichkeit normal.
Geistig weist der Kranke die Zeichen einer sehr schweren Idiotie auf.
Er spricht nicht, lasst Urin und Kot unter sich gehen; er isst mit Gier,
was ihm unter die Hande kommt. Tod an Lungentuberkuiose.
Sektion (24 Stunden p. m.): Himgewicht einschliesslich der weichen
Haute 1275 g. Schadelknochen zart; die Dura ist mit dem Schadeldache
im mittleren Teile der Sagittallinie verwachsen. An der Himoberflache
befinden sich Stellen, die heller gefarbt, etwas erhaben iind von derber
Konsistenz sind. Sie befallen: a) in der linken Hemisphare des Gehims:
den mittleren Teil der oberen und der mittleren Stimwindung, den Fuss
aller Stimwindungen, das vordere Ende des Gyrus rectus, das obere Drittel
des G. postcentralis, den Zungenlappen, den hinteren Teil des Lobulus
paracentralis, die beiden oberen Drittel der oberen Schlafenwindung, den
Gyrus supramarginalis, den oberen Teil der zweiten und dritten Hinter-
hauptwindung und einen Teil des Cuneus; b) in der rechten Hemisphare:
den mittleren und hinteren Teil der oberen Stirnwindung, die Pars oper-
cularis und triangularis der unteren Stimwindung, den imteren und oberen
Teil des Gyrus centralis ant., fast die ganze Orbitalflache des Lobus fron¬
talis, das untere Ende des Gyrus fornicatus, die imtere Halfte des G. post¬
centralis, kleine Stellen des Gyrus temporalis superior und medius, einen
Teil der dritten Schlafenwindung, einen Teil des Lobulus fusifornis und
den oberen Teil des Praecuneus.
Die link© Himhemisphare hat einen Querdurchmesser von 5,5 cm,
die rechte von 6,0 cm. In der linken Himhemisphare bemerkt man, dem
mittleren Teile der grossen Horizontalfurche Reil's zu, eine Vertiefung, in
der die Hirnsubstanz eine weit grosser© Konsistenz als in den ubrigen Teilen
auf weist. Auf Schnitten zeigt sich die Hirnsubstanz blass und gliinzend.
Die Sehhiigel weisen in der Nahe des Sulcus striothalamicus eine grossere
Konsistenz als gewohnlich auf. und das Gewebe ist an dieser Stelle von gelb-
licher Farbung, und zwar namentlich rechts. Der Schweif des Nucleus
caudatus zeigt sowohl rechts wie links eine starker© Konsistenz. Oberhaib
des proximalen Abschnittes des Corpus restiforme findet sich eine kleine
Geschwulst von der Gross© und der Gestalt einer Linse, von gelblicher Farbe
imd knorpeliger Konsistenz. Die oben beschriebene sklerotische Zone der
Himhemisphare weist beim Schnitte einen ahnlichen Widerstand auf wie
verkalkte Substanzen. In der Briicke, sowie im Rest© der Medulla oblongata
findet man makroskopisch nichts Bemerkenswertes. Das Riickenmark weist
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
397
In der Lumbosakralgegend eine weit grosser© Konsisfcenz auf als in der
Brust- und Halsgegend. Diese Konsistenz nimmt kapitalwarts allmahlich ab.
Die Wandung des linken Herzventrikols ist verdickt. In der linken
Lunge bronchi tische und peri br one hi tisc he Herde. Rechte Lunge normaL
Milz und Leber normal. Nieren und Nebennieren stark entwickelt, beson-
ders links; Nierenkapsel leicht ablosbar. Im mittleren Teile der linken
Niere eine weisse, glanzende Zone von der Gross© eines Centesimo, von
derber Konsistenz, welche keilformig in die Rindensubstanz eindringt.
Die iibrigen Organe sind makroskopisch gesund.
Pall 2. N. Mario, 7 Jahre ait. Der Vater ist Alkoholiker und yon
heftigem Charakter; die Mutter gesund, keine Aborte. 2 Briider und eine
Schwester gesund. In seiner era ten Kindheit hatte Pat. an eklamptischen
Krampfen gelitten, die sich bis jetzt in Zwischenraumen von 10—15 Tagen
wiederholt haben. Der Anfall wies immer die gleichen Charaktere auf:
Hinfallen, tonisch-klonischer Krampf, blutiger Schaum vor dem Munde,
Ham- und bisweilen auch Kotabgang, Cyanose im Gesicht, Dauer 3—4 Mi-
nuten, nachher 15—30 Minuten Sopor.
Status praeaens: Skelettentwicklung regelmassig. Allgemeiner Emfth-
rungszustand ausgezeichnet. Muskelentwicklung normal. Leichte Schadel-
anomalien: Stim vorgewolbt, Hinterkopf hervorstehend. Gebiss normal.
Neurologischer Untersuchungsbefund: Strabismus convergens alternans.
Facialis- und Hypoglossus-Innervationen normal.
Muskelkraft der Extremitaten gut entwickelt, passive Beweglichkeit
normal. Trotz des Strabismus convergens bewegen sich die Augapfel normal
nach alien Richtungen. Lichtreaktionen der Pupillen normal; Patellar-
reflex schwach, besonders links. Hautreflexe normal. Eine Untersuchung
des Gesichtsfeldes war nicht moglich, nur konnte man beobachten, dass
Patient, wenn er irgend einen Gegenstand betrachten soli, den Kopf auf
die link© Schulter neigt und die Augenlidspalte verengert; gleichzeitig pragt
sich der Strabismus convergens starker aus. Hohere Sinnesorgane im iibrigen
ohne grobe Storung. Patient lasst gewohnlich nur einige Silben oder un-
deutliche Tone vernehmen, die eine gewisse phonetische Aehnlichkeit mit
den gebrauchlichsten Worten „Brot*% „trinken“ u. s. w. zeigen. Er wieder¬
holt oft leise die Melodie irgend eines Liedes. Die Aufmerksamkeit ist sehr
gering und schwer zu fixieren. Patient wird ausserst leicht abgelenkt.
Der intellektuelle Besitzstand ist ausserst diirftig. Er erkennt kaum
seine Mutter, wenn diese ihn besucht und Backwerk bringt. Er isst mit
Gier alles, was er findet. Lasst Kot und Ur in ins Bett gehen.
Tod unter uramischen Erscheinimgen.
Sektion 24 Stunden p. m.: Die Schadelknochen sind von einer anor-
malen Harte, so dass sie nur schwer von der Sage zerteilt werden. Die
Dura ist fest mit dem Schadeldache verwachsen. Die weiche Himhaut ist
glatt, zart, leicht von der Oberflache der Windungen abzulosen. Auf der
Oberflache der Hirnhemispharen finden sich Zonen von einem Durchmesser
von 2—3 cm, die blasser gefarbt sind aLs die Umgebung und eine harte,
feist knorpelige Konsistenz aufweisen. Die Oberflache dieser Zonen ist glatt
oder leicht eingesunken. Sie sind unregelmassig zerstreut und finden sich
rechte: 1. in den hinteren drei Fiinfteln des Gyrus frontalis sup.; 2. in der
vorderen Halfte des Gyrus frontalis med.; 3. in der Pars triangularis des
Gyrus frontalis inf.; 4. im unteren Fiinftel des Gyrus centralis ant.; 5. in fast
der ganzen oberen Hinterhauptswindung und im hinteren Teile des oberen
Scheitellappchens; 6. im unteren Teil des Gyrus supramarginalis; 7. in
dem vorderen unteren Teile der oberen Schlafenwindung; 8. im vorderen
Teil und im hinteren Drittel der mittleren Schlafenwindung; 9. am vorderen
Ende des ausseren Gyrus rectus; 10. in den beiden mittleren Fiinfteln des
Gyrus frontoparietalis medius; — links: 1. in den hinteren zwei Fiinfteln
und dem vorderen Fiinftel der oberen Stimwindung; 2. in dem hinteren
Fiinftel und im vorderen Fiinftel der mittleren Stimwindung; 3. an der
Spitze der Pars triangularis der unteren Stimwindung; 4. in dem unteren
Teile des Gyrus centralis ant.; 5. in dem unteren TeUe des Gyrus centralis
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39S
B o n f i g 1 i . Ueber tuberose Sklerose.
post.; 6. im oberen Scheitellappchen und in der oberen Hinterhaupts-
windung; 8. im mittleren Drittel des Gyrus temporalis inferior bis an die
Grenze des Lobulus fusiformis; 9. in der Mitte des Lobulus orbitalis; 10. im
vorderen Teile des Gyrus rectus extemus; 11. im mittleren Teile des Gyrus
parietalis medius; 12. im hinteren Teile des Gyrus corporis callosi; 13. im
ganzen Cuneus.
Auf Schnitten, welche durch die Himhemispharen gefiihrt werden,
bemerkt man rechts im Centrum semiovale, entsprechend dem Knoten im
Gyrus supramarginalis, eine bedeutende Verhartung der weissen Substanz,
die sich hier viel blasser als normal zeigt. Auf den Sehhiigeln langs der
Stria cornea und langs des Schweifs des Nucleus caudatus finden sich zahl-
reiche kleine Erhabenheiten von der Grosse einer kleinen Erbse. Kleinhim
und Riickenmark sind normal. Lungen normal, Herz gross, seine Ventrikel
erweitert, Wand des linken Ventrikels verdickt; Milz vergrossert. Rinden-
substanz der linken Niere von graulicher Farbe, Glomeruli nicht zu unter-
scheiden. In dem mittleren Teile findet sich eine Geschwulst, welche sich
vom Hilus bis zur Peripherie erstreckt und die beiden ausseren Drittel
einnimmt. Dieselbe zeigt derbe Konsistenz. weisse Farbe und unregel-
massige aussere Oberflache. Rindensubstanz der rechten Niere von grauer
Farbe; Glomeruli nicht sichtbar.
Mikroskopischer Befund. Das anatomische Material habe ich in einer
wasserigen 10 proz. Formollosung, in Alkohol 96° und in MullerseheT Losung
gehartet; die Farbung der Chromatinsubstanz erfolgte nach den Methoden
von Nissl, Weigert-Hoyer , v. Lenhosaek , Hoyer und Bielschowsky-Plien.
Die Neurofibrillen impragnierte ich nach Bielschowsky und Ramon y Cajal ,
die Markscheiden nach Woilers und Ktdtsehitzky-Wolters , die Neuroglia nach
der urspriinglichen wie nach der von mir modifizierten Elektivmethode
Weigerts, nach Mallory . r. Gieson , mit Nigrosin und Anilinblau, das Binde-
gewebe nach v. Gieson und Weigert . Neben diesen hauptsachlichsten Me¬
thoden habe ich fur die Plasmazellen die Methode von Unna-Pappenheim r
fiir die Mastzellen das Thionin. fiir das Fibrin die Weigerts che Methode
angewandt. Ebenso fiihrte ich einige mikrochemische Reaktionen sowohl
behufs Untersuchung der marklosen Substanz wie zur Feststellung der in
den Geweben abgelagerten Kalksalze aus.
Im folgenden gebe ich die Ergebnisse meiner Beobachtungen wieder.
Fall 1. Hirnrinde. In samtlichen Zonen der Himrinde fallt im Be-
reich der sklerotischen Herde besonders die grosse Fnordnung in der Lage-
rung und Orientierung der Ganglienzellen auf. Grosse Pyramidenzellen
finden sich hier und da in mehr oder weniger grosser Anzahl in den ober-
flachlichen, sonst gewohnlich den kleinen Pyramidenzellen reservierten
Schichten vor. Diese letzteren sind ilirorseits auch in der tiefsten Schicht
der polymorphen Zellen sehr zahlreicli. und einige finden sich noch in der
weissen Substanz vereinzelt zwischen den Neurogliakemen. Die Chromatin-
schollen zeigen sich verandert. In den nach der Nisslschen und ahnlichen
Methoden hergestollten Praparaten sieht man geschwollene Zellen mit
grossem, fast ungefarbtem Kern und mit mehr oder weniger vollstandiger
Chromolyse, mit oft undeutliclien, verschwommenen Konturen, mit kurzen
Fortsatzen, also Bilder, die unzweifelhaft dem Typus der akuten Degene¬
ration (akute Erkrankung Nissls) angehoren; neben diesen Zellen finden
sich andere, mehr langliche, mit einem iiborfarbten Kern, dessen Konturen
ungefahr den nicht scharfen Konturen der Zelle selbst parallel laufen, mit
langen und gewundenen Auslaufem, also Elemente, die dem Tj^pus der
chronischen Degeneration angehoren. Zwischen diesen Extremen bestehen
Zwischenformen, ebenso sieht man hier und da noch einzelne Zellen, in
denen der chromolytischo Prozess erst im Begimi ist und in denen man
an der Peripherie noch einige Reste der Tigroidkorper bemerkt. Beziiglich
der Zelltypen fallt in einigen Schnitten der motorischen Region das Vorherr-
schen langliclier Zellen vom Typus der Stabchenzellen auf. Einige dieser
enorm in die Lange gestreckten Zellen haben ein schlangenformiges Aus-
sehen, und ihre Auslaufer sind auf eine weitc Strecke zu verfolgen.
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
399
Daneben beobachtet man andere atypische Elemente, namlich gross©
Zellen, die sich weder in die Klasse der Ganglienzellen noch in die Klasse
der Neurogliazellen ohne weifceres einreihen lessen. Diese Zellen liegen zum
kleinen Toil zwischen den Ganglienzellen in der grauen Substanz. in weit
grosserer Anzahl aber und auch in Gruppen vereinigt in der weissen Sub¬
stanz. Ihr Durehmesser betragt 1<>—30 /*. Sie sind rundlich, bim- oder
spindelformig, von unregel massiger Gestalt, stets geschwollen und haben
meist verschwomtnene Konturen, zahlreiche kurze, feine und gewundone
Auslaufor. Ihr Protoplasma bietet ein homogenes, bisweilen staubahnliches
Aussehen; der Kern ist gross, rund. ungefarbt. zeigt wenig scharfe Kon¬
turen und enthalt ein grosses, rundes. intensiv gefarbtes. mit feinen Korn-
chen versehenes Kernkorperehen (Taf. I, Fig. 1. 8 u. 10 b). Oft sieht man
in derselben Zeile zwei oder mehr dieser Kernkorperehen, und zwar in
peripherischer Lage. Mittelst der Methode von Unna-Pappenheim farbt
sich das Protoplasma dieser Elemente rot, das Kernkorperehen tief rot
und der Kern grim.
Die Neurogliazellen sind zahlreich; ihr Protoplasma ist reichlich und
farbt sich leicht sowohl mit dem verseiften Methylenbau Nissls wie mit
Toluidinblau. Ihre Kerne sind vorwiegend klein in den mehr oberflach-
lichen Schichten, wahrend in den tiefen Schichten die Zahl der grosseren,
ungefarbten oder fast ungefarbten. grosse Granulationen enthaltenden
Kerne bedeutend ist. An den Stellen, an denen die oben beschriebenen
atypischen Zellen zahlreicher sind,' sieht man diese grossen Neurogliazellen
in grosserer Menge; sie scheinen bisweilen eine Uebergangsform zwischen
den normalen und den atypischen Zellen darzustellen. In Schnitten aus
den sklerotisehen Zonen, welche nach der Methode von Bielschowsky oder
einer leicht modifizierten Ramon y Cajalschen Methode gefarbt sind,
weisen die Zellenveranderungon dieselben Charaktere auf. Die Unordnung
in der Orientierung der Zellen, die ich bereits oben hervorgehoben habe,
tritt in diesen Praparaten infolge der intensiven und scharfen Farbung
der feinsten Verastelungen der Fortsatze noch viel deutlicher zutage.
Der Grad der Veranderung der Neurofibrillen ist verschieden. Besser
erhalten sind dieselben in den grosseren Zellen; in diesen gelingt es bis¬
weilen, ein cndozellulares Netz nachzuweisen. dessen Fibrillen ungewohn-
lich stark sind und sich deutlich bis in die feinsten Verastelungen verfolgen
lassen. Sehr stark verandert hingegen sind die Fibrillen in den kleineren
Elementen, woselbst sie in einen Haufen von Kornchen verwandelt sind,
zwischen denen man selten noch einige grobere Fasern bemerkt. Zwischen
diesen beiden Extremen sieht man samtliche Zwischenformen von ver-
dickten, durcheinander geworfenen, zerstiickelten Fibrillen. In den oben
beschriebenen atypischen Zellen habe ich nie die geringste Andeutung einer
Farbung von Neurofibrillen wahrnehmen konnen.
Die Nervenfasern (Methode W olters-Kultschitzky ) zeigen auch ihrer-
seits bedeutende Veranderungen. Die Kadiarfasern haben augenscheinlich
an Zahl abgenommen, die Radii erscheinen daher verschmalert und sind
in den Zonen, in denen der sklerotische Prozess starker ausgepragt ist,
ganzlich verschwunden. Die kurzen Assoziationsfasern sind am starksten
betroffen. Die oberflachlichste Schicht der Tangentialfasern ist fast
voilstandig verschwunden. Das supraradiare und interradiare Fasergeflecht
ist enorm gelichtet und haufig ebenfalls ganz verschwunden. Die Fasern
sind verschmalert und weisen grosse, gewiss zum grossen Teile auf die
Wirkung der zur Farbung angewaridten Reagentien zuriickzufiihrende
Varikositaten auf.
Die Neurogliafasern zeigen die schwersten pathologischen Verande¬
rungen. Der subpiale Neurogliafilz ist sehr dicht. Die Faserchen kreuzen
sich nach alien Richtungen, ihr Verlauf ist oft gerade oder zickzackformig,
ofter jedoch geschlangelt und gewunden. In der Lage, die der Schicht der
kleinen Pyramiden entspricht, findet man haufig eine biindel- oder pinsel-
formige Anordnung der Neurogliafasern; oft bilden sie auch kleine Wirbel
oder Biischel (Taf. I, Fig. 4). In den tieferen Schichten nimmt man seltener
und nur in sehr kleinen Bezirken Herde wahr, die aus einem dichten Faser-
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400
B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
chengeflecht bestehen. Die NeurogliazeUen sind in den tiefen Schichtem
zahlreicher als in den oberflachlichen. Haufig sind spindelformige Riesen-
zellen mit langen und zahlreichen Auslaufern (Taf. I, Fig. 2). Die oben
erwahnten atypischen Zellen weisen auch in diesen Schnitten dieselben
charakteristischen Merkmale auf. Bei der Weigertschen Gliafarbung er-
scheint ihr Protoplasma durch Chromogen hell gefarbt; niemals habe ich.
einen Zusammenhang derselben mit Ghafasern bemerkt (Taf. I, Fig. 1)-
Die Gefasse sind im grossten Teile der sklerotischen Herde sehr
oft durch Fibringerinnsel thrombosiert, in dem neben roten Blutkorper-
chen mono- und polynukleare Leukozyten nachweisbar sind. Das Fibrin
zeigt sich in feinen, engverwickelten Faden.
Die Gefasswande sind nicht merklich verdickt, in den Gefassscheiden
findet man oft Lymphozyten. Hamatoidinkristalle und Pigmentkomchen.
Diese Elemente finden sich zusammen mit zahlreichen Mastzellen auch im
umliegenden Gewebe zerstreut.
Alle bisher beschriebenen Veranderungen treten regelmassig mehr
oder weniger schwer in den schon makroskopisch erkennbaren Herden bezw.
Zonen auf, die, wie oben beschrieben, eine fast knorpelige Konsistenz und
eine weisse, glanzende Farbe zeigen, so dass auf frischen Schnitten der
normale Farbenunterschied zwischen der Rinde und der weissen Substanz
verwischt ist und bisweilen sogar die weisse Substanz rotlich und die graue
durchaus weiss erscheint.
In den makroskopisch normal erscheinenden Abschnitten sind die
Veranderungen viel weniger schwer, und zwar um so leichter, je entfemter
sie von den Herden liegen. In diesen normal erscheinenden Teilen ist die
Lagerung und die Orientierung der Zellen fast normal, und viele Ganglien-
zellen, besonders unter den grossen Pyramidenzellen. haben sehr deutliche
und gut erhaltene Tigroidkorper. ungefarbten Kern, stark gefarbtes Kem-
korperchen, normale Auslaufer. sehr feme Neurofibrillen sowohl in den
Auslaufern wie auch im endozellularen Geflecht. Die Neuroglia zeigt sich
hier wenig verandert, ihr Foserwerk ist nur dichter, die Kerne sind meist kleiner,
Riesenzellen finden sich seltener vor, wie auch die charakteristischen atypi¬
schen Elemente der sklerotischen Zonen seltener sind: ausserdem treten
sie hier nie in Gruppen, sondem nur hier und da vereinzelt auf. Die Nerven-
fasem sind viel besser erhalten. Die Projektionsfasem sind normal. Auch
die Tangentialfasern sind besser erhalten, weniger die Radialfasem.
Die Gefasse erscheinen norma]. Die Dura mater weist keine besonderen
Veranderungen auf. Die Pia ist stark verdickt und von Lymphozyten
infiltriert; ihre Gefasse zeigen verdickte Wandungen und verengertes Lumen
und weisen dieselben charakteristischen Merkmale auf, die wir bereits fur
die sklerotischen Rindenpartien beschrieben haben. Starke, gefassreiche
Bindegewebssepta dringen von der Pia aus in die Hirnnnde. ^
Sehhiigel: Die Nervenzellen sind in verschiedenartigster Weise ver¬
andert, jedoch lierrscht der Typus der chronischen Degeneration vor. Die
kleinen Geschwiilste im Verlauf des Sulcus striothalamicus, die dieser Zone
eine abnorm der be Konsistenz verleihen, bestehen aus Binde- und Neurogiia-
gewebe. Zwischen den Maschen dieses Gewebes finden sich grosse und
kleine Gliakeme in sehr grosser Anzahl, der Gliafilz ist sehr dicht. Ausser¬
dem findet man hier zahlreiche grossere, kugelformige Zellen, oft ohne
scharfe Konturen, von verschiedenster Form und mit grossem, scharf be-
grenztem, ungefarbtem, an Chromatinkornchen reichem Kern. Unter den
Chromatinkornchen hebt sich deutlich ein grosses Kernkorperchen ab. Die
Gefasse sind zahlreich und thrombosiert; ihr Lumen ist verengert, die
Thromben bestehen aus roten Blutkorperchen, Leukozyten und Fibrin¬
gerinnsel; ihre Wandungen sind verdickt, in den Gefassen sowohl wie um
die Gefasse herum liegen zahlreiche Mastzellen, Pigmentkomchen und
Hamatoidinkristalle. Der grbsste Teil dieser Gefasse weist bedeutende Ver-
kalkungen auf; einige sind vollstiindig verkalkt, und zahlreiche Ablage-
rungen von Ivalksalzen sind im Gewebe zerstreut; letzteres ist an einigen
Steflen geradezu in eine harte, steineme Masse umgewandelt. Diese Kalk-
konkremente zeigen meistens ein mndliohes Aussehen und eine konzentrische
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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose.
401
Schichtung; sie sind stark liohtbreehend und in Salzsaure leicht loslich,
und zwar ohne Entwicklung kleiner Gaeblaschen und ohne Riickstand.
Sie losen sich in Schwefelsaure unter Bildung von nadelformigen Kristallen
von 8chwefelsaurem Kalk, sie farber\ sich mit Anilinfarben nur wenig und
nehmen beiBehandlung mitHamatoxylinlosungen eine schwarzo Farbung an.
Kleinhim: In den sklerotischen Partien fand ich folgende Ver&nde-
rungen: Die Purkinje schen Zellen haben stark an Zahl abgenommen und
fehlen in einigen Lamellen ganz. In NiasZ-Praparaten zeigen sie eine zen-
trale und periphere Chromolyse, Vakuolisierung bis zum volligen Schwund
des Zellprotoplasmas, kurze Auslaufer und einen grossen, oft undeutlichen
Kern. Die Neurofibrillen sind in den besonders schwer veranderten Zellen
zu einer komigen Masse zerfalien, die sich auch in die kurzen Auslaufer
fortsetzt; in den weniger schwer veranderten Zellen sind die perizellularen
Korbe aus dicken und spindelformigen Neurofibrillen zusainmengesetzt;
das endozellulare Geflecht ust in einigen Zellen auf den periphersten Teil
der Zelle beschrankt, in anderen besteht es aus feinen Komehen, zwischen
denen man nur hier und da noch einige Fibrillen wahmimrat (Taf. I, Fig. 7).
Der Kern ist gross, von unregelmassiger Gestalt, nicht durchscheinend.
Die Neurofibrillen sind in den langeren Auslaufem fein, oft in Blind el ver-
einigt. Grosse, den in der Himrinde beschriebenen ahnliche atypische
Zellen (Taf. I, Fig. 6) finden sich in den Markstrahlen ebenfalls. Die Korn*
chenschicht hat an einigen Stellen ein fast normales Aussehen, an anderen
ist sie mehr oder weniger verschmalert, so dass sie nur aus wenigen kleinen,
runden, unregelmassig zwischen den oben beschriebenen grossen atypischen
Zellen zerstreuten „Komem“ besteht. Hier und da sieht man Gruppen
von Zellen, die grosser sind und ein auffallig grosses Kemkorperchen auf-
weisen, welches sich wenig mit Anilinfarben und mit dem Nissl&chen Me-
thylenblau farbt (Taf. I, Fig. 9). Starke Ablagerungen von Kalksalzen
von den oben beschriebenen Eigenschaften sind im Gewebe zerstreut. Die
Nervenfasem in den Markstrahlen der sklerotischen Partien sind stark
rarefiziert und an einigen Stellen vollig verschwunden. Sie zeigen oft einen
gewundenen Verlauf. Die das Kleinhim bekleidende Pia ist leicht verdickt
und sehr gefassreich und weist hier und da eine reichliche Lymphozyten-
infiltration und Reste vorhergegangener Entziindungsprozesse auf.
Der kleine Tumor im linken Corpus restiforme besteht aus einem
weitmaschigen Bindegewebe und aus kleinen protoplasmaarmen Zellen.
Das Gewebe ist sehr gefassreich, und seine Gefasse besitzen dickeWande
und enges Lumen; viele weisen ausgedehnte Kalkeinlagerungen auf. Grosse
Mengen von Kalksalzen finden sich auch in den Gewebsmaschen.
Das Riickenmark zeigt in der Lumbal- und Sakralgegend, d. h. da,
wo dasselbe makroskopisch harter und blasser erschien, die Zellen der Vorder-
homer beziiglich ihrer feineren Struktur gut erhalten. Einige wenige Zellen
der zentralen Gruppen fallen durch eine etwas geringe Farbbarkeit der
Chromatinsubstanz auf, jedoch besteht nirgends Chromolyse. Die Zellen der
ventromedialen und lateralen Gruppe zeigen ganz normale Schollen,
ungefarbten Kera, intensiv gefarbtes Kemkorperchen, scharfe Konturen
und gut erhaltenes endozeliulares Fasemetz. Die Auslaufer sind lang und
gerade; sie lassen zahlreiche Verastelungen, deutliche Nw^-Schollen und
normale Neurofibrillen erkennen. Auch die Zellgruppen der Hinterhomer
sind normal. Die Nervenfasem sind gut erhalten, nur die Fasem in der
subpialen Schicht erscheinen leicht atrophisch. In der LissauertchQTi Zone
sind die Hinterwurzelfasem stark verandert; ein grosser Teil ist verschwun-
den, viele erscheinen geschwollen und enorm verdickt, der Achsenzylinder
liegt exzentrisch.
Die Neuroglia ist in der grauen und der weissen Substanz stfiurk ge-
wuchert. Ihre Zellen sind zahlreich. Die subpiale Schicht zeigt ein dichtes
Fibrillengeflecht, die Neurogliafasern dringen bis zur grauen Substanz und
begleiten die Septa der Pia und die Gefasse in einem meist gewundenen
Verlaufe. Die Gefasse sind zum grossen Teile mit Blutkorperchen prall
gefiillt, unter denen sich zahlreiche poly- und mononukleare Leukozyten
und Fibringerinnsel befinden. Der Eintrittsstelle der hinteren Wurzeln
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
enteprechend sieht man Rest© von kleinen Hamorrhagien; an diesen Stellen
sind die Wande der Himhautgefasse oft zerrissen und gefranst, und im Ge-
webe zerstreut liegen ausgetretene Blutkorperchen, Pigmentkornchen und
Haminkristalle. Die Gefasswande sind verdickt.
Im Hals- und Brustmark habe ich keine Veranderungen gefunden.
In den Spinalganglien sind die Zeilen ohne Veranderungen; die „hellen“
Zeilen sind gross, ihre Substanz ist chromophil, in A 7 i*sJ-Praparaten zeigt sie
sich als aus sehr foinen Granulationen im Zentrum und etwas groberen in
der Peripherie bestehend. Der Kern ist rundlich und zentral gelegen,
er hat ein sehr deutliches und intensiv gefarbtes Kernkorperehen; um dieses
herum sieht man zahlreiche kleine Komchen. Die ,,dunkeln“ Zeilen Lugaroa
sind viel kleiner und intensiv gefarbt, im iibrigeii weisen sie die gleichen
charakteristischen Merkmale auf. In den nach der Methode Bidschowskys
und Ramon y Cajals gefarbten Schnitten ist das endozellulare Fibrillennetz
sehr deutlich, das pcrinukleiire Gefleeht dicht, die sehr feinen Neurofibrillen
sind in den Ausiaufern deutlich erkennhar. Der Auslaufer der hellen Zeilen
verschwindet allmahlich jenseits der Endothelkapsel, welche die Zelle ein-
schiiesst, nachdem er sich ein- oder zweimal auf sich selbst zusaininengerollt
hat. Nie habe ich mehr als einen Auslaufer an einer und derselben Zelle
gefunden. Das Nervengewebe wird von einem reichlichen Bindegewebe
umgeben, dessen Oefasse durch Thromben verschlossen sind. Das Gefass-
lumen ist haufig verengt, die Gefasswande sind meist leicht verdickt.
Der Nierentumor , der makroskopisch von derberer Konsistenz als das
iibrige Gewebe und von weisslicher Farbe war. besteht aus kleinen Epithel-.
zeilen, die gruppenweise angeordnet sind und oft runde oder tubulare
Liicken umgrenzen. Diese Zellgruppen werden durch mehr oder weniger
feine Bindegewebsbalken von einandcr getrermt. Im zentralen Teil des
Tumors finden wir sparlicho neugebildete Gefasse. Gegen das umgebende
Bindegewebe ist der Tumor nicht scharf abgegrenzt. Die benachbarten
Nierengefasse haben verdickte Wande und sind von einer starken Binde-
gewebsschicht umgeben; ihr Lumen ist meist verengt, haufig thrombosiert.
im mittleren Teile durch rote Blutkorperchen und langs der Wandung
durch Leukozyten. Diese Veranderungen entsprechen dem Bilde des Hyper¬
nephroma.
Fall 2. Hirnrinde. In den sklerotisehen Partien fallt auf: Mangel
an Orientierung und veranderte Lagerung der Nervenzellen; die grossen
imd kleinen Pyramidenzellen sind ohne Ordnung in den versehiedenen
Schichten gelagert, sie zeigen entweder Chromatolvse oder Hyperchroma-
tose des Kernes, biswoilen vollstandige Auflosung aller ihrer normalen
Bostandteile. so dass die Zelle in eine Gruppe von formlosen Granulationen
um einen mehr oder weniger erhaltenen Kern herum verwandelt ist; ausser-
dem schwore Veranderungen der Neurofibrillen, die in eine Kornchemnasse
zerfalien sind. Zwisohen diesen Zeilen sieht man andere, die so in die Lange
gezogen sind, dass sie den Typus der Stabchenzellen annehmen; zum Teil
sind sie auch in ihrem Langsdurchmesser onorm vergrossert, besitzen aber
dabei mehrere ungefarbt bleibende Kerne ohne Kernkorperehen, ein wenig
gefarbtes Protoplasma und zahlreiche Dendriten. Diese Zeilen nehmen
eine Zone ein, die ungefahr der I'ebergangszone zwischen der Schicht der
grossen Pyramidenzelhui und dor Sehicht der polymorphen Zeilen entspricht.
In der Rinde finden sich einzelne Zeilen von auffalligor Grosso, in der
weissen Substanz werden diese immer zahlreicher und treten auch in Gruppen
vereinigt auf, so dass sie kleine Horde von der Grbsse eines Quadratnulli-
meb'rs bilden. Der Leib dieser Zeilen ist gosehwollen, ihre Form ist rund-
1 icii oder oblong, birnen- oder spindelformig u. s. w. Das Protoplasma er-
scheint fein staubig, leicht farbbar und lasst weder A’w5/-Schollen noch
Nourofibrillen erkennen; auch fehlt jede Andeutung von Neurogliafasern;
die Fortsatze sind zahlreich, kurz und gewunden, die Konturen verwaschen.
In den Zeilen finden sich ein oder mehrere grosse, ungefarbte, von einer
intensiv gefarbten Membran scharf begrenzte Kerne mit Kernkorperehen
und sehr feinen Chromatinkornchen. Zwischen diesen Zeilen sieht man
zahlreiche Riesenzellen der Glia mit reichlichem Protoplasma, zahlreichen
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
403
Kernen und zahireichen Auslaufern. An den Stellen, an welchen die oben
beschriebenen atypischen Zellen zu Herden vereinigt sind, ist das Gewabe
reich an Gefassen mit verdickten, infiltrierten Wanden, und zwischen ihren
Maschen finden sich Lymphozyten, rote Blutkorperchen und Pigment-
komchen zerstreut. Auch die kleinan G1 iakerna sind an diesen Stellen sehr
zahlreich und zeigen ein sehr reichliches, auffallig leicht mit Toluidinblau
sich farbendes Protoplasma und vielo kleina Auslaufer. Das Geflecht der
Neurogliafasern ist in den sklerotisehen Zonen sehr dieht.
Die tangentialen und supraradiaren Nervenfasern sind fast vollstandig
versehwunden, enorm rarefiziert ist farner das interradiare Geflecht. Die
Radiarfasern selbst sind in den Partien, in danan der sklerotische Prozess
besonders stark ist, sehr vermindert, ja bisweilen vollstandig varschwundan.
Alla diese Veranderungen sind sehr verschieden und schwanken von
einem Maximum in den Zonen, in denen der sklerotische Prozess am starksten
ist, bis zu einem Minimum in den makroskopisch normal erscheinenden
Zonen, in denen die oben beschriebenen Veranderungen oft kaum wahr-
nehmbar sind.
Die Pia des Geliirns ist etwas verdickt, ihre zahireichen Gefasse
zeigen ein verengtes Lumen und verdickte Wande und sind durch Thromben
geschlossen, die aus einem Gemische von roten Blutkorperchen und Leuko-
zyten bostehen. Aehnliche Veranderungen weisen die Gefasse der Rinde auf.
Die kleinen, langs der Stria cornea und in den Sehhiigeln gefundenen
Knoten bestehen fast ausschliesslich aus enorm gewucherter Neuroglia,
vor allem aus gawucherten Neurogliafasern. Zwischen den letzteren finden
sich viele grosse Glia- und andere grosse Zellen vom Charakter der oben
beschriebenen ,,atypischen“ Zellen. Die Gefasse sind sparlich, die Wande
derselben sehr diinn. Die Nervenfasern in den Sehhiigeln sind stark und
varikos, in den Knoten fehlen sie vollstandig.
Im Kleinhim sind die Purkinje schen Zellen normal beziiglich ihrer
Form imd Struktur. Die Kornchenschicht weist keine Veranderungen
auf mit Ausnahme einer leichten Verschmalerung der Markstrahlen. Atypi-
sche Elemente habe ich nicht gafunden. Die Glia ist normal.
Ruckenmark: Die Arachnoidea und Pia ist, besonders in der hinteren
Halfte, verdickt; mit dem Ruckenmark ist sia nicht verwachsen, sondern
wird durch ein Exsudat von ihm getrennt. Das Exsudat ist granulos, form-
los; man bemerkt in demselben rimdliche, kornige, durchsichtige Korper-
chen von einem Durchmesser von 16—30 u mit schwach farbbarem und
nicht immer sichtbarem Kern. Es sind dies die granulosen Korper oder
Gliige schen Korperchen, die sich haufig in der Umgebung ischamischer oder
entziindlicher Herde der weissen Substanz finden 1 ). Die Gefasse der Pia
zeigen verdickte und oft infiltrierte Wande. Den Austrittsstellen der hin¬
teren Wurzeln entsprechend weisen diese Gefasse imtarbrochene, auf-
gefranste Wandungen auf, und hier sind dem eben beschriebenen Exsudat
Erythrozyten beigemischt. Gleiche Charaktere zeigen die thrombosierten
Gefasse des Piaseptums der Fissura mediana anterior. In der grauan
Substanz finden sich ebenfalls viele thrombosierte Gefasse, die zu kleinen
nekrotischen Herden in Beziehung stehen.
Die Neuroglia ist vermehrt, und ihr Fasergeflecht ist in der grauen
Substanz sehr dicht und noch dichter in dem peripherischen Teile der
hinteren Halfte der weissen Substanz, wo sie die Septa der Pia begleitet.
Die Faserbiindel, welche die Gollschen Strange bilden, sind sehr rarefiziert.
Eine gleiche Rarefizierung nimmt man auch in den Seitenstrangen wahr.
Die Zellgruppen der Vorderhorner weisen in don beiden Markhalften rnerk-
liche Unterschiede auf. Im rechten Vorderhorn ist die vontromediale Zell-
gruppe stark gelichtet, wahrend die anderen Gruppen gut erhalten sind;
im linken Vorderhorn ist die ventrolaterale Gruppe besser erhalten und
die anderen erscheinen in toto bedeutend gelichtet; im allgemeinen ist das
linke Vorderhorn kleiner als das rechte. In den Zellen der Hinterhorner
x ) Comil et Ranvier . Manuel d’histologie pathologique. Paris 1902.
T. 4. pag. 825.
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404 B.onfigli, Ueber tuberose Sklerose.
babe ich keinen merklichen Unterschied zwischen den beiden Halften wahr-
nehmen konnecu Der Zentralkanal weist in den untersuchten Schnitten
grosse Verschiedenheiten in der Form auf. In einigen erscheint er normal,
in anderen zerfallt er in zwei oder drei Hohlraume, die durch eine oder
zwei sagittate Bindegewebssepten getrennt sind. Die Ependymzellen be-
kleiden zum Teil diese Septen. In anderen Schnitten liegt hinter dem
Zentralkanal eine zweite, weit kleinere Hohlung, die ebenfalls von Epen¬
dymzellen ausgekleidet ist.
Der vorwiegend aus kleinen spindelformigen, zu Biindeln vereinigten,
durch Bindegewebsbalken getrennten Zellschichten gebildete Nierentumor
hat alle Charaktere eines Fibrosarkoms.
Epikrise.
Nach Anftihrung der histologischen Befunde sei es mir ge-
stattet, einige Erwagungen beziiglich der Bedeutung der von mir
festgestellten Veranderungen anzustellen. Vor allem stimmen die
in meinen beiden Fallen angetroffenen histologischen Verande¬
rungen ungefahr iiberein und decken sich auch mit den fast iiber-
einstimmend von anderen Autoren bei der tuberosen Skerose er-
hobenen Befunden. Es sind im wesentlichen folgende: Unordnung
in der Lagerung und Desorientierung der Nervenzellen, enorme
Wucherung der Glia in den sklerotischen Zonen, weniger stark in
den iibrigen Teilen der Rinde, Anwesenheit grosser atypischer
Zellen in den sklerotischen Herden, Entziindungsprozesse der
weichen Him- und Riickenmarkshaut, Bildungsanomalien und
Rarefizierung der Hinterstrangbiindel im Riickenmark.
Der Mangel an Orientierung und die Unordnung in der Lage¬
rung der Nervenzellen der Himrinde sind schon bekannte Sto-
rungen, die man bei vielen anderen Gehimkrankheiten, ganz be-
sonders bei der Mikrocephalie 1 ), bei der Mikrogyria spuria von
Kalischer 2 ) und dem Hydrocephalus internus congenitus 3 ) fest-
gestellt hat. Man hat diese Storung der Architektonik teils auf
einen Entwicklimgsdefekt der Hirnrinde, teils auf besondere patho-
logische Prozesse bezogen. Pellizzi hat gerade diesen atiologischen
Unterschied sehr gut hervorgehoben, indem er von der kortikalen
Histioatypie sprach. In meinen beiden Fallen war die Lagerung
und Orientierung der Nervenzellen samtlicher Rindenschichten
stets mehr oder weniger gestort. Die Spitzenfortsatze sind in
sehr dicken, nach der Biehchowskyschen Methode hergestellten
Schnitten auf lange Strecken zu verfolgen imd verlaufen nicht
immer nach den oberflachlichen Schichten hin, sondern auch nach
den tieferen hin oder in tangentialer Richtung. Neben diesen Ver¬
anderungen in der Anordnung der Nervenzellen habe ich in beiden
Fallen regelmassig schwere Veranderungen in der Form und der
Struktur der Ganglienzellen festgestellt, so namentlich zentrale
1 ) Mingazzini, O., Beitrag zum klinisch-anatomischen Studium der
Mikrocephalie. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1900. Bd. 7.
! ) Pellizzi, Sulla microgiria. Studi clinici ed anatomopatologici sull’
idiozia. Torino 1903.
3 ) Pellizzi, Note anatomiche ed istologiche sopra im caso di micro-
cefalia vera ed un caso di idrocefalo intemo congenito. Torino 1908.
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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose. 405-
und peripherische Chromolyse und teilweise Zerstorung der Neuro-
fibrillen (die unter den Elementen, welche die Zelle bilden, eines
der widerstandsfahigsten bilden). Der Zerstorungsprozess muss als
zer8treut bezeichnet werden, da die Veranderungen der makro-
skopisch normal erscheinenden Zonen um so weniger schwer sicb
erweisen, je weiter sie von den sklerotischen Herden entfemt sind.
Die Ausbreitung des Glioseprozesses von einem sklerotischen Herd
auf die normale Umgebung geht sicher sehr langsam vor sich,
man darf daher nicht nur die mehr oder weniger grosse Ausdeh-
nung, sondern auch die grossere oder geringere Intensitat der
mikroskopischen Veranderungen auf das Alter des pathologischen
Prozesses beziehen. Auch Perusini, welcher der Sclerosis tuberosa
das Recht auf den Namen Histioatypia disseminata corticahs ab-
sprechen mochte, um sie unter die diffusen Histioatypien zu reihen,
gibt schliesslich zu, dass die Anzahl der Varietaten sehr gross ist.
Er bedenkt ausserdem nicht, dass auch die gehauften Krampf-
anfalle der an Sclerosis tuberosa leidenden Kinder zu einer diffusen
Gliose Anlass geben konnen, wie man sie meistens bei Epileptikem
antrifft, vorausgesetzt, dass wirklich die Gliose der Epileptiker
eine Folge und nicht die Ursache der Krampfanfalle ist.
In direktem Zusammenhange mit den Zellenveranderungen
stehen die Veranderungen der Nervenfasern. In den sklerotischen
Zonen sind dieselben an Zahl vermindert, verdiinnt, oft ganzlich
verschwunden, wahrend sie, und zwar ganz besonders die Pro-
jektionsfasem, in den nicht — sklerotischen Zonen viel besser er-
halten sind. Am schwerstenvomDegenerationsprozessbetroffensind
die intrakortikalen Geflechte und ganz besonders das supraradiare.
Die enorme Wucherung der Neuroglia ist der wichtigste Be-
fundl bei der Sclerosis tuberosa. Diese Wucherung, die sich nur
durch den zerstreuten Charakter von alien anderen Formen der
Gliose unterscheidet, ist wirklich auffallend. Ganz besonders ist
dabei das Faserwerk der Neuroglia beteiligt. Besonders dicht ist
es in der subpialen Gliahiille, was iibrigens schon von vielen Ver-
fassern nicht nur bei der Sclerosis tuberosa, sondern auch bei der
Idiotie, dem epileptischen Schwachsinn, der Epilepsie, der Dementia
paralytica 1 ) u. s. w. festgestellt worden ist. In meinen beiden Fallen
betraf die Gliosis fast ausschliesslich die Plaques, die schon makro-
skopisch sklerotisch erschienen, wahrend in den librigen Teilen die
Neuroglia fast normal war. Perusini und Montet fanden in ihren
Fallen eine auf samtliche Schichten der Himrinde verbreitete
Ghose. Diese Tatsache muss gewiss mit dem Alter der von ihnen
untersuchten Individuen und folghch mit dem Alter des Prozesses
in Zusammenhang gebracht werden. Es handelt sich in der Tat
in ihren Fallen um zwei Individuen, die seit der Kindheit an
epileptischen Krampfen gelitten und die das Alter von 15 resp.
12 Jahren erreicht hatten. Die Gliose bei den Epileptikem ist
nun, wie bereits erwahnt, eine zu bekannte Tatsache, als dass-
l ) Cornil et Ranvier. 1. c. T. III. pag. 46.
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406 Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose.
ihre Bedeutung fiir solche Falle noch weiter erortert werden
miisste. In meinen beiden Fallen hingegen, in denen der Tod viel
friiher eintrat, hatte der Glioseprozess noch keine Zeit gehabt,
sich auszudehnen, und daher der mehr zerstreute Charakter der
Krankheit, der iibrigens auch von Gombault und Riche 1 ) in ausge-
zeichneter Weise hervorgehoben wird. Die Gliakerae sind zahl-
reich, ebenso die sogar hier und da in Gruppen vereinigten Riesen-
zellen. Auch das Auftreten der letzteren weist auf einen Prolife-
rationsprozess der Glia hin. Es muss nur betont werden, dass
diese Proliferation hier hauptsachlich auf Rechnung der Neuroglia-
fasern vor sich geht, im Gegensatz zu der sog. atrophischen Skle¬
rose, bei welcher die Ze/fenproliferation vorherrscht.
Die grossen Zellen, die sich regelmassig bei der Sclerosis
tuberosa vorfinden und nach ihren histologischen Charakteren
kaum zu den Nervenzellen oder den Gliazellen gerechnet werden
konnen, sind gegenwartig noch immer Gegenstand der leb-
haftesten Diskussion.
Gombault und Riche beschreiben in Hirngeschwiilsten grosse,
spinngewebsformige Zellen, die sich vereinzelt oder in Gruppen
vereinigt in Gliomen vorfinden und deren Charaktere genau denen
der ,,atypischen“ Zellen entsprechen, die man bei der Sclerosis
tuberosa und in Teratomen antrifft. Auch in diesem Falle ist
das wahre Wesen dieser Elemente, die von ihnen als Neuroblasten,
„Elemente des Ectodermblattes“ aufgefasst .werden, noch immer
zweifelhaft. Dieselben Verfasser beschreiben bei der reaktiven
Encephalitis in der Umgebung von Fremdkorpem eine Varietat
von riesigen, spinnenformigen, rundlichen, vieleckigen oder spindel-
formigen Zellen mit zahlreichen kurzen, stark verzweigten Aus-
laufern, homogenem Protoplasma, ohne Schollen und ohne Pig¬
ment, mit einem oder mehreren Kemen, welche grossen Nerven¬
zellen ahnlich sind und die, wie sie angeben, gewissen Elementen
gleichen sollen, die sich bei der Sclerosis tuberosa vorfinden. Diese
Elemente finden sich in Zonen, deren Gefasse deutliche Entztin-
dungserscheinungen aufweisen imd sind hochst wahrscheinlich
selbst als ein Produkt entzundlicher Prozesse aufzufassen. Bei der
Sclerosis tuberosa ist die Entziindung nach vielen alteren und
neueren Forschem nur von sekundarer Bedeutung und ist mehr
als Begleiterscheinung und nicht als ein atiologisches Moment auf¬
zufassen, wahrend man ursprunglich die Entstehung der Krank¬
heit auf meningitische Prozesse zuruckfiihrte.
In meinen Fallen bestand unzweifelhaft ein chronischer Ent-
ziindungsprozess der Hirnpia, der sich auch auf die Pia des Riicken-
markes erstreckte; ich will hier nicht ohne weiteres diesem Pro¬
zesse den Ursprung der ganzen Krankheit zuschreiben, um so mehr,
da er keinen konstanten Befund darstellt. Immerhin kann man
wohl annehmen, dass in einem pradisponierten Gehirn eine solche
Meningitis eine ausgezeichnete Gelegenheitsursache abgeben kann.
l ) Comil et Remoter. 1. c. T. III. p. 36.
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
407
Die Eklampsie ist iibrigens eine haufige Erscheinung bei Kindem
und nach der Meinung der meisten Autoren gewohnlich gerade
von entziindlichen Prozessen der weichen Hirnhaut abhangig, und
in den eingehender beobachteten Fallen von Sclerosis tuberosa
sind Krampfanfalle oder voriibergehende Kontrakturen in den
ersten Monaten des extrauterinen Lebens, also gerade in der Zeit,
in welcher die Eklampsie am haufigsten auftritt, festgestellt wor-
den. In meinen Fallen, und ganz besonders im ersten, war der
Entzundungsprozess der Pia sehr ausgesprochen, und die enormen
Ablagerungen von Kalksalzen im Nucleus caudatus, im Kleinhim,
und im Corpus restiforme weisen nicht nur auf die Schwere, son-
dern auch auf die chronische Natur der pathologischen Prozesse
hin. Bekanntlich ist die Verkalkung* die iibrigens nicht selten
gerade im Kleinhirn auftritt 1 ), oft eine Folge chronischer oder
parasitarer Entziindungen, da die in den Geweben abgelagerten
Salze mit der reichlichen Vaskularisierung in Zusammenhang
stehen. In meinem ersten Falle war die Himsklerose, die einer
der seltensten Befunde der Sclerosis tuberosa ist, auf eine kleine
Zone beschrankt, in welcher der Entzundungsprozess der Meningen
besonders deutlich ausgepragt war, und hier hatte der vaskulare
Prozess Anlass zu jenen reichlichen Kalksalzablagerungen gegeben,
die in einigen Lamellen den Grad einer wahren Versteinerung er-
reicht hatten. Auch im Kleinhirn war die Glia vermehrt, ohne
dass sich ihre Fasern in jene charakteristischen Gruppen zu Pin-
seln, Wirbeln und Fachern vereinigen, die man fur die Neuroglia
der Hirnrinde beschrieben hat. Die Gliawucherung im Kleinhirn
war besonders in der subpialen Schicht auffallend, wo sie eine
dichte Fibrillenanhaufung von tangentialem Verlaufe datstellte,
von der zahlreiche Fibrillenbiindel nach der Korner- und der
Purkinje schen Schicht ausgehen (Taf. I, Fig. 3). Diese Gliafaser-
schicht setzte sich nicht gleichmassig langs des ganzen peripheren
Teiles der Lamelle fort, sondern zeigte sich bald mehr bald weniger
dick und dicht; oft bestand sie nur aus wenigen Fibrillen, und in
diesem Falle war auch der Degenerationsprozess der Nervenzellen
geringer. Diese Verdickung der subpialen Schicht der Neuroglia
(nicht zu verwechseln mit der feinen Bindegewebsschicht von
Bergmann, aus welcher ebenfalls feine Fasern von gleichem Ver¬
laufe abgehen, die sich mit der von mir angewandten Weigertschvn
Elektivmethode nicht farben) ist auch bei Hirnatrophien beobachtet
worden, wenn die Himsklerose so weit vorgeschritten war, dass
sie zu einem Schwund der Purkinje schen Zellen gefiihrt hatte, die
ja unter den Nervenzellen diejenigen sind, die dem Degenerations-
prozesse den grossten Widerstand leisten 2 ).
Bei vielen Hirnlasionen hat man iibrigens eine bedeutende
Zunahme sowohl des Bindegewebes wie der Neuroglia und einen
gleichzeitigen Schwund der Nervenzellen wahrgenommen. Die bei
J ) Oberateiner , Anatomi© des centres nerveux. 1893. p. 421.
*) 0ber8teiner , 1. c. p. 422.
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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose.
Thomas angefiihrten Beobachtungen von Combette, Duguet. Mey-
nert, Vulpian, Piorret, Clause, Fraser, Schultze, Hammarberg, Max
Arndt, SpiUer, Herbert Mayor sowie die Beobachtungen von
Thomas selbst 1 ) beweisen, wie gem bei Hirnverletzungen Wuche-
rung der Glia und des Bindegewebes sich mit Degeneration und
Schwund der Purkinje schen Zellen verbindet. Bei der Sclerosis
tuberosa ist die Himsklerose gewiss selten; jedoch, falls sie besteht,
weist das Kleinhim ebenfalls die atypischen Zellen auf, von denen
weiter oben die Rede war. Ich konnte jedoch im Gegensatz zu
Montet keinen konstanten Zusammenhang zwischen dem Auftreten
•der atypischen Zellen in den Himwindungen und dem Schwunde
der Purkinje schen Zellen feststellen. Dieser Zusammenhang ware
gewiss sehr beweisend fiir eine abnorme oder wenigstens gehemmte
Entwicklung der embryonalen Elemente, welche in der weissen
Substanz unterhalb der Komerschicht geblieben waren, anstatt
in die oberflachlicheren Schichten zu wandem und sich zu Nerven-
zellen weiter zu entwickeln. In meinem Falle jedoch war ein
solcher Zusammenhang durchaus nicht deutlich. AUerdings waren
die Purkinje schen Zellen um so mehr degeneriert, je schwerer der
sklerotische Prozess in einer Lamelle war, und auch die atypischen
Zellen waren um so zahlreicher. In vielen Praparaten fand ich
jedoch auch ziemlich gut erhaltene Purkinje sche Zellen, und eben-
daselbst waren die atypischen Zellen sowohl zwischen den Kornern
als unterhalb der Komerschicht sehr reichlich vorhanden.
Was das Riickenmark betrifft, so betrafen die in demselben
festgestellten Veranderungen ausschliesslich die Nervenfasem, die
Neuroglia und die Meningen. Die Pia wies in meinen beiden
Fallen deutliche Zeichen eines Entziindungsprozesses auf. Die
Neuroglia war so stark gewuchert, dass das Lendenmark eine
weisse Farbe und eine augenscheinlich derbere Konsistenz als ge-
wohnlich angenommen hatte, wie es nicht nur bei der Sclerosis
tuberosa, sondern auch bei der hereditaren Syphilis 2 ), bei der
Lepra 8 ) und bei einigen senilen Formen 4 ) festgestellt worden ist.
Der Rarefizierungsprozess der Nervenfasem, der in meinen beiden
Fallen nicht erheblich war, betraf ganz besonders die Hinter-
strange, wo gerade auch der Entziindungsprozess der Meningen
erheblicher war; er kann also wohl mit dem Entziindungsprozesse
in Zusammenhang gebracht werden, und zwar um so mehr, als
die Gefassveranderungen im Riickenmark sehr bedeutend waren;
besonders im zweiten Falle hatten Thrombosen in den feinen Ver-
astelungen der Arteria spinalis anterior Anlass zu zahlreichen, sehr
kleinen Erweichungsherden gegeben. Die Lissauersche Zone, deren
Fasern sehr rarefiziert waren, erschien infolge der Erweiterung
der Venen und der Arterien der Riickenmarkshaute zusammen-
gepresst. Die letzteren zeigten auch Kontinuitatstrennungen den
*) Thomas, A., Le cervelet. Paris 1897.
*) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 316.
*) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 362.
4 ) Comil et Ranvier. 1. c. T. III. p. 377.
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Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose.
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Eintrittsstellen der hinteren Wurzeln entsprechend. Es ist wohl
ausser Zweifel, dass diese Veranderungen nicht ausschliesslich auf
Entziindungserscheinungen zuriickzufiihren sind. Ebenso hangt
sehr wahrscheinlich dieRarefizierung der Fasern der Hinterstrange,
die iibrigens auch als Folge anhaltender kachektischer Zustande
beobachtet wird, von der bedeutenden Wucherung des Binde-
gewebes und der Glia ab.
Indem ich nun zu der noch sehr umstrittenen Frage der
Aetiologie der Sclerosis tuberosa iibergehe, erinnere ich zunachst
daran, dass Boumeville und Brissaud sie der Wirkung eines lang-
samen Entziindungsprozesses der Neuroglia zuschrieben. PeUizzi
hat eine sehr sorgfaltige Zusammenstellung der weiterhin aufge-
tretenen, meist sich widersprechenden Meinungen gegeben. Bald
fiihrte man den Ursprung der Sclerosis tuberosa auf pathologische
Bindegewebsprozesse mit nachfolgender Zerstorung der Nerven-
elemente, bald auf chronische Entziindungsprozesse, bald auf eine
Gliose infolge von Leptomeningitis, bald auf Neubildungsprozesse
zuriick, die sich in den letzten Monaten des fotalen Lebens ent-
wickeln sollten. PeUizzi selbst fasst die Sclerosis tuberosa als
,,eine Anomalie in der histogenetischen Entwicklung der Hirn-
rinde“ auf. Wahrscheinlich hat der Prozess seinen Ursprung im
fotalen und nicht im embryonalen Leben. Einige Veranderungen,
die ich in meinen Fallen festgestellt habe, wie die Missbildung des
Zentralkanals im Riickenmarke, konnten zur entgegengesetzten
Annahme verleiten; auch die Unordnung in der Lagerung und der
Orientierung der Nervenzellen der Hirnrinde ist gewiss eine friih-
zeitige Stoning, die auf eine Anomalie der fotalen Entwicklung
hinweist.
Die grossen atypischen Zellen, von denen ich weiter oben aus-
fuhrlich gesprochen habe, wurden bisher von den verschiedenen
Beobachtem verschieden erkliirt. PeUizzi betrachtet sie als Nerven¬
zellen oder besser gesagt als Elemente, die urspriinglich dazu be-
stimmt sind, Nervenzellen zu werden. Nach PeUizzi haben andere,
wie Perusini, Geitlin und Montet, eine ahnliche Meinung vertreten.
Es waren die in ihrer Entwicklung gehemmten Neuroblasten,
welche zur Bildung der grossen atypischen Zellen Anlass gaben.
Hiergegen muss ich aber hervorheben, dass nie, weder von anderen
noch von mir, auch nur die geringste Andeutung von Neuro-
fibrillen im Korper oder in den Auslaufern dieser Zellen gefunden
worden ist. Nur H. Vogt 1 ) hat Andeutungen von Neurofibrillen
in einigen derselben gefunden, doch teilt er selbst die in Rede
stehenden Zellen in Zellen nervoser Natur und in solche neuro-
glioser Natur ein, imd nur in den ersteren, die sich vereinzelt in
der grauen Substanz oder in den Tumoren der Ventrikel vorfanden,
hat er Neurofibrillen beobachtet, nie hingegen in den letzteren, die
meistens in Herden vereinigt waren. Mir scheint es nun, dass kein
l ) Vogt, H., Zur Pathologie imd pathologischen Anatomie der ver¬
schiedenen Idiotieformen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. 1908. Bd. 24.
S. 106.
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410 Bonfigli, Ueber tuberose Sklerose.
Grund vorliegt, jene Zellen, die alle Charaktere der Nervenzellen
besitzen einschliesslich der Anwesenheit von Neurofibrillen, nnd
die nie an den ausschliesslich aus den grossen atypischen Zellen
bestehenden Herden beteiligt sind, nur weil sie grosser sind oder
eine von der normalen abweichende Form besitzen, als eine Varietat
derselben zu betrachten. In den anderen Zellen, denen Vogt neu-
rogliose Natur zuschreibt, wurden niemals, nicht einmal von Vogt
selbst, Neurofibrillen nachgewiesen. Dabei ist zu bedenken, dass
die Neurofibrillen sich ziemlich friih in den Nervenzellen bilden
und in den letzten Monaten des fotalen Lebens schon vollstandig
ausgebildet sind, ja dass sie nach Gierlich 1 ) in den Auslaufern der
Pyramidenzellen der Hirnrinde noch viel friiher als im Zellkorper
auftreten. Ich selbst habe in den grossen atypischen Zellen nie
Neurofibrillen gefunden, und zwar weder in den Auslaufern noch
im Zellkorper, obwohl die Protoplasmamasse enorm stark ent-
wickelt war. Wenn auch diese Tatsache nicht entscheidend ist,
so ist sie doch sicher von grosser Wichtigkeit gegeniiber der oben
erwahnten Hypo these. Femer ist die Gliawucherung, wo immer
auch aus irgend einem Grunde ein Schwund oder eine schwere
Veranderung in den Nervenelementen vorliegt, ein heute in seiner
Bedeutung allgemein anerkannter Prozess, der bei der Sclerosis
tuberosa den Hauptbefund darstellt. In der pathologisch ge-
wucherten Glia sind nun Riesenzellen und atypische Elemente
haufig, die den bei der Sclerosis tuberosa gefundenen atypischen
Zellen wenigstens sehr ahnlich sind. Montet und Geitlin verlangen
den Nachweis wirklicher Auslaufer, welche die elektive Gliafarbung
annehmen. Doch abgesehen von der Frage, ob nicht vielleiclit, wie
Weigert behauptete, die Neurogliazellen von den Gliafasem absolut
getrennt sind 2 ), ist meines Erachtens die Tatsache, dass an den
sehr kurzen und enorm veranderten Auslaufern der atypischen
Zellen keine Neurogliafibrillen zu finden sind, kein geniigender
Grund, um den atypischen Zellen die neurogliose Natur abzu-
sprechen.
Ein anderes Argument zugunsten der neurogliosen Natur der
in Frage stehenden Elemente ist folgendes: Einige unzweifelhaft
aus Neurogliagewebe bestehende Geschwiilste weisen Riesenzellen
mit Auslaufern und enormem Zellkorper von oft rundlicher Form
auf, welche den atypischen Zellen der Sclerosis tuberosa sehr ahnlich
sind. Es sind dies Geschwiilste, welche in der Mitte zwischen
Tumor und Teratom stehen, w'ie das bereits weiter oben erwahnte
neuroformative Gliom; diese Tumoren weisen gerade die eben-
beschriebenen Zellen auf, uber deren Natur noch dieselbe Ungewiss-
heit herrscht wie uber die Natur der atypischen Zellen der Sclerosis
tuberosa. Allerdings war man bisher geneigt sie als Neuroblasten
aufzufassen, die nicht zu voller Entwicklung gelangt sind 2 ); doch
*) Van Gehuchten , Anatomie du system© nerveux de l’homme. 4© Edi¬
tion. Louvain 1906. p. 324.
2 ) Comil et Ranvier . Op. etc. T. III. p. 91.
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B o n f i g 1 i, Ueber tuberose Sklerose.
411
scheint es mir sonderbar, dass solche embryonale Elemente wie
die Neuroblasten so hyperplastisch sein sollen, dass sie die enorme
Grosse dieser atypischen Zellen erreichen, ohne zu irgend einer
Bifferenziation zu gelangen. Noch ein viertes Argument veranlasst
mich, die nervose Natur der atypischen Zellen zu bezweifeln. Nach
der Lehre von Kupfer und Hie verliert die Keimzelle in einem
gewissen Augenblicke der embryonalen Entwicklung die rundliche
Eorm und nimmt nach Ablauf der Karyokinese eine langliche,
ovale oder bimformige Gestalt an; damit erhalt sie die Charaktere
der Neuroblasten und erwirbt den Achsenzylinderfortsatz, der von
dem zugespitzten Ende ausgeht. Schon von diesem Augenblicke
an zeigt sich in dem sparlichen Protoplasma eine Andeutung einer
Bildung, welche an die „fibrillogene Masse" Fragnitos 1 ) erinnert.
Die Zelle ist dabei immer noch sehr klein, ihre Konturen sind
regelmassig, und das Protoplasma ist, wie bereits gesagt, sehr
sparlich. Nun ist aber in den atypischen Zellen der Sclerosis
tuberosa das Protoplasma umgekehrt gerade ausserordentlich
reichlich, und dabei fehlt jede Andeutung einer neurofibrillaren
Bildung, die Konturen der Zelle sind sehr unregelmassig, die Aus-
laufer zahlreich, Karyokinose ist nie beobachtet worden, ihre
Dimensionen sind im Vergleich mit jenen der Neuroblasten enorm.
Zugunsten der Meinung, dass jene atypischen Zellen neuro-
glioser Natur sind, spricht endlich die Tatsache, dass sie in Nissl-
Praparaten einAussehenzeigen, dasssievon den grossenZellennicht-
nervoser Natur nicht zuunterscheiden sind, welche ,,gemastete“
Zellen nennt und deren von Nisei 2 ) selbst gegebene Beschreibung
ganz auffallig mit der Beschreibung der in Rede stehenden Zellen
iibereinstimmt. Diese Zellen, die sich nach Nisei in der Himrinde
der Dementia paralytica gewohnlich nicht finden, erscheinen regel¬
massig da, wo eine lokale Zerstorung der Nervenelemente besteht.
Auch Scinti a ) hat in einer neuerdings erschienenen Arbeit grosse
hypertrophische und hyperplastische Neurogliazellen in den Wan-
den der nekrotischen Herde und in der Umgebung der Plaques
jaunes (6tat vermoulu) der Hirnoberflache bei der senilen Demenz
beschrieben. Die Beschreibimg dieser Zellen stimmt gleichfalls
mit jener der atypischen Zellen der Sclerosis tuberosa iiberein.
Auch Schroder*) hat gewucherte Gliazellen gefunden, welche den
Zellen, die man in den Herden der Encephalitis haemorrhagica
acuta superior gefunden hat, sehr ahnlich sind. Ebenso hat Ranke, 6 )
*) Fragnito, Primo congresso italiano di neurologia in Napoli. Poli-
clinioo 1908. Anno XV. p. 696.
*) Nisei, F., Histologische und histopathologische Arbei ten iiber die
Grosshimrinde. Jena 1904. p. 461.
*) ScitUi, M., Le vane forme di lesioni lacunari del sistema nervoeo
nolle malattie mentali. Ann. di neurologia. Anno XXV. Faso. I. II.
4 ) Schroder, P., Zur Lehre von der akuten hamorrhagisohen Poli-
encephalitis superior (Wernicke). Histologische und histopathol. Arbeiten
v. Ntssl. Jena 1908. p. 145.
*) Rarike, Otto, Ueber Gehimveranderungen bei der angeborenen
Syphilis. Zeitschr. f. die Erforsch. u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns.
1908. Bd. II. H. 3.
Monatmchrift fttr Paychlatrie and Neuroloyie. Bd. XXVII. Heft 5 . 28
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B o n f i g 1 i , Ueber tuberose Sklerose.
sie bei meningo-encephalitischen Prozessen der Syphilis hereditaria
gefunden und Torata Sano 1 ) in Gliomen. Ferner habe ich in
meinen Praparaten viele andere Elemente gefunden, welche auf
einen vorhergegangenen oder noch bestehenden Entziindungs-
prozess hinwiesen (Pigment, Kalksalze, Haminkristallablage-
rungen, lymphozytare Infiltration, Fettkornchenzellen, Vakuoli-
sierung der Zellelemente, kleine, besonders im Riickenmark zer-
streute Erweichungen). Es scheint mir daher der Schluss erlaubt,
dass auch die grossen atypischen Zellen nichts anderes sind als
Neurogliazellen und auf einen lokalisierten Wucherungsprozess der
Glia hinweisen. Es wiirde sich folglich nur um eine embryonale
Storung, namlich um eine mehr oder weniger zerstreute Hyper-
trophie und Hyperplasie in der Neuroglia handeln, mit anderen
Worten um eine gliomatose Bildung, deren Aetiologie hochst
wahrscheinlich in der Anwesenheit von Entziindungsprozessen der
Meningen zu suchen ware.
Die Annahme, dass die Sclerosis tuberosa als eine Neoplasie
zu betrachten ist, die besonders in embryonal kranken Ge-
hirnen auftritt, im Sinne einer Heterotopie, ist wohl gerechtfertigt.
Die Anordnung in der Lagerung der Nervenzellen in der grauen
Substanz ist die einzige konstante Entwicklungsstorung, die bei
der Sclerosis tuberosa tatsachlich nachgewiesen ist, und hierin
stimme ich vollstandig mit Pellizzi iiberein, der schon seit 1901
behauptete, „dass die Anomalien so wohl der Lagerung wie der
Orientierung als eine primare, mit einer histologischen Entwick-
lungsanomalie der Nervenelemente zusammenhangende Erschei-
nung zu betrachten seien" 1 ), und mit Perusini, welcher die Prioritat
des Prozesses in den Nervenzellen gegeniiber der Neurogliawuche-
rung behauptet 2 ).
Die Aetiologie und die Diagnose der Sclerosis tuberosa sind
noch sehr dunkel. Pellizzi hat sowohl die eine wie die andere
eingehend behandelt, und nach ihm haben fast alle Forscher mehr
oder weniger ausfiihrlich die Frage erortert, ohne jedoch irgend-
welche neue, wirklich wichtige Tatsache hinzuzufiigen. Aeussere
Ursachen scheinen weder auf die Entstehung noch auf die weitere
Entwicklung einen Einfluss zu haben. Die Reizerscheinungen
der Meningen hatten nach Pellizzi gar keinen Einfluss und waren
nichts anderes als eine nicht haufige Begleiterscheinung. Heftige
Gemiitserregungen der Mutter wahrend der Schwangerschaft sind
vielleicht, da sie in fast alien Fallen verzeichnet sind, von Bedeu-
tung.
Was die Diagnose intra vitam betrifft, so sind die Schwierig-
keiten sehr gross. Pellizzi gelang es nur in einem einzigen seiner
Falle, eine Wahrscheinlichkeitsdiagnose intra vitam zu stellen.
*) Pellizzi, Studi clinici ed anatomopatologici suli'idiozia. Torino 1901.
p. 184.
*) Perusini , Q Ueber einen Fall von Sclerosis tuberosa hypertrophica
(Istioatipia corticale disseminata von Pellizzi ). Monatsschr. f. Psych, u.
Neurol. 1905. Bd. XVII.
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B o n f i g 1 i, Ueber tuberose Sklerose.
413
Auch Vogt 1 - 2 ) hat in seinen letzten Arbeiten versucht, diagnostische
Regeln fiir die Sclerosis tuberosa aufzustellen, und schliesst mit
der Bemerkung, dass, wenn wir einen Kranken vor uns haben,
der psychische Symptome (Idiotie leichteren oder schwereren
Grades u.s.w.) sowie nervose (Konvulsionen, Kontrakturen u.s.w.)
vereinigt mit Veranderungen der inneren Organe oder mit Haut-
geschwiilsten, besonders des Gesichts (Adenoma sebaceum), auf-
weist, die Diagnose auf Sclerosis tuberosa mit ziemlicher Gewiss-
heit gestellt werden kann. In meinen beiden Fallen war erbliche
Belastung sicher festgestellt, die Tumoren der inneren Organe
(Nieren) wurden intra vitam nicht diagnostiziert, da sie weder
subjektive noch objektiv nachweisbare Symptome hervorgerufen
hatten, und die Haut des Gesichtes wie des ganzen Korpers
zeigte nicht diejenigen Veranderungen, die nach Vogt fast ein
pathognomonisches Symptom der Sclerosis tuberosa darstellen.
Die Diagnose war folglich in meinen beiden Fallen intra vitam
vielleicht unmoglich, und bisher fehlt es uns noch an sicheren
Merkmalen, die uns gestatten, eine andere Diagnose zu stellen
als die allgemeine auf Idiotie, wahrend auf dem Sektionstische
die schweren Veranderungen der Sclerosis hypertrophica gefunden
werden.
Erklarung der Abbildungen auf Tat. XXV—XXVI.
Fig. 1. Weigerta che Neurogliafarbung. Zeiss 1,30. Homogene Im¬
mersion.
Himrinde im Bereich einer sklerotischen Zone. Atypische Zelle. Die
Neurogliafasem treten nicht in Verbindung mit dem Zellkorper.
Fig. 2. Gleiche Farbung und Vergrosserung. Riesenzelle derselben
sklerotischen Zone.
Fig. 3. Gleiche Farbung. Kleinhirn. Teilweise Verdickung der
subpialen Schicht der Neuroglia.
Fig. 4. Weigertaehe Neurogliafarbung (modifiziert). Hirnrinde: skle-
rotische Zone. Neurogliawucherung. Biischel- und pinselformige Anord-
nung der Fibrillen.
Fig. 5. DD. Zeiss. Sklerotische Zone der Himrinde. Riesenzelle.
Fig. 0. Biel&chowsJcyache Farbung. Homogene Immersion. Zeiss 1,30.
Kleinhirn. Atypische Zellen in sklerotischen Zonen.
Fig. 7. Bielschowskysche Farbung. Homogene Immersion. Zeiss 1,30.
Kleinhirn. Purlcinje sche Zellen in einer sklerotischen Zone. Man
sieht nur in den Auslaufern erhaltene Fibrillen. Im Zellkorper sind sie in
feine Komer zerfallen. Grosser, intensiv gefarbter Kern.
Fig. 8. DD. Zeiss. Sklerotische Zone der Hirnrinde. Atypische Zelle.
Fig. 9. Rehm&che Farbung. Zeiss 1,30. Homogene Immersion. Skle¬
rotische Zone im Kleinhirn. Unter den normalen Komem bemerkt man
eine aus grosseren und weniger intensiv gefarbten Komem bestehende
Gmppe. Die Purkinje sche Zelle zeigt eine totale Chromolyse und Schwund
der Auslaufer.
Vogt , H ., Zur Diag^nostik der tuberosen Sklerose. Zeitschr. f. die
Erforsch. u. Behandl. des jugendl. Schwachsinns. 1908. Bd. II. H. 2.
*) Vogt , /f., Zur Pathologic und pathologischen Anatomic der ver-
schiedenen Idiotieformen. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. August 1908.
Bd. XXIV. H. 2.
28 *
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414 Kafka, Ueber Techiiik und Bedeutuiu/ <ler cytologischen
Fig. 10. a) Ni88l &che Farbung. DD. Zeiss. Himrinde eines Embryos
vom dritten Monat. Neuroblasten.
b) Kresylviolettfarbung. DD. Zeiss. Himrinde. Atypische Zelle
(sklerotische Zone).
c) Toluidinblaufarbung. DD. Zeiss. Himrinde. Neurogliazellen
(sklerotische Zone).
(Aus der deutschen psychiatrischen Universitats-Klinik in Prag
[Prof. A . Pick]).
t)ber Technik und Bedeutung der cytologisehen Unter-
suchung des Liquor cerebrospinalis.
Von
Dr. VICTOR KAFKA,
klinischem Assistenten.
Die zytologische Untersuchung des Liquor cerebrospinalis ge-
winnt in theoretischer und praktischer Hinsicht immer mehr an
Bedeutung. Um nur Beispiele dafiir beizubringen, wie sehr sich
dieses Gebiet erweitert und welche Ausblicke es eroffnet, mochten
wir der bei postdiphtherischen Lahmungen [Romheld (1)] konsta-
tierten Zellbefunde Erwahnung tun, sowie der Untersuchungen
von Ferrand (2), der feststellte, dass bei Dermatitiden des frfihen
Kindesalters Zellvermehrung im Liquor vorkommt. Auf die prak-
tischen Vorziige brauchen wir bei der Menge der diesbeziiglichen
Arbeiten an diesem Orte vorlaufig nicht einzugehen.
Damit aber die Neurologie und Psychiatrie die sich hier er-
gebenden Resultate auch voll ausniitzen konnen, ist es notig, dass
bezfiglich gewisser Fragen eine Einigung erzielt wird. Es sind
dies besonders die Fragen nach der Art der Zellen , die im Liquor
vorkommen, sowie nach der Methodik der Farbung und Zahlung
derselben, Fragen, die, wie wir weiter unten des genaueren aus-
fiihren wollen, in ihrer Beantwortung jetzt noch betrachtlich
divergieren.
Eine kurze Uebersicht fiber die bis jetzt gefibten Methodea
soil uns dies illustrieren.
Von den Begrtindem der „Zytodiagnostik“, Widal, Sicard und
Ravawt (3), sta inm t die auch heute noch meist gebrauchte, wenn
auch viel getadelte Methodik.
Es wird nicht unangebracht sein, dieselbe, die jetzt allgemein
als die ,,franzosische“ xat’ bezeichnet wird, nach dem Ori-
ginale darzustellen. Vor allem wird davor gewamt, den Liquor
aus einem Gefasse ins andere zu fibertragen. Drei bis ffinf Kubik-
zentimeter werden in ein sterilisiertes Zentrifugierglas aufgenom-
men, zentrifugiert durch 10 Minuten mit einer Zentrifuge ,,a tours
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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis.
415
Tapides“. Dann ward der Liquor sorgfaltig abgegosaen, indem man
das Glaschen umkehrt und den Liquor so weit als moglich heraus-
tropfen lasst; hierauf wird eine Kapillarpipette senkrecht einge-
fiihrt und der ,,unsichtbare“ Ruckstand aufgenommen, indem
man mit der Pipette bis auf den Grand geht. Es wird dann trotz
der scheinbaren ,,Austrocknung“ des Glases eine gewisse Menge
Liquor in die Pipette treten, die ohne Aspiration mit dem Munde
lediglich durch die Kapillaritat in die Pipette gekommen ist.
Dieser Ruckstand wird mit der Pipette auf drei oder vier Objekt-
trager verteilt in der Form von Tropfchen, die nicht grosser sein
diirfen als 2—3 mm s , dann an der Luft oder bei 37° getrocknet,
mit Aether-Alkohol fixiert, mit Eosin-Hamatoxylin, Thionin,
Unnas Methylenblau oder mit Ehrlichs T riazid gefarbt,
So gestaltet sich die Methodik, die mit geringen Abande-
rungen von den meisten franzosischen Autoren beibehalten wird.
Nur Laignel-Lavastine (4) engt zuerst durch Zentrifugierang
ein und zahlt dann in der Zahlkammer.
Als die Zytodiagnostik in Deutschland bekannt wurde — es
ist dies in erster Linie Demux (5) und Schoenborn (6) zu danken —,
wurde die franzosische Methodik aufgenommen und nur wenig
modifiziert. Ntssl (7) wandte sie auch an, obzwar er selbst auf
ihre Nachteile aufmerksam machte; er verfertigte sich die Zentri-
fugierglaser und Pipetten, die nur einmal gebraucht werden, selbst,
verwendete eine Zentrifuge von 17—1800 Umdrehungen, zentri-
fugierte % Stunden, blies das von der Kapillarpipette Angesaugte
wieder aus imd lies dann wieder aufsaugen, folgte aber sonst voll-
kommen den franzosischen Angaben. Auch E. Meyer (8) bedidnte
sich der Methode in der urspriinglichen Form, nur gab er den Rat,
man moge mit der Pipette die Spitze des Glases gewissermassen
abreiben. Aus einer zweiten Publikation desselben Autors (9) geht
hervor, dass er auch an ungefarbten Praparaten untersucht hat.
Merzbacher (10) verwendete ein zu einer kleinen Kugel umgeschmol-
zenes Kapillarrohrchen zur besseren Verteilung des Tropfens.
Fuchs und Rosenthal (11) suchten die Fehler der franzosischen
Methode dadurch gut zu machen, dass sie eine quantitative Me¬
thode erdachten. Es wird mit dem Thoma-Zeissschen Melangeur
fur weisse Blutkorperchen bis zur Marke 1 eine Farbungsfliissigkeit
(Methylviolett 0,10, Aqu. dest. 50,00, Acid. acet. glac. 2,00), bis
zur Marke 11 der Liquor angesaugt, dann 5 Minuten gemischt und
in einer geraumigeren Zahlkammer, deren Quadratseite 4 mm und
Tiefe 0,2 mm messen, gezahlt. Es ist dann, wenn man die ganze
Kammer auszahlt und die Verdiinnung einrechnet, die Anzahl der
weissen Zellen im crnm = , w'enn a die Zahl
10 • 3.2
32
der gezahlten Zellen darstellt.
Jones (12) zentrifugiert nicht, sondern zahlt in Fallen mit
starker Zellvermehrang die Zellen in y 2 ccm mit Hiilfe der Zahl¬
kammer; in Fallen mit geringer Zellvermehrang zentrifugiert er
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416 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
in einem Glaschen, dessen unterster anf 1 ccm graduierter Teil
in 10 Teile geteilt ist, giesst dann bis zu einem bestimmten Teil-
strich ab, schiittelt um und zalilt in der Zahlkammer; er engt
also ein und rechnet dann auf 1 ccm.
Rous (13) verwendet den Melangeur und saugt uxisserige
Methylviolettlosung, dann Liquor auf.
Alzheimer (14) fangt 3 bis 4 ccm des Liquor in 96 prozent.
Alkohol auf, zentrifugiert und erhalt so ein Koagulum, das je
nach dem Eiweissgehalt des Liquors eine verschiedene Dicke
besitzt; es wird dann der 96 prozent. Alkohol abgegossen und
durch absoluten, dann durch Aetheralkohol, schliesslich Aether
ersetzt. Hierauf wird das Koagulum aus dem Gefasse ge-
nommen und in Zelloidin eingebettet, schliesshch auf einen
Klotz aufgeklebt und geschnitten. Die Farbung kann mit Unna-
Pappenheim- Methyligriin Pyronin oder mit Unnas polychrom-
saurem Methylenblau erfolgen. Chotzen (15) entnimmt 0,2 ccm,
streicht auf vier Deckglaser auf, farbt und zahlt mit Ehrlichs
Zahlokular. In neuester Zeit publizierte Szecsi (58) folgende Me-
thode: Er nahm 2 ccm Liquor, zentrifugierte 10 Minuten lang in
einer Zentrifuge mit 2—3000 Umdrehungen; er entnahm dann den
,,hangenden“ Tropfen und machte ein Strichpraparat; hierauf
wurde dasselbe in den Thermostaten (37°) gegeben, dann auf die
Kowarskysche Kupferplatte fixiert und nun in Formalindampfen
weiter fixiert.
Um die Methoden einer kritischen Beleuchtung zu unterziehen,
so ist, was die franzosische Methode betrifft, eine solche Skepsis,
wie sie z. B. Nissl (7) aussert, denn doch nicht ganz berechtigt.
Es muss nicht, wie Meyer (8. 9) sagt, jeder Untersucher jedes
seiner Instrumente austitrieren, sondern es miissen bestimmte
Faktoren fur alle Untersucher festgelegt werden. Weiss ich z. B.,
dass fur alle Untersuchungen die Gesamtzellenzahl, die in 3 ccm
Liquor vorkommt, allgemein angenommen ist, so muss ich nur
meine Zentrifuge austitrieren, d. h. ich muss sehen, in welcher Zeit
ich bei bestimmter Umdrehungszeit die Flussigkeit zellfrei be-
komme. Diese Zeit wird natiirlich fiir verschiedene Zentrifugen ver-
schieden sein, und es hat daher keinen Sinn, wenn von dem einen
Autor eine lange, von dem anderen eine kurze Zeit empfohlen wird.
Natiirlich muss vorausgesetzt werden, dass, was weiter unten zu
besprechen ist, eben die Zellen gegen die zellgiftige Wirkung des
Liquors wie auch gegen die Schadigungen beim Austrocknen und
Zentrifugieren geschiitzt werden. Von Widal wird gefordert, man
miisse beim Umkehren des Zentrifugierrohrchens den Liquor so-
weit als moglich austreten lassen. Es wird dies deshalb empfohlen,
weil sonst bei dieser ,,Tropfenmethode“ Tropfchen zur Zahlung
mitverwendet werden, die weniger oder gar keine Zellen enthalten.
Durch Nissls Empfehlungen, den Ruckstand noch einmal anzu-
saugen, durch Meyers Abreiben des Glases mit der Pipette ist
hier schon ein Fortschritt zu verzeichnen. Fehlerhaft aber muss
diese Methode immer bleiben. solange man mit der sich selbst
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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis.
417
biidenden Einheit von Tropfen hantiert [deren Grosse natiirlich
wie auch Rehtn (57) hervorhebt, bei verschiedener Menge des Sedi¬
ments variiert], die dann zur Durchschnittszahlung verwendet
werden und in denen noch dazu die Zellen im Tropfen ungleich
verteilt sind. Wir miissen vielmehr fordern, dass die game Menge
des Sediments, welches die gesamte Zellzahl einer immer gleich
gross genommenen Liquormenge enthalt, gleichmdssig auf immer
gleich bleibende Flachen verteilt wird.
Beziiglich der Farbung muss noch bemerkt werden, dass M.
Pappenheim (16) betont hat, dass zur Farbung der Liquorzellen
eine andere Konzentration der gebrauchlichen Farbstoffe not-
wendig J ) ist. lch habe gefunden, dass in der Literatur viel zu
wenig Gewicht darauf gelegt wird. Vielleicht ist auch dies mit
ein Grund dafiir, dass von den Autoren so verschiedenartige Zell-
bilder beschrieben werden. Wenn Schoenborn (17) mit der May-
Griinwald&claen Kombination gute Farbungen gesehen, so konnen
wir von solch guten Erfahrungen mit dieser Farbung nicht be-
richten. Wir haben das gewohnliche Gemenge verwendet, wir
haben aber auch andere Mischungsverhaltnisse angewendet, nie
aber bei dieser sonst so bequemen Methode geniigend deutliche
Farbung erzielen konnen.
Die Fuchs- Rosenthalsche Methode wird weiter unten ausfuhr-
licher besprochen, der Laignel-Lavastine schen haften natiirlich die
Fehlerquellen beider Methoden an, die Alzheimersche ist wegen
ihrer Kompliziertheit und langen Dauer fur praktische Zwecke
umstandlich, und wenn Rous (i3) durch Auslassen der Essigsaure
und dadurch unterlassener Zerstorung der roten Blutkorperchen
die quantitative Schatzung der weissen Zellen in der Zahlkammer
richtiger zu machen glaubt, so ergibt sich von selbst, dass der
Autor eine sehr kleine Fehlerquelle durch viel grossere ersetzt.
Ein Nachteil, der alien Methoden anhaftet, ist die schon oben
erwahnte Zellgiftigkeit des Liquor, sowie die Labilitat der Liquor¬
zellen, die durch alle andere Manipulationen geschadigt werden.
Diese Fehlerquellen, auf welche zuerst O. Fischer (18) hinwies,
werden am besten durch sofortigen Formolzusatz zum frischen
Liquor beseitigt, nicht aber durch Formalindampfe nach der
Fixierung, wie Szicsi (58) es tut, da dann natiirlich die Zellen
schon schwer geschadigt sind und die Formalindampfe auf die schon
fixierten Zellen keinerlei Wirkung ausiiben.
Wir gehen nun an die Schilderung unserer Technik. Zu Be-
ginn unserer Untersuchungen verfuhren wir ganz nach den An-
gaben von Fuchs und Rosenthal (11); da zeigten sich nun auch,
wenn die Zahlkammerzahlungen sobald als moglich nach der
Punktion gemacht wurden, in vielen Fallen auffallende Differenzen
zwischen dieser und der weiter unten zu schildernden Zahlung im
gefarbten Praparate. Es zeigte sich, dass die Zeit, die zwischen
') Eigeatlich sollte man fiir jeden Liquor sich erst die Farbstoff-
konzentration und Zusanunenstellung konstruieren.
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418 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
Punktion bzw. Fixierung und Verdiinnung der Liquorzellen im
Melangeur besonders bei mehreren Punktionen verstreicht, gross
genug ist, um die zelltotenden Eigenschaften des Liquors wirken
zu lassen.
Tabelle I.
Name
Aeltere Zahl-
kammermethode
Neue Zahl-
kammermethode
Trockenpraparat
B.
24
50
50—42
C. |
1 8
48
24
K.
I 1
26
9—3
8. I
I 3
28 1
12—12
Ausserdem zeigte sich aber auch folgendes: in Tabelle T sind
einige Zahlresultate nach der urspriinglichen Fuchs- Rosenthalschen
Methode (2. Rubrik), und zwar genau nach den Angaben der Ver-
fasser und ,,so rasch als moglich“ nach der Punktion und die in
unserer sofort zu besprechenden Modifikation (3. Rubrik) ange-
geben.
Ein Blick auf die Tabelle zeigt uns nun die Differenzen zwi-
schen beiden Methoden, die grosser sind, als man sonst Zellschwan-
kungen bei der Paralyse zu sehen gewohnt ist, und zum Teil schon
in den negativen Befund hiniiberspielen, besonders auffallend auch
im Vergleiche zu den Resultaten der Praparatenzahlung (4. Rubrik).
Wir wandten daher folgende einfache Modifikationen an:
Ausgehend von der Tatsache, dass die Essigsaure ja auf die
Kerne der weissen Zellen fixierend wirkt, ohne ihre Farbbarkeit
zu beeinflussen, setzten wir zu 10 Tropfen des Liquors einen gleich
grossen Tropfen der Essigsaure-Methylviolettlosung zu und schiit-
telten langere Zeit. So ersparen wir uns auch die immerhin miih-
selige Arbeit mit dem Melangeur.
Beziiglcih des Verdiinnungsmittels mussten wir konstatieren,
dass die von Fuchs und Rosenthal (4) angegebene 4 proz. Essig-
saurelosung mit Methylviolett in vielen Fallen nicht geniigend
ist, um die roten Zellen, die sich noch im Liquor befinden, zum
Verschwinden zu bringen. Dies ist ein' Nachteil, der, was noch
naher zu besprechen ist, die Methode natiirlich noch unzuver-
lassiger macht. Welche Griinde es sind, die diese ganze ver-
schiedene Reaktion der roten Blutzellen im Liquor im Vergleiche
zu denen im Blute veranlassen, wurde von uns nicht nachgepriift.
Unsere Modifikation wird also folgendermassen aussehen:
Wir lassen 10 Tropfen Liquor aus der Nadel in ein Spitzglaschen
fliessen, fiigen einen gleich grossen Tropfen, 2—1—5 oder mehr
proz. mit Methylviolett gefiirbter Essigsaure hinzu und schiitteln.
Wir wenden die iibliche Blutzahlkammer nach Elzholz an, deren
Tiefe Vio mm > deren Quadratseite 3 mm. so dass der Rauminhalt
0,9 mm s betragt. Rechnen wir nun noch die Verdiinnung ein. so
erhalten wir, wenn a die gezahlte Zellzahl bedeutet, fiir den Kubik-
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Unfcersuchung des Liquor cerebrospinalis.
419
millimeter die Anzahl X =
a x 11 11 a
Die Zahlung kann
10 x 0,9 9
nun wenn immer erfolgen, sie ergibt dann, wie wir gepriift haben,
immer die gleichen Resultate, nur kommt es manchmal vor, dass
bei zu langem Stehenlassen des mit der Farbungsfliissigkeit ver-
sehenen Liquors sich auch die nicht aufgelosten Blutkorperchen
blau far ben.
Die Zahlung im gefdrbten Trockenpraparate, die wir in den
meisten unserer Falle zugleich mit der Zahlkammermethode an-
wandten, sei nun geschildert; sie ist erwahnt bei O. Fischer (19)
und Kafka (20); zu diesem Zwecke bedienen wir uns kleiner Spitz-
glaschen, die in vollkommen gleiche Spitzen ausgehen und die fur
die Menge von 3 ccm eine Marke haben. Wir lassen nun den
Liquor bis zu dieser eintreten und setzen sofort 3 Tropfen fil-
trierten Formols (Schering) zu. Es wird dann 20—30 Minuten
zentrifugiert, dann der obenstehende Liquor abgegossen und bei
verkehrt gehaltenem Glaschen der in der Spitze enthaltene Riick-
stand mit einer Kapillarpipette gut durchgeriihrt und angesaugt.
Diese Menge wird mm in gleichen Teilen auf zwei Deckglaschen
gestrichen, und zwar auf jedes in der Flache eines Quadratzenti-
meters. Wir haben dann immer die gleiche Menge Liquor in der
gleichen Verteilung auf der gleichen Flache. Nun werden die Pra-
parate lufttrocken gemacht, mit Methylalkohol fixiert und am
besten mit Hamatoxylin Delafield gefarbt, mit Salzsaurealkohol
(70 proz. Alkohol, 1 pCt. Salzsaure) leicht entfarbt (die Salzsaure
wird deswegen angewendet, weil nicht nur der Kern, sondern auch
das Plasma das Hamatoxylin stark aufnehmen und aus dem letz-
teren der Farbstoff durch den Salzsaurealkohol wieder entfernt
werden muss); dann wird mit Eosin nachgefarbt; eine etwaige
Ueberfarbung mit letzterem kann durch alkalischen Alkohol wieder
beseitigt werden. Man zahlt dann eine bestimmte Anzahl von
Gesichtsfeldern der Immersion V 12 , die man, um der Autosug¬
gestion zu entgehen, mit freiem Auge einstellt, und findet dann
die durchschnittliche Zellzahl, indem man die Zellen der einzelnen
Gesichtsfelder addiert und durch die Anzahl der gezahlten Ge-
sichtsfelder dividiert. Nachher nimmt man zur Kontrolle noch
eine Durchsicht des ganzen Praparates vor.
Auf diese Weise erhalten wir nun zwei Zahlungsresultate, das
der Kammerzahlung und das der Zahlung im gefarbten Praparate,
und der Vergleich beider miteinander fiihrt uns zur weiteren Kritik
beider Methoden.
Bei der ersten Methode, der Zahlkammerzahlung, sind die
Fehlerquellen sohon angedeutet worden [wenn freilich auch ein so
scharfer Tadel, wie ihn Schoenborn (17) ausspricht, vielleicht nicht
gerechtfertigt ist]. Oft farben sich die weissen Zellen schlecht;
da nun im Liquor gewohnlich viele kleine Lymphozyten enthalten
sind, kann man sie oft selbst bei grosser Uebung von roten Blut¬
korperchen schwer unterscheiden. Von den letzteren gilt das schon
oben Gesagte, dass namlich die im Liquor befindlichen roten Zellen
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420 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologiachen
oft sehr widerstandsfahig sind, ja selbst den blauen Farbstoff an-
nehmen und daher wieder weisse Zellen vortauschen konnen; dass
aber, wie Rehm (57) sagt, die Zellbilder bei der Fuchs-Rosenthal-
schen Methode „unvergleichlich“ viel besser ala bei den Trocken-
praparatmethoden sein sollen, ist uns nicht verstandlich und viel-
leicht nur dadurch erklarlich, dass der Verfasser fiir das Trocken-
praparat die alte franzosische Methode angewendet hat.
Die friiher geschilderten Fehlerquellen der Farbemethode sind
hingegen, wenn man, wie oben geschildert, verfahrt, so weit als
moglich ausgeschaltet.
Wir haben mm, um vor allem die durch die beiden Methoden
erhaltenen Resultate vergleichen zu konnen, sie in einer Tabelle (II)
getrennt zusammengestellt, wobei wir auch aus spater zu erortem-
den Griinden die nach dem Tode vorgenommenen Punktionen ge-
sondert setzten. Bevor wir auf den Inhalt der Tabelle eingehen,
bediirfen die dort gebrauchten Zeichen einer Erklarung. Bei diesem
Anlasse muss gleich fixiert werden, wie sich die Ansichten der
Autoren beziiglich der positiven und negativen Zellbefunde stellen.
(Hier folgt nebenstehende Tabelle II.)
Um nur einiges beziiglich der franzosischen Methode heraus-
zuheben, unterschied Ravaut (21) eine ,,reaction grosse“ bei 150 bis
20 Zellen im Immersionsgesichtsfelde, eine ,,reaction moyenne“
mit 20—7, eine ,,reaction discrete 14 mit 4—6 und eine ,,reaction
nulle“ bei 2—3—6 Zellen. Sicard (21) nahm als obere Grenze der
Norm 3—4 Lymphozyten in dem Gesichtsfelde der Vergrosserung
400—450 an. Nissl (7) spricht nur von einem positiven Befund
mit wenigen, aber sicher vermehrten Zellen und einem negativen.
E. Meyer (9) gibt ungenaue Angaben und betont, es sei der Ueber-
blick iiber das ganze Praparat die Hauptsache. Schoenborn (17)
nimmt einen pathologischen Liquorbefund an, wenn bei 400facher
Vergrosserung 4 und mehr Zellen zu sehen sind. Niedner und Mam-
lock (22) halten bis 5 Zellen fiir normal, hohere Zahlen fiir patho-
logisch.
Aehnlich differieren auch die Meinungen fiber normalen und
pathologischen Befund bei der Fuchs-Rosenthahchen Methode.
Diese Autoren fanden nach ihrer Methode nur 0—2Zellen im Kubik-
millimeter in normalen Fallen, in pathologischen fanden sie immer
iiber 10 Zellen. Rehm (23, 57) glaubt, der Befund von 1—5 sei
normal, 6—10 Zellen seien Grenzbefunde. Da er Werte in dieser
Breite aber bei Kranken findet, bei denen Lues vorangegangen ist,
so miissen diese Zahlen schon als pathologische gelten und 5 die
eigentliche Grenzzahl sein. Nach Hough (24) enthalt normaler
Liquor nicht mehr als 5 Zellen pro Kubikmillimeter.
Nach unseren Erfahrungen konnen wir bei der Zahlung in der
Zahlkammer 5 Zellen als Grenzwert, was in der Tabelle mit ± be-
zeichnet, annehmen, was dariiber bezeichneten wir mit +, was
darunter mit —. Mit w bezeichneten wir jene Falle, die bei
verschiedenen Punktionen wechselnde Resultate ergaben, mit
f jene, deren Resultate aus irgend einem Grunde fraglich waren.
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Zahlkammer- und Praparatenzahlung.
Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. 421
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422 Kafka, Ueber Technik and Bedeutung der oytologisohen
Fur die Praparatzahlung gilt uns die Zahl 2 ala ±, was dariiber.
als +, was darunter, als —; unter Anz. steht in jeder Kolonne
die Anzahl der auf diese Weise untersuchten Falle.
Was das Material betrifft, so ergibt sich aus dieser Tabelle,
dass wir 234 Falle pupktierten und etwa 410 Einzeluntersuchungen
vomahmen. (Hinzugefiigt sei, dass 64 Falle auch pathologisch-
anatomisoh untersucht werden konnten.) Von diesen waren 118
klinisch sichere Paralysen (von denen aber 16 nur nach dem Tode
punktiert wurden), 5 klinisch fraglich (1 nur postmortal), 5 juvenile
Paralysen (1 nur postmortal), 7 Taboparalysen (2 nur postmortal),
3 Tabesfalle, 12 luische Cerebralerkrankungen (3 nur postmortal),
3 Falle von ArgyU-Robertson ohne sonstige Symptome von seiten
des Zentralnervensystems, 1 Fall von fehlenden Patellarreflexen
ohne sonstige tabische Symptome, 5 Falle von Lues ohne luische
Erkrankung des Zentralnervensystems, 5 Falle von Hirntumor
(1 nur postmortal), 2 Falle von Verdacht auf Hirntumor, 8 nicht
luische Meningitiden, 8 Arteriosklerosen, 2 Falle von Herpes zoster.
8 genuine Epilepsien, 9 sonstige organische Nervenkrankheiten
(2 nur postmortal), 11 senile Demenzen mit Einschluss der Pres-
byophrenien (davon 1 nur postmortal), 4 Falle von Alkoholismus
mit Einschluss des Delirium tremens, 9 Dementia praecox-Falle,
9 sonstige Psychosen.
Betrachten wir nun die in der Tabelle II angefiihrten Resul-
tate, und zwar vorlaufig nur der intravitalen Punktionen, so finden
wir fast in alien Rubriken in der Praparatzahlung die Zahl der
negativen Resultate grosser, in der Kammerzahlung die der posi-
tiven; grosse Unterschiede sind freilich nirgends zu entdecken.
Wenn wir dann die Falle, die sich so different verhalten, in den
Protokollen nachsehen, so finden wir fiir gewohnlich die Bemer-
kung Blutbeimengungen; ausserdem sind uns Resultate, wie z. B.
bei Epilepsie (es waren lauter genuine, in keinem Falle Lues nach-
zuweisen), 15 pCt. + der Kammerzahlung, gegen 0 pCt. + der
Praparatzahlung, sehr auffallig, etwas Aehniiches zeigen uns auch
die Zahlen fiir Arteriosklerosen. Wenn nun auch die Differenzen,
wie gesagt, keine grossen sind, so diirften sie doch wohl in manchen
Fallen Anlass zu diagnostischen Irrtiimern geben, und es ist daher
nicht zu empfehlen, wie es von anderer Seite geschah, die Kammer¬
zahlung allein zu benutzen, sondern beide Methoden, zumindest
aber die Praparatzahlung.
Da die Falle der ersten und zweiten Rubrik der Tabelle II
nicht vollstandig die gleichen sind, war es notwendig, zur Zusam-
menziehung der Resultate zwecks Erlangung praktisch brauch-
barer eine andere Tabelle aufzustellen (Tabelle III). In dieser
sind die intravitalen Resultate der Kammer- und Praparatenzah-
lung zusammengezogen. Vorausgeschickt muss werden, dass auch
in dieser Tabelle die Zeichen ahnlich gebraucht werden wie in
Tabelle II, nur sei erwahnt, dass in der Nebeneinanderstellung
zuerst das Resultat der Kammer, dann der Praparatzahlung
kommt; z. B. 1 -|-heisst ein Fall, der positiv bei Kammerzah¬
lung, negativ in der Praparatzahlung war.
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Tabelle III.
Zusammenfassung der intravitalen Resultate der Kammer- und Praparatenzahlung.
Untersuchung des Liquor cerebrospinalis,
423
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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis.
425
Das Vorzeichen hinter w bedeutet, mit welchem Vorzeichen
+ wechselt, z. B. (w —) heisst: der Fall hat bald ein positives,
bald ein negatives Zellbild gezeigt, 4- (w db) heisst: der Fall war
in der Kammerzahlung positiv, nur in der Praparatenzahlung wech-
selte + und ±.
Betrachten wir nun diese Tabelle, so finden wir fur die pro¬
gressive Paralyse kaum 1 pCt. rein negative Resultate (1 von
112 Fallen); zur Betrachtung der positiven Falle miissen wir erst
die in den weiteren Rubriken enthaltenen Falle untersuchen; vor
allem konnen wir nach dem oben Gesagten alle Falle, die bei der
Praparatzahlung + waren, zu den positiven zahlen; es kommen
also zu den 95 + noch 1-j- und 1 (w —) +, ebenso konnen
wir die 4 + (w +) als positive rechnen, auch die 2 + ±, sowie
die 2 -f (w —); desgleichen miissen wir den 1 (w —) (w —) eher
zu den positiven rechnen, da ja auch beiderseits positive mit
negativen Vorzeichen gewechselt haben, und nur die 3 -|-und
1-f- Falle werden wir als wahrscheinlich negativ, d. h. fraglich,
hinzustellen haben, so dass sich also in Wirklichkeit in 107 von 112
positive Resultate finden, d. h. 95 pCt. positive, kaum 1 pCt. rein
negative und etwa 3 pCt. fragliche, aber wahrscheinlich negative
ergebey. Es zeigen uns diese Falle, dass ein Wechsel zwischen
positiven und negativen Resultaten gar nicht so selten ist und
daher eine einmalige Punktion zur sicheren Behauptung eines
negativen Befundes eigentlich nicht geniigt. Bei den fraglichen
Paralysen finden wir einen negativen Fall, bei den juvenilen alle
positiv. Bei den Taboparalysen sind nur 3 rein positiv, wahrend
auch 1 + ± und 1 + (w —) wohl als positiv gelten diirften. Bei
den luetischen Cerebralerkrankungen zeigen sich 2 rein negative
Falle, zu den 6 + zahlen wir 1-1->1 + ±,1 + (w —), so dass
wir prozentuell die folgenden Resultate haben: 75 pCt. +, 17pCt.
rein negativ, 8 pCt. fraglich, wahrscheinlich negativ. Beide Falle
von Pupillenstarre ohne sonstige Symptome zeigen positiven Zell-
befund, der Fall mit fehlenden Patellarreflexen negativ. Lues
ohne luische Cerebralerkrankung ergibt 2 rein negative Falle, d. s.
40 pCt.; zu dem 1 rein positiven Fall muss wohl auch 1 + ± ge-
zahlt werden, so dass sich auch 40 pCt. positive Falle zeigen.
Die Hirntumoren zeigen 60 pCt. positive, 20 pCt. negative und
20 pCt. fragliche Befunde, die beiden Falle von Stauungspapille sind
negativ. Alle Meningitiden zeigen positiven Befund, die Arterios-
klerosen zur Halfte positiven, zur Halfte negativen. Bei Herpes
zoster zeigt sich uns 1 Fall fraglich (es wurde leider nur in der
Rammer gezahlt und es ergab sich dort der Grenzwert). Die genuinen
Epilepsien weisen 1 positiven Fall auf (= 12 pCt.), sonstige orga-
nische Nervenkrankheiten zeigen (wenn 1-f- zu + zugezahlt wird)
62 pCt. positive, 38 pCt. negative Resultate. Die senile Demenz
bleibt negativ, ebenso die Alkoholismusjdlle (2 Falle). Auch in der
Dementia praecoa--Rubrik sehen wir 2 — 28 pCt. positive Resul¬
tate, wahrend die sonstigen Psychosen alle negativ bleiben. Gehen
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426 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
wir nun auf die einzelnen Gruppen und deren Besonderheiten ein,
so ergibt sich folgendes:
In der Gruppe der klinisch sicheren Paralysen waxen die Zell-
zahlen haufig uber 50, nicht selten aber auch viel weniger im
Kubikmillimeter; hier sind es vor allem die negativen Falle, die
unser naheres Interesse hervoiTufen. Auf die statistische Zu-
sammenstellung iiberstandener Lues und Schmierkur wollen wir
bier verzichten, da ja einerseits die Angaben des Geisteskranken
dariiber recht unsicher sind, andererseits aber es heute wohl all-
gemein angenommen ist, dass ohne Lues keine Paralyse vorkommt
und dass z. B. das Trauma — wir hatten unter unseren Paralysen
eine ganze Reihe mit Trauma in der Anamnese, das von An-
gehorigen zum Teil atiologisch gedeutet wurde und die alle Zellen
im Liquor zeigten — nur eine auslosende Rolle spielt. Um also auf
das rein Klinische der negativen bezw. wahrscheinlich negativen
Falle einzugehen, so sei vor allem erwahnt, dass es sich in keinem
der Falle etwa um eine Remission im Krankheitsbilde handelt.
Der rein negative Fall zeigte bis auf eine, vielleicht etwas abnorm,
lange Dauer keine Besonderheiten, auch die fraglichen, aber wahr¬
scheinlich negativen Falle schlossen sich ganz den gewohnlichen
Typen der progressiven Paralyse an, doch muss hervorgehoben
werden, dass der rein negative Fall nur einmal punktiert wurde,
ebenso wie drei von den fraglichen Fallen, so dass diese Befunde
nach dem oben Gesagten nicht als ganz sicher angesehen werden
konnen.
Auf das Schwanlcen zwischen negativem und positivem Befunde
bei mehreren Punktionen in einigen Fallen ist schon oben hinge-
wiesen worden. Es sei hier aus bestimmten Griinden betont, dass
sich im klinischen Krankheitsbilde keinerlei den Zellzahlschwan-
kungen parallel gehender Wechsel in den Symptomen konstatieren
liess. Ueber die ad sectionem gekommenen Falle bezw. die post-
mortalen Punktionen wird weiter unten berichtet werden.
In der Gruppe der fraglichen Paralysen kamen zur Unter-
suchung: 1. ein Fall mit einem katatonischen Zustande, der aber
die korperlichen Zeichen der progressiven Paralyse aufwies und
positiven Zellbefund hatte; 2. ein Fall mit sicherer Lues in der
Anamnese, der nach einem Affekt in einem Ganser- ahnlichen Zu¬
stande auf die Klinik kam, bei dem aber der leere Gesichtsaus-
druck und die schlecht reagierenden Pupillen an Paralyse denken
liessen; der Liquor hatte positiven Zellbefund, Wassermann im
Liquor war negativ; 3. ein Fall mit rechtsseitigen Krampfanfalien,
Pupillendifferenz, leichter Sprachstorung, geringer Euphorie, bei
dem die gut erhaltenen Manieren, die wenig vertiefte und nicht
progrediente Demenz und das Bestehenbleiben der Herdsymptome
uns an einen luischen Herd denken liessen; auch dieser reagierte
zytologisch positiv; 4. ein Fall von schwerem chronischen Alko-
holismus, der in einem deliranten Erregungszustand auf die Klinik
gebracht wurde, dessen weitere Beobachtung doch trotz des nega¬
tiven Zellbefundes im Liquor die Diagnose progressive Paralyse
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Untersuchung dee Liquor cerebrospinalis.
427
wahrscheinlich machte; 5. ein Fall, von dem im allgemeinen das-
selbe wie im dritten zu sagen ware, nur dass die noch langere
Dauer dieses Falles und die noch grossere Konstanz der Sym-
ptome noch mehr fiir luische Herzerkrankung spricht. Auch dieser
Fall war bei alien Punktionen zytologisch positiv.
Ueber die juvenilen Paralysen, die alle positiven Zellbefund
zeigten, ist nichts Besonderes in dieser Hinsicht zu sagen.
Von den Taboparcdysen zeigte eine, die schon sehr lange be-
stand, bei einer Punktion gegeniiber den sonstigen Befunden nega¬
tive Zellzabl; bei einer zweiten, die eine Zeitlang als Korsakoic
und Polyneuritis aufgefasst wurde, wies schon der starke Zell¬
befund auf Paralyse, was sich bei der weiteren klinischen Beobach-
tung und der Autopsie bestatigte; ein Fall war durch eine Quet-
schung der Cauda equina kompliziert, das Resultat eines Fallen,
der bei starkem Zellbefund in der Kammer im Praparate nur den
Grenzwert aufwies, beruht auf einem technischen Fehler..
In der Tabesgruppe baben wir einen ganz initialen Fall unter-
sucht, der Pupillenstorungen, fehlende P. S. R. und lanzinierende
Schmerzen aufwies, er war — wenn auch schwach — positiv, ein
Fall, der mit Alkoholismus verbunden war, zeigte keine Zellen.
Ein Fall wurde nur postmortal punktiert, soil daher hier noch
nicht angeffihrt werden.
Angeschlossen seien bier gleicb die Falle mit PupiUenstarre,
von denen einer ohne sonstige Symptome positiven Zellbefund
hatte, ein zweiter, mit Atrophie der Sehnerven verknupft, ebcn-
falls positiv reagierte, sowie ein alter Fall von Dementia praecox
mit vollstandig feblenden P. S. R., der negativen Zellbefund im
Liquor aufwies.
Gehen wir nun zur Gruppe der luischen Cerebralerkrankungen
fiber, so hatten wir da von den positiven Fallen 2 Falle von
Meningitis basilaris gummosa, 2 luische Herde, einen Heubner,
eine Meningoencephalitis luica, eine postluische Demenz, positiv
war auch ein Fall mit einem paralyseahnlichen Krankheitsbild und
Stauungspapille, der nach Schmierkur bedeutend gebessert nach
Hause ging, bei dem es sich also wahrscheinlich um eine gummose
Erkrankung gehandelt hatte, wahrend zwei der luischen Herde
und eine auf Lues beruhende Pseudobulbarparalyse negativen Zell¬
befund zeigten.
Von Fallen mit sicher iiberstandener Lues ohne luische Cerebraf-
erkrankung punktierten wir einen Fall von manisch-depressivem
Irresein und eine schwere Neurasthenic mit positivem , eine Melan-
cholie mit fraglichem, aber wahrscheinlich negativem und eine
Haftpsychose und eine Dementia praecox mit sicher negativem
Bef und.
In der Gruppe der Tumoren zeigten starken Zellbefund ein
diffuses sekundares Melanosarkom der Meningen (freilich haupt-
sachlich Tumorzellen), ein Cysticercus, schwacheren ein Tumor des
linken Stimhirns und ein Kleinhirnbrfickenwinkeltumor. negativen
.VonaUschrlft fdr Psychiatric und Xeurologie. Bd. XXVII. Heft 20
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428 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
ein Gliom. Bei alien diesen Fallen war Lues unwahrscheinlich,
aber nicht sicher auszuschliessen.
Von den Fallen von StauungspapiUe war der eine mit einem
Basedow kompliziert und zeigt, wie der zweite, einen Hydro¬
cephalus, negativen Zellbefund.
Unter den nicht luischen Meningitiden, die alle positiven Zell¬
befund zeigten, waren vier eitrige, zwei tuberkulose Meningitiden,
eine Tuberculosis meningum und eine initiale tuberkulose
Meningitis.
Von sonstigen organischen Nervenkrankheiten punktierten wir
mit positivem Zellbefund einen Erweichungsherd, zwei cerebrale
Kinderlahmungen, eine Haemorrhagia cerebri, eine multiple Skle-
rose, kompliziert mit Dementia praecox (hier waren die Zellbe-
funde schon hart am Grenzwert); mit negativem Befunde einen
Fall von progressivem Kemschwund (kompliziert mit Zwangsvor-
stellungen), eine Idiotie und einen Fall von hereditarer Lues, dessen
Vater an Paralyse litt, sowie einen Erweichungsherd. Ueber durch-
gemachte Lues liess sich in diesen Fallen nur soviel feststellen,
dass sie in den beiden Fallen von cerebraler Kinderlahmung, bei
der multiplen Sklerose und bei dem progressiven Kernschwund
mit grosser Wahrscheinlichkeit auszuschliessen war.
In der Gruppe der genuinen Epilepsie fallt uns ein positiver
Befund auf. Es war dies ein Kind, dessen Mutter, die auch Epi-
leptica war, dem Kinde in der Anstalt das Leben geschenkt hatte.
Das Kind war seit der Geburt epileptisch, wies aber keine Zeichen
von hereditarer Lues auf.
Von der senilen Demenz wollen wir an dieser Stelle nur zwei
in Beriicksichtigung ziehen, da die anderen nur postmortal punk-
tiert worden waren, beide Falle reagierten negativ.
Von den vier hier zu erwahnenden Arteriosklerosen zeigten
zwei positiven, zwei negativen Zellbefund.
Zwei Falle, von denen der eine — mit manisch-depressivem
Irresein kombiniert — wahrend eines Herpes zoster, der andere
— mit Dementia senilis kombiniert — nach Ablauf eines solchen
punktiert wurden, wiesen im ersten Falle rein negativen Zellbe¬
fund, im zweiten fraglichen, doch wohl auch negativen auf.
Zwei Falle von Alkoholismus — die beiden anderen waren nur
postmortal punktiert — zeigten negativen Befund.
In der Dementia praecox-Gruppe ragen 2 Falle durch positiven
Zellbefund hervor; beide wiesen im Krankheitsbilde keine Be-
sonderheiten auf; Lues war bei beiden nicht wahrscheinlich, konnte
aber nicht sicher negiert werden.
Die sonstigen punktierten Psychosen, zu denen — es werden
die nur postmortal punktierten hier nicht erwahnt — ein Delirium
acutum, eine Dementia paranoides, zwei Manien, eine Imbecillitat,
eine Demenz, deren Anamnese unbekannt, gehorten, zeigten alle
negativen Zellbefund.
Vergleichen wir nun unsere Resultate mit den in der Literatur
enthaltenen:
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Untersuchung dee Liquor cerebrospinalia.
429
Positive Zellbefunde finden wir bei progressiver Paralyse,
Taboparalyse und Tabes, bei den luischen Erkrankungen des Zen-
tralnervensystems, bei Lues in alien Stadien ohne Beteiligung des
Zentralnervensystems, bei Lues hereditaria [Havant (31)], bei Lues
hereditaria tarda [Kretschmer (30)], bei alien Arten von Menin-
gitiden, bei Herpes zoster [Abadie (25), Achard und Loeper (26),
Achard, Loeper und Laubry (27), Chauffard und Boidin (28), Griffon
(29)], bei Erweichungsherden, Apoplekia sanguinea, multipler Skle-
rose, Hirn- und Riickenmarkstumoren, Hitzschlag [Dopier (32)],
Tetanus [Niedner und Mamlock (22)], Arteriosklerose, Trigeminus-
neuralgien [Sicard (33)], Pellagra [Noica (34)], Purpura rheumat.
[Grenet (35)], Keuchhusten mit meningitischen Erscheinungen
[Bertolotti (36)], bei Schlafkrankheit [Hough (24)], bei Hautaffek-
tionen des Kindesalters [Ferrand (2)], postdiphtheritischen Lah-
mungen (1), bei Landryscher Paralyse [Armand-Delille und Dene-
cheau (37)].
Beziiglich der Epilepsie, Dementia praecox, des Alkoholismus
bestehen Meinungsdifferenzen der Autoren, die wir weiter unten des
Ausfuhrlicheren besprechen wollen. Die Befunde von Balogh (38),
der bei Melancholie, Dementia senilis und Dementia praecox
in der Halfte der Falle ohne Lues Lymphozyten fand und daraus
auch theoretische Schliisse zieht, sind wohl mit grosser Reserve
aufzunehmen. Desgleichen die Resultate von Yoanitsescu und
Galanescu (39), die bei einfachen Fallen von Gonorrhoe negativen,
bei komplizierten Fallen positiven Liquorbefund konstatierten.
Beziiglich der Haufigkeit des Vorkommens von Pleozytose,
besonders bei einigen der geschilderten Krankheiten, ist nach den
Angaben der Autoren noch nichts Feststehendes zu berichten.
Wahrend Merzbacher (40) z. B. in einem Referate iiber die Arbeit
von Pegna negative Resultate bei sicheren Paralysen einfach
leugnet und bei negativem Resultate eine Paralyse ausschliesst,
sind anderen Autoren [Nissl (7), Meyer (9), 0. Fischer (10), Rehm
(57) u. A.] negative Falle nicht fremd, und man kennt sichere
negative Paralysen, wie auch solche, die nur bei einzelnen Punk-
tionen negativ sind. Dafiir geben auch unsere negativen Paralyse-
falle einen neuerlichen Beweis. Bei den luischen Erkrankungen
des Zentralnervensystems fand Apelt (41) unter 8 Fallen 5 -{-,3 —,
Babinski und Negeotte (43) finden dabei stets deutliche Pleozytose,
Frankel (42) nimmt das gleiche an, ebenso Henkel (44), Nissl (7)
sah von 2 Fallen in dem einen negativen, in dem anderen zwi-
schen + und — wechselnden Befund, Schoenborn (1) konnte unter
31 Fallen von luischen Erkrankungen des Zentralnervensystems
16 positive, 12 negative und 3 Grenzbefunde konstatieren; das
ergibt 50—80 pCt. positive Resultate, Rehm (57) fand bei cere-
brospinaler Lues 83 pCt. positive Befunde.
Bei der Tabes wird von einigen Autoren Pleozytose so haufig
wie bei der Paralyse gefunden, von anderen weniger haufig. Erb
(45) glaubt bei vorhandener reflektorischer Pupillenstarre aus
29*
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430 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
positivem oder negativem Zellbefund eine kommende Tabes vor-
aussagen oder negieren zu konnen.
Bei Lues, ohne Erkrankung des Zentralnervensystems, fand
Ravaut (21) 65,88pCt. + -Resultate im sekundaren Stadium, Beletre
(46) fand 6 positive Befunde unter 13, Meyer (9) 50 pCt. positive,
Rehm (57) 28 pCt. positive, Kretschmer (30) 50 pCt. positive Resul¬
tate bei Lues hereditaria tarda; bei Hirntumoren wurde in der
Mehrzahl der Falle Pleozytose gefunden, ebenso bei Erweichungs-
herden, wo sich dieselbe nach manchen Autoren durch luische
Genese des Herdes erklart, was z. B. Niedner und Mamlock (22)
nicht bestatigen. Bei multipier Sklerose fand Nonne (59) 25 pCt.
positiver Befunde, andere geringere Prozentzahlen. Abgesehen von
Krankheiten, bei denen Einzelbefunde von Pleozytose veroffent-
licht sind, wiesen hier noch die Befunde bei Epilepsie und Dementia
praecox zu streifen. Merzbacher (47) hat unter 12 Epilepsien
8 positive Zellbefunde gehabt, auch einige andere Autoren bringen
ahnliche Befunde, wobei sie freilich die Frage nach vorangegangener
Lues offen lassen [Nageotte und James (48), Pomeroy (49)], andere
wieder bestreiten das Vorkommen bei Epilepsie entschieden.
Einer eben erschienenen Arbeit ( Wada und Matoumoto, Liquor
cerebrospinalis bei Geisteskrankheiten, Jahrbiicher fur Psychatrie,
XXX. Bd.) ist zu entnehmen, dass die Autoren auch positive
Zellbefunde bei Epilepsie hatten.
Bei Dementia praecox wurden speziell in katatonen Stadien
positive Befunde konstatiert, so von Hough (24) [die postmortalen
Befunde Henkels (44) konnen hier aus spater zu erwahnenden
Griinden nicht herangezogen werden], Meyer (9), Jack (50) u. A.,
und fiber die Befunde bei Alkoholismus finden wir wieder in der
franzosischen Literatur manche Meinungsdifferenzen. Unsere Re¬
sultate weichen im grossen ganzen nicht von denen der Lite¬
ratur ab.
Ueber die negativen Paralysefalle ist oben gesprochen worden.
Bei den fraglichen Fallen bildete uns der zytologische Befund, der
in 80 pCt. positiv, in 20 pCt. negativ war, keine besondere Stiitze
zur Differentialdiagnose. Denn wenn auch der negative Fall hochst
wahrscheinlich keine Paralyse ist, so befinden sich auch unter
den positiven Fallen solche, die, wir ihr jetzt weiter beobachteter
Verlauf lehrt, keine Paralysen sein diirften. Der geringe Prozent-
satz positiver Befunde fur unsere Tabesfalle sagt nichts, da wir
nur 2 punktiert haben. Die beiden Falle von Pupillenstarre wiir-
den im Erbschen Sinne durch ihren positiven Befund einer zu-
kiinftigen Tabes verdachtig sein, wahrend in dem Falle mit fehlen-
den Patellarreflexen uns der negative Befund in unserer Annahme
bestarkte, dass es sich hier nicht um einen Westphal durch Tabes
handele.
Die luischen Cerebralerkrankungen weisen im Einklange mit
der Literatur 75 pCt. positive Resultate auf, ebenso die Falle mit
vorausgegangener Lues ohne Ergriffensein des Zentralnerven-
systems mit 40 pCt.; das gleiche gilt von unseren Befunden bei
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Untereuchung dee Liquor cerebrospinalis.
431
Hirntumoren; die negativen Reaultate in beiden Fallen von
StauungspapiUe haben uns bei unserer vorher erwahnten Diagnose
nicht iiberrascht.
Erwahnenswert ist noch, dass wir bei organischen Himerkran-
kungen (mit Ausschluss der sonst in der Tabelle angefuhrten)
65 pCt. positive Resultate hatten, speziell in den zwei Fallen
von cerebraler Kinderlahmung sogar (bei wahrscheirdich anszu-
8chiie88ender Lucs) ziemlich starke. Aehnliche Befunde [Henkel#
(44) Falle sind negativ] habe ich in der Literatur nicht gefunden.
Der eine positive Befund unter den Epilepsien kann, wie
schon friiher erwahnt, nicht als ganz bestimmt verwertet werden,
da nur die Kammerzahlung gemacht wurde und diese schwaoh
positiv war (bei Blutbeimengung). Dagegen haben wir zwei sicher
positive Befunde in der Dementia praecox-Gruppe.
Es soli hier nicht auf die Aufstellung von Hypothesen iiber
die Ursache dieser seltenen Liquorbefunde eingegangen werden.
Ein grosseres Material auch solcher Falle, speziell aber autoptische
Befunde, werden uns dariiber erst Klarheit bringen.
Gehen wir nun zur Besprechung der Art der im Liquor vor-
kommenden Zellen vor, so finden wir in diesem Punkte wohl noch
grossere Differenzen in der Meinung der Autoren als beziiglich
der Farbemethoden. Diese Verschiedenheit in der Auffassung ist
wohl darin begriindet, dass in den meisten Kliniken, in welchen die
franzosische bezw. die iVT«sZ-Methode verwendet wird, von einem
Zusatz von Formol zum Liquor vor Herstellung der Praparate
abgesehen wird, so dass selbst, wenn die Farbung sehr bald nach
der Liquorentnabme erfolgt, die labilen Zellen doch durch das
Zentrifugieren, ja sogar durch das Austrocknen [Fischer (19)] stark
gelitten haben, und es bewahrheitet sich dann Nissls Wort, der
von einem jammervollen Zustande der Zellen spricht und ein
naheres Studium derselben fur eigentlich unmoglich halt.
Es sei gestattet, hier nur kurz auf die Literatur einzugehen.
Eine ausfiihrliche diesbezugliche Uebersicht verbietet sich bei dem
hier besonders massenhaft aufgespeicherten und so ganz diver-
gierenden Materiale ja von selbst.
Die Franzcsen finden [Widal, Sicard und Ravaut (3)] kleine
mononukleare, auch grosse, oft endothelartige, manchmal poly-
nukleare Zellen, Meyer (8, 9) unterscheidet Lymphozyten, kleine
einkernige Leukozyten, polynukleare Leukozyten und Mastzellen.
Schoenborn (17) spricht von sogenannten Endothelzellen, roten
Blutkorperchen, „sogenannten“ Lymphozyten, „sogenannten“
Leukozyten und Tumorzellen.
Apelt (41) unterscheidet nur kleinere oder grossere, heller oder
dunkler gefarbte, anscheinend einkernige Elemente und grossere,
blass gefarbte und unregelmassig konstruierte Zellen, sogenannte
Endothelien.
Abraham und Ziegenhagen (51) sehen Endothelzellen, Fett-
komchenzellen, freie Fettkomer, Kristalle, Eve (52) sich bewegende
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432 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
fadenartige Gebilde oder auch kugelformige Korper, die mit sich
bewegenden Faden versehen sind. Henckel (44) fand einkemigo
Zeilen mit schmalem roten Rande, grossere mit rand3tandigem
Kem imd rosarotem Plasma (Triacid), polynukleare, dann fein
granulierte Zellea, die er noch genauer beschreibt imd als De-
generationsformen erkennt, Kronig (53) fand sogar myelinhaltige
Nervenfasern, Myelin- und Blutkristalle, Sameh (54) findet bei
chronischen Meningitiden grosse Elemente mit unregelmassigem
Kem und deutet sie als Uebergangsformen endothelialer Natur,
Rehm (57) hat in der Zahlkammer unterschieden: 1. kleine Lympho-
zyten, 2. grosse Lymphozyten, 3. Zeilen mit reichlichem Plasma,
4. Gitterzellen, 5. (polynukleare) Leukozyten, 6. Erythrozyten.
Durch die Alzheimer&cho Methode dacbte man mehr iiber die
Zellart zu erfahren. Ob sich das erfiillt, kann man noch nicht
entscheiden.
Es fanden Cotton und Ayer (56) nach dieser Methode:
1. Lymphozyten, 2. Endothelzellen, 3. Phagozyten von endo-
thelialem Ursprung imd „phogocytic chiefly for lymphocytes 41 ,
4. Plasmazellen, 5. Komchenzellen, 6. polymorphkernige Leuko¬
zyten, 7. undifferenzierbare Zeilen.
Hough (24) sah und zeichnete: 1. Lymphozyten, 2. polymorph-
kemige Leukozyten (Mentschikoff), 3. Komchenzellen, 4. Plasma¬
zellen, 5. Endothelzellen, 6. Fibroblasten, 7. Ependymalzellen (!),
8. Desintegration granules. Nonne (55) spricht von kleinen
Lymphozyten und gelapptkernigen Leukozyten bei der Lues
cerebrospinalis, von kleinen und grossen Lymphozyten, lymphoiden
Elementen, plasmoiden und Plasmazellen, Gitterzellen, vakuolen-
haltigen Zeilen mit und ohne Fremdkorper-Einschliissen, Makro-
phagen, Fibroblasten usw. Aehnlich Rehm (57).
Geht man aber nach den von uns geschilderten Prinzipien
vor, so kann man im allgemeinen die drei Zellarten konstatieren,
die in O. Fischers Arbeit (19) geschildert wurden (freilich finden
sich hie und da auch in unseren Praparaten degenerierte Zeilen,
aber in sehr geringer Menge und als solche deutlich erkennbar).
Wir haben diese Zeilen auch seither in alien gut fixierten Fallen
wiederfinden konnen und sei daher hier mit geringen Verande-
rungen das dort Gesagte wiederholt.
Die erste Zellart, die sich gewohnlich am reichsten findet (die
naheren diesbeziiglichen Verhaltnisse siehe weiter unten), sind die
jetzt wohl allgemein anerkannten Lymphozyten, und zwar kleine
Zeilen mit scharf begrenztem, stark farbbarem Kern und sehr
geringem, oft ganz fehlendem Protoplasma-Saum; es konnen auch
grossere Formen, jedoch viel seltener, vorkommen, die dann auch
einen breiteren Plasmasaum haben.
Schlechtere Farbbarkeit des Kemes, unregelmassig gestalteten
Plasmaleib u. s. w. findet man gewohnlich nur bei den Zeilen von
Praparaten, die nicht gut fixiert, und sie sind besonders gut zu
beobachten in Praparaten postmortaler Punktion, wo immer
degenerierte Zeilen in Menge vorkommen. _ J
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Unterauchung der Liquor cerebrospinalis.
433
Die zweite Zellart, die von Fischer den in den Meningen vor-
kommenden Plasmazellen gleichgestellt und auch so benannt war¬
den, sind Zellen, die bedeutend grosser als die kleinen Lympho-
zyten erscheinen und alle Arten Von Formen darbieten, die sich
alle durch mehr oder weniger grossen, stets deutlich ausgespro-
chenen Plasmaleib auszeichnen, welcher sich bei der Hamatoxylin-
Eosinfarbung rosa bis yiolett farbt, und durch einen meist unregel-
massig gestalteten, sich nicht so intensiv wie bei den Lymphozyten
farbenden Kern, mit meist deutlicher Kernmembran ohne aus-
gesprochene Kemstruktur.
Die dritte Zellart ist den polynuklearen Leukozyten des Blutes
gleichzustellen, und zwar entspricht die Form des Kernes gewohn-
Uch dem der sonstigen polymorphkornigen Leukozyten. Auffallend
ist die starke Eosinphilie, die der Zellkorper oft in seiner Ganze,
oft nur im zentralen Anted aufweist und die von der Bluteosino-
philie verschieden ist.
Dies sind die typischen Zellformen, wie wir sie im gut fixierten
Praparate jederzeit nachweisen konnen. Genaueres uber ihre
Gleichstellung mit meningealen Zellen werden erst genaue Ver-
gleiche von gewohnlichen Trockenpraparaten, Alzheimerschen Pra-
paraten und Praparaten der Meningen derselben Fade ergeben. Fiir
unsere in erster Linie praktischen Zwecke geniigt das oben Gesagte.
Es wurden nun bei alien Untersuchungen diese drei Zellarten
gesondert gezahlt, so dass wir auch uber deren relatives nume-
risches Verhaltnis Erfahrungen gesammelt haben.
Es fand sich, dass unter 219 intravitalen Untersuchungen in
108 Fallen die Anzahl der Lymphozyten die der Plasmazellen
uberragte, in 83 Fallen mehr Plasmazellen vorhanden waren und
in 19 Fallert die Anzahl der Lymphozyten und Plasmazellen un-
gefahr die gleiche war. Dabei muss betont werden, dass das Ver¬
haltnis der einzelnen Zellarten zueinander bei den verschiedenen
Punktionen desselben Falles wechseln kann, worauf schon Fischer
(1. c.) aufmerksam gemacht hat und wofiir Tabelle V charakte-
ristische Beispiele zeigt.
Tabelle V.
Fall
Datum
Verhaltnis des Ly.
zu Plasmazellen
32 V
20. IX. 1907
15 : 20
22. X. 1907
3 : 2
2. XI. 1907
5 : 5
5. IV. 1908
12 : 13
116 B
7. IX. 1908
21 : 12
| 16. XI. 1908
107 : 24
hier sind die
14 : 4
46 V
Daten verloren
1 : 1
l
| gegangen
7 : 12
73 B
i 30. VII. 1908
7 : 15
1
1 4. IX. 1908
19 : 6
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UNIVERSITY OF CALIFORNI.
434 Kafka, Ueber Technik und Bedeutung der cytologischen
Es braucht wohl nicht besonders erwahnt zu werden, dass
diese Schwankungen ebenfalls nicht mit irgendwelchen Aende-
rungen im Krankheitsbilde zusammenfalien.
Die Leukozyten sind gewohnlich im Liquor in geringer Menge
vertreten, 1—5—10 pCt. ist das Gewohnliche. Doch findet man
— und wir sehen hier von nicht luischen Meningitiden ab —
manchmal speziell in Paralysefallen plotzlich ein sehr starkes An-
sfeigen der Leukozytenzahl imd ein ebenso schnelles Abflauen.
Dieses Phanomen war bei uns nur ein einziges Mai an einen Anfall
gekniipft, ging aber sonst mit keinerlei Exazerbationen im Krank-
heitsprozesse, keiner Temperatursteigerung parallel. Hiei sei gleich
angeschlossen, dass wir in einer grossen Anzahl von Fallen nach
oder im paralytischen Anfalle punktierten, aber bis auf den oben
erwahnten einzigen Fall von leichter Leukozytenvermehrung nie
eine wesentliche Veranderung der Zellen konstatieren konnten.
An der Hand eines sehr charakteristischen Falles soli iibrigens die
Bedeutung der Liquorleukozytose demnachst noch gewiirdigt
werden.
Neben den drei eben geschilderten Zellarten fallen manchmal
im Liquor grosse blasige, mit stark granuhertem Kerne versehene
Zellen auf, die von den Franzosen als Endothelien gedeutet wurden.
O. Fischer nahm in der oben zitierten Arbeit an, dass es sich
um Degenerationsprodukte handle, da er diese Zellen in gut
fixierten Praparaten nie fand.
Auch bei der Durchsicht unserer Praparate fanden wir mehr-
rnals endothelzellenartige Gebilde. Wir finden sie aber gewohnlich
nur bei verspatetem Formolzusatz, oder wenn wir den Liquor,
der mit Formol versetzt war, mehrere Tage stehen liessen; gewohn¬
lich war auch starkere Blutbeimengung da, nur in einem Falle
fanden wir sie in einem normal behandelten Liquor ohne Blut¬
beimengung. Die Tatsache, dass sie so haufig mit Blutbeimengung
parallel gehen, wiirde vielleicht fiir ihre Endothelnatur sprechen,
dagegen aber spricht, dass sie sich besonders haufig in zu spat
mit Formol versetzten Liquores fanden, femer in sclchen, die man
lange stehen liess, und schliesslich sahen wir anlasslich zytolytischer
Versuche, dass bei langerem Stehen ohne Formolzusatz sich ihre
Menge kolossal vermehrt; wir werden sie eben doch als degene-
rierte Zellen ansehen miissen. Der eine Fall spricht nicht dagegen,
denn es diirfte sich um einen sehr stark zellgiftigen Liquor ge-
handelt haben, bei dem schon die Manipulation vor dem Formol¬
zusatz geniigte, um Zellen zur Degeneration zu bringen, wie unsere
anderwarts zu veroffentlichenden Versuche gezeigt haben, dass ver-
schiedene Liquors in Bezug auf ihre zytolytische Kraft sich ganz
verschieden verhalten konnen.
Von sonstigen Zellformen finden wir hier und da degenerierte
Zellformen aller Art, aber in gut fixierten Praparaten und in sehr
geringer Zahl. Ein Fall, der Tumorzellen enthielt, wird ander¬
warts ausfiihrlich publiziert werden.
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Untersuchung des Liquor cerebrospinalis.
435
Einer besonderen Besprechung bediirfen hier einige der nicht
luischen Meningitiden.
Die eiterigen Meningitiden zeigten fast nur polynukleiireLeuko-
zyten. Bei den vier tuberkulosen Meningitiden zeigten sich im
ersten (einem Tabesfalle mit Delir) fast nnr Lymphozyten, ebenso
beim zweiten, der mit einem schweren Delir und auch korperlichen
Zeichen der Meningitis; der dritte, ein deliranter Zustand bei Lungen-
tuberkulose mit den somatischen Zeichen einer Meningitis, ergab den
Befund: Verhaltnis der Lymphozyten zu PlasmazeUen zu Leuko-
zyten wie 4:3:6, eine auffailend grosse Anzahl von polynuklearen
Leukozyten, wie sie aber auch bei tuberkulosen Meningitiden nicht
allzu selten beobachtet wird. Sehr interessant ist auch der vierte
Fall. Es handelte sich um einen jungen Mann mit negativer Anam-
nese auf Lues. Er war schwer tuberkulos, kurz vor der Aufnahme
in un3ere Klinik hatte er liber starke Kopfschmerzen geklagt, hatte
deliriert und eine leichte Sprachstorung in Form einer amnesti-
schen Aphasie dargeboten. Auf der Klinik weilte er nur einige
Tage, da er in hausliche Pflege genommen wurde. Er zeigte bei
uns besonders abends die oben geschilderten Symptome, und
der Verdacht einer initialen Meningitis bzw. Tuberculosis menin-
gum liess uns zur Lumbalpunktion greifen, die Pleozytose zeigte,
und zwar war das Verhaltnis der kleinen Lymphozyten zu Plasma-
zellen und zu Leukozyten wie 29 : 10 : 1. Eine weitere Beobach-
tung war leider nicht moglich.
Wie Henkel (44) und Hough (24) haben auch wir in einer
grossen Anzahl von Fallen nach dem Tode, und zwar meist kurze
Zeit nach demselben, Punktionen gemacht. Die Resultate der-
selben, und zwar getrennt die der Kammer- und Praparatenzah-
lung, sind in der Tabelle II verzeichnet. Hier findet sich fast
in alien Fallen, wo iiberhaupt postmortale Punktionen gemacht
wurden, 100 pCt., mindestens aber 66 pCt. positiver Resultate;
besonders hervor3techend sind diese Ergebnisse bei der Dementia
praecox, beim Alkoholismus und bei der Dementia senilis gegen-
iiber den intravitalen Punktionsresultaten, was sich besonders
schon aus Vergleich der Tabelle III (nur intravitale) und Tabelle IV
(nur po3tmortale) Punktionen ergibt.
Dabei sind die Zellzahlen gewohnlich atich grosser; es muss
aber hier beriicksichtigt werden, dass die oben geschilderte Blau-
farbung der roten Blutkorperchen bei der Kammerzahlung beson¬
ders haufig im postmortalen Liquor aufzutreten scheint; da man
nun bei postmortalen Punktionen sehr haufig blutig tingierten
Liquor erhalt, muss auf diese Fehlerquellen bei der Kammerzah¬
lung besonders aufmerksam gemacht werden. Es fanden sich hier
vorwiegend degenerierte Elemente aller Art, am besten erhalten
waren die kleinen Lymphozyten. Die oben geschilderten Resultate
der postmortalen Punktion beweisen zur Geniige, dass man sie
nicht, wie Henkel ( 24) sagt, als Ersatz fur einen Obduktionsbefund
ansehen kann.
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•^36 Kafka, Ueber Technik imd Bedeutung der cytologischen
Zum Schlusse seien noch einmal unsere praktischen Erfah-
rungen kurz zusammengefasst:
1. Die besten Zahlresultate gibt die Zahlung im gefarbten
Praparate, vorausgesetzt, dass gleich nach der Liquorentnahme
Formol zugesetzt und nach der oben geschilderten Methode vor-
gegangen wird. In zweiter Linie ist die Fuchs-Rosenthalsche Me¬
thode zu nennen, bei der mit Ausschaltung des Melangeurs durch
sofortigen Zusatz der Verdiinnungsfliissigkeit zum Liquor im
gleichen Verhaltnis eine sehr schnelle und bequeme Methode ge-
schaffen ist.
2. Als Grenzwerte zwischen normalen und pathologischen
Zellzahlen gelten uns ca. 2 Zellen fur die erste, ca. 5 fur die zweite
Methode.
3. Auch bei den progressiven Paralysen kommen negative
Zellbefunde vor. Da aber die Zellzahl bei dieser Erkrankung (wie
auch nicht selten bei anderen Erkrankungen, die mit Pleozytose
einhergehen) oft grossen Schwankungen unterworfen ist, die mit
dem Krankheitsbilde in keinerlei Parallismus stehen, lasst sich
aus einer einzelnen Punktion noch kein bindender Schluss auf
negativen Befund geben.
4. Nicht ganz so selten kommen auch bei organischen Nerven-
erkrankungen ohne irgendwie nachweisbare Lues Zellen im Liquor
vor, sehr selten auch bei Dementia praecox und Epilepsie.
5. Exazerbationen im paralytischen Krankheitsbilde sind nur
selten von einer Liquorleukozytose gefolgt oder begleitet; und die
letztere kommt haufig vor, ohne dass sich irgend eine Verande-
rung im Krankheitsbilde zeigt.-
6. Postmortal tritt eine Zellvermehrung auch in intravital
zellfreien Liquores mit schweren Degenerationserscheinungen der
Zellen ein.
7. Zur Differentialdiagnose lasst sich in Bezug auf die Para¬
lyse nur ein (mehrmals gefundener) negativer Befund verwerten,
freilich sprechen hohe positive Zellbefunde fiir Paralyse; zur Be-
stimmung, ob ein organisches Hirnleiden auf luischer Basis beruht,
wird uns ein positives Resultat gute Dienste leisten.
Prag, Ende Oktober 1909.
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49. Pomeroy , The diagnostic value of lumbar puncture in psychiatry. The
Joum. of nervous and mental disease. 1907. Vol. 34. No. 4. p. 225.
60. Jach , Technik und Ergebnisse der Lumbalpunktion. Arch. f. Psych.
1909. 45. Bd. 3. Heft. p. 934.
51. Abraham und Ziegenhagen , Ueber zytodiagnostische Untersuchungen
bei Dementia paralytica. Centralbl. f. Nerv, u. Psych. 1904. Sitz.-Ber.
52. Eve , Some motile elements seen in certain cerebrospinal fluids. Brit.
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53. Kronig, Lumbalpunktionsbefunde und ihre Deutung. 17. Kongr. f.
innere Med. Ref. Neurol. Centralbl. 1900.
54. Samele 9 Zeitschr. f. klin. Med. Bd. 58. 1906.
55. Nonne, Referat: Die Diagnose der Syphilis bei Erkrankungen dee Zen-
tralnervensystems u, s. w. Ref. Neurol. Centralbl. 1908. p. 1003.
56. Cotton und Ayer , The cytological study of the cerebrospinal fluid by
Alzheimers method and its diagnostic value in psychiatry. Rev. of
neurol. and psych. 1908. April. Vol. VI. No. 4. p- 204—229.
67. Rehm, Die Cerebrospinalfliissigkeit. Histol. und histopath. Arbeiten
von Nissi und Alzheimer. III. Bd. 2. Heft. 1909.
58. Sz6csi : Beitrag zur Differentialdiagnose der Dementia paralytica, Scle¬
rosis multiplex und Lues cerebrospinalis auf Grund der zytologischen
und chemischen Untersuchung der Lumbalfliissigkeit. Monatsschr. f.
Psych, u. Neurol. 1909. Bd. XXVI. Heft 4.
59. Nonne , Syphilis und Nervensystem. 2. Aufl. Berlin 1909. S. Karger.
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Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc.
439
(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz.
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.)
Experimentelle Untersuchungen iiber die Grundlagen der
sogenannten galvanischen Hautelektrizitat.
Von
Dr. OTHMAR ALBRECHT,
k. und k. Reglraentsarrt.
(Fortsetzung.)
Versuch 7.
Versuchsperson Dr. O. A., kein Shunt.
A. Formalinfinger, Ruhestellung
0,85 rot
Reiz: Pinael am Ohr
0,9
Ruhestellung
0,85
Reiz: Schuss
0,9
>>
Ruhestellung
0.8
>>
B. Nicht-formalinisierte Finger, Ruhestellung
6,0
schwarz
Reiz: Nadelstich
1,6
Ruhestellung
5,18
>>
Reiz: Schuss
4,3
»
Wahrend dieser Verauche waren in der aussersten vom For¬
malin gebeizten Schicht der Finger bereita einige Spriinge ein-
getreten, die formaliniaierten Finger waren auch nicht mehr von
alien Verunreinigungen geachiitzt geweaen. Trotzdem waren die
eraten Ausschlage, welche 8ich nach dem Aufatecken der Elektroden
auf die Finger zeigten, nicht weaentlich grosser ala die am Vor-
mittage, die auf die Reize folgenden Veranderungen betrugen nicht
einmal y 2 mm der Skala (= 1 • 10 -9 Amp.), wahrend die Ver-
gleichsverauche mit den nicht formahniaierten Fingem groaae Aus¬
schlage, lebhafte Reaktionen zeigten. Wir aind demnach berechtigt,
anzunehmen, daaa dem Schweisae eine groaae, wenn nicht die
hauptsachlichste Bedeutung fur daa Zuatandekommen der hier
unterauchten Strome beim Menachen zukommt. Wir sagen aus-
driicklich: beim Menachen, denn die Eracheinungen de8 psycho-
galvanischen Reflexes lasaen sich auch an nicht achwitzenden
Tieren demonstrieren.
Versuch 8.
Versuchsobjekt 4 Jahre alter Foxterrier, S. W. 100 Ohm. Vor-
derpfoten grundlich mit Seife gewaschen, kommen in Glaagefasse
mit lauem destilliertem Wasser, in welches Zinkatabe, durch Glas
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440 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die
geschiitzt, tauchen. Ruhestellung bei 9,3, nach einem Schuss auf
10,3, stutzt darauf und schnuppert: 12,1. Auf die dem Hunde
bekannte Frage: Magst ein Wiirstel ? erfolgt ein Ausschlag bis 28,0.
Ob die wasserloslichen Bestandteile der Hautsekrete in diesen
Fallen die Bedeutung des Schweisses haben, muss vorlaufig dahin-
gestellt bleiben.
Knauer hat ganz richtig darauf hingewiesen, dass sich zwischen
dem Schweisse und der Gewebsflussigkeit elektrische Potential-
differenzen bilden konnen. Es ist nur sehr die Frage, ob wir uns
die Sache so einfach vorstellen diirfen, wie er sie darstellt; denn
die Gewebsflussigkeit, welche zwischen der einen Beruhrungsflache,
sagen wir der einen Hand, und der anderen Beruhrungsflache,
z. B. der anderen Hand, liegt, ist sicher nicht als eine Einheit auf-
zufassen, sondem als eine Reihe von Losungen und Pseudolosungen
verschiedener physikalischer und chemischer Konstitution, zwischen
denen es gewiss an mehr als einer Stelle osmotische Druckunter-
schiede und im Sinne der galvanischen Kette Potentialdifferenzen
geben kann.
Galeotti 1 ) sagt, indem er von der Leitfahigkeit der Organe
spricht, ,,e8 handle sich darum, die Leitfahigkeit nicht homogener-
Systeme zu bestimmen, die aus (kolloidalen) Pseud olosungen be-
standen, die Elektrolyten enthielten und voneinander durch
Scheidewande verschiedener Natur getrennt waren, die fur die
Elektrolyten selbst auf verschiedene Weise permeabel waren.
Dies sei in der Tat die ideale Vorstellung, die wir uns von einem
organischen Gewebe hinsichtlich seiner Leitfahigkeit machen
konnten; daraus ersehe man, dass letztere die Resultante von
Faktoren sei, die einzeln nicht bestimmt werden konnten“.
,,Es zeigt sich auch klar,“ sagt der Autor, ,,dass die spezifische
elektrische Leitfahigkeit eines Organs keinen festen und kon-
stanten Wert haben kann, und man sieht ein, dass er innerhalb
ziemlich weiter Grenzen schwanken kann. Derartige Schwankungen
hangen hauptsachlich ab vom Zustande des Protoplasmas, von der
Zahl der Elektrolyten, die es enthalt, von den Verbindungen, die
zwischen diesen Elektrolyten und den kolloidalen Molekiilen be-
stehen konnen, von der Zahl, Dichtigkeit, Lage und Permeabilitat
der Scheidewande, die an der Zusammensetzung des Gewebes be-
teiligt und zwischen den Elektrolyten eingeschaltet sind.“
Wir werden uns deshalb richtiger vorzustellen haben, dass
von der einen Elektrode bis zu der andem eine Konzentration s-
kette liegt, deren Glieder durch die physiologischen Vorgange
Schwankungen unterworfen sind. Die fur uns bedeutendsten der-
selben sind wahrscheinlich die Schwankimgen der Schweiss-
sekretion. Diesbezuglich haben wir uns noch vor Augen zu halten,
dass die Schweisssekretion an symmetrischen Korperstellen — und
') Zit. nach Bottazzi in Koranyi-Richter: Physikalische Chomie und
Medizin. 1. Bd. Seite 545.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 441
das ist die gewohnlichste Form der Versuchsanordnung — nicht nur
quantitativ, sondern auch qualitativ verschieden sein kann 1 2 3 ). Es
ist eine Beobachtung, der man im allgemeinen wenig Bedeutung
beimisst, dass die Schweisssekretion in der rechten und linken
Korperhalfte bei vielen Menschen qualitativ verschieden ist, ohne
dass man deshalb von einer pathologischen Hemi-Hyperhydrose
oder Hypohydrose sprechen miisste. Nach den Versuchen von
Arloing *) wissen wir, dass der Schweiss, welcher anfangs stets
saure Reaktion zeigt, nach etwa 10 Minuten dauemdem starkem
Schwitzen alkalisch wird. Benedikt*) hat gezeigt, dass die Stick-
stoffausscheidung im Schweisse bei ruhenden Menschen im Tage
0,071 g, bei Arbeitenden 0,13 resp. 0,22 g in der Stunde betragt.
Schon solche Versuche sind uns ein Fingerzeig, dass die
chemische Qualitat des Schweisses Veranderungen unterworfen
ist, die fiir unsere Experimente von Bedeutung sein konnen. Be-
denkt man weiter noch, dass die Innervation der beiden Korper-
halften mehr minder getrennt erfolgt, so erscheint es keineswegs
unwahrscheinlich, dass wir an symmetrischen Korperstellen, z. B.
den beiden Handen, einer chemisch qualitativ verschiedenen
Schweisssekretion begegnen, welche um so eher Schwankungen
unterworfen sein kann, als die letzteren mit quantitativen Aende-
rungen in einem gewissen engen Zusammenhange stehen.
Der Schweiss, oder sagen wir die Hautsekrete, sind gewiss in
erster Linie die chemischen Agentien, welche auf die beiden Metall-
elektroden in dem Sinne einwirken, dass aus denselben ein Element
gebildet wird.
Wenn wir uns also vorstellen, dass die beiden Elektroden
(welche selbst aus gleichem Metalle hergestellt Potentialdifferenzen
liefem konnen) die Pole eines Elementes sind, dessen Kette durch
die Veranderung zweier sich ungleich andemder Glieder (der
Sekrete an den beiden wirksamen Hautstellen) fortwahrenden
Schwankungen unterworfen ist, so werden wir eine ganze Reihe
von Erfahrungstatsachen verstehen lemen. Stellt man die Extremi-
taten in Gefasse mit destilliertem Wasser, in welche gleichzeitig
die Metallelektroden tauchen, so entsteht sofort ein Strom und
lassen sich mit dieser Versuchsanordnung ebenso die bekannten
Stromschwankungen darstellen. Die gleichen Resultate sind er-
zielbar, wenn man z. B. statt des Wassers bei den Zinkstaben
1 proz. Zinksulfatlosung verwendet. Ich habe in einzelnen Ex-
perimenten die Metallelektrode mit einer Tonschicht umhiillt,
welche von einer Salzlosung entsprechend durchfeuchtet war, ohne
1 ) Veraguth hat auf die Moglichkeit der Qualitatsdifferenzen zwischen
Hand- und Fussschweiss hingewiesen.
2 ) Arloing , Reaktion des menschlichen Schweisses etc. Lyon m6d.
1896.
3 ) Benedikt , Ausscheidung stickstoffhaltigen Materials durch die
Haut. Journ. of biol. Chera. I. Zit. nach Maly. 1906.
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442
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die
eine Aenderung der Erscheinungen wahmehmen zu konnen. Ebenso
ist die Anwendung von Tonzellen, wie Knauer sie vorgenommen
hat, irrelevant, weil hier, wie in den zuletzt erwahnten Fallen, ein-
fach eine Fliissigkeitsschicht bezw. eine Salzlosung mehr in die
Kette eingeschaltet ist, wobei nur die Wirksamkeit der Haut-
sekrete nicht direkt auf das Metall, sondem auf eine andere da-
zwischen liegende Flussigkeit zustande kommt, welche ihrerseits
erst zur Potentialdifferenz gegen das Metall gelangen kann. Die
Besultate bei Anwendung unpolarisierbarer Elektroden eind in
gleicher Weise verstandlich.
Verwenden wir andererseits an beiden Elektroden verschiedene
Metalle, wie Sommer, Fiirstenau und Knauer dies getan haben, so
miissen sich selbstverstandlich bedeutende Spannungsdifferenzen
zeigen. Sie sind um so grosser, je weiter die beiden Metalle in der
Spannungsreihe auseinander liegen, denn bekanntlich ist die
Spannungsdifferenz zwischen zwei Metallen, welche durch ein
Zwischenghed in leitende Verbindung gesetzt werden, dieselbe, wie
wenn sie einander unmittelbar beriihrten.
Diese Auffassung der chemischen Wirksamkeit des Schweisses,
besonders bei Beriicksichtigung der Moglichkeit, dass der Schweiss
an verschiedenen Stellen chemisch qualitativ verschieden ist,
fiihrt auch zur Moglichkeit des Verstandnisses einiger anderer
bisher nicht aufgeklarter Erscheinungen. Es kommt, wie man
weiss, ofters vor, dass die Stromrichtung ohne eine ausserlich
erkennbare Ursache vollstandig umschlagt. Zuweilen vollzieht
sich dieser Vorgang in der Folge von kontrollierbaren Vor-
kommnissen.
Aber auch auf Reize, wie sie in diesen Versuchen gebrauchlich
sind, kommen Galvanometerbewegungen geringeren Grades vor,
welche gleichsam die Vorlaufer der Stromumkehr darstellen. Wir
kennen die „negativen Schwankungen“ Stickers und die „diphasi-
schen Reaktionen“ Veraguths. Von ihnen bis zur vollkommenen
Umkehr der Stromrichtung gibt es Uebergange. Nach unseren
Beobachtungen haben diese Erscheinungen gewisse gemeinsame
Eigentiimlichkeiten, auf welche an anderem Orte eingegangen
werden wird.
Im folgenden sollen aus den Versuchsprotokollen nur einige
Beispiele angefiihrt werden, ohne vorlaufig iiber den Zusammen-
hang der tatsachlichen Erscheinungen an den Kurven mit den
gesetzten Reizen und deren Folgen (inklusive psychologischen)
eine Deutung anzustreben.
Zuerst moge ein Hinweis auf den Versuch 7 gestattet sein,
wo nach beiden Reizen derartige absteigende Bewegungen zustande
kommen. Aus der Ruhestellung in Schwarz 6,0 geht die Kurve
nach dem Nadelstich auf Schwarz 1,6 hinab, stellt sich danach
wieder auf 5,8 ein und geht nach dem Schuss auf 4,3 herunter.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 443
Versuch 10.
Versuchsperson Issy M., 19 Jahre alt, Nickelhandelektroden,
S. W. 80 Ohm.
Ruhestellung S. 8,8
Spontan 6,2
Was haben Sie sich gedacht? 13,3
Sagen Sie es! 9,7 (verlegen): Das
kann ich nicht.
Versuch 9 .
Versuchsperson Johann M., 24 Jahre alt. Nickelhandelektroden,
S. W. 140 Ohm. Wahrend einer langeren Versuchsreihe von etwas liber
einer halben Stunde hatten die Galvanometerausschlage zwischen R. 2,5
und R. 9.0 geschwankt. Zum Schlusse war der letztgenannte Punkt der
Skala liingere Zeit eingestellt geblieben. Nachdem ich die Versuchsperson.
wie sich nachtraglich herausstellte, ungerechtfertigterweise plotzlich heftig
zurechtgewiesen, anderte sich der Ausschlag von R. gegen S. in einem Aus*
ma&se, dass die Skala aus dem Bilde verschwand und erst nach einiger Zeit,
allmahlich, stellte sich auf S. 24,0 cine Ruhelage ein.
Diese Umkehrung der Stromrichtung ware vollkommen erklart, wenn
sich nachweisen liesse, dass die chemische Qualitiit des Schweisses in solchen
Momenten eine plotzlich geanderte ist. Derartige chemische Untersuchungen
des Sch weisses scheinen noch nicht gemacht worden zu sein. Ich konnt
wenigstens in der bezuglichen Literatur dariiber nichts finden.
Versuch 11.
Dieselbe Anordnung wie vorher:
Ruhestellung S. 5,9
(Lauter Ruf) Ha! ^9
4k
Erklart, danach zusammengefahren zu sein und sich unangenehm
beriihrt gefiihlt zu haben.
Versuch 12.
Dieselbe Anordnung wie vorher:
Ruhestellung S. 4,5
39 +22?
57 + 28 ?
5,5
3^9
I
2,3
I
3,9
61 !
85!
178 — 91 ?
Rot
Monatsschrift ftir Psychlatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 5
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0,4
3J5
| Das ist ekelhaft!
0,7 87!
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444 Albrecht, Experimentelle Untereuchungen ilber die
Wahrend verschiedener weiterer Fragen Ansteigen auf Rot 4,0.
Im weiteren Verlaufe, nach verschiedenen Reizen, Strom-
wendung etc., war eine Ruhestellung eingetreten bei
Schwarz 17,5
Schuss! !
16,5
I
18,5.
Versuch 13.
Versuchsperson Dr. A. Elektroden Zn in lproz. Zn SO«-L6sung.
S. W. 90 Ohm.
Nach dem Eintauchen der Hande langsames Aufsteigen bis
S,5. Nach einem Reizworte Absinken auf 6,5 und zuriick auf 8,0.
Versuchsperson gab an, dass sie durch das Reizwort, eine An-
spielung auf eine diskrete Angelegenheit, peinlich beriihrt wurde,
weil noch eine dritte Person anwesend war und der Zusammenhang
moglicherweise verstandlich sein konnte.
Wie im Vereuche 7 B (Nadelstich, Schuss) ist die Wirkung
eines sensoriellen Reizes (Schrei) im Versuch 10 eine solche, dass
eine absteigende Kurve resultiert. In den Versuchen 10 und 13
kommt hingegen dasselbe auf Assoziationen hin zustande, welche,
wie berichtet, andersartig gefiihlsbetont waren.
ImVersuche 12 folgt eine Reihe von Rechenaufgaben einander,
und wir sehen, wie die Aufmerksamkeitsleistung wahrend des
Rechnens mit einem jedesmaligen Ansteigen des Ausschlages ver-
bunden ist, auf welches ein Herabsinken unter dem Ausgangspunkt
der Kurve folgt, in der Art, dass nach der dritten Rechenaufgabe
die Richtung von Schwarz nach Rot umschlagt. Bei dem eng an-
schliessenden mehrmaligen Wechseln der Elektroden in den Handen
treten starke Schwankungen zuerst von Rot 4,0 iiber Schwarz 30,0,
dann innerhalb der schwarzen Skala auf.
Diese absteigenden Kurven liessen vielleicht daran denken,
dass es sich dabei um Kontaktanderungen handeln konnte, die
durch ein unwillkiirliches Lockerlassen hervorgerufen werden. Wir
sind damit eigentlich schon in das Thema des nachsten Abschnittes
geraten. Hier soil nur hervorgehoben werden, dass dagegen Ver¬
such 13 spricht, bei welchem die Hande in Fliissigkeit getaucht
waren. Auch da konnten durch unwillkiirliches Herausziehen der
Hande Verminderungen der Stromintensitat bewirkt werden. Allein
die durch das ruhige Aufheben der Hande verursachte Aenderung
betrug bei mehreren Versuchen mit absichtlichen Bewegungen in
einem Ausmasse, welches das der unwillkiirlichen Bewegungen bei
ruhiger Haltung weit iiberschritt (bis zu mehreren Zentimetem),
nur Millimeter der Skala, wahrend Fingerbewegungen stets ein
lebhaftes Ansteigen der Skala hervorriefen 1 ).
l ) Die Versuche von Sidis und Kalmua stehen mit der letzterwahnten
Beobachtung in Widerspruch, die Autoren erhielten beim Umriihren der
Fliissigkeit (stirring the electrode liquid violently) mit einer geschionten
und an den Handgelonken paraffinierten Hand keine Galvanometerschwan-
kung; vermutlich, woil sic konzentrierte NaCl-Losung verwendeten.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 445
Stellen wir uns aber vor, dass die Stromrichtung und -Intensitat
von chemischen Qualitaten des Schweisses zum grossen Teile ab-
hangen, so ist es einleuchtend, dass merkliche chemische Aende-
rungen ein Schwanken des Stromes auch im Sinne einer Strom-
intensitatsverminderung hervorzurufen vermogen.
Der Beweis fiir die Richtigkeit dieser Annahme steht noch
aus. Es ist jedoch sehr wahrscheinlich, dass in den Fallen der
Stromintensitatssteigerung — ceteris paribus — die elektromoto-
rische Kraft durch Vermehrung der (chemisch den vorhandenen
gleichsinnig wirkenden) Sekrete vergrossert, bei Stromintensitats-
verminderung durch entsprechende chemische Aendenmg der
Sekrete verkleinert wird. Wieviel neben den so postulierten Aende-
rungen der elektromotorischen Kraft die Widerstandsanderungen
im Korper an diesen Vorgangen Anteil haben, wird noch besprochen
werden. Es wird mein Bemiihen sein, den Gedanken, welcher sich
aus dem Vorstehenden, speziell den Variationen der Strominten-
sitatsanderungen, ergeben hat, dass dieselben chemische Qualitats-
unterschiede der Hautsekretion zur Grundlage haben, welche
durch zentrifugale nervose Vorgange erzeugt werden, weiter zu
verfolgen.
Ob und inwieweit die Gewebsfliissigkeiten als Glieder einer
Konzentrationskette oder nur als Leiter in Betracht kommen, wird
vorlaufig wohl nur schwer zu entscheiden sein.
Ware das erstere der Fall, dann hatten wir es mit einer endo-
somatischen Stromquelle bedingungsweise dann zu tun, wenn die
Potentialdifferenzen in der Konzentrationskette innerhalb des
Korpers grosser sind als die Potentialdifferenzen zwischen den
Elektroden. Das Eintreten solcher Verhaltnisse ist kaum zu ver-
muten.
Beaehten wir aber die chemische Dignitat, welche den Metallen
zukommt, die wir als Elektroden verwenden, so erscheint es ver-
standlich, dass die Zersetzlichkeit der Oberflache bezw. ihre ver-
schiedene Widerstandskraft gegeniiber den Einfliissen der Elektro-
lyten zur Geltung kommen muss.
Darin scheint der Unterschied begriindet, den die Zink- und
Aluminium-Elektroden z. B. beim Wechseln in den Handen (Ver-
such 4) gegeniiber den Nickel- und Goldelektroden zeigen.
Zusammenfassend konnen wir also sagen, dass als Quelle der
elektromotorischen Kraft die chemische Different der Metallelektroden
und die Wirksamkeit der Hautsekrete . vor allem des Schweisses, in
dieser Kette anzunehmen ist.
III. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren?
Die Stromschwankungen, welche sich in den Ruhekurven, in
den Reiz- und Assoziationskurven in regelmassig wiederkehrender
Form zeigen, konnen bedingt sein durch Veranderungen des Wider-
standes oder durch Veranderung der elektromotorischen Kraft
oder durch beides zusammen.
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446 Albrecht, Experimentelle Untersuclningen iiber die
Die Widerstandsverdnderungen konnen im Korper selbst und
an den KontaktsteUen zustande kommen und aus einer grossen
Beihe von verschiedenartigen Ursachen entstanden gedacht werden.
Der Druck an den Elektroden bewirkt eine Vergrosserung der Ober-
flache und vor allem eine Veranderung der Intensitat des Kon-
taktes; durch den Schweiss erfolgt eine Durchfeuchtung der Haut-
oberflache, welche die Leitung verbessert. Schliesslich' kommen
nocb vasomotorische Vorgange, Aenderungen der Blutfiillung,
Muskelinnervationen u. s. w. in Betracht.
Die Veranderungen der eleletromotorischen Kraft konnen durch
chemische und thermische Schwankungen hervorgerufen werden.
Sommer hat bekanntlich das Hauptgewicht auf die Verande¬
rung des Widerstandes gelegt, welchen die unwillkiir lichen Be-
wegungen der Finger und der Hand an den Elektroden bewirken
sollen.
Man ist imstande, durch willkiirlichen Druck, durch ausgiebige
Bewegungen der Hande Veranderungen im Ausschlage zu erzielen
(vergl. Versuch 2, p. 12). Diese Ausschlage sind aber oft lange
nicht so gross wie die bei bewusstermassen locker gehaltenen
Elektroden infolge eines sensoriellen Reizes entstandenen. Wie
sollen da unwillkiirliche und unbewusste minimale Bewegungen
einen grosseren Effekt zustande bringen, als in anderen Fallen aus¬
giebige Bewegungen, die mit Anstrengung verbunden sind?
Sommers Annahme schien deshalb a priori bedenklich. Vera-
guth hat durch die Anwendung von Plattenelektroden in der Hohl-
hand, von Fingerhutelektroden, dann durch Kontrolle mittels einer
Mareyschen Trommel den Einfluss von durch Druckschwankungen
erzeugten Widerstandsanderungen ausgeschlossen.
Um die Frage, ob es sich in den Stromschwankungen etwa
nur um Widerstandsanderungen handle, ziffemmassig beant-
worten zu konnen, wurde folgender Versuch gemacht.
Versuch 14.
Es wurde zuerst der Korperwiderstand mehrerer Versuchs-
personen mittels der Wheatstone schen Briicke und Telephon ge-
messen, und zwar unter Anwendung derselben Nickelgriffelek-
troden wie bei den sonstigen Versuchen.
Dabei fand sich:
Versuchsperson Dr. A.
bei warmen Elektroden und etwas schweissfeuchten
Handen 1000—1500 Ohm
bei lockerem Halten 5000 Ohm
bei abgekuhlten Elektroden, trockenen, abge-
kiihlten(blassen, kalten) Handen, nicht ganz
sicher, aber bestimmt unter 10000 Ohm
Versuchsperson Dr. R.
bei normal warmen Handen 1500 Ohm
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Grundlagen der sogenannten galvaniachen Hautelektrizitat. 447
Gleich darauf wurde Dr. R. als Versuchsperson in den Galvano-
meterkreis eingeschaltet, gleichzeitig in direkter Schaltung ein
Widerstand von 500 000 Ohm. Dazu wurde ein Megohm-Rheostat
von Carpentier in Paris mit Stopselung fur je 100 000 Ohm ver-
wendet. Das Galvanometer zeigte einen Ausschlag von 7 cm,
welcher gleichmassig ruhig bheb. Nach vier Minuten dreimaliges
Handeklatschen. Zwei Sekunden darauf ein Ausschlag auf 8 cm,
welcher allmahlich zuriickging. Es zeigten sich also die typischen
Erscheinungen der Reizkurve.
Der Ausschlag des Galvanometers in der Kurve betrug ein
Siebentel des urspriinglichen Ausschlages. Ware diese Verande-
rung des Ausschlages durch eine Widerstandsveranderung hervor-
gerufen worden, so hatte dieselbe mehr als 70 000 Ohm betragen
miissen. Dass diese Aenderung des Leitungswiderstandes in einem
Korper, welcher nur wenige Tausend Ohm Eigenwiderstand be-
sitzt, unmoghch ist, braucht nicht erlautert zu werden. Ebenso-
wenig lasst sich nach dem Vorstehenden annehmen, dass die Aende¬
rung des Leitungswiderstandes iiberhaupt als das Wesentlichste
fiir das Zustandekommen der Ausschlagsanderung unter Voraus-
setzung der normalen Versuchsanordnung angesehen werden kann.
Dass sich Widerstandsanderungen im Korper abspielen und dass
diese auch in den psychogalvanischen Kurven zum Ausdruck
kommen, braucht deshalb noch keineswegs angezweifelt werden.
Damit fallt zunachst die Annahme Sommers. Es erscheint
iiberhaupt zweifelhaft, ob sich eine Methode finden lasst, welche
geeignet ware, in dieser Art galvanometrisch Ausdrucksbewegungen
zu registrieren. Denn die anderen Ursachen der Stromschwankungen
werden niemals so weit auszuschalten sein, dass man einen Schluss
auf die eventuell auch wirksam gewesenen Ausdrucksbewegungen
vomehmen konnte. Wir konnen im Gegenteil fiir eine grossere
Exaktheit der Versuche in anderer Richtung dadurch sorgen, dass
wir den Einfluss aller Ausdrucksbewegungen durch Anwendung ge-
eigneter Elektroden moglichst ausschliessen.
Es entstand nun die Frage, wieviel Widerstandsdnderung und
wieviel Aenderung der elektromotorischen Kraft gleichzeitig in diesen
Erscheinungen wirksam wird und in welchem Verhdlinisse diese zu-
einander stehen.
Hatten wir es mit der Berechnung zweier unveranderlicher
Unbekannter zu tun, so ware die Beantwortung dieser Frage ver-
haltnismassig einfach. Es wiirde sich darum handeln, durch be-
stimmte Veranderungen in der Versuchsanordnung (z. B. Ein-
schaltung verschiedener Widerstande) Zahlen zu gewinnen, welche
uns die Aufstellung zweier Gleichungen, in denen beide Unbekannte
enthalten sind, ermoglichen. Aus diesen Gleichungen liessen sich
dann die beiden Unbekannten berechnen. Im vorliegenden Fall
ist die gestellte Aufgabe aber dadurch hochst kompliziert, dass
nicht nur die Grosse des Korperwiderstandes und die Grosse der
elektromotorischen Kraft unbekannt ist, sondem dass sich auch
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448 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
Schwankungen im Widerstande und in der elektromotorischen
Kraft fortwahrend abspielen konnen und dass der Ablauf dieser
Aenderungen sich in verhaltnismassig kurzer Zeit vollzieht.
Es war deshalb notig, eine Versuchsanordnung zustande zu
bringen, in welcher zwei Forderungen realisiert werden. Eine zu
einem bestimmten Zeitpunkte vorhandene elektromotorische Kraft
muss gleichzeitig in zwei Galvanometerkreisen, in welche ver-
schiedene Widerstande eingeschaltet werden, zur Wirkung kommen
konnen, und diese Verhaltnisse miissen nicht nur fiir einen be¬
stimmten Zeitpunkt bestehen, sondem durch langere Zeit erhalten
bleiben 1 ).
Zu diesem Zwecke wurde ein Stromwender hergestellt 1 ),
welcher im wesentlichen folgendermassen konstruiert ist:
Zwei Zahnrader aus Messing von 20 cm Durchmesser sind auf einer
Achse isoliert befestigt. Zwischen denselben befindet sich eine Ebonitplatte,
ai 1 welche sie derart angelehnt fixiert sind, dass aus den drei Teilen eine Art
schmaler Trommel entsteht. Die Zahne der Rader (54 an jedem) sind soweit
abgeschliffen, dass sie mehrere Quadratmillimeter grosse Flachen tragen,
und derart gestellt, dass alternierend ein Zahn des einen Rades in der Hohe
der Liicke des anderen steht und das Inter vail beinalie ausfiillt.
Die Zuleitung des Stromes geschieht durch einen Schleifkontakt am
Trommelrand, der so eingerichtet ist, dass er niemals gleichzeitig beide
Rader beruhrt. Die Abteilung erfolgt durch Schleifkontakte an den Achsen
der Rader in zwei Bahnen, in welche verschiedene Widerstande und Galvano¬
meter eingeschaltet werden. Schon bei langsamer Rotation der Trommel
(eine Drehung in der Sekunde) sind die kleinen Unterbrechungen in den
Galvanometern nicht mehr fvihlbar. Zur Erzielung eines gleichmassigen
Tempos im Drehen ist an der Achse ausser der Kurbel ein Transmissionsrad
angebracht, um die Bewegung von einem Motor iibertragen zu konnen.
Die Gleichmassigkeit des Tempos ist deshalb von Wichtigkeit, weil durch
plotzliche Beschleunigung Widerstandsiinderungen verursacht werden
konnen, welche nach der Art der Versuchsanordnung nur in dem einen
Galvanometer zum Ausdruck kommen und dadurch Fehler erzeugen konnten.
Die Versuchsanordnung war demnach folgende (Fig. 1):
Von der Elektrode H 2 fuhrt die Leitung zum Gleitkontakt des
Stromwenders (SW). Von dem einen Zahnrad geht sie zum
Megohmkasten (M. O.), von dort zum Galvanometer A und zuriick
zu Elektrode H x (Stromkreis I). Von dem anderen Zahnrad geht
die Leitung durch das Galvanometer B ohne Passieren eines weiteren
Widerstandes zur Elektrode Hj (Stromkreis II).
Fiir die Versuchsanordnung nach Veraguth wurde in den Strom¬
kreis eine Batterie von 1 oder 2 Leclanche-Elementen (Fig. 2 L)
eingeschaltet und fiir das Galvanometer ohne direkte Widerstands-
schaltung ein Shunt (NS)verwendet. Das Galvanometer B ist eben-
falls ein Spiegelgalvanometer von Eddmann in Miinchen mit einem
*) Herr Dr. Rozic, dessen wertvolier Unterstiitzung ich mich bei den
folgenden Versuchen erfreute, hat der Akademie der Wissenschaften in
Wien durch Herrn Hofrat Pfaundler eine Abhandlung iiber die Methode
dieser Versuche vorgelegt, welche den Titel fuhrt: ,,Ueber eine Methode
der gleichzeitigen Messung von elektromotorischen Kraften und inneren
Widerstanden bei gleichzeitigen beliebigen kontinuierlichen Aenderungen
derselben".
*) Ausgefiihrt von Mechaniker Jersche-Graz, Attemsgasse.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 449
Widerstand des beweglichen Systems von 9,4 Ohm und einer
Empfindlichkeit von 1 mm = 7 • 10~ 8 Amp. bei 2 m Skalen-
distanz. Dieses Galvanometer wurde, wie aus der Figur 2 ersicht-
lich, bei den Untersuchungen nach den Anordnungen Veragutks
in den Stromkreis I geschaltet, wahrend das Galvanometer A im
Stromkreis II verwendet wurde. Letzteres ist namlich so empfind-
lich, dass es bei diesem Versuche trotz Einschaltung von 1 Million
Ohm einen Spiegelausschlag iiber das Ende der Skala erlitt. Im
andem Kreise war es aber durch einen Nebenschluss von 0,1 bis
1.0 Ohm verwendbar.
Der Widerstand, welcher bei der Schaltung ohne korper-
iremde Stromquelle eingeschaltet wurde, betrug meist 100 000 Ohm,
der Widerstand bei der Anordnung Veraguth^OQ 000—1000 000 Ohm.
Die Ablesung erfolgte in einer verhaltnismassig primitiven
Art. Ein Metronom, welches auf 40 Schlage in der Minute einge-
stellt war, also alle 1 y 2 Sekimden schlug, gab den tux den Fern-
rohren Sitzenden denRhythmus an, inwelchem zwei neben denBeob-
achtern sitzenden Personen diktiert wurde. Anfangs machte diese,
von zahlreichen subjektiven Momenten abhangige Methode des
Registrierens etwas Schwierigkeiten. Bald jedoch waren die Be-
teiligten so eingeiibt, dass die Aufschreibungen als sehr verlasslich
angesehen werden konnten imd ein nachtragliches Konstruieren
von Kurven erlaubten. Ein Erperimentator und die Versuchs-
person befanden sich im Nebenraum. Der Augenblick des Reizes
wurde durch einen elektrischen Brummer angezeigt.
H, X t X., Ji L
Fig. 1. Fig. 2.
A = hoehempfindliche8 Galvanometer. B = weniger empfindliches Gal¬
vanometer. MO = Megohmkasten. N S = Nebenschlusswiderstandskasten.
S W = Stromwender. H = Elektroden. L = Elemente.
Bevor eine Bewertung der mit dieser Versuchsanordnung er-
haltenen Resultate vorgenommen werden konnte, war eine Eichung
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450
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
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des Apparatus an Ort und Stelle, eine Berechnung der Galvan o-
meterkonstanten notwendig.
Dieselbe wurde derart durchgefuhrt, dass an den Apparat in
der Anordnung, wie sie Fig. 2 zeigt, eine elektromotorische Kraft
nnd ein Widerstand, welche beide den durchschnittlichen Verhalt-
nissen der Versuche mit Menschen entsprechen, angeschlossen
wurden. Dies geschah folgendermassen:
0 J
—
r
s
X V* -
1
« _
ft .—
X
i
s
A-
0i
I_J
Fig. 3.
Ein Akkumulator von 1,9 Volt Spannung, Fig. 3, K, wurde
in direkter Schaltung mit einem Widerstand 1 und einem zweiten 2
verbunden, welch letzterem im Nebenschluss der Apparat in der
bekannten Anordnung, nur durch einen Widerstand 3, welcher
dem des menschlichen Korpers entspricht, vermehrt, angeschlossen
war. Der Widerstand 1 diente der Abschwachung bezw. Regulie-
rung der Stromintensitat im ersten Kreise.
Es wurden nun eingeschaltet bei
1 1 000 Ohm
2 33 „
3 5 000 „
4 100 000 „
5 6 „
Die Widerstande der Galvanometer sind:
A = 740 Ohm
B = 9,4 „
Die Bestimmung des Widerstandes x zwischen den Klemmen a
und p ergibt sich mit Riicksicht auf den Galvanometerkreis B
[K — 1 — p — o — Kund K — 1 — p — SW — 4 — B—3—a—K].
aus folgendem:
Zwischen a und p steht ein Widerstand des Kastens 2, welchen
wir nennen Wj = 33 Ohm, dann der Widerstand W 2 des ange-
fiihrten Kreises im Nebenschluss, bestehend aus
Widerstand 3 5 000 Ohm
„ 4 100 000
„ B 9,4 „
W 2 = 105 009,4 Ohm.
11 1 W, • W 2 _ 33 • 105009,4
x “ Wj + W 2 X _ Wj + W 2 _ 105 042,4
x = 32,99.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 451
TJnter Vernachlaasigung des ausserordentlich kleinen inneren
Widerstandes im Akkumulator ist die Stromintensitat i x im Kreise
K — 1 — 2 — K entsprechend der e. m. Kraft des Accumulators
(E k ) und dem Widerstand des Kreises (W), welcher sich zusammen-
setzt aus dem Widerstand in 1 und dem eben berechneten x
. E k 1,9
11 W “ 1032,99
Dasselbe Verhaltnis muss bestehen zwischen einer unbe-
kannten e. m. Kraft (e), welche zwischen a und p wirksamist, und
dem Widerstand dieser Strecke (x). Demnach ist
1,9 • 32,99 . A/tnnn TT 1.
6 ~ 1032,99 “ 0,06079 Vo t ‘
Die Stromintensitat (i 2 ), welche wir am Galvanometer B ab-
lesen, konnen wir nunmehr berechnen:
- w ,- S - °' 0000006778 *■*»•
Dies entsprach einem Ausschlage von 37,5 mm, woraus sich
ergibt, dass [bei der Skalendistanz von 2 m]
1 mm entspricht 0,00000001541, d. i. 1510~® Amp.
Fur den Stromkreis, der durch das Galvanometer A geschlossen
A
/\
wird [K—1—p—a —K und K — 1 —p—S W —8— y — 3 —a —K]
ergibt die Berechnung des Widerstande x t zwischen a und (3 :
1 _ 1 1 W 3 = Widerstand von Kasten 3 + a
x l Wj W 3 a = Widerstand zwischen y und 8
_ W x • W 3 1 _ 1 1 v = Widerstand im Kasten 5
' 1 — Wj + W 3 a ~ v ' v* v' == Widerstand im Galvanometer A
x. = 32 • 783 a = V ' v< - = 5,952 Ohm
v + v‘
W 3 = 5005,9 Ohm.
Die Stromintensitat (j x ) im Kreise K — 1 — p — a — K ist
diesmal:
E k 1,9
Jl = lOOO + Xj = 1032,78
und dieses Verhaltnis muss wieder entsprechen dem Verhaltnisse
einer unbekannten e. m. Kraft (e x ) zwischen a und (3 zu dem Wider¬
stande x x derselben Strecke. Daraus ergibt sich:
Die Differenz zwischen e und e x erklart sich dadurch, dass die
Klemmspannung bei Elementen sich mit dem eingeschalteten
Widerstande andert. Sie wird um so grosser, je grosser der ein-
geschaltete Widerstand ist. Bei offener Kette ist die e. m. Kraft
am grossten.
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452
Albrecht, Experimentelle Untersuchiingen iiber die
= 0,0000717 Volt.
Nennen wir e 2 die e. m. Kraft zwischen 7 und 6 , so ist
e 2 _ e t _ 0,06031 • 5,95
a “ W; “ 5005,9
Die Stromintensitat j 2 , welche wir am Galvanometer A al>-
lesen, ist demnach:
j 8 = = 0,0000000969 Ampere.
Da dies 24 mm der Skala entsprach, so ist (bei 2 m Skalen-
distanz) 1 mm = 0,000000004038 oder 410 —19 Ampere.
Diese Berechnungen wurden durch Aenderungen von Wider-
standen und durch Stromwendung kontrolliert. So wurde in 1
statt 1000 der Widerstand 500 gesetzt und der den Korperwider-
stand darstollende Kasten 3 nacheinander mit 10 000, 6000, 3000
und 2000 gestopselt.
Nehmen wir die Versuchsanordnung nach Fig. 1 auf und
schalten wir eine Versuchsperson dadurch ein, dass sie die Elek-
troden ergreift (der Stromwender befindet sich in regel massiger
Bewegung), so bekommen wir in den beiden Galvanometem Aus-
schlage, welche uns in einem bestimmten Zeitpunkte folgende Be-
rechnung gestatten:
Bezeichnen wir den Stromkreis, welcher durch das Galvano¬
meter A geschlossen ist, als Stromkreis I, jenen, welcher durch das
Galvanometer B geschlossen ist, als Stromkreis II.
E z sei die unbekannte elektromotorische Kraft,
W x der unbekannte Korperwiderstand,
Wj der Widerstand im Stromkreis I,
Wj der Widerstand im Stromkreis II,
Wj = W + 7 „ wobei W den Widerstand im Megohmkasten, 7 , den
Widerstand des Galvanometers A bedeutet,
W, = 7 b, das heisst dem Widerstande des Galvanometers B.
i 2 sei die Stromintensitat im Stromkreise I,
a t der Ausschlag des Galvanometers A,
C» die Galvanometerkonstante des Galvanometers A.
i 2 die Stromintensitat des Stromkreises II,
a 2 der Ausschlag des Galvanometers B,
C’b die Galvanometerkonstante des Galvanometers B.
ii = C, •
i, = r b • a..
E
Nach der Ohmschen Formel I = ... ist nun
vv
ll =
K*
W, -f W x
( 1 )
( 2 )
(3)
i ^
2 W 2 + W x
Da W 2 = 7 b und letzteres nur 9,4 Ohm ist, kann diese gegen
W x verschwindend kleine Grosse vernachlassigt werden, und w f ir
erhalten die Vereinfachung
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Grundlagen der sogenannten galvaniachen Hautelektrizitat. 453
la —
E x
w.
(4)
Durch Division von Gleichung 3 und 4 ergibt sich:
= E x
W x
W,
VV v
W, + w x
E x “
= - Wl +l
w x ^
4i-i
i.
w x = T
Wx ix
(5)
Aus Gleichung 4 erhalt man
E* = W x • i, = W x • Cb • a 2 .(6)
Setzt man in Gleichung 5 die Werte von Gleichung 1 und 2
ein, so wird
W t • C a • a t
W x = „
Cb * — C a *
und da bei unseren Galvanometem
Ca = 4 • 10- 8
Cb = 15- 10- 9 ,
so ergibt sich
W, • 4 • Wj-a,
0)
W x =
( 8 )
15a 2 4a L 3,75 a^ 1- aj
Bei der Versuchsanordnung nach Fig. 2 geht der Stromkreis I
durch den Megohmkasten und Galvanometer B. Hier ist also
Wx = W + Tb ,
wobei f b vemachlassigt werden kann,
11 = C b • a 2 .(9)
Der Stromkreis II hingegen wird bei N S gespalten und geht
zum Teil durch den Nebenschlusswiderstand W n , zum Teil durch
das Galvanometer A. Bezeichnen wir den ersteren Teil mit i n , den
letzteren mit i a , so ist
1 2 = i* + in.(10)
Nach dem Gesetze der Stromteilung ist
u Wn
7»
*a
in
In =
la * 7a
w n
Setzt man diese Formel in Gleichung 10 ein, dann erhalt man:
= u ( 1 + wj
• W„ + 7a
*’ W„
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454 Albrecht, Experimentellc Untersuchungen fiber die
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Analog den Gleiehungen 1 und 2 ist hier i a = C a . a l9 daher
i, = C.a,. W “ + 1 >
Fasst man
C.-
W„
W„ + 7a
w n
als eine fiir jeden Versuch bestimmbare Konstante heraus und
bezeichnet diese mit C a ’ so ist
i 2 = <V ai . (11)
Setzt man nun in Gleichung 5 die Werte von Gleichung 9
und 11 ein, so erhalt man
W « = W -C.“a^-V ! _.< 12 >
Fiir die Verhaltnisse unserer Galvanometer und die in den
folgenden Versuchen verwendete Grosse von W n = 1 lasst sich
berechnen:
CV = C a • Ta = 4 • - 1 - + . 740 • 10 - 9
W„
Ca' = 2964 • 10 - B .
Aus Gleichung 12:
W x = W, • -
1
15 a.
(13)
2964 a t — 15 a 2
und bei Vernachlassigung von 15 a 2 im Nenner:
w 1** ‘ a 2 n • a 2
Wx = 2964 = °' 00 ^ 06 ^ • •
Will man die Ungenauigkeit, welche durch Vernachlassigung
des kleinen Faktors Cb - a 2 im Nenner der Gleichung 12 entstunde,
verringern, so kann man eben mit Rucksicht auf diese Kleinheit
des Wertes die Gleichung 12 umwandeln in
W « = W ''§|( 1+ S'al) • • ' ' > 14 >
und erhalt durch Einsetzen der oben angefiihrten Werte und von
Wj = 600 000
W x = 3040 ^ (l + 0,005
Setzt man in Gleichung 6 die Werte von Gleichung 14 und
Gleichung 11 ein, so erhalt man
E, = W,. Ct .a i (l-^“;) .... (15)
und nach Einsetzen der fiir die folgenden Yersuche geltenden Ver¬
haltnisse
Ex — 0,009 a., | 1 !- 0,005 - 2 )
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Grundlagen der sogenamiten galvanischen Hautelektrizitat. 455
Die Anwendung dieser Formeln 8toast aber noch auf gewisse
Schwierigkeiten, welehe wir am beaten erkennen, wenn wir einen
Versuch analysieren wollen.
Die iolgende Figur 4 stellt, wie alle weiteren, zwei Kurven
dar, welehe dadurch erhalten worden sind, dass die in der vorhin
(S. 27) angegebenen Art an beiden Instrumenten gleichzeitig ab-
Versuch 15.
13-
11 -
10 -
Fig. 4.
gelesenen Galvanometeraussch 1 age auf Millimeterpapier aufge-
tragen werden. Die Abbildungen sind auf die Halfte verkleinert.
Die unten fortlaufenden Marken bedeuten die Absatze von je
iy 2 Sekunden. An der linken Seite sind in der Ordinate die
Skalenzentimeter angegeben, wenn keine getrennte Notierung er-
folgt, fiir beide Kurven gemeinsam.
Versuchspereon Eman. K., 14 Jahre alt, Goldelektroden in
den Handen. Galvanometer A (liniierte Kurve), mit 100 000 Ohm,
direkt geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Shunt,
also Anordnung nach Figur 1. Eine Beizmarke fehlt in diesem
Falle, weil die Kurve folgendermassen entstand :,Nach einer langeren
Reihe von Versuchen mit stets wechselnden Reizen wurde wieder
ein Versuch eingeleitet. Die Versuchspereon wurde, wie sie nach-
traglich angab, durch ein Gerausch im Neben- (Experimentier-)
Zimmer aufmerksam, dass nun wieder ein Reiz folgen wiirde. Im
Zusammenhange damit entstand der Ausschlag in den Galvano-
metern.
Betrachten wir zunachst die beiden Kurven. Sie sind nur ein
Abschnitt aus einem grosseren Bilde, dessen Darstellung zwecklos
ware, weil die punktierte und die liniierte Kurve vorher
und nachher durch langere Zeit ohne wesentliche Schwankungen
in annahernd gleicher Entfernung voneinander verlaufen. Wir er¬
halten also den im Beginn des Vereuches durchschnittlich gultigen
Wert von E und W, wenn wir die Ausschlagsgrossen des (unten
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456 Albrecht, Experimented Untersuchungen iiber die
ziffemmassig bezeichneten) Punktes 1 der Berechnung durch die
Formeln 6 und 8 (S. 31 u. 32) zugrunde legen. Das ergibt:
W = 12826 Ohm 1 ) E = 0,016353 Volt 1 ).
Es ware nun sehr naheliegend, nach denselben Formeln die
weiteren Punkte 2 bis 14 zu berechnen und aus den absoluten
Zahlen Kurven zu konstruieren, welche uns die graphische Dar-
stellung der tatsachlich in der angegebenen Zeit vor sich gegangenen
Veranderungen der beiden Variablen E und W ergaben. Das geht
aber leider nicht. Es ware in dem Falle moglich, wenn der Galvano-
meterausschlag in jedem Augenblicke der im gleichen Zeitpunkte
bestehenden Grosse von J entsprechen wiirde. Konstruiert man
sich aber Kurven, indem man bei einer Versuchsanordnung, wie
in Fig. 3, aus einer Ruhelage plotzlich eine einmabge Veranderung
der elektromotorischen Kraft oder des Widerstandes vornimmt,
so sieht man sogleich deutlich die Wirkung zweier bisher unberiick-
sichtigter Galvanometerkonstanten: Der Schwingungsdauer und
des Dampfungsquotienten.
Das Galvanometer A braucht, um aus der ersten Ruhelage, nachdem
eine einmalige plotzliche Stromanderung wirksam geworden war, eine
zweite Ruhelage zu finden, 20 Sekunden und macht diesen Weg in Form
einer verschieden steilen, gegen Ende allmahlich in einen flachen Bogen
iibergehenden Kurve. Es geht also aperiodisch in die zweite Ruhelage,
und zwar bei einer Schwingungsdauer von 20 Sekunden. Das Galvanometer
B hingegen schwingt unter gleichen Verhaltnissen iiber die zu erreichende
zweite Ruhelage hinaus und gelangt in dieselbe erst, nachdem es mehrmals
in immer kleineren Strecken um dieselbe gependelt hat. Aus dem Verhalt-
nisse dieser Strecken zueinander berechnen wir den Dampfungsquotienten
= 4. Die Schwingungsdauer des Galvanometers ist 22—30 Sekunden, je
nach der Grosse des Ausschlages. Die Kurven, welche wir derart erhalten
haben, sind also bei den uns zur Verfiigung stehenden Galvanometern nicht
nur ungleich, entsprechend der Verschiedenheit im Baue der Instrumente,
sondern sie steilen iiberhaupt etwas dar, was sich nicht in direkten Zusammen-
hang mit Stromanderungen bringen lasst, namlich die Wirkung der Strom-
ander ungen auf das Galvanometer. Wir sind gewohnt, aus der Grosse des
Galvanometerausschlages die Stromintensitat schlechtweg abzulesen. Das
gilt bei solchen Galvanometern fur die Ruhelage, aber nicht fur die einzelnen
Punkte der Kurve. Denn das, was sich bei einer einfachen Stromanderung
aus den Endpunkten solcher Ausschlagsbewegungen (der zweiten Ruhelage)
berechnen lasst, hat sich tatsachlich schon im Beginne des Ausschlages voll-
1 ) Die Berechnung des Punktes 1 vollzieht sich folgendermassen:
Wx =
W, a t
3,75 a, — a x
Wx =
100 740. 36 _ 3 626 640
~ 3.75.85—36 “ 282,75
= Wx . C b . a,
= 12 826. 15. 10-9. 85
= 1 635 3150. 10-9
W 100 000
?a 740
= 100 740 Ohm
= 36 mm
= 85 mm
1 = 12 826 Ohm
= 0,016353 Volt.
Die zwei letzten Dezimalstellen konnen hier wie in den folgenden
Zahlen nicht als genau angesehen werden, man liat also mit rund 12 800 Ohm
und 0,0163 Volt zu rechnen.
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 457
zogen. Alias, was dazwischen. liegt, ist nur eine Folge der Eigentiimlichkeit
des Instruments. Um diese moglichst auszuschalten, ist es notig, bei unseren
Versuchen Galvanometer zu verwenden, deren Spiegel sozusagen unmittel-
bar den Aenderungen der Stromintensitat folgen; also aperiodiseh mit einer
Schwingungsdauer tunlichst = 0. Sind beide Galvanometer vollkommen
gleich konstruiert, so sind jene Voraussetzungen gegeben, unter denen man
eine detaillierte Berechnung der dann zu erhaltenden Kurven vornehmen
kann. Ich werde mich bemiihen, eine solche Versuchsanordnimg mit Saiten-
galvanometern zustande zu bringen 1 ).
Bei der Bewertung unserer bisherigen Resultate werden wir
unter Anwendung der eben gegebenen Ueberlegungen demnach
eine grosse Vorsicht walten lassen miissen.
Betrachten wir uns die Kurven der Figur 4, so konnen wir
folgendes feststellen:
Von P. 2 an beginnt in der liniierten Kurve ein Anstieg, welcher
in P. 6 seine Hohe erreicht hat. Im Verlaufe dieses Anstieges sind
Ungleichheiten zu verzeichnen, denen mit Riicksicht auf die Art
der Ablesung eine genaue Bewertung nicht zuteil werden kann.
Nach P. 6 folgt ein Abfall auf eine durchschnittliche Hohe wie
zwischen P. 9 und 12, der weitere Verlauf der Kurve vollzieht sich
also auf einer hoheren Lime als vor Beginn des Ausschlages.
In der punktiertenKurve beginnt ebenfalls inP. 2 einAusschlag,
welcher nach P. 5 flacher wird, einige nicht zu bewertende Schwan-
kungen passiert und im P. 8 von einem deutlichen Abfall abge-
lost wird. Der weitere Verlauf der Kurve erfolgt wieder, etwa von
P. 12 an, in einer hoheren Linie als vor Eintritt des Ausschlages.
Der im Stromkreis I (G. M. A, liniierte Kurve) eingeschaltete
Widerstand von 100 000 Ohm ist so bedeutend, dass Schwankungen
im Korperwiderstande, den wir fiir P. 1 mit ca. 13 000 Ohm be-
rechnet haben, nicht zur Geltung kommen konnen, zum mindesten
nicht in einem Masse, dass ein Ausschlag bis 60 mm, wie in P. 6,
resultieren konnte. Wir konnen daher mit Sicherheit sagen, dass
in P. 2 eine Aenderung der elektromotorischen Kraft eingesetzt
hat. Um dieselbe zu berechnen, haben wir wieder je einen Punkt
der liniierten und der punktierten Kurve zueinander in Beziehung
zu bringen. Die liniierte Kurve entspricht dem aperiodischen
Galvanometer A. Der hochste Punkt derselben liegt 4 Zeitmarken,
also 6 Sekunden vom Beginne des Ausschlages entfernt. Aus
unseren Kontrollversuchen wissen wir, dass bei einfachen Strom-
intensitatsanderungen nach 6" die Hohe der 2. Ruhelage noch
*) Bei den zahlreichen Versuchen, einwandfreie ziffernmassige Ana-
lysen der Kurven durchzufiihren, war es mir gelungen, aus einer grosseren
Reihe von Experimenten und den entsprechenden Berechnungen zu kon-
statieren, dass die Tangente des Ausschlagswinkels in der Kurve unter Be-
riicksichtigung gewissor Konstanten den Stromintensitatsanderungen pro¬
portional ist. Diese Konstanten liessen sich fiir die aufsteigenden und die
absteigenden Schenkel der Kurven fiir jedes Galvanometer feststellen. Eine
praktische Verwertung dieser Methode war aber nicht moglich, weil die
Messung der Winkel in den Versuchskurven viel zu unsichere Zahlen ergab
und, wie Kontrollversuche bewiesen, grosse Ungenauigkeiten zutage
forderte.
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458
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die
nicht erreicht ist, dass der Fehler an dieser Stelle etwa 33 pCt. aus-
raacht. Wenn wir also den P. 6 der Berechnung zugrunde legen,
so haben wir noch einDrittel derAusschlagsgrosse hinzuzurechnen
und mit einer supponierten Hohe von 68 mm weiter zu rechnen.
Die punktierte Kurve entspricht dem Galvanometer B, welches
einen Dampfungsquotienten = 4 besitzt und in der 6. Sekunde
des AusschJages die Hohe der nachsten Ruhelage erreicht hat. Die
hochsten Punkte der Kurve diirften also der intendierten Ruhelage
entsprechen, und wir konnen die Hohe von 134 mm ala durchschnitt-
liches Mass der Ausschlagsgrosse in Rechnung ziehen. Daraus
erhalten wir
W = 15766 Ohm E = 0,03169 Volt.
Das bedeutet eine Zunahme der elektromotorischen Kraft um fast
100 pCt., wahrend gleichzeitig eine Zunahme des Widerstandes
um etwa 25 pCt. zu verzeichnen ist. Ob diese Aenderungen sich
als einmalige im Momente des Beginnes des Ausschlages (P. 2) voll-
zogen haben oder allmahlich entstanden sind, lasst sich nicht be-
stimmt aussprechen. Nach der Form der Kurven bezw. ihrer Aehn-
lichkeit mit den betreffenden Vergleichskurven, ist das erstere zu
vermuten.
Fast ebenso plotzlich wie in P. 2 der Anstieg, erfolgt in P. 6
ein Abfall der liniierten Kurve. Wir konnen daraus auf eine Ver-
minderung der elektromotorischen Kraft schliessen. In der punk-
tierten Kurve erfolgt der Abfall erst zwei Zeitmarken spater. Wir
wollen auf diese Differenz gegeniiber der liniierten Kurve hier nicht
eingehen, sondern begniigen uns, die Werte fur W und E nach Er-
reichung einer gleichmassigen Hohe in P. 14 zu berechnen. Wir
erhalten dabei
W = 11710 Ohm E = 0,01844 Volt.
Vergleichen wir diese Zahlen mit den fur die Punkte vor Beginn
des Ausschlages berechneten, so finden wir, dass nach dem letzteren
eine geringe Vermehrung der elektromotorischen Kraft und eine
ebenfalls geringe Verminderung des Widerstandes bestehen bleiben.
Andere Verhaltnisse finden wir inVersuchl6 (siehe S. 459).
Versuchsperson Sophie H., 18 Jahre alt. Nickelhandelek-
troden. Galvanometer A (Uniierte Kurve), mit 100 000 Ohm direkt
geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Widerstand.
In R. der Reiz: Schuss aus einer Kinderpistole.
Hier tritt im Augenblick des Reizes, bezw. knapp nach dem-
selben, ein starker Anstieg der punktierten Kurve ein, wahrend
die liniierte annahernd in gleicher Hohe bleibt. Das sagt uns, dass
hier keine Veranderung der elektromotorischen Kraft, sondern eine
solche des Widerstandes, und zwar eine bedeutende Abnahme des-
selben vor sich gegangen ist. Erst im P. 5, also 6 Sekunden nach
dem Reiz tritt ein lebhafter Anstieg der liniierten Kurve ein, es
vollzieht sich also eine Vermehrung der elektromotorischen Kraft.
Eine solche sollte ebenfalls zu einem Anstiege der punktierten
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Grundlagen der sogenannten galvaiuschen Hautelektrizitat. 459
Ver&uch 16.
y'r /
3i<-
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I :
j
ur ;
^ I
2M- :
23 -
u-
v • /
zoU .-
Fig. 5.
Kurve fiihren. Wir sehen aber eigentiimlicherweise im Gegenteil
gleichzeitig eine Abflachung und den Beginn eines Abfalles der
punktierten Kurve, was uns schliessen lasst, dass mit der Ver-
mehrung der elektromotorischen Kraft eine Vermehrung des
Widerstandes eingesetzt hat. Der weitere Verlauf der liniierten
Kurve halt sich, wenn wir von kleinen Schwankungen, die wir
ausserhalb unserer Bechnungen lassen mussen, absehen, in beilaufig
gleicher Hohe, wahrend in der punktierten Kurve noch lebhafte
Bewegungen erkennbar sind, welche wir als Ausdruck von Aende-
rungen des Widerstandes auffassen mussen.
Zur Berechnung konnen wir folgende Punkte wahlen: P. 1
gibt uns den Zustand vor Eintritt der Beizwirkimg an. Wenn wir
auf die Dampfungsverhaltnisse des Galvanometers B Riicksicht
nehmen, werden wir ebenfalls die Ausschlagsgrosse aus der in der
6. Sekunde erreichten Hohe bemessen und demnach die Verande-
rung, welche sich zwischen P. 1 und P. 5 vollzogen hat, am besten
aus P. 5 berechnen. Die Zahlen fiir die Aenderung, welche in P. 5
einsetzt, sind schwer zu berechnen. Die Steilheit der liniierten
Kurve zwischen P. 5 und P. 6 lasst annehmen, dass die im P. 5
einsetzende Veranderung so gross war, dass sie einen dem Aus-
schlagwinkel entsprechenden, noch weit hoheren Anstieg der
Kurve verursacht hatte, wenn nicht in P. 6 schon wieder eine
MoutaMinlft tflr P»ychl»trie and nwmdoglc. Bd. XXVII. Halt 6. 31
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460
Albrecht, Experiinentelle Untersuchungen etc.
Aenderung einsetzen wiirde, deren Resultante der relativ gleich-
massige weitere Verlauf der liniierten Linie ist. In der punktierten
Kurve hingegen beginnt schon im P. 5 die Wirkung einer Abwarts-
bewegung, welche bis P. 12 weitergeht, so dass wir liir alle da-
zwischen liegenden Punkte keine korrespondierenden Werte der
beiden Kurven annehmen konnen. Es wird also erst P. 12 eine
Stelle darstellen konnen, welche eine ziffernmassige Beurteilung
gestattet.
Wir erhalten dabei:
Punkt W E
1 19 454 0,05865
5 11 815 0,05582
12 17 806 0,06544
Diese Zahlen unterscheiden sich einigermassen von denen im
vorigen Versuche. Der Korperwiderstand ist hier unbedeutend
grosser (12 000—19 000 gegen 12 000—16 000 Ohm), wesentlich
grosser ist aber die elektromotorische Kraft in diesem Versuche
gegen den vorigen (0,056—0,065 gegen 0,016—0,032 Volt). Die
Verminderung des Widerstandes zwischen P. 1 und P. 5 betragt
37 pCt., die Vermehrung der elektromotorischen Kraft zwischen
P. 5 und P. 12: 17 pCt. Die Zahlen bestatigen uns weiter die Tat-
sache, dass mit der Vermehrung der elektromotorischen Kraft
eine Vermehrung des Widerstandes einhergeht und umgekehrt,
eine Tatsache, welche wir schon aus der blossen Betrachtung der
Kurven zum Teil erkennen konnten. Zu ihrer weiteren Ulustrie-
rung diene noch folgende Ueberlegung:
Wir sehen zwischen P. 1 und P. 5 ein leichtes Ansteigen der
liniierten Kurve. Fiir den P. 1 haben wir einen Korperwiderstand
von 19454 Ohm berechnet, der Apparatwiderstand im Stromkreis I
betragt 100 740 Ohm, also der Gesamtwiderstand imP. 1 1200000hm.
Im P. 5 haben wir einen Widerstand des Korpers von 12000 Ohm,
7 1
also eine Verminderung des Gesamtwiderstandes um
Diese Aenderung miisste ein Ansteigen der liniierten Kurve um
7 mm bewirken, wenn nur eine Verminderung des Widerstandes,
keine Veranderung der elektromotorischen Kraft vor sich geht.
Die Dampfung des Galvanometers verhindert allerdings, dass inner-
halb 6 Sekunden die Bewegung restlos durchgefiihrt ist. Allein
diese Hemmung kommt dem gegenuber gar nicht in Betracht,
dass in der angegebenen Zeit nur eine Steigerung von 3 mm und
in den letzten 1% Sekunden sogar ein Zuriickgehen um 1 mm beob-
achtet wird. Wir konnen also schon aus dem Verlauf der Kurven
auf den Zusammenhang zwischen den Aenderungen von Wider¬
stand und elektromotorischer Kraft schliessen.
(Schluss im nachsten Heft.)
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Breso wsky , Leber die Beziehungen etc.
461
(Aus der psyohiatrisohen Klinik der kgl. Charit4
[Geh. Rat Prof. Ziehen ] in Berlin.)
Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallueinatoria
(Westphal) zur Amentia (Meynert).
Von
Dr. M. BRESO WSKY
in Jurjew (Dorpat).
(Forteetzung.)
Eigene Beobachtungen.
I. M. Te., 20 Jahre, Paranoia acuta hallueinatoria.
Keine Hereditat, Entwicklung normal, Ehe seit 1908, am 20. II.
kiinstliche Friihgeburt, vaginaler Raise rschnitt. Patientin soli von jeher
etwas still und hypochondrisch gewesen sein. Sohwangersohaftsnephritis,
vor 2 Jahren herzkrank in der Charity.
II. III. 1909. Keine Spontanausserungen, antwortet kaum auf Fragen,
Aufforderungen werden langsam, aber meist riohtig befolgt.
12. III. Auf Fragen zun&chst keine Ant wort, dann werden vor-
gezeigte Schliissel naeh vielen abortiven Mundbewegungen schliesslich
riohtig bezeiohnet.
13. III. Eingenasst. Dasselbe Verhalten.
15. III. Entlassen (auf Wunsch der Angehorigen).
Nach der Entlassung derselbe Zustand wie im Krankenhause — lag
zu Bett, sprach kein Wort — hochstens Nicken — verunreinigte sich. Kraf-
tigte sich, Appetit befriedigend.
10. IV. Seit einer Woche ausserte sie fortwahrend Verfolgungs-
ideen: „Wer singe denn da, alles korarae hinter ihr her, wenn sie die Schub-
lade aufziehe, springe ihr alles entgegen.“ Schlug ofter nach dem Mann.
Vor 3 Tagen ging sie mit der Sohwester aus; unterwegs behauptete sie, alle
Leute sahen sie an, lachten iiber sie, zeigten auf sie. Zu Hause erzahlte sie,
in der Elektrischen hatte ein Pferd gesessen; als derWagen der Strassenbahn
voriiber fuhr, sagte sie: da singen sio schon wieder, Grabgesange, der Sarg
sei zu klein, bis hierher (auf den Hals zeigend) miisse die Gurgel weg. Gestem
abend rief sie: ,,Schlagt mich doch tot‘\ als sie von ihren Verwandten fest-
gehalten wurde, weil sie allerlei entzwei schlug. Sie hatte sich dariiber ge-
argert, dass die andem iiber ihre wirren Reden lachten.
Behauptet, sie sei in ihrer Wohnung von Kutschem mit Peitschen ge-
schlagen und mit Presskohlen beworfen worden, auch von zwei ihr bekannten
Frauen bespuckt worden. Gestern vormittag ergriff die Pat. ein Messer
und fiihrte es an den Hals. Aeusserte gestern: ,,Hier muss die Gurgel durch,
der Sarg ist zu klein. “ Gegen Mittag zorbrach sie eine Tasse und steckte
eine Scherbe in den Mimd und zerbiss sie. Seit gestem motorische Unruhe,
Zerstorungsdrang. Erzahlte, sie wollte Petroleum auf den Tisch giessen und
anstecken, weil alle sie mit ihren Handen angefasst hatten.
Pat. erweist sich als orientiert, gibt an, sie habe sich verfolgt geftihlt —
fortwahrend habe ein Phonograph gesungen: ,,l)a bist du ja“, die Pflege-
frau habe gesungen: ,,Die Eltem stehen am Grabe tk u.s. w., die Leute hatten
gepfiffen, Leierkasten, Harmonikas, Geigen und Mandolinen gespielt,
ausserdem hatte sie Stimmen gehort, in der Nacht und am Tage. Manchmal
sei ihr ganz klar gewesen, dann aber hatten plotzlich die Stimmen dazwischen
gesprochen, dann hatte sie sich geargert. Beim Waschen hatte das Wasser,
die Soda, das Feuer gesungen. Auf der S trasse hatten die Leute iiber sie gelacht,
hatten sie festgehalten, um ihr Kleid zu zerreissen (Angst ?) ,, Ja, die Stimmen
sagen: ,Ich habe sie zersagen lassen und von ihren Knochen gegessen, nun
sei die ganze Welt in Aufruhr. Sie hatte viel gelogen." Pat. halt sioh fiir
krank, halt die Stimmen fiir krankhaft, erinnert^sich genau der Suicid-
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462 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
versuche, meint, sie hatte sich geargert. (Waruin die Kehle durchschneiden
wollen?) „Die Stimmen hatten immer gesungen: der Sarg ist viel zu klein,
als sie nach dem Trauerzuge habe sehen wollen, sei er schon weg gewesen.
Da habe sie gesagt, man solle ihr nur die Kehle durchschneiden, damit der
Sarg passe. Auch die Arme soil ten abgeschnitten werden. 44 Status corporis:
Unbefriedigender Emahrungszustand, sonst kein Befund.
13. IV. (Hier schon Stimmen ?),, Ja, es wurde fortwahrend gesungen,
die Warterinnen und Kranken haben alle gesungen. “ Dauemd ruhiges Ver-
halten. Beim Besuch bricht sie plotzlich ab: ..Das Bild sagt, ich soli nicht
sprechen und nicht essen. 44 Die Vogel sangen, die Siindflut kame iiber sie,
sie fiihle sich von den anderen ausgelacht, sie habe Angst, weil aUes an ihr
vorbeirenne. Personenverwechslungen, haufig Eigenbeziehungen.
15. IV. Sehr angstlich. Gestem sei eine Tante dagewesen, von deren
Tod sie schon zu Hause eine Anzeige erhalten habe. Wiederholt die gestrigen
Voretellungen. Orientiert. Personenverwechselung.
16. IV. „Es kommt ja doch bald die Siindflut oder ein Erdbeben.
Auch die Bilder alle deuten das. Und auch zu Hause haben wir immer die
Wasserleitung aufgedreht und das Wasser ist immer unter den Betten weg-
geflossen. Alles hat sich gedreht. 44 Behauptet, auf dem Korridor fahren
Maschinen und summen Drahte. ,,Es ist, als wenn alles voll Elektrizitat
ware, als wenn ich elektrisch aufgezogen bin. 44
(Konnte das nicht Einbildung undKrankheit sein ?) ,,Nein, ich denke^
es ist keine Krankheit. 44 — Menses.
18. IV. Pat. verunreinigt sich mit Stuhlgang. Hehauptet: „Sie
spucken alle fiber das Bett, werfen die Lappen heriiber. Alles singt, alle sind
weggelaufen. “ Wiederholt die alten Wahnvorstellungen.
19. IV. Heute viel ausser Bett. Behauptet, alles renne an ihrem Bett
vorbei, sie hatten gesagt, sie diirfe nicht bleiben, miisse fort,, daher miisse
sie aufstehen. (Warum aufstehen ?) „Sielaufen alle fort und singen. 44 (Waa
denn ?) ,,Weisst du, wie viel Bliimchen stehen, 44 alles dreht sich um, von
mir weg, alles lauft weg, und ich bleibe hier allein, dann giessen sie immer mit
Eimem, fortwahrend wird gewischt. Dann wird immer gerufen, wir sind
steinreich. Ich habe niemals gesagt, dass wir reich sind (weint). (Pat. am
andem Ende des Saales haben in der Unterhaltung ,,steinreich 44 gesagt.)
[Warum weinen ?] ,,Weil alles weglauft, da wollte ich hinterher, da sind sie
erst recht weggelaufen, fingen an, zu husten und zu schnauben . . . Die
Kranken beobachten alles ... Es sei ihr so, als ob der ganze Saal tanze,
auch das Bett werde viel geriickt, alles gehe hoch und herunter. [Auch nachts
bemerkt ?] „Ja, da ging es immer so, als ob ich im Schiff bin, schaukeln.“
[Krank ?] „Ich fiihle mich nicht krank, aber bestandig verfolgt. Ich weiss
gar nicht, was das bedeuten soli. 44 — Orientiert.
21. IV. Weint, es gehe ihr gar nicht gut, sie sehe Bilder. ,, Jetzt singen
alle, da wird wohl niemand mehr kommen, der mich holt. 44 Orientiertheit
vollstandig intakt.
25. IV. Weint, es sei wieder alles so fortgelaufen und aufgesprungen,
so dass sie doch gedacht habe, die Siindflut komme, sie glaube aber mcht
daran.
26. IV. [Krank?] ,,Nein. 44 Vielfach Eigenbeziehungen.
28. IV. Pat. weint heute. Die Eier seien so gezahlt worden, als ob
sie gestohlen hatte. Im Garten habe alles nach oben gesehen, nun glaube sie
doch, dass die Siindflut komme. Alles hatte vom Schinken gesungen, den
sie ihrem Vater weggegessen hatte. Verweigert die Nahrung, weil sie doch
nichts gestohlen habe. Ihr sei vorgeworfen worden, sie habe im Zoologischen
Garten zwei Baren gegessen (gestem im Bilderbuch gesehen).
29. IV. Sagt heute selbst: ,,Ich beziehe alles auf mich. 44 Alle sangen.
30. IV. ,,Alle singen immer, dass ich gestohlen habe, dass ich den
Kaiser beleidigt habe; mir wird immer angstlich, wenn alles singt . . . 4t
[Was sagen sie wortlich ?] „Frl. Schmidt soli die Franzosenkonigin sein und
soli sich nicht von mir erschiessen lassen (lacht dabei); als ich heute auf stand,
da war es ganz heiss hinter mir, da war ein Berg, und alles bewegte sich. Wo
ich hinging, da kam der Berg mit.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
463
4. V. Wieder Stimmen und Bilder.
7. V. Pat. meint, sie achte gar nicht darauf, wenn sie etwas singen
hore. Keine Stimmen.
11. V. Pat. sagt, es komme ihr so vor, als wenn alie sie verfolgten,
aie hatten alle an ihr etwas auszusetzen. Fugt selbst hinzu, sie bilde sich das
nur ein.
21. V. Zunehmende Besserung, keine Angst, nur ab und zu ein wenig:
,,Wenn alle im Garten durcheinander liefen. Aber ich habe mich immer
wieder iiberzeugt, dass alles auf ganz natiirliche Weise zuging. 44
24. V. Pat. fuhlt sich sehr wohl, negiert jede Angst und Wahnvor-
stellung. Orientiert. Lacht iiber ihre friiheren Gedanken von Sundfiut,
iiber das Sehen von Gestalten.
Retrospektive Angaben am 12. VI.
1. Aufnahme. Pat. war anfangs mutistisch, weil sie durch die grosse
Zahl der Aerzte verangstigt war, war iiber Zeit und Ort orientiert. Bei der
Fahrt nach Hause mit dem Krankenwagen war es ihr, als ob allerhand mit-
liefe. Schon vorher hatte sie ein unbestimmtes Angstgefuhi. Zu Hause war
es, als ob die Gardinen brannten, dann hat sie lautcr Kutschen fahren sehen,
ihr Mann sei mit anderen in eine Droschke gestiegen. Dabei Stimmen:
„Mein Mann verheiratet sich noch einmal.“ ,,Manchmal war mir, als ob ich
nicht zu Hause ware, sondern auf dem Wasser; manchmal glaubte ich auf
dem Kirchhof zu sein, namentlich am Abend/' Dann habe sie Menschen
schlachten sehen, hauptsachiich Kinder, glaubte. sie sollte auch geschlachtet
werden. ,,Dann war es mir, als ob ich auf einem Geriist bin und falle plotzlich
so tief. Dann war mir so, als ob ich den Kaiser beleidigt hatte und sollte
deswegen hingerichtet werden; dann wurde ich so angstlich, das muss alles
die Angst gemacht haben. 44 — ,,Manchmal horte ich lachen, schreien, als ob
sie alle iiber mich lachen; es war mir so. als ob alle von mir weichen.und dann
habe ich mir eingebildet, sie spuckten einen an . . . es war mir, als ob sich
alles bewegte, das Wasser, die Schiisseln . . . mir ist gewesen, als ob
ich meine Geschwister essen sollte, als ob, weil ich nicht hingerichtet bin, sie
dafiir hingerichtet werden sollen . . . ich bildete mir ein, das Essen ware
vergiftet, habe es weggeworfen, aber auch gegessen, die Angst war ganz
schrecklich; wenn ich morgens aufwachte, habe ich mich gewundert, dass ich
noch lebe/ 4
Aus einem am 7. VI. selbst verfassten Krankheitsbericht iiber die
Entbindung (Operation) und den spateren Verlauf:
. . . bald damach kam ich nach Station 31, mich iiberfiel ein furcht-
bares Angstgefuhi, das Geschrei der Kranken flosste mir noch mehr Angst
ein. Ich wurde von einem Saal zum andern befordert . . ., wusste daher
gar nicht, auf welcher Station ich mich befinde. Dann kam ich auch . . .
zum Operationssaal, als ich mich wieder umsah, lag ich in der Station, wo
ich vorher gelegen hatte. Von da an hatte ich stets Angst, und es war mir,
als hatte ich etwas Sehlechtes getan und werde deshalb verfolgt und beob-
achtet. Ich wurde dann in einem Krankenwagen nach Hause gebracht, alles
um mich her schaukelte, auch horte [ich] iinmer Wasserrauschen und
Stimmen, teils waren es ganz bekaimte und teils auch ganz unbekannte.
Manchmal bekam ich dann eine grosse Erschutterung, als fiele ich von einer
gewissen Hohe plotzlich in die Tiefe . . . Ich war ganz klar, ich horte nur
noch diese Stimmen, und als ich aufstehen wollte, drehte sich alles um mich.
Die Bilder an den Wanden kamen mir vor [als] hatten sie Leben bekommen;
auch bildete ich mir ein, alles ware vergiftet, und wollte nicht essen, doch auf
vieles Zureden ass ich und wimderte mich nur, dass ich immer noch lebte.
Als ich nun endlieh einmal aufstand, wurden mir alle Schliissel versteckt,
und alles kam mir vor, als lebte und bewegte es sich, Schranke, wde Tisch und
Stiihle. Meine Schwester kam, und ich ging mit ihr spazieren, es war, als
guckten mirLeute nach und als ob sich alles von mir unterhielt; fortwahrend
horte ich einen Phonographen spielen. Dann w r urde ich eines Abends von
meinem Mann und Vater in die Charity gebracht. Erst hatte ich grosse Angst,
weil es in dem Saal sehr laut zuging; ich bezog alles, was gesprochen wurde, auf
mioh, und da ich fortwahrend Wasserrauschen horte, bildete ich mir ein.
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464 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
es ware Weltuntergang und gross© Siindflut. Dann kam ich in den Saal*.
wo ich mich auch noch befinde, hier trat von Tag zu Tag Besserung ein, und
ich wurde mir bald klar, dass ich mir alles eingebildet hatte und alles krank-
haft war . . .
Aug.-Sept. Pat. befindet sich in befriedigendem Gesundheitezustande.
EptJerise. Im vorliegenden Fall ist eine akute Psychos© zu verzeichnen^
deren Entstehung auf den Erschopfungszustand infolge der Graviditat (mit
Nephritis) und die sich anschliessende Operation zuruckzufuhrenist. Zunachst
stellt sich ein akuter Erschopfungszustand ein, aus der retrospektiven
Anamnese der Patientin entnehmen wir, dass sie schon damals sich verfolgt
und beobachtet glaubte und Angst hatte. Dieser Erschopfungszustand
geht allmahlich in die vollentwickelte Psychose iiber, deren Symptom©
Akoasmen und Visionen, Beeintrachtigungs-, Beziehungs- und Verfolgungs-
wahn bei primarem unbestimmtem Angstgefiihl sind. Indessen erschemt
die Angst zum Teil auch alsFolge derHalluzinationen und Wahnvorstellungen.
Die Orientiertheit bleibt dauemd erhalten. Die Sinnestauschungen und
Wahnvorstellungen behalten fast durchweg denselben ziemlich einformigen
Inhalt, ©8 kommt nicht zur Bildung eines geschlossenen Systems. Ab-
gesehen von im Beginn der Psychose festgestellten Hemmungen, werden
keine Storungen im Tempo des Assoziationsablaufs beobachtet, Inkoharenz
tritt nicht auf, doch weisen immerhin die auffallenden, durch Affekte hervor-
gerufenen Handlungen, femer die spater auftretenden Verunreinigungen
u. s. w. auf einen weitgehenden Ausfall von Vorstellungsverbindungen hin,
der sonst fiir die Inkoharenz charakteristisch ist. Die Affektlage bleibt
dauemd deprimiert. Die stark© Abhangigkeit der Wahnvorstellungen von
den Halluzinationen tritt mehrfach deutlich zutage, in gleicher Weise aber^
auch bei zunehmender Beruhigung die illusionare Verfalschung der Wahr-
nehmungen im Sinn der deprimierten Affektlage. Bemerkenswert ist die
hin und wieder auftretende Krankheitseinsicht. Die Prognose ist giinstig,
die Patientin verliess die Klinik nahezu genesen.
Die Diagnose ist zweifellos: Paranoia acuta hallucinatoria. Eine
Wemickesche Halluzinose kann wegen der vielfachen primaren Wahnvor¬
stellungen nicht in Betracht kommen, auch nicht die inkoharente Form
der akuten halluzinatorischen Paranoia, da der Vorstellungsablauf nicht
inkoharent, die Orientiertheit erhalten war, selbst in der Zeit der grossten
Intensitat der Krankheit. Auch spricht der Umstand, dass gewisse Wahn¬
vorstellungen (Verfolgungsideen, Siindflut) sich durch den ganzen Verlauf
der Krankheit hindurch erhielten, sowie class die Patientin schliesslich im-
stande war, einen befriedigenden retrospektiven Bericht iiber den Gesamt-
verlauf der Krankheit zu geben, durchaus gegen eine Amentia. Trotzdem
ist die nahe Verwandtschaft zu letzterer ganz unverkennbar, Aetiologie r
Entwicklung und Verlauf des Falles entsprechen durchaus der Amentia.
2. G. Sch., Naherin, 18 Jahre alt. Amentia.
Keine Hereditat, normale Entwicklung. Pat. hatte in der letzten
Zeit sehr angestrengt gearbeitet und machte am 22. VI. eine Reise nach
Kiel. Am 23. VI. sah sie vom Fenster aus in einer anderen Wohnung einen
Herm am Fenster sitzen, behauptete, es sei P. S. (ihr Brautigam, der vor
einigen Monaten nach Amerika ausgewandert war), es ware ihr nicht die
Wahrheit gesagt worden, er ware gar nicht in Amerika, er liesso sich nur
nicht vor ihr sehen. Pat. zeigte ein aufgeregtes Wesen, iiberzeugte sich
iibrigens, dass es ein fremder Herr gewesen war. Am 21. VI. stellte ein Arzt
Verfolgungsvorstellungen fest. Nach Hause zuriickgekehrt, zeigt Pat. keine
besondere Veranderung.
Am 17. VII. wollte Pat. nicht aufstehen, sprach und sang viel, auch
am 18. Pat. lag den ganzen Tag im Bett, war unruhig, warf die Betten durch-
einander, redete immerzu, lachte und weinte viel, ausserte: ,,Warum muse
ich denn eine Stiefmutter haben,“ schimpfte dazwischen, sagte, die Mutter
solle sie erlosen, sie hatte Angst, schrie: ,,Ach Gott, erlost mir, erlost mir!**
Am 19. zeigte die Pat. ein zartliches Vorlialten, sang viel, liess sich nicht
ankleiden. Pat. soli Schlangen gesehen haben, hat auch von einem Lowen
gesprochen. Schlug nach der Mutter, als diese versuchte, sie zu beruhigen.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
465
19. VII. 1909. Pat. tanzt bei der Aufnahme im Saal umher, singt,
macht lebhafte Gesten, alis ob sie schauspielere, deutet an die Decke, ale
ob sie dort etwas hore. Pat. ist orientiert, gibt ziemlich ausfiihrlieh Aus-
kunft iiber sioh, erzahlt, sie sei hergebracht worden, weil sie getobt habe.
[Warum getobt ?] „Weil bei uns eine war, und da habe ich mich entgegen-
geetellt.** Pat. vermag keine nahere Auskunft dariiber zu geben. Pat. gibt
femer an, ihren Brautigam in K. gesehen zu haben. Pat. gibt weiter an,
sie habe getobt, ,,weil mich andere Leute immer schlecht gemacht haben‘\
falache Leute, friihere Nachbam, sie hatten sie immer betrogen, hatten immer
geklatscht, schon seit dem 14. Lebensjahre der Pat. Pat. gibt an, man hatte
sie verfiihren wollen, sie liesse sich aber nicht verfiihren, will Stimmen gehort
haben. Eine geordnete Exploration ist nicht moglich, da Pat. nur ganz vor-
iibergehend von ihren Vorstellungen abzubringen ist.
„ . . . und ich wusste es besser — und dafiir hab ich mich gerettet,
nicht fur meinen Vater zum Sterben—und weii ich’s nicht bekomraen hab von
meiner Mutter, so hab ich es vergeben — und in den Abgrund haben sie mich
nicht getreten — da soil man nur in die Holle rein — aber nun halt fest und
sei zufrieden — Falschheit ist List, und List hab ich noch — ich hab gedacht,
wenn du erst grosser bist — Riesenschlange — kannst ruhig zugucken, so
hatte es rneine Mutter gewollt, Papa-sie muss es besser wissen, besser
wissen als meine rechte Hand, als meine rechte Hand — warum denn hier
so gepiekt — darum, Klapperschlange, du hast es nicht anders gewollt* 1 —
u. s. w. u. s. w. Alle diese Aeusserungen werden von lebhaften Gesten be-
gleitet, die dem Inhalt der Aeusserungen entsprechen. Pat. spricht mit einer
imaginaren Gestalt, behauptet, im Garten ihre Eltem zu sehen, spricht
unaufhorlich, dazwischen Zomausbriiche und Singen.
21. VII. Dasselbe Verhalten. Gegen Nadelstiche erhebliche Herab-
setzung der Schmerzreaktion.
23. VII. Pat. kramt ihr ganzes Bett aus, fahrt damit in der Zelle
umher, springt umher, schlagt an die Wand, wirft das Bettzeug umher,
schiebt sioh mit dem Riicken an der Wand entlang, dreht die Haare zum
Knauel zusammen, gibt sie dem Arzt und sagt: ,,Hier, halte fest, das ist die
Spinne . . ., haben Gift uns eingegeben, damit wir sollten sterben — haltet
fest an eurem Namen, es wird schon wieder gut, — so wie du mir, so ich dir“
— gibt dem Arzt einen zweiten Knauel, sagt: „Hier, ich will alle Beweise
bringen, was das fur Hexen sind; Schlange, die du bist, ich kann dasselbe
tun — Herr Doktor kommen Sie mal schnell her u. s. w. u. s. w. Pfeift
zwischendurch.
24. VII. Fortgesetzt unruhig.
27. VII. Beruhigung. Orientiert. Sagt selbst, sie habe getobt.
4. VHI. Verhalten vollkommen ruhig und geordnet. Pat. ist vollig
klar.
7. VIII. Wieder erregt, spricht fortwahrend vor sich hin, fangt jede
Bemerkung anderer Kranken auf und kniipft daran an. [Warum erregt ?]
„Na, die Falschheit der Menschen, wenn ein anstandiges Madchen sioh
aufrappelt — ich habe langst vergeben und vergessen, aber nicht in meinem
Herzen. “ [Konnen Sie sich zusammennehmen ? ] „Ja, ich will nicht, ich
brauch nicht; hier sehen Sie sich meine Finger an, wenn ich daran drehe,
kommt alles heraus, warum musste ich diese Nacht in dies Bett“ u. s. w^
8. VIII. Stimmung stets wechselnd, bald weinend,* bald lachend.
10. VHI. Pat. ist sehr unruhig, viel ausser Bett, spricht unauf-
horlioh.
13. VIII. Stimmung wechselnd. „Ja, ja, die Schuhe, hatte ich bloss
die Schuhe nicht angezogen — die Frau Wilhelm und die Frau Wilhelm, die
so energisch war, war weise, was die fur Kinder hat — ich kriege kein Kind,
auf deine Liebe scheiss ich — reden Sie mal, ich muss mich erst besinnen^
mein Kopf — Trude hat er zu mir gesagt, mein Brautigam — ich bin nicht
verriickt, ich bin nur so — und die arme Schneiderschere, ich hab Schneidem
gelemt, und er war in Amerika, die Schwalbe hat es ihm gesagt — ich bin
kein Schwein, Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun —
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466 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
recht so, immer feste auf die Weste, Ohrringe von seiner Mutter“ u. s. w.
Pat spricht deutlich, ziemlich langsam.
17. VIII. Beruhigung.
20. VIII. Pat. gibt eine etwas inkoharente retrospektive Anamnese,
aus welcher zunachst hervorgeht, dass sie stets nervos gewesen ist. Im
Friihjahr hatte die Pat. einen Prozess gegen eine Nachbarin wegen iibler
Nachrede angestrengt und wurde kostenpflichtig abgewiesen (wahrscheinlich
wegen mangelnden Beweises). Dieser Ausgang des Prozesses erschutterte
die Pat. sehr, die Familie der Pat. verzog daraufhin in eine andere Wohnung,
konnte sich liber diesen Ausgang nicht beruhigen. glaubte stets die Fem-
wirkung der Verleumdung zu spiiren, hatte iibertriebene Vorstellimgen von
der Bedeutung der iiblen Nachrede. Pat. selbst glaubte, dass die ehemalige
Nachbarin irgend jemand anstiften wolle, urn sie, die Pat., zu verfiihren oder
zu vergewaltigen. Pat. berichtet von ihrer Reise nach K.: „Ain ersten Tage
sah ich einen Bekannten im Hause gegeniiber, sagte aber niemand etwas
davon. In den nachsten Tagen sah ich ihn ebenso am Fenster, ausserdem
meinen Bruder und seinen Freund. Ich dachte mir, sie waren nachgekommen,
um zu sehen, wie ich mich in Kiel amiisiere, anders konnte ich es mir nicht
auslegen. Dann erzahlte ich meiner Tante davon, sie meinte, es sei ein Ar-
beiter; ich gab mich ausserlich zufrieden, glaubte aber nicht daran. Am
24. VI. erzahlte ich meinem Onkel viel von unserer Familie. In der Nacht
horte ich poltern, als ob jemand an der Wand arbeite, da wurde ich angstlich,
dachte, dass jemand einbricht, rief meinen Onkel, verlangte Licht; als er
sich weigerte, stand ich ohne Licht auf undkonnte auch im Dunkeln sehen,
dass die Wand anders war als am Tage vorher; ich sagte auch dem Onkel,
dass am Tage eine Tapete dagewesen ware und jetzt in Her Nacht eine
Kalkwand — der Onkel aber meinte, ich ware verriickt. Als nun schliesslich
der Onkel doch mit Licht kam, iiberzeugte ich mich, dass es doch an dem
war, dass es kein Traum gewesen war. Ich legte mich wieder hin, war aber
fast ganz angekleidet, schlief auch nicht ein; ich war aufgeregt, ich hatte
sehr mit meinem Herzen zu kampfen, es war mir so dumpf im Kopf. Ich hatte
auch die ganze Zeit Angst, furchtete, dass jemand einbrechen konnte, wenn
kein Licht im Zimmer ist.
Am nachsten Morgen bildete ich mir ein, dass meine Mutter nebenan
liege und im Sterben liege (auf dem Hof brachten die Kinder mit einem
Spielzeug einen winselnden Ton hervor). Ich sprang auf und sagte meinem
Onkel, ich miisse dahin, da seien meine Eltem, ich mlisse mich iiberzeugen.
Er lachte mich aus und sagte, dort wohnen fremde Leute. Da wollte ich den
Ofen einschlagen, lun durch die Wand in den Nebenraum zu kommon, ich
wurde aber zuriickgehalten; da weinte ich und sagte, ich wollte nach Hause.
Bald darauf hatte ich mir einen Hammer besorgt und wollte den Ofen ein¬
schlagen, er wurde mir aber entwunden, da ging ich hinaus und weinte. —
Sie schrieben unterdossen einen Brief an meine Eltern, sie sollten mich ab-
holen, sagten mir aber nichts davon. Spater, als niemand im Zimmer war,
wollte ich mich iiberzeugen, was vorliege, und riss die Tapete an der Wand
ein und sah, dass unter der Tapete eine Kalkwand war. Ich war iiberzeugt
davon, dass mein Onkel mit mir einen Ulk gemacht hatte, den ganzen Tag
habe ich geweint, weil ich nach Hause wollte. Am Abend kam meine Mutter
an. Anfangs war ich aufgeregt, aber dann fuhr ich mit nach Berlin. “ Pat.
berichtet ferner, dass sio sich nicht beruhigen konnte; die Eltern wandten
sich an einen Arzt, der neben Arznei Bettruhe empfahl. Pat. wurde aber
bald sehr unruhig, schrie, warf die Betten herum, wollte nicht im Bett bleiben:
,, . . . ich habe gar nicht gewusst, wo ich war; ich dachte, ich bin nur zum
Schein hereingekommen. “ Am Morgen Beruhigung, „ich fand aber nirgends
Ruhe, konnte nicht arbeiten.* 6 Schliesslich fuhr Pat. zu Bekannten nach
Kloster L. Hier kam der Pat. alles verdachtig vor, sie vermutete uberall
eine gelieime Bedeutung oder Anzeichen einer ihr drohenden Gefahr, sah
z. B. eine Frau, die sie nicht kannte, und machte sich Gedanken dariiber,
merkte auf einem Spaziergang, dass sie belauert wurde. Am Abend war Pat.
unruhig, „ich dachte immer, es ist alles vergiftet; ich fiihlte mich nicht sicher,
konnte nicht schlafen. In der Nacht wurde ich sehr angstlich, bat die Frau,
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
467
sie solle mit mir be ten, solle gleich die Lampe anstecken und mich gleich
fortlaasen. Schliesslich ging ich zu meinem Bruder (der nebenan schlief),
weil ich vor der Frau Angst kriegte, und krallte mich an seinem Hemde fest.
Ich sagte ihm: ,,Halt dich fest,“ ich sah Wolfe, Baren, Schlangen und wurde
immer mehr aufgeregt, es war mir immer so, als ob mir etwas angetan
wurde. “ Pat. gibt weiter an, dass sie sich schliesslich beruhigte. Im Laufe
des nachsten Tages redete sie einen ihr unbekannten Mann mit ,,Guten Tag,
Gro8Svater“ an und nannte ihn wiederholt Grossvater. Pat. vermag jetzt
nicht mit Bestimmtheit anzugeben, ob sie den Mann tatsachlich fiir ihren
langst verstorbenen Grossvater gehalten hat oder ob sie ihn nur wegen
seiner Aehnlichkeit mit dem Grossvater so genannt hat. Am folgenden Tag©
musste Pat. nach Berlin zuriickreisen und wurde gleich darauf in die Charite
gebracht.
21. VIII. Pat. schlief viel, traumte, dass sie gebunden ware.
23. VIII. Pat. verlangte von der Mutter, dass ihr das Essen klein
geschnitten wiirde.
24. VIII. Pat. schrie viel, schlief nicht in der Nacht.
25. VIII. Pat. sprach fortwahrend, schimpfte auf die Mutter.
26. VIII. Pat. verhielt sich ruhig.
27. VTII. Wieder Schreien. .Pat. warf die Betten durcheinander,
„ich kann mir nicht helfen, ich hab solche Wut“, riss mit den Fingem an
den Genitalien.
28., 29. VIII. Fortwahrendes Schreien und Schimpfen, dazwischen
Weinen. ,,Hier sind lauter Stecknadeln, da piekt es schon wieder“, riss sich
an den Haaren.
30. VIII. Bei der Aufnahme sehr unnihig, spricht schnell zusammen-
hangslos vor sich hin, fortwahrend ausser Bett, tanzt im Korridor umher,
ab und zu Weinen, kramt das Bett auseinander.
1. IX. Pat. ist sehr unruhig, zerreisst den Kittel. [Warum ?] ,,Ich
will meine Eltem retten.“ [Wie kommen Sie darauf ?] „Ja, weil ich eine
Stief mutter habe. ‘ ‘ Menses.
3. IX. Fortgesetzt unruhig. Pat. hat samtliches Bettzeug aufein-
andergetiirmt und steht darauf. [Warum machen Sie das ?] ,,Ich muss
die Suhne fur die Siinden meiner Mutter auf mich nehmen, ich muss allee
wieder gut machen. “
9. IX. Pat. hat sich beruhigt, antwortet auf Befragen, lacht viel.
10. IX. Auch heute ganz ruhig, gibt geordnete Antworten.
13. IX. Gross© motorische Unruhe, larmt, schimpft. Menses. Fahrt
mit dem Bett im Zimmer hin und her.
14. IX. U. a.: „Ich habe einen goldenen Wagen geschoben.“
16. IX. Fortgesetzt unruhig. Dazwischen aber auch ruhige Stunden
und Tage.
28. IX. Beruhigung, Gibt an, keine Stimmen oder Bilder wahr-
genommen zu haben. Motiviert die Aeusserung vom goldenen Wagen damit,
dass die Messingfiisse ihres Bettes damals blank geputzt wurden, behauptet,
auch damals nicht im Ernst gedacht zu haben, dass die Rader von Gold
waren. In der Nacht wieder heftige Unruhe.
29. IX. ,,Loschblatt 1, 2, 3, 4, morgen kornmt der Unteroffizier 41 usw.
1. X. Pat. fiihrt Klagen gegen die Warterinnen.
4. X. Beruhigung. Auf Wunsch der Angehorigen entlassen.
Im vorliegenden Fall, der in vielen Beziehungen dem vorigen ahnelt,
ist eine subakute Entwicklung festzustellen. Als atiologische Moment©
kommen in Betracht die Ueberanstrengung und die fortwahrenden Gomiits-
bewegungen, deren Inhalt ja auch im Wahn der Patientin weiter fortgebildet
erscheint. Die psychische Erkrankung tritt auf als Verfolgungswahn mit
Angst, Personenverkennung, Halluzinationen und Beziehungswalin; es
bildet sich ein nur sehr diirftig ausgebildetes System. Pat. lebt in einer
wahnhaften Situation, die allerdings nur kurze Zeit anhalt. In den mit
motorischer Unruhe komplizierten Hohepunkten der Krankheit ist die Orien-
tiertheit verloren gegangen und stellt sich Inkoharenz des Gedankenganges
ein; fiir die Zeit der Inkoharenz fehlt der Pat. die sonst ziemlich genaue
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468 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Erinnerung. Die Inkoharenz ist sicher wenigstens zuin Teil eine primare^
schon vor ihrem Eintritt macht sich eine weitgehende Lockerung des Ge-
dankenganges bemerkbar, in dessen Vordergrund die paranoischen Ge-
danken der Pat. stehen. Die Halluzinationen spielen eine ganz untergeordnete
Rolle. Mit der Stoning der Ideenassoziation lauft die motorische Erregung
parallel, ohne wesentliche priraare Beteiligung der Affekte; Angst finden
wir nur im Eingajigsstadium verzeichnet. Die Hohepunkte der Inkoharenz
fallen haufig in die Zeit kurz vor den Menses, die Inkoharenz, wie auch der
Verlust der Orientiertheit sind nur kurz dauemd. Es handelt sich zweifel-
los um eine akute halluzinatorische Paranoia mit Inkoharenz, um eine
Amentia im Sinne Meynerts. Wir sehen, dass in dem unzweifelhaft para¬
noischen Krankheitsbilde die Inkoharenz voriibergehend als Ausdruck
grosseror Intensitat der krankhaften Vorgange vorkommt. Es ware aber
ganz unmoglich, auf Grund etwa der Inkoharenz diesen Fall von dem vorher-
gehenden zu trennen: sie gehoren zu einer Form, auch hier ist das Leitmotiv
der psychischen Storungen eine paranoische Idee: der Verfolgungs- und
Beziehungswahn.
Es ware hier noch die Frage zu erwahnen, ob der Fall nicht auch als
das Initialstadium einer Dementia hebephrenica aufgefasst werden konnte.
Es sprechen dagegen sehr gewichtige Bmstande: vor alien Dingen kann von
einem Intelligenzdefekt bei der Patientin nicht die Rede sein, trotz der nun
schon drei Monate wahrenden Beobachtung; ferner ist von den Angehorigen
der Pat. keinerlei hebephrene Veranderung des Wesens oder Benehmens
bemerkt worden. Schliesslich ist weder wahrend der Erregungszustande noch
in den Zwischenzeiten bei der Kranken eine Abschwachung oder Aenderung
der begleitenden Gefiihlstdne festgestellt worden.
3. F. F., aufgenommen am 16. V. 1909, Dienstmadchen. Akute
puerperale Paranoia.
Keine Hereditat, Entwicklung normal.
Von Beruf Dienstmadchen, erst auf dem Lande, seit 2 Jahren in der
Stadt. Machte vor 2 Jahren eine normale Entbindung durch, das Kind
starb, einige Wochen alt, aus unbekannter Ursache. Zweite Entbindung
vor 4 Wochen, am 4. IV. 1909, ebenfalls normal, das Kind lebt. Keine
Aborte.
14 Tage bach der Entbindung wurde die Pat. aus dem Krankenhause
entlassen. Ende April nahm sie eme Stelle als Dienstmadchen an. Nach
Aussage der Dienstherrin erwies sie sich von Anfang an als vergesslich,
konnte nicht einkaufen, nicht rechnen. Am 10. V. bekam sie eine Vorladung
von der Polizei, war sehr erregt. Am 11. V. war sie noch mehr erregt; sie
wurde zum Einholen in ein bestimmtes Geschaft geschickt, brachte daa
Gewiinschte aus einem andem und meinte, sie finde das Geschaft nicht.
Sie erklarte, Besorgungen in mehreren Geschaften konne sie nicht machen,
wenn sie in einem gewesen sei, habe sie schon die Strasse vergessen, auf der
das andere sein soUte. Pat. war von Anfang an etwas argwohnisch. Am
11. fand Pat. einen Groschen auf der Diele, sie gab ihn ruhig der Herrin,
spater sagte sie: „Hier ist es imheimlich, wie kommt der Groschen dahin ?“
Als der Hund ihren Schuh angenagt hatte, sagte sie: „Wie kommt bloss der
Hund in mein Zimmer, das sei unheimlich. “ Als sie am nachsten Tage unter
der Schuhsohle einen kleinen angeklebten Papierschnitzel fand, lief sie hochst
aufgeregt zur Herrin, kiindigte, sagte, es sei unheimlich, es sei alles so merk-
wiirdig, es ist kein Fertigwerden, man muss Hand in Hand arbeiten. Be-
hauptete, den Schnitzel hatte jemand unter den Stiefel angesteckt. Friiher
schon hatte sie einmal ein Streichholz auf dem Kopfkissen gefunden, sie
regte sich dariiber auf, das sei unheimlich, sie wolle deswegen zur Polizei
gehen. Vorgestem abend legte sie sich zu Bett, liess alles brennen, schloss
die Tiir nicht ab, ohne das alles zu motivieren. Gestern offnete sie nicht die
Wohnung, trotzdem bestandig geklingelt wurde. Kochte keinen Kaffee,
trotzdem sie sich alles zurecht gemacht hatte. Als man heute in ihr Zimmer
trat, stand sie zum Ausgehen angekleidet, sagte: „Ich gehe jetzt spazieren;
ich halte es nicht mehr aus.“ Es sei unheimlich, des Nachte sei ein Mann
in die Toilette gegangen und nicht wieder herausgekommen, es hatten
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
46 *
Schwerter geklungen — gesehen habe sie niemand, nur gehort. Das Haua
sei ein Kupplerhaus. — Schliesslich musste man sie gehen lassen, sie wurde
draussen unruhig: sie ginge nicht wieder hinauf, oben werde man nicht
fertig. Liess sich ruhig in die Charity bringen.
16. V. 1909. Vollstandig orientiert, ruhig, isst und trinkt, schlaft
bald ein.
17. V. [Weshalb gekommen ?] — „Ich bin ganz verdreht geworden,
ich konnte da nicht bleiben.**
[Weshalb nicht?] — „Es ist ein ganz verkuppeltes Haus.“ Pat. er-
zahlt weiter: In den ersten Tagen ihres Dienstes fiel ihr nichts besonderes
auf. Dann schenkte ihr ihre Herrin einen weissen Shawl, bemerkte aber
dazu, sie solle der Reinmachefrau, die zur Aushiilfe da war, nichts davon
sagen. Das fiel der Pat. auf, imd sie glaubte seitdem, dass die Frau sie ver-
kuppeln wollte. Alles war ihr verdachtig, z. B. dass sie schwarze, weisse und
gelbe Stiefel mit verschiedener Wichse zu putzen hatte, dass die Herrin sie
wegen jeder Kleinigkeit in ein anderes Geschaft schickte. Pat. fiihlte sich-
in ihrer Stellung zu sehr angestrengt, auch war ihr alles in dem Hause
unheimlich. — Die iibrigen Angaben der Pat. erweisen sich als richtig, die
Pat. glaubt aber, dass die Dienstherrin etwas Besonderee mit ihr vorhabe,
kann aber nicht sagen, was. ,,Man ist da wie verkauft.**
Ferner gibt die Pat. an, dass sie seit der Entbindung immer angstliclv
sei. Pat. hat vor den Mannem Angst, und zwar vor alien. Pat. macht einen
ziemlich aufgeregten Eindruck. Sie fasst die Fragen richtig auf, zogert aber
oft mit der Antwort. Bisweilen unmotiviertes Lachen. Pat. meint, in letzter
Zeit (nach der Entbindung) habe das Gedachtnis nachgelassen. Sie vergasa
Auftrage und verlegte Sachen. Wenn sie zum Einholen fortgeschickt wurde,
so wurde ihr jedesmal ganz schwindlig, und es flimmerte ihr vor den Augen,
sie ging aber trotzdem weiter. Nachher wusste sie dann gar nicht, wo sie
war, und musste sich zurechtfragen.
Status corporis: ohne Besonderheit. Status nervorum: ohne Besonder-
heit. Intelligenzpriifung: Kein Defekt.
20. V. Pat. leugnet alle Halluzinationen.
21. V. Halt an ihren wahnhaften Auffassungen fest. — [Verfolgt ?]
,.Nein.“ [Angst ?] „Nein.“
22. V. Behauptet, dass vor ihr ausgespien werde, bald laufen die
Leute hierher, bald dorthin, bald zupfen sie sie am Haar.
24. V. Pat. bezieht alles, was um sie herum vorgeht, auf sich, z. B.
auch das Schelten einer Nachbarin. Weint, sie hatte hier solche Angst,
sie traue sich nicht richtig zu essen Oder sich zu waschen, ihr sei immer, als
ob sie ihr alles nachmachten.
27. V. Klagt iiber Flimmem vor den Augen. [Angst?] „Nein.‘*
[Misstrauen ?] „Nein.“ ,,So richtig fiihle ich mich aber nicht.**
2. VI. Pat. bleibt dabei, dass die Dienstherrin ihr absichtlich den
Papierschnitzel imter die Sohle getan habe. [Weshalb ?] „Ich habe mir ge-
dacht, ich sollte ausgehen und mir neue Stiefel kaufen, weil der Absatz
schief war.** [Warum nicht direkt gesagt ?] ,,Ich weiss nicht.“—Pat. glaubt
jetzt, die Geschichte sei wohl nur Einbildung.
15. VI. Pat. gibt an, dass sie den Argwohn wegen dee Groschens auf
der Diele, des geschenkten Shawls, des Hundes, des Streichholzes, dee-
Papierschnitzels gehabt habe, weil sie iiberhaupt ein unbestimmtes Gefiihl
von Angst vorher hatte, obschon gegen keine bestimmte Person. Nur bei
dem Vorfall mit der Toilette hatte sie allerdings gefiirchtet, der Mann wolle
sie abmurksen. — Pat. scheint ihren fortdauemden Glauben an ihre Ideen-
zu dissimulieren.
23. VI. Grosse Unruhe in der Nacht, dauemd ausserhalb des Bettes.
,,Es war so, als ob der Teufel und der Satan in mir sassen.** Auf alle Fragen
nach Halluzinationen und Wahnvorstellungen keine Antwort. Bedeckt das-
Gesicht mit den Handen. Erwartet die Menses.
24. VI. Pat. gibt an, Stimmen gehort zu haben: „Dich sollen die
Raupen fressen.** Seither unbestimmte Angst, Kribbeln, hat das Ge¬
fiihl, als sasse ihr ein Frosch im Halse, der herausspringen mochte. Hat in
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470 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
der Nacht den Teufel und Gespenster fliegen sehen. Am Tage vorher hatte
die Pat. eine Ansichtskarte mit Negem gesehen, diese Neger erschienen ihr
in der Nacht. Behauptet, sie habe sich aufgeregt, weil das Unwohlsein aus-
geblieben sei. Am Nachmittag ging die Pat. aus dem Bett, schrie: „Da ist er,
halt ihn, halt ihn.“ Weigert sich, die Arznei zu nehmen, behauptet. es sei
Gift.
25. VI. Weigert sich, die Arznei zu nehmen: Man solle sie nicht ver-
giften. Am Abend heftige Unruhe.
26. VI. „Ich mochte doch hier oben bleiben, ich mochte doch nicht
geschlachtet werden.“
29. VI. Allmahliche Beruhigung. Bestreitet, Halluzinationen zu
haben.
1. VII. Komische Geriiche, Gift oder Eau de Cologne. [Angst ?] Nach
langem Stocken: ,,Ja, so ein Zittem.“ [Wovor?] Keine Antwort. [Kommt
Ihnen etwas unheimlich vor?] „Ja.“ [Was?] „Ich weiss nicht, wie ich es
ausdriicken soil. 4 ‘
3. VII. Heute wieder Geruch nach Gift und nach Parfiim.
9. VII. Pat. hat sich im Verhalten geandert, liegt still mit gerotetem
Gesicht im Bett, lasst sich bedienen, was friiher nicht der Fall war.
14. VII. Pat. ist wieder heiter geworden, bestreitet, irgend welche
Stimmen zu horen oder gehort zu haben; es sei in ihrem Innem so gewesen,
als habe in ihrem Innern jemand gesagt: Du sollst das machen, z. B. Herum-
tanzen. [Stimme wirklich gehort?] „Ich konnte mich halt nicht halten. 44
[Stimmen wirklich dagewesen ?] ,,Ich hab mir halt eingebildet, dass hier
alle auf mich falsch seien; die Frau St. (Mitpatientin) muss falsch auf mich
gewesen sein ... sie hat vor mir ausgespuckt, und da war ich wie behext,
ich konnte mir nicht mehr helfen.“ [Frau St. hat Sie doch nicht verhext ? ]
Achselzucken: ,,Na, ich weiss nicht.“
19. VII. Pat. macht einen freieren Eindruck.
9. VIII. Pat. ist ruhig, hat gestem, als Klavier gespielt wurde,
vergniigt getanzt.
16. VIII. Auf Wunsch geheilt entlassen.
Im vorliegenden Fall handelt es sich um eine akut nach einer Ent-
bindung sich entwickelnde Psychose, deren Ausbruch vielleicht den Ge-
miitsbewegungen der Pat. in ihrer neuen Umgebimg zuzuschreiben ist.
Wir verzeichnen aus einem Misstrauen und dem Gefuhl der Unheimlichkeit
heraus sich entwickelnde Verfolgungs- und Beziehungsvorstellungen. Die
Halluzinationen treten vollstandig in den Hintergrund, die Ordnung der
Gedanken, die Besonnenheit ist vollstandig erhalten. auch sehen wir keinen
Wechsel der Objekte des Verfolgungs- und Beziehimgswahnes, das Bild der
Erkrankung ahnelt insofern sehr dem der chronischen systematisierenden
Paranoia. Berner kens wert ist das Zusammenf alien der Halluzinationen
mit dem Beginn der Menses. Bemerkenswert sind femer die initialen Asso-
ziationsstdrungen.
Der Fall ist als akute Paranoia mit vereinzelten Halluzinationen an-
zusehen. Es ist fraglich, ob man den Fall auch als Amentia Meynert be-
trachten kann. Er geht zwar auch auf eine cercbrale Erschopfung zuriick
(Verhalten der Pat. auf ihrer neuen S telle!), lasst aber die aus jener hervor-
gehende Verwirrtheit vermissen, von der ,,Bewusstseinstrubung“, die die
Amentia von der Paranoia scheidet, kann keine Rede sein. Andererseits
ist die klinisehe Stellung des Falles sicher keine andere als die der vorher
angefiihrten Falle, trotz der Abwesenheit von Inkohiirenz und motorischen
Symptomen, trotz der Verschiebung des ganzen Krankheitsbildes in der
Richtung zur Paranoia simplex.
Auch in diesem Fall konnte differentialdiagnostisch noch die Dementia
hehephrenica in Betracht kornmen, doch lasst sie sich wegen des Fehlens
des charakteristischen Intelligonzdefektes imd der anderen charakteristischen
Anzeichen diesor Psychose (affektive Verblodung) ausschliessen.
4 . Fr. R., 42 Jahre, 21. XI. 1906—5. II. 1907. Amentia.
Keine Belastung, normale Entwicklung. Ehe mit 26 Jahren. Pat. ist
verwitwet und|geniesst eine Armenunterstiitzung, ,.schlagt sich durch",
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
471
soli iiberanstrengt sein, auch liegt angeblich ungeniigende Nahrungsaufnahme
vor. In der letzten Zeit fiihrte Pat. einen Prozess gegen ihren Cruder, der
sie verklagt hatte. Pat. gewann den Prozess am 9. XI. 1906, hatte dabei
einen Eid zu leisten.
Pat. ist seit dem Tode ihres Mannes (Sept. 1905) sehr aufgeregt, hat
sich leicht geargert. Durch den Prozess Zunahme der Erregung, sie war
zum erstenmal vor Gericht. sprach auch nach dem 9. XI. andauemd von
dem Prozess, erwartete noch eine Aufforderung vom Gericht.
Seit dem 20. XI. Veranderung: War bei der Schwester zum Besuch,
hat nicht mehr ganz richtig geantwortet, immer vor sich hin gestarrt. In
der Nacht plotzlich sehr erregt, schrie laut, sprach vom Prozess. Seitdem
nicht mehr beruhigt. Wurde verwirrt, argerlich, zitterte am ganzen Korper.
y ,Alles, was sie sprach, bezog sich auf den Prozess. “ Fing an zu singen: ,Jch
habe nur die Wahrheit gesagt, der Zuchthausler muss wieder hin, wo er
gewesen ist. 44 Keine Personenverkennung, keine Halluzinationen oder
Illusionen, Orientiertheit erhalten, keine Wahn- (Verfolgungs-) Vorstellungen.
In den letzten 14 Tagen ganz ungeniigender Schlaf, geringe Nahrungs¬
aufnahme.
22. XI. Pat. ist orientiert, gibt eine vollig ausreichende Anamnese,
will noch am 20. XI. gearbeitet haben. Erzahlt. dass sie sich liber einen
anonymen Brief sehr geargert habe, und dass sie fiirchte, durch weitere
Briefe dieses anonymen Schreibers, in dem sie ihre verfeindete Schwagerin
vermutet, an die Behorden noch ihre Armenunterstiitzung verlieren zu
konnen. Pat. meint selbst, sie sei unniitz aufgeregt gewesen und habe schon
vor dem Brief „einige Sachen durcheinander 44 gesprochen.
Heute habe jemand gesagt, sie Bolle gekopft werden, sie weiss aber
nicht, wo. [Aengstlich ?] „Gar nicht, ich habe doch nichts getan. Man
bildet sich allerlei dumme Ideen ein, ich dachte, ich werde tiefsinnig werden,.
und das bin ich doch nicht/ 4 „Ich darf nicht viel griibeln. 44 [StimmenT]
„Ich horte einmal: das darf die Selma nicht wissen/ 4 Pat. behauptet, nicht
krank, nur aufgeregt gewesen zu sein, „ich habe wirres Zeug gesprochen/ 4 —
Pat. fangt im Saal an, auf die Reden der im Nebenzimmer schimpfenden
Frau B. zu antworten.
Abends Zunahme der Erregung und Verwirrtheit. Spontan: „Ich
wusste nicht, was sie wollten, das waren meine Kinder beide, die wollten es
nicht glauben, sie werden wahnsinnig werden — Hier waren sie drin, wie
sie geschossen haben — da war ich auch verriickt — drum haben sie mich
beschimpft, ich weiss nicht, was sie wollten — hier haben sie so gespielt,
getanzt.
23. XI. Unverandert unstet. „Sie haben sich gestritten, dass ich
ein altes Frauenzimmer ware, ich bin noch gar nicht so alt . . „Weil
ich doch die Frau bin, weil ich doch die Kinder habe, ich bin Frau R., ge-
boren 1864. 44 Will immer etwas erzahlen, bringt es aber nicht zustande.
24. XI. Aufgeregt, spricht viel, bezieht das Selbstgesprach einer er-
regten Mitpatientin auf sich, antwortet darauf. ,, . . . ich bin die Tante
und die Nichte, und Friedchen wird ein guter Junge werden — Drei Briider
habe ich doch, der Spitzbube hat damals schon solche Sachen gemacht —
ich habe Georg und Franz und Friedchen, meine drei Kinder — nein, ich
bin auch keine freche Person — da giessen sie mir noch Gift ein — ich
habe meinen Prozess schon langst gewonnen — richtig, ich bin die Frau
von meinem Mann . . .“ [Wo?] „Charit6,“ dann ,,Moabit, im Kranken-
haus. 44 [Jahr?] „1907. 44 [Monat ?] ,,Buss- imd Bettag, im Dezember. 4 *
Besinnt sich stets lange, wiederholt die Frage einige Male. [Wie lange hier ?]
„Ich weiss ja gar nichts davon, ich habe nur gesagt, warum sperren Sie mich
ein, ich habe doch nichts getan. 44
25. XI. Sitzt im Bett, manchmal mit lachelndem Gesicht, spricht
laut vor sich hin: „Herr Zimmermann hat nur die Halfte Geld gegeben,
den Erdmann wurde ich im ganzen Leben nicht nehmen, der will lieber die
Cacilie nehmen. Die Toilettenfrau hat so geredet, Fritzchen war eigensinnig,
meine Kinder haben noch nicht gestohlen . . .“ Kniipft an alles an, was
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472 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
dm Zimmer gesproohen wird, antwortet aber auf Fragen so gut wie gar
nicht.
26. XI. Zunehmende Unruhe, fortwahrendes Schwatzen, vollig
heiser. T. 38°. Beginnende Parotitis.
27. XI. Aeussert nur abgerissene Wort© ohne Satzkonstruktion;
„Mein — auch das — die Frau — hat ja schon — wie das Klosett — war
auch nicht — auch — nein — die Frau, die hat gefragt — die hat das gesagt. “
28. XI. 1st fast vollig verstummt (Heiserkeit). Sehr unruhig, lauft
im Zimmer hin und her. Temperatur 39,5°.
29. XI. Starke Schwellung und Schmerzhaftigkeit der Parotis 1.
31. XI. Temperatur 38,0°. Parotitis in gleicher Weise. Motorische
Unruhe, lauft angstlich umher, ist nicht im Bett zu halten. Sprachliche
Aeusserungen gering, meist inkoharent.
1. XJI. [Wo hier?] ,,Krankenhospital Moabit.“ Sprache sehr
schwer verstandlich, kaum zum Antworten zu bewegen.
4. XII. Kramt sinnlos im Bett herum. Spontan: „Eine halbe
Zitrone — alles kreuz und quer — und alles geknickt und gebrochen.“
Auf Fragen keine Antwort, auf Zurufe keine Reaktion., „Vergraben 99 mai
gestampft mit Sauerkohl, weiss ich wohl — mir nie und nimmer — ja —
ich weiss es ganz genau, der ist der Nachtwachter, isst Honig und Kuchen —,
dass sie im Hemd, Natalie, jawohl — das ist Blut in Russland und
2 mal in — da soli ich mir die 13 Lause auf . . .“
5. XII. Stets aufrecht im Bett, angstlicher Gesichtsausdruck, Angst-
bewegungen, keine sprachlichen Aeusserungen. Temperatur abgefalien.
7. XIL Vollig benommener Gesichtsausdruck. Stiert ratios umher.
Nur einige nestelnde Bewegungen an Kleidungsstiicken. Nahrungsaufnahme
sehr schlecht. Sondenfiitterung.
12. XII. Sondenfiitterung heute ausgesetzt, da Pat. heute spontan
isst und trinkt.
13. XII. Etwasfreier. [Krank ?] „Ja.“ [Was ?] ,,Ohrenschmerzen.“
{Was wollen Sie?] ,,Nach Hause.“ [Wo wohnen Sie?] „In . . .
14. XII. Weinerlich. „Ich habe doch nichts getan.“ [Was vorge-
worfen?] „Unser Friedchen ist so verlogen.“ Wemt, antwortet nicht.
[Monat ?] Januar. [Jahr?] ,,1880 und . . . ich weiss es nicht mehr . . .
1915.“ Wahrend des Sprechens noch viele Lippen- und Kieferbewegungen,
ebenso in den Pausen.
15. XII. Wird heute zu den ruhigen Kranken gefiihrt, musste wieder
zuriickverlegt werden, sie strebte fortwahrend durch die Tiir.
17. XII. [Warum nicht driiben geblieben ?] „Ich hatte solche Angst.
Die haben alle geschrieen.“
18. XII. Nachts unstet. Hat ihre Kinder schreien horen, das Bett ver-
lassen. Pat. ist orientiert.
21. XII. Verlangt weinerlich nach ihren Kindem. [Wie lange hier ?]
„4 Wochen.“ [Was gefehlt?] ,.Ich war nervenkrank, nicht ganz klar im
Kopf.“ — Schlaft auch am Tage viel.
24. XII. Vollig orientiert. Erzahlt, dass sie sich iiber die Klage des
Bruders geargert habe. Erzahlt den Prozess ubereinstimmend mit ihren
anfanglichen Angaben. Leugnet, jemals Akoasmen oder Visionen gehabt
zu haben. rWoran gedacht, als die Angst da war ?] „An gar nichts, ich war
bloss nervos.“
28. XII. Sitzt abends weinend mit angstlichem Gesichtsausdruck im
Bett. Behauptet, die Stimmen ihrer Kinder gehort zu haben, „da oben,
wo die Klappen sind.“ Verlangt weinend, dass man ihre Kinder kommen
lasse.
29. XII. Hort keine Stimmen mehr.
2. I. [Ganzklar?] „Ja.“ [Stimmen?] „Nein.“
6. I. „Ich hore raanchmal sprechen und kann nicht verstehen.
Nebenan sagte man: meine Kinder haben Ringe genommen.“ [Tauschung ?]
„Ich weiss nicht. “
8. I. Einmal ihren Namen gehort., weiter nichts.
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hallucinatoria (Weetphal) zur Amentia (Meynert).
473
19. I. Hort nur noch undeutliches Gemurmel, einzelne Laute, ver-
bindet keinen Sinn damit.
22. I. Pat. gibt an, keine Stimmen mehr zu horen. [Gesund ?] „Ja,
es geht schon, ich denke, ich kann noch Hause.“
24. I. Weint, glaubt, dass eine Mitpatientin hinter ihrem Rue ken auf
sie schimpfe.
26. I. [Stimmen ?1 „Ich hore manchmal murmeln.“
2. II. Pat. hat nichts mehr gehort.
21. II. Entlassen.
Im vorliegenden Fall haben wir als atiologische Momenta Erschopfung,
mit hervorgerufen durch mangelhafte Nahrungsaufnahme und ungenugenden
Schlaf, sowie eine starke Gemiitsbewegung zu verzeichnen, auch ist wohl
eine allgemeine Disposition nicht unerwahnt zu lassen. Wir beobachten
eine akute Entwicklung der Psychose mit Erregung und leichter inter-
kurrenter Verwirrtheit. Im weiteren Verlauf steigert sich die Verwirrtheit,
es stellen sich Illusionen ein, die Inkoharenz hebt selbst den Satzzusammen-
hang auf und lasst die sprachlichen Aeusserungen schliesslich als einzeln
aneinander gereihte Worte auftreten. Gleichzeitig entwickelt sich vollstandige
motorische Inkoharenz, die Affektlage ist vorwiegend angstlich und geht m
Ratlosigkeit iiber. Es handelt sich urn einen typischen Fall von Amentia
„ohne cerebrale Reizerscheinungen“ (Meynert), das wesentliche Krankheits-
zeichen ist die Inkoharenz. In seiner Entwicklung und in seinem Verlauf
schliesst sich der Fall eng an die oben beschriebenen Fa lie der akuten hallu-
zinatorischen Paranoia an; es ist aber in diesem Krankheitsbilde die primare
Inkoharenz auch der Dauer nach an erster Stelle zu verzeichnen, wahrend
sie bei jenen nur voriibergehend eintrat oder gar nicht einmal erreicht wurde.
Den Hohepunkt der Entwicklung der Psychose bezeichnet der Zustand
volliger Ratlosigkeit, fehlender sprachlicher und anderer als elementarster
Bewegungsausserungen. Die allgemeine Besserung des Zustandes kiindigt
sich u. a. durch Illusionen und depressiven Gemiitszustand an, auch tritt
leichter Beziehungs- und Beeintrachtigungswahn auf.
5. R. H., 46 Jahre, 18. II.—29. VI. 1909. Amentia.
Die Mutter der Pat. starb durch Suicid. Pat. entwickelte sich normal,
leidet aber seit vielen Jahren an einem Frauenleiden und ist magenkrank;
war wegen Magenleidens ein halhes Jahr (1895) im Krankenhaus, 1904
gynakologische Operation — 4 Wochen im Krankenhause, seitdem stets
unterleibs- und magenkrank. In der letzten Zeit verschlimmerte sich das
(gynakologische) Leiden, die Pat. sollte am 11. d. Mts. operiert werden,
fing an zu toben und irre zu reden; glaubte, nachts Gestaiten zu sehen,
die Kirchenglocken zu horen, wusste die Tageszeit nicht mehr, glaubte, vom
Hause fortgegangen zu sein. Die Pat. soil iiberhaupt vergesslich geworden
sein, leidet an Schwindelanfallen, Erbrechen und Magenschmerzen, soil
langsam nach und nach abgenommen haben, wiegt nur noch 70 Pfund.
19. II. Pat. ist sehr laut, spricht fort wahrend vor sich hin, geht aus
dem Bett, macht einen sehr erschopften Eindruck. Die Exploration ge-
staltet sich sehr schwierig, weil die Pat. die Fragen entweder gar nicht oder
nur unvollkommen auffasst, z. B.: [Wo hier?] Keine Ant wort. [Haus?]
fasst sich an den Kopf. [Jahr?] Keine Ant wort. [Monat?] Dorastr. 12 —
dannrichtig. [Wochentag ?] Seufzt. [Krank ?] Nicht; gibt dann auf eindring-
liches Fragen leidliche Auskunft: sie hatte operiert werden sollen, sei aber
vorher fortgegangen. [Wariun?] ,,Ich wollte doch nicht.“ [Warum ?] „Ich
dachte, mir wiirde der Kopf abgehauen.“ [Warum sollte man das tun?]
Keine Antwort, dann: ,,Das habe ich mir wohl eingebildet.“ [Angst?]
„Nicht, dass man den Kopf abnehmen konnte.“ [Wie darauf gekommen ?]
,,Weil ich so kopfschwach bin, wenn ich liege, kommt mir so viel ein, wenn
ich aufstehe, dann ist mir besser, dann remit das Blut auch nicht so.“ (Pat.
hat tatsachlich blutigen Ausfluss.) Die Pat. berichtet femer, sie argere sich
leicht, sei nachts of ter vor Schreck aufgewacht, habe geschrieen und auf die
Nachbarin geschimpft. Es wird der Pat. die Frage aufgeschrieben, sie best
sie nicht, spricht nur die einzelnen Buchstaben aus. — Als der Arzt an einem
anderen Bette sitzt, tritt Pat. plotzlich auf ihn zu und sagt, sie wolle sich
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474 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
wie ein Hund benehmen; ins Bett zuriickgebracht, liegt sie einen Augenblick
ruhig, walzt sich dann aus dem Bett, kriecht auf alien Vieren im Saale umlier,
murmelt dabei: „Wie ein Hund benehmen.* 4 Ins Bett zuriickgebracht*
murmelt sie noch lange: ,,Wie ein Hund 44 . Abends zerreisst sie mit den
Zahnen das Kissen, lost sich das Haar auf, blickt verstandnislos umher*
antwortet auf alle Fragen verstandnislos Ja oder Nein, spielt hin und wieder
verstandnislos vor sich hin, verlangte zu arbeiten, sie konne nicht so im Bett
liegen.
Die korperliche Untersuchung ergibt einen sehr schlechten Emahrungs-
zustand, femer eine eitrige Cystitis.
20. II. Stumme motorische Unruhe. Befragt, aussert sie einformige
Klagen liber ihre Nachbarin, glaubt sich in der Frauenklinik, ist kaum
zeitfich orientiert, wiederholt stets dieselben Worte: Nachttopf, abge-
schossen.
21. II. Sprachliche Aeusserungen sparlich, auf Fragen keine Ant wort,
Aufforderungen nicht befolgt, motorische Unruhe; presst einen Finger gegen
die Zahne, die Stellung kann nur schwer geandert werden.
22. II. Keine spachlichen Aeusserungen, versucht, aus dem Bett
zu gehen, nimmt stereotype Stellungen ein: Knieellenbogenlage, Grimassen-
schneiden, Kopfstehen u. s. w. — Muss gefiittert werden. Halt sich mit
beiden Handen die Jack© so fest um den Hals, dass sie ganz blau im Gesicht
wird.
23. II. Auf Fragen keine Ant wort, sieht nur den Arzt starr an*
katatonische Stellung: Zunge weit aus dem Munde vorgestreckt, offene
Augen. Stirn gerunzelt; dann fasst Pat. mit der linken Hand die Zunge und
halt sie starr fest. Auch noch andere katatonische Stellungen.
24. II. Aeusserungen sparlich, noch immer katatonische Stellungen.
Steckt den Finger in den After und dann in den Mund.
27. II. Zustand unverandert. Pat. liegt mit gespanntem Oesichts-
ausdruck stohnend im Bett . Aufforderung, die Zunge zu zeigen, schliesslich
doch befolgt. [Krank?] „Ja.“ [Schmerzen?] ,,Nein.“ Weiter keine
verstandliche Antwort.
1. III. Halt den vierten Finger im Munde, so dass tiefe Furchen
entstehen Sehr angstlicher Gesichtsausdruck.
3. III. [Wo hier ?] Stohnt dauemd vor sich hin. — Keine Antwort^
[Wer ich?l Zeigt die Zunge. Keine sprachliche Aeusserung.
8. III. Fortgesetzt weinerliches Verhalten, stosst jammemde Laute
hervor. Einnassen.
14. III. In der Nacht fortgesetzt unruhiges Verhalten. Pat. hockt
im Bett, sieht mit schmerzlich verzogenem Gesicht unruhig umher, stohnt
und seufzt.
17. III. Strebt aus dem Bett, fortgesetztes lautes Stohnen.
19. III. Keine stereotypen Stellungen. Vielfach weinerlich, ge-
legentlich auch Lachen, bezeichnet heute eine neue Pat. bei ihrem Eintritt
als „alte Sau 44 .
20. III. Gelegentliches Lachen, aussert dabei: „Es tut mir leid.‘ c
Keine Aufklarung.
23. III. Pat. behalt die Bissen lange im Mund. Vereinzelte sprach¬
liche Aeusserungen, z. B. ,,es bleibt immer so im Halse stecken 44 .
27. III. Pat. ist sehr erregt, raumt das Bett aus, ruft: „Schlachtet
mich,“ das Herz solle ihr herausgeschnitten werden, sie wolle sterben.
„Ich bin ein Bar, 44 of ter wiederholt. •-
29. III. Stohnt und jarnmert viel. Auf Fragen keine Antwort.
Aufforderungen werden nicht befolgt.
30. III. Spuckt viel. Verunreinigung.
1. IV. In der Nacht lautes Schreien: Schlachten liesse sie sich nicht*
auch nicht verbrennen, die Polizei solle kommen, sie habe kein Geld und
konne daher nichts machen. Bei Annaherung des Personals aggressiv:
kratzt und beisst.
Auf einfache Fragen bewegt Pat. die Lippen, bringt aber keinen Ton
hervor. Die Auffordervmg, die Hand zu geben, wird befolgt.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
475
8. IV. Kniet nieder, hat den Kopf maximal nach hinten gebeugt,
blickt nach oben wie znm Gebet. Angeredet, bringt die Pat. eine Reihe
unverstandlicher Laute hervor.
14. IV. Standig grosse Angst. Nachts steht sie aufrecht im Bett
und wimmert laut. Keine sprachlichen Aeusserungen. Rief am Morgen
fortwahrend nach der Feuerwehr. Weint laut ohne Tranen, murmelt fort¬
wahrend vor sich hin, meist unverstandliche Worte. „Bin ich denn so ver-
wurzelt . . . ich weiss ja gar nicht, was ich bin . . . ich weiss gar nicht,
was ich machen soU . . . [Angst?] „Ja.“ [Wovor?] Keine Antwort.
Aufgefordert, die Hand zu geben, bewegt die Pat. langsam die Hand in der
Richtung auf die dargebotene Hand, bleibt aber mitten in der Bewegung
stecken.
16. IV. Jammert viel, keine verstandlichen sprachlichen Aeusserungen.
21. IV. Unruhig, zerreisst die Decke, verkannte eine Pflegerin.
Fortwahrendes Jammem, liess Kot unter sich, wiederholte heute standig
das Wort Feuerwehr.
26. IV. Sondenfutterung.
I. V. Aengstlich und schmerzvoll verzogenes Gesicht, viel Seufzen,
will aus dem Bett, Einnassen, keine sprachlichen Aeusserungen.
7. V. Steht aufrecht im Bett, wimmert mit gramvoll angstlieh vor-
zerrtem Gesicht.
10. V. Sehr unruhig, wimmert, spuckt. Orientierungsfragen werden
nicht beantwortet.
II. V. Dasselbe Verhalten. Am Abend stosst die Pat. plotzlich eine
Reihe unartikulierter Laute aus, etwa wie: pi, pa, po klingend. — Durchfalle.
17. V. Heute wieder wie ein Hund gebellt. Unregelmassiger Stuhlgang.
25. V. Ausgesprochene Zitterbewegungen im ganzen Korper, dabei
lautes Stohnen.
5. VI. Sitzt zusammengekauert in ihrem Bett, redet nicht, reagiert
auf keinen Anruf.
7. VI. Pat. hat heute gelacht; sagt zu einem Besucher: „Junger
Mann, mit Ihnen habe ich noch zu sprechen, 44 erzahlt von Westpreussen:
„Sie waren dort tot. 44 [Wer ?] Die Schwester, ,,dass es sich darum handelt,
habe ich nicht gewusst. 44 [Um was?] Keine Antwort.
11. VI. War in der Nacht sehr unruhig, zog sich fortwahrend nackt
aus; sagte zur War ter in, sie solle ihr das Kopf kissen nicht so ,,rumschmeissen‘ 4 ,
verlangte nachHause, zeigte auf dieFenster und meinte, sie waren so schwarz:
„Da sieht man doch keinen Menschen. 44 Heute morgen wieder aufrecht im
Bett, weinend und monoton stohnend. Bisweilen murmelt sie unverstandliche
Worte vor sich hin. Auf Fragen keine Antwort. Verlasst plotzlich das Bett
und lauft ziellos im Zimmer auf und ab.
12. VI. Vorwiegend stumme Erregung, spricht- zum Arzt unter
grinsendem Lachen einige unverstandliche Worte.
14. VI. Weint und jammert bestandig. Seit zwei Tagen keine
sprachlichen Aeusserungen.
15. VI. TWarum jammern ?] Pat. fangt Satze an, bringt sie aber nicht
zu Ende. Einzelne Worte kaum verstandlich.
18. VI. Hat heute morgen zum erstenmal sich selbst gewaschen und
zurechtgemacht. Isst gierig. nimmt die Schiissel mit Reis und verschlingt
ihn, ohne den Loffel zu benutzen.— Fortgesetztes Jammern und Weinen, auf
Fragen unverstandliches Gemurmel.
19. VI. Keine Durchfalle mehr.
21. VI. „Wo bin ich denn hier, bin ich denn im Siechenhause, ich
will raus. 44
23. VI. Vereinzelte artikulierte, aber unverstandliche Laute.
24. VI. Verhalten unverandert. Wieder Durchfall.
27. VI. Fasst sich heute unter windenden Bewegungen krampfhaft
in den Riicken und jammert dabei unartikuliert.
Pat. wird nach B. ubergefuhrt.
Der vorliegende Fall gehort zu den echten Erschopfungspsychosen,
auch ist als atiologisehes Moment die Gennitsbewegung (Furcht vor der
Operation) nicht zu iibersehen. Im Verlauf ist bemerkenswert, dass das
Monatsschrift fiir Psychiatric und Xcuroloaie. Bd. XXVII. Heft .5. 32
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476
S a n o , Beitrag zur vergleiohenden Anatomie
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paranoisch inkoharente erste Stadium allmahlich in ein depressiv inko-
harentes iibergeht. Als femerhin fortwirkendes erechopfendes Moment
treten Darmstorimgen (Durchfalle) auf.
Ausser der Depression, die sich im Gebahren der Patientin, weniger
in klaren Vorstellungen aussert, ausser der Inkoharenz, die ebenfalls sich
am auffallendsten im motorischen Verhalten der Pat. aussert, konstatieren
wir neu auftretende fliichtige Wahnvorstellungen und Halluzinationen.
Es handelt sich um einen Fall von Amentia im Sinn Meynerts , der
der inkoharenten Varietat der akuten Paranoia im Sinne Ziehens durchaus
entspricht. Die Prognose hangt wohl in erster Linie von dem zugrunde
liegenden Erschopfungszustande ab. (Fortsetzung im nachsten Heft.)
(Aus dem anatomischen Laboratorium der psychiatrischen und Nerven-
klinik der Charity Geh. Rat Prof. Ziehen .)
Beitrag zur vergleiohenden Anatomie der Substantia nigra,
des Corpus Luysii und der Zona incerta.
Von
Dr. TORATA SANO.
(Hierau Taf. XXVII—XXIX.)
(Fortsetzung.)
4. Katze.
Der Schnitt 112 2 (vergl. Fig. 21) schneidet ventral das vordere
Briickenfiinftel.
Die Substantia nigra ist bereits seit wenigstens 20 Objekt-
tragem in ihren allerersten Anfangen sichtbar. Sie entwickelt sich
ganz unabhangig vom Briickengrau, aber in engem Zusammen-
hang mit dem Grau, in welches die laterale Schleife eingebettet
ist. Sie stellt sich als ein ventromedialer Fortsatz dieses Graues
dar und liegt zwischen der medialen Schleife und den bei der Katze
sehr gut entwickelten Sukkursbiindeln der Briicke zur medialen
Schleife. Auf dem Objekttrager 112 reicht die Substantia nigra
als schmaler retikulierter Korper bereits bis etwas zur Halfte des
lateralen Areals der medialen Schleife. Ihre Dicke betragt 0,1 m.
Ihr Grau hangt mit dem Grau der Haube vermittelst der den
Lemniscus medialis quer durchsetzenden Streifen grauer Substanz
zusammen (Vgr).
Das auf der Figur mit mm Sch bezeichnete Areal verhalt sich
ganz ahnlich wie bei Lemur. Es ist auf dem Objekttrager 73 schon
ganz deutlich zu sehen, auf dem Objekttrager 85 findet es sich ganz
in der Nahe der Pyramide. Verfolgt man es cerebralwarts, so ergibt
sich, dass ein ventrolateraler Teil seiner Biindel in seiner Lage
bleibt und schliesslich dem Fusse einverleibt wird, also im Sinne
der Fasciculi pontini mediates, wahrend der Hauptteil des medialen
Areals immer weiter dorsal riickt und auf dem Objekttrager 124
schon von dem Fuss durch einen grauen Streifen (s. unten) ge-
trennt wird.
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der Substantia nigra, dee Corpus Luysii und der Zona incerta. 477
Die auf Fig. 21 mit Fpl bezeichnete Bundelgruppe findet rich
auf dem Objekttrager 103 noch ganz im Bereich des lateralen Areale
der medialen Schleife. Sie grenzt sich dadurch ab, dass Balken
grauer Substanz einzelne Bundelquerschnitte des lateralen Areals
der medialen Schleife abschniiren. Cerebralwarts trennt sie sich
vollstandig vom lateralen Areal der medialen Schleife und wird
dem Fusse einverleibt. Es handelt sich also um die Fasciculi
pontini laterales.
Was die Schicht S des Macacus anlangt, so ergibt sich bei der
Katze folgendes. Die mediale Schleife zerfallt auch hier in zwei
Areale, das laterals Areal der medialen Schleife lm Sch und das
mediale Areal der medialen Schleife mm Sch, die in distaleren
Ebenen durch eine breite Briicke verbunden sind. Cerebralwarts
wird dieser Verbindungsstreifen S allmahlich faserarmer, so dass
er z. B. auf Objekttrager 105 fast ganz auf einige transversal ver-
laufende Biindel beschrankt ist. Auf den folgenden Schnitten sieht
man deutlich, dass die Fasern des Verbindungsstreifens sioh
grosstenteils der Vordervierhiigelschleife zugesellen. Dahingestellt
muss bleiben, ob einige Biindelchen ahnlich wie bei dem Macacus
an Ort und Stelle bleiben, bezw. ventral sich verschieben und in
das Fussareal gelangen.
Das Feld M ist nicht deutlich abzugrenzen. Die Fasern
bei LI scheinen Nachzugler der lateralen Schleife zu sein, welche
sich der medialen Schleife zugesellen.
Der Schnitt \2A x (vergl. Fig. 22) schneidet ventral das vordere
Briickensiebentel.
Die Substantia nigra ist grosser geworden, ihre Dicke betragt
0,7 mm; sie erstreckt sich jetzt als ein schmaler Nahtstreifen
am ventralen Rande der medialen Schleife entlang und iiber diese
hinweg bis zur Substantia perforata posterior.
Im einzelnen ist hier noch folgendes zu bemerken. Schon
auf dem Objekttrager 104 hat der mediale Briickenzapfen nach
beiden Seiten einen dorsolateralen grauen Fortsatz ausgeschickt.
der als schmaler Nahtstreifen anfangs undeutlich, spater sehr
deutlich sich zwischen den medialen Teil der medialen Schleife
und das sich formierende Fussareal sowie die in diesem ver-
laufenden Bruckenfasem einschiebt. Dieser Nahtstreifen hangt
urspriinglich mit der Substantia nigra nicht zusammen. Erst auf
Objekttrager 120 setzt er sich mit der Substantia nigra in Ver-
bindung und kann nunmehr als ein integrierender Ted derselben
betrachtet werden. Noch auf Objekttrager 124 (Fig. 22) ist die
Zusammensetzung der Substantia nigra aus diesen beiden Bestand-
teilen leicht zu erkennen, da das Grau der Substantia nigra an der
Stelle, wo die Verbindung der beiden Abschnitte erfolgt ist, noch
sehr schmachtig ist. Auf der Figur ist diese Stelle durch zwei
Kreuze bezeichnet. Der mediale Nahtstreifen ist mit Mn be-
zeichnet.
Eine weitere, ebenso wichtige Beziehung der Substantia nigra
ergibt sich aus der folgenden Beobachtung. Wahrend auf Objekt¬
trager 112 innerhalb des gesamten Areals der medialen Schleife
32*
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478 Saup, Beitrag zur vergleichenden Anatomie
fast keine graue Substanz eingestreut war, hat sich dies auf den
folgenden Schnitten geandert. Schon auf Objekttrager 113 sieht
man zahlreiche Balken grauer Substanz, welche aus der Substantia
nigra entspringen, das laterale Gebiet der medialen Schleife und
die Verbindungsbriicke S der beiden Areale der medialen Schleife
durcbsetzen und in das Grau der Haube dorsal von der medialen
Schleife einmiinden. Besonders stark sind diese grauen Balken
auf Objekttrager 124 im Bereich der ehemaligen Verbindungs-
briicke der beiden Areale der medialen Schleife. Sie stehen hier
mit einer machtigen grauen Masse in Verbindung, die unmittelbar
dorsal vom lateralen Areal der medialen Schleife gelegen ist und
wahrscheinlich zu dem Kern der medialen Schleife zu rechnen ist,
wie ihn Ziehen 1 ) z. B. fur den Igel beschrieben hat (Nucleus lemnisci
mediahs). Durch dieses dichte Balkenwerk werden die iibrig
bleibenden Biindel des Mittelteils der medialen Schleife geradezu
abgeschniirt und in graue Substanz eingebettet. Es handelt sich
dabei um dieselben Biindel, von welchen oben angegeben wurde,
dass sie grosstenteils der Vordervierhiigelschleife nachziehen.
Der dorsale Abschnitt der Substantia nigra besteht im wesent-
lichen aus kompakter grauer Substanz; der ventrale Abschnitt,
insbesondere die laterale Partie desselben, zeigt viele quergetroffene
Biindel, so dass man schon hier die Zona compacta substantiae
nigrae und die Zona reticulata substantiae nigrae ziemhch gut
unterscheiden kann. Uebrigens sieht man auch in der Zona com¬
pacta ziemlich zahlreiche kleine, schraggeschnittene Biindelchen,
die in ihrem weiteren Verlaufe sich der Vordervierhiigelschleife
zugesellen. Verfolgt man die Serie in spinaler Richtung, so wird es
sehr wahrscheinlich, dass diese Biindelchen das Gebiet der Sub¬
stantia nigra durchsetzen und schliesshch spinalwarts samtlich
oder grosstenteils in das Fuss- bezw. Briickenareal iibergehen.
Sie bieten insofern grosses Interesse, als bei niederen Saugem diese
zerstreuten Biindelchen zu einem machtigen, von Ziehen genauer
beschriebenen Faserzug vereinigt sind.
Im Bereich des Feldes M zeigt sich hier eine langliche Vor-
wblbung M'. Sie ist vom Fuss durch eine Einschniirung getrennt 2 ).
Man sieht eine ziemlich machtige Gruppe von Biindelquerschnitten
innerhalb dieses Korpers, die auf der Figur mit Fpl’ bezeichnet ist.
Diese Biindelgruppe stammt ebenso wie die lateralen pontinen
Biindel aus dem lateralen Areal der medialen Schleife und wird
schliesshch weiter cerebralwarts dem Fuss einverleibt, aber sie
bleibt immer von den lateralen pontinen Biindeln und dem Fuss
ganz getrennt; cerebralwarts riickt sie mehr und mehr medialwarts
und bleibt stets weit dorsal von den lateralen pontinen Biindeln zu
sehen (vergl. die folgenden Figuren).
Dorsal von M' findet sich ein grosses graues Feld, welches
wohl noch dem Feld M entspricht. Dieses Feld geht allmahlich
•) Ziehen, Th., Das Zcntralnervensystem der Monotrernen und Marsu-
pialier. 4. Band. S. 9UG.
*) Die Beziehung zu dem Corpus parabigenum wird spater erdrtert
werden.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 479
in das diffuse Grau der dorsolateralen Haubenpartie xiber. Die
Substantia nigra hangt mit M' und M zusammen.
Der Schnitt 134 (vergl. Fig. 23) schneidet ventral die Bindearm-
kreuzung und den vorderen Ponsrand.
Die Substantia nigra hat sich noch weiter medial ausgedehnt;
ihre Dicke betragt 2,2 mm; sie hangt mit der Substantia perforata
posterior bezw. dem hier bereits eben unterscheidbarenPedamentum
laterale unterhalb des Pedunculus corporis mamillaris zusammen.
Lateral ist sie breiter als medial.
Die Zona compacta nimmt jetzt die ganze Breite der dorsalen
Partie der Substantia nigra und ungefahr die medialen zwei Drittel
der iibrigen Partien der Substantia nigra ein. Aus der medialen
Partie, und zwar dem dorsalen Teil, biegen zahlreiche Fasem in das
Feld des Pedunculus corporis mamillaris ein. Sie stellen das Biindel
der Substantia nigra 1 ) zum Pedunculus corporis mamillaris dar.
Die Fasergeflechte, die den Geflechten D 1 und D m der anderen
Tiere entsprechen, sind deuthch differenziert. Das Geflecht D'
zeigt sich schon auf dem Objekttrager 126, das Geflecht D m erst
auf diesem Schnitte. Die Fibrae efferentes tecti dringen massenhaft
in die Substantia nigra ein, ein Teil derselben gelangt bis zum
Fuss, wahrend ein anderer Teil sich schon innerhalb der Zona
compacta substantiae nigrae zu verlieren scheint; ein Zusammen-
hang dieser efferenten Fasem mit den Geflechten D 1 und D m ist
wahrscheinlich.
Die ventrale Partie der Substantia nigra, die noch deutlicher
retikuliert erscheint als friiher, zeigt zwei abgrenzbare Biindel-
gmppen: die lateralen pontinen Biindel und die auf der Figur mit
C bezeichnete Gruppe.
Die Biindelgruppe Fpl’ ist viel medialer geriickt, so dass sie
dem Geflecht D 1 benachbart ist.
Das Pedamentum laterale ist von der Substantia nigra nicht
scharf zu trennen.
Lateral von dem kaum noch erkennbaren Feld M findet sich
ein ovales Feld von Biindelquerschnitten, welches wohl schon fast
ganz dem Brachium quadrigeminum posterius angehort. Die Vor-
wolbung am Rand ist hier wohl sicher als Corpus parabigeminumauf-
zufassen. Es ist nicht uninteressant, seine Fasem zu verfolgen. Auf
distaleren Ebenen, z. B. auf Objekttrager 114, ist der von Hatschek 2 )
beschriebene Faserzug v nach den Briickenkemen ziemlich deuthch
zu sehen. Cerebralwarts sind die Faserziige d und m desselben
Autors deutlich zu sehen, der erstere z. B. auf Objekttrager 124
und der letztere z. B. auf Objekttrager 130, 134, wenn beide auch
nicht so machtig entwickelt sind, wie der genannte Autor sie fur
das Schwein abgebildet hat.
Der Schnitt 146 (vergl. Fig. 24) trifft ventral den roten Kern
in seiner vollen Entwicklung.
*) Damit soli durchaus nicht etwa schon gesagt sein, dass das Biindel
in der Substantia nigra enispringt.
*) HaUchek,R .,Bemerkungen iiber das ventraleHaubenfeld, die mediale
Schleife und den Aufbau der Briicke. Arbeiten aus dem neurologischen
fnstitut der Wiener Universitat. 1904. Bd. XI. S. 141—144.
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480 S a n o , Beitrag zur vergleichenden Anatomic
Die Substantia nigra hat sich noch mehr verbreitert. Ihre
Dicke betragt 2,8 mm.
Die Zona compacta zeigt das machtiger entwickelte Geflecht
DJ. Das Geflecht D m zeigt mehr dorsoventral verlaufende, deuthch
aus der Haube stammende Fasem. Beide Geflechte sind nicht
scharf getrennt. Der Zusammenhang des Geflechtes D 1 mit den
Fibrae efferentes tecti ist auch hier deuthch.
Das Bundel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis
mamillari8 ist bereits viel schwacher geworden. Ein Zusammen¬
hang mit den Fibrae efferentes tecti ist fur die Katze schwer nach-
zuweisen.
Man sieht auf diesem Schnitt viele Fibrae efferentes tecti
und vielleicht auch Fasern aus dem roten Kern in den medialen
und mittleren Fussteil eintreten; einzelne dieser Fasem erinnern
an das Biischel K von Lemur. Die GanglienzeUansammlung K' von
Lemur ist nicht sicher nachzuweisen.
Der laterale Teil des Fusses ist im Vergleich zu Macacus
und Lemur relativ schwach entwickelt. Dementsprechend ist der
Prooessus lateralis substantia nigrae kaum zu sehen.
Das Pedamentum laterale ist viel breiter geworden.
Das Corpus parabigeminum hat sich inzwischen erheblich
ventralwarts verschoben, so dass es jetzt der ventralen Flache
des lateralen Fussfiinftels angelagert ist. Es besteht nur noch aus
sparlicher grauer Substanz, die allenthalben von dorsalwarts auf-
strebenden Fasern umgeben ist. Man sieht diese letzteren sich
schliesslich cerebralwarts in der Nische sammeln, welche zwischen
dem Corpus geniculatum mediate und dem Fuss liegt und friiher
von dem Corpus parabigeminum eingenommen wurde. und deren
Grau wir kurz provisorisch als Nischenfeld bezeichnen wollen 1 ).
Die Biindelgruppe Fpl' steht zu diesem Feld nicht mehr in
Beziehung. Sie ist bereits fast durch die halbe Breite der Sub¬
stantia nigra von ihm getrennt. Hingegen sieht man noch immer
einzelne Bundel aus der Zona reticulata substantiae nigrae dem
Nischenfeld zustreben.
Schnitt 159 2 (nicht abgebildet) schneidet ventral die Wurzel-
biindel des Oculomotorius und den roten Kern. Die Substantia
nigra ist noch grosser geworden. Ihre Dicke betragt 3,8 mm.
Sie stbs8t an das sehr breite Pedamentum laterale. Die Grenze
zwischen beiden ist ganz unscharf. Die Zona compacta ist sehr
breit, sie nimmt fast vier Funftel der Substantia nigra ein. Das
Geflecht D 1 ist noch machtig, wahrend das Geflecht D m sich nicht
mehr deutlich abhebt. Die Zona compacta zeigt in ihrer lateralen
Partie Fasern in grosserer Anzahl, welche anscheinend aus dem
Geflecht D 1 durch den Fuss ziehen, um sich in der Nahe des
Spitzkaschen Biindels zu verlieren.
Im allgemeinen ist die Substantia nigra faserarmer. In der
lateralen Partie dorsal vom Geflecht D 1 sieht man eine Gruppe
schief oder quer getroffener Bundel, die mit P bezeichnet werden
soil. Diese Biindelgruppe, deren Zugehorigkeit nicht klar ist,
*) Die in Betracht kommende 8 telle ist schon hier mit Nf bezeichnet.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 481
entspricht wohl nicht dem Biindel Q der seither besprochenen
Tiere. A us der Verfolgung der vorhergegangenen Schnitte ergibfc
sich vielmehr folgendes. Diese Biindelgruppe wird zuerst sicht-
bar auf Objekttrager 150. Sie zweigt sich hier lateralwarts von dem
lateralen Areal der medialen Schleife ab und gelangt in die Nahe
des Feldes M. Viel schwieriger ist die Verfolgung der Biindel
in cerebraler Richtung. Es scheint, dass sie sich dem sparlichen
Faserreste des Hintervierhiigelarms anschliessen, welcher zwischen
der Haube und dem Corpus geniculatum mediale noch eingekeilt ist.
Ich kann jedoch nicht ausschliessen, dass die Fasern hier samtlicli
oder teilweise zunachst eine Unterbrechung in Ganglienzellen er-
fahren.
Die Biindelgruppe Fpl' findet sich jetzt ventral von D 1 und
fast in der Mitte der lateralen Partie der Substantia nigra.
Ventral vom roten Kern sieht man erst hier eine schmale Zone
von dorsolateral verlaufenden Fasern, die der halbmondformigen
Schicht der bisher besprochenen Tiere entspricht.
Ein Faserzug, der dem friiher beschriebenen Zug B entspricht,
ist nicht isoliert zu sehen.
Eine zellarme Schicht ventral von der halbmondformigen
Schicht, die der zellarmen Schicht der anderen Tiere entspricht,
ist vorhanden.
Die Zona reticulata substantiae nigrae tritt ganz zuriick. Der
Processus lateralis ist hier ziemlich gut entwickelt.
Das Spitzkasche Biindel ist machtig entwickelt.
Das Corpus parabigeminum ist zuletzt auf Objekttrager 153
zu sehen gewesen und war bis zum Verechwinden stets der ven-
tralen Flache des lateralen Fussteils angelagert. Inzwischen sind
in dem ,,Nischenfeld“ bemerkenswerte Veranderungen eingetreten.
Aus den Fasern, welche das Corpus parabigeminum dorsalwarts
sendet, zum Teil wohl auch aus Fasern, die aus der Substantia
nigra stammen, hat sich ein Faserareal formiert, welches sich dem
lateralen Pol des Fusses dorsolateral anschliesst, aber von ihm
durch graue Substanz getrennt wird, welche z. T. als Substantia
reticulata lateralis pedis aufzufassen ist, z. T. au6h zu dem
noch zu besprechenden Feld F gehort. Die Substantia reticulata
lateralis pedis hangt hier unmittelbar mit der Substantia nigra
zusammen. Dieses neue Faserareal soli auch weiter noch als
Nischenfeld bezeichnet werden. Dorsal grenzt es unmittelbar an
das Corpus geniculatum mediale.
Das Feld M lasst sich weder gegen die Substantia reticulata
lateralis pedis noch gegen die Substantia nigra scharf abgrenzen.
Von der Substantia reticulata lateralis pedis mochte ich noch
ein grosses Feld F abtrennen, das eng mit der Substantia reticulata
lateralis pedis zusammenhangt. Es wird ventrolateral vom Spitzka-
schen Biindel und medial vom Fuss begrenzt und geht ohne scharfe
Grenze in die Substantia reticulata lateralis pedis iiber. Wenn
man dieses Feld spinalwarts verfolgt, so ergibt sich, dass es etwa
auf Objekttrager 140 zuerst auftritt, und zwar in Verbindung
einerseits mit dem Processus lateralis substantiae nigrae und
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482
Sano, Beitrag zur vergieichenden Anatomie
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andererseits mit dem Corpus parabigeminum. Je mehr letzteres sich
ventromedial verschiebt und je zahlreicher die Fasem des Spitzka-
schen Biindels werden, umsomehr trennt das Feld F sich vom
Corpus parabigeminum. Auch von dem Processus lateralis sub¬
stantia nigrae sondert es sich nach und nach ab, indem ein Teil
des Fussareals sich zwischen beiden einschiebt.
Der Schnitt 171 2 (vergl. Fig. 25), welcher ventral das cerebrale
Drittel des roten Kerns schneidet, veranschaulicht alle diese Ver-
haltnisse.
Die Substantia nigra hat sich im lateralen Teil stark aus-
gedehnt, zugleich ist die mediale Schleife stark dorsalwarts geriickt.
Die Dicke der Substantia nigra betragt 2,7 mm.
Die Zona reticulata substantiae nigrae tritt etwas zuriick.
Der Processus lateralis ist angedeutet. Die Biindelgruppe Fpl ist
stark reduziert und zum Teil dem Fuss einverleibt. Hingegen zeigt
die Biindelgruppe Fpl’ eine kompaktere Anordnung. Sie liegt
noch ganz im Bereich der Zona compacta substantiae nigrae,
ist aber dem Fuss naher geriickt.
Von der Gegend ventral vom roten Kern zieht ein schwacher
Faserzug (zuerst auf Objekttrager 165) lateralwarts bis zur Gegend
des Geflechtes D 1 . Auf der Figur ist er mit dem Buchstaben Y
bezeichnet.
Ein anderer, etwas schwacherer Faserzug T, der in Bezug auf
die Lage und Richtung einem schon bei den seither besprochenen
Tieren beschriebenen, und zwar beim Menschen am machtigsten
entwickelten Faserzug entspricht, zweigt sich ventrolateral im
spitzen Winkel anscheinend von Y ab.
Ein ausserst unscharf begrenztes Feld Zi dorsolateral von
diesem letzteren Faserzug ist wohl als Vorlaufer der Zona incerta
aufzufassen und entspricht dem dorsalen Abschnitt des haken-
formigen Feldes der seither besprochenen Tiere.
Uebrigens zeigt die laterale Partie der Substantia nigra jetzt
einen starkenFaserreichtum,namentlich haben die oben erwahnten,
in den Hirnschenkelfuss fast senkrecht eindringenden und in die
Nahe des Spitzkaschen Biindels gelangenden Fasem noch sehr an
Zahl zugenommen.
Das Biindel der Substantia nigra zum Pedunculus corporis
mamillaris ist verschwunden, der Pedunculus corporis mamillaris
ist auf dem Maximum seiner Entwicklung. Das Pedamentum
laterale tritt etwas zuriick.
Die halbmondformige Schicht ist breiter geworden, ihre Fasem
ziehen anscheinend zum Teil in die Hatscheksche Kreuzung.
An der medialen Seite des Fusses ziehen die Fasem des Tractus
peduncularis transversus zwischen der medialsten Partie des Fusses
und dem Pedamentum laterale hindurch, um sich in der Zona
compacta zu verlieren. Dazu gesellen sich Fasem, die aus dem Pe¬
damentum laterale stammen. Die ersten Fasem des Tractus
peduncularis transversus werden auf Objekttrager 166 sichtbar.
Das graue Feld F hat an Ausdehnung zugenommen. Dorsal
geht es noch immer in die Substantia reticulata lateralis pedis iiber,
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona inci-rta. 483
lateral wird es jetzt nicht nur von dem Spitzkaschen Biindel,
sondern auch von einem Teil des Fusses begrenzt, der sich all-
mahlich zwischen das Feld F und das Spitzkasche Biindel einge-
schoben hat. Das Nischenfeld ist jetzt mit diesem lateral vom Feld F
gelegenen Fussabschnitt verschmolzen.
Die Substantia reticulata lateralis pedis findet sich wie friiher
dorsal vom Feld F. Die eben erwahnten beiden Areale werden von
Fasem aus der Gegend der medialen Markkapsel des Corpus
geniculatum mediale 1 ) und von Fasem des Faserzugs T durchsetzt,
die sich in der Nahe des Spitzkaschen Biindels verlieren.
Das Feld M ist seit Objekttrager 164 vollkommen ver-
schwunden.
Der Schnitt 176 (vergl. Fig. 26) schneidet ventral den spinalsten
Teil des Fasciculus retroflexus.
Die Substantia nigra ist etwas kleiner geworden. Ihre Dicke
betragt 2,2 mm. Die Zona compacta ist in der lateralen Partie
schon kaum mehr zu erkennen, in der medialen Partie hingegen
noch ziemlich gut entwickelt.
Der Tractus peduncularis transversus ist sehr faserarm ge¬
worden. In proximaleren Ebenen sieht man seine Fasem langs-
getroffen ventral vom Spitzkaschen Biindel liegen und strecken-
weise mit ihm verlaufen.
Der Faserzug Y ist machtiger geworden. Er besteht jetzt
zum Teil aus Fasem der halbmondformigen Schicht. Der Faserzug T
ist jetzt ebenso machtig als Y. Seine Fasern ziehen in das Feld F
und die lateral davon gelegene Fusspartie.
Ein Faserzug aus dem Corpus geniculatum mediale gesellt sich
anscheinend demFaserzugT in seinem dorsalen Teile zu. Die Fasem
dieses Zuges, den ich als T' bezeichnen will, ziehen weiterhin dem
Zug Y parallel und entziehen sich der Verfolgung.
Die Fasem, die friiher in grosser Anzahl von der Gegend des
Geflechtes D 1 her den Fuss senkrecht durchbrachen, sind jetzt
grosstenteils medialwarts geriickt und stellen jetzt einen Faserzug
dar, der wieder an das Biischel K erinnert. Die Fasern hangen
sicherwenigstens teihveise mitdenFibrae efferentes tecti zusammen.
Trotz der machtigen Entwicklung des Biischels K ist es schwer,
die Ganglienzellenansammlung, K' der anderen Tiere, zu finden.
Man sieht ferner auch, dass wenigstens ein Teil dieser Fasern
aus dem roten Kern stammt. Das Feld O ist hier wie auch schon
auf der letzten Figur gut ausgepragt, allerdings aber von K schwer
zu trennen.
In der Zona reticulata sieht man den Processus lateralis noch
undeutlicher als im vorigen Schnitte. Die Biindelgruppe Fpl ; ist
noch kompakter als friiher und liegt jetzt unmittelbar dorsal vom
Fuss neben dem kleinen Rest der Biindelgruppe Fpl, d. h. den
lateralen pontinen Biindeln.
Die Zerblatterung des mittleren Teils des Fusses, die sich schon
auf Objekttrager 174 bemerkbar machte, ist auf diesem Schnitt(l 76*
l ) Von dem Corpus geniculatum mediale ist bei Cgm nur eben die
medioventrale Ecke noch getroffen.
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484 Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie
noch deutlicher geworden. Die A-Felder sind zwischen den Biindeln
des Fusses zu sehen. Sie stellen streifige Felder ventral vom
Processus lateralis dar und hangen mit dessen Grau zusammen.
Das graue Feld F geht jetzt einerseits in das Grau der Sub¬
stantia nigra, andererseits in das Grau dorsal vom lateralsten
Fussteil iiber. Letzteres ist nicht zur Substantia nigra zu rechnen,
sondern stellt eine graue Verbindungsstrasse zwischen der Sub¬
stantia nigra und dem Corpus geniculatum mediale dar. Spinal-
warts verschmilzt es ganz mit dem Corpus geniculatum mediale,
cerebralwarts geht es in das Grau der Gitterschicht iiber. Die
Substantia reticulata lateralis pedis ist, wenn man das Feld F
nicht zu ihr rechnet, mit Schnitt 175 verschwunden.
Der Schnitt 181 2 (vergl. Fig. 27) schneidet die Commissura
posterior und das Meynerts che Biindel.
Die Substantia nigra ist kleiner geworden. Ihre Dicke betragt
2,0 mm. Die Zona reticulata tritt stark zuriick. Die Biindelgruppe C
ist nicht mehr zu erkennen. Die lateralen pontinen Biindel sind
dem Fuss fast ganz einverleibt. Die jetzt ausserst kompakte Biindel-
gruppe Fpl' ist nun ebenfalls im Begriff, in den Fuss einzutreten.
Die Zerblatterung der mittleren Fusspartie und die A-Felder
verhalten sich wie friiher.
Die Zona incerta hat sich jetzt vergrossert. Sie wird durch
den Faserzug T von der Substantia nigra und durch den Faserzug T'
vom ventralen Grau des Corpus geniculatum mediale, an dessen
Stelle spater der ventrale Thalamuskern tritt, getrennt.
Man sieht deutlich, dass die Fasem des Feldes Y in grosser
Zahl durch die halbmondformige Schicht ziehen oder in ihr enden.
Der Tractus peduncularis transversus ist nur an dem
medialsten Fussrand andeutungsweisc zu sehen.
Das graue Feld F, das etwas kleiner geworden ist und wie
immer im Bereich der grossen Kerbe des ventralen Fussrandes
liegt, geht in das Grenzgebiet, wo die Zona incerta und die Gitter-
schicht mit einander zusammenfliessen, iiber.
Das Pedamentum laterale ist noch ziemhch breit.
Auf Schnitt 186 1 (nicht abgebildet), der ventral den spinalsten
Teil des Corpus mamillare schneidet, ist die Substantia nigra medial
noch ziemhch breit; im Bereich des mittleren Fussteils hingegen.
der auffalhg breit sich ventral und dorsahvarts vorwolbt, ist sie
sehr schmal; die lateralste Partie der Substantia nigra ist schon
verschwunden. Ihre Dicke betragt 1,6 mm. Eine Zona compacta
und eine Zona reticulata lassen sich kaum mehr unterscheiden,
nur in der medialsten Partie kann man noch einen Rest der friiheren
Retikulation sehen.
Die lateralen pontinen Biindel sind ganz mit dem Fuss ver-
schmolzen. Von der Biindelgruppe Fpl' bleiben noch 1—2 Biindel,
die im Begriff sind, ebenfalls in den Fuss einzutreten.
Das Feld Y hat sich mehr und mehr verdichtet und liegt der
Gitterschicht ventral an. Es enthalt:
1. Fasem der medialen Schleife,
2. Stabkranzfasern des Corpus geniculatum mediale,
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des Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 485
3. Fasem des hinteren Vierhiigels.
4. Fasem der halbmondformigen Schicht.
Die Faserzxige T und T\ welch letzterer jetzt aus dem sich
spa ter zur Gitterschicht umgestalteten Feld medialwarts zieht,
ziehen in transversaler Richtung und stellen jetzt die dorsale Be-
grenzung der Substantia nigra dar.
Das Feld H von Ford ist lateral vom roten Kern eben bereits
zu erkennen. Ventral vom roten Kern sieht man die Zona transitoria
als ein kleines Feld.
Der Schnitt 198 2 (vergl. Fig. 28) schneidet ventral das eben aus-
tretende Vicq d'Azyrsche Biindel.
Die Substantia nigra ist noch mehr reduziert. Sie zeigt Biindel-
querschnitte und langsgeschnittene, in ihr Maschenwerk eindrin-
gende gewundene Fasern, die zum Teil deutlich in den Fuss ziehen.
Monakow beschreibt dieses Feld fur das Hundehim als Corpus
Luysii 1 ). Indessen sprechen dafiir, dass es sich um die Substantia
nigra handelt, folgende Momente: erstens das durch die Biindel-
querschnitte bedingte retikulierte Aussehen, zweitens die zwischen
den Bun4eln ziehenden, gewundenen, in verschiedenen Richtungen
verlaufenden Fasem, die im Corpus Luysii bei anderen Tieren nicht
vorkommen und gerade an die gewundenen Fasern der Ge-
flechte D' und D m oder eines Teiles des Biischels K in der Sub¬
stantia nigra erinnern. Die Dicke der Substantia nigra betragt
1,1 mm.
Das Corpus Luysii ist vielleicht schon auf dem Schnitt 192
ungefahr zu erkennen, woselbst die Zone zwischen dem Feld H-
und den Faserziigen T und T' viel breiter ist und wohl nur der
unscharf begrenzte kleinere ventrale Teil derselben als Corpus
Luysii aufzufassen ist. Auf dem Schnitt 198 ist es als ganz schmaler,
langlich-spindelformiger Korper zu sehen. Seine Dicke betragt
1,3 mm. Die dorsale Markkapsel wird hauptsachlich von Fasern
des Feldes H- gebildet. Die unmittelbar dorsal vom Fuss liegende
ventrale Markkapsel ist etwas schwacher als die dorsale.
Die Zona incerta ist hier deutlich zu sehen und ziemlich breit.
Sie wird vom dorsolateralen Fortsatz des Feldes H 2 unvollkommen
in zwei Teile getrennt, einen kleineren ventrolateralen und einen
grosseren dorsomedialen. zwischen H 1 und H 2 liegenden.
Das Feld H 1 , welches auf Objekttrager 191 schon deutlich
auftritt, ist auf diesem Schnitt ziemlich machtig entwickelt. Das
Feld H 2 wird auf Objekttrager 191 zuerst sichtbar.
Das kleine Areal der Zona transitoria ventral vom Rest des
roten Kerns ist von der Hauptmasse der Zona incerta durch die
Fasem des Feldes H 2 unvollkommen getrennt.
Das Feld F ist noch deutlich zu sehen.
Die A-Felder sind viel ventraler geriickt. Gleichzeitig ent-
wickeln sich graue Felder ventral vom Feld F, die auf der Figur
') Monakow ,1 Experiinentelle und pathologisch-anatomische Unter-
suehungen iiber die Haubenregion, den S^hhiigel und die Regio subthalamica,
nebst Beitragen zur Kenntnis friih erworbener Gross- und Kleinhirndefekte.
Arch. f. Psych. Bd. 27. S. 13. 44.
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4St) Sano, Beitrag zur vergleichenden Anatomie
mit A' bezeichnet sind. Sie tauclien zuerst auf Objekttrager 1S9
auf, und zwar zunachst ohne Zusammenhang mit derGitterschicht.
Das basale Langsbiindel ist ziemlich schwach entwickelt.
Der Schnitt 200 2 (vergl. Fig. 29) schneidet ventral das Vicq
d'Azyrsche Biindel bei seinem Austritt aus dem Corpus mamillare.
Die Dicke der Substantia nigra betragt 1,2 mm.
Die wichtigste Umgestaltung auf diesem Schnitt gegeniiber
dem vorigen Schnitte besteht in der scharferen Begrenzung des
Corpus Luysii. Das Corpus Luysii zeichnet sich durch sein helleres
Aussehen entsprechend seiner relativen Faserarmut aus. Seine
Dicke betragt 0,3mm. Die Fasem der dorsalenMarkkapsel, die fast
ausschliesslich von Fasem des Feldes H 2 gebildet wird, biegen deut-
lich in den Fuss ein. Die ventrale Markkapsel ist faserreicher ge-
worden.
Ob das ventral vom Corpus Luysii und dorsal von der Sub¬
stantia nigra gelegene Gebiet als accessorischer Luysscher Korper
im Sinne von Ramon y Cajal aufzufassen ist, muss dahingestellt
bleiben 1 ). Forel schreibt, dass das Corpus Luysii des Hundes un-
scharf begrenzt ist 2 ), nach Kolliker hingegen ist es scharf begrenzt 3 ).
Der Grund dieses Meinungsunterschiedes liegt vielleicht darin,
dass das Corpus Luysii nur streckenweise wie auf Fig. 29 scharf
und sonst nur sehr unscharf begrenzt ist.
Die Zona transitoria ist ganz verschwunden. Die Zona incerta
(lateraler Abschnitt) ist jetzt breit und geht direkt in die Gitter-
schicht iiber. Der mediale Abschnitt der Zona incerta ist unver-
andert gebheben.
Das basale Langsbiindel, das bei der Katze iiberhaupt schwach
entwickelt ist, ist hier relativ deutlich zu sehen.
Der Schnitt 204 (vergl. Fig. 30) schneidet ventral noch den
Fasciculus mamillaris princeps bei seinem Austritt aus dem Corpus
mamillare.
Die Substantia nigra ist sehr klein, aber noch immer deutlich
retikuliert. Ihre Dicke betragt 0,8 mm.
Das friihere Feld des roten Kerns zeigt im dorsomedialen Ab¬
schnitt jetzt weniger Biindelquerschnitte, vielmehr hauptsachlich
die diffusen Fasem des Feldes H 1 , wahrend die ventrolaterale
Partie zu Bundeln angeordnete Fasern in grosser Zahl enthalt.
Lateral ziehen die Fasern des Feldes H 1 in die Lamina medullaris
lateralis. Die Fasern des Feldes H 2 ziehen zu einem grossen Teil
auch in die Gitterschicht. Ein kleiner Teil biegt wohl auch in
die Lamina medullaris lateralis, ein anderer in das Fussfeld ein.
Das Corpus Luysii ist wieder als nur ganz unscharf begrenzte
Zone zu erkennen. Es findet sich in seiner friiheren Lage. Nament-
lich von der Zona incerta ist es nur schwer zu trennen. Seine Dicke
betragt ungefahr 0,2 mm. Die dorsale Markkapsel wird wegen der
Zerstreuung der Fasern des Feldes H 2 undeutlich. Die ventrale
') liamon y Cajal, Textura del sistema nervioso del humbre y de los
vertebrados. 1904. K. 713.
2 ) Forel . A., Untorsuehungen iiber die Haubenregion und ihre oberen
Verkniipfungen ini Gehirne des Menschen und einiger Sivugetiere, mit Bei-
triigen zu den Methoden der Gehirnuntersuchungcn. Arch. f. Psych. 1877.
Rd. 7. S. 474. Zeile 3.
3 ) Kolliker, A., Handbueh der Gewebelehre des Menschen. 1894. Bd. II.
S. 400—464.
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der Substantia nigra, des Corpus Luysii und der Zona incerta. 487
Markkapsel hat erheblich an Machtigkeit abgenommen. Der
accessorische Luyssche Korper ist nicht mehr zu erkennen.
Am lateralen Ende des Corpus Luysii dringt ein dreieckiger Fort-
satz grauer Substanz, der auf der Figur mit N bezeichnet ist.
in das Fussfeld ein, um sich durch feme graue Balken mit den
A-Feldem in Verbindung zu setzen.
Die Zona incerta wird von den Fasern des Feldes H 2 wegen
ihrer zunehmenden Zerstreuung nicht mehr in zwei Teile getrennt.
Die A-Felder, die immer ventraler riicken, verbinden sich jetzt
netzformig miteinander und stehen mit grauen Feldern, die sich
zwischen die Meynerts che Kommissur und den Fuss einschieben,
in Verbindung. So entsteht eine zusammenhangende graue Masse
an der ventralen Flache des lateralen Fussabschnittes.
Im medialen Fussteil sieht man streifige dunklere und hellere
Felder. Es handelt sich bei den helleren Feldern zum Teil gar nicht
um graue Substanz, vielmehr kommt derFarbenunterschied dadurch
zustande, dass die Fasern des Fusses felderweise langsgeschnitten
und quergeschnitten erscheinen.
Der Schnitt 208 (vergl. Fig. 31) schneidet ventral den Fasciculus
mamillaris princeps kurz nach seinem Austritt aus dem Corpus
mamillare.
Die Substantia nigra ist kaum noch zu erkennen. Das Corpus
Luysii ist ausserst unscharf begrenzt. Der Fortsatz N ist noch tiefer
geriickt.
Der dorsale Teil des friiheren Feldes des roten Kernes zeigt
jetzt fast nur noch langsgetroffene Fasern und zwar hauptsachlich
oder ausschhesslich solche des Feldes H 1 . Das Feld H 2 zeigt noch
immer vorwiegend Anordnung in Bundeln, doch erscheinen diese
Biindel jetzt nicht mehr rein quergetroffen, sondem kurz schrag-
getroffen.
Ventrolateral von dem biindelformig angeordneten Feld H-
sieht man ein Feld V von diffusen quergeschnittenen Fasern.
Das Feld V gibt sowohl in dorsolateraler Richtung wie in ventro-
medialer Fasern ab; die ersteren nehmen die Verlaufsrichtung des
Feldes H 2 , die letzteren (V') wenden sich dem Corpus mamillare zu.
Es erheben sich nun folgende Fragen: Gehort dieses Feld V zum
Gebiete des roten Kerns ? Ist der dorsolateral von V aufsteigende
Faserzug als H 2 und der ventromedial absteigende Faserzug
als der Fortsatz x von Kolliker 1 ) aufzufassen ?
Wenn man das Feld V spinalwarts verfolgt, so sieht man,
dass dieses Feld allmahlich mit dem roten Kern zusammenfliesst;
es scheint daher in der Tat zum Gebiete des roten Kerns zu gehoren.
Dass das ventromedial absteigende Faserbiindel als der Fortsatz x
von Kolliker aufzufassen ist, scheint daraus sicher hervorzugehen,
dass es cerebralwarts mit dem allmahlichen Verschwinden des
Corpus Luysii allmahlich starker wird {Kolliker, S. 455) und sich.
lateral vom Vicq rf’Azt/rschen Biindel verlaufend, dem Faserzug
an der medialen Seite der Columna fornicis anschliesst.
Ob die ganze dorsolateral von V aufsteigende Fasermasse
mit H 2 identisch ist, ist fraglich. Es ist aber fast sicher, dass auch
H 2 Fasern in dieser Fasermasse enthalten sind, weil wenigstens
einzelne Fasern in den Fuss einzubiegen oder in die Gitterschicht zu
l ) Kolliker, Handbuch der Gewebelehre des Menschen. S. 454—455,
Fig. 604, S. 518, Fig. 646, S. 520, Fig. 647, 648.
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488 Tageageechichtlichee. — Personalien.
gelangen scheinen; die grossere Zahl der Fasem des Feldes V scheint
allerdings sich weiterhin cerebral zum Feld H 1 zu wenden.
Die Zona incerta liegt jetzt unmittelbar ventral von H 1 .
Die Fasern von H 2 ziehen teils ventral von der Zona incerta,
teils durchbrechen sie dieselbe.
Das Feld F ist viel kleiner geworden.
Im medialen Abschnitt des Fusses finden sich ausser dem Rest
der Substantia nigra im dorsalen Teil jetzt auch zahlreiche netz-
formig angeordnete Balken unzweifelhaft grauer Substanz im
ventralen Teil.
Der Schnitt 211 2 (vergl. Fig. 32) schneidet ventral noch den
Rest des Fasciculus mamillaris princeps.
Die Substantia nigra ist seit Objekttrager 209 fast vollstandig
verschwunden. Die retikulierte graue Substanz im ventralen Teil
des medialen Fussabschnittes ist jetzt mit einer ahnlich retikulierten
Substanz im dorsalen Teil des Fussabschnittes und mit dem Rest
der A-Felder in Verbindung getreten. Man kann daher hier wieder
von einer Substantia reticulata medialis pedis sprechen.
Das Corpus Luysii ist ebenfalls verschwunden.
Das Feld H 1 ist noch ziemlich machtig. Die Fasern des Feldes
H 2 gesellen sich jetzt den Fasern aus dem Feld V zu und ziehen
als ein machtiges Biindel V" dorsolateral gegeri das Feld H 1 , so dass
die Zona incerta hier wieder vollstandig in zwei Teile getrennt wird;
die kleinere mediale ovale Abteilung ist ganz von dem Feld H 1 tind
dem eben besprochenen Faserbiindel eingeschlossen, die laterale
breitere geht in die Gitterschicht fiber.
Einzelne Fasem des Feldes H 2 ziehen auch durch den Fuss
oder in die Gitterschicht.
Ein Feld dorsomedial vom roten Kern, das auf der Figur mit Z
bezeichnet ist, tritt schon auf Objekttrager 20 auf. Es hangt mit
dem roten Kern zusammen und zeigt viele quergeschnittene Fasern.
Es enthalt spater den Nucleus ventralis lateralis.
Die A-Felder sind ganz mit den A'-Feldern verschmolzen imd
bilden eine graue ventrale Leiste, welche die Meynerts che
Kommissur vom Fusse trennt; die A-Felder gehen spater in den
Globus pallidus iiber. (Fortsetzung folgt.)
Tagesgeschichtliches.
Die Wdnderversammlung der sudwestdeutschen Neurologen und Irren -
drzte tagt am 28.—30. V. in Baden-Baden. VortYage sind bis zum 15. V.
bei Prof. Wollenberg -Strassburg oder Prof. Laque r-Frankfurt a. M. anzu-
melden.
Personalien.
In Parma wurde der a. o. Prof. Dr. L. Roncoroni zum ordentlichen
Professor der Neurologic und Psychiatrie ernannt.
Privatdozent Dr. A. Heveroch in Prag wurde zum a. o. Professor der
Psychiatrie an der tschechisehen med. Fakultat ernannt.
Prof. Franz Windscheid in Leipzig ist gestorben. Die deutsche Neuro-
pathologie verliert in ihm einen ausgezeichneten Kenner der traumatischen
Erkrankungen des Nervensystems, welche er als leitender Arzt des Hermann-
Hauses in Stotteritz zu beobachtcn ausgezeichnete Gelegenheit hatte.
Auch zahlreiche andere Arbeiten auf dem Gebiet der Ner\’enheilkunde
sichem ihm bleibendes Andenken.
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Monatsschrift fiir Psychiai
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(Aus der psychiatrisehen und Nerven-Klinik der Kgl. Charite.)
[Direktor: Geh. Med.-Hat Prof. Th . Ziehen.]
Die Sensibilitatsstorungen bei derFriedreichschen Krankheit.
Von
l)r. KURT SINGER
Volontarassistent der psych, u. Nerven-Klinik der kgl. Charit6.
1. Historisches und Statistisches fiber die Sensibilitatsstorungen bei
der Friedreichschen Krankheit.
Seit Friedreich im Jahre 1863 mit seiner Arbeit fiber „degene-
rative Atropine der spinalen Hinterstrange“ zum erstenmal auf den
Symptomenkomplex hinwies, der spater seinen Namen erhalten
sollte, hat das Thema der Friedreichschen Krankheit nicht auf-
gehort, aktuell zu sein. Lebhafte Kontroversen wurden geffihrt,
die auch heute noch nicht ganz beigelegt sind. Man lernte bald
neben „klassischen“ Symptomen auch nebensachlichere, neben
standigen, immer wiederkehrenden auch seltenere und vereinzelt
auftretende Symptome kennen. Dadurch wurde das Krankheits-
bild, das Friedreich streng umgrenzt hatte, erweitert, seine Diagnose
aber erschvvert. Denn man sah nun eine ganze Anzahl von Er-
scheinungen, die ftir andere Erkrankungen des Zentral-Nerven-
systems charakteristisch, ja in ihrer Summation pathognomonisch
waren, auch bei der Friedreichschen Krankheit auftreten. Ver-
wechslungen (besonders mit Tabes und multipler Sklerose) waren
also leicht moglich. Und in der Tat finden sich in der Literatur
eine ganze Reihe von Fallen, die sicher der Friedreichschen Krank¬
heit nicht zugehoren, und andere Falle, besonders die sogenannten
„Uebergangsformen“ von Friedreichscher Krankheit zu Tabes oder
multipler Sklerose, deren Zugehorigkeit zur „hereditaren Ataxie“
mehr als zweifelhaft ist. Besonders in England wird die Diagnose
heute tiberaus haufiggestellt, wobei allerdings die Moglichkeit bestehen
bleibt, dass die Krankheit wirklich bei uns in Deutschland seltener
ist. Stintzing spricht jedoch wohl mit Recht von der geradezu
„naiven Bestimmtheit, mit welcher manche Autoren Krankheiten
unter diesen Begriff subsumieren, die sich in vielen wesentlichen
Punkten mit der hereditaren Ataxie nicht decken“.
Nur vorfibergehend ist man bisher auf die Sensibilitats¬
storungen bei der Friedreichschen Krankheit aufmerksam geworden.
Monatmchrift filr Psychiatric und Neurologic. Bd. XXVII. Heft 6. 33
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490
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
Wenn allerdings auch gerade in neuerer Zeit des ofteren zu dieser
Frage Stellung genommen wurde, so liegt doch eine einheitliche
Untersuchnng an einem grosseren Material noch nicht vor. Die
Meinungen iiber das Vorhandensein, die Ausdehnung, den Grad,
die Qualitat der Sensibilitatsstorungen bei der Friedreichschen
Krankheit und ihre etwaige diagnostische Bedeutung sind auch
heute noch sehr sch wank end. Ich habe deshalb spezielle Unter-
suchungen in dieser Hinsicht bei reinen und sicheren Fallen
Friedreichscher Krankheit angestellt. Zum Verglich zog ich
auch Falle der Marieschen Krankheit (d. h. der hereditaren
Kleinhimataxie) heran.
In seiner eingangs erwahnten Arbeit spricht sich Friedreich
iiber die Sensibilitat bei dem ersten der von ihnx beschriebenen
Falle folgendermassen aus: ,,Die Sensibilitat der Haut bot in keiner
Weise und an keiner Stelle des Korpers eine bemerkenswerte
Storung. Sowohl Nadelstiche wurden iiberall in normaler Weise
gefiihlt, ebenso wie die leisesten Beriihrungen der Haut.“ Der
zweite Patient zeigte ebenfalls vollkommen normale Haut-, Muskel-
und Gelenk-Empfindungen. Bei dem dritten ergab dieUntersuchung
in dieser Hinsicht zunachst einen von der Norm nicht abweichenden
Befund; bei einer spateren Untersuchung aber stellte sich eine
deutliche Abstumpfung der Perzeptionsfahigkeit der Haut an
Bauch, Riicken und unteren Extremitaten heraus. Daher musste
sich Friedreich selbst noch zu der Einschrankung bekehren, ein
Hauptsymptom der Falle von hereditarer Ataxie sei teils der vollige
Mangel, teds das „erst spat und in untergeordnetem Grade Hinzu-
treten von Storungen im Bereich der Sensibilitat, sowohl des
Tast-, als Druck- und Temperatursinns.“
Die Beobachtungen von Sensibilitatsstorungen hauften sich
dann in den folgenden Jahren und Jahrzehnten immer mehr.
Trotzdem erklarte noch Bemabei im Jahre 1889, man konne die
hereditare Ataxie auch bezeichnen als ,,infantile Tabes ohne
Sensibilitatsstorungen 41 . Ladame halt in seiner 1890 erschienenen
Monographic die „Integritat der Sensibilitat nach alien Richtungen“
hin fur ein Kardinalsymptom der hereditaren Ataxie. SchuUze
nennt 1898 unter den charakteristischen Symptomen auch ,,das
Fehlen jeglicher Sensibilitatsstorungen . . . Parasthesien und
Schmerzen 44 . Und ganz systematisch eliminiert Stscherbak die
Empfindungsstorungen aus demKomplex derFriedreich-Symptome,
indem er Tabes eine ,,Ataxie + Sensibilitatsstorungen 44 , die
Friedreich&che Krankheit aber eine „Ataxie ohne Sensibilitats¬
storungen 44 nennt.
Dabei hatte Rutimeyer unter 21 Fallen von Friedreich keinen
einzigen frei von Empfindungsstorungen befunden, Socd unter
69 Fallen nur 48.
Es ist hier nicht moglich, aus der iibergrossen Menge von
Fallen der Friedreichschen Krankheit auch nur einen Teil
mit genauer Beriicksichtigung ihrer Sensibilitatsstorungen auf-
zuzahlen. Die folgenden numerischen Angaben werden fiir sich
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bei der Friedreichschen Krankheit.
491
sprechen. Wahrend bis zum Jahre 1885 (nach Smith) 57, bis 1887
(nach RiUimeyer) 96, bis 1888 (nach Griffith) 143, bis 1890 (nach
Ladame) 165, bis 1901 (nach Schdnbom) 200Falle von Friedreichscher
Krankheit in der Literatur zu finden waren, habe ich aus der
Gesamtliteratur bis zum Jahre 1909 (exkl.) 401 Falle zusammen-
stellen konnen (siehe Tabelle am Schjuss der Arbeit). Dabei musste
ich in deutschen, franzosischen und englischen Axbeiten, die ich
im Original durchlesen konnte, eine kleine Zahl von Fallen elimi-
nieren, die sicher anderen Krankheitsgruppen zuzurechnen sind,
besonders solche, die zu den zuerat von Nonne beschriebenen
Formen der ,,Hereditar-ataktischen“ gehoren, femer aUe sicheren
Falle vom Typus Pierre Marie und die als sogenannte ,,Uebergangs-
formen“ publizierten Falle. In einem anderen Teile der Falle
konnte ich, teils weil ich des Originals nicht habhaft wurde,
teils weil auf die Priifung der Empfindungsqualitaten nicht
geniigend oder gar kein Wert gelegt war, bestimmte, geschweige
denn genaue Angaben liber SensibUitatsstorungen nicht festlegen.
Dazu kommt eine ganze Anzahl Falle, die in Zeitschriften nur
kurz kasuistisch berichtet sind oder nur in Sitzungen kurz vor-
gestellt waren. Im ganzen sind das 95 Falle. Von den iibrigbleiben-
den 306 Fallen zeigten 143 Storungen der Sensibilitat, 163 waren
frei. Das bedeutet: 35,7 pCt. aller bekannten Falle von Friedreich-
Krankheit zeigen Sensibilitatsstorungen (40,6 pCt. nicht). Und
wenn ich annehme, dass alle die Patienten, bei denen der Sen-
sibilitatsstorung als solcher keine Erwahnung geschieht, auch
ganz frei von derartigen Storungen waren, d. h. dass von den
401 Fallen der Literatur 163 + 95, also 258 Falle frei waren, so
bedeutet auch das fur eben diese Falle nur einen Prozentsatz von
b4,3 (siehe Tabelle II).
Am seltensten fand ich subjektive Storungen, insbesondere
Eeizsymptome der Nerven verzeichnet, wahrend z. B. Griffith
Schmerzen in 22 von 99 Fallen fand. Es werden voriibergehende,
dumpfe Schmerzen oder Parasthesien in Form einesAbgestorben-
seins der Fiisse nur gelegentlich beschrieben. Bhtzartigen Schmerz
in den Beinen vor Ausbruch der Krankheit oder wahrend ihrer
Entwicklung fand ich nur in einem Fall Dejerines und in je einem
von Bonnus, Brown, Schidtze, Verhoogen berichtet. Friedreich selbst
beobachtete auch einmal herumziehende, reissende Schmerzen
in den unteren Extremitaten, die im Anfang der Krankheit auf-
traten, spater aber wieder vollkommen verschwanden. Sonst
werden die Sensationen von den Patienten gewohnlich als
,,Kriebeln“, ,,Pelzigsein“, ,,Taubheit“ geschildert. Die Par¬
asthesien sind charakteristischerweise nie von langer Dauer oder
schwinden, um nach einiger Zeit wieder aufzutauchen. Bevorzugt
sind die unteren Extremitaten, an diesen wieder Unterschenkel
und Zehen. Seltener sind Finger, Rumpf, Bauch in Mitleidenschaft
gezogen. Gurtelgefiihl ist nur in 3 Fallen beschrieben ( Midler,
Ormerod, Bonnus).
Was die objektiv nachweisbaren Storungen der Empfindungen
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492
Singer, Die Sensibilitatestorungen
anbelangt, so hatte Friedreich bereits in 3 seiner zuerst publizierten
Falle erkannt, dass bei sonst ganz intakter Sensibilitat doch die
elektromuskulare Sensibilitat merklich vermindert war; „selbst
sehr starke elektrische (primare) Strome, die von Gesunden kaum
ertragen werden, wurden von dem Patienten nicht besonders
schmerzhaft gefiihlt“. Dieser Befund ist auch von spateren Be-
obachtem erhoben worden (bregmann z. B. erwahnt bei seinem
Friedreich-Kranken die Herabsetzung der elektrischen Sen¬
sibilitat). Es wird aber im allgemeinen auf diese Storung, wenn sie
isoliert auftritt, zu grosser Wert nicht gelegt werden konnen, da
wohl die Grenze zwischen normaler und pathologischer Perzeption
auf diesem Empfindungsgebiet schwer zu ziehen ist. Ueber das
sogen. ..faradische Intervall“ werde ich kurz an anderer Stelle.
(gelegentlich des von mir untersuchten Patienten C.) berichten.
Die objektiven Storungen verteilen sich in den verschiedenen
Fallen auf verschiedene Qualitaten und auf alle Korpergegenden.
Dabei kehren jedoch bestimmte Pradilektionsstellen mit unver-
kennbarer Regelmassigkeit wieder. Fast immer sind namlich die
unteren Extremitaten in erster Linie Sitz der Storung, sodann der
Rumpf, schliesslich Arme und Bauch. Speziell die Fusssohlen waren
nicht haufig alteriert.
An und fur sich liegt natiirlich die Frage nahe, ob nicht in
vielen dieser Falle neben der organischen Krankheit noch ein
funktionelles Leiden im Sinne der Hysterie bestand. Diese Frage
konnte ich aber fiir alle ausfiihrhcher besprochenen FaUe der
Literatur ziemlich sicher verneinen. Nur Magnus-Levy erwahnt
einen vielleicht hierher gehorigen Fall, bei dem die Hautsensibilitat
am ganzen Korper herabgesetzt war.
Qualitativ zeigen die einzelnen Storungen eine verschiedene
Frequenz. Sicher am haufigsten findet sich Herabsetzung der
Beruhrungsempfindlichkeit; an zweiter Stelle Herabsetzung des
Lagegefiihls. Viel seltener sind Storungen der Schmerz- und
Temperatur-Empfindlichkeit. Stereognosie, Vibrations-Gefiihl und
Gewichtsempfindung bleiben meistens frei von Veranderung. Die
Lokalisationsfehler halten sich in normalen Grenzen. Ueber
Sensibilitatsstorungen im Gebiet der Schleimhaute, der Hoden,
des Periosts und des Kehlkopfs existieren nur sparliche Berichte.
Mingazzini schildert eine Anaesthesia trachealis und testicularis bei
einem Friedreich-Kranken. Dabei war die Hautempfindung normal.
Mingazzini glaubt, dass gerade der Kontrast zwischen intakter
Oberflachen- und gestorter Tiefensensibilitat von differential-
diagnostischer Wichtigkeit sei oder einmal werden konne. Jedoch
ist auf diese Angabe bisher noch kein grosses Gewicht gelegt worden.
Auch quantitativ ist das Bild der Storungen sehr wechselvoll.
Lazarus berichtet in Evlenburgs Real-Enzyklopadie von einem
Mann, bei dem die Vibrations-Anasthesie von den Fusssohlen bis
hinauf zu den Darmbeinkammen die einzige Storung der Sen¬
sibilitat darstellte. Als Gegenstiick zu diesem Beispiel diene ein Fall,
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bei der Friedreichschen Krankheit.
493
deesen Stoning Dejerine als komplette sensible Paraplegie be*
zeichnet. Oder ein Fall von Muller, bei dem ausser Gurtelgefuhl
folgender Sensibilitatsfcefund erhoben wurde: Am Rumpf Sen-
sibilitat normal bis auf einen handtellergrossen, fiir Beriihrung,
Schmerz, Kalte, sowie leichten Druck vollig unempfindlichen
Bezirk. Obere Grenze: Oberer Band der 6. Rippe. Linke Grenze:
linke Mamillarlinie; rechte: linke Stemallinie. Von hier aus zogen
giirtelformig hypasthetische Streifen nach lateral und hinten bis
zur Hohe des 7. Brustwirbels. Oberhalb der ganzlich anasthetischen
Zone fand sich ein Bezirk, in dem die Empfindungen abgestumpft
waren (also beinah das Bild Hitzig&cher Zonen!). Henry Broum
beobachtete bei einem Patienten taubes Gefiihl der Hande, Ameisen-
kriechen in den unteren Extremitaten; nach einigen Jahren ^raten
hinzu Anasthesie der Schenkel, Hyperasthesie der Fusssohlen,
Herabsetzung des Gewichts- und Distanzgefiihls. Lunz priifte
seine Patienten sehr haufig und sehr exakt, und er fand dabei an
den unteren Extremitaten Herabsetzung der Beriihrungs-, Schmerz-
und Temperatur-Empfindlichkeit, Herabsetzung des Muskel- und
Distanzgefiihls. Gnizetti beobachtete Herabsetzung der Beriihrungs-
empfindlichkeit an alien vier Extremitaten und daneben Verlang-
samung der Schmerzleitung. Andere fanden wieder nur das Lage-
gefiihl der Hande gestort, wie Krafft-Ebing und P. Cohn ; Oder allein
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit, wie Winkler und Jacobi.
Rossi konstatierte bei einem 13jahrigen Madchen an der Innen-
flache der Oberarme und Oberschenkel taktile und thermische
Anasthesie sowie Analgesie. Besold beschrieb einen Fall, bei dem
sich Storungen der Sensibilitat an Kopf, Hals, Rumpf, Schulter,
Becken, unteren Extremitaten vorfanden.
Im grossen ganzen ist die Intensitat der Storungen eine geringe
oder mittelstarke. Doch fehlt es nicht an Beispielen, wo die
Empfindungsanomalien den Storungen bei Tabes nicht nachstehen
(Dejerine , Bdumlin). Es ist nicht selten (und sogar vielleicht
charakteristisch), dass Sensibilitatsstorungen auftreten, nach
Monaten wieder verschwinden und, eventuell mit einer Ver-
schlimmerung des Leidens, abermals nach Wochen oder Monaten
in gesteigertem Masse zutage treten. Man erhalt in solchen Fallen
also an sich schon, da die Friedreichsche Krankheit sich iiber viele
Jahre hinzieht, in den einzelnen Phasen verschiedene Priifungs-
resultate. Bei einer einmaligen Prufung ohne haufige Kontrolle
ist man daher zuweilen, besonders bei negativem Befund, leicht
einer Tauschung ausgesetzt.
Im Beginn der Krankheit und im Anfang ihrer vollen Ent-
wicklung sollen nach dem Urteil der meisten Lehrbvicher Sen-
sibilitatsstorungen immer fehlen, erst in den allerspatesten Stadien
sollen sie beobachtet werden. Nach den zahlreichenBeobachtungen,
die ich aus der Literatur schopfte, kann ich nur feststellen, dass
auf der Hohe der Erkrankung die Sensibilitatsstorungen zwar meist
am ausgepragtesten sind, dass sie aber sich nicht selten schon
zeigen, bevor die Ataxie bis zu dem Endstadium fortgeschritten ist.
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494
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
Charakteristisch scheint nach den Angaben der Literatur auch,
dass sich die Storungen nie nach dem Ausbreitungsbezirk be-
stimmter Nervenwurzeln abgrenzen (wie etwa die Hitzigschen
Zonen), sondem dass sie meist fleck- oder herdweise angeordnet
sind oder sich auf ganze Extremitaten oder Abschnitte derselben
erstrecken. Die distalen Partien sind dabei haufiger und starker
befallen als die proximalen. Bezeichnend fur die unscharfe Be-
grenzung der Storungen der Sensibilitat ist der Befund bei einem
Patienten Cassirers und bei dem zweiten Patienten Bdumlins.
Letzterer zeigte an den unteren Extremitaten bis zu den Malleolen
normales Verhalten aller Empfindungsqualitaten; von hier an war
an beiden Unterschenkeln das Gefiihl fiir Beriihrung, fiir Spitz und
Stumpf, fiir Kalt und Warm herabgesetzt.
Theoretisch hat man versucht, die Storungen der Empfindung
bei Erkrankungen des Rvickenmarks mit der Ataxie in inneren
Zusammenhang zu bringen. Diese viel erorterte und bekannte
Frage muss hier kurz gestreift werden, weil gerade die Sensibilitats-
stbrungen bei der Friedreichschen Krankheit den Streit um die
beiden wichtigsten Theorien der Ataxie erneuerten. Duchenne
hatte es zuerst ausgesprochen, dass die Regulation und das ko-
ordinierte Zusammenspiel der Muskeln an zentrale Mechanismen
gebunden sei, die ihrerseits wieder mit den motorischen Rinden-
gebieten und mit der Peripherie in Verbindung standen. Bei dieser
spater modifizierten, sogen. ,,zentralen Ataxie“ werden die hypo-
thetischenKoordinations-Mechanismen von den einzelnen Forschern
entweder in das Riickenmark oder in das Grosshirn oder in das
Kleinhirn verlegt.
In Gegensatz zu dieser Theorie stellte sich die Dehre von der
„sensorischen Ataxie“ von Leyden, der die Ataxie auf die Sen¬
sibilitatsstorungen zuriickfiihrt. Da Friedreich die Integritat der
Beriihrungs- und Lage-Empfindungen als ein Merkmal der von
ihm beschriebenen Krankheit hinstellte, war es nur folgerichtig,
dass er sich gegen die Theorie der ,,sensorischen Ataxie“ zur Wehr
setzte. Friedreich und Erh formulierten daher die Theorie der
sogenannten ,,motorischen Ataxie“ und behaupteten: Das Riicken-
mark ist zwar selbst kein Zentrum der Koordination; aber es
enthalt Bahnen, auf denen die Einfliisse der Koordinationszentren
(Grosshimrinde, Kleinhirn) zu den motorischen Zentren bezw.
Bahnen hingeleitet werden; die Ataxie, die bei Storung dieser
Bahnen zutage tritt, ist eine motorische.
Die Verfechter dieser letzten Theorie fiihrten gegen die Lehre
von der ,,sensorischen Ataxie“ u. A. besonders die Fafle von Ataxie
ins Feld, bei denen absolut keine Empfindungsstorungen bestanden,
also in erster Linie gerade die Falle der Friedreichschen Krankheit.
Insofern bietet also jedenfalls die Frage, ob bei der Friedreichschen
Krankheit Sensibilitatsstorungen ganz fehlen, bzw. bis zu welchem
Grade sie vorhanden sind, auch ein grosses theoretisches Interesse.
Wenn wir nun nach den anatomischen Grundlagen der
Friedreichschen Krankheit im Hinblick auf die Sensibilitats-
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bei tier Friedreichschen Krankheit.
495
storungen fragen, so konnen wir, indem wir die Sektionsbefunde
von 33 Autopsien 1 ) mit einander vergleichen, folgendes zusammen-
fassen: Regelmassig findet sich eine Degeneration der Hinter-
strange, worauf schon der Entdecker der Krankheit aufmerksam
gemacht hat. Friedreich erwahnte aber auch ein gelegentliches
Uebergreifen auf den Seitenstrang sowie Atrophie der hinteren
Wurzeln und Leptomeningitis chronica. Schvitze erganzte den
Behind durch den Nachweis, dass auch die Clarke schen Saulen,
die Kleinhirn-Seitenstrangbahnen, die Pyramiden-Seitenstrang-
bahnen und die Vorderstrange degenerieren konnen. Senator
betonte besonders die Atrophie des Kleinhirns. Von spateren
Autoren wurden dann noch gelegentlich auch die Beteiligung der
GWersschen Biindel, selten der Hinter- und Vorderhorner, sowie
Degeneration der peripherischen Nerven und Spinalganglien
erwahnt.
Sehr interessant und bedeutungsvoll sind auch die leider
sparlichen Untersuchungen des Grosshirnes. Es scheint mir nicht
unmoglich, dass auch die cerebralen Veranderungen eine gewisse
Rolle bei den Sensibilitatsstorungen spielen konnten. Bdundin
schon hatte eine massige, graurote Verfarbung der Rinde kon-
statiert, Bonnamour zwei Erweichungsherde, Erlicki - Rybalkin
Hyperamie der Rinde. Auch sonst finden sich in der Literatur
kurze Angaben tiber Verschmalerung der Windungen, Klaffen der
Furchen, Anomalien der Gefasse, Festhaften der Pia. Wladialaus
Muller hat in neuerer Zeit beeonders auf diese Befunde auf¬
merksam gemacht und dieselben durch eine eigene Untersuchung
erganzt und erweitert. Er fand das Grosshirn stark. verkleinert,
volliges Fehlen der Markscheiden und betrachtliche sekundare
Gliose. Muller fasst in diesem Fall sogar die Degeneration der
Pyramidenbahnen als sekundaren, die Erkrankung der Zentral-
windungen als primaren Erkrankungsprozess auf.
Ueber die Beziehung aller dieser pathologisch-anatomischen
Befunde zu den gelegentlich festgestellten Sensibilitatsstorungen
der Friedreichschen Krankheit findet man in der Literatur nur
unbefriedigende Auskunft. Dejerine hat die sehr haufige In-
kongruenz zwischen Stoning der Koordination und den Sen¬
sibilitatsstorungen aus dem verschiedenen Verhalten der Hinter-
strange und der Hinterwurzeln zu erklaren versucht. Wahrend die
Hinterstrangserkrankung sehr betrachtlich ist, ist die Degeneration
der hinteren Wurzeln (im Gegensatz zur Tabes) nur massig. Er
betrachtet deshalb sogar die Falle mit erheblicherer Storung der
Sensibilitat, bei denen er haufig auch amyotrophische Prozesse
fand, als eine besondere Abart der Friedreichschen Krankheit.
Nach Schmaus (Lehrbuch der pathol. Anatomie) gehort indes
l ) Friedreich 4, Mingazzini-Perusini 2, je eine von Smith, Schultze,
Pitt, Pick, Brotuee, Erlicki - Rybalkin, Oowers, Letulle - Vagues, Blocq-
Marineacu, Menzel, Auscher, Guizetti, Riltimeyer, Simon, Mockay, Greenlees-
Purvis, Clarke, Burr, Mir to, Dana, Whyte, Meyer, Pic - Bonnamour,
Lannoi8-Paviot, Lhermitte, Dejerine et Thomas,
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496
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
eine hochgradige Degeneration der hinteren Wurzeln sehr haufig
zum vollstandigen Bild der Erkrankung. Trotzdem fuhrt auch
E. Muller wie Dtjerine die Seltenheit der Parasthesien auf die
geringe Beeintrachtigung der peripheren Nerven und hinteren
Wurzeln zuriick. Am beweiskraftigsten fiir die tatsachliche Be-
teiligung der hinteren Wurzeln sind ein Sektionsbefund von
Friedreich Belbst und die beiden Falle von LetuUe-Vaquez und
Blocq-Marine8cu.
Da die Lissauersche Randzone fast stets intakt befunden
wurde, so scheint sie fiir Empfindungsstorungen sicher nicht in
Erage zu kommen. Dahingegen miisste auf die Untersuchung der
peripherischen Nerven bei spateren Obduktionsfallen mehr Gewicht
gelegt werden. Biitimeyer fand in einem Fall, der in vivo Herab-
setzung der taktilen Sensibilitat an Armen und Beinen gezeigt
hatte, zweifellos degenerative Prozesse im N. medianus und im
N. ischiadicus, und zwar Schwund der Nervenfasern, Ersatz durch
Bindegewebe, Wucherung der interfaszikularen Bindegewebs-
substanz und Vermehrung der Kerne. Ein Schuler Dejerines,
Auscher, fand in den peripheren Nerven zwar keine Atrophien
und Degenerationen, aber sehr viele marklose Nervenfasern von
embryonalem Charakter. Auch Guizetti betont die Atrophie der
sensiblen Nerven als autoptischen Nebenbefund. .
Jedenfalls geniigen aber, wenn man von diesen Befunaen ab-
sieht, die Veranderungen in den Hinter- und Seitenstrdngen, am
die gelegentlichen Sensibilitatsstorungen zu erklaren, wenn wir auch
meist nicht in der Lage sind, jede einzelne Sensibilitatsstorung mit
Sicherheit auf den Ausfall einer bestimmten Bahn zu beziehen.
2. Eigene Untersuchungen.
Ich beginne nunmehr mit der Beschreibung von 9 Fallen Fried-
reichscher Krankheit und einem Fall vom Typus Pierre Marie ,
die in der Nervenklinik der Charite zur Beobachtung kamen und
die zum Teil in verschiedenen Stadien der Krankheit untersucht
werden konnten. Ich gehe nur auf die Sensibilitatsbefunde aus-
fiihrlicher ein. Zur Feststellung der Sensibilitat sind seit 1904 auch
die von Professor Ziehen ‘) angegebenen feineren Untersuchungs-
methoden zur Anwendung gelangt.
Fall 1 . Joseph M., 24 J., Schuhmacher.
A. Erste Aufnahme in der Charity am 2. VII. 1901.
Die Eltern des Patienten sind gesund. Er hat noch 4 Geschwister,
von welchen 3 gesund sind. Der letzte, ein 19 jahriger Bruder, leidet an
derselben Krankheit wie Patient selbst: er hat einen taumelnden, wack-
ligen Gang, kann nicht einmal so weit gehen wie Patient.
Anavmese: Als Patient im Alter von 13 Jahren den Arzt zu seinem
Bruder (s. o.) rufen wollte, sagte der Arzt ihm, er bekame dieselbe Krankheit
wie der Bruder. Kinderkrankheiten hat er nicht durchgemacht. Als Kind
schon war er sehr ungeschickt imManipulieren. sodass ihm einmal die Suppen-
schus8el „iiber den Kopf fiel“. Patient bemerkte, dass er beim Tumen
') Vgl. Ziehen, Medizin. Klinik 1910.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
497
nicht auf ©inem Bein stehen konnte. Der Zustand verochlimmerte sich
durch korperliche Arbeit. Bis zura 14. Lebensjahr besuchte er die Schule,
dann lemte ©r in einer Ziegelei. Wegen der beginnenden Krankheit gab
©r diese Arbeit auf und wurde Schuster. Damals sehon Unsicherheit. Un¬
geschicklichkeit, Schwanken und Taumeln beim Gehen. Seit einigen Jahren
blitzartige Schmerzen in den Beinen. Kein Gurtelgefuhl. Schon friih
(mit 14 Jahren) bemerkt© Patient, dass die Gehstbrung im Dunkeln zunahm.
Sprache seit dem 16. Jahre schlechter. verwaschener. Schreiben ist moglich,
aber nur mit Zittem der Hand. Die Aerzte nahmen Veitstanz an. Das
Schwanken war oft so hochgradig, dass man den Patienten fiir betrunken
hielt. Er klagt bei der Aufnahme
1. liber Gehstdrung,
2. iiber Unsicherheit und Ungeschicklichkeit anderer Bewegungen,
3. liber Verlangsamung der Spracbe.
Statu* praesens: Ausser einer Kyphoskoliose der Wirbelsaule bietet
der Korper keine ausseren Besonderheiten dar. Herz. Lunge, Bauchorgane
sind normal; die Himnerven sind samtlich intakt. Die Pupillen reagieren
prompt und ergiebig auf Licht und Konvergenz. Die Zunge wird zwar
gerade vorgestreckt, aber nicht ruhig gehalten. Die Intelligenz ist normal,
doch fallt eine Neigung zum Lachen auf.
Obere Extremitdt: Die grobe motorische Kraft ist gut, nur in den
Fingem leicht herabgesetzt. Triceps- und Radius-Periostreflexe gleich und
symmetrisch. Bei intendierten Bewegungen starke Ungeschicklichkeit
und Ausfahren, kein eigentliches Zittem. In den Handen zuweilen unwill-
kiirliche Bewegungen. Die Sensibilitat ist intakt fvielleicht leichte Hyper¬
algesia).
Rumpf: Patient kann sich ohne Hiilfe der Arme aus liegender Position
aufrichten. Bauchreflexe vorhanden.
Untere Extremitaten: Aktive Bewegungen liberal 1 moglich. dabei aber
standig stark ausfahrende Bewegungen. Patellarreflexe auch mit Jen -
drassiks Kunstgriff nicht erhaltlich. Achillessehnenreflexe beiderseits vor¬
handen. Kremasterreflexe vorhanden. Grobe Kraft normal. Stehen un-
moglich. Patient schwankt. sofort und droht umzufallen. Der Gang ist
stark ataktisch. breitbeinig. Patient muss dauernd seine Bewegungen
mit dem Auge kontrollieren. Bei Augenschluss Schwanken erheblicher.
Im Gehstuhl etwas mehr Sicherheit. Sensibilitat intakt.
B . Zweite Aufnahme am 16. V. 1903.
Zwischenanamnese: Patient kann nicht mehr allein gehen. Das Taumeln
hat in der Zwischenzeit erheblich zugenommen. Ebenso die Unsicherheit
in der Sprache und in den Handen. Bei Kalte und schlechtem Wetter
lancinierende Schmerzen in den Beinen.
Status praesens: Leichtes Hin- und Herschwanken des Kopfes. Skan-
dierende Sprache. Ataxie der Zunge. Sonst wie oben.
Obere Extremitdten: Bei einfachen Bewegungen deutliche Unsicher¬
heit und Danebenfahren. Zunahme bei lokomotorischer Innervation.
Sehnen- und Radiusperiostreflexe erloschen. Leichte Storung des stereo-
gnostischen Sinnes.
Rumpf: Lasst man Patient mit untergeschlagenen Beinen auf dem
Boden sitzen und die Arme kreuzen, so gerat er ins Schwanken und fallt
riicklings um.
Untere Extremitdten: Die Fiisse, besonders aber die grosse Zehe, sind
beiderseits plantarflektiert, links mehr als rechts. Beiderseits ausgesprochene
Inkoordination aktiver Bewegungen, bei Augenschluss zunehmend. Patellar¬
reflexe beiderseits erloschen. Ebenso die Achillessehnenreflexe. Babinski
beiderseits positiv (ohne Plantarflexion der ubrigen Zehen). Der Gang
ist stark schleudernd und ausfahrend. Stellt man den Patienten auf die
Beine, so kann er sich mit Hiilfe der Augen kurze Zeit aufrechthalten,
bei Augenschluss fallt er um. Die Sensibilitat fiir Beriihrung ist stellen-
weise herabgesetzt. Die Knochensensibilitat ist bedeutend herabgesetzt.
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498
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
C. Dritte Aufnahme am 22. III. 1904.
Beschwerden wie friiher.
Die Kyphoskoliose im Dorsal toil der Wirbelsaule ist ausgesprochen.
Die Zunge wird gerade herausgestreckt, zeigt aber motorische Unruhe,
ahnlich der choreatischen; keine Atrophie.
Das Lagegefuhl in der grossen Zehe ist gestort. Romberg ist hoch-
gradig positiv. Der Gang ist stampfend. Die taktile Sensibilitat in den
distalen Partien der oberen und unteren Extremitaten erscheint unsicher.
Im iibrigen ist der Befund dersell>e wie unter B und A .
D . Vierte Aufnahme am 20. III. 1908.
Patient klagt iiber Schmerzen in alien Gliedern, bald hier, bald dort.
Obere Extremitaten: Die Pro- und Supination dbr Hande geschieht
sehr langsam, die Faust kann nur langsam geoffnet werden, das Spiel der
Finger ist langsam.
Bumpf: Aufsitzen ohne Unterstiitzung der Arme unmoglich.
Untere Extremitaten: Beim Heben der Beine lebhafte Schleuder-
bewegungen. Schmerzen, wenn das Bein in der Hiifte hoher als 30 cm
gehoben wird. Die Dorsalflexion der Fiisse geschieht kraftlos. Plantarflexion
kraftig. Geringe Hypotonie im Knie. Passive Beweglichkeit normal. Das
Lagegefuhl in der grossen Zehe ist deutlich gestort. Nadelknopf und Spitze
werden an der Fusssohle oft mit einander verwechselt. Stiche sind hier
sehr schmerzhaft, der Temperatursinn intakt. Bei der Leube-Stems chen
Probe werden viele Fehler gemacht (Fussriicken), 2 Monate spater sogar
bei Strichen bis zu 5 cm Lange.
E. Fiinfte Aufnahme im Februar 1909.
Beschwerden wie oben. Innere Organe und Himnerven wie oben.
Obere Extremitaten: Muskeltonus beiderseits herabgesetzt, Reflexe
erloschen. Pronation und Supination ungeschickt, langsam. Kein Ruhe-
tremor der Hande. Koordination schlecht. Auffallendes Danebenfahren
mit dem Finger, bei offenen und bei geschlossenen Augen. Stereognos©
gut. Nur ein kleiner Kamm wird beiderseits als solcher nicht erkannt,
wohl aber Wiirfel, Kugel, Schliissel.
Bumpf s. oben.
Untere Extremitaten: Das Erheben des Beines geht mit starken
Schleuderbewegungen vor sich. Der rechte Unterschenkel kann bei fest-
liegendem Oberschenkel noch um ca. 5 cm gehoben werden. Motorische
Kraft beinahe normal. Dorsalflexion des Fusses herabgesetzt. Zehenspiel
langsam. ungeschickt. Bei Stehversuchen sofortiges Hinfallen. Gehversuch
scheitert. Beim Gehen mit Unterstiitzung beiderseits ist die ataktisclie
Komponente gering, aber die Vorwiirtsbewegung ist nur durch Vorschleifen
des Fusses moglich. Patient steht dabei auf den Fussballen mit vorniiber-
geneigtem Oberkorper. Die Fiisse werden oft gekreuzt. Patellarreflex©
und Achillesreflexe fehlen beiderseits, Babinski ist beiderseits positiv,
Fussklonus fehlt. Laseg uesches Symptom ist beiderseits stark positiv,
die Nervenstamme sind nicht druckempfindlich.
Sensibilitat: Das Lagegefuhl in den Fingem uud im Fussgelenk, so wie
in der grossen Zehe ist deutlich gestort, im Knie- und Handgelenk gut.
Temperatursinn intakt, ebenso stereognostischer Sinn und Distanzgefiihl.
Lokalisationsfehler fiir Beriihrungen mittelgross. Taktile Hypasthesie bei
Pinselberuhrimgen beider Oberschenkel, vorn bis handbreit iiber der Sym-
physe, hinten ungefahr bis zur Glutaealfalte. Bei Prufung mittelst Head -
scher Stichreihen wird konstant dieselbe Grenze gefunden. Hypasthesie
in der Bauohgegend dicht unterhalb des Nabels, doch ist diese inkonstant.
Bei tiefem Druck und bei Nadelstichen richtige Empfindung, aber langsam
und abcreschwaeht gegeniiber Druck und Sticli an anderen Korpergegenden.
An Unterschenkeln und Fussriicken totale Vibrationsanasthesie (in der
oberen Korperhalfte intakt). Gelegentlich Beriihrungsanasthesie (inkonstant).
Gute Lokalisation. Temperatursinn ungestort.
Fall 2. Klara D.. 19 Jahre.
A. Erste Aufnahme im Juli 1902.
Anamnese: Ein Bruder der Patientin ist gesund. Ebenso die Eltern.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
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Die Schwester (s. unten) leidet seit der Jugend an derselben Krankheit.
Seit dem 15. Lebensjahr fiihlt Patientin eine Mattigkeit in den Beinen,
schon naeh den geringsten Anstrengungen. Keine Arbeit im Geschaft ist
ihr daher moglich, da die Beine dimmer anschwellen“. Der ZuBtand besserte
sich voriibergehend und verschlimmerte sich schnell wieder. Patientin
hat keine Schmerzen, hin und wieder ein eigenartiges Kitzelgefiihl am
Knochel. Kein luetischer Infekt nachweisbar.
Status praesens: Keine Besonderheiten der ausseren Korperbildung.
Das Riickgrat ist gerade, nirgends druckempfindlich. Herz, Lunge und
Bauchorgane sind normal. Die Himnerven samtlieh normal, die Sprache
etwas langsam, leicht skandierend. Intelligenz intakt.
Obere Extremitdten: Aktive und passive Bewegungen frei. Keine
Spasmen, grobe Kraft gut, die Reflexe sind vorhanden. Fingemasenversuch
mit deutlichem Danebenfahren. Besonders tritt die Unsicherheit hervor
beim Zielen des Fingers nach einem bestimmten vorgehaltenen Gegen-
stand. Die Sensibilitat ist intakt fur alle Qualitaten.
Rumpf: Aufsetzen aus liegender Position ohne Hiilfe der Arme gut
imd sicher moglich. Beim Sitzen mit geschlossenen Augen Unsicherheit,
bei erhobenen Airmen deutliches Schwanken und rasch eintretendes Schwindel-
gefiihl. Bauchreflexe beiderseits vorhanden, Sensibilitat fiir alle Qualitaten
intakt.
U ntere E xtremitdten: Gang sehr unsicher, etwas stamp fend, die Fiisse
werden oft fiber- und voreinander gesetzt, sodass Patientin iiber die eigenen
Fiisse stolpert. Sie tritt mit der Hacke zuerst auf. Romberg ist stark
positiv. Dabei kein Spielen der Muskulatur. Die Patellarreflexe und Achilles-
sehnenreflexe fehlen beiderseits. Babinskisches Phanomen beiderseits
angedeutet. Plantarflexion tritt nie ein, wohl aber werden haufig mit der
grossen Zehe auch die iibrigen Zehen dorsalflektiert. Beim Zielen des Beines
nach einem vorgehaltenen Gegenstande starkes Danebenfahren. Sensi¬
bilitat intakt fur alle Qualitaten. Einen Monat spater: Feinste Pinsel-
beriihrungen werden prompt angegeben. Spitz und Stumpf an den Unter-
schenkeln zuweilen verwechselt. Schmerzempfindung herabgesetzt.
B. Zweite Aufnahme im Mai 1909.
Zurischenanamnese: Nach ihrer Entlassung 1902 fiihlte sich Patientin
sehr wohl. Ihr Zustand war gebessert, der Gang allerdings immer noch
unsicher. Vor 4 Jahren wurde sie durch den Tod der Mutter gezwungen,
sich ihren Lebensunterhalt selbst zu verdienen. Sie musste sehr viel arbeiten.
Im Winter 1905 hatte sie eine starke Erkaltung und Halsentziindung.
Danach Verschlimmerung ihres Leidens. Unsicherheit besonders stark
in den Armen, weniger in den Beinen. Vor 3 Wochen ohne jeglichen ausseren
Anlass erhebliche Verschlechterung des Ganges, Unsicherheit in den Handen.
Status praesens: Als Degenerationszeichen fallen angewachsene Ohr-
lappchen auf. Ueber samtlichen Ostien des Herzens, besonders im 3. Inter-
costalraum links, lautes systolisches Gerausch. Im iibrigen ist der Befund
der inneren Organe wie unter A . Die Himnerven zeigen ebenfalls gegen A
keine Veranderung; nur ist ein Nystagmus deutlich, der allerdings nach
einigen Schlagen verschwindet.
Obere Extremitdten: Motorische Kraft gut erhalten. Die Triceps-
und Radius-Periost-Reflexe fehlen beiderseits. Der Fingemasenversuch
erfolgt in pendelnden, ruckweisen Absatzen. Die Sensibilitat ist fiir alle
Qualitaten intakt.
Rumpf: s. o.
XJntere Extremitdten: Grosszehe links in dauemder Dorsalflexion. Beim
Kniehackenversuch probes Danebenfahren, Schwanken in der Luft. Lage-
gefiihl in Hiifte, Knie, Fuss richtig, in Zehen ofters falsch.
Sensibilitat: Zarte Beriihrungen an Unterschenkeln und Fiissen
wiederholt ausgelassen. Auf dem Fussriicken Nadelspitze und -kopf oft
verwechselt, warm und Kalt ebenfalls, aber seltener. An den Unter- und
Oberschenkeln werden 2 Nadelspitzen erst in einer Entfernung von 12—15 cm
als zwei erkannt. Bei der Leube-Stemsehen Probe kommen an Fuss- und
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500
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
Handriicken selbst bei Strichen von l** cm Irrtiimer vor. Das Lagegefuhl
ist intakt.
Pall 3. Clara L., 17 J., aufgenommen am 16. IX. 1908.
Anamnese: Der Vater der Patientin war Oheim der Mutter. Bei Ge-
burt der Patientin war der Vater 53 J., die Mutter 35 J. Mit 14 Jahren
wurde bei der Patientin eine Unsicherheit auf den Beinen beim Gehen und
Stehen bemerkt. Schwanken und Einknicken in den Knieen, Stolpem.
Im Dunkeln war der Gang noch imsicherer. Gefuhl der Lahmheit von den
Fusssohlen bis hinauf zu den Knien. Im Dunkeln ist ein Gehen ohne Unter-
stiitzung nicht moglich. Seit einigen Wochen auch Wackeln mit dem Kopf.
Keine Schmerzen. Ungeschicklichkeit auch im Manipulieren mit denHanden.
In der letzten Zeit fielen der Patientin die „knimmen Zehen“ auf. Keine
Infektion.
Status praesens: Ohrlappchen rechts angewaehsen, links durch eine
Furche gespalten. Leichte Struma. Herz, Lunge, Bauchorgane ohne Be-
sonderheiten. Die Himnerven sind vollig intakt. Beim Sprechen werden
die Konsonanten langgezogen. Brissaud&cher Fuss.
Obere Extremitdten: Die Motilitat ist gut erhalten, aber die Einzel-
bewegungen der Finger ungeschickt. Die dynamometrische Kraft ist rechts
gleich 60, links 40. Die Triceps- und Radiusperiostreflexe fehlen beider-
seits. Beim Fingemasenversuch standig Danebenfahren. Lagegefuhl im
kleinen Finger gestort. Sensibilitat fiir Pinsel und Nadelstiche, sowie fur
Warm und Kalt intakt.
Rumpf: Aufrichten des Korpers ohne Hiilfe der Hande unmoglich.
Bauchreflexe vorhanden.
Untere Extremitdten: Die Motilitat ist gut, das Zehenspiel wenig aus-
giebig. Die Planta pedis zeigt typische Hohlfussbildung, die Zehen sind
dauemd dorsalflektiert. Der Pateilarreflex fehlt rechts, links ist er spur-
weise vorhanden. Die Achillessehnenreflexe fehlen beiderseits. Babin&ki•
sches Phanomen ist zweifelhaft. Die Dorsalbewegung der grossen Zehe
geschieht fluchtartig. Oppenheims Unterschenkelreflex ist links positiv.
rechts fehlt er. Mendel-Bechterexvs cher Reflex: beiderseits Dorsalflexion.
Lagegefuhl in der grossen Zehe gestort. Knie - Hacken - Versuch links
etwas ataktisch, rechts kaum. Die Sensibilitat fiir Beruhrung und Stiche
ist intakt. Bei spaterer Untersuchung werden Beriihrungen an beiden
Unterschenkeln verschiedentlich ausgelassen. Lasegue sches Phanomen
beiderseits negativ. Romberg stark positiv. Der Gang ist ausgesprocfien
ataktisch, an den cerebellaren erinnemd. Die Grimdphalangen der Fiisse
stehen in Hyperextension, die Mittelphalangen in leichter Flexion, die
Endphalangen in Mittelstellung.
Januar 1908.
Sensibilitat (nach 8 Monaten): Lagegefuhl in der grossen Zehe beider¬
seits stark gestort. An beiden Unterschenkeln und auf den Fussriicken
werden ab und zu Beriihrungen ausgelassen, am konstantesten an der Vorder-
flache beider Tibien. Bei der Leube-Sternsekiexi Probe andauernd falsche
Angaben bei Strichen von 1 cm und etwas dariiber. Langere Striche an
den Armen richtig, an den Beinen faisch angegeben.
Fall 4, Johanna La., 23 J., aufgenommen im Januar 1908.
Anamnese: Vater Potator. Ob er Lues gehabt hat, ist ungewiss. Die
Geschwister sind an unbekannter Krankheit gestorben. Mutter hatte keine
Aborte. Die Patientin hat. soiange ihre Erinnerung reicht, ein Bein immer
„nachgeschleppt“. Nachdem sie bereits laufen gelemt hatte, verlemte
sie es ein viertel Jahr lang wieder ohne nachweisbaren Grund. Seit dem
3. Lebensjahr unsicheres Gehen, Zittem in den Knieen. Seit mehreren
Jahren ruckweise Schmerzen in Beinen und Armen, Unsicherheit in den
Handen beim Greifen. Vor 3 Jahren wurden ihr plotzlich iiber Nacht die
„Glieder steif“; sie konnte Arme und Beine nicht mehr bewegen. Bei
passiven Bewegungen hatte sie starke Schmerzen. Seit 2 Jahren leidet
sie an epileptischen Krampfanfallen. Kein Infekt.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
501
Status praesens: Rechts und links Andeutung von Klumpfuss. Die
Wirbelsaule ist verbogen im Sinne einer allgemeinen, fast gradlinigen
Rechtsabweichung des oberen und mittleren Drittels. Herz, Lunge und
Bauchorgane sind ohne Besonderheiten. Beim Zahnefletschen bleibt der
rechte Mundwinkel spurweise zuriick. Die rechte Pupille ist weiter als
ciie linke. Beim Blick nach rechts deutlicher Nystagmus, nach links nur
spurweise. Die Zunge zeigt leichte Unruhe. Die Worte werden verwaschen
ausgesprochen.
Obere Extremitdten: Handedruck rechts schwacher als links. Der
Fingemasenversuch fallt nicht nennenswert ataktisch aus. Auch statisch
keine Ataxie.
Rumpf: Ohne Besonderheiten. Reflexe vorhanden.
Untere Extremitdten: Motorische Kraft gut erhalten. Nervenstamme
auf Druck nicht empfindlich. Zxzs&guesches Phanomen ist negativ. Patellar-
reflexe Vorhanden, Achillesreflexe fehlen; Babinskisches Phanomen fehlt.
Beim Gehen lebhaftes, unregel massiges Schwanken, bei Augenschluss
starkes Abweichen von der Geraden, bald nach rechts, bald nach links.
Die Sensibilitat fiir Beriihrung und Temperatur ist intakt. Nadelstiche
werden zuweilen Unks, zuweilen rechts starker empfunden (sehr ungenaue
Angaben). An den oberen Extremitaten ist die taktile Sensibilitat intakt,
ebenso das Lagegefiihl und der Temperatursinn. Stereognose: Ein Streich-
holz wird erst fiir eine Nadel, dann fiir einen „stumpfen Gegenstand“ ge-
halten. Schliissel, Geld, Uhrkette werden richtig erkannt.
Fall 5, Pauline R., 35 J., aufgenommen am 7. IV. 1905.
Anamnese: Der Vater der Patientin ist an Paralyse gestorben. Die
Mutter soil geistesgestdrt sein. 3 Stiefgeschwister sind gesund. Vor 4 Jahren
wurde Patientin darauf aufmerksam gemacht, dass sie einen ,,torkligen % ‘,
unsicheren Gang habe. Sie selbst bemerkte nur seit mehreren Jahren eine
geringe Unsicherheit und Ungeschicklichkeit in den Bewegungen, besonders
m den Handen, so dass sie stets fiirchtete, Gegenstande fallen zu lassen.
Eine Infektion wird absolut bestritten. Potus ist nicht vorhanden. Blase
und Mastdarm sind intakt. Keine sonstigen Beschwerden. In ihrer Kind-
heit soil Patientin stets ganz gesund gewesen sein.
Status praesens: Herz, Lunge. Bauchorgane ohne Besonderheiten.
Die linke Pupille ist etwas weiter als die rechte. Beim Blick nach rechts
langsamer Nystagmus. Der Mundfacialis wird rechts besser innerviert als
links. Die Zunge weicht etwas nach rechts ab. Bei schnellem Sprechen
leichte Hesitation. Im iibrigen zeigen die Hirnnerven keine Besonder¬
heiten. Die Intelligenz ist intakt. Psychisch Euphorie.
Obere Extremitdten: Nur das Oppositionsspiel der Finger rechts und
links ist unbeholfen, trage. Sonst ohne Besonderheiten. Reflexe vorhanden.
Rumpf: Aufrichten gut ohne Hiinde moglich. Bauchreflexe vorhanden.
TJntere Extremitdten: Die grobe Kraft ist gut erhalten. Keine Ataxie,.
keine Spasmen, Atrophien oder Paresen. Patellarreflexe und Achilles-
sehnenreflexe fehlen, Babinskisches Phanomen fehlt. Keine Ataxie beim
Kniehaekenversuch. Gang unsicher, taumelnd, bald nach links, bald nach
rechts abweichend. Patientin iibertritt sich, indem sie den einen Fuss
beim Gehen iiber den andem setzt. Bei Augenschluss Schwanken, bald
nach rechts, bald nach links. Beim Gang mit geschlossenen Augen sehr
starkes Schwanken, Zickzackgang vorzugsweise nach rechts. Sensibilitat:
sehr starke Lagegefiihlsstorung in der grossen Zehe. Leichte Beriihrungen
werden an beiden Beinen nicht gefiihlt. Warm wird zuweilen als kalt be-
zeiehnet. Die Hypasthesie geht teilweise auch auf die seitlichen Teile des
Abdomens iiber. Am starksten ist die Storung an den Unterschenkeln.
Fall 6, Marg. E., 13 J., aufgenommen am 25 I. 1907.
Anamnese: Keine erbliche Belastung. Keine ahnliche Krankheit in
der Familie. Patientin lief stets unsicher. Im 8. Lebensjahr fiel es auf,
dass sie „krumm“ ging. Sie war ungeschickt und langsam in den Beinen,
konnte nicht wie die Geschwister laufen, nicht klettern. Im letzten Jahre
verschlimmerte sich das Leiden, trotz arztlich-orthopadischer Behandlung.
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502
Singer, Die Sensibilitatsstorungen
Das Befinden wurde so schlimm, dass der Schnlbesuch eingesfcellt- werden
musste. Auch die Arme wurden allmahlich unsicher. Beim Herunter-
steigen einer Treppe muss Patientin sich, um nicht zu fallen, stets fest-
halten. Auch sonst stolpert sie zuweilen auf ebener Erde.
Status praesens: Starke Skoliose der Wirbelsaule nach rechts, am
weitesten in der Hohe der rechten Spina scapulae, in der unteren Lenden-
wirbelsaule ist dies© nach links ausgebuchtet. Herz, Lunge, Bauchorgane
sind ohne Besonderheiten. Die Himnerven sind intakt. Nur fallt zuweilen
beim Sprechen ein Versetzen von Konsonanten auf. Die Intelligenz ist
ungestort.
Obere Extremitdten: Die aktive und passive Beweglichkeit ist normal,
die motoiische Kraft gut. Die Triceps- und Radiusperiostreflexe fehlen,
beim Fingernasenversuch beiderseits deutliches Danebenfahren. Das Lage-
gefiihl ist intakt.
Rumpf: Aufsitzen ohne Ataxie, ohne Benutzung der Hand© gut
moglich. Die Bauchreflexe sind erhalten.
Untere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Die
rechte gross© Zehe steht dauerad, die linke hie und da inBabinski-Stellung.
Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen. Babinskisches Phanomen nur
rechts vorhanden, auch hier nicht regelmassig. Beim Kniehackenversuch
Danebenfahren, bei offenen und bei geschlossenen Augen. Beim Gehen
starkes Schwanken (nicht nach einer bestimmten Seite hin), dabei auch
schwankende Bewegung des Rumpfes. Bei geschlossenen Augen nur geringe
Zunahme der Unsicherheit. Auf dem Fussriicken und an den Unterschenkem
werden Beruhrimgen zuweilen ausgelassen. 1 % Monate spater klagt
Patientin liber ausserordentlich heftige Schmerzen in den Bemen. Feine
Beruhrimgen werden auf der linken Bauchseite gelegenthch ausgelassen.
Fall 7, Kind St.. 9 J., aufgenommen am 10. I. 1907.
Anamnese: Ein Bruder des Kindes ist an Krampfen gestorben. Lue-
tische Erkrankung des Vaters ist mit Sicherheit nicht auszuschliessen.
Das Kind kann seit dem zweiten Lebensjahr nicht gut laufen.
Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind ohne Besonder¬
heiten. Kein Klumpfuss, keine Skoliose der Wirbelsaule.
Obere Extremitdten: Die grobe motorische Kraft ist gut erhalten. Die
passive Beweglichkeit nicht gesteigert. Beim Fingernasenversuch deut¬
liches Zittem und Danebenfahren. Kein statischer oder lokomotorischer
Tremor. Die Tricepsreflexe sind beiderseits sehr schwach, die Radius¬
periostreflexe erloschen.
Rumpf: ohne Besonderheiten. Bauchreflexe vorhanden.
Untere Extremitdten: Die passive Beweglichkeit ist normal, die grobe
motorische Kraft gut erhalten. Patellarreflexe und Achillessehnenreflexe
fehlen beiderseits, Babinskisches Phanomen beiderseits positiv. Beim
Kniehackenversuch deutliche Ataxie. Schon beim Stehen mit offenen
Augen Schwanken des Korpers. Der Gang ist breitbeinig-ataktisch, die
Fiisse werden stampfend und mit einem Ruck aufgesetzt. Bewegungen
der grossen Zehe werden hin und wieder falsch angegeben. Nadelstiche
an den unteren Extremitaten werden wenig schmerzhaft empfunden.
Beruhrimgen zuweilen ausgelassen.
Fall 8. Elisabeth D., 21 J., aufgenommen am 6. VII. 1907.
Anamnese: Die Schwester der Patientin (Fall 2) leidet an derselben
Krankheit. Mit 12 Jahren soil die Patientin kurze Zeit an „Chorea“ ge-
litten haben. Mit 16 Jahren noch einmal, diesmal % Jahr lang. Mit
17% Jahren war sie wegen eines Magenulcus zur Behandlung im Kranken-
haus. Mit 18 Jahren bekam sie eine gross© Miidigkeit in den Beinen, das
Gehen wurde schlecht und immer schlechter. Auch eine Schwache in den
Beinen und Handen fiihlte sie, sodass ihr Gegenstande oft aus der Hand
fielen. Voriibergehend besserte sich der Zustand manchmal. Jetzt ist
Patientin sehr unsicher und ungeschickt im Gebrauch der Hande, sehr
ungeschickt beim Laufen. Patientin ist einigemal, wahrend sie ruhig sass.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
503
aus dem Bett gefallen. Zuweilen schlafen ihr Halide und Fiisse ein. Eine
Infektion hat nicht stattgefunden, kein Trauma. Potus ist nicht vorhanden.
Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind gesund. Die
rechte Gesichtshalfte wird schlechter innerviert als die linke. Die Zunge
weicht etwas nach rechts ab. Grobschlagige Zitterbewegungen des Kopfes,
die beim Liegen aufhoren. Sprache schleppend, stammelnd.
Obere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Die Triceps-
und Radiusperiostreflexe fehlen. Beim Fingemasenversuch tritt starkes
Zittem und Schwanken ein. Kein statischer oder lokomotorischer Tremor.
Rump): Aufsitzen ohne Zuhiilfenahme der Hande moglich. Die
Bauchreflexe sind vorhanden, aber schwach.
Untere Extremitdten: Die motorische Kraft ist herabgesetzt, die
passive Beweglichkeit in aUen Gliedern gesteigert. Spiel der Zehen langsam,
aber symmetrisch. Beim Kniehackenversuch starkes Danebenfahren,
rechts starker als links. Die Patellar- und Achillessehnenreflexe fehlen.
Babinskiachea Phanomen positiv, hin und wieder Neigung zu spontaner
dauernder Dorsalflexion der grossen Zehe. Gehen ist ohne Unterstiitzung
unmoglich. Gestiitzt, geht Patientin breitbeinig, schleudert- die Beine weit.
Die Fussspitzen bleiben leicht am Boden kleben. Patientin schwankt nach
rechts, bei Augenschluss ein wenig mehr. Kein Rombergsches Schwanken.
Die Sensibilitat ist fiir alle Qualitaten intakt, doch werden Quer- und
Langsstriche von 2 y 2 cm au * den Unterschenkeln fast stets verwechselt.
Fall 9, Otto Co., Topfer, 34 J., aufgenommen Oktober 1909.
Anamnese: In der Familie sind keine Nerven- oder Geisteskrankheiten.
Vater und Mutter waren Cousin und Cousine. Der Bruder des Vaters ist
durch Selbstmord gestorben (angeblich Geldverluste). Ein Vetter miitter-
licherseits ist Potator. Die Entwicklung des Patienten war eine normale.
Ein luetischer Infekt oder Potatorium liegen nicht vor. Patient konnte
als Kind stets gut tumen. Wurde mit 9 Jahren von einem Kameraden ins
Wasser gestossen; damals hatte er noch keine Schwache in Armen und
Beinen. Im 15. Lebensjahr merkte er allmahlich ein Nachlassen der ,,Kraft“
in beiden Armen, besonders nach langerer Tatigkeit. Als er zum Militar
kommen sollte, bemerkte er eine Schwache in den Beinen, d. h. Unsicherheit
beim Gehen. In geringem Masse soli eine gewisse Mattigkeit auch in den
Beinen schon seitdem 15. Jahr bestanden haben. Das ,,Riickenmark wurde
galvanisiert". Keine Besserung. Patient konnte aber noch allein gehen,
nach iy 2 Jahren jedoch nur noch mit Unterstiitzung von Vater und Mutter.
Er wurde nochmals % Jahr behandelt. Keine Besserung, sondem an-
dauemd Verschlimmerung. Patient konnte sich allein nicht mehr halten.
Nach „Einspritzungen“, die ihm ein Chemiker machte, soli eine Lahmung
Anmerkung: Ich nahm Gelegenheit, bei diesem Patienten das von
Lowenthal sogenannte „faradische In ter vail “ (Abstand zwischen der Schwelle
fiir Beriihrungs- und fiir Schmerzempfindung bei Induktionsstromen, zu
bestimmen. Bei der Versuchsanordnung war der Eisenkem vollstandig
in die primare Rolle eingefiigt. Die sekundare Rolle wurde langsam iiber
die primare gefiihrt. Es waren 30 Widerstande eingeschaltet; benutzt
warden runde, gleiche Elektroden (15 cm), die eine auf den Oberschenkel,
die andere auf die Gegend des M. tib. anticus aufgesetzt. Notiert wurde bei
Empfindung am Unterschenkel. Es ergab sich als Intervall (und zwar bei
mehrfacher Priifung gleich) 3,0. Das Intervall, unter genau denselben
Bedingungen gepriift, ergab bei einem Normalen 2,4; bei einem Fall von
arteriosklerotischer Himthrombose: 2,2; bei einem Tabiker 2,4.
Unter den gleichen Bedingungen wurde das Intervall fiir den Fuss-
riicken bestimmt (andere Elektrode auf M. tib. anticus). Notiert wurde
bei Empfindung am Fussriicken. Es ergab sich als Intervall bei Friedreich-
scher Krankheit: 4,2, beim Normalen 1,6, Himthrombose 1,7, Tabes 2,6.
Das entspricht ganz den auch in dieser Arbeit niedergelegten An-
schauungen iiber den Grad der Sensibilitatsstorungen an proximalen und
distalen Partien des Korpers bei Friedreichschev Krankheit.
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504
S i n g e r , Die Sensibilitatsstorungen
der Fiisse eingetreten sein, die links starker war als rechts. Die Unsicherheit
verschlechterte sich so sehr, dass die Zehen nicht mehr bewegungsfahig
waren, die Finger zum Schreiben unfahig wurden. Er hatte auch ofters
in Waden und Fingern Zuckungen. Patient konnte sich nicht gerade auf-
richten, Schmerzen traten nicht auf. Kein Schwindel. Die Potenz ist seit
4 Jahren erloschen, die Blase intakt. Oefters Ameisenlaufen auf der Kopf-
haut. zuweilen auch in den Beinen. Die Sprache hat sich nicht verandert.
Seit 3 Jahren kann Patient nicht mehr stehen.
Status praesens: Grosser, starker Mann in gutem Emahrungszustand.
Lungen und Bauchorgane normal. Am Herzen ein systolisches Spitzen-
gerausch. Als Stigmata degenerationis sind vielleicht aufzufassen: sehr
Weiner Penis, ausgesprochene Hypospadie, abnorme Implantation der
Stirnhaare. Links ist Brissaudsche Fussbildung angedeutet. Die Grund-
phalange dergrossenZehe steht hyperextendiert,dieEndphalanx in stumpfem
Winkel zur Grundphalanx flektiert. Perubalsam wird links starker ge-
rochen als rechts. Lidspalte links enger als rechts. Pupillen gleich weit,
Licht- und Konvergenzreaktion beiderseits gut; beim Blick nach rechts,
links, oben, unten grobschlagiger Nystagmus. Rinne beiderseits negativ.
Leicht naselnde, langsame Sprache (soli stets so gewesen sein).
Obere Extremitdten: Der Tonus ist rechts und links herabgesetzt.
Triceps- und Radiusperiostreflex nicht sicher auslosbar. Die motorische
Kraft in Schulter. Ellenbogen imd Hand gut erhalten. Von den Finger-
bewegungen ist nur die Oppositionsbewegung des Daumens schwach,
namentlich links. Die Nervenstammo sind nicht druckempfindlich. Beim
Fingemasenvarsuch bedeutende Ataxie und Danebenfahren. Beiderseits
statische und lokomotorisehe Ataxie. In den gespreizten Fingern choreiforme
Instabilitat.
Rumpf: Aufrichten ohne Arme moglich. Die Reflexe sind vorhanden.
lebhaft.
Untere Extremitdten: Beide Fiisse sind kalt, blaulich, der Tonus ist
rechts und links, besonders im Fussgelenk. herabgesetzt. Die Patellar-
und Achillesreflexe fehlen beiderseits. Plantarreflex beiderseits vollig
erloschen. Beim Kniehackenversuch massige Ataxie. Die grobe Kraft
im Fussgelenk ist schwach, Zehenbewegungen sind fast unmoglich. Schon
im Sitzen ist liambergsches Schwanken angedeutet. Gehen ist nur mit
Hiilfe von 2 Wiirtern moglich. Hochgradige Ataxie. Typische Demarche
tab^to-cerebelleuse.
Die Sensibilitiit ist fur alle Qualitaten an den oberen Extremitaten
intakt. Bei der Zjeube-Steni&chen Probe nur gelegentlich leichte Irrtumer.
Von der Mitte beider Untersehenkel nach abwarts Hypaesthesie fiir Be-
riihrung und Thermhypaesthesie. Lagegefuhl im Grosszehengelenk hoch-
gradig gestort, im Fussgelenk intakt. Schinerzempfindlichkeit auf dem
Fussriicken herabgesetzt. Leube-Sle rnsche Probe: Striche von 2— 2 1 / 2 cm
auf dem Fussriicken fast regelmassig angegeben. Herabsetzung der testi-
kularen, keine Herabsetzung der trachealen Sensibiiitat.
Fall 10 (Mari esc he Krankheit), Albertine Z., 52 J., aufgenommen
September 1909.
Anamnese: In der Familie sind keine ahnlichen Krankheiten, keine
Krampfe. keine Geisteskrankheiten. Lues des Vaters ist nicht vorhanden.
Vor 8 Jahren bemerkte Patientin beim Gehen Unsicherheit. die ganz all-
mahlich schlimnier wurde. Bei Ermiidung und in der Dunkelheit nimmt
diese Unsicherheit nicht zu. Vor 4 Jahren gesellte sich dazu eine Unsicher*
heit und Ungeschicklichkeit in den Handen, sowie eine Erschwerung der
Sprache. Die Hande zittern, die Schrift wird undeutlich. Jetzt ist Gehen
nur mit Unterstutzung auf einer Seite moglich. Patientin kann nahen und
schreiben. Sie sieht seit 20 Jahren schlecht, mit Brille besser. Zuweilen
hat sie Kopfschmerzen und Schwindel (keine echte Vertigo). Patientin
hat eine Zeit lang mit Blei zu tun gehabt (sie war Sehriftsetzerin). Keine
Bleikoliken.
Status praesens: Herz, Lunge und Bauchorgane sind normal. Die
Zunge weicht etwas nach rechts ab, ist diinn, zeigt fibrilliire Zuckungen.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
505
Die Sprache ist angestrengt, langsam; die einzelnen Silben werden ge-
waltsam herausgepresst.
Obere Extremitdten: Grobe motorische Kraft ist gut erhalten. Hande-
schiitteln geschieht sehr langsam und sehr ungeschickt. Bei wagerecht vor-
gestreckten Armen geraten dies© in ein Wackeln, das bis zu Exkureionen
von 5 cm allmahlich anwachst. Beim Fingemasenvereuch rechts wackelnde
Bewegung vor der Erreichung des Ziels, beiderseits nach Erreichung des
Ziels grober Tremor.
Rumpf: Ohne Hiilfe der Arme Aufsitzen moglich. Bauchreflexe sind
vorhanden.
Untere Extremitdten: Grobe motorische Kraft gut erhalten. Bei
passiven Bewegungen im Kniegelenk starker muskularer Widerstand.
Patellarreflexe beiderseits klonisch gesteigert, rechts anhaltender Patellar-
klonus. Achillesreflexe klonisch gesteigert, beiderseits unerschopflich.
Babinski beiderseits negativ. Beim Kniehackenversuch wackelnde Be-
wegung. namentlich rechts; geringes Danebenfahren. Im gestreckten Bein
geringer Tremor. Zehenspiel langsam. Stehen ist mit einseitiger, leichter
Unterstiitzimg moglich. Dabei wird ein Zittem, bald im Kopf, bald in den
Armen, bemerkbar. Romberffechea Phanomen positiv, Zunahme des Zitterns,
Neigung zum Hinteniiberfallen. Gang ohne Hiilfe unmoglich, breitbeinig,
schwankend. Beine im Knie steif, Aufsetzen stampfend. Bei geschlossenen
Augen Zunahme des Schwankens. Sensibilitat: bei der Leube-Stemschen
Probe Fehler in ca. 30 pCt. aller Falle an den Fingern (bei einwandfreier
Aufmerksamkeit). In der grossen Zehe werden links bei Untersuchung
des Lagegefiihls sehr haufig Fehler gemacht.
Fassen wir den Befund der Sensibilitatsstorungen bei vor-
stehenden 9 Fallen von Friedreichscher Krankheit zusammen, so
ergibt sich, dass 7 Patienten deutliche, zum Teil erhebliche Sensi¬
bilitatsstorungen, eine Patientin (4) intakte Sensibilitat, dabei
aber seit Jahren lancinierende Schinerzen in Armen und Beinen,
ein Patient (8) nur zweifelhafte Storungen aufweist. Bei
5 Patienten fand sich Stoning des Lagegefiihls (1, 3, 5, 6, 9),
bei 7 Storung der taktilen Sensibilitat (1, 2, 3, 5, 6, 8, 9),
Herabsetzung der Schmerzempfindlichkeit bei 4 Pat. (1, 2, 7, 9),
bei 2 und 7 nicht regelmassig. 4 mal waren Schmerzen oder
Parasthesien aufgetreten (1, 4, 6, 8). Temperatursinnstorung
wTirde bei Patienten 2 und 5 sehr unsicher, bei Patient 9 sehr
ausgesprochen gefunden. Bei Patient 1 wurde Vibrationsan-
asthesie und leichte Storung der stereognostischen Empfindung
konstatiert; Storung bei Priifung nach der Leube-Sternschen
Methode bei 1, 2, 3, 8 und 9. Bei 1 und 3 fand sich auch eine
Sensibilitatsstorung im Bereich der oberen Extremitaten. Die
Arme waren in diesen beiden Fallen besonders stark ataktisch.
In den iibrigen Fallen fehlte eine irgend erheblichere Storung der
Empfindung in den oberen Extremitaten, obschon Ataxie vor¬
handen war.
Eine Korrespondenz zwischen dem Grad der Ataxie und dem
Grad der Empfindungsstorungen konnte ich nicht feststellen.
Auch viele Beispiele der Literatur sind in diesem Sinne zu ver-
werten. Rennie erwahnt einen Fall von Friedreich mit autoptischem
Befund. Trotz hochgradiger Degeneration der Hinterstrange in
ganzer Ausdehnung und trotz Degeneration der hinteren Wurzel-
fasera war intra vitam bei erhebhcher Ataxie nicht die geringste
Monatsachritt f(lr Psychlatrie und Neurologic. Bd. XXVII. Heft a. 34
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506
Singer, Die Sensibilitatsstomngen
Sensibilitatsstorung zu finden gewesen. Der schwerste Ataktische
von Besolds 4 Frieareichfallen zeigte intakte Sensibilitat. Rumpf
hebt einen Fall hervor, in dem bei betrachtlicher Herabsetzung
des Gefiihls fur Lageveranderungen der Gelenke jede Ataxie fehlte.
In dem bekannten Fall von Niemeyer-Spdth-Schuppel war trotz
formlicher Hohlenbildung im Bereich der Hinterstrange die
Koordination der Bewegungen vollkommen normal. Abgesehen
von dem fast durchweg negativen Befund an den oberen Ex-
tremitaten, konnte ich die Inkongruenz zwischen Ataxie und
Sensibilitatsstorung auch besonders deutlich bei Patientin 4
und 8 konstatieren. Bei ersterer fanden sich bei hochgradiger
Storung der Koordination und bei ausgesprochen ataktischem Gang
nur leichte Reizerscheinungen von seiten der sensiblen Nerven.
In Fall 8 war das Alleingehen wegen der Inkoordination der in-
tendierten Bewegungen ganz unmoglich geworden, und trotzdem
war nur bei der subtilsten Priifung nach Leube-Stern eine minimale
Storung im Bereich der Empfindungsqualitaten vorhanden.
Was den Sitz und die Qualitat der Sensibilitatsstorungen
anlangt, so kann ich zusammenfassend folgendes sagen: Sie bevor-
zugten in unseren Fallen die distalen Partien. Das Grosszehen-
gelenk war fur das Lagegefiihl, der Fussriicken und die Vorder-
flache der Unterschenkel fiir die taktile Sensibilitat Lieblingssitz
der Storung. Dem Verlauf bestimmter Nerven, Wurzeln oder
Segmente oder der Abgrenzung von Korpergliedem folgte die
Storting niemals. Vielmehr hatten Grenze und Ausdehnung an-
scheinend mehr oder weniger etwas Willktirliches. Auch in der
Literatur findet sich wie in unseren Fallen ein Vorherrschen der
Lagegefuhlsstorungen. Schmerz- und Temperatursinnstorungen
sind sehr seiten. Die Haufigkeit der Storungen der Beriihrungs-
empfindlichkeit (bei uns in 7 von 9 Fallen) ward in der Literatur
wohl zu knapp bemessen. Abgesehen davon, dass haufig Angaben
iiber die Priifung der Sensibilitat iiberhaupt fehlen oder nur sehr
ungenau und fliichtig sind (s. Statistik), glaube ich auch, dass
mit Htilfe der feinsten Methoden (wie der Probe von Leube-Stern)
noch viel haufiger Empfindungsstorungen im Sinne von sensiblen
Ausfallserscheinungen sich finden werden.
Zeitlich verhielten sich die Storungen folgendermassen: Bei
den Kranken, die Jahre hindurch in Beobachtung blieben, liess
sich eine unzweifelhafte Progression der Erscheinungen von seiten
der Sensibilitat konstatieren (s. Tabelle). M., Patient 1, hatte im
11. Jahre seiner Erkrankung nur eine leichte Hyperalgesie der
Hande (bei ausgesprochener Ataxie in Handen und Beinen), im
19. Jahre der Krankheit die schwersten Storungen der taktilen,
Lage- und Vibrationsempfindung. Ebenso waren bei der Kranken 2,
bei der im 4. Jahr der Erkrankung nur leichte Hypalgesie vor¬
handen war, nach 7 Jahren die Storungen ganz erheblich ge-
wachsen. Diese Beobachtung erinnert an den Fall von Burr, der
erst nach 7 Jahren bei seinem Patienten Verspatung der Emp-
findung uud Herabsetzung derselben an den Beinen fand. Oder
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bei der Friedreichschen Krankheit.
507
an einen Fall (2) von E. Muller, der erst 10 Jahre nach dem
ersten Auftreten der Krankheit Storungen der Sensibilitat nach-
wies. Wenn Friedreich und viele seiner Nachfolger erklarten,
dass erst im Endstadium der hereditaren Ataxie iiberhaupt Sto¬
rungen der Sensibilitat auftreten, so lasst sich das nach den Ge-
samtbeobachtungen heute nicht mehr anerkennen, wiewohl der
progrediente Charakter mir erwiesen scheint. Es werden zuweilen
Storungen der Sensibilitat, und zwar gerade auch sensible Aus-
fallserscheinungen, schon in den ersten Stadien der Krankheit
konstatiert. Allerdings entgehen in friiher Zeit die Storungen zu¬
weilen unserer Beobachtung; denn erstens sind die Angaben von
Kindem bei subtileren Priifungen oft sehr mangelhaft und un-
zuverlassig; zw’eitens wechseln die Erscheinungen, wovon ich
mich selbst wiederholt iiberzeugen konnte, recht oft, so dass ein
augenblickliches Fehlen von Storungen noch nicht ganz sicher
den Schluss zulasst, dass Storungen auch friiher nie vorhanden
waren.
Bei unsem Patienten 1, 2 und 3, die mehrere Jahre hindurch
beobachtet werden konnten, schien die Progredienz der ataktischen
Symptome mit einer gewissen Progredienz der sensiblen Erschei¬
nungen parallel zu gehen. Wir konnen trotzdem den inneren Zu-
sammenhang der beidenPhanomene hierdurch fiir die Friedreichache
Krankheit nicht fiir erwiesen halten. Denn die Storungen der
Empfindung bezogen sich nicht immer genau auf die Glieder,
welche die Koordinationsstorung aufwiesen. Die oberen Ex-
tremitaten waren z. B. fast stets sehr ataktisch und dabei frei
von sensiblen Ausfalls- und Beizerscheinungen. Auch schien uns
der hohe Grad der Ataxie, der oft das Gehen vollkommen un-
moglich machte, nicht der relativ geringen Sensibilitatsstorung
an den Beinen zu entsprechen. Dass wir bei unseren Beobachtungen
relativ haufig Storungen der Lage- und Beruhrungsempfindlichkeit
konstatierten, und dass diese Storung auch am haufigsten in den
Befunden der Literatur wiederkehrt, entspricht anatomisch sehr
gut der regelmassig gefundenen Degeneration der Hinterstrange
und Seitenstrange.
Die subjektiven und objektiven Storungen der Empfindung
sind jedenfalls bei der Friedreichschen Krankheit viel haufiger,
als gemeinhin angenommen wird. Man wird in Zukunft den Satz
von der Integritat der Empfindung bei der Friedreichschen Krank¬
heit korrigieren und einschranken miissen, wie man schon so
manchen Punkt im Symptomenbild derselben Krankheit modi-
fiziert hat. Jedenfalls kann es schon heute nicht mehr erlaubt
sein, die Friedreichache Krankheit auf Grand des angeblich
vollkommenen Mangels aller sensiblen Storungen differential-
diagnostisch etwa von der juvenilen Tabes zu trennen. Wenn
auch bei der Tabes die Sensibilitatsstorungen durchweg viel aus-
gepragter sind und namentlich friiher auftreten, so kommen doch
auch einzelne Falle der Friedreichschen Krankheit vor, in denen
die Sensibilitatsstorungen fast ebenso erheblich sind und ebenfalls
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508
Singer, Die Sensibilitatestdrungen
recht friih erscheinen. Vielleicht konnte eher das relative Intakt-
bleiben der Schmerzempfindlichkeit bei der Friedreichschen Krank-
heit gegeniiber der juvenilen Tabes diagnostisch verwertet werden.
Die Patientin 10, die dem fliichtigen ausseren Aspekt nach
das Bild der Friedreichschen Krankheit darbietet, erweist sich
bei sorgfaltiger Untersuchung als ein Fall von Mariescher Krank¬
heit. J)i e Sensibilitat ist hier nur wenig gestort. Einzelne
Beobachter wiesen u. a. besonders darauf hin, dass, im Gegensatz
zur Friedreichschen Krankheit, bei der ,,hereditaren Kleinhirn-
ataxie“ die Sensibilitat meist erhebhcher gestort ist. Schon ein
Vergleich unseres Falles 10 etwa mit Fall 1 lehrt freilich, wie un-
sicher dieses differentialdiagnostische Kriterium ist.
Ich gelange also zu folgenden Schlusssatzen:
1. In ca. 35 pCt. aller bisher veroffentlichten Falle von Fried-
reichscher Krankheit finden sich Storungen der Sensibilitat.
Nach meinen Beobachtungen sind sie noch wesentlich haufiger.
2. Sensibihtatsstorungen treten in jedem Stadium der Krank¬
heit zuweilen auf; jedoch sind sie im Beginn seltener.
3. Die haufigsten Storungen sind die Storungen der Lage-
und der Beriilirungsempfindlichkeit. Reizerscheinungen sind
weniger haufig als Ausfallserscheinungen.
4. Die unteren Extremitaten sind als Sitz der Storung bevor-
zugt, und zwar hier wieder die distalen Partien.
5. Die Ausbreitung der Storungen entspricht nicht den Aus-
breitungbezirken von Nerven oder Hinterwurzeln.
6. In den Storungen konnen Remissionen eintreten. Im all-
gemeinen aber sind die Storungen leicht progressiv.
7. Zwischen der Sensibilitatsstorung und der Ataxie besteht
kein Parallelismus.
8. Die Sensibihtatsstorungen ermoghchen keinen differential-
diagnostischen Schluss gegeniiber der juvenilen Tabes; nur die
relative Seltenheit von Hypalgesien und Schmerzen konnte diffe-
rentialdiagnostisch vielleicht verwertet werden.
Nachtrag.
Nach Schluss meiner Arbeit ist mir noch eine Publikation
zu Handen gekommen, liber die ich hier anhangsweise referiere:
Noika (Revue neurolog. 1908, S. 93) fand bei 2 Patienten,
die an Friedreichscher Krankheit litten, die SensibUitat fiir Be-
riihrung, Schmerz und Temperatur normal. Nur schien die Emp-
findung distal etwas besser zu sein als proximal an den Extremi¬
taten. An den oberen Extremitaten wurden bei Patient 1 die
Spitzen des Tasterzirkels in einer Distanz von 13 cm als 2 emp-
funden, an den unteren in einer Entfernung von 25 cm. Bei
Patient 2 wurden sie an den Armen in einer Entfernung von 9 cm
doppelt gefiihlt, an den Beinen, wenn man eine Spitze auf eine
Zehe, die andere auf das untere Ende des Oberschenkels setzte.
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bei der Friedreichschen Kranklieit,
509
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Erkldrungen: In der Rubrlk „subjektive Schmerzen oder Parasthesien“ heisst -f- vorhanden, — fehlend. Sonst heisst
+ regelmassig: „normal“, — M gestort“. O. = Obere Extremitaten. U. — Untere Extremitiiten. At. = Ataxie. Ru. = Rumpf.
S. St. = Sensibilitatsstorung.
510
Singer, Die Sensibilitatastorungen
Tabelle II.
Sdmtliche FaUe von Friedreichscher Ataxie bis zum Jahre 1908 1 ).
Afflek 2
Aubertin 1
Auscher 1 +
Aus8et 1
Auster 1
Badri an 1
Barjon et Cade 1
Batten 1 +
Bailly 1
Baldwin 1
Beauregard,
. Melot de 1 +
Baumlin 2 -f-
Bayet 1 -f
Beco 2
Berdez 1
Besold 4 (2 +)
Best 1
Bing 1 +
Biro 5 (1 +)
Blocq 1
Bonnus 1 +
Bomikoel 3
Bouchaud 2 +
Bowes 2 (1 +)
Bramwell 3 +
Braun 2 +
Bregman 1 +
Brousse 2 (1 +)
Brown 1 +
Burnet 1
Burr 1 +
Bury 2 (1 +)
Carenville 1
Carpenter 2 (1 +)
Cassirer 1 +
Caton 3
Cerletti 2
Charcot 1
Chiadini 1
Clarke 5 (2 +)
Cohn 2 +
Collins 7
Cousot 4
Crispolti 1
Dalche 1 -f-
Degenkolb 1 +
Dejerine 2 +
Demoulin 1
Descroizilles 1
Destr^e 1
Dreschfeld 5 (3 +)
Dugge 2 +
Edleston 1
Egger 1
Erhcki 1 +
Ewald 1
Ferenczi 1 +
Ferrier 1 +
Fornario 3 +
Forster 1 +
Friedreich 9 (3 +)
Friedenreich 1
Furatner 3 (2 +)
Gadner-Chiadini 1
Gaussel 2
Ghilarducci 1 +
Gibb 1 +
Gladstone 2 (1 +)
Glorieux 1
Gowers 4 (3 +)
Greenlees-
Purvis 2 +
Griffith 8 (3 -f*)
Guizetti 1 +
Guthrie 2
Hall 2 +
Hammond 5 (2 +)
His 5
Hochhaus 1
Hodge 3 (2 +)
Hoffmann 2
Hotsch 3
Hunter 1
Jacoby 1 +
James 1
Jauer 1
Jendr&ssik 1
Joffroy 1
Katz 1 +
Kaufmann 1 +
Kellog 2
Kloft 2 +
Kopczynski 3 (1 +)
Krafft-Ebing2(l +)
Krause 1 +
Ladame 1
Leegaard 4
Lenoble 2
Letulle 1
Liebmann 2
Lunz 1 +
Liithje 3 (1 ■(■)
Mackay 1
Magnus 2 +
Marguhes 1
Martin 1
Mastin 6
') Ohne Anspruch darauf machen zu konnen, auch nicht einen einzigen
Fall von Friedreichscher Krankeit in der gewaltigen Literatur iibersehen zu
haben, glaube ich doch, dass es sich bei den fehlenden, nicht registrierten
Fallen um eine sehr kleine Zahl handelt.
Die dem Automamen beigesetzte Zahl bedeutet die Anzahl der von
ihm publizierten Falle. Das -f-Zeichen bedeutet, dass in diesen Fallen
irgendwelche Sensibilitatsstbrungen bestanden haben.
Leider waren mir relativ viele Falle nicht im Original zuganglich.
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bei der Friedreichschen Krankheit.
511
Mendel, F., 1
Mendel, Kurt, 4
Menzel 1
Mingazzini 2 (1 +)
Moravcsik 3
Muller 3 +
Murray 1
Musso 6
Nammack 1
Neff 1 +
New 2
Nolan 3 (2 +)
Oberthiir 2
Oppenheim 3
Ormerod 8 (1 +)
Ottersbach 1 +
Palmer 1
Paravicini 1
Pauly-Dreyfuss 1 +
Pearce 1
Peck 1
Peiper 2
Pernet 3
Pfaundler 1
Philipp 1
Pitt 1
Pic-Bon namour 1 —
Potts ,1 +
Power 1 +
Prayez 1 +
Pribram 1 +
Prince 1
Pritzsche 2 (1 +)
Putnam 1
Quincke 2
Rankin 3
Raymond 3
Rennie 1 +
Robins 1 +
Rosenbaum 2
Rosenberg 3
Rosenstein 1
Rosenstein 2
Rossi 2 +
Rumpf 3 +
Riitimeyer 11 +
Sainsbury 2 +
Schaffer 1
Schmidt 2
Schonborn 4
Schultze 3 (1 -f)
Schwarz 1
Seeligmiiller 2(1+)
Seguin 2
Seiffer 7 (1 +)
Semmerlin 3
Senator 1
Shattuck 3 +
Shaw 1
Simon 1 +
Sinkler 2
Small-Sidney 4
Smith 6 (1 +)
Starr 3 (2 +)
Stein 1 +
Stem 1 +
Stintzing 4 (2 +)
Striimpell 1
Symes 1
Szczypiorski 1
Taylor 1
Teissier 1
Thalwitzer 2 (1 +)
Thistle 1
Thomas-Roux 1 +
Tresidder 3 (1 +)
Veraguth 1
Verhoogen 1 +
Vincelet 1
Voelker 1
WaU 2
Wallace 2
Walle 2
Wart 1
Weber 3
Wille 2
Wernicke 2 +
Whyte 4 (2 +)
Wichmann 1 +
Williams 3 +
Wilson 1 +
Wickel 1
Winkler 1 +
Zabludowski 1
Zappert 1
Bei 1 war der Gelenksinn in Fingern, Handgelenk, Ellen-
' beugen, Zehen, Knochelgelenk gestort, bei 2 in den Fingern (weniger
im Handgelenk, sehr wenig in Ellenbogen), Fussgelenk, Zehen.
Es resultierte aus beiden Storungen eine erhebliche Herab-
setzung respektive Aufhebung des stereognostischen Sinns bei
beiden Patienten.
An den Extremitaten ist auch der Drucksinn herabgesetzt.
Bei beiden ist ausserdem die Knochensensibilitat gestort,
besonders distalwarts an den Gliedem. Sie ist auf dem Hiiftbein,
dem Kreuzbein, der Wirbelsaule gleich Null. Vom III. Hals-
wirbel an aufwarts wird sie wieder normal.
Zum Schluss erlaube ich mir, Herm Geheimrat Ziehen, meinem
hochverehrten Chef und Lehrer, fiir die Anregung zu dieser Arbeit
und fiir die Ueberlassung des klinischen Materials verbindlichst
zu danken.
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Grundlag®
. h( . r . t» ie anatonuache
p i s c n ? r *
• 1__ .* o
(Auh der deutschen psychiatrischen Universitats-KIinik in
[Prof. Dr. .4. Pick.)]
Die anatomische Grundlage
der cerebrospinalen Pleocytose 1 ).
V T on
Priv.-Doz. Dr. OSKAR FISCHER.
Die Cytodiagnose der durch die Lumbalpunktion gewonnenen
Cerebronpinalflussigkeit hat seit den vor wenigen Jahren bekannt
gewordenen Untersuchungen Widals eine grosse Bedeutung fur
die Diagnostik der verschiedensten Erkrankungen des Zentral-
nervensystems gewonnen, da es sich herausstellte, dass der unter
normalen Yerhaltnissen beinahe zellfreie Liquor bei Krankheiten,
welche mit einer Affektion der Meningen einhergehen, eine mebr
*) Anszugsweise vorgetragen in der Biologisehen Sektion des .,Lotos‘ c
in Prag am 26. X. 1909.
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dur uerebrospinalen Pleocytose.
513
oder weniger starke Vermehrung der zelligen Elemente aufweist.
Fur ein so wichtiges diagnostisches Symptom ist aber auch die
Erkenntnis, welcher anatomischen Veranderung die Zellver-
mehrung des Liquor entspricht, von besonderer Bedeutung. Die
urspriingliche Ansicht der franzosischen Autoren, dass die Zell-
vermehrung aus den entziindeten Meningen stammt, fand bei
Nisfl 1 ) und Merzbacher 2 ) starken Widerspruch, welche diesen
Zusammenhang verneinten und die Frage nach der Herkunft
der Zellen often liessen. Eine Entscheidung konnte nur eine ge-
nauere anatomische Untersuchung von kurz vor dem Tode punk-
tierten Fallen geben; dahin gerichtete Untersuchungen wurden
von mir angestellt. Ich 3 ) bin von folgenden Ueberlegungen aus-
gegangen: Die Zellvermehrung im Liquor kommt im allgemeinen
bei Krankheiten vor, welche mit einer Erkrankung der Meningen
einhergehen; bei akuten mit einer starkeren entziindlichen Affektion
einhergehenden Meningitiden finden sich viel mehr Zellen im
Liquor als bei chronischen Meningitiden; nun sind aber die Meningen
ein sehr ausgedehntes „Organ“ und wir entnehmen und unter-
suchen nur den kleinen Teil des Liquor, der sich im untersten
Blindsacke des Duralsackes ansammelt; bei diesem Sachverhalt
fragt es sich, wie eine Meningealerkrankung beschaffen und lokali-
siert sein muss, um zu einer Pleocytose des durch die Lumbal-
punktion entleerten Liquor zu fiihren. Zur Losung dieser Frage
war der einzuschlagende Weg ganz selbstverstandlich. Es musste
bei einer grosseren Reihe von Fallen verschiedener Art kurz vor
dem Tode der Grad der cerebrospinalen Pleocytose bestimmt und
dann eine genaue Untersuchung der Meningen dieser Falle vor-
genommen werden. Die Untersuchung des Liquor musste kurz
vor dem Tode geschehen; denn die Starke der Pleocytose wechselt,
wie ich ebenfalls nachgewiesen habe, in ganz kurzen Abstanden,
so dass langere Zeit vor dem Tode vorgenommene Punktionen
iiber den Zustand der Meningen im Tode nichts aussagen konnen:
dann musste eine Methode gefunden werden, welche die Unter¬
suchung der Zellen in etwas besserer Weise ermoglichte als es bis
dato geschah. Die L T ntersuchungen wurden meist so ausgefiihrt
(franzosische Methode), dass der Liquor nach Zentrifugierung
abgegossen und der aus den Liquorzellen bestehende Bodensatz
mittels Capillare auf ein Deckglas ubertragen, getrocknet, fixiert
und gefarbt wurde. Derartige Praparate konnten nun iiber die
Art der Zellen gar keine Auskunft geben, da man statt gut er-
haltener Zellen nur kaum erkennbare und klassifizierbare, ge-
schrumpfte oder gequollene Zelltriimmer vorfand, die zwar zur
einfachen Zahlung verwendet werden konnten, bei denen es aber
gar nicht moglich war, die Zellart naher zu bestimmen. Die Ur-
sachen liegeri darin, dass der Liquor als solcher die Zellen schadigt.
zur Quellung bringt und bei langerem Stehen auch die Zellzahl
1 ) Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 190-1.
*) Centralbl. f. Nervenheilk. u. Psych. 1900.
*) Jahrbiieher fiir Psych. 190(5. Bd. XXVII.
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514
Fischer, Die anatomische Grundlagc
zu reduzieren imstande ist. Ich schlug deswegen vor, dem Liquor
sofort nach der Entnahme etwas Formol zuzusetzen, wodurch die
Zellen fixiert wurden; und tatsachlich konnte man dann im Liquor
auch die einzelnen Zeilarten sehr schon voneinander unterscheiden,
indem 3 Arten von Zellen erkennbar waxen: kleine einkernige
Lymphozyten, polynukleare Leukozyten und dann grosse plasma-
reiche Zellen mit blaschenformigen Kemen.
Mein anatomisches Material beatand aus 20 Fallen. Darunter
waren 17 Paralysen mit grossen Differenzen in der Zcllzabl im
Liquor. Die grosste Zahl betrug 64 im Gesichtafelde der Immersion,
die geringste 2 Zellen. Es stellte sich nun heraua, dass die Starke
der Pleocytose parallel ging mit dem Steigen der Infiltration der
Meningen der untersten Riickenmarkabschnitte; es waren zwar
bei den Paralysen die Meningen des ganzen Riickenmarkes und
ebenso die Gehimmeningen infiltriert aber in sehr wechselnder
Starke, wogegen nur die Starke der Affektion der untersten
Meningealabschnitte dem Zellgehalt der Lumbalfliissigkeit ent-
sprach; dieses illustrierten noch besonders schon folgende 2 Falle:
Eine an akuter Verwirrtheit erkrankte Patientin hatte Pleocytose
von 12 Zellen. Die mikroskopische Untersuchung zeigte das
Gehim und Riickenmark sowie die Meningen intakt, nur im
IV. Sakralsegment fand sich ein kleiner myelitischer Herd, und
in derselben Hohe waren die Meningen leicht entziindlich infiltriert.
Der 2. Fall betraf einen Solitartuberkel des Gehims, in dessen
Umgebung die Meningen sehr stark entziindlich infiltriert waren.
Die Meningen der anderen Teile des Grosshirns und des Riicken-
marks waren nicht infiltriert und dementsprechend der Liquor
auch beinahe zellfrei.
Ausser dieser Uebereinstimmung in der Zahl der Zellen zeigt
sich auch eine grosse Uebereinstimmung in der Art der Zellen.
In den Fallen, welche im Liquor nur Lymphozyten aufwiesen,
fanden sich in den Meningen ebenfalls beinahe nur Lymphozyten;
fanden sich aber in einem Liquor auch die grossen plasmareicben
Zellen in grosserer Zahl, so waren in den Meningen neben den
Lymphozyten auch grossere Mengen von histologisch gut charak-
terisierten Plasmazellen. Daraus war also der Schluss zu ziehen,
dass die grossen plasmareichen Zellen des Liquor ebenfalls Plasma¬
zellen sind, die aber durch den Liquor resp. (lurch die andersartige
histologische Verarbeitung nicht die sonst in histologischen Pra-
paraten gewohnte Gestalt und Farbreaktion aufweisen, was ja
nicht weiter befremdend sein kann.
Ich schloss aus diesen Beobachtungen, dass die Pleocytose
nichts anderes als den Grad der Infiltration der Meningen des
untersten Riickenmarkabschnittes anzeigt. Dieser Umstand konnte
ebenfalls im Experiment erwiesen werden, wie dies friiher bereits
Sicard 1 ) getan, dessen Versuche ich dann im Anschluss an meine
Befunde in etwas modifizierter Weise wiederholt hatte.
l ) Les injectionos sousaraehnoidiennes et le liquide ccphalorachidien.
Paris 1900.
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der cerebrospinalen Pleocytose.
515
Die Experimente wurden derart angestellt, dass man Hunden
sterilisierte Tusche subdural in diverse Gegenden des Gehirns und
Riickenmarks injizierte; die Tiere wurden nach verschieden langer
Zeit getotet, das Zentralnervensystem histologisch und die aus dem
untersten Duralsack entnommene Cerebrospinalfliissigkeit cyto-
logisch untersucht. Es fand sich nun folgendes:
1. Die Tusche verursacht sehr bald eine Exsudation von
Leukozyten, die sich mit Tuschpartikelchen beladen und die Tusche
nach alien Richtungen weiter schaffen, so dass sich die urspriinglich
ganz lokalisierte Schwarzung allmahlich ausbreitet und lichter wird.
2. In die arachnoidealen Maschen der Lumbalgegend injizierte
Tusche erscheint schon in einigen Stunden in den Meningen des
Halsmarkes, um sich von da bis an die Basis des Gehirns zu ver-
breitern; spater erscheint sie auch in den Ventrikeln; an die Kon-
vexitat des Gehirns gelangen nur Spuren von Tusche. Die Meningen
der unteren Ruckenmarkabschnitte sind am starksten mit Tusche
infiltriert, und die Lumbalflussigkeit enthalt sehr viele mit Tusch-
partikeln beladene Zellen.
3. Wird die Injektion in der Hohe des Halsmarkes gemacht,
dann breitet sich die Tusche sowohl gegen das Gehim als auch
nach unten hin aus. Die Tuschinfiltration der untersten Rucken¬
markabschnitte ist geringer und dementsprechend auch der
Tuschgehalt des untersten Liquor.
4. Nach subduraler Injektion von Tusche iiber der Konvexitat
des. Gehirns kriecht die Tusche sehr langsam, erscheint erst nach
24—30 Stunden an der Hirnbasis und nur wenige Kornchen ge¬
langen bis zum Halsmark; die untersten Ruckenmarkabschnitte
bleiben tuschfrei, und ebenso die Lumbalflussigkeit.
5. Wird statt einfacher Tusche ein Gemisch von Tusche und
Aleuronat injiziert, dann entsteht eine viel stiirmischere Exsudation
von Leuzyten und die Folge davon ist, dass die Tusche mit grosserer
Schnelligkeit und auch viel weiter befordert wird als sonst.
6. Nach Injektion unter die Dura des Riickenmarks breitet
sich die Tusche immer auch entlang der Riickenmarkwurzeln aus,
und zwar ist die Schwarzung der Nervenwurzeln an den Stellen
der Injektion am starksten. Mikroskopisch sitzen die Leukozyten
immer um die Gefasse herum.
Wenn nun, wie diese Beobachtungen es erweisen, der Zell-
gehalt der Cerebrospinalfliissigkeit vornehmlich von der Be-
schaffenheit der Meningen der untersten Ruckenmarkabschnitte
abhangig ist, dann sind wir auch nicht imstande, aus der Beschaffen-
heit der durch die Lumbalpunktion gewonnenen Cerebrospinal-
fliissigkeit etwas Naheres iiber die Meningen des Gehirns zu er-
schliessen. Diese fiir den Diagnostiker doch sehr wichtige Beweis-
fuhrung fand aber in der Literatur wenig Widerhall; man glaubte
die Befunde und deswegen auch die Erklarungen nicht, Unter-
suchungen einschlagiger Art blieben aber aus. Nur Nonne 1 ) ver-
‘) Syphilis und Nervensystem. II. Auflage. Berlin 1909. S. Karger.
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516
F i s c h e r , Die anatomisehe Grundlage
suchte meine Ansicht mit Argumenten. auf die ich hier etwas ein-
gehen muss, zu bekampfen.
Im Kapitel iiber C'ytodiagnostik schildert Nonne (Beobachtung
409) einen Fall, der unter dem Verdachte einer Pachymeningitis
haemorrhagica interna eingebracht wurde, und bei dem die Lumbal-
punktion 60—100 Rundzellen im cmm ergab. 8 Tage nachher starb
der Kranke und bei der Sektion ergab sich eine isolierte Meningitis
purulenta iiber der linken Hemisphere.
Wieso der Fall gegen meine Ansicht spricht, ist mir nicht
recht erklarlich: denn sollte der Fall uberhaupt etwas in dieser
Richtung aussagen, so hatte man kurz vor dem Tode eine Lumbal -
punktion ausfiihren miissen, und dann hat-ten sowohl Gehirn wie
Riickenmark einer genauen histologischen Untersuchung unter-
zogen werden miissen. Dies ist aber nicht geschehen. Dadurch ist
der Fall als ungeniigend untersucht auch vollkommen wertlos.
Dann polemisiert Nonne noch weiter wortlich: ,,Ein ein-
gehenderes Studium seiner (das heisst meiner) Krankengeschichten
lasst auch erkennen, dass in den Fallen I, II, V, VI, VII und XI
die Intensitat in den Meningen des Cervikalmarkes teils ebenso
intensiv gewesen ist. wie in denen des Lumbalteiles. Fischer gibt
selbst zu, dass bei Untersuchungen von Liquor und Meningen auf
Zellgehalt und bei einem Vergleich zwischen der Starke der In¬
filtration in den Meningen und der Vermehrung der Zellen im
Liquor Fehler bis zu 50 pCt. unterlaufen konnen. Bis auf weiteres
bin ich daher der Ansicht, dass das Ergebnis der lumbalen Liquor-
untersuchung uns iiber den pathologischen Zustand des gesamten
Liquor zu orientieren vermag.“
Darauf habe ich zu erwidern: Ich habe wiederholt darauf
hingewiesen. dass auch an anderen Stellen der Meningen Infil-
trationen vorkommen (ich kenne auch Fa lie. in denen die Meningen
in alien Hohen des Ruckenmarks ziemlich gleich infiltriert waren),
aber ich habe immer betont, dass sich regelmassig und ohne Aus-
nahme eine Parallele nur mit der Infiltration der Meningen der
untersten Riickenmarkabschnitte konstatieren lasst; denn es gibt
Falle mit Pleocytose, wo nur die untersten Meningen infiltriert
sind, und solche wo bei Infiltration der Cervikalmeningen und
Fehlen der Infiltration in den untersten Meningen der Liquor
zellfrei blieb. Meine Aeusserung iiber die 50 pCt. Fehler hat Nonne
missverstanden, weswegen ich meine damalige Aeusserung wortlich
anfiihren will. Ich sehilderte eine Anzahl von Fallen mit ver-
schieden starker Pleocytose, die von 2 Zellen bis 64 im Gesichts-
felde wechselte. ,,Dabei besteht die Parallele nicht nur beziiglich
des Grades der Infiltration, sondern auch beziiglich der Art der die
Infiltration zusammensetzenden Zellarten. indem das Verhaltnis
der Lymphozyten und Plasmazellen der Meningen wenigstens im
Groben ein ahnliches war wie das der Lymphozyten und der
grossen Plasmazellen im Liquor. — ich sagte eben, dass es sich
nur um eine Uebereinstimmung im Groben handelt. Das kann
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der cerebrospinalen Pleoeytose.
517
den Wert dieser Befunde aber in keiner Weise beeintrachtigen.
Denn wenn auch zugegeben werden muss, dass trotz der gleich-
artigen Untersuchung sowohl der Zellen im Liquor, als auch des
Infiltrationszustandes der Meningen grossere Fehler unterlaufen
konnen, so wird man sie selbst unter den ungiinstigsten Verhalt-
nissen nicht holier als 50 pCt. taxieren miissen. Aber auch dieser
so hoch gegriffene Fehler kann die Resultate der Falle mit grossen
Differenzen wie I (46 Zellen), IV (18 Zellen) und VII (2 Zellen)
nicht andern; diese Differenzen sind so gross, dass auch die
schlechteste Methode sie nicht uberbriicken konnte“.
Ich gab also gar nicht zu, dass Fehler von 50 pCt. unterlaufen
konnen — fur so eine Annahme hatte ich absolut keinen sioheren
Anhaltspunkt — ich wollte nur sagen, dass, wenn man auch die
ungiinstigsten Verhaltnisse annimmt, also schatzungsweise 50 pCt.,
man sich bei Fallen dieser Differenz nicht auf die ungeniigende
Feinheit dsr Methodik berufen kann. Wenn also Nonne weiter
sagt, er sei bis auf weiteres der Ansicht, dass das Ergebnis der
lumbalen Liquoruntersuchung uns iiber den pathologischen Zustand
des gesamten Liquor zu orientieren vermag, so hat er es nicht
unterlassen sollen, uns auch positive Be weise fur seine Ansicht
zu bringen, denn solche finden sich weder in seinem Buch, noch
anderswo in der Literatur.
Ich bleibe also bei meiner friiheren Anschauung, fur deren
Begriindung ich schon damals gewisse anatomische Anhaltspunkte
hatte. Aber, wie ich schon betonte, war mein Material doch noch
etwas gering, weswegen das Thema noch weiterer Bearbeitung
bedurfte. Aus der Literatur ist mir nichts Einschlagiges bekannt
geworden. Ich habe nun seit der Zeit alles einschlagige Material
gesammelt, das heute, die bereits publizierten Falle nicht ein-
gerechnet, die Zahl 50 iibersteigt und das in jeder Hinsicht meine
friiheren Befunde und Schlusse bestatigt und vielfach erganzt.
Gegeniiber friiher ist aber meine Technik jetzt eine etwas ge-
anderte. Seit 4 Jahren wird in unserem Laboratorium die Fixierung
des Zentralnervensy.stems in der Leiche derart durchgefiihrt, dass
kurz nach dem Tode eine Lumbalpunktion ausgefiihrt und dann
sofort 10 pCt. wasserige Formollosung in den Vertebralkanal
injiziert wird. Die Punktion selber geht sehr gut von statten, nur
muss man die Leichen in sitzender Stellung punktieren, da der
Liquordruck bei der liegenden Leiche beinahe gleich Null ist.
Zur Punktion werden Nadeln verwendet, an die eine mit einem
Schlauch verbundene Hollanderschraube angeschraubt werden
kann. Der Schlauch ist mit einer mit Formollosung gefiillten und
graduierten Wulffschen Flasche verbunden, aus der das Formol
mittels Kautschukgeblase in den Subarachoidealraum getrieben
werden kann.
Bereits nach einigen Stunden sind das Riickenmark, die
Spinalwurzeln, die Hirnbasis und das Kleinhirn sehr schon an-
fixiert, und bei geniigender Formolmenge (meist geniigen 200 bis
300 ccm) wird auch die Hirnkonvexitat mitfixiert.
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518 Fischer, Die anatomische Grandlage
Diese Methode hat den Vorteil, dass erstens das Zentral-
nervensystem in fixiertem Zustande herausgenommen, seine ur-
spriingliche Form weiter behalt und zweitens es nicht so leicht zu
Quetschungen und Kunstprodukten kommt.
Da also alle Falle post mortem punktiert wurden, konnte
man bei dem Gros der Falle aus naheliegenden Griinden Punktionen
intra vitam vermeiden; dementsprechend anderte sich jetzt die
Untersuchung derart, dass der Beurteilung und dem Vergleich
der Falle durchwegs die Untersuchungen des post mortem ent-
leerten Liquor zugrunde gelegt wurden; es sind zwar — wir
werden spater noch darauf zuriickkommen — die Zellen post mortal
gegeniiber der intra vital entleerten Fliissigkeiten immer etwas
vermehrt, doch ist dieser Umstand, da es sich doch nur um Ver-
gleichswerte handelt, gleichgiiltig. Bedingung ist nur, dass das
ganze Material in vollkommen gleicher Art verarbeitet wurde.
Die Zahlung der Zellen geschah durchwegs nach einer Modi-
fikation der Fuchs-Rosenthals chen und nach der von mir an-
gegebenen Methode 1 ). In den Tabellen sind iiberall aber nur die
Zahlresultate meiner Methode angefiihrt, weil, wie schon Kafka 1 )
gezeigt hat, dies viel sichere Resultate gibt als die Kammerzahl-
methode. Das Zentralnervensystem wurde in alien Fallen mikro-
skopisch in verschiedenen Hohen untersucht, wobei besonders
auf die Meningen geachtet wurde.
In der Tabelle I sind 21 Paralysen zusammengestellt. Hier
ist die Anzahl der im Immersionsgesichtsfelde durchschnittlich
gefundenen Zellen angefiihrt; dann das Verhaltnis der Lympho-
zyten zu den Plasmazellen, wobei die erste Zahl sich auf die
Lymphozyten bezieht, und schliesslich die Zahl der Leukozyten in
Prozenten.
(Siehe die Tabellen auf S. 619—521.)
Ich habe davon abgesehen, die in dieser Tabelle enthaltenen
Falle noch einzeln cytologisch und histologisch genauer zu schildem,
da letzteres viel Raum und zahlreiche Abbildungen beanspruchen
wiirde; fur die Illustration des Verhaltnisses von Meningen und
Pleocytose geniigt ja die kurze tabellarische Zusammenstellung.
Wir haben hier bei diesen neuen 21 Fallen ein Material, in
dem sowohl die Gesamtzahl der Liquorzellen, als auch das Ver¬
haltnis der einzelnen Zellarten stark wechselt, und die histologische
Untersuchung der Meningen ergibt, wie in meinem friiheren
Materiale, ein ahnliches parallel gehendes Verhalten der Meningen
der untersten Riickenmarkabschnitte.
W r enn wir z. B. die Falle 3, 6, 8, 12, 13 und 19, bei denen sich
die Zellzahl von 100 bis 400 bewegt, den Fallen 1, 16, 20 gegeniiber-
stellen, bei denen nur 10 bis 25 Zellen gefunden wurden, und wenn
*) Technik siehe bei Kafka: Ueber Technik und Bedeutung der cytolo-
gischen Untersuchung des Liquor cerebrospinalis. Monatschr. f. Psych, dieser
Band. H. 5.
J. c.
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tier cerubrospinalen Pleocytosx*.
Tabdle I.
519
!
Wie lange
5J? post mortem
punktiert
Pleocytose
Verhaltais
von
Lympho-
zyten und
Plasma-
zellen
Zahlder
Leuko-
zyten
in pCt.
Ergebnis der histologischen
Untersuchung
i
1.
i
B c?"
V.
i
!
j
10
i
i
20 : 1
12
Gehirn: sehr geringe Infiltration der
Meningen.
Riickenmark: Meningen leicht ver-
dickt, geringer Zellgehalt, beinahe
lauter Lymphozyten, in alien Hohen
ziemlich gleich.
2.
c s
1
i i
i
i
50
1 : 2
—
DieZahl undArtderZellenentsprechend
der Veranderung der Meningen
3.
F cT
120
7 : 1
Riickenmarkmeningen wenig verdickt
mit starker Infiltration, wobei die
Lymphozyten iiberragen
4 - I
1
F ?
I
i
,
i
i
i
|
25
4 : 1
3
1
Riickenmarkmeningen sind leicht binde-
gewebig verdickt, enthalten ziemlich
viel Zellen, von denen eine grosse Zahl,
der Schatzung nach die Halfte Plasma-
zellen sind
- 1
0. !
i H ^
1 !
63
i
1 : 1
1
Paralyse mit gummaartigem Destruk-
tionsherd imMittelhirn stark plastischer
Meningitis an der Basis cerebri. Im
Riickenmark Tabes, leichte Verdickung
der Meningen, mittelstarke Infiltration
mit starkem Pravalieren der Plasma-
zellen, dabei keine Unterschiede in den
verschiedenen Hohen
6.
| J cT
1
V«
1
400
|
i
1
! 2:1
Tabes und Paralysis progress, die
Meningen des Riickenmarks sehr diinn
und stark infiltriert mit sehr vielen bei¬
nahe iiberwiegenden Plasmazellen
7.
j J ^
\
\
!
i
1
i
i
i
|
15
2 : 3
Riickenmarkmeningen stark binde-
gewebig verdickt; die Infiltration im
Lumbalmark gering, danmter sehr viel
Plasmazellen; nach oben nimmt die
Infiltration standig ab; im Gehirn die
Infiltration wieder starker
8.
| K
!
!4 j
100
i
i 3:1
;l
1
Die Riickenmarkmeningen sehr diinn,
stark infiltriert, mit sehr vielen Plasma¬
zellen
Digitized by
Gck igle
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
520
Fischer, Die anatomisehe Grundlage
1
m £
| ,St
s S-2
I
Verhaltnis
von
Zahl der
1
Lympho-
> Leuko- 1
Ergebnis der histologisehen
1
l!
—
• s
> 8,-
c
O
S
zyten und
Plasma-
zellen
zyten i
in pCt. '
Untersuchung
1
1
St.
9. K ?
|
l:
68
i
1 : e
2
I
1
Lumbalmark hat mittelstarke, beinahe
aus lauter Lymphozyten bestehende
Infiltration, im Cervikalmark die In¬
filtration viel geringer, ebenso eine sehr
geringe Infiltration in den Meningen
des Gehirns; hier auch Plasmazellen
in grosserer Menge vorhanden
10. |i K $
i
1
*/4
!
40
4 : 1
i
Im Lumbalmark geringe Infiltration,
dabei die Lymphozyten stark pra-
valierend, im unteren Dorsalmark
Wurzeltabes mit starker Infiltration
der Meningen, die besonders in der
dorsalen Peripherie vortritt ; dabei pra-
valieren die Plasmazellen wesentlich
iiber die Lymphozyten; im Cervikal¬
mark wieder ganz minimale
’ Infiltration
11. K cT
'\
|
r 2
28
i
5 : 1
—
Riickenmarkmeningen wenig verdickt,
mit mittlerer Anzahl von Zellen, Pra-
valieren der Lymphozyten
12. K cT
i*
i
100
1
5 : 1
1
Riickenmark: diinne stark infiltrierte
Meningen mit ziemlich vielen Plasma¬
zellen, wenn auch deren Zahl die Zahl
) der Lymphozyten nicht erreicht. Im
Gehirn sehr starke Infiltration
13. |i L cT !
if
i
1
!
i'
i
iv* :
1
200
i
3 : 1
1
Lumbosakralmeningen sehr stark
zellig infiltriert mit vielen Plasmazellen,
die Infiltration im Dorsalmark noch
viel starker wogegen im Cervikalmark
die Infiltration auf ein Minimum herab-
sinkt. Gehirnmeningen von mittlerer
Infiltrationsstarke
14. ( M >
8 !
i
90
2 : 1
—
Im Lumbosakralmark mittelstarke
Infiltration mit sehr vielen Plasma-
zellen, im Dorsalmark ist die In-
! filtration geringer, wogegen sie im
I Cervikalmark wieder viel starker ist
als in den untersten Abschnitten
Digitized
bv Google
Original from
UNIVERSITY OF CALIFORNIA
der cerebrospinalen Pleocytoae.
521
ill
;i|
Utl
e*
St.
s
1
s
Verhaltnis
von
Lympho-
zyten und
Plaeraa-
zellen
Z&hl der
Leuko-
zyten
| in pCt.
Ergebnis der histologischen
Untersuchung
15.
N ?
i
i
i
.
;
i
i
52
3 : 1
7
lm Lumbosakralmark mittelstarke In¬
filtration mit iiberwiegenden Lympho-
zyten. In den oberen Segmenten und
im Gehirn ist die Infiltration viel
geringer
16.
S d*
22
2 : 1
Im Riickenmark sehr stark plastische
Meningitis mit mittelstarker Infil¬
tration, wobei sehr viel Plasmazellen
sind; in den oberen Absohnitten ist die
Infiltration geringer
17.
S <j"
2
400
Gehirn stark verdickt und stark infil-
trierte Meningen; in der Oblongata
geringere Verdickung der Meningen mit
starker Infiltration. Im Riickenmark
durchwegs geringe Verdickung der
Meningen mit sehr starker Infiltration
18.
Sch cf"
ft
52
l
5 : 2
Die Meningen des Riickenmarks nicht
verdickt und ziemlich stark infiltriert,
die Infiltrate zum grossen Teil aus
Lymphozyten und wenig Plasmazellen
bestehend
l‘>.
j
Sch (f
4
1
300
'l
1
2 : 1
1
Das Gehirn zeigt starke Infiltration.
Die Riickenmarkmeningen sehr wenig
verdickt.
Im Lumbosakralteil und Cervikalmark
sehr starke Infiltration, im Dorsal-
mark viel schwacher. Die Zellen zum
grossen Teil auch Plasmazellen.
20.
V c /
%
i
25
2 : 1
5
Riickenmark: Mittelstarke Infiltration
mit vielen Plasmazellen bei starker
Verdickung des Bindegewebes
21.
1
' i
V d"
V*
1
i
110
3 : 1
--
Die Meningen des Riickenmarks
stark infiltriert mit sehr vielen Plasma¬
zellen
Monataschrift ftir Psychiatric und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 6. 35
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522
Fischer, Die anatomische Grundlage
wir die Resultate mit der histologischen Untersuchung der Meningen
vergleichen, so sehen wir, dass bei der ersten Gruppe iiberall stark
infiltrierte Meningen gefunden wurden, wogegen bei der 2. iiberall
verdickte und wenig infiltrierte Meningen vorkamen. Wir be-
merken weiter, dass nicht nur die in einem Querschnitte der
Meningen befindliche Anzahl der Zellen in der ersten Gruppe viel
grosser ist, sondem dass auch das Verhaltnis der Zellzahl zur Dicke
der Meningen, also die Dichte der Infiltration in der ersten Gruppe
eine viel grossere ist. Weiter finden sich auch hier grosse Differenzen
in den einzelnen Zellarten. So iiberwiegen in den Fallen 1, 3, 9, 10,
11, 12 die Lymphozyten im Liquor um ein Vielfaches iiber die
Plasmazellen, wogegen sich das Verhaltnis in den Fallen 5, 6, 7,
14, 16 vielmehr zugunsten der Plasmazellen neigt; und auch hier
entspricht der Befund vollkommen meinen friiheren Angaben:
in den Fallen der Gruppe, wo die Lymphozyten numerisch vielfach
iiberwiegen, iiberwiegen dieselben auch in den Meningen, im Falle 9.
wo nur Lymphozyten im Liquor sich fanden, gab es auch in den
Meningen beinahe lauter Lymphozyten; dagegen in den Fallen,
bei denen die Plasmazellen in starkerer Verhaltniszahl im Liquor
sich fanden, waren dieselben auch in den Meningen in viel starkerer
Anzahl vorhanden.
Nun habe ich darauf hingewiesen, dass sich dieses konstante
Verhaltnis eigentlich nur auf die Meningen der untersten Riicken-
markabschnitte bezieht und nicht auf die oberen Segmente.
Es ist zwar wie aus dem friiheren Material, so auch aus diesen
Fallen ersichtlich, dass in den meisten Fallen die Meningen in alien
Hohen eigentlich annahernd gleich verandert sind; aber es finden
sich doch mehrere Falle, welche in dieser Hinsicht abweichen
(Fall 10, 13, 15, 16) und in diesen Fallen stimmt mit der Zellzahl
im Liquor nur der Infiltrationszustand der untersten Riicken-
markhaute.
Sehr bemerkenswert ist Fall 13 mit einer Pleocytose von 200;
dieser Zellzahl entspricht auch der Infiltrationsgrad des Lumbo-
sacralabschnittes; die Infiltration wird im Dorsalmark viel dichter,
fallt aber im Cervikalmark auf ein Minimum, wogegen die Gehirn-
meningen wieder starke Zellvermehrung aufweisen. Als von be-
sonderer Beweiskraft mochte ich den Fall 10 anfiihren; hier ist
die Zellzahl im Liquor 40, mit dem Verhaltnis 4: 1. Im Lumbal-
mark ist die Infiltration der Zahl entsprechend, die Lymphozyten
pravalieren. Im untersten Dorsalmark aber, wo sich eine Wurzel-
tabes entwickelt hatte, ist die Infiltration viel starker und auch
das Verhaltnis der Zellen ein ganz anderes, indem hier wieder die
Plasmazellen pravalieren; im Cervikalmark findet sich nur eine
ganz schwache Infiltration.
Das was fur die einzelnen Hohen des Riickenmarkes gesagt
wurde, gilt auch fur das Verhalten der cerebralen Meningen; diese
sind zwar bei alien Fallen ebenfalls infiltriert, in manchen differiert
aber die Infiltrationsstarke von dem Infiltrationszustande der
Riickenmarkmeningen, und in diesen Fallen entspricht der Starke
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der cerebrospinalen Pleocytose.
523
der Pleocytose auch nur der Infiltrationsgrad der untersten Riicken-
markabschnitte. Ich habe in einigen Fallen auch postmortal
den cerebralen Liquor entnommen; die Zellzahl schwankte zwischen
50 und 300, die Zellen waren beinahe durchwegs Lymphozyten
und Plasmazellen, und Zellzahl und Zellenverhaltnis entsprach
dem Infiltrationszustande der Meningen.
Ausser den angefiihrten Paralysen wurden in derselben Weise
auch noch andere Psychosen untersucht. Die hier gefundenen
Resultate zeigt Tabelle II, die nur die Starke der postmortal
gefundenen Pleocytose angibt.
Tabelle II.
1.
M.
?
fAmentia
0
2.
K.
d"
Senile Demenz
0
3.
S.
?
Presbyophrenie
1
4.
F.
?
1
5.
M.
d'
Chorea Huntington
3
6.
P.
?
Presbyophrenie
3
7.
H.
?
Idiotie + Porencephal.
4
8.
M.
d"
Amentia
7
9.
P.
$
Presbyophrenie |
7
10.
F.
cT
1
) >
9
11.
T.
c f
»J |
9
12.
M.
Senile Demenz
10
13.
K.
d "
Presbyophrenie |
15
14.
St.
?
Tabes + Demenz j
i 15
15.
F.
?
„ ' 1
! 158
Der Vergleich der Meningen dieser Falle mit der im Liquor
gefundenen Zellzahl hat in gleicher Weise vollkommen iiberein-
gestimmt wie bei den Paralysen, wobei als besonders guter Mass-
stab die Falle dienen konnten, deren Liquor zellfrei war. Bei den
ersten 2 Fallen fanden sich leicht verdickte Meningen mit einem
normalen Zellstand, bei den anderen Senilen eine Vermehrung
der zelligen Elemente der Meningen, und bei den 2 letzten Fallen
ganz ahnliche Verhaltnisse wie bei den Paralysen.
Bei den Fallen 1—13 der Tabelle II wurde die Mehrzahl der
Zellen durch Lymphozyten gebildet. In wechselnder Menge fanden
sich aber auch Zellen, welche eine gewisse Aehnlichkeit mit den
bei der Paralyse und Tabes im Liquor vorkommenden Plasma¬
zellen hatten. Es sind das Zellen mit einem grosseren Plasmaleib
und blaschenformigen Kernen; der Zelleib behalt aber die Farbe
des Hamatoxylins meist nicht so intensiv wie bei den Plasmazellen,
und der Kern ist starker aufgeblaht, schwacher tingierbar, und
haufig gelappt. Sichere polynukleare Leukozyten wurden vermisst.
In dten Meningen dieser Falle fanden sich ebenfalls 2 Arten
von Zellen: erstens gewohnliche Lymphozyten, die meist um Ge-
fasse oder auch in den Lymphraumen, selten ganz frei im Binde-
35*
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524
Fischer, Die anatomische Grundlage
gewebe sassen; dann, abgesehen von den gewohnlichen Kemen
des Bindegewebes, grosse plasmareiche Zellen, mit blaschen-
formigen Kernen. Gegeniiber den Kemen der Plasmazellen sind
die Kerne dieser Zellen, viel schwacher tingiert, auch die Rand-
zahnelung fehlt, und bei Farbung mit Thionin oder Methylenblau
nimmt der Plasmaleib nur einen ganz leichten blaulichen Schimmer
an; nie erhalt man die fur die Plasmazellen charakteristische
metachromatische Plasmazellenfarbung.
Also genau so wie bei den Paralysen stimmen auch hier die
Zellarten in Zahl und Qualitat mit den Zellarten in den Meningen
iiberein. Welcher Art diese grosseren Zellen in den Meningen der
Senilen sind, kann ich nicht entscheiden, ich wurde sie fiir Ab-
ko mmling e des Bindegewebes halten.
Diese grossen Zellen, von denen hier die Rede war, lassen sich
im Liquorzahlpraparate nicht ohne weiteres von Plasmazellen
unterscheiden. Bei der Paralyse kommen in den Meningen Zellen
von derselben Art vor, wie die grossen Meningealzellen der
Senilen, wenn sie auch im Verhaltnis zu den anderen Infiltrations-
zellen viel sparlicher sind. Deswegen muss man jetzt schhessen,
dass nicht alle grossen plasmareichen Zellen des Liquor bei der
Paralyse den Plasmazellen entstammen, sondern dass sie auch von
den eben geschilderten Meningealzellen herriihren konnten. Jeden-
falls sind aber in den Meningen bei der Paralyse die Plasmazellen
numerisch weit iiberlegen.
Wir haben im obigen durch eine Reihe sich erganzender Be-
funde darzulegen versucht, dass die Zellzahl im mittels Lumbal-
punktion gewonnenen Liquor durch die Infiltration der Meningen
der untersten Riickenmarkabschnitte bedingt ist. Dies ist derart
zu verstehen, dass die meningealen Infiltratzellen immer wieder
aus den Meningen austreten und in den Liquor iibergehen. Nun
ist wiederholt erwahnt worden, dass die Meningen des Riicken-
marks bei vielen Fallen verschieden stark infiltriert sind; daraus
miisste man folgern, dass, falls die obigen Behauptungen richtig
sind, aucb der Liquor in verschiedenen Hohen verschieden und der
Infiltration der Meningen entsprechend zellreich sein miisste.
Damit war eine neue Untersuchungsreihe gegeben, in einzelnen
Fallen (selbstverstandlich nur an der Leiche) den Liquor aus ver¬
schiedenen Hohen zu entnehmen und dessen Pleocytose mit der
meningealen Infiltration zu vergleichen.
Die Versuche wurden auf folgende Weise angestellt: Kurz nach
dem Tode wurde in sitzender Stellung der Leiche in der Hohe des
7. Halswirbels und in der Mitte der Brustwirbelsaule die Haut und
Muskulatur durchtrennt, die Bogen von 2 Wirbeln abgetragen,
dann wurde zuerst im Halsteil mit einer gebogenen Kanxile die Dura
angestochen und 3 ccm Cerebrospinalfliissigkeit abfliessen gelassen,
nachher in Dorsalhohe in gleicher Weise punktiert, worauf eine
gewohnliche Lumbalpunktion angeschlossen wurde. * Auf diese
Art wurden 3 Falle untersucht.
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der cerebroBpinalen Pleocytose.
525
I. '52j. {j* progressive Paralyse, 2 Stunden post mortem:
Liquor in Cervicalhohe enthalt 1600 Zellen;
„ „ Dorsalhohe ,, 800 „
„ der Lumbalpunktion „ 400 „
Die mikroskopische Untersuchung ergab:
Qehirn: Typische paralytische Veranderung; die Meningen
stark verdickt und sehr stark infiltriert.
Oblongata: Meningen nur wenig verdickt und sehr stark in¬
filtriert.
Riickenmark: Die Meningen kaum verdickt, aber sehr stark
infiltriert, wobei die Infiltration im Cervikalmark am starksten
ist, derart, dass die Infiltration stellenweise einen beinahe knotchen-
artigen Charakter bekommt.
II. 45j. <y, progressive Paralyse: 15 Minuten post mortem.
Liquor in Cervikalhohe enthalt 1000 Zellen:
„ ,, Dorsalhohe „ 600 ,,
„ der Lumbalpunktion „ 110 ,,
Die mikroskopische Untersuchung ergab:
Gehim: Typische Paralyse, leichte Meningealverdickung,
mit geringer Infiltration der Meningen;
Cervikalmark: Die Meningen sehr diinn, mit sehr starker,
stellenweise bis knotchenformiger Infiltration;
Dorsalmark: Veranderung ahnlich wie im Cervikalmark, nur
ohne Knotchenbildung;
Lumbosabralmark: Ziemlich starke Verdickung der Meningen
mit mittelstarker Infiltration.
II. 48j. cf, progressive Paralyse, 15 Minuten post mortem:
Liquor in Cervicalhohe 300 Zellen;
„ ,, Dorsalhohe 250 „
,, der Lumbalpunktion 450 „
Die mikroskopische Untersuchung ergab im Gehirn typische
Paralyse, im Riickenmark Tabes, mit sehr diinnen und ziemlich
stark infiltrierten Meningen, wobei die Infiltration im Lumbosakral-
mark durchwegs starker war als in den oberen Abscbnitten.
Auch diese Untersuchungsreihe erganzt die friiheren Befunde
und Sehliisse in ganz eindeutiger Art; es erwies sich hier dasPostulat
als ganz richtig, dass der Liquor in verschiedenen Hohen seine
Zelizahl variiert, und dass diesem Variieren auch eine Differenz
der Infiltration der entsprechenden Hohen entspricht.
Ich habe noch eine grossere Anzahl von Fallen in solcher Weise
punktiert, doch gelang die Operation nicht immer; einigemal kam
es vor, dass blutiger Liquor sich entleerte, die meisten Falle ver-
sagten aber dadurch, dass in sitzender Lage das Halsmark ganz
trocken lag, dass sich manchmal auch noch in Dorsalhohe nur
Spuren von Fliissigkeit befanden, wogegen der unterste Duralsack
ziemlich ausgedehnt und mit Liquor vollgefiillt war; diese Falle
mussten fur diese Frage selbstveretandlich wegfallen.
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526
Fischer, Die anatomische Grundlage
Doch mochte ich noch mehr der Beweise anfiihren, *welche
durch viel einfacher auszufuhrende Untersuchungen erbracht
werden konnen. Bei der Untersuchung der Meningen von Para-
lytikem fallt es namlich, abgesehen von den bereits erwahnten
Hohenunterschieden, auf, dass die Infiltration sich nur auf den
meningealen Ueberzug des Riickenmarkes beschrankt und dass
die Nervenwurzeln in der Regel ganz frei von entziindlichen
Infiltrationen sind. Nur bei sehr starker Infiltration finden sich
auch in den Wurzeln Anhaufungen von Infiltratzellen, aber hier
meist nur in den perivaskularen Lymphraumen. Die Stelle der
Lumbalpunktion, die ja gewohnlich zwischen IV. und V. Lenden-
wirbel ausgefiihrt wird, ist aber ziemlich weit entfernt von dem
tiefsten Punkte des Riickenmarkes, also auch von der Quelle der
austretenden Zellen, deswegen muss man sich fragen, ob der Liquor
je naher dem Conus terminalis entnommen, nicht auch desto zell-
reicher wird. Diese Frage ist umso leichter zu losen, als die Lumbal¬
punktion in der ganzen Hohe der Lumbalwirbelsaule leicht aus-
gefuhrt werden kann. Zuerst an 3 Leichen von Paralytikern,
dann an 4 lebenden Paralytikern wurde zwischen dem ersten und
zweiten Lendenwirbel eingestochen imd 3 ccm Cerebrospinal-
fliissigkeit entleert; dann wurde sofort mit einer zweiten Nadel
die Punktion in der Hohe zwischen 4. und 5. Lendenwirbel an-
geschlossen. Die Resultate bringt Tabelle III und IV.
Tabelle III. Postmortale Punktionen.
Wie lange i
Pleocytose zwischen
post mortem !
I. u. II.
IV. u. V.
punktiert
Lendenwirbel
Lendenwirbel
K.
Vt St. i
140
100
L.
1V 2 St.
400
200
K. ? |
V* St. il
80
40
Tabelle IV. Intravitale Punktionen.
Pleocytose zwischen
! I. u. II.
IV. u. V.
Lendenwirbel
Lendenwirbel
P. ?
12
9
Sch. cT
24
13
V. <?
125
100
H. o"
24
12
Also in alien 7 Fallen, sowohl bei postmortalen als intravitalen
Punktionen, differiert die Pleocytose in den genannten Hohen,
immer ist oben der Liquor zellreicher, gleichgiiltig, ob es sich um
eine an und fiir sich starkere oder schwachere Zellvermehrung
handelt. Die Differenz schwankt von 25—100 pCt.
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der cerebrospinalen Pleocytose.
527
Diese je nach der Hohe variierende Beschaffenheit des Liquor
kann man an der Leiche noch viel einfacher erweisen. Wenn man
sich bei der Punktion nicht mit einer geringen Menge von Flfissig-
keit begniigt, sondern soviel Liquor auslaufen lasst, als uberhaupt
erreichbar ist, so fliessen selbstverstandlich zuerst nur der unterste
Liquor ab und dann immer schichtweise die zu den hoheren Rficken-
markabschnitten gehorenden Liquorportionen.
Bei einer derartigen postmortalen Punktion eines Paralytikers
ergab sich folgendes: Die zuerst ausfliessenden 3 ccm wurden
in ein Glaschen aufgefangen, die zweite Portion von 3 ccm kam
in ein zweites Glaschen, dann liess man 20 ccm Liquor auslaufen
und die nachste Portion wurde wieder separat aufgefangen. Dabei
fiel schon beim Punktieren die makroskopische Differenz der ersten
und letzten Portion auf; die erste war vollkommen klar, die letzte
war feinst getriibt.
Die Zahlung ergab in der
I. Portion 53 Zellen,
II. „ 110 „
III. 600
Ein ahnliches Verhalten konnte icli bei mehreren Fallen schon
makroskopisch sehen.
Bei dieser Gelegenheit mochte ich noch einen hergehorenden,
sehr interessanten Fall erwahnen, der auch von diagnostischem
Interesse ist: Ein an Delirium tremens erkrankter Potator geht
plotzlich zugrunde; er war tagstiber sehr geschaftig, ziemhch
unruhig, wurde dann nachts etwas stiller, gegen friih wieder
lebhafter; vormittag Mar er still, legte sich, wie M'enn er schlafen
wollte, nieder, und einige Minuten nachher konnte schon der Tod
konstatiert werden. y 4 Stunde nach dem Tode M'urde die Punktion
gemacht. Die erste Portion des Liquor war ganz klar; aber nachdem
etwa 25—30 ccm ausgeflossen waren (es ist dies nur eine Schatzung,
denn der Liquor wurde nicht gemessen) wnrde der Liquor gelb und
triib, wie bei frischer Blutbeimengung.
Die cytologische Untersuchung erwies die erste Portion
zellfrei, die letzte Portion als durch Beimischung von frischem
Blut verandert. Da w r ahrend der Punktion mit der Nadel nicht
gertihrt wurde, auch sonst kein Anhaltspunkt fur eine wahrend
der Punktion entstandene Gefassverletzung M r ar, musste man an-
nehmen, dass das Blut von weiter oben stammt, und eine Blutung
in den hoher gelegenen Meningen diagnostizieren. Die Sektion
erwies eine ausgebreitete ganz frische Blutung fiber den beiden
Hemispharen und in der Mitte des Dorsalmarkes eine etwa 3 cm*
grosse Blutung der Meningen, deren Alter nur auf einige Stunden
zu schatzen war.
Das Blut aus den Meningen des Dorsalmarkes diffundierte
also in den Liquor, gelangte aber nicht bis in die' untersten
Partien des Liquor. Dadurch blieb der duroh die gewohnliohe
Lumbalpunktion erreichbare Liquor rein und erst nachdem eine
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA
528
Fischer, Die anatoroische Grundlage
grossere Menge ausgeflossen war, kam der blutige Liquor an die
Reihe.
Nach all dem oben Mitgeteilfcen kann es wohl gar keinem
Zweifel unterliegen, dass die Liquorzellen im allgemeinen nur den
Infiltratzellen der Meningen entstammen; jede starker infiltrierte
. Stelle der Meningen sendet auch viel mehr Zellen in den Liquor;
in diesem Falle wird dann der Liquor in verschiedenen Hohen
verschieden zellreich angetroffen, ein Umstand, der ein eigen-
artiges Licht auf die Zirkulation des Liquor wirft.
Es liesse sich noch manches Interessante aus diesen Befunden
beziiglich der Zirkulation des Liquor erschliessen, doch will ich
dies noch unterlassen und auf eine spater erscheinende Arbeit
iiber die Zirkulation des Liquor verweisen. Hier sollen einstweilen
nur die Befunde registriert werden.
Noch einen Umstand muss ich kurz streifen. Wir haben gleich
zu Anfang bei Erwahnung der postmortalen Punktion^n bemerkt,
dass, wie schon mehrmals in der Literatur vermerkt ist, die Zell-
zahl post mortem steigt. Ich habe friiher Steigerungen um 15 bis
20 pCt. beobachtet, Henkel 1 ) und Kafka 2 ) berichten ebenfalls iiber
"Vermehrung der Zellzahl im Liquor auch bei Krankheiten, welche
sonst im aUgemeinen keine Pleocytose haben, und Hough 2 ) teilt
2 Untersuchungen mit, wo bei Paralysen, je spater post mortem
punktiert, desto mehr Zellen im Liquor sich fanden. Pur meine
jetzigen Untersuchungen hat es sich nun darum gehandelt, diese
Differenzen auch an einer grosseren Anzahl zu verfolgen; zu dem
Zwecke wurden mehrere Falle kurz vor dem Tcde und nach dem
Tode punktiert und die Pleocytose verglichen. Die Resultate
ergibt Tabelle V.
(Siehe nebenstehende Tabelle V.)
Wir sehen hier in den ersten 3 Fallen ein Gleichbleiben der
Pleocytose, in den Fallen 4—6 ein Steigen der Zellzahl um 25,
40 und 100 pCt. Im Falle 7 stieg die Zellzahl aufs 10 fache. Der
Fall 8 kommt hier eigentlich nicht in Betracht, indem sich die
Steigerung der Zellzahl auf eine Aenderung der anatomischen
Bedingungen zuriickfiihren liess; es entstand an der Innenflache
der Dura mater eine kleine Pachymeningitis traumatica, ver-
ursacht durch die erste Punktion und bedingte die hochgradige
Steigerung der Zellzahl. Wodurch die Steigerung der Zellzahl in
den anderen Fallen veranlasst ist, lasst sich schwer entscheiden.
Jedenfalls ist die Steigerung in der Mehrzahl der Falle (1—5) nur
gering. Im Falle 6 aber schon betrachtlich, trotzdem die Zwischen-
zeit zwischen den Punktionen recht gering war. Dagegen kann die
Ursache der sehr hohen postmortalen Steigerung der Zellzahl
im Falle 7 dadurch bedingt sein, dass die Zeitdifferenz 11 Tage
betragt, in welchem Zeitraum sich die entziindliehe Infiltration
1 ) Arch. f. Psych. 1907.
•) 1. c.
*) Bull. I. of the Government Hosp. for the insane. Washington. 1909.
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tier oerebrospinalen Pleocytose. 529
Tabelle V.
Wie la
vor dem
Tode
punktiert
nge
nach dem
Tode
punktiert
Zellzahl
intra-
vitalen
Punktion
bei der
post¬
mortalen
Punktion
1.
c. ?
Paralyse
! 5 St.
1 St.
f 50 ’
1
50
2.
K. ?
Paralyse
12 St.
y 4 st. -
; go
00
3.
V. cT
Paralyse
b Tage
y 4 st.
100
100
4.
V. " c"
Paralyse
13 Tage
1 St.
15
25
5.
K. ‘ d*
Paralyse
10 Tage
y> St.
75
100
6.
P. ‘ ?
Paralyse
5 St.
1 st.
i
24 |
50
7.
Sch.
Paralyse
11 Tage
4 St. j
27
300
8.
B. ?
Presbyophrenie
0
— » i
4 St. |
1
00
geandert haben kann. Es entsprach ja auch der Zellgehalt der
Meningen dem Grade der postmortalen Pleocytose, denn alle diese
Falle sind auch in der Tabelle I angefuhrt. Nach Hough\) steigt die
Pleocytose desLiquor nach dem Tode desto mehr, je spater punktiert
wird. Fiir unsere Veigleiche hat aber dieser Umstand keine grosse
Bedeutung, da beinahe alle Falle ganz kurz post mortem (y 4 bis
2 Stunden) punktiert wurden; und wenn auch dadurch Fehler ent-
stehen sollten, so konnten sie eben nicht so gross sein, um einige
der so hochgradigen Zahlendifferenzen zu iiberbriicken.
Wir haben bei der anatomischen Untersuchung immer nur
von Lymphozyten und Plasmazellen gesprochen und nirgends der
dritten Zellart Erwahnung getan, die im Liquor ebenfalls vorkommt,
namlich der Leukozyten. Ich habe in meiner friiheren Publikation
bereits erwahnt, dass auch in den Fallen, welche Leukozyten im
Liquor hatten, nur sehr sparliche polynukleare Leukozyten in den
Meningen auffindbar waren, dagegen fanden sich in den Meningen
dieser Falle plasmareiche Zellen mit gelappten Kernen, die vielleicht
in genetische Beziehung dazu gebracht werden konnten.
Auch in dem vorliegenden Materiale finden sich einige Falle
mit wenn auch nur wenig vermehrten Leukozyten; es sind das
die Falle 1, 15, 20 der Tabelle I; die anderen enthalten entweder
keine Oder nur sehr zuriicktretende Mengen von Leukozyten.
Auch in den Meningen dieser 3 Falle waren nur hochst sparliche
*) 1. c.
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530 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
sichere polynukleare Leukozyten auffindbar, jedenfalls viel spar-
licher als dem Prozentsatz entsprach, und dies auch nur in den
grosseren meningealen Saftraumen. Dagegen unterschieden sich
die Meningen dieser Falle von den anderen dadurch, dass auch
hier Zellen vorhanden waren, welche in einem grosseren Plasmaleib
einen meist mehrfach gelappten Kern enthielten.
Wenn also die Parallele mit den Lymphozyten und Plasma-
zellen stimmt, miisste man auch die Leukozyten des Liquors mit
diesen Zellen in Zusammenhang bringen; nun ist gerade fur die
Leukozyten der hamatogene Ursprung erwiesen, und ein derartiger
Vergleich ware darnach unstatthaft, es miissten denn die in den
Meningen gefundenen, eben geschilderten Zellen eine morpholo-
gische Zwischenform darstellen.
Also zu einem definitiven Schluss kommt man da einstweilen
nicht, weswegen ich die Frage der Leukozyten noch offen lassen
muss.
Nachtrag bei der Korrektur.
Inzwischen erschien in den Jahrbiichem f. Psych, u. Neur-
Bd. 30 die Arbeit: Chemische, zytologische, hamatologische und
histologi8che Studien iiber den Liquor cerebrospinalis bei Geistes-
kranken von Wada und Matsumoto. Die Autoren kommen darin
bei der Frage der Herkunft der zelligen Bestandteile des Liquor
zu entgegengesetzten Resultaten als ich. Die Ursache dieser
Differenz liegt aber m. E. nur in der zu geringen Anzahl von
untersuchten Fallen; zwei Paralysen, eine Dem. praec. und eine
Dem. paranoid, sind doch ein zu geringes Material zur Klarung
dieser nicht gar so einfach liegenden Verhaltnisse. Wenn sich
die Autoren mit der von mir seinerzeit angeschnittenen Frage
beschaftigt haben, hatten sie auch meine Arbeit im Original
beriicksichtigen und sich nicht auf ein zu kurzes Referat eines
Vortrages beschranken sollen. Dann waren sie sicher zu anderen
Resultaten gekommen.
(Aub der psychiatrischen Klinik der kgl. Charit6
[Geh. Rat Prof. Ziehen] in Berlin.)
Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta hallucinatoria
(Westphal) zur Amentia (Meynert).
Von
Dr. M. BRESOWSKY
in Jurjew (Dorpat).
(Forteetzung.)
6. Frau St.. 38 Jahre alt. Akute halluzinatorische Paranoia.
Entwicklung normal, letzt© Geburt im Februar 1905, hat das Kind,
bis vor 2 Wochen genahrt, befindet sich im letzten Stadium der Graviditat
Seit 3 Wochen soli Pat. etwas vergesslich sein, weiss manchmal nicht, was
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hallucinatoria (West-phal) zur Amentia (Meynert).
531
man ihr gesagt hat, war aber sonst bis vor 3 Tagen geistig unverandert.
Vor 3 Tagen glaubte sie, man wolle sie ermorden. Wenn es klingelte, sagte
si©: ,,Jetzt kommt derSchutzmann mich holen, und ich werde umgebracht. 44
Fiihlte sich von ihrem Brnder verfolgt. glaubte, er wolle sie erschlagen, hat
angstlich geschrien. Schrie zum Fenster hinaus: „Schutzmann, Rettung. 44
Rief dann wieder nach einer Hebamme, das Kind miisse komraen. War sehr
angstlich. wollte in der Xacht hinaus auf die Strasse, ist einmal im Hemde
fortgelaufen. Glaubte, dass man ihren Mann und ihr Kind ermordet habe.
Wenn die Tiir aufging, lief sie fort und schrie. man wolle sie holen. Hat seit
3 Tagen niehts gegessen, weil sie Gift im Essen vermutete, nahm auch von
ihrem Mann kein Essen. In den beiden let z ten Tagen hat sie die Wirtschaft
nicht mehr besorgt. lief halb bekleidet im Zimmer lunher, warf Mobel und
Bettzeug durcheinander, straubte sich, wenn man sie halten wollte. Hat
sich gestern auf demHof ausziehen wollen. glaubte. sie sei in derStube, sagte
zu ihrem Mann: ,,Du bist nicht mein Mann. 44
10. VIII. 1906. Pat. ist sehr unruhig, zieht sich vollstandig aus, geht aus
dem Bett, wirft Bettstiicke hinaus, geht zu den anderen Kranken, straubt
sich, wenn sie verhindert wird. Versucht, sich durch die Fensterspalte hin-
durchzuzwangen. Wenig sprachliche Aeusserungen: ..Ich muss zu der Toten, 44
meint damit eine Mitpatientin. Pat. vermag nicht zusammenhangend zu
erzahlen. [Krank ?] ,,Gibt’s denn keine Sickingenstrasse, da ist ein Mord ge-
schehen; lieber, guter Mann, du bist es wirklich nicht, ich werde wohl noch
erlost werden. 44 [Wovon?] ,,Von der Charite, mein guter Gott, wie lange
dauert denn das, der Tod erlost doch schneller. 44 [Aengstlich ? ] ,,Mein
guter Gott, das ist wirklich wahr, noch mehr wie wahr. 1 * [Was ist wahr ?]
,,Ich glaube ja noch an Gott. Mein Mann ist es nicht gewesen, das war noch
mehr wie ein Traum. was ich durchgemacht habe. das ist iiberhaupt im
Leben noch nicht vorgekommen. Kein Firmament gibt es nicht. Geben
Sie mir Gift, damit ich vom Leiden erlost w r erde. Frau B. hat mir gesagt,
Frau K. hat Schlechtigkeiten mit Ihnen vor, der Schutzmann und alles
ist da. 44 [Was wollte der Schutzmann ?] ,.Es hiess immer: der Mord muss
erst geschehen, iiberall. wo ich hinkam. hiess es: Der Mord muss erst ge¬
schehen. 44 [Wer gesagt?] ,,Der Schutzmann. den Wagen habe ich noch
fahren horen. Ich habe niernandem was getan: mein Kind wollten sie morden,
ich bin zum Fenster herausgesprungen. 44 [Wer wollte es morden ?] ,,Meinem
Mann sein Bruder, der ist irre. 44 (Pat. zerpfliiekt ihr Butterbrot in ganz kleine
Stucke und wirft damit) ,, . . . Kinder, ich hore alles. ach Gott, es gibt
keine Erlosung. 44 [Was horen Sie ?] ,,Ich hore nur. dass ich unter Geistem
bin. Eine kalte Hand fiihle ich. Ich kann doch iiberhaupt nicht mehr
sprechen. Ich will nur mein Kind, das lebt nicht mehr . . . Es gibt einen
Christus, der gekreuzigt worden ist; ich hab viel gelitten. 44 [Was gelitten ?]
,,Meine Mutter ist in meinen Armen gestorben, mein Leben ist bloss ein
Traum. Ich kann nicht reden, ich bin doch kein Mensch. ich bin noch nicht
begraben. Kinder, ist denn kein Erloser da. die Verbrecher laufen all©
herum auf Erden. Ich war auf der Polizei. der Mord muss erst geschehen,
dann wird erst ein Mensch. Er kann morden, kein Zeuge braucht nicht zu
sein. O, guter Gott, keinen Gott gibt es nicht, mich kann keiner erlosen.
Die Welt hat keinen Anfang, kein Ende. Mein guter Gott, ich hore nur
Klopfen, o, Gott, hatte ich nur w*enigstens meinem Mann Adieu gesagt.
Menschen konnen nicht sagen was ich durchgemacht habe. Menschen sind
selber Teufel, ich kann nicht sprechen, ich bin verw'iinscht. Da hangt die
Uhr 44 (zeigt die Tiir). [Sehen Sie eine ?] ,,Ja. 44 [Wie spat ist es ?] „12. 44
[Hangt sie noch da ?] „Ja, sie ist aus Holz. 44 [Bilder gesehen ? ] „Ich hab
schwarze Manner imd Schutzleute gesehen. Ich hab horen lauten und alles. 44
[Mit offenen Augen ?] „Ja.“ [Stimmen?] „Ja.“ [Was gesagt?] „Gift
gibt’s nicht. Mein Mann hat's gut gemeint. Ich bin iiberhaupt nicht unter
Menschen . . . Gemordet bin ich. 44
Pat. halt sich fur verwiinscht, ist aber sonst ortlich und zeitlich voll-
kommen orientiert. Schlagt plotzhch um sich. „weil Sie mich morden
wollen. 44 Die Aeusserungen der Pat. werden oft ohne Affekt und.motorische
Unruhe mit gleichgiiltigem Gesicht vorgebracht. — Nachmittags unruhig,.
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532 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
hat eingenasst, beschmutzt sich und andere Pat. mit Stuhl, zieht sich aus,
zerreisst die Sachen.
14. VIII. Sehr unsauber, schmiert mit Kot; weinerlich, wimmert
fortwahyend, sprachliche Aeusserungen wie oben . . . „Ach Gott, ich bin
hypnotisiert worden. Es ist eine Verwechslung geschehen. Ich bin in der
Charity und liege auf dem Operationstisch. Ich habe mein eigenes Todes-
urteil unterschrieben (tappt nach den Schliisseln der Pflegerin), das sind
Schliissel. Mein Gott, ich bin bei der Operation gestorben . . Klopft an
die Seitenwand des Bettes. [Warum?] „Weil ich hypnotisiert bin. 4
16. VIII. Motorische Unruhe. „Ich bin hingerichtet worden, die
Hinrichtung ist leicht, ich bin wirklich hingerichtet worden, ich kann nicht
mehr sprechen, wo kann heutigen Tages nur so etwas passieren, wo kann
nur so ein Irrtum geschehen. Schnell (16 mal wiederholt), sie denkt. sie liegt
auf dem Operationssaal, ich liege nicht auf dem Operationssaal, ich bin in
Wirklichkeit hingerichtet worden, ich bin vergiftet worden, eine Kinder-
morderin haben sie mir gesagt. O, mir friert. Der Tod ist leicht. 44 [Wo hier ?]
,.Ich kann nicht sprechen, ich bin hingerichtet worden. 44 [Sind Sie tot ?]
„Erlost bin ich und hingerichtet. Noch mehr wie verriickt . . . Angespuckt
haben sie mich. Wo kann denn so ein Irrtum geschehen im heutigen Jahr-
himdert. 44 [Angst ?] ,,Nein, ich bin hingerichtet, ich kann nicht mehr
sprechen, mit offenen Augen (offnet die Augen mit der Hand), die Zunge
(steckt die Zunge heraus), hypnotisiert, ich hore nur noch Schweineschlachten,
das ist ein Fall, der noch nie dagewesen ist, ich hore nur noch Holzhacken . .“
u. s. w., kommt immer wieder darauf zuriick, dass sie hypnotisiert sei.
25. VIII. Zustand unverandert, immer unstet und angstlich, immer
weinerlich, wiederholt unzahlige Male: ,,Ich bin Frau St., Sickingenstrasse 3. 44
[Wo hier?] „Laborium. 44 [Monat?] „Februar.“
29. VIII. Sehr imruhig, lasst sich nicht im Bett halten. . . . ..Mein
Gott, ich bin doch verbrannt . .
5. IX. Wenig produktiv. „Das wird keiner glauben, dass ich Frau
Anna St. bin. Ich bin doch Frau Anna St. Ich bin immer und ein Schlangen-
weib, verbrannt, verbrannt. Ich bin doch kein Teufelsweib. 44
11. IX. ,,Wie komme ich denn hierher ? Ich weiss nicht, wo ich hier
bin. 44 Behauptet, den Arzt zum erstenmal zu sehen, auch Prof. H. Bestreitet,
im Krankenhaus Oder der Charity zu sein. ,,Ich bin doch verbrannt. 44 Wieder¬
holt immer: ,,Mein Gott, wo bin ich denn? 44 Bezeichnet vorgehaltene
Gegenstande richtig.
16. IX. Entbindung.
20. IX. „Heute geht es mirbesser. 4 [Wie lange seit der Entbindung ? ]
„Ja, nun, ich bin doch gerichtet. — Ich denke, ich bin in derKgl. Charite,
ist das richtig? 44 [Ja.] „Das ist nicht wahr. 44 — „Was soli ich denn nun
sagen . . ., nun bin ich doch tot. — Nim bin ich doch gerichtet. 44 [Wer,
ich?] ,,Rich ter. 44 [Wer liegt im Bette nebenan ?] „Da liegt mein eigenes
Kind. 44 [Wie alt?] „5 Jahre, imd ich bin die Frau Anna St. und bin
40 Jahre. 44 — „K. W. 44 , (Kalt — Warm) ,,das soil ein Leichenstein sein,
mich haben sie zu Tode gerichtet, was haben sie schon mit mir angegeben.
ich soil Geld gestohlen haben. 44 [Wem Geld gestohlen?] „Dem Kaiser. —
Ich habe doch nicht gestohlen. 44
23. IX. ,,Ach Gott, es ist alles falsch, wie komme ich nur hierher
in die Charit6 . . .“ Alles ist verloren, alles verbrannt. 44 Durchfalle.
28. IX. [Wissen Sie, wer ich?] „Nein. 44 [Noch nie gesehen?]
,,Nein.“ [Wo hier?] „Ich bin im Bett eingeschlossen. 44 Pat. ist bei jeder
Frage ganz hiilflos, ringt die Hande, ruft immer wieder: ,,Ach Gott, ach
Gott. 44
8. X. Pat. ist unruhig, ratios, jammert viel.
10. X. [Wie geht es Ihnen?] ,,Mir geht es ganz gut. in Berlin,
Sickingenstrasse 3, ich will nur nach Hause, weiter will ich ja nichts, ich hab
doch nichts getan. 44 [Warum hier?] ,,Ich, ich weiss nicht, jetzt bin ich
nicht zu Hause. 44 [Entbunden?] ,,Nein, nein. 44 [Waren Sie schwanger?]
,,Nein, nein. 44 Pat. wiederholt auch weiter ,,nein, nein 44 . [Monat?] ,,Ach
Gott, ich kann nicht, ich weiss nicht 44 u. s. w.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
533
15. X. Sehr gierig, nimmt andem das Essen weg. Hat gestern
zum Mann manches Vemiinftige geaussert.
21. X. Temperatur 40°. Verhalten wie friiher, strebt aus dem Bett.
,,Ach Gott, ich weiss nicht, wie ich hierher gekommen bin." [Wo hier?]
„Augenblicklich weiss ich’s nicht", dann richtig bezeichnet. Antwortet auf
alle Fragen: „Weg, weg,“ straubt sich gegen jede Beriihrung, schlagt plotz-
lich auf den befragenden Arzt ein.
31. X. Pat. jammert und weint noch iramer viel, wiederholt: „Ich
weiss nicht, wo ich bin," ist oft ganz ratios. Temperatur erhoht.
2. XI. Temperatur 38,1°. Das rechte Kniegelenk geschwollen.
6. XI. „Ich weiss nicht, bin ich oben, bin ich unten. Ich weiss
wirklich nicht, was sie machen. Wo korame ich demi jetzt hin ? Bin ich in
der Kgl. Charity, das glaube ich selbst nicht. Von den Herren kenne ich
keinen einzigen. Das ist ja alles verdreht." Nasst noch immer ein. Be-
zweifelt, dass die Aerzte Aerzte sind. Betrachtet misstrauisch ihre eigenen
Hande. Temperatur erhoht.
10. XI. Pat. ist sehr unruhig, jammert und stohnt laut, kratzt sich
verzweifelt die Kopfhaut. „Ich bin ja ganz zerrissen, ich bin ja gar kein
Mensch mehr, Mopskasten.“ [Was ist Mopskasten ?] ,,Ich weiss nicht."
„Ich weiss nicht, wo ich bin."
15. XI. Wirft mit einem Essnapf. Nach dem Grunde befragt, be-
streitet sie, geworfen zu haben.
21. XI. Noch immer bestandig, Tag und Nacht, imreinlich. [Wunsch ? ]
„Zu Hause. Ich bin Frau Anna St."
29. XI. [Warum schreien Sie so ?] „Ich bin niedergeschossen worden. "
— Fragt mit weinerlicher Stimme: ,,Wo bin ich, wo bin ich.“ Gott, ich bin
Frau Anna St., Sickingenstrasse 3.“
4. XII. „Mir geht es ganz gut, ich weiss nicht, wo ich bin."
8. XII. [Wie geht es Ihnen?] (Weinerlich): „Mir geht es gut, mein
Gott, Berlin, Sickingenstrasse 3.“ [Warum jammem Sie ?] (Jammemd): „Ich
jammere doch nicht, Anna St., Berlin, Sickingenstrasse 3.“ [Was mochten
Sie ?] Wie oben. [Sind Sie krank ?] „Mein Gott, ach Gott, ich weiss nicht.
wo ich bin, Anna St., Sickingenstrasse 3 wohn* ich.“
14. XII. Dauemd klagliches Jammem. „Mein Gott, ich weiss ja
gar nicht, wo ich bin."
23. XII. Noch immer unreinlich. Das Kniegelenk noch immer ge¬
schwollen und schmerzhaft. Temperatur erhoht.
7. I. Stets weinerlich, isst noch immer sehr stark, nimmt trotzdem
fortgesetzt ab. Erkennt ihre Angehorigen stets.
10. I. [Wie geht es Ihnen ?] „Besser, nur mein Knie tut noch weh.**
Bittet, der Doktor solle etwas verschreiben, dass sie gleich tot sei.
12. I. Hat heute gestrickt. „Ich mochte lieber sterben, der Schmerz
ist doch zu gross am Knie.“
15. I. Jammert. ,,Die Menschen zerschleissen einen ja. Ich bin Frau
Anna St., Sickingenstrasse 3.“
21. I. Schlagt nach der Warterin, versucht, den Arzt zu kratzen.
24. I. Schlagt um sich, wirft mit Geechirr nach den Warterinnen.
Verunreinigt sich mit Kot. — Bestreitet stets, was sie getan hat.
31. I. Schimpft in unanstandigen Ausdriicken, schlagt nach den
Warterinnen. Fortgesetzt unsauber.
5. II. Nicht mehr gewinselt, aber sehr unruhig, schimpft, schlagt um
sich, wirft mit Gegenstanden.
18. II. Pat. stohnt fortwahrend. [Wie geht es Ihnen?] „Gut.“
[Weshalb stohnen Sie ?] ,,Meine Kniee tun mir weh. Mein Gott, was machen
Sie bloss mit mir.“ [Warum weinen Sie ?] „Ich weine doch nicht." [Warum
stohnen Sie?] ,,Ich stohne doch nicht." — Durchfalle.
2. III. [Wo hier?] „Im Krankenhaus." [Wielange?] „Weiss ich
ich nicht, nicht lange." [Jahr?] „Weiss ich nicht." [Mich gesehen ?] „Nein. 4t
Pat. lasst alles unter sich, bestreitet es auf Vorhalt. Kommt bei der
Exploration ins Jammem, wird gereizt imd schlagt um sich.
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534 Bresowsky. Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
9. III. „Ich weiss nicht, wie bin ich hier hereingekommen ?“ [Wo
hier?] Richtig beantwortet. [Jahr?] „Weiss ich nicht.“ [Sommer oder
Winter?] „Sommer.“
Pat. wird nach D. ubergefuhrt, stirbt am 3. IV. 1907.
Im vorliegenden Falle kommen als atiologische Momente Erschopfung
infolge lange fortgesetzter Laktation und Graviditat inBetracht. Die Psychose
bricht akut mit Wahnvorstellungen, Angst affek ten, vereinzelten Hallu-
zinationen und verkehrten Handlungen a us, trotzdem bleibt die Orientiert-
heit erhalten. Imweiteren Verlauf steht der depressive Wahnim Vordergrunde,
schliesslich, nachdem noch als weiteres erschopfendes Moment die Ent-
bindimg hinzugetreten ist, stellt sich Ratlosigkeit bei fortbestehender
depressiver Grimdstimmung ein. Eigentliche Inkoharenz der sprachlichen
Aeusserungen ist nicht zu verzeichnen. wohl aber Einformigkeit; ferner
treten teils dauernd (Kotschmieren), teils impulsiv verkehrte Handlungen
ohne Motivierung auf. Beziiglich der Prognose ist wohl an und fiir sich an-
zunehmen, dass sie nicht ungiinstig ist, indes ist sie von den besonderen Um-
standen des Verlaufes in direkte Abhangigkeit zu setzen. Dies© Umstande
— Puerperium, AbszessbiIdung mit Neigung zu Rezidiven — bedingen eine
weitere Erschopfung und schieben eine zu erwartende Besserung hinaus,
verschlimmem den Allgemeinzustand, bis schliesslich der Exitus erfolgt.
Die Diagnose ist: akute halluzinatorische Paranoia mit vorwiegender Wahn-
bildung. Ob der Fall einer echten Amentia Meynerts entspricht, ist fraglich;
im ersten Stadium ist die WahnbiIdung zu sehr von rein paranoischem
Charakter, dagegen entspricht der Zustand in der Folge allerdings einer
Amentia ,,ohne cerebral© Reizsymptome“, es handelt sich urn einen infolge
von fortdauemden erschopfenden Ursachen supraponierten Zustand.
Dieser Uebergang ist von besonderem Interesse: einerseits zeigt er die nahe
Verwandtschaft der paranoischen und amenten Krankheitsbilder, und
andererseits zeigt er die Verschiebung des Krankheitsbildes zur Amentia
hin unter dem Einfluss der Erschopfung — ganz im Sinne Meynerts .
7. Fr. F., 34 Jahre alt, Amentia.
Entwicklung normal, seit Miirz 1906 Tumor, der sich als inoperables
Leberkarzinom erwies. Pat. weiss nicht, dass sie an Karzinom leidet, glaubt
durch die Operation (zu diagnostischen Zwecken) gesund zu sein.
Seit 14 Tagen ist Pat. leicht erregbar, aussert Eifersuchtsideen. Be-
hauptete auch von den Nachbarsleuten, die sie haufiger besuchten, sie
kamen nur, um sie schlecht zu machen, sie soliten machen, dass sie fortkamen
imd nicht mehr wiederkommen u. s. w. Fiihrte die Wirtschaft ordentlich
bis zum 2. XII. Seither unruhig, schlief schlecht. In der Nacht vom 5. auf
den 6. XII. sah sie Schlangen, die aus dem Ofen kamen, sprach viel vor sich
hin, die Nachbarn soliten fortgehen, sie wolle mit ihrem Mann allein bleiben,
schlief nicht, erzahlte, sie habe getraumt. sie besasse viel Gold und Silber,
es liege hinter dem Ofen versteckt. Stiess ihren Mann fort, er habe ihr nichts
mehr zu sagen. Antwortete teils richtig. teils verwirrt.
6. XXL 1906. Bei der Untersuchung antwortet Pat. in gereiztem
Tone, spricht viel von einem Bilde, das unter ihrer Uhr hange, durch das
sie bezeugen konne, dass sie die alteste sei. Erzahlt, ihr Bruder habe heute
*Hochzeit, zu der der Kaiser imd das ganze Kaiserhaus komnje. Gibt sonst
ausreichende Auskunft, doch ganz unzusammenhangend. Glaubt, dass sie
hergekommen sei, weil ihr Mann trinke, ihr nichts zu essen gebe, um hier
ordentlich verpflegt zu werden. Glaubt, dass ihr Mann sie betriige, mit
anderen Frauen verkehre, dass die Nachbarn ihr nichts gonnten.
7. XII. Spontan: ,,Ne, du brauchst mir nicht wieder dumm zu
machen, du bist der Karl imd ich die alteste, die Karoline. — Und die weisse
Peitsche, die haben sie auch wieder verkehrt aufgehangt — aber, Georg,
nimm dich in acht, wenn du mir so wiederkommst, dann sollst du mal sehen
— und der Teufel kam aus dem Ofen heraus — ich will die Anna nicht sein.
ich bin die Karoline — und wenn erst das Bild kommt, das ist schon, das
hat einen schwarzen Rahmen, das ist mein Totenbrief — ich will keine
Schweineschiissel sein, auch kein Spucknapf — und wenn das Wasser kommt,
dann ist es bald vorbei, mir haben sie schon so ausgesogen, dass bald das
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
535
Blut kommt — so will ich das, das habe ich Konigliche Hoheit auch schon
gesagt — und Bhunen und Rosinen und Kaffee ist aus den Tapeten heraus-
gekommen, daher ist wohl auch alles so teuer, das weiss Konigliche Hoheit
auch — und die Grossmutter, wie hat die gehandelt ? Schlecht hat sie ge-
handelt — Sie Schulze, nein, ich bin die Anna gewesen. — Und sie haben
mir betrogen, und die Kiihe, und die Pferde, und der Mist, da liegt der
Pferdemist, schamen Sie sich denn gar nicht — 44 u. s. w. [Krank ?1 ..Nein.
ich bin ganz gesund, ich bin im Krankenhaus gewesen, da hat der Stabsarzt
meine Rechnimg aufgeschrieben und das soil jetzt wieder so kommen.“ [Wes-
halb schreien ? I ,,Weil mirjalles heute soil so passieren. und das verlange ich
nicht. 44 [Zomig ?| ,,Ja, weil sie mir alle geargerthaben. 44 [Aengstlich ?] ..Nein.
ich hab meinen klaren Verstand und heute will ich nach Hause. 44 [Traurig ?]
..Nein, warum wohl, lauter Kdnigskuchen und Pflaumenkuchen und
Quatsch mit Sauce, alles durcheinander. 44 [Visionen?] „Nein, hier nicht.
aber zu Haus, da kamen lauter Schlangen und Eidechsen aus dem Ofen.
Und dann alle der Kuchen. 44 [Stimmen?] „Nein.“ Pat. spricht laut,
schreiend, als ob sie sich verteidigen wollte. Zurufe [Mops] „ Jawohl, Mops,
ein schoner Mops im Leichenwagen mit weisser Peitsche. 44 [Tisch] ,,Ja,
Tisch sagen Sie nun wieder, alles Quatsch mit Sauce. 44 [Feuer] ,,Das ist
die Flamme und der Rauch, das ist fur Zigarren, und dann kommen die
Wolken, und aus diesen all die Schlangen und Eidechsen. 44 [Sterben ?] ,.Ja.
nun sterben, aber das wissen Sie nicht, nur Konigliche Hoheit weiss das.“
[Wo?] „Krankenhaus. 44 [Wielange?] ,.Seit gestern. 44 [Datum?]
,.1896, Dezember. 44 Wird plotzlich sehr erregt, will dem Arzt die Bouillon
liber den Kopf giessen, wirft den Napf mit der Stulle ins Zimmer, schreit:
,.Ich esse nicht aus dem Spucknapf. 44 Pat. schreit am Abend vor sich hin:
..Mein Mann soli doch kommen, und der Naturarzt Schwarz, und das Talg-
licht — das ist doch Georg (zu einem hereintretenden Arzt) — oder
Zylinder — das ist ja mein Mann mit die Auguste — geborene — der schwarze
Zylinder — das Talglicht — Talglicht — Auguste — der Ernst — das Blut
ist doch weiss — und die Sterne ist das Talglicht — ist die Hexe Siinde —
die Sterne — Rummelsburger Strasse — der Ofen, das ist das Talglicht —
der Zylinder ist das Blut u. s. w. Haufig schmatzende und kauende Be-
wegungen. Verunreinigt sich mit Stuhlgang im Wachen.
8. XII. Dasselbe Verhalten, doch scheint Pat. mehr zu halluzinieren,
motori8ches Verhalten ruhiger. Pat. zeigt nach dem Fenster: „Das ist der
Teufel da. 44 [Traumen Sie ? ] ..Nein, ich traume nicht. 44 [Wo hier?] „Im
Krankenhaus, das ist das schwarze Schloss, und da kommt jetzt der Teufel. 44
[Warum streichen Sie sich die Haare ins Gesicht?] „Weil ich der Teufel
bin. 44 Pat. spricht femer in Wiederholungen von Naturarzt, Raben, Eisen-
stangen, glaubt, sie vor sich zu sehen, macht mit den Handen kreisende
Bewegungen, die den Flug der Raben andeuten sollen, zeigt die Eisenstange,
antwortet auf alle Fragen im Sinn der Halluzinationen und Wahnvor-
stellungen, ltisst sich einen Taler in die Hand suggerieren, gibt ilm wieder
zuriick. „Lauter Pferdemist ist hier unten. 44 [Wo ?] ,,Unten in der Erde. 44
[Riechen Sie ihn?] ..Nein. Soviel Pferde iiberall, das sollen die ganzen
Sterne im Himmel sein (zeigt auf die gegeniiberliogende Wand), das ist eine
Uhr, imd die ist eins und da ist noch eine Uhr, die ist zwei, (fasst mit der
linken Hand an den Zeigefinger der rechten), das ist mein Bruder hier. 44
[Wo?] „Draussen. 44 [Horen Sie ihn sprechen ? ] „Nein.“
12. XII. [Jahr?] Singt unverstandliche Worte und klatscht in die
Hande, dann: „Meine liebe Gertrud. 44 [Wo?] „Auf dem Reisekorb. 44
Dann singend: ..Die Liebe ist doch hier bei mir, die kann doch was. Ganz
gleich. 44 Hantiert den ganzen Tag mit den Haaren und der Bettdecke.
Zieht den Zopf durch den Mund und die Hande. Liegt oft mit unbedeckten
Beinen. Die einmal gefundenen Bewegungsformen werden 5—6 mal
wiederholt.
13. XII. Monotones Singen. Dreht dabei den Haarzopf: .,Hier sind
die schone — imd auf die Dame — wer die Dame ist gewesen — nein, das
bin ich doch nicht 44 — u. s. w. Klatscht dabei in die Hande. Lasst sich
(lurch Fragen nicht aus dem Singen bringen. Der Inhalt ist der gleiche wie
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536 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
in den letzten Tagen. Zieht den Zopf durch den Mund, beleckt ihn mit
weit vorgestreckter Zunge.
18. XII. 1st verstummt, unzuganglich.
20. XII. Fangt wieder an zu sprechen, aber so undeutlich, dass
man nur wenig versteht. „Meine Gertrud und mein Karl haben mich
wollen ermorden/ 4 [Wo hier?] „Ich weiss ja noch nicht. “ Wechselnder
Gesichtsausdruck, bald angstlich weinerlich. bald lachend; spricht viel vor
sich hin, geht aus dem Bett zu den anderen Kranken, halt eine Mitpatientin
fur ihre Schwester, den Arzt fur einen Bekannten, Herm Sch.
4. I. Verstummt und unzuganglich.
6. I. Schwatzt wieder viel, oft lachend. Lucider Gesichtsausdruck.
[Wo?] ,,Afrika und Amerika.“ [Jahr?] „Sie wohnen dort unten bei
Lubelski . . .“ u. s. w.
Im vorliegenden Fall haben wir die psychische Erkrankung auf die
toils erschopfende, teils vergiftende Wirkung des karzinomatosen Leidens
der Pat. zu beziehen. Wir beobachten eine subakute Entwicklung mit Wahn-
vorstellungen, zu denen im Verlauf der Krankheit Halluzinationen und
schliesslich Inkoharenz hinzutreten. Der Zustand entspricht dem, was man
dem Wortlaute nach als halluzinatorische Verwirrtheit bezeichnen kann; es ist
im besonderen der von den franzosischen Psychiatern als Delire onirique auf-
gefasste und benannte Zustand einer narkoseartigen Beeinflussung des
zentralen Nervensysterns, durch welche das psychische Leben in einen
deliranten Traumzustand iibergeht, als pathologische Abart des Tramnlebens
verlauft. Im Stadium der vollen Krankheitsentwicklimg sind Auffassung
und Besonnenheit aufgehoben, wechselnde Halluzinationen, Illusionen,
Wahnvorstelhmgen, allerlei abgerissene Reminiszenzen aus dem Leben der
Pat. und Neigung zu einformigen Bewegungen, Singen u. dergl. m. bilden
das psychische Leben der Kranken. Die Inkoharenz ist eine primare. Pat.
zeigt keine gesteigerten Affekte.
Der Fall ist der inkoharenten Varietat der akuten halluzinatorischen
Paranoia zuzuzahlen, ebenso gehort er in die Amentia Meynerts hinein.
Es ist aber nicht nur die cerebrale Erschopfung. sondern wohl haupt-
sachlich die cerebrale Vergiftimg, die das Krankheitsbild hervorruft und
ihm das besondere Geprage der traumhaften Verwirrtheit verleiht. Infolge-
dessen zeigt er eine gewisse symptomatologische Verschiedenheit von den
oben angefiihrten Fallen der akuten halluzinatorischen Paranoia; durch die
fortdauemde Ursache ist eine Aenderimg des Zustandes, somit eine Ent¬
wicklung und ein Abklingen der Krankheitserscheinungen ausgeschlossen.
Es kame noch in Betracht, was als die Ursache der autotoxischen traum¬
haften Verwirrtheit anzusehen ist: die gestdrte Funktion der Leber oder der
durch das Karzinom gestorte oder beeinflusste Stoffwechsel. Von einem
besonderen, nur bei gestorter Leberfimktion beobachteten Typus der Ver¬
wirrtheit, wie ihn Klippel und andere franzosische Autoren beschreiben,
ist im vorhegenden Fall nichts zu konstatieren, es bliobe also nur diejenige
Form der psychischen Storung bei gestorter Leberfunktion als in Betracht
kommend zuriick, die sich als gewohnliche Confusion mentale aussert, d. h.
sich nicht von der Form unterscheidet, die wir uns auch als durch das
Karzinom bedingt vorstellen konnen. Letztere Ursache hat ohnehin die
grossere Wahrscheinlichkeit fur sich, urn so mehr, als sonstige, speziell
korperliche Anzeichen der gestorten Lebertatigkeit nicht beobachtet
worden sind.
8 . K. A., 36 Jahre alt, Kutscher, kein Alkoholismus. Akute hallu¬
zinatorische Paranoia.
Entwicklung normal, 1903 Lungenentziindung.
Pat. wurde am 5. I. 1907 wegen fieberhafter Erkrankung (Lungen-
entziindung) der Charit6 iiberwiesen. Am 8. I. kam der Kranke plotzlich
lieim, ohne Hut und Ueberzieher, offenbar in einem Zustande akuter Geistes-
storung, mit Verfolgungswahn. In den letzten Tagen hatte Pat. wenig ge-
schlafen, fiel dadurch auf, dass er viel von einem Hausklatsch sprach imd
immer dieselben Worte wiederholte. Er glaubte, es sei gegen ihn ein Komplott
geschmiedet. „Alle stecken unter einer Decke, alle seien gegen ihn auf-
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537
fallend freundlich, damit er nicht merken solle, dass ihm von seiner Herr-
schaft gekiindigt werden werde. — In der Charity redete Pat. einen alten
Mitpatienten mit „Vater 44 an, behauptete, als er aus der Charity zuriick-
kehrte, sein Vater sei nicht gestorben. Dasselbe behauptete er von seiner
Schwiegermutter, die auch 1 angst tot ist. Pat. hat Selbstmordideen: er
wolite ins Wasser gehon; Pat. glaubt, dass Leute aus seinem Bekannten-
und Verwandtenkreise inn ihn seien.
11. I. 1907. Pat. wurde um 9 Uhr abends aufgenommen (10. I.),
liess sich ruhig ausziehen, sprach nichts. Im Lauf der Nacht hob Pat. einen
Arm ofters hoch und hielt ihn in derselben Stellung langere Zeit hindurch.
Auf Fragen gab er keine Antwort. Schlief nicht.
[Wo hier?] „Im Marstall. 44 [Welches Jahr?] „ Weiss ich nicht. 44
[Welcher Monat?] ,.Weiss ich nicht. 44 [Welcher Wochentag?] ,,Weiss ich
nicht. 44 [Weshalb halten Sie den Arm in die Hohe ?] Antwortet nicht, senkt
den Arm etwas und richtet die Spitze des rechten Zeigefingers auf das Auge
des Arztes. Wiederholt dann dieselben Bewegungen. [Weshalb tun Sie das ?]
„Das ist meine Sache, das sag ich nicht. 44 [Habe ich Ihnen etwas getan?]
„Sehr viel. 44 [Was denn 7] „Sie wollten mir mein Leben rauben 44 (in weiner-
lichem Ton). [Womit?] „Dass Sie mir mit Frau und Kind wollten hin-
morden. 44 [Wer bin ich?] „Das weiss ich nicht, 44 spater ,,Sie sind ein
Morder. 44 — [Wie geht es ?] „Nicht gut. 44 [Warum nicht ?] ..Weil ich ver-
giftetbin. 44 —Die korperliche Untersuchung ergibt abnorme Atemgerausche
liber der rechten Lunge, femer eine starke Herabsetzung der Schmerz-
empfindlichkeit. — Am Abend ist Pat. sehr abweisend, antwortet fast nur:
,,Das ist meine Sache. 44 [Was hatte der Finger zu bedeuten ?] „Dass der
der Morder ist, der eben gesprochen hat. 44 [Wen habe ich gemordet?]
„Sich selbst und viele andere. 44 Auf die Frage des Warters: Warum so
grob gegen den Professor? antwortet Pat.: .,Der hat mir 3 Mk. gestolilen. 44
[Wann ?] „Als er mit mir zusammen in Stellung wax; ich war Kutscher und
er Expedient, er heisst Sommer. 44 [„Aber der Professor heisst Se. 44 ] ,,Ja,
als Oberarzt heisst er Se., als Expedient hiess er So., ich habe ihn ja
beim Kunden getroffen. 44
12. I. In der Nacht hob Pat. den Arm wieder in die Hohe, nach der
Decke deutend. Auf mehrfaches Befragen antwortete er, seine 4 Briider
und er wiirden von einem gewissen Sommer umgebracht. Aeussert femer
dieselben Ideen iiber Prof. S. Am Nachmittag sitzt Pat. mit ausgestreckten
Armen im Bett und hat die Hands wie zum Beten gefaltet, blickt starr vor
sich hin. Spater streckt Pat. den rechten Arm in die Hohe mit ausgestrecktem
Zeigefinger, er beschreibt damit in der Luft Kreise. Weitere Personen-
verkennung.
13. I. Negativismus, keine Echokinese, keine Befehlsautomatie.
Abends sehr unruhig.
14. I. Pat. droht dem Arzt mit der Faust, beschreibt dabei sonder-
bare Bewegungen mit der Faust. Unruhig, zerriss zwei Heraden, riss aus der
Matratze den Werg heraus.
15. I. Negativismus, Unruhe. Weist ofters mit dem Zeigefinger nach
der Decke, halt den Arm minutenlang in derselben Stellung. Sitzt in
Hockstellung auf dem Bettrande.
16. I. Wieder katatonische Stellungen. Pat. glaubt unter den
Wartem friihere Bekannte zu erkennen.
17. I. Sitzt zusammengekrummt in einer Bettecke, gibt keine Ant¬
wort, hat ins Bett uriniert. Temperatur 40,1° in recto.
18. I. Pat. bezeichnet noch immer Prof. Z. als Direktor Frank,
Prof. S.als Sommer. Liegt im Bett in derHaltungdes ,,sterbenden Kriegers 44 .
Pat. murmelt vor sich hin: ,,Mutter, Lieschen. 44 [Wo ist Ihre Mutter?]
,,Auf der Wand, mein Vater auch. 44 [Nur Einbildung ?] ,,Nein, das ist keine
Einbildung. 44 Pat; hat Bulbus-Halluzinationen ohne Suggestion. [Was
sehen Sie?] ,,Einen Hund 44 ; mit Suggestion [eine elektrische ? ] ,,Ja.“
[Linie ?] „Prinzenstrasse. 44 [Hinter der Elektrischen eine Dame?] ,.Ja. 4 “
Pat. fangt an zu weinen. [Warum weinen?] „Weil das meine Frau ist. 44
Monatsechrift ftlr Psyohiatrle and Nearologie. Bd. XXVIb Heft 6. 36
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538 Bres o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
29. I. Als Pat. heute morgen zum Waschbecken gebracht wurde,
legte er den Kopf auf den Rand desselben, steckte die Hande ins Wasser,
der iibrige Korper lag ausgestreckt schrag vor der Wascheinrichtung. Auf
Anruf richtete sich Pat. auf, stemmte die rechte Hand in die Hiifte und
blickte geradeaus. Keine Echokinese. Pat. nimmt verschiedene sonderbare
Stellungen ein, die er einige Minuten einhalt, urn langsam zu einer andem
iiberzugehen, z. B.: Pat. steht mit gebeugten Knien da, ebenso im Hiift-
gelenk gebeugt, spreizt die Finger der linken Hand, fuihrt dieselbe lang¬
sam vor das Gesicht. Dann lasst Pat. den linken Arm schlaff herabfallen
und ihn hin- und herpendeln. Bleibt in dieser Stellung stehen. Dann greift
Pat. langsam mit der rechten Hand nach der linken Schulter und versucht,
sein Hemd herunterzustreifen, lasst darauf den rechten Arm wieder sinken,
da das Hemd nicht nachgibt. Er wendet den Oberkorper nach rechts und
fasst mit der linken Hand nach der rechten Schulter. Die Beine sind ge-
kreuzt, der Blick nach rechts gerichtet. Der linke Arm sinkt bis zur Beuge-
stellimg im rechten Winkel herab, und die linke Hand macht rotierende
Zitter bewegungen, wobei die Finger leicht gespreizt gehalten werden. Pat.
wendet den Oberkorper in die normale Stellung, der Kopf sinkt auf die Brust
herab, und Pat. blickt auf seine rechte Brustwarze u. s. w. u. s. w. Wahrend
dieser Stellungen ist Pat. auf demselben Fleck stehen geblieben, spricht kein
Wort. Aufgefordert, ins Bett zu gehen, kommt Pat. dieser Aufforderung
nach, nimmt im Bett die Ruckenlage ein, hebt das rechte Bein hoch und
halt die Zehen stark dorsal flektiert, die Hande sind zu Fausten geballt,
der Blick auf seine Brust gerichtet. Dann wieder sitzt Pat. im Bett, halt die
zu Fausten geballten Hande vor die Stim. dann folgen taktmassige Be-
wegungen mit den Fausten, die Augen sind geschlossen. Plotzlich ruft Pat.:
„Eva. u [Wer ist Eva?] Keine Antwort. Pat. fiihrt ferner mit den Armen
und Handen noch mannigfache komplizierte Bewegungen aus, viele der
Stellungen haben ein theatralisches Aussehen. Am Nachmittag sitzt Pat.
vollig nackt im Bett. Zwischen dern rechten Daumen und Zeigefinger halt
er einen weissen Faden und betrachtet ihn aufmerksam. Sein Hemd hat er
zerrissen. Ungeniigende Nahrungsaufnahme. Temperatur 39,3\
20. I. ,,Ich bin gehauen worden. Jeder einzige hat auf mir eingehauen.
Ich denke immer, dass ich einen guten Freund hier habe, aber jeder haut mich
mit Schliis8eln und Riemen, bis ich im Bett liege und nicht mehr kann. 44
21. I. Ganz ruhiges Verhalten. [Wie geht es ?] „Gut, Herr Doktor. 44
23. I. Pat. flihlt sich heute etwas wohler. [Glauben Sie noch, dass
Prof. Z. ein Morder ist ?] ,,Nein, ich war damals zu erregt. 44 [ Wami Vater
gestorben ?] ,,1897. 44 [Also lebt er nicht mehr ?] „Wenn’s nach dem Rechten *
geht, muss ich wohl glauben, dass er tot ist. Ich war ja selbst zur Beerdigung. 44
27. I. Pat. verhalt sich ruhig.
30. I. Pat. ist ruhig und schlaft viel. Er kann aus seiner Erinnerung
ausser dem Fingerzeigen nichts mehr nennen.
8. II. Pat. verhalt sich dauemd ruhig.
12. II. [Bin ich ein Morder?] Pat. gibt an, er habe es doch schon
zuriickgenommen. [Wie darauf gekommen?] „Kann ich nicht sagen, es
tut mir leid, ich weiss nicht, wie ich darauf gekommen bin. 44
Gebessert entlassen.
Als Ursache des vorliegenden Falles ist die Einwirkung der akuten
fieberhaften Krankheit anzusehen. Der vorliegende Fall bietet ein besonderes
Interesse dadurch, dass er als typische akute halluzinatorische Paranoia
im Gefolge einer akuten Infektionskrankheit auftritt und zu gleicher Zeit
katatonische Erscheinungen aufweist. Man kann zwar von einzelnen der
in Frage kommenden Stellungen und Bewegungen annehmen, dass es sich
um symbolische, jedenfalls bewusste, d. h. beabsichtigte, zweckmassig sein
sollende Bewegungen handelt, aber es handelt sich im grossen und ganzen
um Erscheinungen, die im Verlauf einer Woche auftraten und nicht nur den
Oharakter einer einfachen Ausdrucksbewegimg trugen, sondem echte Be-
wegungs- imd Haltimgsstereotypien vorstellen. Der akut ausbrechende
Verfolgimgswahn und die Halluzinationen. die Aetiologie und der Verlauf
reihen diesen Fall unzweifelhaft an die typischen Falle der akuten hailu-
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
539
zinatorischen Paranoia, der Hohepunkt der Erkrankung ist durch die
katatonischen Erscheinungen ausgezeichnet. Die Halluzinationen spielen
eine verhaltnismassig geringe Rolle, Inkoharenz wnrde nicht beobachtet.
Es handelt sich sonach um eine akute halluzinatorische Paranoia.
Da man den Fall wohl mit Recht auf ,,cerebrale Erschopfung“ zuriick-
fiihren kann, wiirde er zwar die Aetiologie der Amentia Meynert# aufweisen,
aber das Hauptsymptom der Amentia* die Verwirrtheit, fehlt. Die kat¬
atonischen Symptome geben dem Fall ein so eigenartiges Geprage, dass man
ihn als katatonische Varietiit der akuten halluzinatorischen Paranoia auf-
fassen kann. Von einer Dementia hebephrenica kann keine Rede sein:
nicht nur fehlt der Intelligenzdefekt, sondem der Verlauf der Psychose*
der Einflu8s der akuten lnfektionskrankheit sind charakteristisch fiir eine
akute halluzinatorische Paranoia.
9. M. G.* 14. VI.—17. VII. 1900. 33 Jahre alt. Akute halluzinatorische
Paranoia.
Normale Entwicklung, war Dienstmadchen und hatte sexuellen V T erkehr
mit ihrem Dienstherrn, was sie sich sehr zu Herzen nahm. Sie wurde immer
trauriger imd verschlossener und weinte oft viele St unden lang* wurde
schliesslich entlassen. Seither wechselte sie alle 1 V 2 Jahre etwa die Stellen, war
sehr reizbar und empfindlich, ,,liess sich nichts sagen“. War bis zum 33. Jahre
geistig ganz gesund. 1900 (9 Jahre darauf) hatte sie eine Stelle* wo sie sich
sehr gut mit der Herrschaft stand. Da wurde ein Fraulein angenommen,
und ernes Tages glaubte sie zu horen, dass das Fraulein mit der Herrin iiber
sie sprach. Sie vermutete sogleich, dass sie iiber ihren Fall sprachen und
regte sich sehr auf, war sehr unruhig, genierte sich, fragte die Herrin immer
wieder, ob das Fraulein schlecht von ihr gesprochen hatte, obwohl die Herrin
versicherte. dass niemand schlecht iiber sie gesprochen habe. Zu gleicher Zeit
war sie etwas iiberanstrengt. Zu ihrer Erholung nahm die Herrschaft sie
mit nach Thiiringen. Dort steigerte sich ihre Unruhe, sie horte schimpfende
Stimmen, glaubte immer, dass Leute hinter ihr her waren. Setzte durch,
dass sie wieder nach Berlin durfte. Hier irrte sie durch die Strassen, voller
Unruhe und Angst, fiirchtete, dass sie keine Arbeit mehr bekommen werde,
dass alle Welt sie verfluche, horte Schimpfworte: „Hure, gemeines Aas“
u. s. w., „schlagt sie tot.“ Sprang in den Fluss, wurde herausgefischt
und in die Charite gebracht.
7. VI. 1900. Pat. ist orientiert, macht einen deprimierten Eindruck.
Als Grimd fur den Selbstmordversuch fiihrt Pat. an, dass sie durch das
fortwahrende Reden der Leute iiber sie und die fortwahrenden Anspielungen
auf ihre befleckte Vergangenheit zum Lebensiiberdrusse gebracht worden
sei. Seitdem sie einmal die Frau ihres Dienstherrn iiber sich habe reden
horen, habe sie auf die Leute geachtet und bemerkt, dass man sie verspotte
und beschimpfe.
8. VI. Pat. ist von der Grundlosigkeit ihres Argwohns nicht zu iiber-
zeugen; sie fiirchtet, als offentiiche Dime unter polizeiliche Kontrolle ge-
stellt zu werden.
13. VI. Pat. deutet sich die Tatsache, dass eine von ihr iibrig gelassene
Schrippe ihr hinter das Kopfkissen gesteckt worden war, als ein Zeichen aus,
dass sie so heruntergekommen sei, sich mit einem jeden abzugeben.
14. VI. Pat. glaubt sich von den Warterinnen beobachtet: man passe
auf, wer sich nach ihr auf ihren Stuhl setze, daraus wolle man auf ihre Ver¬
gangenheit schliessen und sie dann der Schande preisgeben.
18. VI. Pat. glaubt, dass alle im Saal befindlichen Kranken ihr
nachschauen und sich dann verstandnisvoll anblicken. Pat. beschaftigt sich
dazwischen mit Handarbeit.
20. VI. In ihrer letzten Stellung will sie gehort haben, dass eine Frau
der anderen gesagt habe, mit ihrer Vergangenheit musse es einen Haken
haben. Sie glaube, dass auf einer, die mit einem Ehemann verkehrt habe,
ein Fluch ruhe.
14. VII. Pat weint* dass sie beobachtet werde, dass gesprochen
werde, sie sei eine schlechte Dime: das entepreche den Tatsachen. Klinische
Demonstration: Paranoia combinatoria.
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540 Bree owsky , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Pat. wurde in die Irrenanstalt D. verlegt, im Sept. 1900 in die Irren-
anstalt N.-R. Pat. erwies sich als vollstandig orientiert.
21. IX. [Sind Sie traurig?] „ . . . ich wiirde sofort wieder ina
Wasser gehen ...» ich bin eine aus der Gesellschaft Ausgestossene . . .“
[Werden Sie verfolgt?] „Ich hatte gesagt, dass mich die Polizei
verfolgte. Ich hatte mir eingebildet, dass ich offentlich sollte werden. “
[Werden Sie verspottet?] „Hier nicht, aber in der Charity dadurch,
dass meine Gedanken verraten werden. Sie gaben mir dort rotes Wasser
zum Gurgeln, als ob sie dadurch die freie Liebe andeuten wollten. Sie
sahen sich immer an und gaben sich Zeichen und haben wohl Schlechtes
von mir gesagt. “ „ . . . ich glaube, dass Frau L. mich immer hort . . .
was ich im Stillen denke, ohne dass das ausgesprochen wird. Meine
Gedanken werden verraten/*
Sept. Verhalt sich ruhig, weint sehr viel.
Okt. Fleissig im Nahsaal, gedriickte Stimmung, halt an ihren Wahn-
vorstellungen fest.
Nov.-Dez. Unverandert, ausserlich geordnet, beschaftigt sich regel-
massig. Zuweilen, wenn sie sich allein glaubt, Weinen, gestorter Schlaf,
drangt each Hause. Oft jaher Stimmungswechsel.
Jan. 1901. Abweisendes Verhalten, iibertriebener Fleiss.
16. HI. Zankte mit einer harmlosen Mitkranken: jene ziele mit
ihren Reden auf sie, sie solle es doch lieber of fen sagen, dass sie sie meine.
17. HI. Heftige Erregung.
August 1901. Voriibergehend kurze Verstimmungsperiodenjmit Wein-
anfallen. Dauernd beschaftigt. Keine Krankheitseinsicht.
Dez. 1901. Drangt nach Hause, hat an all© moglichen Verwandten
geschrieben, um Unterkunft zu finden. Eigentliche Krankheitseinsicht nicht
vorhanden. Entlassen.
1906. Stellen gewechselt. Nahm zuletzt eine Stelle als Kochin in
einem Restaurant an, war schon etwas erregt und nervos, weil sie nicht
sogleich eine neue Stellung gefunden hatte. Keine Unannehmlichkeitem
keme Ueberanstrengung, trotzdem seit 14 Tagen zerstreut, begriff die ein-
fachsten Dinge nicht. Seit der Zeit horte sie von innen heraus Stimmen,
welche ihr sagten, sie solle sich mit der Ehefrau ihres ehemaligen Verfuhrers
aussohnen, solle ihr sagen, dass sie sich versiindigt habe. Wort© hat Pat.
nicht gehort. Bezog Aeusserungen der anderen Madchen auf sich, glaubte
von ihnen Zeichen zu erhalten, dass sie nichts mehr zu essen bekommen
solle. Musste viel griibeln, gab ihre Stelle am 27. XI. 1906 auf. Unruhig,.
schlechter Schlaf, betete viel. Verbrachte die letzte Nacht bei Bekannten,
weil sie sich nicht getraute, allein zu sein, sie fiirchtete, totgeschlagen
zu werden.
29. XI. [Stimmen ?] , Jch hore nichts, aber sie kommen aus dem
Gewissen.** [Visionen?] ,,Es war so, als ob ein Prediger zu mir sproch. 44
[Traurig ?] „ Ja, sehr.“ [Warum ?] ,,Immer der Zustand, als wenn icn sollte
totgeschlagen werden von Dimen und Zuhaltem. 44 Die Stimmen von
innen sagten ihr, sie werde vertrocknen, sie habe sich versundigt. [Selbst-
mordideen ?] „In den letzten Tagen wieder daran gedacht.** Pat. ist voll¬
standig orientiert.
1. XII. Stimmen von innen heraus, „es ist mein Gewissen, das zu mir
spricht.** Hort die Stimmen deutlich, fortwahrend; teils Manner-, teils
Frauenstimmen, teils einzelne Worte, teils zusammenhangende Satze, z. B.:
Du hattest zu der Dame gehen sollen, als deino Gnadenzeit noch war, jetzt
bist du verfallen, das ist der Fluch der Siinde. — Du darfst die Hande nicht
falten, nicht beten, mit dir ist es vorbei, jetzt fahrst du zum Teufel. — Du
bist so schlecht, du hast wieder einen Mann angesehen. „Mir ist, als wenn
mich einer hort, wenn ich etwas Schlechtes oder Gutes denke. Die ganze Welt
hort es. Es ist ja unmoglich, aber ich konnte beinahe darauf schworen. 4 *
2. XII. [Krank?] ,,Nein, traurig, mir fehlt die Arbeit, ich mochte
geistig arbeiten. 4 *
4. XII. Schwer deprimiert, verlangt immer nach Arbeit. Weint
verzweifelt, ungeniigende Nahrungsaufnahme.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
541
5. XII. Hat Prof. H. im Geist an ihrem Bett sitzen sehen, mit
offenen Augen, wusste aber, dass es eine Phantasie war. Nicht greifbar,
„als wenn es so Gestalten sind, die gleich wieder verschwinden“. Hat auch
die Schwester aus N.-R. an ihrem Bett sitzen sehen. „Jedesinal, wenn mir
der Gedanke kam an die nnd die, ist es mir, als wenn die das merkte und sich
zu mir kehrte. 44 Sieht die Gestalten nicht kommen, sie sind plotzlich da.
Sie sprechen mit ihr, aber sie hort es nicht mit den Ohren, sondem innerlich.
Inhalt: sie diirfe nicht auf die Strasse gehen, da werde sie totgeschlagen.
Sie solle zum Abendmahl gehen.
8. XII. „Ich denke ich bin ein schlechtes Madchen, ich beflecke alles,
ich bin obdachlos. Ich bilde mir ein, alle bewerfen mich mit Kot. Wenn ich
auf die Strasse komme, werde ich geschlagen. 44
11. XII. Hort dieselbe Stimme und dieselben Schimpfworter wie
friiher. Aeussert den Wunsch, aufstehen zu diirfen, „mir ist ganz wirr im
Kopf, und dann kommen mir die aiten Gedanken und Stimmen. 44 „Wenn
ich auf bin, verfalle ich in Triibsinn, es mnnachtet sich mein Geist, ich denke
immer: nun ist es aus mit dir, du bist ein gefallenes Madchen. 44
14. XII. Sieht Personen wie friiher, neuerdings auch Clowns und Seil-
tanzer, wie Kinderspielzeug, vor ihrem Bett auf- und absteigen. Fiir Augen-
blicke auch ein schwarzes Herz. Visionen verschwinden nicht, wenn sie
die Augen schliesst.
15. XII. Nachte sehr unruhig. Bezeichnet als Ausgangsort der Stimme
das linke Hypochondrium: „Aus dem Herzen kommt der Ruf. 44 Auf Auf-
forderung, zu horchen, hort sie: „Dummes Madel, sei still . . . Hure . . .
bist ja keine . . .“
17. XII. ,,Die grossten Gemeinheiten hore ich von den Stimmen.
Lieder, als wenn ganze Mannerschwarme mitsingen. 44
18. XII. „Ich werde wohl ins Zuchthaus kommen. Mir ist, als
ob ich verhort werde. Ich habe gehort, dass mich Scharfrichter Reindel
hinrichten wird. Ich bin so erregt, ich kann nicht mehr weiter. 44
27. XII. Mir geht es sehr schlecht, ich beleidige alle Leute, ich mochte
gem tot sein. 44
31. XII. „Ich bin ja so faul, ich bin ein altes Faultier. 44
3. I. „Herr Professor, wollen Sie mich nicht tot machen? 44
9. I.—16. I. Innere Stimmen, Schimpfworter, Drohungen, Be-
fiirchtungen wie friiher. Glaubt, dass andere Leute das horen, was sie iiber
sie denkt. Wenn sie an Leute denkt, sieht sie deren Gesicht deutlich
vor Augen.
7. II. Pat. behauptet, niemals Stimmen gehort zu haben. „Nur
alle horen meine Stimme. Die Patienten reden alles durcheinander, weil
ichhierbin. Es ist, als ob ich ein Bauchredner ware. Jeder spricht verkehrt
hier durch mich. 44
19. n. „Ich bildete mir ein, dass die anderen die Stimmen, die ich
hore, auch horen. 44
26. II. [Stimmen?] „Nein. 44 [Seit wann nicht?] „Seit ein paar
Wochen. 44 [Krank gewesen?] „Ja.“
17. III. Keine Stimmen bis jetzt wieder gehort.
3. IV. Halt sich fiir vollkommen gesund. Die Krankheit ware wohl
durch Ueberarbeitung gekommen; es ware ein ahnlicher Zustand gewesen
wie vor 6 Jahren. „Erst waren die Stimmen, dann begriff ich es erst, was
das heissen sollte. 44 Erklart die Stimmen jetzt fur Tauschungen. Jetzt keine
Angst, keine Stimmen. Macht einen vollig freien Eindruck.
16. IV. Pat. hort in der Nacht die Stimme des Professors. „Mir war
ee so, als ob Gedichte gemacht werden in meinem Leibe, ein Gesang von
Mannem. 44 [Schimpfreden ?] ,,Ja: Du bist zu faul, zu schlecht, Diebin,
Verbrecherin u. s. w. 44 [Traum?] ,,Nein.“
21. IV. Verspurt noch manchmal eine voriibergehende innerliche
Unruhe, „als ob sich jemand innerlich mit ihr unterhalt. 4 Keine Stimmen.
16. V. Lauft noch immer viel ruhelos umher.
4. VI. Voriibergehender Angstzustand.
10. VII. Versichert immer wieder, dass sie gesund sei.
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042 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
17. VIII. Pat. sieht sehr wohl aus, zeigt keine Spur von Depression,
macht einen vollig freien und gesunden Eindruck. Fiihlt sich seit 3 Monaten
vollig wohl, keine Stimmen, keine Gestalten.
Retrospektive Anamnese. Schon 3—4 Wochen, bevor Pat. hier auf-
genommen wurde. horte sie wieder Stimmen bei der Arbeit, in der Nacht,
war miide, hatte sch lech ten Schlaf, konnte ihre Arbeit nicht tun. Sie weiss,
dass sie in der Charite beschimpft wurde, fur schlecht gehalten wurde,
weil sie den Verkehr gehabt hatte. Sie horte die Stimmen immer leise und
heimlich. ,,Ich glaubo, ich habe gedacht, sie wollten mich einsperren.“
Die Besserung ging nur allmahlich vor sich. Pat. glaubte schliesslich, dass
sie deshalb nicht schlecht sein konne, weil sie doch stets von ihren Ver-
wandten besucht wiirde, die Interesse und Mitgefiihl fur sie hatten, dadurch
sei sie auf das Wahnhafte ihrer Ideen aufmerksam geworden; daran schloss
sich der Gedanke, dass die Stimmen wohl auch krankhaft sein konnten;
sie horte nicht mehr auf die Stimmen, die dann allmahlich verechwanden.
19. VIII. Geheilt entlassen.
Der vorliegende Fall ist durch die dauemde primare traurige Ver-
stimmung ausgezeichnet, parallel mit der Verstimmung treten die Hallu-
zinationen und Wahnvorstellungen auf. Von der Ursache des Krankheits-
ausbruches ist uns nichts oder nur sehr wenig bekannt, inwiefem Ueber-
anstrengung oder Gemiitsbewegungen als ursachliche Momente in Frage
kommen, liisst sich kaum bestimmen. jedenfalls ist ein unzweifelhafter
Zusammenhang nicht festzustellen. Der Fall gehort sicher nicht zur
Amentia Meyneris , die Orientierung und Ordnung der Gedanken blieb stets
erhalten; der Ausgang in Heilung, das Rezidiv mit dem Ausgang in Heilung
stellen den Fall in die Nahe der Melancholie in ihrer halluzinatorischen
Varietat. Wahrend des Verlaufes wurde Inkoharenz nicht beobachtet.
Der Fall gehort zur depressiven Varietat der akuten halluzinatorischen
Paranoia. In differentialdiagnostischer Beziehung kommt namentlich
die Melancholie in Betracht, doch stellen di9 primaren Halluzinationen und
Wahnvorstellungen, femer die charakteristischen Assoziationsstorungen
(,,begriff die einfachsten Dinge nicht“, Nov. 1906), sowie der ebenso
charakteristische Beziehimgswahn den Fall unzweifelhaft in die halluzina-
tor is che I^aranoia
10. A. H., geb. 1875, 2. II. 1903—7. III. 1903. Amentia ini Rezidiv.
Normale Entwicklung. Keine Hereditat. Ehe seit 1898, erste Ent-
bindung 1899, zweite 1900.
1903. Beginn der Erkrankung am 30.1.1903 friih: fing piotzlich an zu
weinen, gab an, dass sie iiber ihren Bruder bekiimmert sei, der verhaftet sei.
Ging am 30. friih mit ihrem Jimgen auf den Bahnhof G, hat dort herum-
gestanden, bis am Abend der Mann kam. Aeusserte, als ihr Mann kam,
dass sie verfolgt wiirde. Am niichsten Tage zeigte sie ein aufgeregtes Wesen,
sang im Bett, rief in einem fort nach ihrem Mann. Die letzte Nacht nahm
ihre Aufgeregtheit noch zu, abwechselnd sang und weinte sie. Auf Fragen
ging die Pat. nicht ein, sie weinte vor sich hin imd rief: „Vater, hilf mir.“
Auf die Frage, ob sie ihren Mann oder ihren Jungen kenne, blickte sie starr
vor sich hin und brach dann in lautes Weinen aus.
3. II. Pat., die gestem bei ihrer Aufnahme sehr erregt war und viel
sprach, stosst heute nur imartikulierte Laute aus und fasst auch anscheinend
gar nicht auf, macht einen angstlichen Eindruck. Kommt energischen
Aufforderungen nach, stohnt leise vor sich hin.
Das Essen wurde gleich wieder ausgespuckt. — Macht stammelnde
Sprechversuche, nur auf energische Aufforderung spricht sie einige Wort©
richtig nach. Passive gegebene Haltimgen werden beibehalten.
4. II. Erst nach Hyoscin geschlafcn. V r iel gesungen. Gibt auf Fragen.
keine sinngemassen Antworten, bczeichnet vorgehaltene Gegen stand©
nicht, fasst dagegen einzelne Aufforderungen auf, z. B. Zunge vorstrecken.
Arm hocliheben. Zeigt hinsichtlich des Affektes eine eigentiimliche Mischung
zwischen Aengstlichkeit und Heiterkeit, zeigt bald lachenden, bald angst-
lichen, verzweifelnden Gesichtsausdruck. Bringt jammemde Tone hervor.
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
543
die in Singen iibergehen. Beim Waschen, Anziehen, Essen stark wider-
strebend. Einnassen.
6. II. Verlasst das Bett, lauft angstlich umher. Keine sinngemassen
Antworten, Aeusserungen sinnlos, abgerissen, z. B.: .JMamala, gehen Sie
fort, lessen Sie mich doch“ — spricht vieles so imdeutlich, dass man es nicht
versteht. Macht manchmal eigenartige Mundbewegungen, z. B. stammelnde,
schnappende, hauchende. Bewegt sich viel.
7. II. Nachts sehr unruhig, viel gesprochen, viel herumgelaufen,
kramt mit den Bettstiicken. Gibt an, dass sie nicht krank sei. Redet den
Arzt Doktor an; sie sei beim Herm Jesu, sei in der Kirche, sei magenleidend
und habe iiberall Schmerzen. — Spricht unzusammenhangend vor sich hin.
16. II. Andeutung von Katalepsie, Echopraxie, strebt viel aus dem
Bett, kramt viel im Bett, dazwischen deutliche angstliche Affekte. Sprach-
liche Aeusserungen nur gelegentlich, oft unartikulierte Laute, muss ge-
fiittert werden, planlose Unruhe.
21. II. Vollig amentes Wesen, keine ausgesprochenen Angstaffekte.
Zeigt kein Widerstreben, muss gefiittert werden, nasst ein. Sprachliche
Aeusserimgen sehr gering, vorgehaltene Gegenstande werden nicht be-
zeichnet.
28. II. Abnahme der motorischen Unruhe, aber noch vollig ament.
5. III. Im ganzen etwas ruhiger, lauft zuweilen irniher, ist noch sehr
verwirrt. Hochgradige Denkerschwerung. Weiss, dass sie im Krankenhause
ist, kann aber keine zeitlichen Angaben machen. Aeusserimgen vollig
inhaltslos, phrasenhaft.
Pat. verliess die Klinik, verbrachte 14 Tage zu Hause, keine Aenderung
des Zustandes, musste nach D. gebracht werden.
1. IV. 1909. Pat. verbrachte 2*4 Monate in D. imd gewann spater
ihre Gesundheit wieder, war normal bis vor 14 Tagen, leitete ihren Haus-
stand allein; alles war in Ordnung. Arbeitete 1907 in einer Fabrik.
Vor 14 Tagen Beginn mit Weinen, schrie nach ihrem Mann, der vor
6 Monaten verstorben ist. Beruhigte sich dann wieder. Nachts schlaflos,
Kopfschmerzen. Am 2. Tag noch ausser Bett, sass aber schon teilnahmlos
herum. Am 3. Tag blieb sie im Bett, war apathiseh, mit geschlossenen Augen,
stohnte vor sich hin, beantwortete Fragen nicht, musste gefiittert werden.
Nachts meist schlaflos. Am 4. Tag zog sie sich die Striimpfe des verstorbenen
Mannes an und sagte, sie suche den, von dem sie die Striimpfe anhabe;
weinte heftig dabei, riss die Tiir auf, rief: „Emil, Emil,“ Liess sich beruhigen.
Motorische Unruhe: zog sich wiederholt aus und an. — Aehnlich ging es bis
gestern. Wurde gewalttiitig, schlug eine Fensterscheibe entzwei und sagte
dabei: ,,Warum muss ich so leiden?“ Schlug die Mutter, beruhigte sich
schnell. Sah eine weisse Gestalt fiber dem Gartenzaun stehen. Unterhielt
sich, als ob sie telephonierte: ,,Anna, bist du da, bin, bin, ab, ab.“ So stunden-
lang. Liess ihren kleinen Sohn einriegeln, glaubte, die Mutter wollte sie ver-
giften. Wusste vor 8 Tagen ihren Namen nicht, konnte nur bis 3 zahlen;
zog zwei Kleider iibereinander an, machte sie falsch zu. Stand in der Nacht
auf und befiihlte die Gesichter. Hielt den Arzt fur ihren Bruder. Verhielt
sich im allgemeinen still, meist Weinen, dazwischen gezwungenes Lacheln.
2. IV. Pat. benimmt sich bei der Aufnahme laut. Stosst in der Nacht
haufig laute Schreie aus. Am Morgen viel aus dem Bett, reisst an den Tiiren,
will bei der Hausarbeit helfen. Pat. ist zeitlich nicht ganz orientiert, halt sich
fiir gesund, gibt ganz richtig an, wie lange und wo sie die Zeit von 1903 bis
jetzt verbracht hat. Pat. ist durch die Fragestellung und durch Aeusserimgen
von Mitkranken nicht zu beeinflussen, sagt spontan kaum ein Wort, fasst
viele Fragen gar nicht auf, wiederholt haufig die Fragen statt zu antworten,
antwortet haufig ausweichend, z. B.: fW T erden Sie verfolgt ?] ,,Wer soli mich
verfolgen ?‘ fc [Gehen die Gedanken schnell oder langsam ?] „Gedanken hab
ich bis jetzt gar nicht.“ [Gedachtnisabnahme ?] ,,Es kann sein.“ — [Seit
wann ?J ,,Fragen Sie meine Geschwister.“ [ Woran gemerkt ? ] Keine Ant-
wort. Pat. begleitet die Exploration mit einem Lacheln, gibt zuweilen
schnippische Antworten, fixiert vorgehaltene Gegenstande, spricht mitteb
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544 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
schnell, in zusammenhangenden Satzen. Verkennt Personen. Die Intelligenz-
priifung ergibt nichts Abnormes. Status corporis ohne Befund.
Wahrend der Untersuchung jammert Pat. immer vor sich hin. [Haben
Sie Angst ?] „Ja. 44 [Wovor ?1 „Dass Sie mir in die Augen stechen. 44 Halt
die Volontararztin fiir ihre Fre undin T.
3. IV. Seit heute friih Kramen im Bett mit geschlossenen Augen.
Leichte Katalepsie. Keine sprachlichen Aeusserungen. Viel ausser Bett
mit geschlossenen Augen. [Warum Augen geschlossen ?] , ,Ich mochte nicht
mehr weinen, ich mochte nicht hier bJeiben. 44 [Monat ?] „Marz.“ Erkennt
den Arzt. [Wo hier ?] „Bitte sagen Sie es mir. 44 [Sind Sie krank ?] „Krank-
lich mag ich sein, aber nicht im Kopf. 44
4. IV. Pat. unterhalt sich freundlich mit ihren Angehorigen, fragte
auch nach ihrem Jungen.
5. IV. [Wo hier ?] „Ich habe es gelesen . . . 4 ‘ Als ihr gesagt wird,
hier sei ein Krankenhaus, fragt sie: ,,Warum bin ich denn hier? 44 Weiss,
dass sie gestern Besuch von ihren Angehorigen gehabt hat, spricht langsam,
zogerod, auch ihre Bewegungen sind langsam.
6. IV. Weinerlich, kriecht auf alien Vieren umher, keine sprachlichen
Aeusserungen, meist mit geschlossenen Augen im Bett.
10. IV. Nahrungsaidnahme schlecht, nur Fliissiges, lasst vieles zurnck-
laufen; blickt oft ins Leere, Gesichtsaudruck nicht angstlich, aber gleich-
giiltig. — Schlagt der Warterin plotzlich den Napf aus der Hand. Muss
gefiittert werden.
15. IV. Trotzdem sie eben zum Abort gefiihrt worden war, setzt sie
sich auf den Bettrand und lasst Urin. Viel ausser Bett, versteckt sich
hinter anderen Betten, krallt sich an den Kleidem fest. Keine Spontan-
ausserungen. Personenverkennungen.
16. IV. Heute sehr ablehnend. Schimpft, dass sie nicht ihre Ordnung
habe, zu Hause sei alles besser. Auf Vorhalt, weshalb sie sich heute morgen
entkleidet, meint sie: „Ich wollte doch sehen, ob ich mein weibliches Ge-
schlecht noch habe. 44 [Krank?] „Ich bin nicht krank. 44 [Angst?] ,,Fiir
was denn Angst? 44 [Datum?] „Weiss ich nicht so genau. 44 [Monat?]
„April.“ [Jahr?] „1910.“
18. IV. Steht plotzlich auf, ruft mit befehlender Stimme: ..Steli
auf, steh auf!“ Bleibt wie angewurzelt stehen. Sinnestausch ungen werden
negiert. [Traurig?] „Nein.“ [Angst?] „Nein. 44
20. IV. Pat. liegt im Bett mit geschlossenen Augen und stosst
in best i mm ten kurzen Intervallen jammemde Laute aus, Gibt keine Aus-
kunft. Weint mit Tranen. Spontanea Jammern: ,,Wer hat dir weg-
genommen ? 44 Dann wieder Wimmera.
21. IV. Fasst plotzlich den Arzt am Arm: ..Ich hore was. 44 [Was
horen Sie?] ,,Hier ist Gott. 44 [Was sagt er?] Keine Antwort. [Hat der
liebe Gott zu Ihnen gesprochen ?] „Bild ich mir ein. 44 [Was hat er gesagt ?]
„Weiss ich nicht mehr. 44 (Es bleibt ungewiss, ob die Pat. die Stimme einer
Mitpatientin, die im Nebenzimmer laut ist, gemeint hat.)
23. IV. Ist aggressiv. Nimmt liingere Zeit hindurch eigentumliche
Stellungen ein. [Hat das jemand befohlen ?] ,,Nein. 44
25. IV. Hockt meist stumm im Bett. haufig mit geschlossenen Augen,
nur, wenn die anderen laut werden, schreit sie mit.
27. IV. Oefter Scheinschlaf, auf Klatschen leichtes Blinzeln. Zu-
weilen plotzlich ausser Bett, tanzt dann mehrere Male mit geschlossenen
Augen herum, indem sie sich um sich selbst dreht. Geht dann allein wieder
ins Bett. Gesichtsausdruck teilnahmlos. Auf Zurufe keine Reaktion.
29. IV. Vorgehaltene Gegenstande werden erst nach einiger Zeit
fixiert. ,,Wariun geben Sie mir das Stuck ?“ (Uhr.) [Was ist das fiir ein
Stuck ?] ,,Runder Gegenstand. 44 [Wie nennt man das ?] ,,Wie nennt man
das ?“ Spricht die Worte des Arztes nach.
3. V. Springt.. wenn sie sich imbeobachtet glaubt, aus dem Bett und
versteckt sich. fWarum?] Bestreitet es.
13. V. Ruhiges Verhalten, keine spontanen sprachlicheu Aeussi>-
rungen. [Jahr?] ,,1904. 44 [Krank?] ,.Ich bin krank. 44
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
545
15. V. Zieht sich die Jack© verkehrt an.
17. V. Ging ans dem Bett und legte sich in das Bett einer anderen
Pat. Auf Vorhalt Lachen. 2 Pfund an Gewicht zugenommen.
22. V. Hat sich mit einer anderen Pat. ganz vemiinftig unterhalten.
24. V. Erhielt ein Strickzeng, strickte richtig.
28. V. [Wie geht es Ihnen ?] ,,Geht’s besser schon.“ [Woran denken
Si©?] „Ich denke dariiber nach, class die kleinen Kinderchen jetzt so viel
lemen mussen. <( Die Antworten erfolgen langsam und immer erst nach einer
kleinen Pause, oft etwas stockend. Stets dabei dir gleiehe, unbewegte
G esich tsausdruck.
3. VI. Kennt den Namen einzelner Mitpatienten.
6. VI. Erhielt Besuche, sprach wenig, aber verstandig.
10. VI. Pat. sitzt meist aufrecht im Bett, blickt teilnahmlos, starr
vor sich hin, Spontanausserungen sind selten. (Warum blicken Sie immer
so vor sich hin?] Keine Ant wort. [Sehen Sie etwas?] Keine Antwort.
[Horen Sie etwas ?] Keine Antwort. [Woran denken Sie ?] ,,Ich denke an
die Kinder. “ [An welche Kinder ?] ,,An die Kinder, die mein Mann irgend-
wo gelassen hat.“ [Machen Sie sich Sorgen dariiber?] ..Das sind so meine
Gedanken. li Auf weitere Fragen reagiert Pat. nicht mehr, samtliche Ant¬
worten warden erst auf eindringliches Fragen gegeben, ohne den Arzt an-
zusehen, ohne den Blick zu verandem. [2+2 ?] 4. [2+6 ?] 24; 48. [2+6 ?] 8.
[2+10?] 48.
12. VI. Pat. weint, regt sich auf, ,,weil ein kleiner Knabe geschlagen
worden sei“.
15. VI. Gibt das Datum fast richtig an. Pat. gibt an. sie habe sich
iiber ihren Bruder gegramt: „Ich horte sein Schreien und konnte ihm
nicht helfen.“
19. VI. Erzahlt, sie sei im Winter mit ihrem Kinde in einem grossen
Warenhaus gewesen, da habe das Kind viele Tier© gesehen. und nun denke
sie, das Kind konne dadurch nervenkrank geworden sein.
21. VI. Unterhielt sich freundlich und verstandig mit ihrem Sohn.
# Juli. Pat. ist noch immer sehr langsam in ihren Antworten und Be-
wegungen, zeigt wenig Interesse fur ihre Umgebung, ist aber orientiert.
Allmahlich stellt sich mehr Teilnahme ein. Pat. besucht gern den Garten,
unterhalt sich mit ihrer Xachbarin.
Aug. Auf Wunsch der Angehorigen gebessert entlassen.
16. X. Retrospektive Anamnese. ,,Die Krankheit fing mit
Schmerzen im Riicken und Kreuz an, ich glaubte, ich hatte mir Schaden
getan; die Schmerzen verschlimmerten sich, zogen sich nach der Lunge,
dem Genick und dem Kopf; ich wurde auch ohnmachtig. es war vor mir
a lies verschwunden. Ich gramte mich auch sehr, weil mein Mann gestorben
war. Ich wurde in die Klinik gebracht. ich habe vergessen, weswegen, ich
kann von alleine nichts sagen, es ist mir entfallen . . . Ich hatte Phanta-
sien, auch am Tage, ich horte meines Mannes Stimme, er klagte mir seine
Krankheit, es war mir so, als sollte ich ihn pflegen, aber ich konnte nicht
herankommen.
In der Klinik hatte ich immer die Einbildung. wir hatten Krieg, und
meine Verwandten waren beteiligt; ich hatte Angst, dass etwas passiert,
dass einer totgeschlagenwird,dass wir erschossen werden. wenn wir ims nicht
selbst schiitzen. Ich habe auch die erste Zeit Stimmen gehort: meines
Bruders Stimme. Es war mir, als ob ich in einem liohen Hause wohnte, und
als ob mein Bruder mir zurief, ich sollte herunterkommen. Gestalten habe
ich nicht gesehen. Die erste Zeit wusste ich nicht, wo ich war, wusste auch die
Zeit nicht. “ Pat. kann spontan keine weiteren Angaben machen, erinnert
sich der Zeit der Krankheit fast gar nicht. Die Schwester der Pat. gibt
an, letztere habe tatsachlieh weder Zeit noch Ort gewusst. auch z. B. nicht
gewusst, dass es ilir Geburtstag war, an dem sie einmal von ihren Verwandten
besucht wurde, letztere soli sie immer erkannt haben. Sie soli auch gesagt
haben, ihr Mann lebe noch. er sei beim Kaiser gut angeschrieben gewesen
und jetzt bloss versteckt. Auch soil sie einmal die Schwester gebeten haben,
ihrMannerkleidung zu besorgen, sie wolle sich verkleiden und dann fortgehen.
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546 B r e s o w s k y , Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
Jetzt soil Pat. im Kopfe klar, aber in ihrem Gehaben langsam geworden
sein, sie kann nicht mehr ganz selbstandig leben, wiirde unter fremden
Leuten sich nicht zurecht finden.
Im August war Pat. noch immer sehr angstlich. wollte a us dem Hause
fort, wieder zuriick in die Charity. Allmahlich trat Beruhigung ein, jetzt
ist Pat. heiter, weint nicht mehr.
Im vorliegenden Fall haben wir ausser Gemiitsbewegungen keine
atiologischen Momente. Es handelt sich um ein Rezidiv einer Amentia; das
Rezidiv ist durch eine subakute Entwicklung mit Depression und verein-
zelten Halluzinationen ausgezeichnet. Auch treten Wahnvorstellungen,
Personenverkennungen und verkehrte Handlimgen auf. Unbestiramte
Angst, Wahnvorstellungen und Ratlosigkeit noben anscheinend unmoti-
vierten Handlungen bezeichnen den Hohepunkt der Psychose. Die Inko-
harenz aussert sich in mangelnder Verkniipfung der Empfindungen imd der
sich an die Empfindungen anschliessenden ersten Vorstellungen, sowie der
Erinnerungsbilder imtereinander: Pat. wird schwerbesinnlich. findet die
Worte nicht mehr, kann die einfachsten Fragen nicht begreifen, verstummt
schliesslich; ist toils affektlos, teils deprimiert. Die motorischen Aeusse-
rungen der Pat. sind ganz unsinnig, inkoharent, ebenso plotzlich und unver-
mittelt sind die Affektausserungen und auch die Halluzinationen.
Auch dieser Fall gehort zur Amentia im Sinne Meynerts ; als Spezial-
fall der Paranoia aufgefasst, stellt er die inkoharente Form der akuten hallu-
zinatorischen Paranoia mit einer Verschiebung zur Stupiditat vor. Im vor¬
liegenden Fall ist die mangelhafte Erinnerung an die Zeit der Krankheit
bemerkenswert, wie sie in der retrospektiven Anamnese zutage tritt; es
handelt sich um eine Storung der Merkfahigkeit, welche fur die Psychose
insofern charakteristisch genannt werden kann, als sie von der Erschwerung
der Ideenassoziation, die neben anderen Symptomen dem Fall zugrunde
liegt, in Abhangigkeit gebracht werden kann.
11. E. T., 24 Jahre, ideenfliichtige Amentia, doppelschlagiger Verlauf.
Keine Hereditat, normale Entwicklung, 1907—1908 Gelenkrheuma-
t ism us, 1908 verlobt. In der letzten Zeit aufgeregt iiber die ungliickliche
Ehe ihrer Schwester, die mit ihrem kleinen Kinde bei den Eltern wohnt.
Am 14. II., abends, vor dem Schlafengehen machte die Pat. einen
,,komischen“ Eindruck, fing plotzlich an, mit lauterStimme vom Brautigam
zu erzahlen, schlug mit der Hand auf den Tisch, sagte, sie hatte ihren
Schwager gesehen, an jeder Ecke, wollte nicht mit ihm zusammentreffen.
Pat. beruhigte sich darauf. Ging am nachstenTage inBegleitung der Mutter
aus. da sie fiirchtete. es konne ihr etwas zustossen. Am 16. II. sprach sie
sehr laut, glaubte, plotzlich den Schwager unten vorbeifahren zu sehen,
lief hinunter, um nachzusehen, wo er geblieben sei, fragte dieHausbewohner,
wo er sei, suchte ihn in einer Kneipe, in einemGriinkramladen. sah dort im
Spind nach, suchte dort ihren Brautigam, den ganzen Tag iiber sprach sie
laut; wenn sie ein Gerausch horte, sagte sie: ,.Da kommt mein Richard**; in der
Nacht stand sie plotzlich auf, ging zum Fenster. zog die Rouleaux auf und
wollte zum Fenster hinaus. Die ganze Nacht iiber sprach sie laut, schlief
nicht.
Auf dem Wege in die Klinik glaubte Pat., ihre Direktrice vom Geschaft
zu sehen, sagte ihrer Schwester, sie solle aussteigen, und die Direktrice solle
sich zu ihr setzen.
17. II. Beim Eintritt tiefe Verbeugung, bctet dann ein Vaterunser,
verkennt Personen, ist orientiert. Pat. gibt an, sie werde seit zwei Tagen
von ihrem Schwager verfolgt, sie habe Angst, ,,w f eil ich immer glaubte, alle
Menschen seien meine Feinde.* 4 Sie here Stimmen, es werde ,,Emma“ ge-
rufen. allerdings sehr undeutlich und leise. es seien mehrere Stimmen,
auch habe sie nachts eine verkriippelte Frau mit weissen Zahnen gesehen.
Pat. spricht laut und pathetisch, nimmt auf alle Fragen Bezug. antwortet,
wenn sie Stimmen aus dem Nebenzimmer hort; glaubt, es seien Bekannte.
Starke Logorrhoe. bringt belanglose Reminiszenzen aus dem Familienleben.
19. II. Vol 1 standig orientiert. [Krank ?] ,,Nein, ich werde verriickt
gemacht.** [Von wem ? | ..Ich hore eine Stimme.**
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert). 547
20. II. [Wo hier ?] ,,Wo ich bin, in Dalldorf“, lacht dabei. [Warum
in Dalldorf ?] „Weil sie denken, ich bin verriickt, erst rechts, dann links . . .“ %
[Gift ?] „Weiss ich nicht, ich bin noch so jung, erst 24 Jahre, aber im 25.
will ich (singt) tip tip tip macht meine Schreibmaschine. Kleinigkeit. “
[Angst ?] „Ja, furs Heiraten, so wars friiher, aber es kann anders werden.“
[Angst ?] „Nein . . ., komm doch her, und lege dich an meine rechte Seite.“
[Stimmen gehort ?] „ Ja, immerzu in der Nacht — aber Trudchen ist gut,
hip hip hurra — da fehlt wat — sonst warst du nicht naeh Amerika ge-
gangen — aber auch nicht nach Treptow — rechts herum, links herum,
immer geradeaus.“ [Jahr ?] ,,Warum denn willst du das wissen, 1908,
wenn du kieken willst, musst du die Brille aufsetzen.“ [Krank ?] ,,Nein.“
[Gesund?] „Nein, weil ich meinen Richard nicht habe; bin ich gesund
oder nicht ? Selbsterkenntnis ist der erste Schritt. Artur, zieh deine Uhr
richtig auf.“ (Singt) „Wir halten fest und treu zusammen . . .“ u. s. w.
21. —22. II. Verweigert die Nahrung. Spricht rasch, in ununter-
brochener Bewegung. Auf Fragen keine diesbeziiglichen Antworten.
25. II. Noch immer motorische Unruhe, Entblossen, lautes Singen
und Reden, Nahrungsverweigerung. Spontan: „OHes Schaf, Adolf, bist du
Adolf, biste Bedolf, bist ein Schaf. Emmi, unsere Emma, jetzt kommt es
aber raus, jetzt kannst du loofen, loofe weiter, Lothar. aber nicht p p,
Anna weiss ich, ist ja alles Quatsch, aber Adolf, Lothar, warst du verriickt,
a, a, b oder p, p, hebe mal hoch, aber Adolf, bitte raus, Martin Luther, biste
verriickt, wer hat recht, hat er nicht recht . . .“ Pat. spricht ziemlich leise,
oft unverstandlich fliistemd.
26. II. „Lebe wohl, Punktum, jetzt muss ich lachen, ein kleener,
ganz kleener, ganz kleen, aha, jetzt reden die Juden, o, ei, einmal, warste,
warste besoffen du, lebe wohl, Punktum, lebe wohl, lebe wohl, lebe wohl,
liebes Heimatland, lebe wohl, haste B gesagt, na dann biste doch, bist ein
Luder und hast A gesagt. lebe wohl, ihr Luder, lieber Muttel, Muttel — lebe
hoch, Robert lebe ganz wohl oder wie ist — jetzt komme ich dran, aber nicht
hoch, dazu bin ich zu besoffen, aber richtig — Schaf, Schaf lebe wohl, lebe
wohl, du mein Heimatland . . Pat. schliesst dabei die Augen halb oder
ganz, lasst sich durch Zurufe nicht ablenken, verweigert die Nahrungs-
aufnahme.
3. III. Noch immer keine spontane Nahrungsaufnahme. Motorisch
sehr erregt, stark© Logorrhoe. Ringt die Hande: ,,Herr Jesu, dein Wille,
Wille, Wille . . ., bin ich bose gewesen, boser Ludwig, hoher, hoher, hdher.“
Zurufe (Treue ?] ,,Treue Liebe, geh zu Grabe“; [Essen]: ,,Essen ohne Liebe,
aber nicht fressen“; [Hochzeit]: „Hochzeit machen, das ist wunderschon“
u. s. w. u. s. w.
10. III. Meist weinerlich, Redevfeise unverandert. Die Untersuchimg
der Gehorgange ergibt eine beiderseitige akute Mittelohrentziindung.
17. III. Beiderseitige Antrum operation in Chloroformnarkose.
20. III. Sprachliche Aeusserungen noch immer inkoharent, lacht
gelegentlich, weint zuweilen. meist hyperthymisch und Logorrhoe.
23. III. Pat. hat eingenasst. Komplizierte Bewegungen. auf Fragen
keine Antwort.
26. III. [Jahr ?] ,,Mir geht alles so im Kopf herum, ich weiss nicht.“
Eingenasst.
28. III. Pat. benimmt sich fortgesetzt geordnet, ist vollig orientiert,
freut sich auf Besuch.
9. IV. Dauernd geordnetes Verhalten. orientiert, Erinnerung an
die Rrankheit gering, weiss nur, dass sie nichts essen wollte, will nicht
glauben, was ihr die Verwandten von ihrem Verhalten zu Hause erzahlten.
21. IV. Pat. ist sehr erregt, weint. Schon gestem hat sie viel gelacht,
mischte sich in die Unterhaltung anderer Pat. Spricht vor sich hin: ,,Dahin
schicken und dahin schicken, na, nicken Sie noch einmal, und wenn Frau
Dubitz auch noch so grosse Aehnlichkeit hat, ais echte Berlinerin soil man
sich nichts gefallen lassen. — Soli ich erst toben. — Meinen Brautigam
krieg ich doch, und wenn sie sich auf den Kopf stellen. — Muss man nun erst
einen Trager oder eine Schwester kommen lassen, verriickt bin ich nicht,
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548 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
ich bin evangelisch erzogen und bei Pfarrer A. eingesegnet. Einer sagt so, und
9 einer sagt so, dann kriegt der mal wieder einen anderen Namen, dann wird
man mit Annachen und dann mit Berta angeredet, dann kommen sie wieder
mit dern Verlobungsring. Ich habe ihn immer in Ehren gehalten (lacht),
und wenn ich 36 Manner kiissen sollte ... da sollen sich mal die unter-
suohen lassen. die das angezettelt haben . . .“ u. s. w. Pat. kaut und spricht
zu gleicher Zeit, mischt sich in die Aeusserungen der Mitkranken. verlangt,
auf ihre Virginitat untersucht zu werden.
22.—25. IV. Noch immer sehr erregt, fortwahrend ausser Bett, da-
bei gelegentlich weinerlich, spricht unaufhorlich in zusammenhangenden
Satzen, schimpft. Einnassen.
26. IV. Pat. ist sehr weinerlich, bittet den Arzt mu Verzeihung.
spricht mit tonloser Stimme.
27. IV. „M. M. so kehrt man die Saohe um — ich bin still, Krieg
oder Frieden. — Verheiratet oder verlobt.“
28. IV. Spontan: ,,Ich fiihle mich stets v r erfolgt, ich habe aber keine
Angst. Immer sagen sie, ich bin ein Esel oder Ochs, ich weiss gar nicht,
was ich bin, ich bitte fiir euchalle, pfui . . .“
29. IV. Erregung, Gestikulationen. ,,Ist ja Familienbad. schadet
ja uns nichts. — Treibt uns nicht zum Wahnsinn — das war die Verfolgung,
seht ihr — das ist das Wasser, oder der Tod.“ Dreht die Hande umeinander,
schlagt die Hand auf den Mittelkopf, streckt oft den Zeigefinger gebieterisch
vor sich hin. ..Dann ziehe ich euch die Schuhe an, dann seid ihr lange genug
Wolf gewesen oder Windhund — mein Bandwurm kann die Schnauze doch
nicht halten.“ Starke Inkoharenz von Satz zu Satz.
30. IV. Ausgesprochen heiter, lacht laut.
1. V. Zomige Erregung, schlagt um sich: ,,Lasst euch mal erst ein
Bein abhauen, ich lass mir keins abhauen. Hier wohnt der Deubel (zeigt
auf das eine Bein), hier wohnt die Zigarrenkiste (das andere), und das war
der Deubel (nimmt beide gross© Zehen in die Hand), der sollte erst von
seinem Suff kuriert werden. Amine, Russland, Deutschland, aus einer
Appelsine, da baut man erst das Deutsche Reich daraus. — Der Papst
hat gesagt: Nimm dir keine Bauemmagd. — Da lebte Jule. da lebte Spule,
da lebte auch mein Meineid“ u. s. w. Drehen, Handeklatschen, Klopfen,
Wischen.
2. —10. V. Gleiches Verhalten. Stimmimgslage vorwiegend heiter.
Standige Logorrhoe. Nicht orientiert.
11. V. Benimmt sich ruhiger, keine Logorrhoe, orientiert, weiss, dass
sie gestem den Arzt als Vetter bezeichnet hat, nimmt es zuriick.
13. V. Pat. gibt selbst an. sie fiihle sich klarer und ruhiger, korrektes,
ruhiges Benehmen. *
15. V. Pat. entsinnt sich, dass sie viel gelacht und gesprochen habe,
weiss keinen Grund fiir ihre Bewegungen.
28. V. Pat. benimmt sich vollig geordnet, fiihlt sich vollkommen
gesund.
17. VI. Entlassen.
13. X. Retrospektive Ana nine,se. ,.Meine Krankheit ist von Ueber-
arbeitung entstanden. weil ich viel genaht hatte. Ich hatte nur sehr wenig
getrunken, gegessen absolut nichts, hatte keinen Appetit, schon drei Woe hen
vorher, ich konnte nicht. mir wurde alles viel inehr im Munde. Wenn ich
genaht hatte, stach es mir in die Finger; ich dachte, es ist Ueberarbeitung.
Die Krankheit fing mit Angst an. Ich hatte vom Messerstecher gelesen, und
dann hatte ich sofort Angst. Ich wurde aufgeregt und habe furchtbar viel
gesprochen, alles durcheinander. Am Xachmittag ging ich zum Onkel,
wir sprachen liber den Geschaftskauf. mein Brautigam war auch da, das
regte mich noch mehr auf. Die Nacht darauf horte ich ein paar Mal klingeln,
sprang immer aus dem Bett, habe das Rouleaux im Schlafzimmer hoch-
gezogen und gesagt: ,.Dort geht mein Weg lang.“ Was das bedeutet, weiss
ich selbst nicht. Am Dienstag[16. II.] gingen wir [die Arbeit ab-] liefem.
Ich wollte die Mutter nicht allein gehen lassen, weil ich dachte. ihr passiert
was. Auch sah ich ii be rail einen mir bekannten Schutzmann, ich dachte,
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
549
ioh werde verfolgt. An demselben Tage wollte ich eine Tante, die damals
operiert worden war, besuchen und sagte unzahlige Male, bei jeder Ge-
legenheit: Wir gehen zu Tante Berta. Dann habe ich aus dem Fenster ge-
sehen und sah dort iramer meinen Schwager; einmal stand er auf einem
Rollwagen, einmal kam er iiber den Darara, einmal stand er driiben auf der
anderen Seite. Ich lief auch hinunter in einen Griinkramladen, um ihn dort
zu suchen, ging dort bis ins letzte Zimmer, sah dort auch im Spind nach;
ich hatte eine Stimme gehort, wusste aber nicht, ob es meines Schwagers
oder meines Brautigams Stimme war. — Als ich gar nicht aufhorte, tele-
phonierten sie nach meinem Brautigam, er kam, und dann habe ich mich
beruhigt. Am Abend und in der Nacht habe ich noch viel phantasiert
und bin immer aus dem Bett gegangen. Es kam dann ein Arzt in der Nacht,
und ich bekara Tropfen ein und bin eingeschlafen, aber spater wurde ich
wieder unruhig, ich horte singen und klingeln. Am Morgen kam der Arzt
wieder, und ich wurde in die Charity gebracht. — In der Charity habe ich im
Fieber geredet, in der Zelle gelegen und im Tobsaal, ich weiss es. Ich habe
viele Betten inne gehabt. (Pat. gibt genau an, in welchen Zimmem sie ge-
we8en ist.) Ich habe viele Stimmen gehort, aber nur Stimmen von Ver-
wandten, ich glaube nicht, dass ioh ihnen geantwortet habe, denn ich habe
niemand gesehen, wenn ich mich umdrehte. Ich dachte immer, ich muss
sterben, imd sagte oft den Aerzten, wenn sie hereinkamen: Da kommen die
Leichenbeschauer. Die erste Zeit wusste ioh nicht, wo ioh war, ich habe
immer gefragt, ob ich im Zuchthaus bin oder im Irrenhaus; ich habe mir
viele Gedanken dariiber gemacht. Ich hatte mir auch eingebildet, dass ich
hier bin, weil bei uns alles abgebrannt ist: in der Fabrik nebenan hat es schon
wirklich ein paar Mai gebrannt . . .“ Pat. berichtet femer, dass die Be-
ruhigung und Erholung allmahlich fortgeschritten sei, und dass sie seit
dem August wieder ihre gewohnte Beschaftigung aufgenommen habe.
Im vorliegenden Fall ist uns von atiologischen Momenten nichts be-
kannt, die Gemutsbewegungen der Pat. vor Ausbruch der schweren Er-
scheinungen sind wohl als Prodrome aufzufassen. Der Fall selbst schliesst
sich eng an die Manie in ihrer halluzinatorischen Varietat an. er geht rasch in
eine ideenfluchtige inkoharente Form iiber. Die im Verlauf der Psychose zu-
fallig hinzutretende Mittelohrentzundimg bedingt keine Aenderung des
Verhaltens oder des Allgemeinzustandes. Halluzinationen und Wahn-
vorstellungen sind sparlich vorhanden; die Inkohekrenz macht anfangs den
Eindruck einer sekundaren, einer ideenfliichtigen, erst spaterhin lasst sich
eine Ideenflucht nicht mehr nachweisen. Die Inkoharenz ist als voriiber-
gehende, den Hohepunkt der Krankheitserscheinungen vorstellende Er-
scheinung anzusehen, sie umfasst auch das motorische Gebiet. Die nahe
Verwandtschaft mit der Manie einerseits und mit der akuten halluzina¬
torischen Paranoia andererseits ist ganz unverkennbar.
12, M. W., ideenfluchtige Amentia.
Schwester der Grossmutter „tiefsinnig“. Entwicklung normal, im
15. Lebensjahre hatte Pat. einen Anfall von „Tiefsinn“. Im 24. Lebensjahre
(1900) wiederholte sich der Anfall, Pat. wurde einige Tage in der Charity
beobachtet: sie beschuldigte sich selbst; rang die Hande; sagte, sie sei
verloren, zeigte kataleptische Erscheinungen, machte einen gehemmten
Einduck. Vollige gesund bis 1902, Erkrankung an Manie.
Juli 1902. Pat. macht einen vollig luciden Eindruck, Aeusserungen
ideenfliichtig, ringt, sohimpft, gebraucht unanstandige Ausdriicke. Gegen
Ende des Monats leichte Beruhigung, aber zusammenhangloses Schwatzen,
dazwischen anfallsweise schwere Erregung.
Aug. Dauemd im Zustande zomiger Erregung, kaum zu fixieren,
singt, lauft umher, ist gewalttatig.
Okt. Erregung in letzter Zeit starker. Pat. ist ausserst beweglich,
springt und tumt viel umher, wird plotzlich bosartig, schlagt imerwartet.
Schmiert mit Urin und Kot. Grosse Gefrassigkeit, Schlingen. Reisst sich
massenhaft die Haare aus. Zeitweilig hochgradig ideenfliichtiges Schwatzen.
Oertlich orientiert, zeitlich anscheinend nicht. Vielfach Selbstbeschadigung.
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550 Bresowsky, Ueber die Beziehungen der Paranoia acuta
— Hat erotische Neigungen, behauptet, nur Weiber zu Feinden zu haben.
Lacht viel, leichter Stimmungswechsel.
Nov. Beruhigung. Gibt lappische Antworten. [Jahr?] ,,2000.“
[Monat?] „Mai“; verlangt, dass man ihr mehr Respekt entgegenbringe.
Stets unzufrieden.
Dez. Rasch zunehmende Hemmung, spricht fast gar nicht, bald
ausgesprochene Katalepsie und Echopraxie.
17. XII. Zeitlich und ortlich orientiert, Krankheitseinsicht. Er-
innert sich an Einzelheiten ihres Verhaltens wahrend ihres Erregungs-
zustandes. Habe sich selbst beschadigt, weil sie keinen Besuch erhalten
habe. Habe viele Stimmen von draussen und unten gehort. Habe Elektri-
zitat auf dem Korper gefiihlt als Druck ,,von oben“. Sei kataleptisch ge-
wesen, weil sie fur jede Bewegung geschlagen worden ware.
19. XII. Heftiger Erregungszustand, schreit, lauft umher, behauptet.
Gestalten gesehen zu haben.
24. XII. Gebessert entlassen.
Nach der Entlassimg war Pat. ganz vemiinftig, ist Verkauferin.
Seit Anfang Juni 1909 unruhig, hatte Unannehmlichkeiten im Geschaft
gehabt. Behauptete am 15. VI., die Wirtschafterin habe Gift in den Tee
getan, ass und trank nicht, weil sie meinte, sie wiirde vergiftet. Am 16. VI.
sprach Pat. viel durcheinander, dass sie vergiftet wiirde. Die Unruhe
steigerte sich, Pat. weinte, betete das Vaterunser.
17. VI. Bei der Aufnahme heiter, freundlich, wirft dem Arzt eine
Kusshand zu. Spontanausserungen: ,,Wenn das meine Eltem wiissten,
der Olle, der wiirde mich ja sehr — der kann doch nicht die Baume in den
Himmel wachsen lessen — man kann ja auch Ballon fahren, Hergesell ist
untergegangen — ich kann doch nicht das Geld immer stehlen — da stehen
die Miillkasten, wieder nicht ausgeleert, alte Schweineblase — meine
Striimpfe kosten ja 1,25 Mk. —na, so’n Saustiick — der Olle halt sich bloss
immer die Biichsen. geh doch zu deine 011e“ u. s. w. u. s. w. [Traurig oder
lustig ?] ,,Immer lustig und vergniigt, bis der Arsch im Sarge liegt.“ [Seit
wann so lustig ?] Pat. gerat insWeinerliche, spricht sehr schnell. [Viel oder
wenig Gedanken?] .,Ich hab 1000 Gedanken in Scheiss.“ [Woran?] ,.An
gar nichts, an den heben Gott, an den Brautigam, den ich noch nicht habe —
nicht einfach im Standesamt so zusammenlaufen — die Katholischen sind
alle so hinterhstig . . .‘4 u. s. w. u. s. w. Pat geht im Bett hin und her,
spuckt ab und zu, spricht sehr ausdrucksvoll. Alimahlich geht die heitere
Stimmung in Zorn iiber. Pat. schreit, gestikuliert. Plotzlich schlagt der
Zorn in jammemdes Weinen um: ,,. . . wie kann man bloss Biisten der
Kaiserin hinstelien. na, wartet doch ab, bis sie tot ist, dann stellt sie hin.
Soil man bloss sitzen und auf die Banke poussieren, na pfui . . .“ Pat. ist
vollkommen ortlich und zeitlich orientiert, halt den Unterarzt fur den
Brautigam der Pflegerin, auch sonst Neigung, erotische Dinge zu besprechen.
reichlicher Gebrauch von unanstandigen Worten.
18. VI. Vergnugte Stimmung, verunreinigt die Zelle mit Kot,
zertritt diesen mit den Fiissen.
23. VI. Pat. muss gefiittert werden. Spontanes bestandiges
Schwatzen: ,,Mein Gott, mein Gott, vergib mir meine Siinden — das ist
eine so saubere Frau — mein Gott, das habe ich doch damals vor 7 Jahren,
ich werde nicht verriickt — kann ich denn das wissen, dass es Aerzte gibt —
der ist doch Hoflieferant geworden, vom Konig von Spanien — der hat sich
damals schon erbarmt, meine rechte Hand . . . die Schutzmanner sind
alle Sozialdemokraten, ich bin die grosste, das haben sie mir alle gesagt. .
u. s. w. [Wo hier?] ,,Eingesperrt, ich bin kein Maurer. “ [Jahr?]
,,1909.“ [Monat?] „Juni.“ [Werich?] ,, Ich weiss doch nicht, ein Irrenarzt
jedenfalls, es kann doch nicht stimmen, sind Sie ein Prinz ?“ [Krank ?]
„Nein.“ [Weshalb hier?] „Ich tobe bloss manchmal, ich bin machtig
krank. mit mir ist was los . .. sind Sie nicht mehr geistesgestort, Sie sind
ein Prinz. “ Pat. fangt plotzlich an zu singen: „Ueb immer Treu und
Redlichkeit.“ [Halten Sie den Unterarzt fur einen Prinz ?] „Nein. aber ich
denke. er ist einer.“ [Wie kommt ein Prinz hierher ?] „Kaiser Wilhelm II.,
der soli leben!“
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hallucinatoria (Westphal) zur Amentia (Meynert).
551
30. VI. Dasselbe Verhalten. Spricht sehr viel. singt, aussert sexuello
Vorstellungen. Beim Besuch der Angehorigen unterhalt sie sich wenig.
erkannte aber alle, weinte auch.
I. VII. Vorzugsweise Gestikulationen, ausdrucksvolles Mienenspiel.
umklammert den Arzt, singt.
4. VII. Pat. kniet im Bett, das Gesicht nach der Wand hin, und
singt langsam das Alphabet herunter; Stimmung weineriich.nicht
vome lecken und hinten kratzen — ich krame ja wieder. der Schutzmann —
die Bachlein von den Bergen springen (singt 2 Verse richtig). dann: Mir nach.
spricht Christus, unser Held (einVers) — vorne lecken und hinten kratzen —
pfui Deubel — Maikatze — weil ich unter Gottes Schutze schwebe —
gleiches vergelte ich nicht mit gleichem, nein, nein, nein — darf ich raus-
koramen, wenn Sie erlauben, nein ? — na, dann bleib ich hier — (singt )
Martha. Martha, du entschwandest u. s. w. — eine Schwalbe macht noch
keinen Sommer — a, b, c, d, e, f, g, h — Charlottcnburger Ufer 6 — konnen
Sie mich ansehen, ja bitte. bitte, das ist nett von Ihnen — Preisend mit viel
schonen Keden (zwei Verse richtig aufgesagt), bitte, sagen Sie, mein Vater
war Pionier, der hat es gut mit mir gemeint — nein, nicht heute — Morgenrot,
leuchtest mir zum friihen Tod (ein Vers) — Kronprinzessin Cacilie die erste
— geboren 1. VII. 1871 — der kam zu spat, das ist doch mein linkes Ohr —
jetzt knixen schon wieder meine Fiisse — ich bin klein, mein Herz ist (Pause)
— alles neu macht der Mai 4 * u. s. w. u. s. w. Pat. kriecht im Bett herum,
lehnt sich iiber den Rand, spricht alles langsam mit lauter, halb singender
Stimme.
II. VII. Dasselbe Verhalten, Reden und Gesang wie friiher. Wird
unruhig, schlagt mit den Fausten um sich, iiberfallt die Pflegerin, sehr
abweisend.
15. VII. Pat. grimassiert fortwahrend, steckt die Zunge heraus,
lehnt sich iiber das Bett, den Kopf tief nach unten gesenkt, mit den Handen
die Zopfe tief nach unten ziehend, nimmt verschiedene Stellungen ein,
keine sprachlichen Aeusserungen.
22. VII. Etwas ruhiger, sparliche Aeusserungen, lauft umher,
singt.
24. VII. Wieder sehr erregt, zerreisst das Bett, kneift den Arzt,
die Pflegerin, wird wiitend, schimpft, „ich bin nicht verriickt**, behauptet.
an der Wand seien Teufelskopfe angemalt.
27. VII. Legt sich auf den Boden, bellt wie ein Hund, raumt das Bett
aus, schimpft und schlagt, starke Erregimg. Pat. spricht so laut und so
schnell, dass sie ausser Atem kommt, agiert mit den Handen, Droh-
bewegungen.
10. VIII. Bisweilen sehr erregt, schlagt und beisst, verunreinigt
oft die Zelle, fortgesetzt inkoharentes Schwatzen.
Aug. Wechsel zwischen starker Erregung und ruhigeren Perioden.
Haufig unreinlich.
Sept. Leichte Beruhigung. Pat. schlaft fast den ganzen Tag, ist auch
in der Nacht ruhig, dazwischen aber starke Erregung, Neigung zu aggressivem
Vorgehen, Unsauberkeit; verunreinigt dazwischen das Zimmer mit Kot.
30. IX. (ausserordentlich rasch, u. a.): „ . . . ich will nicht nieder-
geschossen werden, haute vol6e, haute Wolle, na ja, franzosisch Heirat.
manage, english spoken . . . die 3 Finger sind ausgebrochen** (deutet auf
die Finger der linken Hand) . . . u. s. w.
4. X. Im ganzen herrschen Zorn und Heiterkeit vor, hin und wieder
jedoch auch ausdrucksvolles Jammem; in den letzten Wochen keine
stereotypen Stellungen. Wiederholt haufig 10—15mal: „Herr Gott, Herr
Gott“, oder: „Mein lieber guter Herr Oberleutnant**, jedoch stets mit aus-
druck8voller Betonung.
5. X. Pat. versucht of ter, ihren eigenen Urin zu trinken und ihren
Kot zu essen.
6. X. Pat. singt mit geschlossenen Augen: „0, Tannenbaum.
o, Tannenbaum** u.s. w., spater ,,Raum ist in der kleinsten Hiitte fiir ein
gliicklich liebend Paar.“ Spontan: , f O, Berlinerstrasse, Oberleutnant, ich
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552 Albrecht, Experimentalle Untersuchungen liber die
weiss ja selbst nicht, ob er Oberleutnant ist — Frauen geb ich nicht die Hand
— Mein Grossvater hat immer gesagt, wenn man einen an den groasen Zeh
fasst, dann phantasiert er — Steine fressen geht man beim Ritterguts-
besitzer . . .“
11. X. Zuweilen plotzlich aggressiv, trotz ruhigen Verhaltens.
Haufig Weinen und Schluchzen, sogar Heulen, dabei rascher Stimmungs-
wechsel.
25. X. Verhalten unverandert.
Im vorliegenden Fall, der seiner Entwicklung nach durchaus auf dem
Boden der affektiven Psychosen steht, ist ein Fortschreiten der Dauer und
Schwere der Erregungszustande zu konstatieren. Die Inkoharenz stempelt
den Fall zur „verworrenen“ Manie Wernickes . Die Prognose verschlechtert
sich, und es steht zu erwarten, dass bei folgenden Rezidiven sich ein
psychischer Defekt der Erregung anschliessen wird. Der jetzige Anfall hat
anscheinend eine grosse Aehnlichkeit mit dem im Jahre 1902 beobachteten,
auch damals wurde die stark erotische Farbung des Krankheitsbildes be-
obachtet, doch war die Verwirrtheit nicht so lange anhaltend wie jetzt.
Auch scheinen damals die Affekte lebhafter gewesen zu sein. Auch in diesem
Falle ist keinerlei Aetiologie zu verzeichnen.
13. T. A., 35 Jahre alt. Uebergangsform zwischen Manie und akuter
halluzinatorischer Paranoia.
Keine erhebliche Belastung (Vater aufgeregter Mensch, Onkel Trinker),
normals Entwicklung. Pat. war aber nicht besonders begabt. Pat. erkrankte
psychisch zum ersten Male 1898, war einige Monate in einer Privatirren-
anstalt.
2. XI. 1898. Starrer, angstlicher Gesichtsausdruck, weint still vor
sich hin. Halt den Arzt fur den Staatsanwalt, gibt aber schliesslich zu,
dass sie im Krankenhause ist. Pat. antwortet nur miihsam, gibt Namen,
Alter u. s. w. zogemd, aber richtig an.
4. XI. Pat. ist angstlich, straubt sich beim Essen, will keinen Urin
lassen. Schlaf unbefriedigend.
10. XI. Etwas ruhiger, sonst dasselbe Verhalten. Pat. ist orientiert.
15. XI. Weitere Beruhigung. Pat. ist nicht ganz orientiert iiber Ort
und Zeit, halt den Krankensaal fiir eine Kirche. Pat. antwortet schwer-
fallig, sagt, sie wiisste nicht, wie die sie besuchenden Verwandten heissen.
18. XL Einen Brief ihres Brautigams liest sie nicht, weiss nicht an-
zugeben, von wem er ist, dreht ihn ratios hin und her, dabei kein sicht-
barer Affekt. (Fortsetzung folgt.)
(Aus der neurologisch-psychiatrischen Universitatsklinik in Graz.
Vorstand: Universitatsprofessor Dr. Fritz Hartmann.)
Experimentelle Untersuchungen fiber die Grundlagen der
sogenannten galvanischen Hautelektrizitat.
Von
Dr. OTHMAR ALBRECHT,
k. und k. Regimentsarzt.
(Schluss.)
Versuch 17.
Versuchsperson Frau G. A., 62 Jahre alt, Nickelhandelek-
troden. Galvanometer A (liniierte Kurve), mit 100 000 Ohm, direkt
geschaltet. Galvanometer B (punktierte Kurve), ohne Widerstand.
In R. der Reiz: kalte Metallplatte an der Stirn.
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Gruiuilagen tier .sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 553
Die Kurven dieses Versuches sind flach, wenig scharf begrenzt.
Wir haben hier eine neue Schwierigkeit, die sich aus unserer Ver-
suchsanordnung ergibt. Es treten namlich wahrscheinlich Aende-
rungen der Stromintensitat auf, bevor die Bewegung der Galvano¬
meter nach den vorausgegangenen Impnlsen ihr Ende erreicht
hat. Dadurch wird das ganze Bild etwas verandert, und die Kurven
5 - .
l—l—I—t—I_1—1—I—I_I—I_I_1—1_i_i_L_i_i—i_1—1—1_i_i—i
1 i 3 b 3 t, 7 e 9 'll
!i Fig. 6.
werden, besonders wenn sich Bewegungen entgegengesetzter Rich-
tung ablosen, flacher. Wir erhalten dadurch also nirgends die
maximalen Grossen. Je flacher abei die Kurven sind, desto ge-
ringer sind die beziiglichen Fehler, und wir werden am ehesten im-
stande sein, die korrespondierenden Punkte der beiden Kurven
zurBerechnung zu verwenden, wobei wir uns stets vor Augen halten
miissen, dass die erhaltenen Zahlen nicht fiir den betreffenden
durch die Zeitmarke bestimmten Punkt gelten konnen, sondern
fiir einen etwas vorausliegenden.
Die Berechnung von 4 Punkten ergibt:
Punkt W E
1 19 190 0,01439
3 15 824 0,01305
5 16 385 0,01498
10 15 498 0,01395
Diese Zahlen entsprechen im allgemeinen den Verhaltnissen
in den zwei vorhergehenden Versuchen. Auch hier folgt, wie in
Versuch 16, auf den Reiz zuerst eine starkere Verminderung des
Wideretandes (um etwa 16 pCt.) und dieser erst eine Zunahme der
elektromotorischen Kraft (um etwa 14 pCt.). Den Veranderungen
der Zahlen fiir W folgen gleichmassig die Veranderungen der Zahlen
fiir E, der Verminderung des Widerstandes entspricht eine gleich-
zeitige Verminderung der elektromotorischen Kraft etc.
Versuch 18.
13 -
:z r
L-j.-l 1 1—I-1 .1 I l 1 1_1—1—1 i—i_1 1 1 1 L 1—i-
1 l 3 M 5 t> 7 a 9 to tl ’,z 13 1 *»
; Fig. 7.
Monatsschrift fiir Psychiatrie und Neuroloifie. Bd XXVII. Heft 6.
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554 Albrecht, Experiraentelle Untersuchungen iiber die
Versuchsperson Sophie H., 18 Jahre alt, Nickelhandelek-
troden. Ein Leclanchl-Element als korperfremde Stromquelle.
Galvanometer B mit 600 000 Ohm direkt geschaltet (liniierte
Kurve). Galvanometer A mit 1,0 Ohm. Nebenschlusswiderstand
(punktierte Kurve). Reiz: Einatmen von Ammoniak.
Die Berechnung des P. 1 nach den Formeln 14 und 15 (S. 33)
ergibt: W = 2806 Ohm und E = 1,329 Volt, wahrend die Be-
rechnung nach den vereinfachten Formeln W = 3040 — und
a i
E = 0,009a 2 ergibt: W = 2793 Ohm und E = 1,323 Volt. Die
Fehler sind also nicht sehr gross, so dass man mit Rucksicht auf
die sonstige Genauigkeit der Messung die vereinfachte Berechnung
gelten lassen kann. Nach derselben ergeben sich folgende Zahlen:
Punkt
W
E
1
2793
1,323
5
3367
1,296
7
3554
1,368
8
3392
1,386
14
3648
1,350
Die Zahlen von P. 1 bezeichnen uns die Verhaltnisse vor Auf-
treten des Reizes. Wir finden vorerst einen sehr geringen Korper-
widerstand im Vergleiche zu den friiheren Versuchen — ca. 3000
gegen 15 000 Ohm — welcher im Verlauf der Kurven, abgesehen
von einer Riickbewegung im P. 7, fast stetig zunimmt, im ganzen
um etwa 27 pCt. Die Zahlen fiir E setzen sich zusammen aus zwei
Grossen, namlich der elektromotorischen Kraft des Elementes,
vermehrt oder vermindert um die gleich- oder entgegengerichtete
elektromotorische Kraft des Korpers. Diese wieder besteht zweifel-
los aus Stromen analog jenen, welche wir in der Anordnung ohne
korperfremde Stromquelle kennen gelernt haben, und aus Polari-
sationsstromen, welche durch die korperfremde Stromquelle er-
zeugt werden. Fiir die Annahme anderer Stromquellen fehlen uns
die Anhaltspunkte. Durch ein Versehen wurde das verwendete
Element zwischen andere gestellt und dadurch unkenntlich ge-
macht, bevor die voltmetrische Bestimmung desselben durch-
gefiihrt werden konnte. Die Messung mehrerer Elemente aus der¬
selben Gruppe ergab stets 1,2—1,26 Volt, so dass wir diese Gioese
der Spannung fiir das verwendete Element in Rechnung ziehen
konnen. Wir werden deshalb nicht fehlen, wenn wir annehmen,
dass sich im P. 1 ein dem Strome des Leclanch6-Elementes gleich-
gerichteter ,,K6rperstrom“ zeigt, dass auch in den weiteren Zahlen
keine Umkehr, sondern nur Veranderungen im gleichsinnigen
Strome zum Ausdrucke kommen. Diese Zahlen zeigen uns Diffe-
renzen anderer Grossenordnung — wesentlich grossere — als in
den friiheren Versuchen. Ueberlegen wir weiter, dass der Wider-
stand des Korpers bei derselben Versuchsperson in Versuch 16
etwa 5—6 mal grosser war als in diesem Versuche, so ist die An¬
nahme gerechtfertigt, dass durch die Einschaltung einer korper-
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat 555
fremden Stromquelle in jeder Richtung undere Verhaltnisse geschaffen
werden konnen : Wir jinden kleineren Kdr perwiderstand, grossere
elektromotorische Kraft. Ein Zueammenhang zwischen Zu- und
Abnahme von E und W ist nicht erkennbar.
Versuch 19.
l i i 1 1 l 1 i 1 1 l 1 J L-l I I L-J 1 1—1- i 1 1—1—1—*
t i 3 4 5 6 7 6 9 ?0 71 li 15 IV :o 17 11 19
1
K
Fig. 8.
Versuchsperson Sophie H., 18 Jahrealt. Nickelhandelektroden.
Ein Leclanch^-Element als korperfremde Stromquelle. Galvano¬
meter B mit 600 000 Ohm direkt geschaltet (hniierte Kurve).
Galvanometei A mit 1,0 Ohm Nebenschlusswiderstand (punk-
tierte Kurve). Reiz: Stich in den Riicken.
Nach denselben For mein wie im vorigen Vereuohe berechnet,
erhalt man fiir
Punkt 1 W = 2837 E = 1,260.
Diese Werte entsprechen natiirlich wieder den durchschnitt-
lichen Verhaltnissen vor dem Reize. Im Punkte 1, das heisst
knapp nach dem Reize, beginnt ein Ansteigen der punktierten
Kurve, eine Verminderung des Widerstandes. Erst im P. 3 macht
sich ein Ansteigen der liniierten Kurve bemerkbar, eine Vermehrung
der Stromspannung. Die Bedeutung dieser ganzen Aenderung
konnen wir aus P. 9 berechnen. Wir erhalten:
Punkt 9 W = 2718 E = 1,368.
Danach tolgt ein langerer gleichmassiger Abfall beider Kurven,
bis in P. 16 eine stationare Hohe erreicht ist. Wir berechnen fiir
’ Punkt 16 W = 2667 E = 1,287.
Es zeigt sich also eine Abnahme des Widerstandes im ganzen
um 6 pCt. Wenn wir bemerken, dass der Widerstand in P. 9
grosser ist als in P. 16, wahrend man nach der Form der punk¬
tierten Kurve das Entgegengesetzte verwerten konnte, wird die
Wirkung der elektromotorischen Kraft bei der Entstehung der
punktierten Kurve klar. Wir sehen in der punktierten Kurve eine
Wiederholung der liniierten Kurve, welche lediglich durch die
37*
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556 Albrecht, Experimentelle Untersuehungen iiber die
Wirkung der elektromotorischen Kraft entsteht, modifiziert durch
die Wirkungen der Widerstandsanderungen. Auf diesen beruhen
z. B. die unregelmassigen Gipfel der punktierten Kurve, welche
wir einer Berechnung nicht unterziehen.
Wie im vorigen Versuche, finden sich auch hier auffallend
grosse Veranderungen der elektromotorischon Kraft, welche wir
zwar nicht hinsichtlich der — sit venia verbo — vom Korper
stammenden elektromotorischen Kraft prozentual ausdriicken
konnen, welche aber in dem Vergleich zu den Verhaltnissen in den
Versuchen ohne korperfremde Stromquelle bedeutend iiberwiegen.
Die Beziehungen zwischen Vermehrung und Verminderung
von E und W sind nicht deutlich. Wahrend zwischen P. 1 und P. 9
zweifellos eine stetige Vermehrung von E stattgefunden hat, voll-
zieht sich als Resultante scheinbar widerstreitender Impulse eine
Verminderung von W. In der zweiten Halfte der Kurve gehen
Verminderung von E und W zusammen. (Figur 9.)
Versuchsperson Dr. R., 26 Jahre alt, Elektroden: Zinkstabe,
welche in 1 proz. Zinksulfatlosung tauchen, Hande in die Fliissig-
keit. Galvanometer A mit 20 000 Ohm direkt geschaltet (liniierte
Kurve). Galvanometer B ohne Shunt (punktierte Kurve). Reiz:
Schuss.
Versuch 20.
11 -
12 -
11 -
TO -
L L 1—I—I I I l I i 1 1 I—I—l—I—I—i—i—4—i—i—I—1
i 2 3* 5 6 7 8 9 10 H II 13 1* 15 H JT if
i
*
Fig. 9.
Die Berechnung von P. 1, also des Zustandes vor Eintritt des
Reizes, ergibt nach den Formeln 6 und 8 (S. 000) — wir haben hier
wieder die Versuchsanordnung nach Fig. 1 —:
Punkt 1 W = 7863 E = 0,01144.
Hier muss bereits auffallen, dass sowohl der Widerstand des
Korpers wie die elektromotorische Kraft geringer sind als in den
anderen Versuchen ohne korperfremde Stromquelle. Im Punkte 1
setzt bei leichtem Fallen der punktierten ein Ansteigen der liniierten
Kurve ein, das wir aus P. 4 berechnen konnen. Es ergibt sich:
Punkt 4 W = 9023 E = 0,01285.
Wahrend der weitere Verlauf der liniierten Kurve auf an-
nahernd gleicher Hohe bleibt, setzt in P. 4 eine starke Aufwarts-
bewegung der punktierten Kurve ein. Aus P. 11 erhalten wir:
Punkt 11 W = 5408 E = 0,01145.
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Grundlagen der sogenannten galvanischeu Hautelektrizitat. 557
Mit Punkt 11 beginnt ein Abfall der punktierten Kurve. Nach
Vollendung der Bewegung haben wir, berechnet aus
Punkt 18 W = 6838 E = 0,01169.
Wir finden also knapp nach dem Reize eine Vermehrung der
elektromotorischen Kraft (um etwa 12 pCt.) und eine Vermehrung
des Widerstandes (um etwa 15 pCt.). Nach 6 Sekunden setzt eine
bedeutende Verminderung des Widerstandes ein (um 40 pCt.),
wahrend die elektromotorische Kraft auf das urspriingliche Maas
zuriickgeht. Mit einer leichten Vermehrung des Widerstandes
gegen Ende der Kurve ist auch eine geringe Zunahme der elektro¬
motorischen Kraft verbunden.
In diesem Versuche zeigt sich ein Einfluss der Widerstands-
anderungen auf die Form der liniierten Kurven. Wir sehen z. B.
zwischen P. 11 und P. 18 eine Vermehrung der elektromotorischen
Kraft, aber trotzdem ein Fallen der liniierten Kurve. Das kommt
daher, dass die gleichzeitige Zunahme des Korperwiderstandes um
1400 Ohm bei einer Einschaltung von 20 000 Ohm Apparatwider-
stand eine Veriinderung von 7 pCt. bedeutet, also in der liniierten
Kurve sehr zur Geltung kommen kann.
Auch in diesem Versuche ist, wie in den anderen, ohne korper-
fremde Stromquelle die Gleichsinnigkeit der Veranderungen von
Korperwiderstand und Stromspannung zu beobachten.
Die vorstehenden Versuche sind aus einer grosseren Reihe
gleichartiger Experiments herausgegriffen. Einige Versuche, welche
einer Nachpriifung bediirfen oder wegen der Art der Anordnung
Ungenauigkeiten ergaben, habe ich nicht angefiihrt, mochte aber
darauf hinweisen, um weitere Versuche anzuregen.
Hierher gehoren vor allenx die Experiments mit Druck-
messung am Dynamometer.
Die Anordnung war derart getroffen worden, dass die Ver-
suchsperson in jede Hand ein vernickeltes Dynamometer (Stern¬
berg) bekam, welches als Elektrode ohne korperfremde Strom¬
quelle in den Kreis fiihrte. Nun wurde erst mit einer, dann mit der
anderen, schliesslich mit beiden Handen gedriickt. Die Resultate,
welche in den Einzelheiten nicht genau sind, aber im ganzen eine
Beurteilung erlauben, waren: Bei dem ersten Druck fiel die liniierts
Kurve (eingeschaltet waren 100 000 Ohm) bis zum 0-Punkt, wahrend
die punktierte Kurve ebenso rasch anstieg, um, wie die liniierts, gleich
wieder auf die fruhere Linie zuriickzukehren. Bei dem zweiten
Druck stiegen beide Kurven an, um allmahlich zu fallen. Beim
Druck mit beiden Handen erfolgte eine Umkehr der Stromrichtung.
Bei der Versuchsanordnung nach Veraguth mit fliissigen Elek-
troden mussten in den Widerstandskreis (Stromkreis I, Fig. 2)
eine Million Ohm geschaltet werden, das andere Galvanometer in
einem Nebenschluss zu 0,1 Ohm stehen, und die Kurven, welche
resultierten, waren ganz flach und fast gleichlaufend, wahrschein-
lich, weil wegen des kleinen Nebenschlusswiderstandes die an sich
geringen Schwankungen nicht zur Geltung kamen.
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UNIVERSITY OF CALIFORNIA ^
558 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen liber die
In zahlreichen Assoziationsversuchen gingen beide Kurven
ebenfalls einander annahernd parallel, was auf eine geringe Be-
teiligung der Wideretandsunterschiede achliesaen laaat.
Ergebnis.
Wir konnen nunmehr die Reaultate, welche wir aus den vor-
atehend geachilderten Verauchen, inabesondere durch die Analyse
der Kurven, erhalten haben, uberblicken.
Fiir8 erst© aind wir im8tande, die einganga geatellte Frage im
allgemeinen dahin zu beantworten, class die Stromschvxmkungen in
jeder Art der Versuchsanordnung sowohl durch Aenderungen des
Widerstandes als auch durch Aenderungen der elektromotorischen
Kraft entstehen.
Dieae Aenderungen driicken aich der Verauchsanordnung ent-
sprechend in beiden Kurven verechieden au8. In den punktierten
Kurven kommen die Schwankungen von Widerstand und elek-
tromotorischer Kraft vollinhaltlich zur Geltung, indem sie aich
im entgegengeseizten Sinne beeinfluasen. Das heiaat, eine Verminde-
rung des Widerstandes bewirkt ein Ansteigen, eine Verminderung
der elektromotorischen Kraft ein Fallen der Kurve. Was die Form
der punktierten Kurven anlangt, haben wir eine Eracheinung zu
registrieren, welche sie von den liniierten Kurven erheblich unter-
scheidet. Wir sehen namlich meistens nach dem Heiz acheinbar
sofort eine deutliche Schwankung in der punktierten Kurve ein-
aetzen, sei es im Sinne dea Anatiegea (Fig. 5, 6, 8), sei es im Sinne
des Abfalles (Fig. 7, 9). Wir miissen sagen scheinbar, denn die
Kurven entaprechen den tatsachlichen Verhaltnissen nicht absolut
genau, weil aie konstruiert aind und weil von einer Marke bis zur
nachsten iy 2 Sekunden vergangen aind, innerhalb welches Zeit-
raumes der Beginn der Bewegung fallt. Ziehen wir die Zahlen zum
Vergleiche heran, so sehen wir mehrfach die rasch nach dem Reize
einaetzende Schwankung der punktierten Kurve in Aenderungen
des Widerstandes begriindet, welcher den gleichzeitigen Aende¬
rungen der elektromotorischen Kraft gegeniiber im Uebergewicht
erscheint. Am deutlichaten iat dies wohl in Vereuch 16 zwischen
P. 1 und P. 5.
In den liniierten Kurven kommen die Aenderungen dea Wider¬
standes nicht oder in bedeutend vermindertem Masse zur Geltung
(auszunehmen iat bloas Verauch 20), so dass uns dieae Kurven
weaentlich nur die Aenderungen der elektromotorischen Kraft dar-
stellen. Sie bilden neben den punktierten gleichsam einen Indikator
fiir einen der beiden Faktoren, welche gleichzeitig in den roten
Kurven wirksam werden. Die deutlichsten Ausschlage in den
liniierten Kurven setzen ofters um mehrere Sekunden, wahrend
welcher nur kleine Schwankungen zu verzeichnen sind, spater als
die der punktierten Kurven bezw. nach dem Reize ein (Fig. 5, 7, 8).
Auch diese Tatsache konnen wir in ihrer Beziehung zu den Aende¬
rungen der elektromotorischen Kraft in den Zahlen bestatigt finden.
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Grundl&gen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 559
Die Widerstandsanderungen, welche wir derart graphisch und
zahlenmassig darstellen, konnen auf verschiedene Art zustande
kommen: am Korper und im Korper.
Wir haben iiber die mechanischen Ursachen derselben bereits
am Anfange dieses Abschnittes gesprochen. Durch Bewegung her-
vorgerufene Aenderungen der Kontaktflachengrosse oder Aende-
rungen der Innigkeit des Kontaktes sind kontrollierbare Momente
und durften wohl nur in einzelnen Fallen emstlich zu beriick-
sichtigen sein.
Weit wichtiger sind andere physikalische Aenderungen, welche
infolge physiologischer Vorgange an der Korperoberflache zustande
kommen. Es sind dies die Wirkungen der Sekretion. Die Ansamm-
lung von fliissigem Sekrete in den Ausfiihrungsgangen der Driisen,
der feuchte Ueberzug iiber die Kontaktflachen, die Durchfeuch-
tung der obersten Hautschichten sind Momente, welche eine Ver-
minderung des Leitungswiderstandes der Haut herbeizufiihren im-
stande sind. Ja, wir werden daran denken konnen, dass auch die
chemisch-qualitative Aenderung der Sekrete unter Umstanden fur die
Widerstandsanderungen Bedeutung zu gewinnen vermag.
Schliesslich haben wir mit Widerstandsanderungen, welche
sich im Korper vollziehen, zu rechnen. Auch hier taucht die Frage
nach dem elektrischen Leitungswiderstand des lebenden Korpers
auf, deren Beantwortung durch die physikalischen Chemiker wir
erst abwarten miissen. Sie steht im engsten Zusammenhange mit
den Vorgangen im tatigen Organe.
Botazzi (loc. cit.) gibt an, dass in den Organen wahrend deren
Funktion eine Zunahme des osmotischen Druckes eintritt, aber der
Unterschied des osmotischen Druckes wird sofort ausgeglichen,
wenn der Blutkreislauf in den Organen ein normaler ist. ,,Die
Steigerungen des osmotischen Druckes, die die spezifischen Funk-
tionen in den verschiedenen Organen begleiten und sogleich aus¬
geglichen werden, veranlassen und unterhalten notwendigerweise
einen osmotischen Strom von Wasser von den Fliissigkeiten des
Organismus zu den lebenden Zellen. Schon Ranke konstatierte,
dass der in Funktion befindliche Muskel der Umgebung Wasser
entzieht, und Cl. Bernard beobachtete eine ahnliche Erscheinung
in den Muskeln und Driisen. Ich habe nachgewiesen — sagt er —,
dass das von einem in Tatigkeit befindlichen Muskel abfliessende
Blut nicht reicher an Wasser ist als das in ihn eintretende, ja haufiger
zeigt sich sogar das Gegenteil. Ausserdem habe ich darauf hinge-
wiesen, dass das von einer in der Absonderung begriffenen Druse
abfliessende Blut armer an Wasser ist, als das in sie eindringende
und dass die Differenz genau dargestellt wird durch die Menge
des in der abgesonderten Flussigkeit enthaltenen Wassers.
Wie wiirde nun aber jemals das Wasser in die absondernde
Druse eindringen, um sie mit dem Sekrete zu verlassen, wenn der
intrazellulare, osmotische Druck nicht wahrend der Funktions-
tatigkeit zunahme. Man kann jedoch nicht sagen, dass diese Zu¬
nahme durch Freiwerden von Elektrolyten durch Erzeugung freier
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660 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
Ionen veranlasat wird, solange nur die Unterauchungen Galeottis
iiber die elektrische Leitfahigkeit der Gewebe und Organe im Ruhe-
zustand und nach der Funktionstatigkeit vorliegen. Diesen Unter-
suchungen zufolge ware eine Abnahme der spezifischen elektrischen
Leitfahigkeit in den durch ubermassige Arbeit ermiideten Muskeln
zu konatatieren.“
Das 1st noch sehr wenig. Zumal Galeottis Unterauchungen sick
grosstenteils (oder nur ?) auf herauageschnittene Gewebaatiicke er-
atreckten. Jedenfalls fiihrt ea una aber darauf hin, dass dera Blut-
kreislauf eine grosse Rolle beziiglich der elektrischen Leitfahigkeit
der Organe zukommt, undwirwerden uns daran erinnern, dass achon
Tarclianoff und apater Sticker auf plethyamographische Unter-
suchungen — eraterer auf die Arbeiten von Mosso und Francois
Frank, letzterer auf die von Hallion und Comte — aufmerksam ge-
macht haben.
Beziiglich der Schuankungen der elektromotorischen Kraft moge
hier ein Hinweis auf Abschnitt II gestattet sein und an die Be-
deutung, welche der Sekretion der Hautdriisen fur die Entstehung
der unterauchten Erscheinungen zukommt, erinnert werden. Auch
die liniierten Kurven, welche wir ala graphische Darstellung der
Aenderungen der elektromotorischen Kraft ansehen konnen, geben
una Anhaltspunkte im erwahnten Sinne. Zwei Tatsachen sind vor
allem anzufhhren. Die erste ist das Bestehen einer Latenzperiode
zwiachen dem Reiz und dem deutlichen Anstieg der liniierten
Kurve (im Gegenaatze zum Fehlen deraelben bei den Widerstands-
achwankungen knapp nach dem Reiz). Sie fallt zuweilen durch
ihre Dauer auf, dauert ungleich lange, zuweilen bis zu mehreren
Sekunden (Fig. 5, 7, 8). Die zweite Beobacktung, welche wir fast
regelmassig machen konnen, ist folgende: Nachdem die liniierte
Kurve einen Kulminationspunkt erreicht hat, folgt ein Abfall, der
geringer iat ala der Anstieg, so dass der weitere Verlauf der Kurve
auf einer hoheren Linie erfolgt (Fig. 4, 5, 7, 8). Beide Erscheinungen
lassen sick ohne Zwang durch die Anrtahme erklaren, dass die in
ihnen zum Ausdruck kommende Zunahme der elektromotorischen
Kraft durch die Sekretionsvariationen bedingt ist.
Eine Beteiligung endosomatischer Stromquellen von unter-
geordneter Bedeutung konnen wir nicht ausschliessen, haben aber
aua alien bisherigen Beobachtungen keinen Anhaltspunkt dafiir,
dass bei den in Rede stehenden Erscheinungen endosomatiache
Stromquellen wirkaam werden. Es ware ja prinzipiell mog-
lich, daas die Stromschwankungen durch das Hinzutreten von
vorderhand noch unbekannten endosomatiachen Quellen elektro-
motoriacher Kraft hervorgerufen werden. Dagegen sprechen aber
zwei Ueberlegungen. Erstens ware es unverstandlich, w r arum der
durch dieae endoaomatische elektromotoriscke Kraft entstandene
Strom in der Regel so gerichtet sein soli, dass seine Wirkung sick
zu der des urspriinglichen Stromes addiert. Zweitena miissten wir,
wenn wir die Stromschwankungen ala Effekt einer hypothetischen
endosomatisch entstandenen elektromotorischen Kraft ansehen,
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Grundlagen der sogenanntcn galvaiilsciien Hautelektrizitiit. 561
gleichzeitig annehmen, dass die Wirkung der durch Aenderung
der physikalischen und chemischen Bedingungen notwendigerweise
entstelienden Schwankungen der elektromotorischen Kraft des ur-
spriinglichen Stromes ausbleibt.
Der Leichenversuch Veraguths (Monographie, p. 161) und sein
Zweifingerversuch (1. c., p. 177) zeigen, dass auch mit Ausschluss
der Lebensvorgange im Korper und mit Ausschluss des grossten
Teiles des (lebenden) Korpers Strome bezw. Stromschwankungen
darstellbar sind.
In keiner Richtung beweisend ist aber der Nadelversuch des-
selben Autors. Wenn wir eine Nadel unter die Haut der Hand
stechen, eine Platte auf die Haut legen, so ist diese Nadel das
zweite Metall des Elementes, dessen Kette durch die Elektrolyten
der Haut geschlossen wird. Man sieht daraus hochstens, dass der
Versuch auch ohne Mitwirkung tieferer endosomatischer Krafte
gelingt, was von vornherein nicht zu bezweifeln war. Vemguth
schliesst aber daraus:
,,1. dass die Haut (der Palma manus) Antwortorgan des
psychogalvanischen Reflexes ist, und zwar ohne Mithilfe der
darunter liegenden Organe;
2. dass das Phanomen sowohl (bei Vorhandesein einer exo-
somatischen Stromquelle) in einer Variation der Leitfahigkeit, als
auch (besonders bei Fehlen einer exosomatischen Stromquelle) in
einer Variation in der Haut lokalisierter elektromotorischer Kraft
begriindet sein muss.“
Dass wir diese Auffassung nicht teilen konnen, geht aus den
bislierigen Ausfiihrungen hervor. Veraguth fasst eben die Tatig-
keit der Haut im Sinne Fiirstenaus und Sommers auf, er nimmt
an, dass sie an der Strombildung aktiv wie ein Metall beteiligt ist.
Wir mussten diese Annahme fallen lassen (vergl. Abschnitt I).
Damit andert sich auch die Schlussfolgerung aus dem Nadelversuch.
DerVergleich der Hand- und Fussflache des Menschen mit dem
elektrischen Organ gewisser Fische, den Veraguth anstellt, erscheint
gewagt, seine Behauptung, diese Korperpartien seien ,,in bevor-
zugtem Masse das elektrische Organ des Menschen", kanu undis-
kutiert bleiben.
Bei der Besprechung der nach der Anordnung Tarchanoff er-
haltenen Kurven ist bereits bemerkt worden, dass ein Zusammen-
hang zwischen den Aenderungen von Widerstand und elektromotori¬
scher Kraft besteht. Wenn wir die Zahlen der Versuche 15, 16, 17
und 20 uberblicken, konnen wir konstatieren, dass regelmassig
neben einer Zunahme des Widerstandes eine Zunahme der elektro-
motorischen Kraft, dass neben einer Abnahme der elektromotori-
schen Kraft eine Abnahme des Widerstandes nachzuweisen ist,
dass sich also Zunahme und Abnahme in den grossen Ziigen gleich-
sinnig andern. Nur das Qantum der Aenderung steht vielfach
in keinem Zusammenhange zu einander. So finden wir im Ver¬
suche 15 (Fig. 4) zwischen P. 1 und P. 6 eine Zunahme der elektro-
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562
Albrecht, Experimentelle Untorsuchimgen iiber die
motorischen Kraft um fast 100 pCt., wahrend die gleichzeitige
gleichsinnige Aenderung des Widerstandes nur 25 pCt. betragt.
Aehnliche Berechnungen lassen sich wiederholen.
Es fragt sich nun, was wir in dieser Regelmassigkeit als das
Primare anzusehen haben, was als das Sekundare. 1st die Aende¬
rung von W eine Folge der Aenderung von E oder umgekehrt ?
Vielleicht ist das Abhangigkeitsverhaltnis bis zu einem gewissen
Grade ein gegenseitiges ? Wahrend wir namlich, wie gerade er-
wahnt, z. B. in Versuch 15 (Fig. 4), zwischen P. 1 und P. 6 ein
wesentliches Ueberwiegen der Aenderung der elektromotorischen
Kraft finden, sehen wir andererseits z. B. in Versuch 16 (Fig. 5)
zwischen P. 1 und P. 5 eine Abnahme des Widerstandes um 37 pCt.
und gleichzeitig eine Abnahme der elektromotorischen Kraft um
nur 5 pCt., in Versuch 20 (Fig. 9) zwischen P. 11 und P. 18 eine Zu-
nahme des Widerstandes um 27 pCt. und gleichzeitig eine Zunahme
der elektromotorischen Kraft um nur 2 pCt. u. s. w.
Man kann sich aber auch vorstellen, dass Widerstandsande-
rungen in Abhangigkeit von Aenderungen der elektromotorischen
Kraft stehen und dass die starken Differenzen dadurch zustande
kommen, dass sich nebenbei durch Korpervorgange, welche auf
die elektromotorische Kraft keinen oder unwesenthchen Einfluss
haben, Widerstandsanderungen bilden. Diese wiirden natiirlich
unabhangig von den ersterwahnten Widerstandsanderungen ent-
stehen und miissten mit denselben galvanometrisch zu Interferenzen
fiihren.
Diese Vorstellung wird durch folgende Ueberlegung gestiitzt:
Wir wissen, dass den Aenderungen der elektromotorischen Kraft
in den Kurven vielfach eine ausschlaggebende Bedeutung zukommt,
wahrend die Aenderungen des Widerstandes neben ihnen als das
Untergeordnete erscheinen. Wir wissen aber auch, dass, wie schon
angefuhrt wurde, vielfach Aenderungen des Widerstandes ungleich-
zeitig neben den Aenderungen der elektromotorischen Kraft auftreten.
Ja, sie kommen vorwiegend dort merklich in Erscheinung, wo
sie sich unabhangig von den Aenderungen der elektromotorischen
Kraft ent wick ein, z. B. im Beginne der Kurve (Fig. 5, 7, 8). Das
lasst uns annehmen, dass verschiedenartige Ursachen ungleich-
zeitig zur Entstehung der Galvanometerschwankungen beitragen.
Auf die vasomotorischen Aenderungen neben den sekretorischen
ist schon hingewiesen worden. Und da die Auslosung nicht zeitlich
so verschieden sein diirfte wie die Erscheinung, konnen wir an¬
nehmen, dass die zentrifugalen Bahnen verschiedene Endorgane
des neurovegetativen Organapparates in Tatigkeit setzen, welche
nach- und nebeneinander ihre Wirkung auf das Galvanometer ent-
falten. Die Galvanometerschwankung, durch welche der psycho-
galvanische Reflex zum Ausdruck gebracht wird, ist eine summa-
rische Darstellung einer Reihe von Folge-Erscheinungen der ner-
vosen V r organge bezw. ihres zentrifugalen Effektes; denn durch
den nervosen Reflexvorgang im Sinne Veraguths (Kassoicitz,
Schrader, H. Munk) werden periphere (Blutgefasse, Driisen etc.)
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 563
Erfolgsorgane in Zustande versetzt, welche hinsichtlich ihrer Wir-
kung auf die elektromotorische Kraft und den Widerstand des
Stromkreises von differenter Bedeutung sind, wahrend diese Wir-
kungen im Ansdruck der Galvanometerkurven zu einer einheit-
lichen Linie verschmolzen erscheinen.
Wir haben gelegentlich der Eichung unseres Apparates Ge-
legenheit gehabt, zu bemerken, dass die Polklemmenspannung eines
Elementes je nach dem im ausseren Kreise eingeschalteten Wider¬
stand wechselt (vergl. S. 30). Es ist deshalb nicbt von der Hand
zu weisen, dass auch innerhalb eines Elementes derartige Be-
ziehungen zwischen elektromotorischer Kraft und Widerstand be-
stehen, und wir konnen uns denken, dass in einem Elemente, wie
dem in unseren Versucben (Elektrode-Korper-Elektrode), in
welchem der innere Widerstand ein ungewohnlich grosser ist, diese
Beziehungen um so mehr zur Geltung kommen.
Finden wir nun in unseren Versuchen einen innigen Zusammen-
hang zwiscben den Aenderungen des Widerstandes und der elektro-
motorischen Kraft, so diirfen wir vermuten, dass diese Aenderungen
des Widerstandes von der Genese und den Schwankungen der elek-
tromotorischen Kraft abhangen, so dass sie als eine Folge der
Existenz und der Eigentiimlichkeit des Stromes erscheinen. Im
Gegensatze zu jenen Aenderungen, welche, offenbar zentral aus-
gelost, direkt entstehen, werden sie indirekt, wir diirfen schlecht-
weg sagen: durch den Strom bewirkt.
Dass die Stromspannung von Einfluss auf die Leitfabigkeit
der Haut ist, hat Veraguth gezeigt 1 ). Unsere Versuche lehren,
dass bei Anwendurig einer korperfremden Stromquelle, aber auch
beziighch der elektromotorischen Kraft, vollkommen geanderte
Verhaltnisse entstehen.
Die nebenstehendeTabelle gibt eine Uebersicht iiber die aus den
vorhin analysierten Versuchen gewonnenen Zablen. Schon ein
fliichtiger Ueberbbck zeigt, dass in den Versuchen 18 und 19,
welche in der Anordnung Veraguth$ ausgefiihrt w'urden, die Wider-
standszahlen wesentlich kleiner sind als in den iibrigen Versuchen,
ja selbst kleiner als im Versuch 20, in welchem durch die fliissigen
Elektroden besonders giinstige Verhaltnisse fur den Widerstand
geschaffen wurden.
Ebenso ist ohne weiteres ersichtlich, dass die Zahlen, welche
die nicht aus der korperfremden Stromquelle stammende elektro¬
motorische Kraft angeben. grosser sein miissen, als die Zahlen in
den iibrigen Versuchen.
Untersuchen wir die Grasse.n der Aenderung des Widerstandes
x ) Jahresversammlung der (iesellschalt Deutscher Xervenarzte 1908.
Monographic, p. 165 u. ff. — Es ist fraglich. ob das, was der Autor als zweite
Abweichung von der d'Armanschen Regel bezeiohnet (I. c., p. 168) nur eine
temporare Erhohung der Leitfahigkeit an der Palma man us ist. Wir konnen
vermuten, dass da auch Aenderungen von elektromotorischer Kraft mit-
spielen.
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564 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
and der elektromotorischen Kraft, so finden wir als Durchschnitt
aus den hier vorliegenden Zahlen
in der Anordnung Veraguihs
Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft (ein-
schliessl. der der Elemente)
21 pCt. 4 pCt.
in den anderen Versuchen
Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft
24 pCt. 7 pCt.
Diese Zahlen wiirden die Behauptung Veraguths, dass das
psychogalvanische Phanomen in seiner Versuchsanordnung ein Aus-
druck der Widerstandsvariationen der Haut sei, zwar nicht be-
statigen, aber doch den Widerstandsvariationen gegeniiber den
Schwankungen der elektromotorischen Kraft einUebergewicht ein-
raumen. Nun sind in dieser Berechnung die Schwankungen der
elektromotorischen Kraft mit Riicksicht auf die gesamte, im Strom-
kreise vorhandene elektromotorische Kraft, d. h. einschliesslich der
von der exosomatischen Quelle, dem Elemente, stammenden,
prozentual ausgedriickt. Subtrahieren wir von denselben Zahlen
die Grosse von 1,2 Volt und stellen wir dann die Berechnung mit
Riicksicht auf die nicht vom Elemente stammende elektromoto¬
rische Kraft an, so erhalten wir fur die Anordnung Veraguihs
Aenderung von Widerstand elektromotorischer Kraft (aus-
schliessl. der der Elemente)
21 pCt. 59 pCt.
Diese letzte Zahl hat nur einen approximativen Wert, weil
die Grosse von 1,2 Volt fiir die elektromotorische Kraft des Ele-
mentes, wie oben (S. 41) erwahnt, nicht verlasslich ist, aber wir
werden nicht fehlen, wenn wir sagen, dass die Schwankungen der
nicht vom Elemente stammenden elektromotorischen Kraft weitaus
bedeutender sind als in den iibrigen Versuchsanordnungen.
Je grosser die elektromotorische Kraft der Elemente ist, desto
mehr miissen natiirlich die Schwankungen der iibrigen elektro¬
motorischen Kraft hinsichtlich ihrer Bedeutung in der OAmschen
Formel zuriicktreten. Dass die Schwankungen der elektromotori¬
schen Kraft aber auch trotz Anwendung von Elementen gegeniiber
denen des Widerstandes als ausschlaggebend zur Geltung kommen,
lehrt Versuch 19. In diesem Versuche sehen wir das Beispiel der
typischen Veraguthschen Kurve, und die Zahlen sagen uns, dass die
Schwankungen der elektromotorischen Kraft (8 und 6 pCt.) wesent-
lich die des Widerstandes (4 und 2 pCt.) iibertreffen. In Versuch 18
haben wir ganz andere Verhaltnisse. Es sind in diesem Versuche
aber jene Ersclieinungen erkennbar, welche Veraguth als diphasische
Reaktion bezeichnet und die er fiir eine Seltenheit in seiner Ver¬
suchsanordnung halt. Ihre Besprechung soli einem spateren Zeit-
punkte vorbehalten bleiben.
Es fallt weiterhin bei einem Vergleich der Differenzenkolonnen
auf, dass in den Versuchen 18 und 19 (nach Anordnung Veraguth)
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Grundlagen der sogenannten galvanischen Hautelektrizitat. 565
Versuch
|j
! Berech-
Elektromotorische
Widerstand
und
1 neter
",
Kraft
Figur
1 Punkt
Absolute
Differenz
Absolute
1 Differenz
1
| Zahl
in °/ 0
!j Zahl
! in %
1
1 12 82b
0,01635 ‘
1
Versuch 15
+ 23
+ 94
Figur 4
6
15 766
— 25
0,03169
— 41
14
11 710
0,01844
1 1
19 454
0,05865
j
Vtrench 16
— 39
— 4
Figur 5
5
11 815
i
+ 50
0,05582
+ 17
12
17 806
1
0,06544
1
' 19190
— 17
0,01439
— 9
Versuch 17
3
15 824
i 0,01305
Figur 6
5
16 385
+ 3
0,01498
+ 15
— 5
— 7
10
15 798
0,01395
1
2 793
1,323
&
+ 20
— 2
5
3 367
\ 1,296
Versuch 18
+ 5
+ 5
Figur 7
7
3 554
- 4
1,368
+ 1
8
3 392
\
+ 7
1,386
— 2
14
3 648
| 1,350
1
2 837
1,260
Versuch 19
— 4
+ 8
Figur 8
9
2 718
_ 2
1,368
— 6
16
2 667
1,287
ii
1
7 863
+ 15
0,01144
+ 12
Vtrmch 20
4
9 023 !
0,01285
Figur 9
11
5 408
— 40 :
0,01145
— 11
j
+ 26
+ 2
ii
18 |
6 838
0,01169
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566 Albrecht, Experimentelle Untersuchungen iiber die
die Gleichsinnigkeit der Vorzeichen, welche in alien anderen Ver-
suchen besteht, fehlt.
Im ganzen konnen wir sagen, dass durch die Anwendung einer
korperfremden Stromquelle Verhaltnisse geschaffen werden, welche
sich mehrfach von den bei der Anordnung Tarchanoff und ihren
Modifikationen bestehenden unterscheiden und welche geeignet
sind, die Schwankungen der elektromotorischen Kraft zu ver-
grossern, so dass sie gegeniiber denen des Widerstandes in den
Vordergrund zu treten vermogen.
Schlussbemerkungen.
Die Beobachtung, dass von den schweissdriisenreichen Haut-
stellen des menschlichen Korpers unter Anwendung der verschieden-
artigsten Elektroden (unpolarisierbarer, trockener metallischer,
flussiger etc.) elektrische Strome ableitbar sind, welche nach sen-
sorieller oder psychischer Reizung der Versuchsperson regelmassige
Schwankungen aufweisen, hat das Interesse aller mit dem vor-
liegenden Thema beschaftigten Autoren fur die Genese der er-
wahnten Erscheinungen wachgerufen. In letzter Zeit wurden
durch die wertvollen Untersuchungen Veraguths auf diesem Gebiete
neue Perspektiven eroffnet und Anregungen gegeben, welche
verscliiedene Autoren besonders zu umstandlichen experimentell-
psychologischen Arbeiten veranlassten.
Wir haben das Problem des Ursprunges der Erscheinungen
aufgenommen und versucht, seiner Losung unter Zugrundelegung
dreier Fragen naherzukommen: 1. Wo ist der Sitz der elektro-
motorischen Kraft ? 2. Welches ist die Quelle der elektromotori-
schen Kraft? 3. Wie sind die Stromschwankungen zu erklaren ?
Die Beantwortung der ersten Frage (wo ist der Sitz der elektro-
motorischen Kraft?) wurde durch eine Reihe von Versuchen an-
gestrebt, aus welchen hervorging, dass bei der angewendeten Ver-
suchsanordnung (ohne korperfremde Stromquelle) die Wirksam-
keit endosomatischer Stromquellen nicht anzunehmen ist. Der
Sitz der elektromotorischen Kraft muss demnach an den Kontakt-
stellen gelegen sein. Die Versuche Fiirstenaus, nach welchen sich
an den Kontaktstellen dadurch, dass der Haut die Bedeutung eines
Metalls beizumessen ware, zwei Elemente mit einander entgegen-
gesetzter Stromwirkung bilden, wurden einer Nachpriifung unter-
zogen, welche dazu fiihrte, diese Annahme fallen zu lassen. Es
erscheinen vielmehr die beiden Metallelektroden als die Pole eines
Elementes, dessen Zusammensetzung durch die Elektrolyten am
und im Korper vervollstandigt wird.
Die Quelle der elektromotorischen Kraft (zweite Frage) ist
nach den weiteren Versuchen in den Potentialdifferenzen zwischen
den Metallelektroden zu suchen. Die Bedeutung eventuell ent-
stehender Thermostrome ist zu vernachlassigen, hingegen ist die
chemische Wirksamkeit des Schweisses bezw. der Hautsekrete be¬
sonders zu wiirdigen. Ob die Elektrolyten innerhalb des Korpers
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Grundlagen der sogenannten galvanlschen Hautelektrizitdt. 567
in diesen Versuclien durch Bildung von Konzentrationsketten unter
bestimmten Verlialtnissen zur Entstehung endosomatischer Strom-
quellen fiihren, kann nicht bestimmt werden, erscheint aber, so-
weit sich diese Frage mit der hier beniitzten Methodik beantworten
lasst, nicht wahrscheinlich.
Zur Beantwortung der dritten Frage (Wie sind die Strom-
schwankungen zu erklaren ?) wurde eine eigene neuartige Versuchs-
anordnung hergestellt, in welcher das Prinzip realisiert erscheint,
dass dieselbe elektromotorische Kraft in zwei Stromkreisen gleich-
zeitig wirksam wird. Durch Einschaltung verschiedener Wider-
stande in diese Stromkreise ergab sich die Moglichkeit der Be-
rechnung des Korperwiderstandes, der elektromotorischen Kraft,
sowie der Veranderungen jeder der beiden Unbekannten. Die Er-
gebnisse aus diesen Versuchen sind verschiedenartige. Es ist vor
allem erwiesen, dass in jeder Art von Versuchsanordnung die
Stromschwankungen durch Veranderungen des Widerstandes und
der elektromotorischen Kraft entstehen. Die Veranderungen dieser
zwei Grossen vollziehen sich teils gleichzeitig, teils ungleichzeitig,
teils gleichsinnig, teils in der Wirkung gegeneinander gerichtet.
Daraus lassen sich Vermutungen auf den heterogenen Ursprung
der Komponenten entwickeln, welche in der Galvanometerkurve
der Autoren zu einer Einheit verschmolzen sind.
Es eroffnet sich die Moglichkeit, auf den eingeschlagenen Ver-
suchswegen Untersuchungen im Gebiete der Physiologic des Nerven-
systems zu unternehmen, und die Vervollkommnung der heutigen
Methoden lasst in weiterer Folge auch fur die Pathologie und viel-
leicht die Klinik brauchbare Resultate erwarten.
Die aus den geschilderten Versuchen gewonnenen Kenntnisse
konnen wir zusammenfassen in folgende
Schlusssatze.
1. Der ohne Einschaltung einer korperfremden Stromquelle von
der Korperobeiflache ableitbare elektrische Strom enlsteht bet unserer
Versuchsanordnung an den Elektroden bezw. an der Kontaktstelle.
2. Die elektromotorische Kraft mrd geliefert von den chemisch,
wenn auch nur in geringem Masse differenten Metallelektroden im
Vereine mit den Elektrolyten am und im Korper, deren wesentliche
Bestandteile (Hautsekrete etc.) Schivankungen in ihrer Zusammen-
setzung unterworfen sind. Hierbei ist es vom physikalischen Stand -
punkte aus gleichgiiltig, ob die Elektroden direkt dem Korper auf-
liegen oder durch ein chcmisches Ztcischenglied ( Fliissigkeit , Ton-
zelle etc.) mit ihm in Beruhrung gesetzt werden.
3. Wie weit die Elektrolyten des Korpers als Konzentrations-
kette an der Strombildung mitbeteiligt sind, ware erst mit anderen
Methoden zu ermitteln, da die vorliegenden Versuche keine Anhalts-
punlcte fur das Vorhandensein einer auf diesem Wege entstandenen
nennenswerten Strombildung geliefert, vielmehr das Fehlen einer
solchen nahegelegt hdben.
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568
Albrecht, Experimentelle Untersuchungen etc.
4. Die Stromschwankungen, welche nach den bekannten Reizen
auftreten , beruhen auf Aenderungen des Widerstandes und auf Aende-
rungen der elektromotorischen Kraft.
5. Die Aenderungen des Widerstandes kommen unabhangig von
den Aenderungen der elelctromotorischen Kraft oder im Zusammen-
hange mit denselben vor.
6. Die W iderstandsanderungen konnen einerseits dutch den
Strom selbst entstehen , anderseits durch Verdnderungen , welche
die geseizten Reize im Kbrper , besonders an den Erfolgsorganen des
neurovegetativen Apparates hervorrufen.
7. Bei Zunahme der elektromotorischen Kraft entsteht in der
Regel eine Zunahme des Widerstandes , bei Abnahme der ersteren
eine Verminderung des letzteren.
8. Mehrere Momente sprechen dafiir. dass die Zunahme der
elektromotorischen Kraft in erster Linie von der Sekretion der Haul -
driisen abhangig ist.
9. Bei Anwendung einer korperfremden Strotnquelle ist der
Widerstand wesentlich kleiner , die elektromotorische Kraft und ihre
Schwankungen wesentlich grosser , so dass die beziiglichen Kurven
hdufig hauptsdchlich die Aenderungen der letzteren zur Anschauung
bring en.
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Verhandl d. Geseilsch. Deutscher Nervenarzte. 1908. p. 172.
Derselbe, Das psychogalvanische Reflexphanomen. Berlin 1909. S. Karger
u. Monatsschr. f. Psych, u. Neurol. Bd. XXI u. XXIII.
Buehanzeigen.
Die Funktionen der Nervencentra. Prof. Dr. W. von Bechterew. Jena 1908.
Gustav Fischer. 691 Seiten.
Das vorliegende erste Heft bringt den allgemeinen Teil, das Riicken-
mark und verlangerte Mark. Im allgemeinen Teil wird eine Uebereicht fiber
die verschiedenen Untersuchungsmethoden gebracht, an die sich eine Dar¬
stellung der allgemeinen anatomischen und physiologischen Fundamental-
Tatsachen anschliesst. Auch prazisiert Verfasser hier seine Stellung zur
Neuronenlehre und den neueren Forschungsergebnissen fiber die Fibrillen.
Im speziellen Teil wird in ausfiihrlicher Weise mit reichlicher Literatur-
angabe die Bedeutung der einzelnen Zentren klargelegt. Eine ausffihrliche
Besprechung erfahren die Reflexe in dem Abschnitt iiber das Riickenmark
al8 Zentralorgan der Sensibilitat und Motilitat. In dem Kapitel fiber die
Zentren des verlangerten Markes findet besonders die spinal-bulbare ana-
tongische Innervation der inneren Organe eine ausffihrliche Darstellung,
bei der die eigenen Untersuchungen und Ansichten des Verfassers besonders
zur Geltung kommen die nicht fiberall auf allgemeine Anerkennung rechnen
diirften. Besonderes Interesse beansprucht das Kapitel iiber die metabolisch
thermotaktischen Funktionen, in der die Vorgange der Warmebildung und
Warmeregulierung besprochen werden. Das letzte Kapitel behandelt die
Leitungsbahnen des Rfickenmarks. Dem Buch ist eine Reihe von schema-
tischen Zeichnungen beigegeben.
Bei der bekannten Autoritat des Verfassers ist es selbstverstandlich,
dass das gross angelegte Werk in weitestem Masse das Interesse und Studium
aller Fachgenossen finden muss. Weder der Neurophysiologe noch der
Neuropathologe wird es unberiicksichtigt lassen konnen—wenn auch manche
Ansichten des Verfassers zu Widerspruch gelegentlich reizen werden.
Forster .
J. Dejerine und Andrd-Thomas y Maladies de la moelle epiniire . Paris 1909.
Bailliere et Fils. 839 Seiten. 420 Figg.
Das vorliegende Handbuch bildet einen Band des Nouveau traits
de m6decine et de thdrapeutique, der von Gilbert und T hoi not heraus-
Jfonateschrlft fttr Psychiatrie und Neurologie. Bd. XXVII. Heft 6. 33
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570
Buchanzoigen.
gegeben wird. Es ist zweifellos den bisher erschienenen Lehrbiichem der
Riickenmarkskrankheiten weit iiberlegen. Von der anatomischen und
physiologischen Einleitung gilt dies alleixiings weniger als von dem klinischen
und pathologisch-anatomischen Teil. Die Riickenmarkskrankheiten werden
eingeteilt in „Affections secondaires 44 (Accidents medullaires au cours des
traumatismes de la colonne vertebrate, Compression de la moelle, Mai. de
Pott) und ,,Affections primitives 44 . Die letzteren zerfallen in Affections
non systematises 4 4 (My61omalacie, Hematomyelie, My^lite aigue. Syphilis
m&lullaire, Polyomy61ites anterieures aigues et subaigues, Maladie de Landry,
Absces, Sclerose en plaques. Syringomyelic. Tumeurs, Maladie de Little)
und ,, Affections syst&natisees 44 (Poliomy&ite anterieure cbronique, Scterose
lat&rale amyotropbique, Tabes, Scleroses combinees etc.). Ein sehr inter-
essanter Abschnitt ist dann noch den Lesions de la moelle dans les nevrites 44
und den „Maladies des racines et des ganglions rachidiens 44 (Rhizopathies)
gewidmet. Die gewahlte Einteilung hat natiirlicli auch ihre Nachteile.
Es werden z. B. die iiberhaupt etwas stiefmiitterlich behandelten Tumoren
des Riickenmarks, je nachdem sie extra- oder intramedullar sind, weit
auseinandergerissen. Indessen wird es schwer sein, eine ganz nachteil-
und einwandfreie Einteilung zu finden. Warum die Verfasser die Littles che
Krankheit nicht wenigstens, insoweit es sich urn eine Entwicklungshemmung
der Pyramidenbahn handelt, zu den systematisierten Erkrankungen rechnen,
ist mir unverstandlich. Hier racht sich die von Freud u. A. inaugurierte
Zusammenwerfung aller „Diplegien 44 ohne Riicksicht auf den pathologisch-
anatomischen Befund auf Grund einer vermeintlich „klinischen 44 , ober-
flachlichen Achnlichkeit des Krankheitsbildes. Die meisten Krankheits-
bilder sind meisterhaft gezeichnet. Ungemein zahlreiche Originalfiguren,
die fast ausnahmslos gut gelungen sind, lllustrieren allenthalben den Text.
Natiirlicli kommen auch zahlreiche Satze und Anschauungen vor, die im
einzelnen wohl beanstandet werden konnten. Hier ist nicht der geeignete
Ort, auf solche strittigen Punkte einzugehen. Wir konnen den Verfassem
an dieser Stelle nur dankbar sein, dass sie ein Werk geschaffen haben,
welches fiir langere Zeit sehr wohl als Basis fur die Lehre von den Riicken-
markskrankheiten gelten kann. Z.
Arbeiten aus dem Neurologischen Institut aus der Wiener Universitat. Heraus-
gegeben von H. Obersteiner. Bd. 18. Heft 1.
Besonders bemerkenswert sind die Arbeiten von Yoshimura iiber das
histochemische Verhalten des menschlichen Plexus chorioideus und von Casa-
major iiber die Histochemie der Rindenganglienzellen. Yoshimura findet
u. a., dass einzelne Plexuszellen auch Glykogen entlialten. Die Sekrettropfen
■der Plexuszellen gelangen bald in Form kleinster Kiigelchen, bald in grossen
blasigen Massen zur Ausscheidung. Sie enthalten meist an der Wand de-
ponierte albuminoide oder lipoide Substanzen. Die Pigmentkomchen der
Plexuszellen kommen dem Lecithin am nachsten. Casamajor findet in der
Himrinde, abgesehen von den Albuminoidsubstanzen des Plasmas, Glykogen
intra- und extrazellular (auch ohne manifesten Diabetes), im hellgelben
Pigment einen dem Fett nahestehenden Korper (vielleicht ein Zwischen-
produkt zwischen Fett und Lecithin) und schliesslich gleichfalls im Pigment
eine dem Fibrin nahestehende Substanz. Einen ausgezeichneten Beitrag zur
vergleichenden Anatomie liefert die Arbeit Zuckerkandls iiber die Oberflachen-
modellierung des Atelesgehims und die Arbeit von Yoshimura iiber die
untere Olive der Vogel. Biach kommt in seiner Studie zu dem Ergebnis,
dass die aussere Kornerschicht des Kleinhirns im Wurm friiher verschwindet
als in den Hemispharen. Ihre Reste lassen sich selten iiber den 9. Lebens-
monat hinaus verfolgen. In Fallen von Entwicklungshemmungen findet
man eine pathologisch ausgebildete aussere Kornerschicht. Weitere Beitrage
haben Lutz, Bien und Toyofuku geliefert. Z.
Tagegge scMeh tliehfls.
Der Allgemeine Fiirsorge-Erziehungstag findet in diesem Jahre vom
27.—30. Juni in Rostock statt. U. a. halt Dir. Kluge- Potsdam einen
Vortrag iiber die Behandlung der schwer erziehbaren Fiirsorge-Zoglinge
vom psychiatrischen Standpunkt. Eine Beteiligung der Psychiater an dem
Kongress ist dringend erwiinscht. Anmeldung bei dem Zentralausschuss
liostock.
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